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Full text of "Zeitschrift für deutsche Philologie"

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ZEITSCHRIFT 


FÜR 


DEUTSCHE  PHILOLOGIE 


BEGRÜNDET  von  JULIUS  ZACHER 


HERAUSGEGEBEN 


vox 


Hugo  Gering  und  Friedrich  Kauffmann 


ZWEIUNDVIERZIGSTER  BAND 


^ 


V 


VERLAG  VON  W.  KOHLHAMMER 


BERLIN  W  35 

Derfflingerstrasse  16. 


STUTTGART 

Urbanstrasse  14. 
1910. 


LEIPZIG 

Roesplatz  16. 


Ff 
3oo5 


Druck  von  W.  Kohlhammer  in  Stuttgart. 


INHALT. 


Seite 
Orabhügel  und  könii;shügel  in  uorclischer  lieideuzeit.     Von  K.  Lehmann  .     .         1 

Hiatus  und  synaloeplie  bei  Otfrid.     Von  R.Kappe       15.  189 

Studien  über  die  Nibelungenhandschrift  A.     Von  C.  Corves 61 

Braut  und  gemahl.     Von  Fr.  Kauf  fm  an  n 129 

Heinrich  von  dem  Turliu  und  die  spracliform  seiner  Krone.    Von  G.  Gral) er  154.  287 

Das  totentanzproblem.     Von  W.  Fehse 261 

Zwei  runeninschriften  aus  Norwegen  und  Friesland.   Von  Tb.  v.  Gricnbcrger     385 

Ahd.  drunti,  nibd.  ernde.     Von  K.  Guutermann 397 

Deutsche  synaloephen  in  den  Otfridhandschriften.  Von  R.Kappe  .  .  .  .  407 
Zur  erklärung  der  ausdrücke  nwsta  hrosära,   annarra  hrcedra,  pridja  hroedra. 

Von  A.  Bley 417 

Das  'Vado  mori'.     Von  Willy  F.  S  torck 422 

Hans   Sachsens    drama:    'Der   marscbalk   mit   seinem   söhn'   und  seine  quellen. 

Von  A.L.  Stiefel 428 


Misz  eilen. 

Zu  Ambrosius  Österreichers  Schwerdttanz.     Von  A.  G  e  b  h  a  r  d  t 97 

Altnordisch  v.     Von  H.  G  e  r  i  n  g 233 

Zwei  altenglische  runeninschriften.     Von  F.  Holthausen    .     .         .     .     .     .  331 

Zu  Goethes  Faust.     Von  A.  Frederking 333 

Zum  Henno  des  Hans  Sachs.     Von  P.  Gruse 344 

Noch  einmal  zur  etymologie  von  braut.     Von  W.  van  Helten 446 

Caspar  Stieler  als  dichter  der  Geharnschten  Venus.     Von  W.  Eiermann.     .  447 


Literatur. 


P.  Diels,  Die  Stellung  des  verbums  in  der  älteren  ahd.  prosa  ;  von  H.  Stolzen- 

burg 109 

B.  Crome,  Das  Markuskreuz  vom  Göttinger  Leinebusch;  von  R.  C.  Beer  .  112 
H.  Reichert,   Die   deutschen   familienuamen  nach  Breslauer  quellen  des  13. 

und  14.  Jahrhunderts ;  von  K.  01b rieh llii 

E.  Jäschke,  Lateinisch-romanisches  fremdwörterbuch  der  schlesisclien  nmnd- 

art;  von  K.  Olbrich 117 

C.  Bore  kling,  Die  niederdeutschen  rechtsquellen  Ostfrieslands;  von  V.  Pauls  119 
H.Möller,  Semitisch  und  indogermanisch;  von  M.  Lidzba  r  ski  .  .  .  .  120 
J.  van  Ginnecken,  Priucipes  de  linguistique  psychologique ;  von  K.  Vossler  122 
H.  G.  Graef ,  Goethe  über  seine  dicbtungen  VI;  von  R.  SokoIoM'sky  .  .  124 
A.  Gebhardt,  Grammatik  der  Nürnberger  mundart;  von  Fr.  Kauf  f  man  n  126 
Neuere  Schriften  zur  runenkunde  (Lud v.  Wimmer,   De  danske  runemiudes- 

maerker  I,  1;  IV,  2;  M.  Olsen  og  H.  Schetclig,  En  iudskrift  med 
seldre  runer  fra  Floksand  i  Nordhordland;  O.v.  Friesen  och  IL  Hans- 
so n ,  Kylfverstenen) ;  von  H.  G  e  r  i  n  g -36 

K.W  ehr  hau,  Kiuderlied  und  kinderspicl ;  von  W.  Jürgen  sen      ....     250 

A\  Moser,    Historisch-grammatische   einführung   in    die  früh  neuhochdeutschen 

Schriftdialekte;  von  A.Götze 251 

O.  Draeger,    Th.  Mundt   und   seine   beziehungen   zum   Jungen  Deutschhxnd; 

von  R.M.Meyer T 254 

A.  Bley,  Eiglastudicn ;  von  Björn  M.Öls  en 255 


IV  INHALT 

Seite 

Fr.  Wilhelm,  Deutsche  legenden  und  legendäre;  von  G.  Ehrl s  mann  .  .  257 
W.  Hiutze,    Moscheroscli    und    seine    deutsclien    Vorbilder    in    der    satire; 

J.  Bein  er  t,  Deutsche  quellen  und  Vorbilder  zu  Moscheroschs  Gesichten; 

von  A.  Hauffen 345 

K.  E  i  e  d  e  r ,  Der  sogen.  St.  Georgener  prediger ;  von  ( ).  Simon 3B6 

R.  Brill,  Die  scliule  Neidharts;  von  G.  Ehrismann 357 

E.  Dicklioff,    Das    zweigliedrige    wortasjnideton    in    der    älteren    deutschen 

spräche;  von  G.  Ehrismann 358 

R.  Sokolowsky,    Der    altdeutsche    minnesaug   im    Zeitalter   der   deutschen 

klassiker  und  romantiker;  von  G.  Ehrismann 361 

G.M.  Priest,  Ebernand  von  Erfurt;  von  G.  Ehrismann 361 

M.Leopold,  Die  Vorsilbe  ver-  und  ihre  geschichte;  von  G.  Ehrismann  .  362 
P.  Habermann,  Die  metrik  der  kleineren  ahd.  reimgedichte;  von  Fr.  Kauff- 

mann 364 

W.  Streitberg,  Die  gotische  bibel;  von  H.  Stolzen  bürg 366 

Finnur  Jonsson,  Brennu-Njälssaga ;  von  B.  Kahle 368 

W.  Wilmanus,  Deutsche  grammatik  Ell;  von  H.  Wunderlich  .  .  .  .  373 
G.  Trilsbach,  Die  lautlehi-e  der  spätwestsächsischen  evangelien ;  J.  W i  1  k e s , 

Lautlehre  zu  .Elfrics  Heptateuch  und  Hieb ;  von  G.  B  i  n  z 380 

F.Fischer,  Die  lehnwörter  des  altwestuordischen ;  von  A.  Gebhardt  .  .  448 
R.  V.  Muth,   Einleitung   in   das  Nibelungenlied,  2.  aufl.  besorgt  J.  W.  Na  gl; 

von  Fr.  Panzer 452 

O.Runge,  Die  metamorphosenverdeutschuug  Albrechts  von  Halberstadt;   von 

G.  Baesecke 453 

W.  Golther,  Die  Gralsage  bei  Wolfram  von  Eschenbach;  von  P.Hagen     .  461 

A.Kalla,  Über  die  Haager  liederhandschrift  nr.  721;  von  A.Kopp  .  .  .  462 
A.  Daur,    Das    alte   deutsche   Volkslied   nach   seinen   festen   ausdrucksformen 

beobachtet ;  von  G.  D  i  e  t  r  i  c  h , 467 

M.Pfeiffer,  Amadisstudien ;  von  A.  Hauffen 470 

P.  Probst,  Dramatische  werke,  herausg.  von  E.  Kreisler;  von  A.  L.  Stiefel  483 

R.  Payer  von  Thurn,  Wiener  haupt-  und  Staatsaktionen;  von  G.  Witkowski  485 
M.  Schlenker,    Batteux  und  seine  nachahmungstheorie  in  Deutschland;  von 

Th.A.  Meyer 487 

F.  Wenzlau,  Zwei-  und  dreigliedrigkeit  in  der  deutschen  prosa  des  14.  und 

15.  Jahrhunderts;  von  G.  Ehrismann , 488 

0.  Hille,  Die  deutsche  konu3die  unter  der  einwirkung  des  Aristophanes ;  von 

Fr.  E.Hirsch 491 

E.Zimmermann,  Goethes  Egmout;  von  R.M.Meyer 498 

W.  Bo de,  Charlotte  von  Stein;  von  R.  M.  Meyer 494 

E.  B  e  r  e  n  d ,  Jean  Pauls  ästlietik ;  von  A.  B  i  e  s  e 496 

.J.  H.  S  e  n  g  e  r ,   Der   bildliclie   ausdruck   in  den  werken  Heinr.  v.  Kleists ;   von 

C.  Meyer 498 

R.  Mer.inger,  Aus  dem  leben  der  spräche:  versprechen,  kindersprache,  nach- 
ahm ungstrieb ;  von  A.  Tliumb 499 

M.  Joachimi-Degc,  Deutsche  Shakespeare-probleme  im  18.  Jahrhundert  und 

zur  zeit  der  romautik ;  von  R.  P  e  t  s  c  h 501 

A.  Kühler,    Die    deutschen   berg-,   fluss-   und   Ortsnamen    des   alpinen   Hier-, 

Lech-  und  Sanuengebietes ;  von  H.Fischer 503 

W.  V.  Unwerth,  Die  schlesische  mundart;  von  K.  Gusinde 504 

W  a  1 1  h  e  r   von   d  e  r  V  o  g  e  1  w  e  i  d  e   herausg.  von   K.  L  a  c  h  m  a  n  n ,    7.  ausg. 

besorgt  von  G.  v.  Kraus;  von  F  r.  P  a  n  z  e  r 505 

Berichtigungen 506 

Neue  erscheinungen 127.  258.  382.  506 

Nachrichten 128.  260.  384 

Register.     Von  R.  Kappe 509 


GRABHÜGEL   UND   KON^IGSHÜGEL   IN  X0KDI8CHER 

HEIDENZEIT. 

Dem  rechtshistoriker  eröfinen  sich  durch  die  fortschritte  der 
nordischen  altertiimskunde  neue  und  schwierige  aufgaben.  Es  gilt, 
in  die  geheimnisse  der  rechtsatiffassung  einer  vorzeit  einzudringen, 
über  die  uns  nur  wenige  äusserungen  der  Schriftdenkmäler  vorliegen. 
Nur  langsam  tastend  vermögen  wir  uns  in  die  seelenwelt  jeuer  menschen 
hineinzufinden,  deren  leben  sich  auf  so  ganz  anderen  materiellen  und 
geistigen  grundlagen  aufbaute.  Als  die  Eddalieder,  die  Sagas  und 
die  grossartigen  gesetze  des  Nordens  entstanden  oder  doch  nieder- 
geschrieben wurden,  lagen  die  tage  des  erdenwallens  jener  menschen, 
deren  asche  oder  gebeine  der  grabhügel  barg,  in  ferner  vorzeit.  Aber 
die  zum  teil  gewaltigen  grabbauten  standen  der  sagazeit  vor  äugen. 
8ie  erfüllten  die  phantasie  der  lebenden.  Um  die  familiengräber,  die 
sich  auf  den  stammgütern  der  odelsbauern  vorfanden,  spielten  die 
heranwachsenden  kinder.  Über  die  vergrabenen  schätze  giengen  ge- 
heimnisvolle gerüchte.  Der  tote  grabbewohner  bewahrte  diese  schätze 
und  kämpfte  mit  dem  eindringling  um  ihren  besitz.  Mit  der  geschichte 
des  Volkslandes,  der  hundertschaft,  der  dorfschaft,  ja  der  einzel- 
geschlechter  waren  die  heidnischen  grabhügel  eng  verknüpft.  Vielfach 
-  man  denke  an  Island  -  legte  noch  der  name  des  hügcls  zeugnis 
ab  von  dem  herrn  des  grabes.  Gegenüber  dem  christlichen  kirchhof, 
wo  höchstens  die  rangordnung  den  im  leben  besessenen  Vorzug  be- 
wahrte \  der  keine  beziehung  zum  einzelgehöft  zu  haben  brauchte, 
war  der  heidnische  geschlechterhügel  bestandteil  des  ererbten  grund- 
besitzes.  Für  sich,  auf  der  eigenen  schölle,  war  der  tote  gelagert. 
►So  blieb  der  Zusammenhang  der  sippe  mit  dem  toten  ahnen  stärker 
gewahrt.  Geheime  bände  verknüpften  den  lebenden  mit  den  dahin- 
gegangenen voreitern.     Die  grabhügel  mubsten  eine  nicht  geringe  bc- 

1)  Borgar{)inf4slö8-  I,  9;  II,  18;  III,  13;  Eiö.sifjal)iiigslöj,^  I,  50:  IL  39.  Vgl. 
]\I  a  u  r  e  r ,  Die  freigelassenen  nacli  altnonveg.  recht  s.  34.  35. 

ZEITSCHRIFT  F.   BEÜTSCHE  PIIILOLOCJIE.     BD.  XLJI.  1 


LEH^rANX 


deutuiig-  haben  für  die  bewahnnig-  der  geschlechter-  ja  der  ganzen 
volksüberlieferung. 

Was  haben  uns  hiervon  die  quellen  bewahrt?  Es  ist  leider  nur 
weniges.  Freilieh  durchzieht  die  berichte  der  historiker  wie  die  helden- 
licder  eine  ehrfurchtsvolle,  mit  grauen  gemischte  scheu  vor  den  heiden- 
hü"eln,  deren  sie  oft  genug  gedenken,  und  auch  die  rechtsquellen 
kommen  in  eiuzelwendungen  wie  in  rechtssätzen  auf  sie  zu  sprechen 
-  aber  welche  bedeutuug  sie  für  das  rechtsleben  ursprünglich  besassen, 
lässt  sich  aus  ihren  sätzen  schwer  entnehmen.  Jedoch  der  eifer,  mit 
dem  sich  die  christenrechte  gegen  ihre  pflege  kehren,  scheint  zu  er- 
weisen, dass  die  kirche  in  den  heidenhügeln  einen  starken  Widersacher 
erblickte,  dessen  bekämpfung  zur  eigenen  behauptung  ihr  unerlässlich 
erschien.  Bereits  hier  mag  auf  Heimskringla,  Olafs  saga  hins  helga 
cap.  121  (Finnur  Jonssons  ausg.  II,  262  fg.)  hingewiesen  werden,  wo 
vom  heiligen  Olaf  erzählt  wird,  er  sei,  als  er  psalmensingend  durch 
Vörs  zog,  'gegnt  haiigunum  gekommen  und  habe  seinen  nachfolgern 
verboten,  'i  milU  pessa  hauga  zu  reisen,  ein  verbot,  das  die  meisten 
könige  der  folgezeit  innegehalten  hätten.  Die  haugar  können  nur 
heidnische  grabhügel  gewesen  sein. 

'Hügelmänner'  nennt  das  schonische  recht'  die  beiden;  'vom  heid- 
nischen hügel  her'  ist  eine  wendung,  die  bei  Norwegern ^  Schweden^, 
Dänen ^  und  Isländern^  begegnet,  um  die  unvordenklichkeit''  zu  bezeich- 
nen. Man  beruft  sich  darauf,  dass  das  gut  eigenes  stammgut  sei  'fra 
heidhnom  haugli  (den  gegensatz  bildet  die  'utjörÖ' '),  oder  dass  die  grenze 
zwischen  verschiedenen  almenden  stets  so  gelaufen  sei:  'fra  hreidnom 
hoicghe^.  Die  voreitern  werden  aufgezählt  'fra  haugt  ^  oder  'til  haughs 
ok  til  heidni^^.     Das   alte    dorf   ist   im   West-   und   Ostgötalag   das 


1)  Skäaelap;en  I,  3. 

2)  Siehe   Fritzner,    Ordbog   s.  v.    'haugr'.     Vgl.  auch  Falk-Torp,    Ety- 
mologlsk  ordhok  s.  v.  '■hedenlws\ 

3)  So  der  wall,  Ordhok  s.v.  'Ms\ 

4)  Kaikar.  Ordbog  s.  v.  'heden'. 

5)  Gering,  Islendzk  .Eventyri  I,  113. 

6)  'frn  arilds  Ud\  'fra  ggmlu  aldri',  'at  fonw',  'ai  fonm  fari',  'at  fi/rmku', 
' urminnis  h äfdli' . 

7)  Dipl.  Xorveg.  11  ur.  694. 

8)  Dipl.  Norveg.  in  nr.  273.    Vgl.  Fr it zu  er  a.  a.  o.  uud  dazu  Dipl.  Norveg. 
XI  nr.  175. 

9)  Dipl.  Norveg.  IIl  ur.  122. 

10)  Rettarbod  von  1316  iu  NGL.  IE,   s.  121. 

11)  Forni  beer  in  Norwegen,  Pritzner  s.v.  'Jörn'. 


GRAüHLUEL    l'XD    K()X[GSHl(;EL    IX    NORDIHCHKlt    HEIDEXZKIT  3 

'hügeldorf ,  'von  der  heidenzeit  ab  gegTÜndet'  {'höghce  byr  ok  af  hepnu 
hijijdtt'y  \  ^ijöy  bij  ok  gamaU  liögha  byr  ok  hepim  byr  ■^).  Den  g'og'on- 
satz  bildet  der  afgterlns  byr  '^.  Die  memd  bezeugt,  dass  ein  gut  treigut 
{frälsegodz)  ist  'af  hednom  hös'  ^  oder  'ut  aß'  hedhindomenoni '",  oder 
dass  es  zu  einer  feldmark  seit  jener  zeit  gehörte ",  oder  gar,  was 
wunderlicli  genug  Idingt,  dass  ein  grundstüclc  der  kirelie  zugehört 
habe  'af  hednom  hös' '',  statt,  dass  hier  auf  den  ersten  christlichen 
könig  zurückgegangen  wird'^.  Asbjorn  von  Meöalhüs  lässt  Snorri 
dem  Häkon  g"6öi,  der  vorschlägt:  at  allir  nienn  skyldu  kristnaz  lata 
ok  traa  ä  einn  guÖ,  Kr/st  Marhi  son,  en  hafna  blötimi  glliim  ok  heiÖ- 
num  godum  erwidern,  dass  das  volk  von  |)randlieimr  nicht  gewillt  sei, 
'at  hafna  ätrmadi peim,  er  fedr  vdrir  hafa  haftfyrir  0!<s  ok  altforellri, 
fyrsf  um  brimagld  en  nü  haugsgld'  ^.  Das  hügelzeitalter  schliesst  in 
der  Vorstellung  Snorris  das  lieidenzeitalter  ab. 

In  einer  papierhandschrift  aus  dem  17.  Jahrhundert  ^°  finden  sich 
auszüge  aus  der  älteren  Gulajiingsbok,  welche  Bjarni  Petursson  zu 
Stadarholl  machte,  darunter  stücke,  die  andere  auf  uns  gekommene 
handschriften  des  Gulathing-rechts  nicht  aufweisen.  Eine  sehr  merk- 
würdige stelle  bestimmt,  dass  gewisse  weiber  (ehefrau,  tochter,  Schwester, 
mutter  des  erschlagenen)  nur  in  3  fällen  über  die  näheren  umstände 
eines  totschlags  glaubwürdige  aussage  machen  dürfen,  nämlich  erstens, 
wenn  der  mann  auf  seinem  hochsitz,  sodann,  wenn  er  auf  der  reise, 
begleitet  von  der  l)etretfenden  frau,  endlich,  wenn  er  auf  dem  beim 
gehöft  liegenden  ackerfeld  erschlagen  wird.  Im  letzteren  falle  wird 
aber  die  einschränkung  g:emacht,  dass  die  frau  die  tat  vom  hause 
aus,  zu  dem  sie  zugang  hat,  hätte  sehen  können  'oc  gange  pa  hvorke 
fyrer  hoergur  nie  haugur  og  mä  hun  paÖan  mann  kenna',  'und  nicht 
Steinschichtung  noch  hügel  dazwischen  lag,  so  dass  sie  den  totschläger 
erkennen  konnte'.     'Hgrg/  wird   als   die    sakralen   zwecken   dienende 

1)  WG.  r  Joy\)\).  15,  II,  J.  B.  36. 

2)  (Mg.  L.  Bygd  B.  28  §  2. 

3)  Ostg.  L.  Bygd  B.  28  §  5. 

4)  Svenskt  Dipl.  teil  II  nr.  1081,  1190,  1794,  279,  1828;  Kiks  Anh.  Pergl..  II 
iir.  2957,  3017. 

6)  Svenskt  Dipl.  teil  II  nr.  1830.    Zu  dieser  unhistorisclicn  wenduiig  H  11  «1  e- 
brand,  Sveriges  Medeltid  11  p.  198. 

6)  Riks  Areh.  Pergb.  H  ur.  2073. 

7)  Svenskt  Dipl.  teil  IT  nr.  252  (aus  dem  jähre  1402). 

8)  so  in    den  Frostuijingslyg :    um  daya  6laf,s  hins  hch/a  (XIII.  9:  X\'I,  2). 

9)  Heimskringla  (ed.  Finnur  Jöussou)  I,  188  fg. 
10)  AM.  146.  4  0  (NGL.  IV  s.  7  ibo.  )5i). 

1* 


[,  KU  MANN 


älteste  form  des  tempels,  d.  h.  steinsetzung  mit  opferstein  \  liaiigr  als 
gTabliüiiol  zu  übersetzen  sein  ^.  Ist  das  exzerpt  von  Bjarni  Petursson 
getreu  nach  dem  original  wiedergegeben,  so  zeigt  die  stelle  anschau- 
licli.  Avie  liäuiig,  geradezu  typisch  wiederkehrend  derartige  denkmäler 
aus  der  heidenzeit  in  Norwegen  gewesen  sein  müssen.  Nicht  weit  vom 
gehüft  befand  sich  danach  der  hai(gr'\  d.h.  jedenfalls  das  familien- 
grab  der  heidenzeit.  Es  ist  derselbe  haugr,  von  dem  die  Landsl^g 
sprechen,  Avenn  sie  bei  entdeckung  eines  Schatzes  einen  bruchteil  vom 
schätz  dem  zusprechen,  der  'nest  a  til  haugodals  at  telia^,  dem  'haiig- 
odcds7nadr  \  Denn  der  schätz  fand  sich  entweder  im  grabhügel,  oder 
er  war  nach  der  anschauung  des  gesetzes  von  einem  verstorbenen 
ahnen  anderswo  auf  dem  stammgut  vergraben.  In  beiden  fällen  ge- 
jiörte  er  ursprünglich  dem  toten.  Später  wird  eine  teilung  zwischen 
könig,  finder  und  abköramling  des  toten  vorgenommen.  Gieng  im 
laufe  der  zeit  das  stammgut  auf  eine  andere  familie  über,  so  blieb 
das  recht  auf  den  schatzanteil  doch  dem  zum  grabhügel  berechtigten 
gewahrt ". 

'HQi-gr'  und  'haugr  treten  in  dem  christenrechte  des  Gulal)ings 
zusammen  auf.  'Heidnisches  opfer  ist  uns  verboten,  dass  wir  nicht 
sollen  opfern  heidnischen  göttern  noch  hügeln  noch  tempeln'  («e  hauga 
ne  horga)  heisst  es  in  Gjjl.  29.  Die  stelle  fuhr,  wie  das  bruchstück 
in  NGL.  II  s.  495,  die  abschrift  Bjarni  Peturssons  '  und  das  sogenannte 
christeurecht  könig  Sverrirs*  cap.  79  übereinstimmend  zeigen,  weiter 
fort:  'Aber  wenn  jemand  überführt  wird,  dass  er  einen  hügel  auf- 
schichtet oder  ein  haus  errichtet  und  das  'hgrg  nennt  oder  eine  stange 
aufrichtet  und  sie  spottstange  nennt  ^,  so  habe  er  verwirkt  jeden  pfennig 
seines  gutes'.  Was  ist  unter  dem  aufschichten  eines  hügels  zu  ver- 
stehen? Man  hat  entweder  an  einen  heidnischen  grabhügel  oder  einen 
davon  zu  scheidenden  besonderen  opferhügel  {blothaugr)  gedacht.    Das 

1)  Darüber  jetzt  Thüminel  iu  Braunes  Beiträg-en  35  s.  100  ff. 

2)  So  auch  E.  Hertzberg  im  Glossar  zu  NGL.  s.  v.  'haugr\ 

3)  Das  wort  'haugr'  wird  in  den  quellen  mit  Vorliebe  für  grabhügel  gebrauclit. 
4}  VI,  16  (NGL.  II,  101). 

5)  Vgl.  meinen  aufsatz  Zeitschr.  39,  279. 

6)  Darüber  meine  ausführungen  a.  a.  o.  und  dazu  0.  A Imgren  in  Svenska 
fornminnes  föreningens  tidssk.  X  229  sowie  in  Nordiska  studier  tillegn.  A.  Xoreen 
s.  309  ff. 

7)  NGL.  IV  s.  6. 

8)  NGL.  I  s.  480. 

9)  '■flannsUjng''  nach  dem  Priapus,  vgl.  Gering,  Über  Weissagung  und  zauber 
im  nordischen  altertum,  rektoratsrede,  Kiel  1902,  s.  30  anm.  136. 


OKABHUGEL    UND    KONIGSHÜGEL    IX    XOKDISCHEU    HEIDEXZEl'l'  O 

letztere  tut  Fritz n er  unter  Verweisung  auf  Flateyjarbok  II,  27.  Hier 
Avird  erzählt:  'König  Olaf  lässt  erbrechen  den  opferhügel  der  beiden 
{hlothaiui  peirra  Jueidingia).  Aber  darum  ward  er  so  genannt,  weil 
stets,  wenn  sie  das  grosse  opfer  für  ein  ertragreiches  jähr  oder  frieden 
abhielten,  sie  alle  zu  diesem  hiigel  zogen,  dort  tiere  opferten  und  da- 
hin viel  geld  brachten  und  in  den  hügel  legten,  bevor  sie  fortgiengen. 
König  Olaf  erbeutete  da  ungeheuer  viel  geld'.  In  den  Fornmanna- 
sögiir  IV  s.  57  lautet  die  stelle:  'sie  laufen  da  hinauf  und  erbeuteten 
viel  geld  in  einem  opferhügel;  es  war  starker  stürm,  und  der  hatte 
den  hügel  verweht;  es  lag  das  silber  blank  da,  und  sie  fanden  des- 
halb das  geld'.  Die  deutung  bleibt  auch  hier  zweifelhaft,  ob  man  es 
nicht  mit  einem  grabhügel  zu  tun  hat,  der  zugleich  zu  opferzwecken 
verwendet  w^urde. 

Der  Olafs  |)attr  Geirstaöa-alfs  ^  berichtet,  könig  Olaf  habe  ein- 
mal geträumt,  dass  ein  grosser  schwarzer  und  fürchterlicher  stier  von 
Osten  her  in  das  land  käme,  durch  den  viele  leute  zugrunde  giengen.  Er 
deutet  dies  auf  eine  schwere  pest,  die  von  osten  her  kommen  und 
ein  grosses  sterben  zur  folge  haben  würde,  und  an  dem  sein  gefolge 
und  er  schliesslich  zugrunde  gehen  würden.  Er  rät  darum,  einen 
grossen  hügel  auf  der  landzunge  aufzuwerfen  und  quer  über  die  land- 
zunge  einen  hohen  wall  zu  errichten,  damit  kein  vieh  darüber  gienge. 
In  den  hügel  solle  jeder  mann  von  ansehen  eine  halbe  mark  für  sich 
zur  bestattung  legen.  Das  sterben  werde  nicht  eher  aufhören,  als  l)is 
er  selbst  nach  seinem  tode  in  den  hügel  gelegt  worden  sei.  Der  könig 
knüpft  daran  rationalistische  betrachtungen  über  die  Unsitte  mancher 
menschen,  die  solchen  verstorbenen  opferten,  von  denen 
sie,  während  jene  lebten,  förderung  hatten.  Nach  dem 
Vorschlag  des  königs  wird  ein  überaus  grosser  hügel  aufgeschichtet 
und  alle  leute  von  bedeutung,  die  an  der  pest  starben,  werden  dort 
bestattet,  zuletzt  der  könig,  der  mit  viel  geld  zu  seinen  mannen  in 
den  hügel  gelegt  wird.  Dann  Avird  der  hügel  geschlossen  und  das 
grosse  sterben  hört  auf.  Sie  beschlossen  darauf,  da  ein  schlechtes 
jähr  folgte,  dem  könig  für  ein  erfolgreiches  jähr  zu 
opfern,  und  hiessen  ihn  Gcirstaöa-älfr. 

Was  an  diesem  seltsamen  bericht  vor  allem  bedeutungsvoll  ist, 
ist,  dass  hier  der  hügel  ein  totenhügel  ist,  dass  direkt  gesagt  ist,  dass 
verstorl)enen,  die  segen  während  ihres  lebens  gebracht  hatten,  geopfert 

1)  FlatcyjaTl)ök  11  s.  8%. 


6  LKHMANN 

Avird  und  dass  dies  aiu'li  trotz  der  verwnliruiii;'  des  könig-s  bei  ihm 
geschieht '. 

Im  ührig-eu  erinnern  einzelne  zügc  in  diesem  berieht  an  die 
l»ekannte  stelle  der  Hyrbyg-gja  von  f)6rülfr  Mostrarskegg :  'J^orulfr 
nannte  das  land  zwischen  dem  Vigrafjorör  nnd  Hofsvägr  |)örsnes. 
Auf  dieser  landzunge  ist  ein  berg.  Diesem  berge  zollte  J^orulfr  so 
grosse  Verehrung,  dass  niemand  ihn  ungewaschen  anblicken  durfte  und 
man  nichts  auf  dem  berge  töten  durfte,  weder  vieli  noch  menschen. 
Diesen  berg  nannte  er  den  Heiligenberg  (Helgafell),  und  er  glaubte, 
dass  er  dahinein  fahren  würde,  wenn  er  stürbe,  und  alle  seine  ver- 
wandten auf  der  landzunge'  -.  Jsörölfr  wird  nach  seinem  tode  aller- 
dings nicht  hier,  sondern  in  Haugsnes  bei  Hofstaöir  bestattet.  Aber 
als  später  ein  schäfer  am  Heiligenberg  vorübergeht,  sieht  er,  dass  der 
berg  aufgetan  war;  er  erblickt  darin  grosse  teuer  und  hört  grossen 
Jubel  und  hörnerschall,  und  als  er  lauschte,  ob  er  einige  worte  ver- 
stände, hörte  er,  dass  f>örsteinn,  der  söhn  p)6r61fs,  begrüsst  wurde 
nebst  seinen  begleitern  und  ihm  der  sitz  im  hochsitz  gegenüber  seinem 
vater  eingeräumt  wurde.  Denselben  tag  war  J^örsteinn  beim  fischfang 
ertrunken  ^.  Was  hier  gemeinsam  mit  dem  vorigen  bericht  ist,  ist  die 
Verbindung  des  aufenthalts  des  toten  mit  der  heiligkeit  der  statte. 

Als  Freyr-Yngvi  auf  den  tod  lag,  verheindichte  man  seinen  zu- 
stand, baute  einen  grossen  hügel  mit  tür  und  drei  Öffnungen,  trug 
ihn  nach  seinem  tode  heimlich  in  den  hügel  und  sagte  den  Svear, 
dass  er  noch  am  leben  sei.  Die  abgaben  wurden  in  den  hügel  gelegt, 
in  die  eine  Öffnung  gold,  in  die  andere  silber,  in  die  dritte  kupfer. 
Infolgedessen  dauerten  fruchtbare  zeiten  und  friede  fort  *.  Der  letzte 
satz- zeigt  die  anschauung,  dass  der  tote  noch  segen  aus  dem  hügel 
stiftet. 

Als  Hälfdan  svarti  starb,  baten  sich  die  grossen  von  Raumariki, 
Vestfold  und  Heiömörk  aus,  dass  sie  die  leiche  erhalten  und  in  ihrem 
Volksland  'behügeln'  sollten.  Denn  es  schien  fruchtbare  zeit 
dem  zu  erwachsen,  der  sie  erhielte.  Man  einigte  sich,  die 
leiche   in   vier   teile   zu   zerlegen;    das   haupt   ward    in    den   hügel   zu 

1)  Diesen  und  anderen  Zeugnissen  gegenüber  ist  die  behauptung  von 
S.  Müller,  Nordische  altertumskundc  (übers,  von  Jiriczek  I  s.  124),  dass  im 
Norden  bestimmte  Zeugnisse  für  totenverehrung  und  opfer  am  grabe  mangelten, 
nicht  aufrecht  zu  halten. 

2)  cap.  4;  La  n  du  am  a  II  12  vgl.  II  16;  dazu  Mogk  bei  Paul-  III  s.  385. 

3)  cap.  9,  11. 

4)  Heimskr.  Yngl.  saga  cap.  10  (Finnur  Jöiissons  ausg.  I,  28  fg.). 


GRABHÜGEL    UM)    KOXIG8HUGEL    IX    NOKDtSCHEIt    HEIDEXZEIT  7 

Stein  in  Hringariki  gelegt,  die  anderen  nahmen  jeder  einen  teil  mit 
nnd  bargen  ihn  in  hügel  'nnd  das  alles  hiessen  hügel  des  Halfdan'  ^. 

In  der  Ketils  saga  hjengs  eap.  5  (FAS.  II,  132)  wird  vom  wikinger- 
könig  Framarr  erzählt:  'kann  vor  blötmadr  ok  bitu  eigi  järn;  kann  dtti 
r'/ki  i  Hunaveldl  ä  Gestrekalandl;  hann  blotadl  Arhaug ,  par  festi  eigi 
snjö  a  nnd  nachher:  ' Ketill  .  .  .  koni  jolaaftan  fil  Arhaugs;  hann  var 
blötadr  nf  Framai-i  ok  landsrngmium  t il  ä r s' .  Dass  auf  dem  «r7i«?<yr 
sich  nicht  schnee  halten  kann,  erinnert  an  die  Gisla  saga  Surssonar  ^, 
wo  vom  grabe  joorgrims  gesagt  wird,  'nt  aldri  festi  snce  iitan  simnan  ä 
haugi  Porgrlms,  ok  ekki  fraus;  ok  gätu  menn  pess  til,  at  hann  myndi 
Frey  svd  ävai-dr  fyrir  hlötin,  at  hann  munde  ekki  vilja,  at  ftwi  d 
milli  peira'  lind  an  die  Landnäma  II  cap.  7  (Finnur  Jönssons  ausgäbe 
s.  27  ^^  und  s.  149  ^^):  Laugurbrekku-Einarr  car  heygdr  skamt  frd  Sig- 
mimdarhaugi  ok  er  haugr  hans  dvallt  gnenn  vetr  ok  sumar'.  Danach 
dürfte  bei  dem  Arhaugr  der  Ketilssaga  an  einen  grabhügel  zu  denken 
sein  '\ 

Von  Grimr  kamban  berichtet  die  Hauksbok,  dass  'ihm  aus 
dankbarkeit  nach  seinem  tode  geopfert  wurde'  ^. 

Sehr  eigentümlich  ist  der  bericht  von  der  expedition  des  Karli 
haleyski  nach  Bjarmaland.  Er  betrifft  zwar  die  anschauungen  und 
kultgebräuche  der  bewohner  von  Bjarmaland,  allein  es  ist  anzunehmen, 
dass  hier  zugleich  Vorstellungen  über  die  eigenen  früheren  zustände 
mit  unterlaufen.  J^orir  hundr  erzählt  seinen  kameraden,  man  könne 
sich  leicht  geld  verschaffen.  Es  wäre  da  sitte,  wenn  reiche  männer 
stürben ,  dass  die  fahrhabe  zwischen  dem  toten  und  seinen  erben 
geteilt  werden  sollte;  der  tote  sollte  die  hälfte  oder  ein  drittel  oder 
mitunter  weniger  erhalten.  Das  geld  trüge  man  hinaus  in  die  wälder 
oder  auch  in  hügel  und  bedecke  es  mit  erde;  mitunter  baue  man 
häuser  dazu.  Daraufhin  wird  ein  raubzug  in  das  innere  des  landes 
unternommen.  Man  gelangt  in  einen  wald  und  dann  auf  eine  lich- 
tung,  wo  ein  hoher  zäun  einen  hügel  umgab,  in  dem  gold,  silber  und 
erde  vermengt  lagen.  Dabei  stand  das  götterbild  des  Jömali  .  .  .  Der 
hügel,  wie  das  götterbild,  wird  geplünderte  Es  ist  hier  nicht  recht 
klar,    ob    der   hügel   der  grabhügel  der  verstorbenen,   oder  ob  es  sich 

1)  Heimskringla,  Halfd.  s.  svarta  9  (Finnur  Jönssons  ansj^-.  I,  97). 

2)  Gisla  saga  cap.  18,  2  ( Altn.  sagabibl.  10,  1;3). 

3;  Keys  er,  Samlede  Afhandlingr  s.  :342  lässt  es  daliingcsteJlt,  oli  man  an 
einen  grabhügel  zu  denken  habe. 

4)  Landnäma  I  cap.  14  (Finnur  Jönssons  ausg.  s.  12  33). 

5)  Heimskr.  Olafs  s.  h.  helga  cap.  133  (Finnur  .Jönssons  ausg.  IT,  292  fg.). 


um  einen  reinen  opfcrlüigel  handelt.  Aber  der  Verfasser  bringt  beides, 
wie  es  scheint,  in  inneren  znsaninienhani;-.  Denn  sonst  wäre  die  be- 
nierkung  über  das  toteuteil  nicht  verständlich. 

Die  Orvar-Oddssag-a  cap.  7,  7  (Altn.  sagabibl.  2,  16)  enthält  ähn- 
liches, wo  sie  von  Bjarmaland  spricht:  'Ein  hüg-el  steht  an  der  Dvinn. 
Er  ist  aus  zwei  bestandteilen,  erde  und  silber,  errichtet.  Dahin  soll 
man  eine  handvoll  silber  nach  dem  tode  jedes,  freilich  auch,  wenn 
jemand  geboren  wird,  bringen,  und  ebensoviel  erde'.  Der  bericht  ist 
noch  dunkler,  zeigt  aber  jedenfalls  Zusammenhang  zwischen  Opferung 
und  totenkult.  Und  klar  tritt  dieser  Zusammenhang  in  der  Snorra- 
Edda'  hervor,  wenn  der  grabhügel  könig  Helgis  aus  schichten  aus 
gold  und  silber  -  das  als  opfergeld  {hlötff)  bezeichnet  wird  -  und 
von  erde  und  stein  hergerichtet  wird,  Aveshalb  das  gold  'Uekja  haug- 
pgh'  heisse. 

Nach  alledem  scheint  der  hlöthaugr  ein  grabhügel  zu  sein,  dem 
mau  wegen  des  grabbewohners  opfert,  und  wenn  die  G])!.  29  ver- 
bieten, bügeln  zu  opfern,  so  dürften  sie  wiederum  an  grabhügel  ge- 
dacht haben-.  Der  grabhügel  wäre  danach  zugleich  altheidniscbe 
kultstätte  gewesen. 

Von  hier  aus  dürften  gewisse  w^eitere  berichte  über  die  bedeutung 
von  bügeln  erklärung  finden -^ 

Als  Haraldr  härfagri  die  kleinkönige  bekämpft,  da  lässt  könig 
Herlaugr  im  Nanmudalr  einen  grossen  hügel  bauen,  in  den  er  mit 
12  begleitern  sich  einschliesst.  König  Hrollaugr  dagegen  besteigt 
den  hügel,  auf  dem  die  könige  gewohnt  waren,  zu  sitzen, 
lässt  des  königs  hochsitz  dort  errichten,  setzt  sich  hinein,  steigt  dann 
her^ib  und  erniedrigt  sich  zum  jarP.  Wir  ersehen  hieraus,  dass  der 
kleiukönig  herkömmlich  einen  bestimmten  hügel  als  sitz  einzunehmen 
pflegte. 

In  der  liäkonar  saga  gööa'  wird  erzählt,  dass  die  Droutheimer 
von  dem  hochlandskönig  Eysteinn  vor  die  wähl  gestellt  wurden,  zum 
könig  seinen  Sklaven  |5Örir  faxi  oder  den  hund  Saurr  zu  nehmen. 
Sie  zogen  das  letztere  vor,  richteten  ihm  einen  hochsitz  ein,   und  er 

1)  Skäldskaparmäl  cap.  45  (Aruarn.  ausg.  I,  400). 

2)  Vg-1.  schon  Mogk  iu  Pauls  Grundriss  III  2  s.  385. 

3)  [Zum  folKcndcu  vgl.  Olrik,  Danske  Studier,  1909,  1  ff.     Red.] 

4)  Heimskr.  Har.  s.  h.  härf.  cap.  8  (Finnur  Jönssous  ausg.  I,  106). 

5)  cap.  12  (Heimskr.  ed.  Finnur  Jönssou  I,  182  fg.).  Über  die  gleichstelluug 
von  Sklave  und  hund  Fritzuer  s.  v.  '}iuiidr\  Hertzberg  iu  Germauist.  abh. 
für  M  a  u  r  e  r  s.  324. 


GRABHÜGEL    UND   KOXIGSHÜGEL    IX    XOKDISCHEU    HEIDEXZEIT  9 

sass  auf  einem  hü  gel  wie  könige  {ok  kann  sat  ä  hawii  sein 
konungar).  Er  wolinte  auf  der  Insel  löri ;  seinen  sonstigen  aufenthalt 
hatte  er  auf  dem  Saurshaugr.  Zum  Verhängnis  wurde  es  ihm,  dass 
wölfe  sein  vieh  anfielen.  Er  lief  vom  hügel  herab  und  fiel  den 
Wölfen  zum  opfer. 

Das  Agrip  cap.  12  erzählt,  dass  künig  Hersir  im  Naumudalr  aus 
kummer  über  den  tod  seiner  frau  sich  das  leben  nehmen  wollte.  Da 
er  aber  hörte,  dass  dies  nur  jarle,  nicht  könige  getan  hätten,  da 
begab  er  sich  auf  einen  hügel  und  wälzte  sich  von  ihm  herab  ^  und 
erklärte,  er  habe  sich  aus  dem  königtum  gewälzt  und  hängte  sich 
dann  als  jarl  auf. 

Ein  bestimmter  hügel  erscheint  in  diesen  fällen  als  königssitz. 
Ist  au  einen  natürlichen  hügel  oder  an  einen  künstlichen  hügel  zu 
denken  ?  Dass  es  kein  natürlicher  hügel  war,  ergeben  folgende  stellen 
des  Stjornu-Odda  draumr  (Nord.  Oldskr.  XXVII) : 

Cap.  5.  König  Geirviör  von  Gautland  verrichtet,  12  jähre  alt 
(d.  h.  grossjährig  geworden),  heldentaten,  um  sich  den  thron  zu  ver- 
dienen. Hierauf  beruft  er  ein  thing  zusammen  und  wird  vom  volke 
belobt.  'Es  errichteten  die  leute  dem  könige  den  hügel, 
auf  dem  er  sitzen  sollte.  Da  ward  der  könig  auf  den 
stuhl  gesetzt,  der  auf  dem  hügel  stand',  und  die  leute  er- 
wiesen ihm  königliche  ehren. 

Cap.  8.  Nach  weiteren  heldentaten  im  ausländ  zieht  der  könig 
heim.  Es  ward  ein  thing  einberufen,  das  sehr  besucht  war;  'es  ward 
der  könig  Geirviör  von  neuem  auf  den  stuhl  gesetzt  und  auf 
denselben  hügel  wie  früher  erh  oben- und  nun  zum  könige 
und  herrsch  er  über  alles  Gautland  genommen;  es  gieng  da 
ein  häuptling  mit  dem  anderen  hinauf  auf  den  hügel  und  erwies  dem 
könige  ehre  und  achtung,  jeder  danach,  wie  er  mittel  und  Stellung  hatte'. 

1)  for  J>a  a  kauf/  necquern  oc  veltisc  fyrir  <>f(in.  An  anderen  stellen,  wo 
von  veltaz  ör  konungdömi,  jarldömi  gesprochen  wird,  wird  an  ähnliches  zu  denken 
sein.  Fritzuer,  Ordbog  s.  v.  velta:  K.  Maurer,  Vorlesungen  über  altnord.  rechts- 
geschichte  I  s.  146. 

2)  hafidr  upp  d  enn  sama  hang.  Du  die  altnordischen  quellen  eine  schild- 
erliebung  nicht  kennen,  dürfte  in  den  fällen,  wo  sie  von  hefja  til  konungs,  til 
ri'his  sprechen,  für  die  ältere  zeit  an  das  setzen  auf  den  königshügel  zu  denken 
sein,  während  später  der  norwegische  könig  auf  den  hochsitz  im  thing  zu  Xiöaröss 
vor  der  Christkirche  THiröskrä  cap.  5)  und  zuletzt  auf  den  steinernen  thron  an  dei- 
nordseite  der  domkirche  erhoben  wird  (Daae,  De  norskc  kongers  hyldning  og 
kroning  1906  s.  17).  Hat  das  Haugalnng  von  Haugar  bei  Tönsberg,  das  der  hul- 
digung  der  könige  diente,  von  königshügeln  den  nanienV 


10  LEHMANN 

AVenu  in  cliristlicher  zeit '  der  norwegische  könig-  einen  natür- 
lichen berg  oder  hügel  als  sitz  benützt  oder  auf  einen  stein  tritt,  um 
zum  Volke  zu  reden,  so  geschieht  dies  nur  gelegentlich,  nicht  zu 
dauerndem  sitz. 

Was  den  sinn  des  brauches  betrifft,  so  sollte  der  künstliche 
hügel  die  majestät  des  königs  zum  ausdruck  bringen ;  der  hügel  ist 
der  Vorläufer  des  thrones. 

Aber  es  fragt  sich,  ob  dieser  hügel  nicht  noch  eine  weitere  be- 
deutung  besass.  Der  Stjornu-Odda  draumr  ist  eine  späte  quelle. 
Die  stellen  der  Heimskringla  sprechen  von  einem  herkömmlichen 
königshügel  (auf  dem  die  könige  gewohnt  waren  zu  sitzen).  Andere 
(luellen  belegen,  dass  der  aufenthalt  auf  einem  bestimmten  hügel 
heidensitte  war.  In  der  Flateyjarbok  ^  wird  erzählt,  dass  der  skalde 
llallfreör  von  Olaf  Tryggvason  nach  den  hochlanden  gesendet  wird, 
um  den  beiden  f>orleif  zur  annähme  des  Christentums  zu  bewegen 
oder  ihn  zu  töten.  Er  begibt  sich  auf  die  gefährliche  reise.  Als  er 
an  das  gehöft  jjorleifs  kam,  fand  er  den  |3orleif  auf  einem  hügel. 
Denn  er  war,  heisst  es,  gewöhnt,  wie  es  sehr  der  leute  art 
in  alter  zeit  war'\  lange  drausseii  auf  einem  hügel  nicht 
weit  vom  gehöft  zu  sitzen*.  Hier  wird  der  aufenthalt  auf  dem 
hügel  als  heidensitte  hingestellt.  Erinnern  wir  uns  der  stelle  aus  der 
papierhandschrift  der  Gula|)ingslog,  wo  des  hügels  in  der  nähe  des 
gehöfts  gedacht  wird  '\  so  ist  kaum  zu  bezweifeln,  dass  man  es  mit 
einem  grabhügel,  dem  'ödahhangr ,  zu  tun  hat.  Der  heidnische  Xord- 
mann  liebt  es,  auf  dem  grabhügel  der  vorfahren  zu  sitzen. 

Im  Styrbiarnar  |)ättr  Sviaka})pa  (Fiat.  II  70)  setzt  sich  der 
12  j^hre  alte  (also  grossjährig  gewordene)  söhn  des  Schwedenkönigs 
Olaf  auf  den  grabhügel  seines  vaters  und  verlangt  sein  erbe. 

In  der  Friö|5J6fssaga''  wird  könig  Beli  im  hügel  am  fjord  be- 
stattet und  ihm  gegenüber  in  einem  anderen  hügel  sein  freund  f>or- 
steinn.  Als  Friö|)jofr  um  die  band  von  Ingibjorg  bei  ihren  brüdern 
anhielt,  traf  er  die  kJiniffe  auf  dem  hüii-el  ihres  vaters. 


1)  Fornm.  sögur  I  s.  280 ;  Heimskr.  Ol.  saga  Tryggv.  c.  55. 

2)  I  s.  330. 

3)  [fornmemiis  hättr'.    Der  fornmaör  ist  der  lieide  (Fiat.  I,  189),  der  fornsidr 
das  heidentnui  (Fiat.  I,  349). 

4)  Dasselbe  berichtet  die  Hallfreöar  saga  cap.  6. 

5)  In  der  Ketils  saga  hsengs  cap.  5  ist  der  drhaugr  in  der  nähe  des  gehüfts 
von  Byömöör,  dem  söhne  von  könig  Framarr. 

6)  cap.  I. 


GRABHÜGER    UND    KÖXIGSHÜGEL    IX    NORDISCHER   IIKIDEXZEIT  11 

König  Gautrekr  sitzt  jeden  tag  auf  dem  grabhügeU  seiner  ge- 
mahlin.  Jarl  |)orgnyr  'hatte  seine  gemahlin  sehr  geliebt-,  ihr  grab- 
hügel  lag  in  der  nähe  der  bürg.  Es  sass  der  jarl  da  oft  bei  gutem 
wetter,  sei  es,  dass  er  Verhandlungen  (mcUstefmir)  zu  führen  hatte 
oder  von  ihm  veranstalteten  spielen  zuschaute'  -. 

In  der  p)rymskviöa^  trifft  Loki,  als  er  nach  jQtunheim  kommt, 
den  riesenherrscher  Ji^rymr  auf  einem  hügel  sitzend: 

Prymr  sat  d  hmigi 

pvrsa  dröttinn. 
Ebenso  sitzt  in  der  Voluspa^  Egg|}er,  der  riesin  hüter,  auf  einem  hügel 

'Sat  par  d  hauyi 

ok  slo  hgrpu 

gijgjar  hirdir 

glnör  Eggper' . 
Es  ist  anzunehmen,    dass  das  sitzen  auf  dem  hügel,    dessen  die 
Eddalieder  erwähnung  tun,    eine  kennzeichnung   der   herrscherstellung 
sein   soll,    also   in   demselben    sinne   gemeint   ist,    in   dem  Snorri   von 
dem  hügel  als  königssitz  berichtet. 

Von  hier  aus  eröffnet  sich  eine  möglichkeit  (mehr  ist  es  für  mich 
zurzeit  noch  nicht),  die  schwedische  sitte  der  königswahl  zu  erklären. 
Die  wähl  des  königs  der  Svear  geschah  in  der  art,  dass  der 
neugewählte  auf  einen  erhöhten  stein  gestellt  wurde,  den  Morastein 
in  der  nähe  von  Upsala^  Olaus  Magnus"  schreibt  von  ihm:  Est 
etiam  lapis  ingens  et  rotundus,  circiimcirca  duodec/m  minores  adjaceutes 
habens,  cuneatis  petris  paululum  e  terra  ehvatus,  non  procid  a  metro- 
poli  Upsalensi  Morasten  dictus:  siqjer  quem  novus  Bex  cligendus  iii- 
■ßnitn  popidi  midfifudine  pi-eserife  suscipitnr  -  und   an  anderer  stelle  ' : 

1)  Gautrekssaga  cap.  8;  Hrölfs  saga  cap.  1. 

2)  G^iigu-Hrölfss.  cap.  6.  10. 

3)  Str.  6. 

4)  Str.  42  (ed.  B u g g e;. 

.5j  Scheffer,  Upsalia  aiitiqua  1G66  p.  336  ff.;  Töriier,  Disscrtatio  de 
Mora  Steen,  Upsala  1700;  Wett  erb  lad  (praes.  Frondin),  Specimen  historicum 
electionem  regum  ad  lapides  Morenses,  Morastenar,  sistens  Upsala  1741;  Sclilyter, 
Juridiska  afhandlingar  p.  3.  4,  der  das  Mora{)iug  mit  dem  Mulal)ing  in  Öl.  s.  li. 
helga  cap.  81  in  Verbindung  bringt;  H.  Hildebrand,  Sverigcs  medeltid  II  s.  8.  9; 
E.  Hildebrand,  Svenska  statsförf.  1897  s.  69. 

6)  Historia  de  gent.  septenti'.  I  cap.  31.  Was  Johannes  3Iaguus,  Gotorum 
Sveorumque  historia  1568  lib.  XXI  cap.  1  berichtet,  ist  viel  kürzer  und  nielits- 
sagender. 

7)  üb.  Vin  cap.  1. 


12  LKH:\rANN 

Unde  (d.  li.  bei  lT|)sal;i)  )tou  procid  est  lapü  cmnpestris  amplus,  ab 
incol/s  perpetno  tempore  Morasten  appellatus,  in  circuitu  XII  continens 
lapides  paulo  minori  forma  humi  firmatos:  in  quo  loco  p>raedictl  sena- 
tores,  seu  reyni  consüiarü  ac  nuntii  confluere  solent.  Ibidem  ex  senatu 
praecipmis  oratione  circumspectu  proponit,  quam  necessarium  sit  pro 
regni,  omniumque  incolarum  Ubertate,  in  uniim  Regem,  ac  Principem 
consentire,  prout  a  majoribus  sup>ra  talem  lapidem,  qui  flrmi- 
taiein  signat,  'profidentius  fuerit  observatuw. 

Die  deutnng-  des  wahlsteins  als  Sinnbild  der  festig-keit  der  herr- 
seliat't  ist  natürlich  rein  rationalistisch.  Ahnlich  sagt  schon  Saxo  Gram- 
maticus':  Lecturi  regem  veter  es  affixi  hwno  saxis  insistere  suffra- 
giaque  promere  consuevernnt,  subj ectorum  lapidum  firmitate 
facti  constantiam  ominaturi. 

Ob  Saxo  vom  Morastein  gewusst  hat  oder  ob  ihm  brauche  in  Däne- 
mark vorschwebten,  ist  zunächst  die  frage.  Sicher  wird  das  letztere 
anzunehmen  sein.  Denn  die  Esromsche  chronik  erzählt,  dass,  als  die 
Juten  beschlossen,  Dan  zum  könige  zu  nehmen,  sie  ihn  zu  einem  stein 
führten  ^qui  dicitur  Daurerugh'  'posueruntque  eum  super  lapidem,  im- 
ponentes  ei  nomen  rer/is'\  In  der  Hervarar  saga  ok  Heiöreks  '  verlangt 
Hloör  bei  der  teilung  des  erbes  von  seinem  bruder  Angantj'r 

'Hafa  eil  ek  hälft  alt 
pat  er  Heidrekr  ättl 

grgf  pä  ina  helgu 

1)  lil).  I  im  anfang.  [Vgl.  Gering,  Weissag,  u.  zauber  s.  24  (anm.  2).  Deu  dort 
gesammelten  belegen  sind  hinzuzufügen :  Haröar  s.  Grimk.  c.  14  (Isl.  sögur  II  -,  42) 
und  forst.  s.  boejarm.  c.  6  (FMS.  III,  185).     Red.] 

2)  L  a  n  g  e  b  e  k ,  Scriptores  rer.  Dauic.  I,  224.  Ob  dieser  stein  identisch  ist 
mit  dem,  von  welchem  0.  Worm,  Danicorum  monumentorum  libri  sex  1B43  p.  89 
spricht:  In  Cimhria  j)rope  Viburgum  in  ejus  ferme  situm  .  .  .  exstat  quoque  saxum 
in  cnmpo  Danerliung  dicto,  in  quo  Daiium  primtim  inauguratum  volunt.  Vgl. 
A.  Huitfeld,  Danmarckis  rigis  kronicke  I,  1662  p.  5:  TJdvalgelse  slceede  udi 
Judland  hos  en  sto r  St e e n  paa  den  Hede,  som  effter  den  Hendelse  er  kaldet 
DanarUung.  —  0.  Worm  behauptet,  dass  auch  in  Leire  ein  'königsstuhl'  existiert 
habe  '■grandi  saxo  inter  reliqua  conspicuus'.  In  seiner  abbildung  von  Leire  auf 
p.  22  ist  der  mit  0  bezeichnete  ^Hyldehoy'  wie  es  scheint,  ein  grabhügel,  der  da- 
neben befindliche  natürliclie  liügel  0  soll  dazu  gedient  haben,  dass  der  zum  köuig 
gewählte  ihn  betrat  '■jura  populo  daturus  et  omnibus  conspiciendum  se  praebiturus\ 
Waren  zu  Worms  zeit  die  alten  denkmäler  in  Leire  noch  erhalten,  so  würde  seine 
abbildung  von  bedeutung  sein. 

3)  ed.  Buggc  p.  270. 


GRABHÜGEL    UXD    KÖXIGSHÜ(iEL    IX   NORDISCIIEIt    HEIDEXZEIT  13 

er  stendr  ä  GoÖpjödu 

steinn  pnnn  enn  fayra 

er  stendr  ä  stgöimi  Daiipar'. 

Schon  ]\[iiiich^  hat  darauf  hingewiesen,  dass  hiermit  wolil  der 
stein  'Danserugh'  gemeint  ist,  und  ihm  schliesst  sich  S.  Bugge  in  den 
anmerkungen  zur  Hervararsaga  ^  an.  Dass  der  bericht  Saxos  also 
ganz  unglaubwürdig  sei,  wie  Müller  und  Velschow''  und  neuesten» 
auch  Jantzen^  annehmen,  ist  kaum  richtig.  Nur  seine  deutung  ist 
so  wenig  glaubwürdig,  wie  die  des  Olaus  Magnus.  Dagegen  ist  die 
trage  zu  erheben,  ob  wir  es  nicht  mit  grabdenkmälern  zu  tun  haben. 
Die  steine,  die  zu  JMora  den  grossen  stein  umgeben,  sind  wohl  die 
Umfriedung,  der  grosse  stein  der  deckstein  des  heidengrabes.  Es  lag 
nahe,  dass  die  wähl  des  königs  an  heiliger  stelle  erfolgte.  Dazu 
benutzte  man  das  grab  eines  königs  aus  alter  zeit  {steinn  ä  stgdum 
Danpar).  Wie  der  deutsche  könig  später  auf  den  stuhl  Karls  des 
grossen  zu  Aachen,  wo  der  grosse  kaiser  ruhte,  gesetzt  wurde,  so 
wurde  der  schwedische  könig  schon  in  der  heidenzeit"  auf  das  grab 
eines  heidenkönigs  aus  alter  zeit  gestellt.  Der  tote  erteilte  ihm  ge- 
wissermassen  seine  weihe. 

Königshügel  und  thingstätte  mögen  nicht  selten  zusammengefallen 
sein.  Der  grosse  umfang  der  königshügel  konnte  sehr  wohl  zur  ab- 
haltung  einer  Versammlung  hinreichend  sein  und  die  heiligkeit  des 
grabhügels  teilte  sich  der  Versammlung  mit.  Vom  jarl  |3orgnyr  wird 
ja  berichtet,  dass  er  'mxUstefnur  auf  dem  grabhügel  seiner  gemahlin 
abhielt. 

Ob  Saxo "  etwas  derartiges  vorschwebte,  wenn  er  von  'Hotherus' 
berichtet :  'Consueoerat  autern  in  editi  montis  oertice  consulentl  poindo 
plebiscitff  depromere,  ist  allerdings  zweifelhaft.  Der  editus  mons  ist 
ja  mehr  als  ein  immerhin  niedriger  hügel.  Man  wird  an  das  %- 
berr/  und  die  p'mgbrekkur  Islands  erinnert',  von  denen  Saxo  vielleicht 


1)  Det  u.  f.  liistorie  I  s.  218. 

2)  s.  362.  363. 

3)  Notae  uberiores  zu  der  stelle  Saxos. 

4)  Übersetzung-  von  Saxos  ersten  neun  büchern  s.  17  auni.  2. 

5)  Die  ansieht  Scheffers  und  Törners,    dass   die    eiuführung    des    Mora- 
steins erst  in  eine  spätere  zeit  gehöre,  ist  willkürlich. 

6)  Lib.  III  p.  122  (ed.  Müller- Velschow). 

7)  In   der  Olafs  saga  Tryggvas.  (Fornm.  sögur  I  s.  280)   heisst  es:   'en  er 
l>iiigit  var  seit,  stöd  konungr  ä  hergi  nQkkuru  oh  hans  menn  umhverjis'. 


14  I.KIIMANN,    CKAI'.llCOEI.    UND    KÖXIGSHÜGEL    IX   NORDISCHER   HEIDEXZEIT 

ii-eliört  hat.  Aber  es  ist  erklärlich,  dass  später  bei  wachsender  grosse 
der  Verhältnisse  ein  fels  oder  berg-  den  grabhügel  ersetzte'. 

Wenn  die  kultstätten,  wie  nach  den  isländischen  Überlieferungen 
anzunehmen  ist,  mit  den  thingstätten  in  Zusammenhang  stehen,  und 
wenn  der  grabhügel  zugleich  opferhügel  ist  ^  so  ist  wahrscheinlich, 
dass  die  grossen  königsgräber  zugleich  thingstätten  darstellten,  dass 
das  'sitja  a  haiuji'  des  heidenkönigs  ein  ausüben  seiner  regierungs- 
gewalt  bedeutet,  und  dass  die  heiligkeit  des  grabes  zugleich  das  thing 
heiligt.  Die  Umfriedung  mit  den  steinen  war  dann  das,  was  später 
die  vehgnd  darstellten ;  die  steine  waren  zugleich  'döimteinar. 
J.  Grimm  führt  in  seinen  Rechtsaltertümern ''  zu  dem  jähre  789  ein 
placUum  ad  tumidum  qui  dicitur  Walinehoug  an.  Tiimulus  ist 
grabhügel  {timiidus  j^aganorum  in  Capitul.  de  partibus  Saxoniae)  K 
E.  H.  Meyer,  Mythologie  der  Germanen  s.  IIG  bemerkt: 

,Da  der  altgermanische  opferliof  häufig  zum  gerichts-  und  ver- 
sammluugsplatz  diente,  so  erklärt  sich,  warum  man  noch  im  mittel- 
alter  auf  grossen  grabhügeln,  als  auf  früheren  totenopferstätten,  ge- 
richte  und  Versammlungen  abhielt;  so  auf  dem  Gunzenle  bei  Augs- 
burg und  dem  Birtinle  bei  Rottenburg  am  Neckar.  Bei  dem  schitf- 
förmigen  grab  von  Blomsholm  in  Südschweden  steht  ein  ^dom- 
hringr\  ein  gerichtssteinring  mit  einem  mächtigen  (opferPjstein  in  der 
mitte'.  Diese  bemerkungen  erfahren  eine  wichtige  bestätigung  in  der 
thatsache,  dass  die  berühmte  thingstätte  der  Friesen,  der  ehemalige 
T  pstalsboomer  hügel  bei  Aurich,  nach  den  urnenfunden  zu  schliessen, 
eine  heidnische  grabstätte  gewesen  zu  sein  scheint  l  Dass  ähnliches 
bei  manchen  anderen  hünengräbern  anzunehmen  ist,  lehrt  der  augen- 
scheiu.  Die  grosse  des  grabes  wie  die  Umfriedung  erwecken  mit- 
unter den  gedauken,  dass  hier  gerichtsversammlungen  abgehalten 
wurden.     Gewiss    war    es    schief,    die    alten    steingräber   lediglich    als 

1)  Käluüd,  Histor.  topogr.  beskr.  I  s.  368  aum.  1  wei^t  darauf  hin,  dass 
auf  der  {)iugbrekka  in  der  MVTasysla  (dem  Pverärjjing)  sich  ein  grosser  stein  befand, 
der,  wie  es  scheint,  mit  dem  thingweseu  in  Verbindung  stand. 

2)  Index  superstitionum  in  Mon.  Germ.  Leges  sect.  II  4  °.  I  p.  223 :  De  sacri- 
legis  ad  sepulchra  mortuorum  und  hierzu  Golther.  Handbuch  der  geriu.  mythol. 
s.  92  ff.;  E.  Mogk  bei  Paul  III  s.  257. 

3)  4.  aufl.  bd.  II  s.  422. 

4)  Mon.  Germ.  Leg.  sect.  II  (4").     Tom.  I  p.  69. 

5)  Vgl.  über  den  ort  Upstalsbom  v.  Eichthofen,  Untersuchungen  über 
friesische  rechtsgeschichte  I  s.  297  ff.  und  die  dort  wiedergegebenen  angaben  von 
Wiarda  und  Arends,  welche  mir  durch  den  vorstand  der  gesellschaft  für  kunst 
und  vaterländische  altertümer  in  Emden  bestätigt  werden. 


KAPPE,    HIATUS    l'XD    SYXAL()PHE    BEI    OTFRID  15 

thingplätze  aufzufassen.  Hiermit  hat  die  neue  altertumsforschung  auf- 
geräumt. Aber  dass  sie  zugleich  nicht  selten  thingversammlungen 
dienten,  dafür  sprechen  die  obigen  quellenbelege  und  es  ist  die  frage 
aufzuwerfen,  ob  die  thingversammlungen  nicht  gerade  ursprünglich 
an  oder  auf  grossen  heidengräbern  stattfanden. 

ROSTOCK.  KAKI.    LEHMANN. 


HIATUS  V^D  8YNAL0EPHE  BEI  OTFRID. 

(Fortsetzung.) 

§  18.  Partikeln. 

1.  Die  negationspartikel  iii. 
A.  Im  aiiftakt. 

I.    Vor  einer  zweiten  vokalisch  anlautenden 

auftaktsilbe. 

1.  Die  zweite  auftaktsilbe  lautet  mit  /-  an. 

a)  Der  sonant  der  negation  ist  elidiert. 

Vor  ?>-.. 

11824  nirzi'yi,    thes   s/u  häti.     II  173  nirft'ilen  in  then  siiiiton.     II 196  nirgeii 

imo  iz  zi  gi'tatc.     IUl'235   Nirmcginot   sili,    ivisist  lliüz.     III  18  23  nirste'rbetit  sie  in 

eivon.     1112432  nirstirbit  er  in  eivon. 

Vor  int-. 
II9S  ni  intrdtent  sie  nihi'inan.    V  ninträtent.    1184(5  ni  intraUst  scädon  nia- 
mer.    P  nintratist.     II 12  30  ni  intivirkit  icörolt,  ella.     111920  ninticeih  imo  iowanne. 
11120 149  NintMizit  mir  iz  inuat  min. 

Vor  ir. 
II 22  28  ni  ir  si'diii  sculit  niazan.   P  nir. 

Vor  iz. 
III  22  54  nis  allo  icüroltfristi. 

b)  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

IVI38  ni  iz  Mar  in  drdriche.  IV  1346  ni  ili  gahi  seht  mina.  V23i4o  ni  in 
jungistemo  thinge. 

2.  Vor  dem  prou.  er  als  zweiter  auftaktsilbe. 
Alle  hss.  zeigen  stets  die  vollformen  nebeneinander. 

III  2338  ni  er  blintilingon  werne.  R"  löaa  ni  er  alla  frilrna  u-esti.  IV  26 21 
ni  er  uniar  uns  hiar  icörahii.  V1735  ni  er  ubarf aar i  ferro.  V19  4  ni  er  queine 
zi  themo  thinge. 

II.   An  zweiter  stelle  des  auftakts  vor  vokaliscii 
anlautender  h  e  b  u  n  g. 

IV  9  7    Wir  ni  eigun  sdr,  theist  es  mäst.    Y  23m  thaz  ni  aharwintcn   wir  vier. 


16  KAl'PE 

B.   lu  der  senkuug:. 

I.    Vor  einer  zweiten  vokalisch  anlautenden 

Senkungssilbe. 

An  zweiter  stelle  der  Senkung-  stehen  nur  die  präfixe  ir-  int-  in-. 

1 ,   Der  s  0  n  a  n  t  der  n  e  g  a  t  i  o  n  ist  elidiert. 

Vor  tr. 

12 18  21  ivise  nirgcmge.     111  5  ouh  iviht  es  io  nirdaältin.    127  00  t /uro  unduno 

nt  irzthu.     P  nirzlhu.     II 12 31    ther  geist  joh   icdzar   nan   nirbere.     6S   nah   niJiein 

nirwelit   thdz.     II 168    er    lamer    thar   nirstirbit.     II 22  22    tha    hungiru    nirstirbist. 

III 12  34   thaz   sie  nirgängen  thanan  üz.     III 18  32  er  iamer  sar  nirsterbe.     III 26 34 

tliaz   tvir   nirwürtin  furdir    dl.     IV  2  32    5  le    44    612    15  32    16  32    20  25   36 11;    V5i7 

7l    7    9 19    21  12    23237    261    274. 

Vor  int-, 
IliiQ  iz  alles,  tcio  uintsidiite.  II  348  foii  herzen  iz  ni  intfi'iarti.  P  nL  II()i4 
tlidz  sies  wiht  nintsdzin.  111124  tlioh  mdnn  es  io  ni  intgülti.  P  ninigiilti.  111256 
tldu  hält  ni  intfdhet  ir  thaz.  P  nintfdhet.  II 21 3  thaz  ihir  es  wiht  ni  intfälle. 
P  nintfalle.  III 9  is  bi  thiu  nintw^ih  er  mo  thdr.  III 10 36  dlle  man  nintneineiit. 
III 186  bi  Idii  niiitduat  sih  iuer  müat.     IV  16 28  thdz  er  iu  nintslnpfe.     V438  drof 

nintwerfet  iuer  müat. 

Vor  in-. 
IV  626  so  ninbizit  es  /dar.     IV  16 20  mit  niawi/da  er  ninglangi. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

in  768  furdir  zi  uns  ni  irri/itc.     IV  2038  fon  reue  iz  io  ni  iröugta. 

IL    An  zweiter  stelle  der  Senkung  vor  v 0 k a  1  i s c h 
anlautender  h  e  b  u  n  g. 

1.  Der  sonant  der  negation  ist  elidiert. 

124/  gebe  t/iemo,  ni  Mgi.  rV645  Er  wi/it  es  ou/i  tito  ni  dlta.  P  ni. 
III 25 24  io/t  //•  ou/i  wiht  thes  ni  dJitot.  V  ni  (/  zukorrigiert).  rV^47o  se  mo  innoiro 
ni  Sndun.     V  ni  (i  zukorrigiert). 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 
1111049  suli/i  ni  dba/ioti.     H 153  Ni  Idzet,  ni  ir  gi/iugget. 

Die  negationspartikel  ni  erhält  im  verse  nur  selten  einen  iktus. 
In  der  regel  erscheint  sie  in  der  proklise  in  auftakt  und  Senkung. 
Mit  dem  adv.  io  und  der  verbalform  iM  verschmilzt  sie  in  betonter 
und  imbetonter  satzstellung  ausnahmelos  zu  nio  nist.  Von  diesen 
formen  ist  daher  in  der  Statistik  abgesehen. 

Mit  einer  zweiten,  auf  i-  anlautenden  auftaktsilbe  wird  die 
negation  regelmässig  kontrahiert;  es  stehen  13  sprechformen  3  schreib- 
formen gegenüber.  Vor  dem  pronomen  er  als  zweiter  auftaktsilbe 
zeigen  alle  hss.  in  5  halbversen  stets  die  vollform.  Hier  scheint  der 
Vortrag  also  keine  elision  des  -/,  sondern  ein  diphthongisches  kontrak- 


HIATUS    UND    SYNALÖPHE    BEI    OTl'KID  17 

tionsprodukt  nier  zu  fordern.  Au  zweiter  stelle  der  Senkung  begegnen 
nur  die  präfixe  ir-  int-  in-.  Die  proklitische  negation  wird  stets  auf 
den  anlautenden  konsonanten  reduziert;  es  finden  sich  nur  2  schreib- 
formen gegen  39  kontrahierte  formen.  An  zweiter  stelle  des  auftakts 
und  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung  hat  die  Schwund- 
stufe der  negation  statt;  sie  ist  4mal  in  der  Senkung  bezeugt.  Die 
vollformen  finden  sich  2mal  im  auftakt  und  2mal  in  der  Senkung. 

2.  Die  affirmativpartikel  Ja. 
Es  kommen  nur  2  belege  in  frage.  IV  12-20  ja  iz  herzo  min  ni 
ruarit.  Das  pronomen  steht  in  der  enklise  hinter  der  partikel  und 
besitzt  ausserdem  weit  geringere  schallfülle.  Es  ist  daher  der  sonant 
des  pronomens  zu  elidieren.  IV  12.24  meistar,  ja  ih  iz  ni  hin. 
Der  Vortrag  hat  hier  vermutlich  keine  synalöphe  eintreten  lassen. 
Vor  der  partikel  liegt  eine  zäsur.  Auf  der  bekräftigenden  partikel 
liegt  ein  bedeutender  sinnesnachdruck,  der  eine  elisiou  des  sonanten 
auszuschliessen  scheint.  Es  fragt  sich,  ob  nicht  gar  auf  die  partikel 
ein  iktus  zu  legen  ist.  Ein  sinnvoller  Vortrag  würde  dies  gebieten, 
obwohl  eine  zweisilbige  Senkung  im  dritten  fuss  des  zw^eiten  halb- 
verses  sehr  ungewöhnlich  ist;  doch  sind  diese  senkungssilben  leich- 
testen gewichts. 

§  19.     Die  Interjektion  wola^a. 
Sie  findet   sich  2mal   unter  dem   hauptakzent   vor   vokalisch  an- 
lautender hebung.    Eine  kurzform  erweist  die  vollform  als  schreibform : 
15  67    Wolaga  ötmuati,  P   Wölaga.     I  I825    Wolaga  elilenti. 

§  20.     Der  konjunktiv  sl 
Hier  wird  noch  der  konjunktiv  st  nachzutragen  sein.    Er  konnte 
den  übrigen  verbalformen  nicht  angereiht  werden,  weil  sein  lautkörper 
ihn    synalöphegesetzen    unterwirft,    für   die    erst    die    letzten    gruppen 
genügendes  raaterial  brachten. 

A.  Im  auftakt. 

I.    Vor  einer  zweiten  vokalisch  anlautenden  auftaktsilbe. 

11224  si  in  erdii  fridii  ouh  dllen. 

IL   An  zweiter  stelle  des  auftakts  vor  vokalisch 
a  n  1  a  u  t  e  n  d  e  r  h  e  b  u  n  g. 
1.  Der  sonant  des  verbums  ist  elidiert. 
1285  Thaz   si   uns   ihtu  wintworfa.     P  siuns  {i  übergeschrieben).     IVJioo  nl 
si  dcur  mit  then  selbon.     IV  31 36  ihtih  si  emmiziger  scdlk  l/iin.     P  si. 
ZEITSCHRIFT   F.    BEUTSCHK    I'III  LOLOGIE.      BD.  XLIT.  2 


18  KAPPE 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 

II  4 10  ni  st  dkordi  thie  sine.  IV  822  ni  si  e/cordo  in  girihti.  IV  12 57  ni  si 
ekord  einlif  thegana.  V2387  ni  si  einfalte  thie  giiate.  III 2494  ni  si  dl  sos  ih  thih 
bäti.     11125 10  ni  si  uha  ivir  hirjlnnen.     V2394  ni  si  öba  iz  qui'ine  uns  mtiadon. 

B.  In  der  senkuii;^. 

I.     Vor   einer    zweiten   .vokalisch    anlautenden    «enkungs- 

silbe. 

V3i7  Mit  thiu  si  ih  10  bifangan.     P  tJi/u. 

IL  An  zweiter  stelle  der  Senkung  vor  v 0 k a  1  i s c li 
anlautender  h  e  b  u  n  g. 

1.   Der  sonant  des  verbums  ist  elidiert. 
11225  In  miiate  si  iti  yifestit.     P  si.     142  zi  giiate  s/  er  ginnnto. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 

L5  tJu'mo  si  iamer  heili.  IV  2637  Tliaz  sdlig  si  in  gixvlssi.  III9  thardna 
si  er  gizdlter. 

Wenn  der  konjunktiv  I  12  24  im  auftakt  mit  der  praep.  in, 
V  3 17  in  der  Senkung  mit  dem  pron.  ih  zusammentrifft,  lässt  der 
vorti-ag  zweifellos  kontraktion  der  beiden  gleichen  vokale  zu  einem 
langen  /  statthaben.  Wahrscheinlich  liefen  in  der  Umgangssprache 
doppelformen  um:  eine  betonte  form  mit  langem  vokal  und  eine  quanti- 
tativ verkürzte  unbetonte  form.  Diese  kurze  satzdoppelform  werden 
wir  in  auftakt  und  Senkung  voraussetzen  dürfen.  Vor  vokalisch  an- 
lautender hebung  an  zweiter  stelle  des  auftakts  und  der  Senkung  wird 
sie  auf  die  Schwundstufe  reduziert.  Es  finden  sich  3  sprechformen 
im  auftakt,   2  in  der  Senkung,  gegen  resp.  7  und  3  vollformen. 

§21.     Pronomina. 
A.  Ungeschlechtige  pronomina. 
1.  D.  pl.  iu. 
Es  handelt  sich  hier  nur  noch  um  einige  belege  des  unbetonten 
pronomens  in  der  Senkung. 

I.     Vor   einer    zweiten    v  0  k  a  1  i  s  c  h    anlautenden    s  e  n  k  u  n  g  s- 

s  i  1  b  e. 

Vor  iz. 

a)  Das  pron.  iz  verliert  seinen  sonanteu. 

V448^'a  ^vds  iuz  er  giMizan. 

b)  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 
III633  Ni   diiet   tu  iz  ouh  zi  riiachon.     112123  so  minu  wört  iu  iz  süczent. 
III 2350    'ih   Wille   iu   iz   Zeilen'   quad   er,   Vr'.     IV  159   sliumo   saget/  ih  iu  iz  sdr. 
V2O92  ih  scal  iu  iz  Zeilen  ubar  dl. 


HIATUS    UXD    SYXALÖI'HE    BEI    (riFlilD  19 

Vor  in  (praep.). 
11239  Sic  sint  iu  in  dnaratin.     IV  22 9  Jet  ist  tu  in  thesa  sUi. 

Vor  es. 
S29  hno  ia  es  bUdlicho. 

Vor  ouh. 
V451  Ih  zella  iu  ouh  scono  liuhi. 

IL    An  zweiter  stelle  der  Senkung-  vor  vokalisch 
anlautender  liebung-. 

12728  ^ii  hin  ih  ther;  ih  sagen  iu  ein. 

Eine  in  unbetonter  satzstellung  umlaufende  reduktionsstufe  des 
dat.  plur.  iu  lässt  sich  in  den  Otfridhss.  nicht  belegen.  Die  Senkung 
bleibt  also  überfüllt,  wenn  12728  das  pronomen  an  zweiter  stelle  der 
Senkung  vor  vokalisch  anlautende  hebung  tritt.  Vor  einer  zweiten 
vokalisch  anlautenden  senkuugssilbe  kann  synalöphe  nur  dann  statt- 
haben, wenn  die  zweite  senkungssilbe  sich  enklitisch  dem  pronomen 
in  unterordnet  und  nur  geringe  schallfülle  besitzt.  Das  pronomen  iz 
ist  V  4^8  hinter  iic  auf  die  Schwundstufe  herabgesetzt,  indem  der  aus- 
lautende konsonant  dem  pronomen  angeschlagen  ist.  Danach  sind 
die  5  belege  der  vollform  des  pronomens  iz  einzuschätzen.  Ebenso 
wird  der  Vortrag  vermutlich  den  sonanten  der  praep.  in  (II 289  IY229) 
und  des  pronomens  es  S29  elidieren,  die  sich  beide  dem  pron.  iu 
unterordnen.  Dagegen  ist  synalöphe  unmöglich,  wenn  eine  schwere, 
diphthongisch  anlautende  senkungssilbe  folgt:  V45i  Ih  zellu  iu  ouh 
scono  üubi.     Hier  muss  der  hiatus  zugelassen  werden. 

2.  thu. 

Es  handelt  sieh  hier  nur  noch  um  die  belege  des  unbetonten 
pronomens  in  auftakt  und  Senkung. 

A.  Im  auftakt. 

I.  Vor  einer  zweiten  vokalisch  anlautenden  auftaktsilbe. 

1.  Der  sonant  des  pronomens  ihn  ist  elidiert. 

111 02  thu  uns  helpha  druhtin  dciti.     P  thu. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

Vor  i~. 
n  22  24  ihu  is  ('dies  ivio  gifärawes. 

Vor  es. 
V22ii  thu  es  i<>  gilöuho  ni  bist. 


20  KAI'I'K 

IL   All  zweiter  stelle  des  aiiftakts  vor  vokalisch 

anlautender  li  e  b  u  n  g-. 

1.  Der  sonaut  des  pronomens  thu  ist  elidiert. 

a)  Die  hebiing-  lautet  mit  u-  an: 

1239  Sar  tliuzar  theru  meniyi.    V  tlmt'tzar  (erstes  u  uud  acc.  rad.).    P  thiia- 

zar  theru.     119 12  thaz  t/m  lins  thia  frilma  haltes.    P  thuns.    rV45i   Thaz  thünsih 

Mar  gihdltes.     m22ii    scheint   der   akzent    in   P  die    synalöphe    anzudeuten:    thaz 

tha  unsili  spenis  sus  zi  thir.     P  tliü. 

b)   Die   hebung   lautet   mit   einem    qualitativ   abweichenden  vokal   an. 

11122 12  ivil  du  iamer  thes  /rwizzen.  P  dij.  1112494  thaz  thu  alles  wio  ni 
däti.     P  ihn. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 

a)  Die  hebung-  lautet  mit  u-  an : 
112438    thaz    thu    uns    es    muazis    thdnkon.      IV  1949    Thaz    thit    wisih    nü 
gidua  w/'s. 

b)  Die  hebung  lautet  mit .  einem  qualitativ  abweichenden  vokal  an. 
117 18  ivar  thu  4mmizlgen  hlruicis.  II 9 89  wil  du  alla  w6roU  Zellen. 
II 14 53  Then  thu  afur  mi  nahis.  II 21 32  so  thu  4ngilon  daist  nu  thdre. 
III 2492  thaz  thu  Smmizen  io  föllon.  IV21i6  thaz  thu  iro  küning  nu  ni  bist. 
IV  2332  thaz  thu  io  zi  thisu  ivurti.  V9i7  Bist  thu  eino  ir  dlilente.  V22i6  thaz 
ihu  io  gihöran  wurti. 

B.  In  der  seukuug. 

I.  Vor  einer  zweiten  v okalisch  anlautenden 

s  e  n  k  u  n  g-  s  s  i  1  b  e. 

Vor  iz. 

a)  Der  sonant  des  pronomens  iz  ist  elidiert: 

1188  ni  mahtu  iz  öuh  noh  thanne.  P  mühtu  iz.  II 2 15  thaz  thu  iz  hdz 
wizist.  II 84  selho  mäht  thu  iz  lesan  thar.  P  mahtu  iz.  III 2462  sölbo  rnahtuz 
sehan  thar.  V  mahtu  :  z  (i  rad.).  V  lOs  ni  tveiz,  ivar  thu  iz  avur  f indes.  V  thuiz 
(i  erst  ausgelassen). 

b)  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

1227  in  V  gegen  P:  thdz  thu  is  harto  hältes.  P  ihaz  thii  iz.  V  133  selbo 
mäht  thu  iz  lesan  thar. 

Vor  ir-. 

a)  Der  sonant  des  pronomens  thu  ist  elidiert. 
V22i3  Ni  mahtu  irzMen  thaz  in  ivdr.     P  mahtu. 

b)  Hl 52  zeigt  P  die  form  a,  w^ährend  V  den  präfixvokal  elidiert. 

111 52  thaz  thu  irrimen  ni  mdlit.     P  Ihii  irj-lineu. 

c)  Alle  hss.  zeigen  die  vollformcn  nebeneinander. 

II 923  Tharana  muht  thu  irth^nken.  P  mahtu.  V662  ni  maJitu  irsc'han, 
wizist  thdz.     V2555  Ih  weiz  ouh,  thaz  thu  irkinnist. 


HIATUS   UND   .SYXALÖPHK   BEI   OTFRID  21 

Vor  es. 

a)  Der  sonant  des  pronomens  thu  ist  elidiert. 

II  9 19  thdz  thu  es  weses  wizo.  P  thaz  thu.  V  146  in  P  gegen  V:  war  thü 
es  lisis  mera.     P  tcar  thu  es  llsis. 

b)  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

II 848  ih  iceiz,  thu  es  mnana  bist.     V  i960  ihöh  thu  es  thar  highmes. 

Vor  7ins. 
115 18  thia  heili,  thia  thu  uns  gdrotos. 

Vor  in  (praep.). 
II 22  23  Gidtian  ni  mahfu  in  wdra.    IV  12 44  thaz  thu  in  müate  fuaris.   P  thdz. 

Vor  io. 
V  10  7  Ni  scaltu  io  nu  so  gidüan. 

Vor  ouli. 
V22i5  thero  drilto  bistu  ouh  einer.     P  bist  thu. 

II.    An  zweiter  oder  dritter   stelle  der  Senkung  vor  voka- 
lisch anlautender  hebung. 
1.  Der  sonant  des  pronomens  thu  ist  elidiert, 
a)  Die  hebung  lautet  mit  u-  an. 

12724  thaz  gizeli  du  uns  nu  sdr.  P  du.  V243  thaz  habest  thu  uns  gi- 
heizan.  V  duuns  (erstes  u  hinzukorrigiert).  IV  23 41  giu-a.lt  ni  hdbetistu  ubar 
mih.     P  hdbetist. 

b)  Die  hebung  lautet  mit  einem  vokal  abweichender  qualität  an. 
111735  in  P  gegen  V:  Öba  thu  ra  rüachis.  P  Öba  thu  ira.  in20i32«MWto'- 
thu  inio  folges.  P  thu  (u  übergeschrieben).  IV  21 4  öba  thu  iro  hiining  sis.  V  thu. 
II  20  7  Ion  ni  hdbes  thu  es  nihein.  P  thii  es.  IV  28  20  öba  thu  es  ouh  so  gch-o  bist. 
P  Hill.  V  23  202  thaz  hörist  thu  alias  thdnne.  H2G  thiz  flndistu  ana  dudla. 
II 21 1    Oba  thu  ouh  biginnes.    P  thu. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 
a)  Die  hebung  lautet  mit  u-  an. 

IV  30  27  öba  tliu  unser  hüning  sis. 

b)  Die  hebung  lautet  mit  einem  vokal  abweichender  qualität  an. 

II 922  erzelist  thu  ouh  thia  guati.  m  so  dr/nkist  thu  io  mit  irillen.  ss  ni 
drunki  thu  io  in  war  min.  91  irfülli  thu  io  mit  mdhti.  111777  Thar  findist  thu 
io  thuruh  not.  P  findistu.  85  Joli  findist  thu  öuh  ana  thdz.  P  findistu. 
IIIIO21    Ja    hilfist    thu    io    mit   willen.     DI  20 173    GiUuhistu   in    then   gotes   sun. 

Y  1231  Hiar  lisis  thu  öuh  gizami.  V  193i  Läsi  thu  io  thia  rMina.  59  Ni  ivari 
thu  io  so  richi.   V2337  Thaz  w/'sist  thu  in  giia'ssi.    203  'Thaz  nluzist  thu  iagili'cho. 

V  23276  thia  sihistu  alla  thdre.  H25  Alla  wörolt  zeli  thu  dl.  32  thaz  l/sist  thu 
ouh  zi  icdru.  40  thaz  lisistu  ouh  in  büachon.  105  Öba  thu  es  biginnis.  121  vo  Ziu 
feristu  inti  döufist.     P  fMst  thu. 


Auf  grund  der  synalöpheerscheinnngen  setzte  schon  Wilmanns 
a.  a.  0.  §  59  neben  dem  betonten  pronomen  mit  langem  vokal  eine  in 
unbetonter  satzstellung-  quantitativ  reduzierte  form  an.  Diese  kurzforni 
erscheint  bei  Otfrid  entweder  proklitisch  oder  enklitisch  in  auftakt  und 
Senkung.  Häufig  steht  das  pronomen  enklitisch  hinter  seinem  verbum. 
In  7  halbversen  folgt  auf  das  unbetonte  pronomen  ihn  das  pronomen 
iz  in  der  Senkung,  das  sich  wieder  enklitisch  an  das  pronomen  thu 
anlehnt.  Der  sonant  des  pronomens  ?^  wird  daher  elidiert-,  in  5  halb- 
versen ist  die  elision  vollzogen;  2mal  zeigen  alle  hss.  die  vollformen 
nebeneinander.  Vor  den  pronominibus  es  und  uns  erweist  sich  jedoch 
das  pronomen  thu  als  phonetisch  leichter.  II 9 19  V 146  ist  es  vor 
dem  pronomen  es  auf  die  Schwundstufe  herabgesetzt:  die  druckstärke 
beider  wörter  wird  in  diesen  versen  gleich  sein;  hier  entscheidet  die 
schallfülle.  Danach  sind  II 843  V196o  einzuschätzen,  wo  alle  hss.  die 
vollformen  nebeneinander  zeigen.  Ilöjs  steht  das  pronomen  thu  pro- 
klitisch vor  dem  pronomen  uns;  alle  hss.  zeigen  die  Schwundstufe. 
V22i3  steht  das  pronomen  ihn  in  der  enklise  hinter  seinem  verbum 
vor  dem  präfix  ir-;  P  elidiert  den  vokal  des  pronomens.  Dieselbe 
art  der  synalöphe  bezeichnet  P  111 52,  während  V  den  sonanten  des 
präfixes  unterpunktiert:  lllr,^  thaz  thu  irrbnen  ni  müht,  F  thu  irri-men. 
Man  wird  sich  hier  für  das  konsequente  verfahren  der  hs.  P  ent- 
scheiden und  in  jenem  vereinzelten  beleg  der  hs.  V  ein  versehen 
des  Schreibers  annehmen.  3mal  zeigen  alle  hss.  die  vollformen 
nebeneinander.  Auch  hier  tritt  das  phonetische  gewicht  der  senkungs- 
silben  als  bestimmender  faktor  der  synalöphe  hervor.  Vor  den  senkungs- 
silben  in  io  onh  kann  man  mit  Sicherheit  den  sonanten  des  pronomens 
tilgen.  Die  belege  der  Senkung  vermögen  die  schreibformen  des  auf- 
takts  zu  erhellen.  1 11 62  erscheint  das  pronomen  in  der  proklise  vor  dem 
pronomen  uns;  V  unterpunktiert  den  sonanten  des  pronomens  thu.  II 22.24 
lehnt  sich  das  pronomen  iz  enklitisch  an  das  pronomen  thu  an;  hier 
ist  der  sonant  des  pronomens  iz  zu  elidieren,  wie  auch  die  analogen 
sprechformen  in  der  Senkung  beweisen.  V22ii  wird  man  vor  dem 
pronomen  es  als  zweiter  auftaktsilbe  das  pronomen  thii  auf  die 
Schwundstufe  herabsetzen,  wie  die  geringere  schallfülle  des  pronomens 
ihn,  und  die  analogen  sprechformen  der  Senkung  nahelegen. 

An  zweiter  und  dritter  stelle  des  auftakts  und  der  Senkung  vor 
vokalisch  anlautender  hebung  wird  das  pronomen  thu  stets  auf  den 
anlautenden  konsonanten  reduziert.  Im  auftakt  erweisen  6  sprech- 
formen 11  vollformen  als  schreibformen;  in  der  Senkung  stehen 
11    sprechformen    20  schreibformen    gegenüber.     III 7  35    zeigt   V   eine 


HrATUS    UND    SYXALÜPHE    I!EI    OTFKID  23 

andere  auffassung-  des  verses  und  daher  eine  andere  rhythniisierung- 
als  die  hs.  P:  III 7  35  Oba  ihn  ra  ri'iachis,  P  Oba  ihre  ira.  Doch  be- 
weisen die  verse  III 20 132  und  IV  21 4,  dass  die  auffassung  des  Schreibers 
von  P  die  geläufigere  ist. 

B.  (ifeschlechtiges  pronomeu  der  3.  porson. 

1.  imo. 
A.  imo  unter  dem  haupt-  oder  nebeniktus  auf  der  Wurzel- 
silbe vor  vokalisch  anlautender  Senkung. 

I.  Vor  endbetontem  iaän. 
Unter  dem  hauptiktus. 

II  843  30h  zi  lino  naii  gihölota.     P  shno. 

II.  Vor  iz. 

1 .  Der  e  n  d  V  0  k  a  1  des  p  r  0  n  0  ni  e  n  s  i  ni  0  ist  elidiert. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

II 1499  thdz  man  imo  is  hrdhti.  P  imo.  112122  er  ir  imo  iz  zellet.  P  imo. 
IV  2229  Zi  hönidu  imo  iz  dätun.  P  imo.  VI  39  zeigot  imo  iz  suniar.  P  imo. 
V2337  thoh  imo  iz  dbioertnz  si.     P  imo  Iz  (acc.  rad.). 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 

V  20 102  mit  Imo  iz  niaze  nöti.     F  im  iz  io  zi  iioti. 

2.  Der  sonant  des  pronomens  iz  fällt  hinter  der  voll  form 

imo. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

IV  i960  mit  Imo  iz  säman  z unitin.     P  iz. 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 

II  642  joh  fon  imo  iz  wanta.     P  (z. 

3.    V  zeigt  die  form  1,  P  die  form  2. 

1276  iher  imo  iz  untarsdhi.     P  imo  iz.     F  imo  iz. 

4.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

I82  ivas  imo  iz  harto  üngiinali.  III  2 36  thaz  imo  iz  drtihtin  so  giliaz.  F  imo. 
VI 31  =  38  iz  zeigot  imo  iz  allaz.     V2;34i  Thoh  imo  iz  dbtoertae  si. 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 

III  738  er  imo  iz  ni  giniizta.     IV  18 38  thaz  imo  iz  Mar  al  gdganta. 

III.  Vor  es. 

1.  Der  endvokal  des  pronomens  imo  ist  elidiert. 

Unter  dem  nebeniktus. 

l\\(ö  int  imo  es  zäla  irgdbin.     F  imo  es. 


24  KAPPE 

2.  V  P    zeigen    die    form  1;    F   elidiert    den    sonanten    des 

pronomens  es. 

Unter  dem  hauptiktus. 

V18i6  er  im  es  alles  reda  duaf.     P  imo  (o  zugeschrieben).     F  iinos. 

3.  P   zeigt    die    form    1;    VF   elidieren    den    sonanten    des 

pronomens  es. 

Unter  dem  nebeniktus. 

II  Ig  ni  brdst  imos  lo  ihar.     P  imo  es  io. 

4.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 
11433  ther  liungar  dinf  imo  es  not. 

lY.  Vor  in  (praep.). 
1.   Der  endvokal  des  pronomens  ist  elidiert. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

II 3 18  sie  brdhtun  imo  in  hdnton.  P  imo.  II 4  84  int  imo  in  mt'taf  qudmi. 
P  imo.     V  23 143  Leident  imo  in  brüsti.     P  imo. 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 
nil89  Ni  bi'rut  ir  fon  imo  in  war.     P  imo. 

2.  P  zeigt  die  form  1;  V  elidiert   den  sonanten  der  praep. 

Unter  dem  nebeniktus. 

1112346  nu  quimit  l/htida  imon  müat.  V  imo:n  (/  rad.).  P  lihtidq  imo  in 
(i  übergeschrieben;  vorher  in  übergeschrieben  und  radiert).     D  /'mo  in. 

3.   Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

I820  ki'indt  er  imo  in  droitme.  121 4  quam  hnbot  imo  in  dröume.  II439T/JO 
sprüh  er  zi  imo  in  thesa  ivis.  III 22 10  spraclmn  sl  imo  in  fdrun.  IV  426  thaz 
thibnoti  imo  in  wdru.  IV  926  joh  thie  mit  imo  in  nöte.  IV  ITe  thoh  slüag  er  imo 
in  wdra.  IV  22  21  Joh  sdztun  sie  imo  in  höubii.  P  sie.  IV35i9  Ther  brdng  mit 
imo  in  wdra.     V2561  ist  itbilo  imo  in  müate. 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 

III  2084  joA  imo  in  thera  fr/sti.     R^  1822  mit  imo  in  therit  noti. 

V.  Vor  ist. 

1.  Der  endvokal  des  pronomens  imo  ist  elidiert. 

Unter  dem  hauptiktus. 
11039  Mit   imo   ist   sin  githigini.     FDP   imo.     II  He-    Wanta   imo    ist   al 
intMkit.     P  imo. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 
111241  thara  imo  ist  müatwillo.     II 13? /ora  imo  ist  bötoscaf  ouh  min. 


HIATUS    UND    SYNALÖPHE    BEI    OTFRID  25 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 

II 23 15  thaz  imo  ist  io  gislähtaz.     VI  27  theiz    !mo    ist  cd  ginuinit.     H43  Iit 
inio  ist  ans  thiu  fvrahta. 

VI.  Vor  rt/. 

1.  Der  end vokal  des  pronoinens  ist  elidiert. 

a)  Unter  dem  nebeniktiis. 

IV  9 18  mit  imo  al  sdman  aziii.     P  imo  (acc.  rad.). 

b)  Unter  dem  hauptiktus, 

V2O7  mit  imo  al  sin  githigini.     P  imo. 

2.  Alle  liss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

II 1833  thaz  imo  alliebesten  ist. 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 
II 1340  fon  imo  al  so  girtkUnot. 

VII.  Vor  uns. 

Unter  dem  hauptiktus. 
III  21 16  fon  imo  uns  is  ni  qudmi.     P  imo. 

VIII.  Vor  ouh. 

1.    Der  end  vokal  des  pronomens  ist  elidiert. 

Unter  dem  nebeniktus. 

III  20 162  sus  sjn-dchun  zi  imo  ouh  liärto.     P  imo. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

II 103   Ni    sint,    thie    imo    ouh    derien.      117 50  joh    imo    ouh    geba    bringe. 

III  2  27  zdltun  imo  ouh  innan  thes.     V20gi  Sie  öugun  zi  imo  ouJi  ivi-ntcnt. 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 

II 837    Thaz    sie    zi    imo    ouh   giangin.     IV  7 1    mit    imo    ouh    sine    thegana. 

IV  9 24  ni  fon  imo  ouh  ferron.     P  ni  fon  imo. 

IX.  Vor  io. 
1.  Der  endvokal  des  pronomens  ist  elidiert. 

Unter  dem  hauptiktus. 
III 43  Iz  was  in  imo  io  que'gkaz.     P  /mo. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

in  7 10  tvir  nnsih  imo  io  ndhen.     III  9 20  nintweih  imo  iowatine.     P  imo. 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 

II  1294  thaz  er  iz  zi  imo  io  fuage.     IV  I832  mit  imo  io  ni  giddti. 


26  KAPPE 

X.  Vor  er. 
Alle  hss.  zeigen  stets  die  vollformen  nebeneinander. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

II 9 37  In  Imo  er  snazo  lebeta.  1112029  fon  imo  er  si'ilih  Jiiar  ni  sprüh. 
V450  mit  imo  er  vier  ni  fihiit. 

b)  Unter  dem  banptiktns. 
1 17  41  Zi  imo  IT  ouh  iho  Iddota. 

XL  Vor  ingegin  ingegini  ein. 

Es  finden  sieb  3  belege  der  vollform  unter  dem  nebeniktus, 

1349  Ther  imo  ingegin  gärota.  11  log  Thie  hrdhtuu  imo  ingegini.  13  cd 
queman  imo  ingegini.     1112025  Nünt  er  imo  ein  wäzar. 

XII.  Vor  ir-. 

Alle  hss.  zeigen  stets  die  vollformen  nebeneinander. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

II 1248 /o«  imo  irhoran  werdent.  III  228  the)i  ndmon  imo  incilita.  Y\  Si  er 
w!g  zi  imo  irhi'tabi.  IV  1730  ni  gidörstun  zi  imo  irwlntan.  IV  23 20  ni  mag  ih  in 
imo  irf/ndan.    IV  2623  tliia  frätna  in  imo  irUsgen.    IV  35 10  hfaz  er  imo  irgeban  sar. 

b)  Unter  dem  hauptildus. 

L37  In  !mo  irhugg  ih  ihrdto.  IV^  I230  er  zi  imo  irfrägeti.  P  imo.  IV  21 10  er 
iz  fon  imo  irthahti. 

XIII.  Vor  in-. 

Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 
Unter  dem  nebeniktus. 

ni20ni  loer  thiu  öugan  imo  inddti.  P  thiu.  IV23i6  ingegin  Imo  inhran 
thaz  Vi  dat. 

B.  imo  unter  dem  nebeniktus  auf  der  endsilbe. 
Es  folgt  stets  eine  unbetonte  silbe. 
I.  Hinter  einer  konsonantisch  auslautenden  haupt- 
heb u  n  g. 

a)  In  zweiter  hebung. 

L36  siiaz  imo  sin  IIb  al.  LsB  läz  imo  thie  ddga  sin.  1 1 121  waz  gut  imo 
gibiete.  11733  Er  imo  iz  gizeinta.  P  Imo  iz  (acc.  rad.).  II  19g  nirgeit  ittw  iz  zi 
güaie.  119 33  in  thiu  wds  imo  gimiagi.  53  ouh  trihi  imo  ni  ddroti.  11126  then 
Siin  imo  giheiUi.  III  11 24  thia  thürft  imo  gikidgoii.  IV  U  8  dl  imo  zi  henti. 
IU54  thaz  %oirs  imo  ni  tvürti.  1111123  then  not  imo  gizeliti.  rV436  then  weg  imo 
gistreicitin.    IV  27  30  thaz  st4it  imo  giseriban  thar.    IV32ü  joh  sdh  imo  thaz  jdmar. 

b)  In  dritter  hebung. 

II 4 16  tho  ni  loärd  imo  ther  sdnd.  D  imo.  III24ioi  Quek  ward  sdr  imo 
thaz  mtiat.     IV  4 12  saget  thio  thürfti  imo  in  wdr. 


HIATUS    UXD    SYXALÖPHE    BEI   OTFRID  27 

II.  Hinter  dem  prouomen  er  als  senkungssilbe. 

V1326  ni  möht  er  mo  (jistHlen.  11 5 19  in  D  gegen  V  P  F:  thöh  er  mes  ni 
hörti.     P  imo  es.     D  mos. 

III.  Hinter  dem  pronomen  er  als  auftaktsilbe. 

in  5  3   Tho  er  mo  firhöt  thio  dclli. 

IV.   Hinter  einer  volvaliscli    auslautenden   senkungssilbe. 
1.  In  mindestens  einer  hs.  findet  sieh  die  form  mo. 

a)  In  zweiter  hebnng. 

L7  Höhe  mo  gimucito.  55  sin  richi  mo  gihriitta.  75  kr  Ist  löko  mo  thaz 
müat  sin.  P  krist.  12 2s  gisdwa  mo  firlihe.  11 21 10  seih  so  mo  ther  hals  dual. 
II  248  fölgete  mo  githiuto.  IV  18 40  so  rüarta  mo  thaz  hirza.  Vllii  ir  siinta  mo 
bildzet.  V 23253  ri'iere  mo  thaz  hlida  miiat.  III144iioA  zälta  mo  ihiu  werk  thar. 
F  imo.  IV  11 26  iz  siiazo  imo  gisdgeta.  P  imo.  II 4 84  theiz  wciri  mo  gizäini. 
P  wdri  imo.  F  ivari  imo.  IV  1723  so  er  rüarta  imo  thaz  ora.  F  ruarta  mo. 
P  rüarta  imo. 

b)  In  dritter  hebung-. 

Le  druhtin  hohe  mo  thaz  güat. 

2,  Alle  hss.  zeigen  die  voll  form  imo. 

a)  In  zweiter  hebung. 

11617  zalta  imo  thia  güati.  111252  er  scöno  imo  iz  gizeintu.  III  10 s  zdlla 
imo  thaz  ira  se'r. 

b)  In  dritter  hebung. 

rVSSe  bat,  man  gdbi  imo  then  mdn. 

C.  imo  im  auftakt  vor  vokalisch  anlautender  hebung. 

I.  imo  steht  allein  im  auftakt. 

1.  Der  endvokal  ist  elidiert. 

II 7 25  Imo  ilt  er  sar  gisdgen  thaz.  P  Imo.  IV  18 19  imo  dngust  ouh  tho 
gröza.     P  imo. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 
11482    imo    ellu   loöroltridn.     II 67   imo   übilo   iz  gisäzi.     IV 46    imo   einan. 
esil  holetin. 

IL  iino  an  zweiter  stelle  des  auftakts  vor  vokalisch 
anlautender  hebung. 
V  23 141   T/iiu  mo  dllaz  Hob  inselzit.     P  mo. 

D.  imo  in  der  Senkung. 

I.  Hinter  einer  konsonantisch   auslautenden  hebung  vor 

einer  konsonantisch  anlautenden  hebung. 

II  lies  in  P  gegen  V:  ni  was  imo  thurft  thera  frdga.  V  7vds  (acc.  rad.).  P  /(/ 

lods  imo.     V  23 142  duit  imo  widarmnati.     III  20 28  brahta    imo   seihen  guat  gimdh. 

V  imo  (iicc.  rad.).     P  brahta. 


28  KAPPE 

IL  Hinter  einer  auf  -r  ausgehenden  hebung  vor  einer 

konsonantisch  anlautenden  h  e  b  u  u  g. 

1.  In  mindestens  einer  hs.  findet  sich  die  form  mo. 

In  allen  hss. 

1.  fuss. 

IV  1063  Thaz  er  mo  sie  gihialti.  V  mo  {i  riid.).  1 25 14  soso  er  mo  selho 
gibot.  1275  thaz  er  mo  llld  ihes  thiu  mer.  II 6 4  thaz  er  mo  hdrto  firsprdh. 
6  thaz  er  mo  hörgeti  thiu  haz.  11726  want  er  mo  l/obosto  ums.  4o  thaz  er  mo 
fölgeti  sar.  II12ii  tliaz  er  mo  war  zalta.  II 13 13  thes  er  mo  zuagisprichit. 
III  1 39  tholi  er  mo  sere  sinas  mi'iat. 

2.  fuss. 

143  Zi  hiun  er  mo  quenun  las.  II 7 3  Mit  zühtin  sier  mo  huldta.  e2  joh 
zeihan  er  mo  zälia.  11936  In  berge,  the  er  tno  zeinti.  1111227  Githdnkota  er  mo 
hdrto.     124 18  gihöafot  er  mo  manag  guat.     II  937  zi  herzen  er  mo  hlebeta. 

3.  fuss. 

in  9 18  hi  thiu  nintweih  er  mo  thdr.     1447  harto  föraht  er  mo  thoh. 

In  mindestens  einer  hs. 

112240  gtiat  ob  ir  mo  folget.  F  imo.  V  11 33  Hiaz  er  imo  thdnne.  F  mo. 
15 65  tJiar  gidi'iat  er  imo  ive.  P  imo.  F  dual  er  mo.  1166  Hdrto  sageta  er  imo 
thdz.     P  sdgetq  er  imo.     D  imo.      111  %i  Sliumo  sdgeta  er  mo  thdz.     P  imo. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform  imo. 

1 1 122  thaz  ivir  imo  Mar  gisiingun.  15  56  giditat  er  imo  f remidi.  II 12  51 
Scono  zdlt  er  imo  thdz.  II 4  33  in  P  gegeu  V:  Nu  scephe  er  imo  Mar  bröt. 
P  er  imo. 

III.  Hinter  einer  vokalisch  auslautenden  hebung-  vor 

einer  konsonantisch  anlautenden  hebung. 

1.  In  mindestens  einer  hs.  findet  sich  die  form  mo. 

In  allen  hss. 

1.  fuss. 

II 1326  thaz  sie  mo  thoh  gilöuhen,  II2220  thu  mo  llahara  bist.  32  thaz 
thu  mo  steina  bietes.  1111046  oba  sie  mo  ivollent  hören.  III20i4o  thaz  sie  mo 
batin  übiles.     IV  29  50  Tho  simo  sküaf  thaz  gifdnk. 

2.  fuss. 

II 449  Thiu  prüanta  simo  mera.  IUI 37  Mit  henti  siu  mo  scirmit.  10  2461 
Gihöt  er  sie  mo  zelitin.    IV  4 45  zi  wörolti  si  mo  heili.    V1546-£V  mit  thiu  mo  zdlta. 

In  mindestens  einer  hs. 
in  129   Sie   imo   rddinotun.     F  mo.     III  20 121   Wio   mo   so  gizdmi.     P   Wlo 
imo  (imo  erst  ausgelassen).    IUI 34   süntar  si  imo   münto.     P  imo.    rV1973  Thiu 
öugun  sie  imo  büntun.     F  mo.     IV26i6  ivaz  tvizm  sie  imo  drühtin.     F  mo. 


HIATUS   UND    SYXALÖPHE   BEI    OTFRID  29 

2.  Alle  liss.  zeigen  die  voll  form  iino. 

IV  823  Sie  imo  Sflr  thuruh  thcts.  rV266  tvaz  sie  imo  Uwes  irlzzin.  IV  16  37 
in  P  gegen  V:  sie  imo  sar  iz  zi'dtan.     P  Sie  imo  sdr. 

IV.  Hinter    einer   konsonantisch    auslautenden    silbe    vor 

V  0  k  a  1  i  s  c  h  anlautender  h  e  b  u  n  g-. 

1.    Es   geht    eine    hebung   voraus. 

a)  In   mindestens   einer  hs.  ist   der   endvokal  des  pronomens  elidiert. 

1 1628  want  iz  was  imo  anan  Mnti.  P  imo.  I-iis  ni  was  imo  dnawaiü. 
P  mo.  F  imo  in.  II 496  thaz  man  imo  iogilicho.  P  imo.  Lge  inliuhte  imo  io 
thar  iciinna.  125 10  kündtq  imo,  er  iz  loölta.  P  er.  F  ktindt  imo.  III 828  jok 
diofo  imo  ouh  ginigen.  P  dhfo  imo.  V23u4  ist  incra  imo  in  theru  brusti. 
P  mera  imo  (punkte  rad.).  18 13  Er  thdhta  imo  ouh  in  gdhi.  P  imo.  F  im  .'ouh 
(das  /  als  trennungszeichen  zwischen  m  und  o  gesetzt).  IV  629  joh  gerno  imo 
ängusi  giduan.     P  imo. 

b)  Die  elision  ist  nicht  bezeichnet. 

1.  fuss. 

Lö  joh  frewe  mo  emmizeii  thaz  müat.  L52  sclrmtq  imo  iogilicho.  54  gilihlq 
imo  ellu  sinn  jdr.  L23  Biat  göt  imo  ofto  in  nötin.  L43  Riat  imo  io  gimüato. 
L53  Biat  imo  lO  in  notin.  I811  Iz  was  imo  üngimuati.  II 437  thdz  imo  io  zi 
scdden  ward.  42  ni  wds  imo  es  nihein  not.  II  69  Thdz  imo  ouh  ni  wdri.  D  thaz 
imo.  II 939  Wdrd  imo  ouh  thaz  ioüntar.  II 1830  joh  geh  imo  al  zi  heiiti. 
1111332  in  V  gegen  P:  thaz  sint  imo  untar  henti.  P  sint  imo.  IV  20 11  =  2821  ^a/' 
imo  dntwurti.  IV  22 15  Biaf  imo  dl  iiigegini.  rV2334  ni  gab  imo  dnticurti. 
V2567  thaz  diiit  imo  tibil  herza. 

2.  fuss. 

116 25  Wizzi  tlieh  imo  ana  sdr.  07  G6ies  geist  imo  dnatcas.  IITss  ivdn,  iz 
qudmi  imo  in  sin  miiat,  HI  15 17  tluiz  er  giddti  imo,  einan  düam.  IV  2423  Ther 
Hut  mit  thisu  imo  dnalag.  II 8 40  es  wiht  ni  qudm  imo  ou/t,  in  wdn.  119 n  Druhtin 
kos  imo  einan  u-lni.  IV818  er  wolta  duan  imo  einan  duam.  rV1525  thiz  selba 
wds  imo  untar  zuein.  IV  22 13  Tiianne  wds  imo  aciir  t/ier.  W26j  thie  fölgetiin 
imo  alle. 

2.  Es  geht  eine  Senkung  voraus. 

Es  findet  sich  nur  ein  beleg  der  volltbrm. 
1278  g/angun  imo  al  giliche. 

V.  Hinter   einer   auf  -r  auslautenden   silbe  vor  vokalisch 

anlautender  silbe. 
1.  Hinter  einer  betonten  vor  einer  unbetonten  silbe. 

a)  imo  wird  auf  den  inlautenden  konsonanten  reduziert. 

Vor  iz. 
II  1228  joJi  er  mo  iz  al  gisüazta.     P  mo. 

Vor  es. 
in  25 II   oba  ic/r  mes  diien  ihie  fristi. 


30  KAPPE 

b)    Hinter   der   kurzform    mo   ist   der   soiiant   des  präfixes  ir-  elidiert. 

1067   Thoh  habet  er  mo  /rdeilü.     P  imo  irdeilit.     F  mo  irdeilit. 

2.  Hinter  einer  unbetonten  silbe  vor  einer  betonten  silbe. 
a)  imo  wird  auf  den  inlautenden  konsonanten  reduziert. 

1166  Tker  gutes  geist,  ther  mo  dnawas.  P  mo.    D  mo.    F  imo.     II  767  Gab 

£!•  mo  äntivurti.     P  mo.     F  enn.     111227  Gab  er  mo  üntwurti.     P  mo.     I653  tlidr 

er  imo  !o  instrtche.    F  ermo  io.    P  er  imo  io.  11 5 19  in  V  F  P  gegen  D :  thöh  er 
mes  ni  hörti.     P  iinq  es.     D  mos. 

b)  In  mindestens  einer  hs.  ist  die  form  mo  belegt. 
1350  thie  wega  riht  er  (mo  ubar  dl.  P  imo  (i  übergeschrieben).  F  mo. 
14:68  wds  er  mo  aviir  sdgenti.  II  938  wdrd  er  mo  ouh  zi  rtiavie.  IUI  40  thoh  düat 
er  mo  avur  bitherbi.  11129  =  IV  11 25  gab  er  mo  dnttvurti.  IITei  thdz  er  mo  er 
hünd  ivas.  IV  15  0  l<:ert  er  mo  dllesivio  thaz  mnat.  IV  30 32  nii  helf  er  mo,  ob  er 
wolle.     F  imö. 

c)  Alle  liss.  zeigen  die  vollform  into. 
II 491  Tho  gab   er   imo   dnitvurti.     II 1334  thaz  glbit   er  imo  alias  dlangaz. 
IV  8  8  er  er  imo  io  ingiangi.    P  er  er. 

3.  Zwischen  zwei  unbetonten  silben. 

II  5 10  tlio  irbonth  er  imo  io  tliös  sindes. 

VI.  imo  in  vokalischer  umg-ebung. 

1.  Hinter  einer  betonten  silbe  vor  einer  unbetonten  silbe. 

II  5 12  iii  sdweta  imo  es  n/atoiht.  P  iniq.  IV  145  ni  s/  imo  in  t/tiu  ginuagi. 
P  si  /  mo. 

2.  Hinter  einer  unbetonten  silbe  vor  einer  betonten  silbe. 

imo  wird  auf  den  inlautenden  konsonanten  reduziert. 

III1632io7t  ^vdz  sie  imo  alle  wizun.  P  imo.  F  mo.  lösi  gab  si  imo  dnt- 
irurti.     P  simq.     F  si  imo. 

Die  ahd.  normalform  des  dat.  sg.  m.  n.  seit  dem  9.  Jahrhundert 
ist  imo.  In  dieser  gestalt  erscheint  das  pronomen  auch  in  den  Otfridhss. 
regelmässig,  wenn  in  neutraler  Umgebung  auf  der  Wurzelsilbe  ein 
haupt-  oder  nebeniktus  liegt.  Vor  vokalisch  anlautender  Senkung 
verliert  die  betonte  vollform  ihren  endvokal;  hier  hat  die  ablautstufe 
Im  Im  statt.  In  6  halbversen  ist  vor  dem  pronomen  iz  das  auslau- 
tende -0  elidiert,  5mal  in  P,  Imal  in  F;  V  hält  hier  auffallend  zähe 
an  den  schreibformen  fest.  2mal  hat  jedoch  der  Schreiber  von  P  den 
sonanten  des  enklitischen  pronomens  iz  hinter  der  vollform  imo  unter- 
punktiert. 127  6  zeigt  V  die  form  1,  P  die  form  2:  127  6  iher  imo  iz 
iintarsähi,  P  imo  iz,  F  imo  iz.     Dem  endvokal  des  pronomens  müssen 


HIATUS    UND    SYNALÖPHE   BEI    OTFRID  31 

wir  danach  den  wert  eines  irrationalen  vokals  zuschreiben.  In  der 
Umgangssprache  des  9.  Jahrhunderts  lief  also  schon  die  gestalt  des 
pronomens  um,  die  wir  als  ime  erst  für  die  mhd.  zeit  anzusetzen 
gewöhnt  sind.  Zu  demselben  schluss  führen  noch  andere  sprech- 
formen der  Otfridhss.  Vor  der  praep.  in  ist  4mal  das  auslautende 
-0  des  betonten  pronomens  elidiert.  III 23  46  zeigt  P  diese  form  1, 
während  V  die  sprechform  imon  aufweist,  die  infolge  der  notwendigen 
gleichwertigkeit  beider  darstellungsformen  den  endvokal  als  irrationales 
-'I  kennzeichnet:  11123  40  nu  quiniit  ühtida  imon  mi'iat,  V  imo  :  n  (/  rad.), 
P  lihtida  imo  in,  D  mio  in.  Endlich  finden  sich  beide  darstellungs- 
formen  auch  vor  dem  pronomen  es:  I  lle  int  imo  es  zcila  irgäbin, 
F  imo  es.  VI816  er  im  es  alles  reda  dual,  P  imo  {0  zugeschr.),  F  imos. 
II  1 9  ni  bräst  imos  io  thar,  P  imo  es  io.  Eignet  jedoch  dem  an- 
lautenden vokal  der  senkungssilbe  stark  abweichende  qualität,  so 
findet  sich  nur  die  form  1.  Sie  ist  belegt  vor  al  uns  ouh  io.  Nur 
die  schreibformen  begegnen  vor  den  Senkungssilben  er  ingegin{i)  ein 
ir-  in-.     Überall  ist  der  endvokal  des  pronomens  zu  elidieren. 

Das  pronomen  imo  kann  in  den  Otfridversen  auch  auf  der 
zweiten  silbe  betont  sein.  Einen  akzent  erhält  sie  in  den  hss.  jedoch 
niemals.  Die  betonungsstufe  imo  stellt  sich  am  reinsten  dar,  wenn 
das  pronomen  hinter  einer  auf  einen  konsonanten  —  ausser  r  —  aus- 
lautenden hebung  vor  einer  unbetonten  silbe  steht.  Die  Wurzelsilbe 
füllt  die  Senkung.  Der  Vortrag  erreicht  regelmässigen  Wechsel  von 
hebung  und  Senkung,  indem  er  auf  die  zweite  silbe  des  pronomens 
einen  uebeniktus  legt.  Einen  sprachlichen  iktus  trägt  das  pronomen 
hier  nicht.  Es  handelt  sich  um  eine  rein  im  vortrage  des  verses  be- 
gründete rhythmische  erscheinung.  Dabei  gilt  als  co)tditio  sine  qua 
non,  dass  stets  eine  unbetonte  silbe  folgt.  Schon  bei  Lachmann  und 
später  bei  Wilmanns  s.  93  findet  sich  die  beobachtung,  dass  end- 
betontes iml)  meist  in  der  2.  hebung,  selten  auf  3.  liebung  auf- 
tritt. Beide  fassen  die  erscheinung  als  enklise;  vgl.  AVilmanns  s.  93: 
'von  der  ersten  hebung  war  das  enklitische  ])ronomeii  selbstverständ- 
lich ausgeschlossen ;  auf  der  dritten  hebung  konnte  es  nur  gebraucht 
werden,  wenn  der  vers  auf  eine  Stammsilbe  ausgeht,  was  ja  viel 
seltener  ist  als  akzentuierung  des  ersten  iktus'. 

Lachmann  und  Wilmanns  lassen  es  unentschieden,  ob  in  der 
ersten  hebung  des  zweiten  halbverses  imo  inan  ira  vor  einer  konso- 
nantisch anlautenden  unbetonten  silbe  (II  15  7,  4  100,  IV  33  g)  wurzel- 
oder  endbetont  seien.  Es  scheint  mir  richtig  wurzelbetonung  anzu- 
nehmen.    Otfrid   kennt  keine  reimbrechuni;-.     (Icwiss  sind  seine  verse 


32  KAPPE 

lang-zeilen  und  zeigen  eine  enge  syntaktische  Verknüpfung.  Gewiss 
hat  Wihiiauns  nachgewiesen,  dass  sich  diese  Wesenheit  der  Otfrid- 
verse  auch  in  ihrem  rhythmischen  Charakter  ausprägt,  dass  am  ende 
der  ersten  halbzeile  die  stimme  gehoben  bleibt,  um  auf  das  folgende 
liinzuweisen.  Aber  wir  sind  doch  nur  dann  befugt,  die  erscheinung 
als  enklise  aufzufassen,  wenn  sich  das  endbetonte  pronomen  unmittel- 
bar einer  haupthebung  unterordnet.  Davon  kann  nun  in  jenen  3  verseu 
kaum  die  rede  sein:  II  499  tho  warun  engilo  thär.  100  {ni  bräst  iro 
ioiranne)  imo  zi  thiononne.  Hier  ist  ein  selbständiger  satz  ein- 
geschoben, der  den  abhängigen  Infinitiv  rhythmisch  isoliert;  die 
enklise  ist  unbedingt  aufgehoben.  Wir  werden  auch  II  167  und 
IV  33  6  nicht  von  enklise  sprechen  dürfen,  wo  die  zweite  hälfte  des 
1.  halbverses  von  erweiternden  präpositionalen  Wendungen  einge- 
nommen wird:  II  15  7  Sie  (jf'rotim  al  In  manne  inaii  zi  rlnannc 
IV  33  6  ni  liaz  in  Hcinnn  fhuruh  thäz  ira  gisiuni  hlißaz.  Ausserdem 
scheint  mir  die  endbetonung  den  rhythmischen  Charakter  des  2.  halb- 
verses zu  zerstören.  Die  wurzelbetonung  bringt  in  die  erste  hälfte 
des  halbverses  ein  rasches,  durch  die  leichten  seukungssilben  noch 
erhöhtes  tempo,  wie  es  der  rasch  zur  haupthebung  im  2.  fuss  auf- 
steigenden rhythmischen  bewegung  angemessen  ist,  die  dann  langsam, 
feierlich  absteigt.  Die  endbetonung  würde  das  gewicht  des  zweiten 
iktus  wesentlich  herabsetzen,  zumal  in  der  Senkung  nur  die  leichten 
Silben  zi  gi-  stehen.  Der  zweite  halbvers  würde  durch  die  end- 
betonung einen  leisen  bruch  in  seinem  rhythmischen  tluss  erleiden. 

Das  endbetonte  pronomen  imo  verliert  seinen  wurzelvokal,  wenn 
er  in  der  Senkung  mit  einem  laut  grösserer  schallfülle  zusammentrifft. 
X)iese  ablautstufe  mö  bat  statt  hinter  einem  zweisilbigen  wurzel- 
betonten vokalisch  auslautenden  wort.  Da  dem  wurzelvokal  des  end- 
betonten pronomens  infolge  der  akzentversetzung  nur  sehr  geringes 
phonetisches  gewicht  eignet,  muss  er  last  immer  dem  vorhergehenden 
senkungsvokal  weichen.  Nur  ganz  selten  ist  einmal  der  endvokal 
elidiert;  regelmässig  findet  sich  dann  aber  auch  die  form  m,(j  hinter 
der  vollform  des  zweisilbigen  Wortes;  es  ist  damit  die  phonetische 
gleichwertigkeit  der  in  der  Senkung  zusammentreffenden  sonanten  er- 
wiesen. 14nial  ist  in  einer  oder  in  allen  hss.  die  form  mo  belegt; 
4mal  ist  sie  aus  der  orthographischen  vollform  herzustellen.  Hinter 
dem  unbetonten  pronomen  er  ist  V  13  26  und  III  5  3  der  wurzelvokal 
des  endbetonten  pronomens  gefallen.  Der  wurzelvokal  erlangt  keine 
silbenbildende  geltung,  indem  der  Vortrag  von  der  artikulation  des 
gerollten  r  gleich  zur  artikulation  des  nasals  übergeht.     Zwischen  den 


HIATUS   UXl)    SVXAI.ÖPHK    llEI    OTFIMD  33 

])ciden  stark  hervortretenden  artikulationsmomenten  wird  der  wnrzel- 
vokal  unterdrückt.  Abweichend  von  V  P  wählt  D  diese  form  der 
rhythmisierung-  in  vers  II 5 19  thoh  er  nies   ni  hörti,    P  imo  es,   D  mos. 

Es  erhebt  sich  die  frage,  inwieweit  diese  endbetonung  auch 
für  die  Umgangssprache  in  anspruch  zu  nehmen  sei.  Das  streben 
nach  regelmässigem  Wechsel  zwischen  betonten  und  unbetonten  silben 
ist  ein  wesentlicher  zug  deutschen  Sprachgefühls  seit  alter  zeit.  Es 
beherrscht  in  weitem  umfang  die  naive  gesprochene  rede  und  ging 
so  als  ein  konstituierender  faktor  in  unsere  künstlerische,  rhythmisch 
geordnete  rede  über.  Aber  die  spräche  des  verses  unterscheidet  sich 
von  der  Umgangssprache  gerade  dadurch,  dass  die  versbetonung  die 
nebenakzente  verstärkend  herausgreift.  So  kräftig  wie  die  endbetonung 
dieser  formen  -  es  handelt  sich  um  imo  inan  iru  ira  iro  luisili  — 
uns  heute  aus  Otfrids  versen  entgegenklingt,  so  dass  wir  sie  ohne 
Störung  des  Wohlklangs  der  verse  nicht  umgehen  können,  wird  sie  in 
der  Umgangssprache  wohl  kaum  1)estanden  haben.  Unter  allen  um- 
ständen ist  aber  daran  festzuhalten,  dass  diese  endbetonung  der  ge- 
sprochenen spräche  geläufig  gewesen  sein  niuss.  Eine  Vergewaltigung 
des  Sprachgefühls,  ein  Widerspruch  zwischen  Satzbetonung  und  vers- 
betonung kann  durch  diese  endbetonung  unmöglich  in  den  vers  hinein- 
getragen sein.  In  der  Umgangssprache  müssen  nach  hochbetonter 
silbe  vor  unbetonter  silbe  sich  endbetonte  formen  entwickelt  haben. 
Dieser  nebeniktus  auf  der  endsilbe  wird  in  der  Umgangssprache  nur 
schwach  gewesen  sein,  so  dass  der  wurzelvokal  nicht  auf  die  Schwund- 
stufe herabgedrückt  wurde.  Er  fällt  erst,  wenn  er  mit  einem  sonanten 
grösserer  schallfülle  zusammentrifft. 

Unter  den  ausnahmen  von  der  regel,  dass  zweisilbige  Wörter 
nicht  in  der  Senkung  stehen,  lässt  Wilraanns  s.  69  das  pronomen  ii)io 
nicht  gelten.  Ein  ganz  einwandfreier  beleg,  der  dafür  spräche,  ist  aller- 
dings nicht  beizubringen:  II  lies  ni  ivas  imo  thurft  thera  fräga,  V  was 
(acc.  rad.),  P  ni  was  imo.  Die  korrektur  in  V  lehrt,  dass  die  Stellung 
in  der  Senkung  jedesfalls  ganz  ungebräuchlich  ist;  die  akzentuierung 
der  hs.  P  andrerseits  beweist,  dass  sie  nicht  sprachwidrig  ist.  III  20  23 
hrahUp  im,o  seihen  guat  gimäh,  V  hno  (acc.  rad.).  Hier  wird  man  das 
verbum  als  auftakt  fassen  und  danach  auch  vers  V  23 ,4.2  lesen: 
V  23  142  duit  imo  wldarmiiati. 

Neben  der  betonten  kurzform  im  läuft  eine  satztieftonige  kurz- 
forin  im  her.  Sic  tritt  im  auftakt  vor  vokalisch  anlautender  hebung 
heraus;  2  sprechformen  beweisen  für  3  schreibformen.  Dieselbe  ab- 
lautstufe  hat   in    der    Senkung   statt   hinter   einer   konsonantisch    ans- 

ZEITSClIJtlFT    F.    DEUTSCHE    PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  o 


34  KAl'l'E 

lautenden  betonten  oder  unbetonten  silbe  vor  vokaliscb  anlautender 
hebunj;-.  9  sprecbformon  bestätigen  liier  das  synalöpbegesetz ;  in 
29  lialbversen  zeigen  alle  bss.  die  ortbograpbiscbe  nornialform  imo. 
An  zweiter  stelle  der  Senkung  ist  nur  einmal  1 27  g  die  scbreibform 
belegt.  In  2  balbversen  ist  jedocb  auch  der  wurzelvokal  der  kurz- 
form  im  hinter  konsonantisch  auslautender  hebung  elidiert.  II  ^ge  thaz 
nu'in  imo  iogilicho,  P  wan  imo  logilicho.  1448  ni  was  imo  dncnvani, 
V  wax  (acc.  rad.),  P  mo,  F  imo  in.  Da  derselbe  Schreiber  2mal  diese 
darstell ungsform  wählt,  erscheint  es  unzulässig,  hier  ein  versehen  an- 
zunehmen. Wir  werden  das  -m-  in  diesen  versen  als  nasalis  sonans 
interpretieren  müssen.  Der  übergangslaut  vom  auslautenden  konso- 
nanten  der  hebung  zu  dem  folgenden  nasal  mochte  wohl  dem  wurzel- 
vokal des  unbetonten  pronomens  im  entsprechen,  dem  sicher  nur 
geringste  druckstärke  und  schallfülle  zukam. 

Diese  ablautstufe  im  ward  auf  die  Schwundstufe,  d.  h.  auf  den 
inlautenden  konsonanten  reduziert,  wenn  eine  vokaliscli  auslautende 
betoute  oder  unbetonte  silbe  vorausgeht.  Das  pronomen  lehnt  sich 
enklitisch  an  das  vorhergehende  wort  an ;  der  sonant  geht  auf  in  der 
artikulationsbewegung  des  vorhergehenden  vokals.  Die  Schwundstufe 
ist  V23ui  «'^ii  zweiter  stelle  des  auftakts  vor  vokalisch  anlautender 
hebung  belegt.  In  der  Senkung  ist  4mal  die  reduktion  auf  den  in- 
lautenden konsonanten  bezeichnet,  2mal  hinter  betontem,  2mal  hinter 
unbetontem  vokal. 

Die  Schwundstufe  -m-  hat  auch  statt,  wenn  die  vorhergehende 
betonte  oder  unbetonte  silbe  auf  -r  auslautet  und  die  folgende  betonte 
oder  unbetonte  silbe  vokalisch  anlautet.  8mal  haben  die  Schreiber 
die  reduktion  auf  den  inlautenden  konsonanten  bezeichnet,  wenn 
sich  das  pronomen  enklitisch  an  eine  auf  -r  ausgehende  senkungs- 
silbe  anlehnt  und  eine  vokalisch  anlautende  hebung  folgt.  Häufig 
ist  nur  eine  der  beiden  elisionen  in  den  hss.  vollzogen,  zuweilen  in 
der  einen  die  des  wurzelvokals,  in  der  anderen  die  des  endvokals. 
9mal  zeigen  alle  hss.  die  sprechform  mo,  3mal  die  orthographische 
vollform.  Ein  beispiel  mag  die  verschiedenen  darstellungsformen 
veranschaulichen:  II  Ts?  Gab  er  mo  dntwurti,  V  enno,  F  erm,  11129  = 
IV 11 25  Gab  er  mo  äntivurti.  II 4 m  Tho  gab  er  imo  äntwurti  in 
allen  hss.  Die  Schwundstufe  ist  für  den  Vortrag  auch  einzusetzen, 
wenn  eine  vokalisch  anlautende  senkungssilbe  auf  das  enklitische 
pronomen  folgt:  IIöio  tho  irbönth  er  imo  io  thes  sindes.  In  3  balb- 
versen steht  das  pronomen  in  der  enklise  hinter  einer  auf  -r  aus- 
lautenden   hebung,    während    in    der    Senkung    die    pronomina    iz    es 


HIATUS    UXD    SYXALÖPHE    BEI    OTFHID  35 

und  das  prüiix  ir-  folgen.  Über  die  apokope  des  wurzelvokals 
kann  kein  zweifei  obwalten;  sie  ist  in  allen  3  belegen  von  allen 
oder  der  mehrzahl  der  hss.  vollzogen.  Vor  den  prouominibus  iz 
und  es  ist  auch  der  endvokal  elidiert.  Der  regel  gemäss  fällt  der 
vokal  geringeren  phonetischen  gewichts.  Hier  wird  also  in  jedem  fall 
der  endvokal  des  pronomens  hno  elidiert,  da  das  pronomeu  imo  sich 
enklitisch  an  die  hebung  anlehnt,  während  die  pronomina  iz  und  es 
satzrhythmisch  zu  den  folgenden  Satzgliedern  gehören.  Dieselben 
rhythmischen  Verhältnisse  liegen  I557  vor;  es  muss  also  wohl  ein 
versehen  des  Schreibers  sein,  wenn  hier  V  den  prälixvokal  unter- 
punktiert: Thoh  habet  er  mo  ircUilit,  P  imo  irdeilit,  F  mo  ircleilit. 
Oder  wäre  auf  grund  der  qualitativen  eigenart  des  endvokals  anzu- 
nehmen, die  darstellungsform  in  V  sei  phonetisch  gleichwertig  mit  der 
Unterpunktierung  des  endvokals? 

Eine  satztieftonige  ablautsform  mo  tritt  heraus,  wenn  das  pro- 
nomen  in  der  Senkung  hinter  vokalisch  auslautender  vor  konsonantisch 
anlautender  hebung  erscheint.  Das  pronomen  steht  regelmässig  in  der 
enklise.  Es  finden  sich  16  kurzformen,  4  vollformen.  Dieselbe  ablauts- 
form hat  hinter  einer  auf  -r  auslautenden  hebung  statt,  wie  24  sprech- 
formen gegen  4  schreibformen  dartun.  Auch  hier  erscheint  das  pronomen 
stets  in  der  enklise.  Diese  reduktion  des  unbetonten  pronomens  imo 
hinter  einer  betonten  oder  unbetonten,  auf  -r  auslautenden  silbe  ist  der 
Umgangssprache  des  9.  Jahrhunderts  allgemein  geläufig  gewesen.  Mit 
seltener  Übereinstimmung  und  häufigkeit  ist  sie  von  den  Schreibern 
bezeichnet.  Noch  heute  beobachten  wir  diese  apokope  in  derselben 
form,  wie  sie  uns  schon  in  den  Otfridhss.  entgegentritt '. 

2.  in  an. 
A.  inan  unter  dem  nebeniktus  auf  der  endsilbe. 

Es  folgt  stets  eine  unbetonte  silbe. 

I.  Es  geht  eine  konsonantisch  auslautende  hebung  \- 0 r a u s. 

1.  Der  Wurzel  vokal  füllt  die  Senkung. 

In  2.  hebung'. 

I827  Jieis  inan  ouh  heilant.    111 49  iJdj  inan  ni  rlnlt.    I15i3.yo7i  luiah  inan 

in  sinan  arm.    II 5 6  gireh  inan  gimüato.    11  7 53  krist  inan  irkndta.    II  952  er  hlae 

inan   irwintan.     III 4 20    oh   innn  givurti.     F  ohanan.     HI  840  ni  druag  innn  thaz 

1)  Die  zugTunde  liegende  phonetische  tendenz  macht  sich  in  ahd.  zeit  nocli 
in  anderen  gruppcn  bemerkbar,  die  hier  vielleicht  zum  vergleich  herangezogen 
werden  dürfen.  Im  spätahd.  werden  kurze  mittelvokale  uacli  r  und  l  häufig  syn- 
kopiert, besonders  nach  kurzer  Wurzelsilbe,    obwohl    sonst  diese  vokale  in  ahd.  zeit 

:}* 


36  KAPPE 

zu/val.  in  14 15  Thrdng  inan  thiu  mSnigi.  III 18  47  Ih  w^iz  inan  gmtsso.  HI  20 15 
joh  näht  inan  ni  rinit.     FVöio   ni   kann   inan   himldan.     lY  8 s  jöh  inan  irshlagi. 

rVM264    1522    248,    VI  45    751    10 14    23260. 

In  3.  hebuug. 
III 2481  joh   sliumo   düet   inan    in    ein.     H84   ther   selbo   nid  inan  ßncdnt. 

In  4.  hebung. 
IV  24 16  H/na,  hlna  mm  inan. 

2.  Der  wurzelvokal  ist  apokopiert. 

IV  1251  finstar  naht  nan  Intflany. 

II.  Es  geht  eine  vokaliscli  auslautende  silbe  voraus. 
1.  Es  geht  eine  hebung  voraus. 
TU  8 IG  joh  tliie  nan  firliazun.     1111631  tlioh  sie  nan  ni  i'retin.     11755  in  P 
gegen  V:  sdr  sie  nan  gisdhim.     P  sar  sie. 

2.  Es  geht  eine  unbetonte  silbe  voraus, 
a)  In  mindestens  einer  hs.  findet  sich  die  form  nan. 

Alle  belege  stehen  auf  2.  hebuug. 
13 19  Thaz  leria  nan  sin  niilti.  111 33  Wdr  sinan  gibddoti.  joh  rcdr  sinan 
qiUgiti.  35  biwdnt  sinan  thoh  thdre.  111 42  scöno  nan  insuehita.  inti  hi  tru  nan 
giUgita.  117  52  er  ivölta  nan  irthueshen.  55  in  V  gegen  P:  sdr  sie  nan  gisdhun. 
P  sar  sie.  I  2359  thaz  sinan  ni  höuwe.  P  thds.  I  262  mit  döiifu  inan  gibddoti.  P  inan. 
II 220  thdz  sinan  nirkdnta.  II 44  so  rtiarta  nan  tho  hüngar.  n  joh  gerne  nan 
giirlnnan.  11  8  is  joh  zi  imo  nan  gihölota.  46  so  Idngo  nan  gispdraios.  11 12  67, /o/t 
/löho  nan  irhdhe.  II 1494  thdz  sie  nan  gisdhin.  P  sie  (acc.  rad.).  III 8  44  rdfsta 
nan  tho  ivörto.  III 9  u  So  teer  so  nan  biriiarta.  III14i8  thdz  siu  inan  hirtiarti. 
P  thaz  siu,  inan.  F  si  inan.  1112080  in  thiu  sie  nan  irkndtin.  P  .sie.  99  zl  krlste 
nan  gizeliti.  177  in  V  gegen  P:  thdz  thu  nan  gisdhi.  P  thaz  thii  nan.  III 23  49 
wio  bi  nan  gilegan  was  thaz  wdr.  :nan  (i  rad.  V).  D  inan.  IVI3  tvlo  sie  inan 
ßrllesen.  P  nan.  IV  5 40  ."fo  tvöla  nan,  ther  thdr  ist.  F  nen.  IV  1969  zi  tothe  nan 
irdeilta.  IV  2230  wio  sie  inan  gihöntin.  P  nan.  IV  26 13  So  wer  so  nan  birtiarit. 
IV  36 11  mit  stdlu,  nan  nirzt'icken.  15  tcio  sie  nan  gihtaltin.  Y  sinan  (e  übergeschr.). 
IV37i3io/t  w6la  nan  gihdltes.  V622  toio  sie  nan  bigriiahun.  V732  thdz  sie  nan 
gihiirgin.  V842  Si  irkdnta  nan,  so  er  ivölta.  P  so.  V9ii  thaz  sie  nan  irkndtin. 
P  thds.  29  zi  töde  nan  ßrsdltun.  VII36  thdz  sie  nan  irkndtin.  V1546  in  krüci 
nan  irhlangi.  VI63  in  Mllu  nan  gistrewita.  V23i40  thoh  elti  nan  githulnge. 
141  joh  mdhto  nan  gihelzit.  III 25  31  thaz  mdnota  nan  thes  w'dres.  VIO4  tho 
nöttun  sie  nan  ginuagi. 

durchaus  fest  sind,  soweit  nicht  die  analogie  der  \vg.  svarabhaktivokale  eingreift. 
Braune,  Ahd.gr.'-'  §  66  anm.  2  zitiert  z.  b.  aus  N:  gemdlnemo  verlörnez  ervdrner  : 
auch  nach  nebensilben:  dndermo  ünserro  luzzelmo,  aber  auch  manegero  Idzzelerv. 
Den  ausschlag  über  die  synkopierung  oder  erhaltung  dieser  vokale  gibt  natürlich 
in  jedem  fall  der  fluss  der  rede,  wie  er  vom  deutschen  akzentgesetz  beherrscht 
wird.  Aber  jene  belege  zeigen  doch,  dass  die  nachbarschaft  des  r  und  l  den 
Schwund  des  vokals  begünstigt. 


HIATUS    UND    SYXALÖPHE   BEI    OTFIIID  37 

b)  Alle  hss.  zeig-eii  die  vollforni  inan. 

II 9  84  thie  h'uti  inan  thar  iidtnun.  IUI  21  l'^on  dothe  inan  irqmctos. 
IV  8  7  So  wer  so  inan  insünbi,     24  so  gisudso  inan  giluti. 

III.  Es  geht  eine  auf -r  auslautende  silbe  voraus. 

1.  Es  g-eht  eine  hebung  voraus. 

II  637  in  P  gegen  V:  tvdnt  er  nan  birüarta.  P  want  er.  III  Hg  in  P  gegen 
V:  ihäs  er  nan  tJidr  giMilti.     V  thdr  (zukorrigiert).     P  thaz  er  nan  giheilti. 

2.  Es  geht  eine  unbetonte  silbe  voraus. 

Es  findet  sich  stets  in  mindestens  einer  hs,  die  form  nan. 
Nur  in  2.  hebung. 

L55  Uns  er  nan  giUitta.  I658  thäz  er  nan  in  heche.  126  24  so  slium  er 
nan  gibddota.  II 224  ni  was,  ther  nan  intfiangi.  11444  tlioli,  bat  er  nan  zi  nöte. 
101  furi  man  er  nan  ni  lidbeti.  107  -A^  möht  er  nan  birüaren.  11637  tüdnt  er  nan 
birüarta.  P  want  er.  11949  suntar  nan  firhrdnti.  1112128  ther  fdter  nan  ni  sdnti. 
IV  8 19  thaz  selbo  er  inan  firldti.  P  nan.  IV 16  25  ni  wdnu,  ir  nan  irkndhet. 
52  intflang  er  nan  mit  thiUti.  IVlTu  Werit  er  inan  giwisso.  F  wsrita  er  nan. 
IV  22 17  Tho  hdft  er  nan,  so  er  wölta.  V  :  nan  (irad.).  IV24i  thaz  er  nan  firliazi. 
lY  24:37  Trgdb  er  nan,  so  ih  zdlta.  V  :  naa  (2  rad.).  sld  er  nan  bifilta.  IV  37 11  ni 
Idz  tliir  nan  ingdngan.  12  nl  Idz  t/iir  nan  irzüken.  V1269  Sid  gdh  er  nan  fon 
öbana. 

IV.  Es  geht  eine  auf  -n  auslautende  unbetonte  silbe 

voraus. 
IV  1022  thes  laman  inan  giJn'iie.     V  i  vor  nan  übergeschrieben. 

Sonst  findet  sich  stets  in  mindestens  einer  hs.  die  form  nan. 

In  2.  hebuug. 
Iji^i  uaz  wir  lidhen  nan  gisi'mtan.  11  n  in  thiu  man  nan  irkeiine.  I24i  Tho 
hdtua  nan  thie  liuti.  12725  so  man  nan  gindnta.  F  manan.  II 985  Sie  hdftun 
nan  mit  wiinton.  se  joh  höntun  nan  bi  lierton.  in8i  fdhan  nan  bi  noti. 
1111037  sudhtun  nan  thar  Mizo.  IIII674  thaz  man  nan  gifiangi.  1111729  Sie 
zlgin  nan  in  ivdra.  1112030  ni  tvöltun  nan  irk^nnen.  III 25  38  thdz  man  nan 
irshiagi.  1112344  wir  sct'dun  nan  iriceken.  V  :  nan  (i  rad.).  III 26  53  Sid  man 
nan  bifdlta.  54  joh  man  nan  gidötta.  IV  3 10  er  man  nan  irshiagi.  IV  4 4  thdz 
man  nan  gifiangi.  IV  84  ivio  man  nan  giiviinni.  V  :nan  (vorgeschriebenes  /  rad.). 
IV  8  6  thdz  man  nan  gifiangi.  n  tvlo  man  inan  irshiagi.  V  nan.  20  thdr  man  nan 
gifiangi.  V  :  »o«  (i  rad).  FV  I620  thdz  man  nan  gifiangi.  V  :nan  (i  rad.).  82  thäz 
man  nan  irkndti.  man  (acc.  rad.  V).  :iian  (i  rad.  V).  IV  18 20  thaz  man  nan 
irkndti.  IV  20 24  in  thiu  man  nan  firldze.  IV  23 17  thaz  man  inan  irshiagi.  V  nan. 
IV  BO 19  höntun  nan  mit  wörton.  IV20i  21io  leittun  nan  thie  h'uti.  Y  :nan  (z  rad.). 
IV  22 19  Ndmun  nan  tho  thdnana.  IV26i  Tho  ndmun  7ian,  so  ih  zdlta.  2  joh 
leittun  nan  mit  zörne.  IV  30  20  sci'dtun  nan  zi  JHze.  IV  35  21  Löstun  nan  tho 
thdnana.  Y 1 31  thdz  man  nan  irshiagi.  33  wlo  man  nan  firquisti.  34  joh  ic/o 
man    nan  firdudsbti.     V  1046    thaz   man   nan  gifiangi.     Vlöu  ////   erstdntan   nan 


38  KAPPE 

gisdhun.  F  dierstantinan.  V  23  262  thaz  man  nan  higrähe  thar.  Hioi  tvto  man 
nan  irslilagi.  1111542  löbotun  nan  ei  gt'iate.  III 26 15  6ha  man  nan  nirsliiagi. 
IV  30  3  m^/  häbetan  nan  zi  htiahe.  Y  11 32  sie  habet mi  nan  in  hanton.  111229  Thie 
JiUhon  nan  bisfüantun.     F  nen.     V172  tho  frei  getan  nan  gim4ino. 

In  3.  hebung. 
III  20 170  thaz  sie  firwürfiin  nan  bi  thaz. 

In  4.  liebung. 
11749  I?i  tc/llu  faran  beton  nan.     P  beton  nän. 

B.  inan  in  der  Senkung:. 
I.  In  neutraler  Umgebung-. 

L65  SO  frani  so  inan  läzit  thiu  craft. 

IL  Hinter  einer  vokalisch  auslautenden  hebung. 

1,  In  mindestens  einer  hs.  findet  sich  die  form  nan. 

a)  Die  hebung  geht  auf  -/  aus. 

I  2854  suntar  siu  nan  suente.  I  Ilse  in  thia  krippha  sinan  Ugita.  III 14  10  so 
sUumo  siu  nan  rüarta.  V755  joh  sinan  sar  irkdnta.  66  sageta  in  thö,  thaz  sinan 
sah.     V  8  33  Si  nan  sar  irkdnta. 

b)  Die  hebung  lautet  mit  einem  vokal  abweichender  qualität  aus. 

N.  pl.  masc.  sie. 
II 104  thaz  sie  nan  umbiriten.  12222  ni  fiintun  sie  nan  wergin  thdr. 
II 1470  thaz  sie  nan  gdistlicho.  lu  so  sie  nan  thar  tho  bdtun,  111823  so  sie  nan 
tho  gisdhun.  LEI  15 17  Lertun  sie  nan,  einan  rüam.  III 16 9  Ni  sdhun  sie  nan  slz^n. 
67  Fdhan  sie  nan  woltun.  1111722  thaz  sie  nan  mohtin  riiagen.  III  20  53  Leittan 
sie  nan  ubar  thdz.  les  Sie  inan  sllumo  tho  in  trdr.  P  naii.  III  22  34  thaz  sie 
nan  steinotin.  es  FdJian  sie  nan  tcöltun.  1111924  so  wöltun  sie  nan  plnon. 
ni20i83  so  wöltun  sie  nan  steinon.  III2461  ^vdra  sie  nan  legitin.  IV4i8  zi 
küninge  sie  nan  qudttun.  IV  7  e  frdgetun  sie  nan  suntar.  IV  8 15  thaz  sie  nan 
uns  nirziiken.  V  :nan  (i  rad.).  IV  16  38  thaz  sie  nan  thoh  irkndtin.  IV  1925  Thaz 
sie  nan  thoh  mit  lüginon.  28  thaz  sie  nan  in  ther  fdru.  64  thaz  sie  nan,  so  ih 
thir  rdchon.  V  :nan  (i  rad.).  IV  20 15  bigönäun  sie  nan  rüegen.  40  zi  töthe  sie 
nan  brilngun.  rV23i6  So  sie  nan  tho  gisdhun.  rV25i  er  sie  nan  sus  nu  quellen. 
rV2623  Ziu  sie  nan  sus  nu  thuesben.  IV  27  7  In  thaz  crtici  sie  nan  ndgaltun. 
rV29i2  mit  thiu  thdkent  sie  nan  ümbi.  IV  33 19  Sie  nan  ouh  tho  qudltun. 
IV  35  26  oba  sie  nan  thäna  fuartin.  27  'Thaz  sie  nan  muasiii  fiiaren.  VI  11  Mit 
fiuru  sie  nan  brdntin.  VlOu  dl  so  sie  nan  beitun.  35  wio  sie  nan  ouh  irkndtun. 
V1740  thar  sdhun  sie  nan  ndhist.     V20e3  biglnnent  sie  nan  scötron. 

Varia. 
L54  thiu  nan  thühtun  filu  sudr.  1 1 103  in  thiu  nan  Frdnkon  werien. 
1 11  io  joh  miiater,  thiu  nan  qudtta.  41  Wöla  thiu  nan  tüzta.  43  Sdlig  thiu  nan 
tvdtta.  45  Salig  thiu  nan  werita.  1 21 1  joh  hina  fuarta  inan  lod.  P  nan. 
U37  thanne  in  theru  ist,  thiu  nan  bdr.  II 839  Drank  er  tho,  so  nan  liista. 
II 1433  thaz  er  mit  thiu  nan  wihta.  II 194  zi  thiu  nan  es  giliiste.  111839  Ther  se 
nan  sdr  tho  sankfa.  III  18 bg  war  sdhi  thu  inan  thdnne.  \ inan  («zukorrigiert).  P  inan 


HIATUS    UND    SYNALÖPHE   BEI    OTKKII)  39 

thanne.  F  ihn  nati.  1112029  thie  nan  er  gisalum.  P  inan.  77  thiu  selbun,  thia 
nanhürim.  III  228  tliaz  man  zi  Ihiu  nan  ztlita.  in24i8  so  wes  so  tha  nan  ßrgos. 
V43  Joh  icio  nan  fHuntilili  gisäli.  Vöa  thie  inan  minnotun  meisf.  i  in  V,  /  in 
P  übergesclirieben.  n  mit  thiu  nan  thie  biwüntun.  12  thie  nan  thdra  legitim. 
V749  oha  thü  nan  ndmis.  V929  Joh  wio  nan  ouh  irquältuv.  VII24  bi  thiu  nan 
thoh  irkndtin.     ¥1220  ihiu  nan  bdr,  so  er  wüJta. 

Anmerkung:  II  7 54  zeigen  V  F  die  kurzforra  nnn  in  der  Senkung  hinter 
vokaliseh  auslautender  hebung,  während  P  ein  -»  an  die  hehung  anschlägt: 
Il7ujo/i  löhota  nan  s/'oro.     P  l6bota.it.. 

2.  Alle  liss.  zeigen  die  vollform  inan. 
IV  1726  so  sliumo  sie  inan  fnntun. 

III.  Hinter  einer  auf -r  auslautenden  silbe. 
1.  Es  geht  eine  unbetonte  silbe  voraus. 

nille  in  V  gegen  P:  ihdz  er  nan  thdr  giheilti.  V  thdr  zukorrigiert. 
P  thaz  er  nan  giheilti.     111438  nah  dvur  nan  thiirst  gilhu/nge. 

2.  Hinter  einer  betonten  silbe. 

Alle  hss.  zeigen  stets  die  kurzform  nan. 
1426  tho  er  nan  scluhen  gisah.  I IO23  thaz  ivir  nan  harto  rtiunm.  1 12  n  ivio 
Ir  nan  sculut  findan.  11725  ni  sdhun  tvir  nan  er  io.  II  See  thaz  er  nan  ni  fir- 
senke.  67  joh  wir  nan  ouh  irbarmen.  es  ther  nan  sdlbo  ubartvdnt.  11427  Wania 
er  nan  harto  förahta.  V  :  nan  (i  rad.).  II 4 51  Thdnaua  er  nan  füarta.  11522  in 
tfiiu  er  nan  beton  wolti.  II 6  23  joh  ans  zi  leide  er  nan  köu.  a  joh  uns  zi  sere 
er  nan  ndm.  26  want  er  nan  köu  joh  firddnt.  27  thaz  er  nan  üz  thoh  ni  spe. 
II 7  35  so  er  nan  erist  gisah.  44  thaz  loir  nan  eigun  füntan.  53  So  er  nan  zi  imo 
brahta.  P  eman.  58  thaz  er  nan  zdlta  so  guaf.  11  9  36  thaz  er  nan  thdra  leitti. 
45  er  er  nan  fdsto  gibant.  47  In  then  dlteri  er  nan  legita.  111228  so  ives  soso  er 
nan  gniazta.  P  soso.  III 14 14  so  dr  nan  t/iar  tho  hdti.  30  «'eV  nan  thar  tho 
ruarti.  1112090  thaz  wir  nan  bh'ntan  barun.  1112133  Joh  unr  van  munzin 
scöuwn.  III2471  ivio  er  nan  minnoti.  IV  3 14  thaz  er  nan  möhta  ana  wdn. 
16  ther  er  nan  töde  binam.  IV  1262  in  einwigt  er  nan  streivita.  IV  18  22  quad,  er 
nan  in  ther  gdhi.  31  thaz  er  nan  sar  nirkndti.  IV 195  Fraget  er  nan  sdre. 
74  wdr  inan  thanne  sli'iagi.  IV  20 14  thaz  wir  nan  Ih/'r  brahtin.  30  unz  man  Mar 
nan  nu  gif  lang.  31  ziu  brdhiut  ir  nan  mir  bi  thiu.  IV  22 17  joh  er  nan  selbo  fllta. 
IV  247  bi  thia  gdbun  ivir  nan  ih/'r  in  hant.  IV  27  is  joh  thar  nan  üfirrihtun. 
IV  31 6  rdfst  er  nan  hdrto.  IV  3327  joh  zi  ferehe  er  nan  stdh.  IV35i8  um  er 
nan  tho  thdna  nam.  V  4 26  so  er  nan  erist  birdin.  i2  jo?i  Mar  nan  ouh  bigräabun. 
48  ni  thürfat  ir  nan  riazan.  62  sid  er  nan  thdr  ubarwdnt.  V1328  toant  er  nan 
minnota  so  fram.     H79  Erata  er  nan  filii  frdin. 

IV.  Hinter  einer  auf  -u  auslautenden  hebung. 
In  mindestens  einer  hs.  findet  sieh  die  kurzform  nan. 

II 126  in  frdnkisgon  nan  löbotan.  111 57  In  kripphu  man  nan  Ugita. 
1144  hiazun  inan  heilant.  P  nan.  12222  sie  ni  hrdhtun  nan  sar.  12736  frdgelun 
nan    hdrto.     11144    m    kriahhisgon    nnn    n^nnent.     IV  16 55    inti  fidngun    nan   sar. 


40  KAPI'E 

V  :  nan  (i  rad.)-  rV2224  ''nti  ddtun  inau  in.  P  nan.  25  si  hue  häbetun  inan 
io.  P  nan.  rV2436  giböt,  thaz  man  nan  ndmi.  IV  25 2  tho  man  nan  bismerota. 
IV 2622  nu  sct'dun  nan  siintilosan.  IV 27b  mit  siintigon  nan  zdltun.  17  in  thaz 
cri'ici  man  nan  ndgalta.  IV  30 2  interetun  nan  herton.  IV  35  24  icära  man  nan 
Ugiti.  IV  36  20  thaz  man  nan  ni  firstdli.  VTsg  ^vdra  man  nan  ddti.  40  wdra 
man  nan  Ugiti.     V1739  Sie  irli'iagatiin  nan  hi'imo. 

y.    Hinter   einer   auf  einen   beliebigen   konsonanten    aus- 
gehenden liebuug  in  der  form  nan. 

III I621   süachit   thes,   nan   sriitit.     P    ihes.     rV"23i8    cnizo    les   nan,    criizo. 

V  1523  Er  tlirittun  sinnt  nan  gri'iazta. 

Unter  dem  liaupt-  oder  nebeniktus  auf  der  Wurzelsilbe  erscheint 
das  pronomen  in  den  Otfridhss.  stets  in  der  ahd.  normalform  hifin. 
Der  nach  regelmässigem  Wechsel  von  hebung  und  Senkung  strebende 
Vortrag  legt  häufig  einen  nebeniktus  auf  die  endsilbe  des  pronomens. 
Es  treten  ganz  analoge  erscheinungen  heraus,  wie  wir  sie  schon  bei 
dem  dat.  imo  beobachten  konnten.  Hinter  einer  auf  einen  konso- 
nanten ausser  r  n  ausgehenden  hebung  füllt  der  wurzelvokal  des 
endbetonten  pronomens  die  Senkung.  IV  24 15  ist  die  endbetonung 
durch  das  homöoteleuton  gesichert:  H/na,  hina  nhn  inan :  man.  Der 
wurzelvokal  ist  durch  die  akzentverschiebung  auf  ein  minimum  von 
druckstärke  und  schallfülle  herabgesetzt.  IV  I251  zeigen  alle  Schreiber 
die  kurzform  nan:  finstar  näht  nan  intfiang.  Der  wurzelvokal 
kommt  als  gleitlaut  von  der  lösung  des  -/-verschlusses  zur  j^-artikulation 
zur  geltung.  Geht  ein  laut  grösserer  schallfülle  als  auslaut  der  vor- 
hergehenden betonten  oder  unbetonten  silbe  voran,  so  wird  der  wurzel- 
vokal des  endbetonten  pronomens  unterdrückt.  3mal  ist  die  kurzform 
hinter  diphthongisch  auslautender  hebung  belegt,  44mal  hinter  voka- 
lisch auslautender  senkungssilbe.  Danach  ist  11984,  Uli 21,  IV 824 
hinter  dem  zweisilbigen,  vokalisch  auslautenden  nomen  die  endbetonte 
vollform  in  die  kurzform  nan  umzusetzen.  Nur  IV  8 7  So  wer  so  inan 
inmahi  ist  die  vollform  beizubehalten,  da  hier  das  rel.  so  auf  die 
Schwundstufe  herabgesetzt  wird.  Auch  hier  wird  hinter  auslautendem 
-r  der  wurzelvokal  des  pronomens  apokopiert,  wie  wir  dies  schon  beim 
dat.  imo  beobachteten;  das  endbetonte  pronomen  ist  nur  in  der  kurz- 
form l)elegt:  2mal  hinter  einer  auf  -r  ausgehenden  hebung,  21mal 
hinter  einer  unbetonten  silbe.  Eine  neue  tendenz  der  Umgangssprache 
tritt  am  acc.  iyian  zutage,  indem  der  unbetonte  wurzelvokal  hinter 
einer  auf  -n  auslautenden  unbetonten  silbe  apokopiert  wird.  Das 
endbetonte  pronomen  ist  in  48  halbversen  gleich  als  kurzform  in  den 
text  gesetzt,    nur  IV  15.22  ist  die  Sprech  form  noch   nachträglich   in    die 


HIATUS    UNI)    SYKALÖPHE    BEI    (JlKIUl»  41 

schreibform  g-eändert.  Das  pronomen  erscheint  stets  in  der  enklise. 
Der  Vortrag  geht  von  der  artikulation  des  auslautenden  -n  unmittel- 
bar in  die  des  anlautenden  -n  über ;  es  entsteht  eine  geminata  nh  mit 
deutlicher  druckgrenze  zwischen  beiden  silben.  In  der  hs.  F  sind 
127.25  gleich  beide  formen  in  ein  wort  zusammengeschrieben:  so  man 
nan  fjmantn,  F  man  an. 

In  der  Senkung  zwischen  2  betonten  silben  kennt  Otfrid  nur 
die  kurze  ablautsform  nan.  In  der  enklise  konzentriert  sich  die 
artikulationsenergie  auf  der  zweiten  silbe  des  pronomens ;  der  wurzel- 
vokal wird  apokopiert.  Die  Schreiber  haben  nur  ganz  vereinzelt  die 
schreibform  inan  in  den  text  gesetzt;  meist  findet  sich  in  mindestens 
einer  hs.  die  kurzform  nan.  Dass  diese  ablautsstufe  hier  durchgeht, 
dass  also  die  Qualität  des  auslauts  keinen  einfluss  hat,  beweisen  die 
folgenden  3  verse:  IIII6.21  suachü  thes,  nan  sentit,  P  thes.  IV23i8 
cri'izo  les  nan,  crüzo.  V1523  Er  thitten  stunt  nan  grüazta.  Ferner 
finden  sich  20  kurzformen  hinter  einer  auf  -n  auslautenden  hebung. 
49mal  erscheint  die  kurzform  hinter  einer  auf  -r  auslautenden  hebung, 
2mal  hinter  einer  auf -r  auslautenden  ersten  senkungssilbe.  In  70  halb- 
versen  zeigt  mindestens  eine  hs.  die  sprechform  nan.  Nur  IV 17 20 
belegen  alle  hss.  die  schreibform. 

3mal  beg-egnet  in  den  Otfridhss.  die  Schwundstufe  des  pronomens 
inan  als  auslautendes  -}i,  das  dem  betonten,  vokalisch  auslautenden 
Worte  angeschlagen  ist.  III  20 176  sconon  es  girlhta.  IV  35  35  Legita 
nan  tho  ther  eino,  F  Legitan.  \ll ^i  joh  löhota  nan  zioro,  P  lohotan. 
Auszugehen  ist  bei  der  erklärung  dieser  form  von  der  reduktionsstufe 
in,  die  in  unbetonter  satzstellung  schon  in  ahd.  zeit  durch  rcduktion 
der  zweiten  silbe  der  unbetonten  vollform  inan  entstanden  sein  muss. 
Ein  kriterium  dafür,  dass  schon  in  ahd.  zeit  der  sonant  der  zweiten 
silbe  auf  dem  wege  der  abschwächung  war,  besitzen  wir  in  den  formen 
inen  und  neu  der  hs.  F. 

inen. 

IIII844  zi  t/u'u  fr  inan  nennet.  Y  inen.  III 20 170  thas  sie  firwi'irfun  naii 
hi  ihaz.  F  inen.  IV  1 3  irh  sie  inan  Jirh'esen.  V  nan.  V  inen.  III 22 3-1  thaz  sie 
nan  stein oiin.     P  inen. 

nen. 

III 20  91»  zi  krlsii  nan  gizcliti.  F  ncn.  IU2531  tliaz  mdaota  nan  thes  teures. 
F  nen.  11122«)  Thie  Jüdeon  nan  bistüaniun.  F  ncn.  1112616  oba  man  nan 
nirslüarji.  F  nen.  IV  3 15  dvur  nan  irqu/cti.  F  nen.  IV  5 40  so  tvöla  nan,  ther 
thdr  ist.  F  nen.  1112090  thaz  wir  nan  hh'ntan  harun.  F  nen.  1112133  Joh  wir 
nan  muazin  scöwon.  F  neti.  III20i83  so  wöltun  sie  nan  sieinon.  Y  nen. 
IV 20 40  zi  töthe  sie  nan  hrüngun.   F  nen.    IV23i6  -6'o  sie  nan  tho  gisdhun.    F  nen. 


42  KAPPE 

Die  nbschwächung  des  (i  >  e  ist  also  auf  der  ganzen  linie  vor 
sich  g-egani;en  -  bei  wurzelbetonuug  wie  endbetonung-  und  in  un- 
betonter Satzstellung-.  Die  wurzelbetonte  form  inen  hat  sich  bis  in 
die  mhd.  zeit  erhalten.  Aus  ihr  ist  durch  weitergehende  reduktion 
der  zweiten  silbe  die  mhd.  betonte  normalform  in  entwickelt.  In  ahd. 
zeit  hat  sie  noch  nicht  bestanden,  \yohl  aber  muss  schon  in  ahd. 
zeit  derselbe  prozess  an  der  unbetonten  form  inen  sich  vollzogen 
hal)en,  und  zwar  wohl  in  enklitischer  Stellung  in  mehrsilbiger  Senkung. 
Lehnt  sich  diese  reduzierte  form  in  enklitisch  an  ein  vokalisch  aus- 
lautendes wort  au,  so  verliert  sie  ihren  sonanten  \ 

Bei  Otfrid  scheint  nach  III 20 176  und  IV  35  35  diese  Schwundstufe 
des  pronomens  an  zweiter  oder  dritter  stelle  der  Senkung  hinter  voka- 
lisch auslautender  silbe  herauszutreten.  Man  wird  daher  vers  II  754 
in  P  dreihebig  lesen  müssen :  joh  löbota  nan  zioro,  P  lobotan. 

Neben  der  betonten  zweisilbigen  vollform  inan  lief  in  satztief- 
toniger  Stellung  eine  unbetonte  zweisilbige  form  um.  Sie  ist  in  den 
Otfridhss.  nur  Les  belegt,  w^o  sie  durch  reduktionsvorgänge  an  der 
vorhergehenden  silbe  geschützt  ist:  Les  so  fr  am  so  inan  läzit  thiu  croft. 

3.  iru  ira  iro. 

A.  Unter  dem  uebeniktus  auf  der  wui'zelsilbe  vor  vokalisch  anlautender 

Senkung. 

1.  Der  endvokal  des  pronomens  ist  elidiert. 

ira  vor  ir-. 
IV  33 13  joli  druhtin  ira  irhängan.     P  ira. 

iro  vor  ist. 
ni23i  Iro  ist  fllu  thrato.     V  Ero.     P  Erq  (0  hin  zukorrigiert).     D  Er  ist. 
'F  Ero  ist. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  formen  nebeneinander. 

Vor  ir-. 
iru. 
18 18  er  sih  jon  iru   irflrti.     1232  thaz  kr  Ist  sih  iru  irougti.     III 17 10  thdz 
man  iru  irdeilti. 

iro. 
IV  243  Sttmma  sie  iro  irhüabun. 

Vor  ist. 
1111025   Iro   ist  filu   irioörtan. 

1)  Sowohl  die  form  in  wie  die  Schwundstufe  -n  sind  in  ahd.  zeit  helegt,  vgl. 
Musp,  19  b  daz  in  es  sin  muot  kispane.  T1348  then  ther  fater  giheilagota  intt 
santan  in  uueralt.     T  1636  santan  tho  Annas  gibuntanan. 


HIATUS   UND    SYNALÖPHE   BEI   OTFRID  43 

B.  Unter  dem  nebeuiktus  auf  der  endsilbe. 

I.  Hinter  konsonantisch  auslautender  h  e  b  u  n  g-. 

iru. 
19 15  was   iru   ther   stin    druf.     P  was.     I14i8  -vo    thfa  fdrt    ira  ni  in'rituti. 
ni479  Gab  iru  mit  milti.     IlllOic  ihes  hat  iru   thiu   niüater.     III 1422  thas  hliiat 
im  firstülti.     1112312  joh   weis   ira   ihaz  stlazi.     1111126   intfiang   iruz   zi  yiiatv. 
ni24io  irgiang  iruz  zi  gi'iate.     n  aiiz  tliaz  müat  iru,  so  wiaJ. 

ira. 
IV 166    tho    mera   ira   ni   hdbeta.     P  merq.      IV29i8    thaz   idht   ira  ßrzäri. 
22  thaz  uu'ht  ira  firhrdchi. 

iro. 

II  4 100  ni  brdst  iro  iowdnne. 

IL  Hinter  vo Italisch  auslautender  senkungssilbe. 

III  2439  thaz  deta  ru  ther  wlUo. 

C.  Im  auftakt  vor  vokalisch  anlautender  hebung:. 

I.  Allein  im  auftakt. 
1.  Der  endvokal  ist  elidiert. 
II 16  39  Iro  dnon  ouh  so  ddtun.     P  Iro. 

2.  Alle  liss.  zeigen  die  voll  form. 

II 11 20  iro  dllero  i'mdati.     III 15  31  iro  drmilichun  ddti. 

IL  An  zweiter  stelle  des  auftakts. 

111 27   Want   ira   dnon  waruu  thdnana.     P    Wantq.     V  ira  (a  zukorrigiert). 

D.  In  der  Senkung. 

I.  Hinter  konsonantisch  auslautender  hebung-  vor 

V  0  k  a  1  i  s  c  h  anlautender  hebung. 

1.  Der  endvokal  des  pronomens  ist  elidiert. 

ira. 
12226  iz  was  ira  einego  sun.     P  ira. 

iro. 
II  1290  mickil  ist  ir  ühili.     IV  2 13  Ldzarus  er  was  iro  ein.     P  i)o. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  form. 

iru. 
1178  iz  was  iru  anan  heiiti.    III  10 12  ther  diufal  ist  ira  iiine.    III  14  12  thir 
htilfi  iru  in  theru  noii.     P  hälfi. 

iro. 
1114 115   Gilöubta  iro  oult,  tho  in  ivdra,     P  Gilöubta. 


44  KAPPE 

II.  Hinter  v o k a  1  i s c h   a u s I a u t e u d e r  h e b u u g-  vor  konsonan- 

tisch anlautender  hebnng. 

1.   Der  Wurzel  vokal  des  pronomens  ist  in  mindestens 
einer  lis.  elidiert. 

ira. 
III  735  in  V  gegen  P:   0ha  thu  ra  rüachis.     P  Öba  thi<  ira. 

iro. 
r\''204o  mit  icdssidu  iro  züngun.     P  iro. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 
r\'21i5  thas  thu  iro  kiining  nu  ni  bist. 

III.  H  i  n  t  e  r  V  0  k  a  1  i  s  c  li  auslautende]-  Senkung  v  o  r  v  o  k  a  1  i  s  c  h 

anlautender  h  e  b  u  n  g. 

III  14 12  thoh  si  ira  al  spentoti.     P  si  ira  ql. 

Da  die  formen  im  ira  und  iro  schon  häufig  ineinander  über- 
gehen, wird  eine  zusammenfassende  betrachtung  der  drei  pronomina 
angebracht  sein.  Die  orthographischen  normalformen  sind  für  den 
dat.  sg.  f.  iru,  für  den  gen.  sg.  f.  ira  und  für  den  gen.  pl.  iro.  Zu- 
weilen findet  sich  für  den  dativ  schon  eine  abgeschwächte  form  iro; 
die  mehrzahl  der  belege  gehört  der  hs.  F  an:  II 815  Spräh  tho  ziru 
siiazo,  F  zi  iro.  II 1266  thara  zi  Iru  sahi,  F  ziro.  II I479  Gab  iru 
mit  m'dti,  F  iro  (u  über  0  geschrieben).  Die  hs.  Y  kennt  diese  form 
iro  auch;  wo  sie  aber  dem  Schreiber  in  die  feder  kommt,  wird  sie 
in  die  normalform  korrigiert:  II  1435  Quad  unser  drithtiti  zi  iru  tho, 
V  im  {u  aus  0).  III 2447  bei  endbetontem  iru:  iinz  thaz  m/iaf  im 
so  wk/l,  V  im  {u  aus  0).  Der  endvokal  ist  also  schon  auf  dem  wege 
der  reduktion  begriffen.  III 23 12  erscheint  in  F  für  den  endbetonteu 
dativ  die  form  ira:  joh  was  im  thaz  si'iazi,  F  ira.  Da  dieser  beleg 
ganz  vereinzelt  ist,  lässt  sich  nicht  entscheiden,  ob  darin  blosser 
Schreibfehler,  ob  eindringen  der  genetivform  oder  ob  darin  eine  ab- 
geschwächte form  zu  sehen  ist,  deren  endvokal  phonetisch  als  bai- 
risches  a  anzusprechen  ist. 

Die  beiden  formen  iru  iro  finden  wir  in  den  Otfridhss.  zuweilen 
auch  für  den  gen.  sg.  fem.  gebraucht.  Bisweilen  steht  iru  in  allen 
hss.  oder  auch  iro;  bisweilen  zeigt  eine  hs.  die  normalform  ira,  die 
anderen  iru  oder  iro;  endlich  begegnen  in  den  Varianten  desselben 
verses  gar  alle  drei  formen. 

iru  in  allen  hss. 
I62  zi  ther  iru   mdginnu.     1726  si  zi  iru   siine  ivegonU.     113 17  thiu   irört 
in  ira  hrilsti.     IV  2 17  mit  iru  fdhse  sie  gisudrb. 


HIATUS    UXD    .SYXALÜl'HE   15EI    OTFIMD  45 

iro  m  allen  hss. 
L87  oba  er  habet  iro  riaih.     II65   thes  h'obes  zi  iro  gömman.     III 14 43  end- 
betont: joh    öuh  iro  githänko.     IV  29  67  thio  iro  suester  ztui.     IV  32 2  thio  rüartun 
iro  briisti.     V  23 124  sint    dllo    thio    iro  gtiati.     P  thio.     125   zua   suester   iro   güaio. 

V  ira.     P  iro. 
1334  irbiat  er  ira  gtiati.     P  iro. 

V  ira.     P  iru. 
in  1752  was  ira  ser  thaz  ira  mnat.     P  iru. 

V  iru.     P  iro. 
12221  joh  rüartun  t/iio  iru  brüstt.     P  iro. 

V  ira  (a  korrigiert  aus  u).     D  iru.     P  iro.     ¥  ira. 
116  7   joh    Uita    si    ira    daga    thar.      V    ira    (a   korrigiert    aus    u).      F   ira. 
D  iru.     V  iro. 

V  P  iru  F  ira. 
I  16  3  si  gote  rlJita  si  iru  müat.     F  im. 

Die  -?iformen  im  gen.  sg.  fem.  könnten  allenfalls  ans  dem  so- 
genannten offenen  a  verlesen  sein.  Doch  wird  man  von  dieser  er- 
klärung  keinen  gebrauch  machen  wollen,  da  es  sich  um  ein  neben- 
einander der  drei  formen  iru  iro  ira  handelt,  das  sich  überdies  auch 
im  gen.  plur.  wird  nachweisen  lassen.  Kelle  ^  Avill  diesen  bunten 
formenwechsel  aus  dem  qualitativen  vokal charakter  der  jeweiligen 
Umgebung  erklären.  Ein  blick  auf  die  zusammengestellten  belege 
zeigt  jedoch,  dass  dieser  gesichtspunkt  uns  ebensooft  im  stich  l'asst, 
wie  er  uns  helfen  könnte.  Erdmann  (anm.  zu  I  62)  nimmt  fehler- 
hafte Schreibung  an.  Nach  Braune,  Ahd.  gr.-  §  283  a.  1  g  wäre  hier 
die  dativform  in  den  genetiv  gedrungen.  Für  das  eindringen  des 
genetivs  in  den  dativ  wäre  nur  jener  mehrdeutige  beleg  aus  der  hs. 
F  beizubringen :  III 23 12  70/«  weis  iru  thaz  suazi,  F  ira.  Aber  das  auf- 
treten der  form  iro  im  gen.  sg.  fem.  bliebe  unerklärt,  vollends  dass 
jener  dreiklang  von  formen  sich  auch  im  gen.  plur.  ündet.  Während 
F  für  den  dativ  oft  die  form  iro  vorzieht,  setzt  sie  im  gen.  plur. 
wiederholt  die  form  iru: 

IV  931  Nu  ist  uns  thiu  iro  gömaheit.  F  iru.  V13i7  tvanta  iro  icas  f/lu 
thrato.  V  iru.  I4i6  sie  wdrun  iro  henti.  F  iru.  IV  3a  gibütun  iro  irörton. 
F  iru.     IV  26  9  S'iu  bliiun  iro  brüstt.     F  iru. 

Zuweilen  zeigen  V  oder  P  oder  beide  die  form  ira  statt  iro: 
IV  166  fher  alla  ivörolt  nerita.  tho  mera  ira  ni  hdbeta,  F  iro.  Vgl, 
4  thie  nötgistallon.  IV  3425  Kldgetioi  thö  thiu  selbun  w'ib.  thaz  ira 
eigena  lih.  Doch  könnte  an  beiden  stellen  ein  Wechsel  der  syn- 
taktischen   auffassung    massgebend    gewesen    sein.      Dieser    umstand 

1)  Kelle  II  333. 


46  KAI'l'E 

scheidet  in  den  folg-enden  belegen  uns,  wo  es  sich  um  männer 
handelt:  VBaa  sie  zältun,  so  man  ofto  düat,  thaz  iro  seraga  muat, 
P  F  iro,  V  ira.  VII15  Firgdb  in  thaz  zi  rüame,  theiz  wari  in  iro 
duame,  \  F  ira.  In  beiden  halbversen  nimmt  Erdmann  Schreibfehler 
an  lind  setzt  iro  in  den  text.  Bei  dem  Charakter  unserer  überlieferung- 
erscheint es  gewagt,  hier  zweimal  der  hs.  V  einen  Schreibfehler  zuzu- 
muten, zumal  VII15  F  der  hs.  V  folgt.  Da  ausserdem  F  5mal  die 
form  im  für  den  gen.  plur.  aufweist,  wird  man  diesen  formenwechsel 
nicht  von  dem  ganz  gleichen  Wechsel  im  gen.  und  dat.  sg.  fem.  trennen 
können.  Dieser  bunte  willkürliche  formenwechsel,  der  sich  auch  auf 
die  endbetonten  formen  erstreckt,  wird  sich  nur  durch  die  annähme 
begreifen  lassen,  dass  die  3  formen  im  ira  iro  in  der  Umgangssprache 
des  9.  Jahrhunderts  nicht  mehr  auseinanderzuhalten  waren,  wenn  sie 
natürlich  auch  in  der  Orthographie  der  hauptsache  nach  noch  geschie- 
den wurden.  Der  phonetische  wert  des  auslautenden  vokals  dieser 
formen  stellte  sich  den  Schreibern  wohl  am  ehesten  in  dem  Schrift- 
bild iro  dar.  Daher  drängt  sich  die  form  iro  schon  in  den  Otfridhss. 
hervor,  bis  sie  bei  N  für  alle  3  formen  alleinherrschend  ist.  Die  Um- 
gangssprache des  9.  Jahrhunderts  zeigt  uns  also  auch  in  dieser  kate- 
gorie  den  ahd.  endsilbenvokalismus  schon  in  auflösung  und  auf  dem 
wege  der  entwicklung  zu  mhd.  sprachzuständeu. 

Die  sprechformen  aller  3  casus  können  sich  wechselseitig  er- 
hellen. Vor  vokalisch  anlautender  Senkung  verlieren  die  betonten 
pronomina  regelmässig  ihren  endvokal.  Eine  kurzform  des  gen.  sg. 
fem.  vor  ir-  und  eine  zweite  des  gen.  plur.  vor  ist  sind  beweisend 
für  5  vollformeu  vor  denselben  Senkungssilben.  Der  unbetonte  end- 
vokal fällt  als  der  phonetisch  leichtere  sonant. 

Unter  denselben  rhythmischen  bedingungen,  die  wir  bei  imo  und 
inan  kennen  lernten,  werden  auch  iru  und  ira  auf  der  endsilbe  betont, 
wenn  sie  hinter  einer  hochbetonten  vor  einer  unbetonten  silbe  stehen. 
Lautet  die  hebung  konsonantisch  aus,  so  füllt  der  unbetonte  wurzel- 
vokal die  Senkung;  es  finden  sich  9  belege  für  den  dativ,  3  für  den 
gen.  sg.  fem.  Hinter  einer  vokalisch  auslautenden  senkungssilbe 
wird  der  nachdruckslose  wurzelvokal  des  endbetonten  pronomens 
unterdrückt.  Es  begegnet  nur  ein  beleg  für  den  dativ:  1112439  thaz 
dCta  ru  Hier  willo.  Diese  ablautsstufe  rit  ist  also  der  form  mö  des 
dat.  m.  n.  analog.  Lachmaun,  Kl.schr.  I  380  bemerkt,  dass  sich  für 
den  gen.  plur.  die  endbetonuug  nicht  belegen  lasse.  Vielleicht  haben 
wir  sie  jedoch  II 4 100  anzunehmen:  ni  bräst  iro  ioivdrme.  ioivänne 
ist   gewöhnlich    auf  zweiter   silbe   betont,    während    die    erste   in    die 


HIA'irS    rXD    SYXALÖI'HE    BEI    OTI'ÜH)  47 

seiikimg-  tritt;  es  können  jedoch  auch  die  beiden  ersten  silben  betont 
sein.  Die  letzte  betonungsweise  würde  im  vorliegenden  fall  das  adverb 
ungebührlich  hervorheben.  Die  endbetonung  scheint  mir  die  flüssigste 
rhythmisierung  des  halbverses  zu  ergeben;  ist  doch  dieser  satz  nur 
eingeschoben,  um  ein  reimwort  zu  beschaffen. 

An  zweiter  oder  dritter  stelle  des  auftakts  und  der  Senkung  wird 
der  endvokal  der  satztieftonigen  pronomina  vor  vokalisch  anlautender 
hebung  stets  elidiert.  In  auftakt  und  Senkung  finden  sich  je  2  sprech- 
formen gegen  2  und  4  schreiljformen.  Neben  der  betonten  ablauts- 
stufe  '/)■  läuft  also  eine  satztieftonige  parallele  ir  her. 

In  der  Senkung  zwischen  vokalisch  auslautender  und  konsonan- 
tisch anlautender  hebung  treten  die  ablautsstufen  ra  111 7.35  und  ro 
IV  20 40  heraus.  Der  schwache  anlaut  der  pronomina  geht  unter  in 
der  artikulationsbewegung  des  betonten  vokals.  III 7  35  wird  der 
Unterpunktierung  des  Schreibers  von  P  eine  abweichende  auffassung 
des  verses  zugTunde  liegen.  IV  21 15  trägt  das  pronomen  thu  den 
stärkeren  logischen  nachdruckt  thaz  thu  iro  küning  nu  ni  bist.  Man 
wird  daher  auf  das  pronomen  thu  den  nebeniktus  legen  und  das 
pronomen  iro  auf  die  ablautsstufe  ro  herabsetzen. 

III 14 1-2  liegt  der  logische  akzent  zweifellos  auf  der  einleitenden 
konjunktion:  thöh  si  ira  äl  qjenioti,  P  sl  ira  ql.  Die  vokale  gleicher 
qualität  verschmelzen  in  der  Senkung;  der  endvokal  des  prouo- 
mens  ira  fällt  vor  der  hebung  dl.  Die  elisionspunkte  in  P  treffen 
phonetisch  das  richtige;  der  akzent  ist  sicher  fälschlich  gesetzt'. 
Das  pronomen  ira  ist  hier  auf  die  Schwundstufe,  auf  den  inlautenden 
konsonanten  reduziert.  Es  treten  in  dieser  gruppe  dieselben  ablauts- 
formen  heraus  wie  im  dat.  imo:  die  wurzelbetonten  vollformen;  die 
endbetonten  vollformen;  die  betonten  kurzformen  rii  rä  ro;  die  in 
neutraler  Umgebung  auftretenden  unbetonten  vollformen,  für  die  sich 
allerdings  nur  1  beleg  {l  11  ^s  ira)  findet;  die  betonte  kurzform  h-  und 
die  satztieftonige  parallele  ir;  die  unbetonten  kurzformen  -ru  -ra  -ro ; 
die  Schwundstufe  ->•-. 

4.  X.  acc.  [)1.  m.  sie. 
A.  Unter  dem  haupt-  oder  nebeniktus. 

Vor  konsonantisch  und  vokalisch  anlautender  Senkung  erscheint 
regelmässig  in  zahllosen  belegen  die  form  sie.     Daher  fällt  auf: 

1)  Vgl.  Pipers  Variante  uii  dieser  stelle:  'P  si>'ra  al.  (unter  ;•  und  unter  der 
zeile  zwischen  a  und  /  ein  punkt)'. 


48  KAPI'IO 

Acc.  pl.  m. 
11431  Mit  imti  si  ihar  werita.     D  sie.     P  sier. 

B.  Im  auftakt. 

I.  Im  einsilbigen  auftakt  vor  konsonantisch  anlautender 

h  e  b  u  n  g-. 
Es   erscheint   regelmässig  in    zahllosen  belegen  die  vollform  sie. 
Ausnahmen  sind  ganz  vereinzelt. 

IV  28 9  zeigt  V  die  form  si:  si  iviirßn  iro  löza.  P  sie.  IV  612  ist  in  V  si 
zu  sie  korrigiert:  sie  wlht  niregisota.  V  sie  (e  zukorrigiert).  IISis  zeigt  F  die 
form  *e;  sie  hrähtun  imo  in  hdnton.     F  se. 

II.  Als  erste  silbe  im  zweisilbigen  auftakt. 
1.  Vor  konsonantisch   anlautender   zweiter   auftaktsilbe. 

1 27 13  Sie  thaz  drunti  giriatun. 

2.  Vor  vokalisch  anlautender  zweiter  auftaktsilbe. 

a)  Vor  iz. 

a)  Der  sonant  des  pronomens  iz  ist  elidiert. 

1 1 105  sie  iz  al  mit  göte  wirkent.  P  F  siez.  1  1823  Sie  iz  dllaz  thar  irkdntim. 
F  siez.  IV  22  5  sie  iz  alles  wio  girintin.  P  siez.  IV  30 22  siez  dllaz  frdmbrahtnn. 
V  siez  (e  aus  i  korrigiert). 

ß)  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

III 16  sie  iz  allaz  sdmnn  rietiui.    III  19 19  Sie  iz  allaz  dhahotu.it.    IV  613  Sie 

iz  öuh  tiio  gimeintuH. 

b)  Vor  imo. 

IV  4  70  sie  mo  Innoivo  ni  undun.     P  mo. 

c)  Vor  es. 
II 24  sies  dlles  wio  ni  rtlachent.     IV  8 10  si  es  dlles  tcio  ni  thdhiin. 

d)  Vor  ouh. 
1474  sie  ouh  wari  wihenti.     P  sie. 

e)  Vor  in  (praep.). 
1 1 88  sie  in  sibbn  joh  in  dhtu. 

f)  Vor  ir-. 

y)  Der  sonant  des  präfixes  ist  elidiert. 
1112330  si  erqudmun  odo   in   Ihrdti.     F  sie   irquamuu.     V2347  Si  erhtiggent 
kristes  tvörtes.     F  Sie  irhuggent. 

ß)  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 
11120161  Sie  irbülgun  sih  in  wdra.   P  Sie.   V  1739  Sie  irlüagatua  nan  kümo. 

g)  Vor  in-. 
12744  sie  insdzun  iz  hdrtu. 


HrATUS   UND    SYNALÖPHE    «EI    OTFHID  49 

IIL  In  zweiter  auftaktsilbe. 

1.  Vor  konsonantisch  anlautender  liebung. 

a)  In  der  form  se. 

IV  1559  So  er  ss  lerta  thö  in  thera  näht. 

b)  In  der  vollform  sie. 
II 10  9  lliaz  sie  Idsun  er  In  rihti. 

2.  Vor  vokalisch  anlautender  hebung. 
a)  Das  pronomen  ^ie  wird  auf  den  anlautenden  konsonanten  reduziert. 

11121  er  siro  zins  gidtin.  1125  so  sinan  dnasalinn.  P  sie  inaii.  lll^ithaz 
sie  iino  geha  hrahtun.     P  sitno. 

Eine  kombination  verschiedener  darstellungsformen  bieten  die 
Varianten  folgender  verse: 

II2    tliuz    sie    iro    namon    hreittin.     P   se    iro    (e  aus  i  korrigiert).     F   siro. 

IV  ISöi  thas  sie  imo  lo  r/iioangtin.  P  simo.  F  sie  imo.  III 2252  loas  sie  iu  io 
sägen  scoltiiu.  P  se  iu.  D  sie  iu.  F  siu  io.  lies  uns  se  inan  eigwi  heilan. 
P  F  sinan.  Ills  tliaz  se  erdrihes  niesen.  F  se.  II049  thas  se  er  ju  halun  länge. 
D  se  er.  F  ser.  11 14 100  uns  se  odo  tvärun  si  titer u  hiirg.  P  se.  III 16 54  then 
se  er  irslähan  woltun.  P  se  er.  V  23 155  wio  er  se  inimizigen  skre'n/cit.  V  se  (e  zu- 
korrigiert).     P  sie  (/e  übergeschrieben).     F  seuimizigen. 

Ebenso  ist  die  Schreibung  sie  in  P  zu  interpretieren : 

ni20io2  thaz  sie  untar  in  er  ivorahtun.  P  sie.  V650  tlinz  sie  after  themo 
gi'iate.  P  sie.  VII24  tliaz  sii  älleswio  ni  ddtin.  P  sie.  V2O50  thaz  sie  er  io 
minnotun.     P  sie.     IV24i4  so  sie  inan  änasahun.     P  sie.     F  7ian.     Vgl.  1 125. 

b)  Die  form  sie  findet  sich  Imal  in  V  P,   9mal  in  P. 

lUö  Thaz  sie  4rdrichi  zdliin.  F  sie.  III  17?  so  sie  i'tbihrillig  wärun.  Y  sie 
(i  übergeschrieben).  P  sie.  lYlujoh  sie  alles  wio  ni  ddtin.  P  sie.  IV  5  27  Thas 
sie  linsih  muadon  funtin.  V  sie.  28  t/ias  sie  unsih  simo  leittin.  P  sie.  TV  15  ss  joh 
sie   lamer,   sar   thäs   icürti.     P   sie.     IV  36 10   thas   sie   ünsih   ni  bisuichen     P  sie. 

V  17  23  joh  sie  after  imo  sahun.     P  sie. 

c)  V  F  zeigen  die  form  se. 

III 16 10  ther  se  inan  lerti  ivanne.  F  sia  (i  zAvischengeschrieben).  Piper: 
sia  inan]  saman :  zwischen  s  und  a  ist  unten  ein  i  eingesclioben ;  nach  dem  ersten 
strich  des  m  ist  ein  piinkt.     IV  208  duent  se  ünsih  nngaate. 

d)  Alle  hss.  zeigen  die  vollform  sie. 

III  637  thar  sie  alle  süasahun.  IlISs  thaz  sie  ouh  giwär  warin.  lUVdi^  wio 
sie  ouh  mit  linredinon.  III 14 115  ihoh  sie  öugtin  argan  willon,  IV  2645  thaz  sie 
luih  theken  öbana.  IV  294  sint  sie  älang  io  si  giiate.  II 87  Wio  sie  avur  göt 
thar  drösta. 

ZEITSCHKIFT    F.    DEUTSCHE   PIlILüLOCaE.     BD.  XLIT.  4 


50  KAI'I'K 

IV.  In  dritter  aiiftaktsilbe  vor  a' okalisch  anlautender 

h  e  b  u  n  g. 

II  9 14  7nit  thiii  sie  üasih  iagüicho.     P  sie. 

C.  In  der  Senkung  Yor  konsonantisch  anlautender  hebung. 

I.  Das  pronomen  allein  in  der  Senkung. 

1.  In  mindestens  einer  lis.  findet  sich  die  form  se. 

Im  ersten  fuss. 

a)  1.  halbvers. 

N.  pl.  m. 

II 1280  in  tJtiu  se  thes  hig innen.  112412  tliia  se  thdr  innan  thes.  Y  2Siso  mit 
tliiit  se  tht'n  warbon.  isi  Mit  thiu  se  dräta  sine.  IIts  ni  sie  hi  iro  gi'iati.  P  ni 
se  hlro.  Ills  in  thiu  se  thdz  giliezen.  lYSis  Bi  hiic  se  thes  ni  högetin.  F  si. 
IV  637  Wio  se  minnotun  thdr.  F  sie.  IV  7 17  ITVo  se  scoltun  fdhan.  F  sie. 
rV7i4  korrigiert  V  se  in  sie:  thie  sie  scoltun  n'nan.  Y  sie  (/  zukorrigiert).  P  thie 
sie.     IV  3 13  Bi  hiu  se  thes  ni  högetin. 

Acc.  pl.  ru. 

12744  nirthroz  se  ihero  wörto.  124 15  Tliaz  er  se  kiar  h'rit.  P  e'r.  IllSai 
Bizöh  se,  tho  iz  si  ddge  ivant.  11120 152  thas  er  se  sar  ni  hörit.  IV  782  gideta  er 
se  filu  r/che.  PVlSeo  gizöh  se  thar  tho  föllon.  1111545  in  V  gegen  P:  Joh  er  se 
thes  gihntti.  P  Jöh  er  se.  II  2328  ändert  V  se  in  sie:  theih  er  sie  hdl  ju  lange. 
P  4r.    V  sie  (^  übergeschrieben). 

b)  2.  halbvers. 
X.  pl.  m. 

111 7  in  thiu  se  wollen  haben  lib.   V964  thia  se  seribun  thanana.   Y  23^2  thas 

se  thdra  ivollent. 

Acc.  pl.  m. 
II 20 12  thas  sie  se  löbon  thanne.  II 21 11  ther  Hut  se  löbo  bi  thiu.  P  löbo 
thar.  II 22  38  thas  ir  se  ni  bisuichet.  lY  Qi  joh  wio  er  se  brcdigoti.  IV  15  53  want 
er  se  selbo  welita.  F  sc  (e  aus  i).  V  12  es  mit  thiu  er  se  drösta  sidor  meist.  P  (h: 
IV  621  er  sh'iag  sie  sdr  joh  sie  rdh.  F  se.  Die  Varianten  der  ausgaben  lassen 
nicht  unzweideutig  erkennen,  ob  die  form  se  in  F  sich  auf  beide  formen  des  halb- 
verses  oder  nur  auf  eine  der  beiden  beziehen  soll.  rVösa  wio  er  se  wolti  vrinnon. 
F  sie.  IV16i2io/j  sie  thdra  leitta.  F  se.  V138  thar  er  sie  fisgon  gisah.  F  se. 
IV  6  37  thaz  man  sie  hiazi  meistar.  V  «zV  («  zukorrigiert).  P  s/e  (/übergeschrieben). 
1471  ändert  V  se  in  sie:  irds  sie  filu  wüntar.     V  sie  (korrigiert  aus  se). 

Im  zweiten  fuss. 
a)  1.  halbvers. 

X.  pl.  m. 
III 439  Frägetun  se  thuruh  not.  IV  54  joh  thie  esti,  tliie  se  setitun. 
IV  929  Irlhionotun  sc  hdrto.  rV2627  Weinotun  se  Idngo.  IV  3537  Wtillun  se,  er 
se  fuarin  heim.  III 1525  Ni  giloaptun,  so  se  scoltun.  F  sie.  rV65i  Ouh  ddtun, 
so  sie  Wültun.  F  se.  V  1737  Kdpfetun  sie  Idngo.  P  se.  117 19  ändert  V  se  in 
sie:  Sdgetun,  thaz  sie  gdhun.     V  sie  (i  hinzukorrigiert). 


HIATUS    UND    SYXALÖPHE    BEI    OTFRID  61 

Acc.  pl.  m. 
II 102  jo7i  züihit  er  se  reine.    IV  467  IJdges  er  se  lerla.    IV  11 31  iu  P  gegen 
V:  Ni  wasgu  ih  sie,  quad  er,  thir.     P  wdsgu  ih  se. 

b)  2.  lialbvers. 

N.  pl.  m. 
1 12  34  thar  zämun  se  scono. 

Acc.  pl.  m. 

II  773  sehet  ir  se  silgan.     V  16  38  so  sllumo  so  ir  se  rnaret.    V  se  (e  aus  0). 

Im  dritten  fuss. 

a)  1.  halbvers. 

N.  pl,  m. 
II 11 47  Thaz  ziwiirfan  se,  les.    IV  14 13  Bnthtin,  quddun  se  scir.    IV28ii  Ny 
düeines,  quddun  se,  les.    11737  Thia  bürg  ndntun  se  sdr.    P  sie.     1112462  dnihtin, 
quadun  se  sdr.     F  sie.     r\''2227  Heil  tJiu,  quddun  sie,  krlst.     P  se. 

b)  2.  halbvers. 

N.  pl.  in. 
1111749    hi    thiu    so    shluhiun    se    thdr.     IV  9  28    thaz   githlonotun    se    thar. 
V422    hi   thiu   hintarqudmun   se   sä.     H 102    thaz   irfüliun  se  sdr.     1111632  M  ihiu 
inkunnun  sie  mih.     V  sie  (i  übergeschrieben).     P  se.     F  sie. 

Acc.  pl.  m. 
IV  621  er  shiag  sie  sdr  j oh  sie  rdh.     F  se.     Die   Varianten   iu   den  ausgaben 
lassen  nicht  unzweideutig  erkennen,  ob  die  form  «c  in  F  sich  auf  beide  formen  des 
halbverses  oder  nur  auf  eine  der  beiden  bezieht. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  form  sie. 
Im  ersten  fuss. 

a)  1.  halbvers. 

N.  pl.  m. 
1 1 108  thäz  sie  thaz  gilernen.     109  tltdz  sie   thes  bighinen.     12m  jöh  sie  thili 
irhndtin.    P  sie  (acc.  rad.).    11759  Thaz  hüs  sie  tho  gisähun.    62  thaz  khid  sie  thar 

tho  hetotun.  II337  7l6  II30  1236  85  1328  14l2  I626  173  2212;  III643  1341  47  1487 
107  I611  33  2488  26l6(V);  IVI22  46  8  525  642  54  744  Hl  1250  275  36li;  V443  65 
71    9ll      IO9     1245   70     13l3    17     15l    I81    2626    67    73    74    75    I631;    H20  69  103.      12029    Steht 

sie  für  den  n.  pl.  fem.:  Qudd,  sie  thaz  ni  ivöUin.     Sc.  thiu  wib. 

Acc.  pl.  m. 
II 118    ther    sie    zhno    holeta.     P  ther.      III 7  eo    ni    man   sie    sus    hnvdnne. 
IV  552  nu  loir  sie  Mar  zi  guate.     IV  1.564  16  49  29 19;  V1269  23i69. 

b)  2.  halbvers. 

X.  pl.  m. 
1 1 62   SO   sint   sie   sdmabalde.     1 1  94  ni  si  tlu'e  sie  zugun  hrime.     11774  then 
weg,   sie  fdran  scoltun.     11228    842    128o;    JII87  21    149i   1746  2474;    IV 11 15   I643 
2036;  IV  2229  26ii;  V89  IO15  1738  232si. 

Acc.  pl.  m. 
1112250  thaz  man  sie  nennit  thar  zi  thiu.    IV  6  50  thaz  biiah  sie  ddan  hiazun 
VI611  joh  sie  süazlicho  intfiang. 

4* 


52  KAPPE 

Im  zweiten  fuss. 

a)  1.  halbvers. 

N.  pl.  m. 
1222  sie  fliszun,  thaz  sie  gißtin.    s  so  iltun  sie  heim  sar.    II  837  Tho  qudd 
er,  thaz  .v/e  skdnctin.    IIllu  ihie  stüala  ouh,  thar  sie  sazun.    II 23 17,  III  232  ISss 

I658;    IV9l8    I642    1940    60    2435    3615;    VlOlS    I67    2521. 

Acc.  pl.  m. 
13 12  thes  wdges  er  sie  ivista.     12237   Wiintar   was  sie  Jtcirto.     II  2 12  suiitar 
quam,  sie  mdnoti.     IV  623  lOss;  V2065  2I3. 

b)  2.  halbvers. 
N.  pl.  m. 

1937  ih  sagen  thir,   wio   sie  datun.     II  3 17  thaz  kindilin  sie  sdhan.     II 15 17 
ndhor,  so  sie  miiasun.     111229  ni  inestun,  was  sie  fnartan. 

Acc.  pl.  in. 
12236  inti  frdgeta  sie  kleine.     III89  jo/i  dngusti  sie  ruartim. 

Im  dritten  fuss. 

a)  1.  halbvers. 
N.  pl.  m. 

V2345  Thara  xuftent  sie  ziia.     H99  Er  ist  dhtuii  sie  sin. 

Acc.  pl.  m. 
III 12 11  Stime,  qtiadun,  duent  sie  wls. 

b)  2.  halbvers. 

N.  pl.  m. 
11761  thes  guates  irdrun  sie   hdld.     IV  7  44  so  ivar  in  wörolti  sie  s/n.     66  bi 
thiu  missigiangun  sie  ihar.     V224  hiar  githienetun  sie  thdz. 

Acc.  pl.  m, 

IV  920  giwerdan  möhta  sie  thes. 

IL  Das  pronomen  an  zweiter  stelle  der  Senkung-. 

Alle  belege  gehören  dem  ersten  fuss  an. 
1.  In  mindestens  einer  hs.  findet  sich  die  form  se. 

a)  1.  halbvers. 

N.  pl.  m. 

111636    Thanne   se    zälent    tliwruh    mih.     F  sie.     IV  7 39    S'o    sehent    se    mit 

githninge. 

Acc.  pl.  m. 

II 1279  Sanier  se  zi  imo  leitti.     III  22  27  -A7  nlmit  se  vu'nnisgen  hdz. 

b)  2.  halbvers. 
X.  pl.  m. 

V  20 113  biginnent  sie  thdna  keren.     P  sie. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform  sie. 
a)  1.  halbvers. 
N.  pl.  m. 
III 102    wanta    sie    icdruit    thunih    not.      IV  4: 13    FMaran    sie   tho    iro   pdd. 
IV27i  Ni  ndmun  sie  thla  meina. 


HIATUS   UND    SYXALÜPHE    15Er   OTFRID  53 

b)  2,  halbvers. 
N.  pl.  lu. 
IV  123-2    hübetun   sie  mihila   dra.     V  sie  (zukorrigiert).     IV  3 13    öba  sie  thaz 
gifriimitin. 

Acc.  pl.  m. 
IIT  757  hi  hiu  man  sie  körbt  heizit.    P  hiu.    V  173?  was  ivüntar  sie  thero  thingo. 

D.  In  der  senknng  vor  yokalisch  anlautender  silbe. 

I.  Vor  vokalisch  anlautender  zweiter  senkungs silbe. 

1.  Vor  es. 

a)  Das   pronomen   sie   wird   innerhalb    des   kontraktionsproduktes  sies 
auf  den  anlautenden  konsonanten  reduziert. 
N.  pl.  m. 
Ulis  so  iiyls  ses  io  gidcitun.    1111632  er  zdlta,  bi  hin  si  es  jlizun.    P  si  es. 
111267  joJi  ivas  sies  clnan  scoltin.     P  si  es. 

Acc.  pl.  m. 

IV  19 12   in   th/'u   sies  fragen   icolles.     V  sies  (i  zukorrigiert).     P  s{es.     F  in 
diu  du  ses  fragen  wolles. 

b)  Alle  hss.  zeigen  das  kontraktionsprodukt  sies. 
N.  pl,  m. 
II 106  ni  diient  sies  iviht  in  noti.  JI6u  thciz  sies  tviht  nintsdzin.  YllietTiaz 
sies  alles  loialtin.  17  Thaz  sies  wlaltin  fila  frdm.  H19  Wöla  sies  io  ginitzzun. 
II 105  Wanta  dUaz,  thaz  sies  tMnkent.  III 26 7  Sie  rletun,  was  sies  wöltin. 
IVlOio  gibdt,  thaz  sies  dzin.  11325  thöh  sies  tho  ni  rtiahtin.  111129  todz  sies 
alle  hörtun.  IIII838  tholi  triht  sies  ni  firndmin.  IV3022  so  was  sies  thö  githdhiun. 
IV  3727  thdz  sies  ni  gitn'iagin.  VIO25  so  sies  tviht  ni  ivestun.  Vl3ii  thdz  sies 
wiht  ni  hdbetun.     V2525  thaz  sies  göte  thankon. 

Acc.  pl.  m. 
II  24 11  T/idz  sies  tvola  lilsti.     III 20 42    was   sies   ivüntar  thrato.     1111854  bi 
thiu  ivds  sies  filu  wüntar. 

2.  Vor  ir-. 

a)  Das   pronomen   wird    auf  den    anlautenden  konsonanten  reduziert. 

V  21 4  suntar  zia  se  irgdzin.     P  se.     F  .sie. 

b)  Es  finden  sich  die  reduktionsstufen  si  und  se  in  mindestens 

einer  hs. 
1116 18  thaz  iro  leid  sie  irbarme.   F  se.    Y  in  Sie  thdhtun,  thaz  sie  erbdtin. 
P  si.     F  sie  irbatin. 

c)  Die  form  sie  findet  sich : 

II 24 13  in  P  gegen  V:  thaz  sie  irtcdchetin  friia.    P  Thdz  sie  irwdehelin  frua. 

3.  Vor  i7it-. 

n  15i4  mit  ougon  bilden  er  sie  intflang.     P  sie.     F  se. 

4.  Vor  in-. 

I  24  2  wio  sie  inglangin  dlle.     P  se. 

5.  Vor  ouh. 

II  431  fon  hiinile  sie  ouh  nerita.     P  sie. 


54  KAPPE 

6.  Vor  iz. 

a)  Das  pronomen  sie  wird  auf  den  anlautenden  konsonanten  reduziert. 

II 110  joh  sie  iz   ouh   ir füllen.     P  jöh  sie  iz.     V46  in  friadag  sie  iz  dätun. 
P  sie  iz. 

b)  In   mindestens   einer  lis.  findet   sich   das   kontraktionsprodukt  siez. 

V67  Joh   iclo   siez   ouh  firndmun.     F  sie  iz.     V2568    thdz   siez   io  hlMllen. 
F  sie  iz.    V2046  ni  mugun  siez  thar  giiceizen.    198  thdz  sie  iz  ouh  giqudttin.    P  iz. 

c)  Alle  liss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 
11744  in  P  gegen  V:  bat  sie  iz  ouh  biriiahtin.  P  bdt  sie  iz.  II 16 32  in 
th/u  sie  iz  iogillcho.  111754  in  büah  sie  iz  duent  zisdmane.  IVlie  thdz  sie  iz 
mer  intri'etin.  IV  18 3  zi  wlu  sie  iz  ouh  bibrdhtin.  V  sie  (acc.  rad.).  IV  16 38  ndles, 
thaz  sie  iz  ddtin.  11 5 17  in  thlu  sie  iz  ni  firbdrin.  P  siu.  HI  5 15  thoh  sie  iz 
dbahotin  so.  nil3i  =  67  thaz  sie  iz  hdlin  thuruh  not.  rV7i6  so  frdm  sie  iz 
mügun  bringan. 

7.  Vor  endbetontem  inäri. 

a)  Das  pronomen  sie  ist  auf  den   anlautenden   konsonanten   reduziert. 

1112080    in    th/u   sie   nun    irkndtin.     P  sie.     rV36i5    wio   sie    nan   gihialtin. 
V  sinan  (e  übergeschrieben). 

b)  Alle  hss.  zeigen  sie  nan. 
11756  sdr  sie  nan  gisdhun.    P  sar  sie.     111494  thdz  sie  nan  gisdhin.    P  sie 
(acc.  rad.).    V622  wio  sie  nan  bigniabun.    V732  thdz  sie  nan  gibiirgin.    V9ii  thaz 
sie  nan  irkndtin  =  1136.     P  thdz. 

c)  Die  hss.  zeigen  sie  inan  oder  sie  nan. 
rVls  ivio  sie  inan  firliesen.    P  nan.    F  wia  sia  inen.     rV2230  n'io  sie  inan 
gihöntin.     P  nan. 

d)  Das  pronomen  sie  steht  an  zweiter  stelle  der  Senkung  vor 
endbetontem  nan. 

V  10 4  tho  nöttun  sie  nan  giniiagi. 

8.  Vor  imo. 
III 16  32  joh  icdz  sie  imo  alle  wizun.     P  imo.     F  mo. 

9.  Vor  al. 

V  16 10  tJiia  fdrt  sie  al  so  gisitotan. 

10.  Vor  uns. 
se. 
IV  659  Thar  dnent  se  uns  io  zi  müats. 

sie. 
III  756  in  P  gegen  V:  tliaz  sie  uns  scono  zelitun.     P  thdz  sie  uns. 

11.  Vor  in  (praep.). 
a)  In  mindestens  einer  hs.  findet  sich  die  form  se. 

N.  pl.  m. 
ini5i3  TTVo  sie  in  thesa  redina.   P  se.    V  IO36  joii  ivio  sie  in  tliera  ferti.   P  se. 

Acc.  pl.  m. 
II  2 28  gieretq  er  se  in  then  sind. 


HIATUS    UND    SYNALÖPHE    BEI    DTFIUD  55 

b)  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

IV  032  thia  tvcit  sie  in  thih  iii  Uggeii.     IVSOs  Thdz  sie  in  then  gizitin. 

IL  Das  pronomen  an  zweiter  und  dritter  stelle  der 
Senkung-  vor  vokalisch  anlautender  hebung. 
1.   Das   pronomen  ist  in  mindestens  einer  hs.  auf  den  an- 
lautenden konsonanten  reduziert. 

a)  Durch  die  Schreibung  sie. 

N.  pl.  m. 

1.  fass. 

I  1 14  iz  md'chont  sie  al  (jirustit.  P  se  al  (e  aus  i  korrigiert).  F  sie. 
133  Zellent  sie  uns  hiar  fihi  frdm..  F  sie.  P  sieuns  (ie  nach  dem  s  übergeschrieben"). 
Mar  fehlt  in  P.  I9io  sih  warun  sie  einonti.  F  seinonti.  1126  fürahtun  sie  in 
tho  gdhun.  P  sie  (ie  übergeschrieben).  I  IS?  Tho  fuarun  sie  ilenti.  P  F  sie. 
12722  fragetun  sie  ävur  ihuruh  not.  P  sie.  F  savur.  43  bi  thiu  fragetun  sie 
dvur  mera.  P  se.  F  snvur.  II 66  hi  thiu  sint  sie  unscante.  P  se.  F  sie.  II9i6SO 
skenkent    sie    ans    then   giiatan    win.     P  sie.     F  sie.      15   so   so'nkent   sie   uns   mit 

iciinnon.     P  sie.     F  sie. 

2.  fuss. 

1 144  thes  nanien  W(^stun  sie  ouh  giwdnt.     P  se.     F  sie. 

Acc.  pl.  m. 

II 83  Sie  lertun  sie  iz  tnit  suerton.  P  sie.  12334  joh  rdfsta  sie  iogillcho. 
V  io  hinzukorrigiert;  dabei  ie  von  sie  unterpunktiert.  VII9  Ouh  hh'as  er  sie  dna 
(so  thu  iv^ist).     P  sie. 

b)  Durch  die  Schreibung  se. 

N.  pl.  m. 
1.  fuss. 
132  uns  zellent  se  ana  hdga.  P  sanabdga.  F  se.  1020  ivdrun  se  allo 
woroUi.  F  sie.  120  4  Joh  ädtun  se  ana  fehta.  P  se.  F  sie.  HI  21 10  ni  liazun 
se  unsih  fröioon.  P  se.  IV  9  le  thes  zilotun  se  io  thuruh  not.  P  se.  F  sie. 
IV  3537  Wüllun  se,  er  se  fuarin  häm.  P  se.  Lss  niazen  se  tamer,  soso  ih  qudd. 
1 1 80  al  eigun  se  iro  forahta.  P  se  iro.  100  thero  eigun  sie  io  ginüagi.  P  se  io. 
F  sie  (io  fehlt).     II 16 36  thas  l/egent  sie  dl  thuruh  mih.    P  se.    F  sie.    V233i  thoh 

sdgent  se  alle  thdnana.     P  se. 

Acc,  pl.  m. 
110 22  inti  se  ouh  iricdnte.    V  souh  (e  hinzukorrigiert).    F  sie  ouh.     II 76  sie 
eigun  se  uharwunnan.     F  se.     Hill i  joh  lerta  se  dcur  (so  imo  zdm).     P  se. 

c)  Durch  die  Schreibung  sie. 

N.  pl.  m. 

1.  fuss. 

V  20 111    Biginnent    sie    dngusten.     P   si/.     IV2221  Joh    sdztun    sie   imo   in 

höubit.     P  sie. 

2.  fuss. 

V4]o  zi  themo  grdhe  se  iliun.     P  sie  (i  übergeschrieben). 

Acc.  pl.  ra. 
V  1335  Joh  hiaz  er  sie  ouh  giwlsso.    P  sie.    V  20 112  er  drlbit  sie  alle  thdnana. 
P  sie.     IV  1236  fon  suörgon  sie  al  irretiti.     P  sie. 


56  KAPPE 

d)  Durch  die  Schreibung  sie  vor  folgendem  '/-. 
N.  pl.  m. 

1.  fuss. 

II 97  Tkes  eigiin  sie  io  nuzzi.  P  sie  io.  11324  thes  lobotun  sie  iogilicho. 
P  sie.  11774  in  dröume  sie  in  zelitun.  P  sie  in.  IV I646  thaz  sMba  sie  imo 
säget  an.  P  sie.  imo.  lY  20ib  Tliaz,  quddun  sie,  in  ni  dohti.  P  sie.  IV  28  2  in 
fieru  sie  iz  gideiltun.  P  sie  iz.  rV2232  so  hlüun  sie  imo  thiu  orun.  P  sie  thiu. 
IV  2322  ni  möhtun  sie  in  gistälen.  P  sie.  IV  6  40  thaz  nigin  se  in  bi  nötin.  P  sie 
(i  übergescliriebeu).     F  sie  in. 

2.  fuss. 

V54  zi  thenio  gi'cihe  se  iltiin.     P  sie.     F  sie.  * 

2.  In  mindestens  einer  hs.  findet  sich  die  form  se. 

N.  pl.  m. 

1.  fuss. 

14 10  so  wdrun  se  unzan  elti.  121  ih  Sprachun  se  dvur  sliumo.  F  sie.  V4i3 
Dniagun  se  iro  scilbun.  V732  stiniar  se  ouh  biwiirbin.  V2I23  Thar  brlnnent  sie 
unz  in  ihcon.  F  se.  196  so  icnrun  se  alle  sämant  thar.  F  sie.  P  al.  IV  11  le  ict'tasgin 
se  unz  in  enti.  IV  33 20  thaz  ddtun  se  al  bi  nide.  VIO26  then  nuthont  se  dna- 
sahun.  H92  then  wöltun  se  ofio  irsldhan  thar.  IV  1725  thes  thahtun  sie  er  ju 
filu  förn.     F  se.     P  tlies  thdhiun  sie  er. 

2.  fuss. 

II 11 29  In  imo  sähwn  se  odoivdn.  IV3024  thaz  scMtan  Uezun  se  allaz 
frdm.     F  sie. 

Acc.  pl.  m. 

1.  fuss. 
nilio   uzstlaz   er  se   iagilicho.     P  üzstiaz.     F  sie.     11 21 12  ,/o7?    sie  se  eren 
thuriih  thdz.     1111477  So  heilte  se  dlle  druhtin  sdr.     VI612  tJioh  rdfst  er  se  erist 
härto.     V  IO20  tho  ruartun  se  dngusti.     V  1736  alle  drdt  er  se  untar  fuaz. 

■3.  Vor   einer  nicht  auf  /'-  anlautenden  hebung  findet  sich 

in  mindestens  einer  hs.  die  form  sie. 

N.  pl.  m. 

1.  fuss. 

12730  uns  zdltun  sie  ofto  ivdhaz.  P  sie.  III 18 11  Bigondun  sie  änticurten. 
F  sie.    III I826  so  wurtun  sie  timblide.   P  sie.    TV  2Si6  so  riafun  sie  alle  gdhun.   F  sie. 

2.  fuss. 

II5  Thardna  ddtun  sie  ouh  thaz  düam.  P  sie.  IV  1732  zi  themo  leittun 
sie  erist.     P  sie.     IV  2620  thaz  Üb  bigondun  sie  dvaron.     P  sie. 

Acc.  pl.  m. 

1112236  lerta  sie  dvur  tho  thaz  gi'iat.  P  Urta  sie.  V2096  biginnit  sie  dna- 
fartoii.     P  sie.     III  2832  nu  süachist  sie  avur  thänne.     P  sie. 

Mit  dem  betonten  pronomen  er  kontrahiert. 

II  73   Mit  ziihtin  sier  mo  hdldta.     F  sie  ermo. 


HIATUS    UND    SYNALÖPHe   BEI    OTFKII)  57 

4.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform  sie. 
N.  pl.  m. 

1.  fuss. 

III  24-1  bcHun  sie  in  gisUUin.  IVB  4  siintar  sie  in  then  fertin.  IV  4  30  thes 
Utun  sie  io  zi  nöti.  ^^^529  Mit  leru  sie  unsih  ihäktin.  iy620  urlnta  sie  in  iz 
sdgetnn.  so  wanta  sie  dl  firliazun.  TV  1 2  öugtun  sie  Imo  innan  thes.  IV  96  Bigon- 
dun  sie  änttourten.  IA"12i9  llio  sprachun  si  alle  fon  in.  IV  19 71  Tho  spiun  sie 
öuh  ubar  thdz.  IV  24  3  Stiinma  sie  iro  irhtiabun.  IV  266  273  9;  V4i9;  H90. 
111762  thia  scrlbent  sie  uns  zi  nüzzi.  V  sie  zukorrigiert.  P  übergeschrieben. 
1111497  thaz  f aarin  sie  4inluzze.  F  si.  III2O20  in  V  gegen  P:  thes  sin  sie  io 
giiL'isse.  V  io  übergeschrieben.  P  thes  sin  sie  io  gi wisse.  IV  1^9  thar  icdrun  sie 
al  gisamanoi. 

2.  fuss. 

IV  2641  Sulili  quement  sie  iu  noh  heim.  V619  zi  ivizzanne  sie  dltun. 
II  H  63  iiera  losen  sie  dlle. 

Acc.  pl.  m. 
IV  2424  ni  mäht  er  sie   io  gitveichen.     IV  25 13  Er  nägalta  sie  in  thaz  crüzi. 
Vlöos  t(nifei  sie  inti  bredigot.     IVllis  lerte  sie  ötmuati. 

Unter  dem  haiipt-  und  nebeniktus  erscheint  in  den  Otfridhss.  in 
zahllosen  belegen  stets  die  iovm.  sie.  Yerf^llAsi  m/'t  ivoti  si  thar  tverifn, 
F  si,  D  sie,  P  si  er  muss  daher  in  V  ein  blosser  Schreibfehler  vorliegen ; 
P  beseitigt  ihn  durch  einschieben  des  pronominalen  Subjekts,  D  setzt 
die  regelmässige  vollform  sie;  nur  F  übernimmt  den  fehler. 

Im  auftakt  vor  vokaliseh  anlautender  hebung  wird  der  konso- 
nantische faktor  des  diphthongen  unterdrückt;  hier  tritt  die  ablaut- 
stufe si  heraus.  Vor  konsonantisch  anlautender  hebung  begegnet 
durchgehends  die  vollform  .^ie.  Als  Schreibfehler  ist  daher  IV  28.,  in 
V  die  form  si  gegen  sie  P  F  einzuschätzen;  IV28<,  si  wi'irfin  iro  löza 
P  F  sie\  IV  612  ist  daher  die  Schreibung  d  in  V  noch  nachträglich 
in  .s/e  geändert.  IV  6 12  sie  wlht  niregisoto,  V  sie  (e  zukorrigiert).  In 
F  tindet  sich  endlich  noch  einmal  die  form  se  gegen  sie  V  P  IISis. 
Man  wird  auch  127 13  vor  einer  zweiten  konsonantisch  anlautenden 
auftaktsilbe  die  vollform  sie  gelten  lassen;  eine  sichere  entscheidung 
ist  nicht  möglich,  da  sich  kein  Vergleichsmaterial  bietet. 

Auch  die  synalöpheerscheinungen  vor  einer  zweiten  vokalisch 
anlautenden  auftaktsilbe  beweisen,  dass  wir  im  auftakt  nur  mit  der 
vollform  sie  zu  tun  haben.  Das  pronomen  iz  verliert  an  zweiter  stelle 
des  auftakts  seinen  sonanten;  es  erscheint  hier  in  der  enklise  hinter 
dem  pronominalen  Subjekt  sie.  4mal  ist  die  synalöi)hc  in  den  hss. 
bezeichnet  durch  die  sclircibungen  siez  und  sie  iz;  3mal  zeigen  alle 
hss.  die   sehreibformen    nebeneinander.      Ebenso    wird   das  enklitische 

1)  Piper  scheint  übrigens  von  dieser  abweichung  in  V  nichts  zu  wissen. 


58  KAl'PE 

pronomeu  imo  hinter  seinem  pronominalen  Subjekt  auf  die  Schwund- 
stufe lierabg-esetzt.  Vor  auftaktsilben  von  grossem  i)honetischen  gewicht 
wird  jedoch  das  pronomen  sie  reduziert;  das  consouantische  dement 
des  diphthongen  wird  unterdrückt.  Die  ablautstufe  si  ist  I474  vor 
otih,  II 04  IV  8 10  vor  dem  pronomen  es  belegt.  Vor  dem  präfix  ir- 
erweist  sich  das  pronomen  als  gewichtiger;  11123:30  V2347  ist  der  präfix- 
vokal hinter  der  vollform  sie  elidiert;  III20igi  VI739  zeigen  alle  hss. 
die  schreibformen.  Auf  grund  dieser  belege  wird  man  I2744  hinter 
der  vollform  sie  den  sonanten  des  präfixes  in-  elidieren.  Wahrschein- 
lich ist  auch  II 88  die  praep.  in  auf  die  Schwundstufe  herabzusetzen. 
Doch  sind  dies  singulare  fälle. 

Die   erste   auftaktsilbe    erhebt   sich   deutlich   über  die  senkungs- 
silben  im  versinnern ;  ihr  eignet  eine  entschieden  .£:rössere  artikulations- 


'fo 


energie.  In  einsilbiger  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  liebung 
wird  das  pronomen  auf  den  anlautenden  konsonanten  reduziert,  während 
wir  im  einsilbigen  auftakt  vor  vokalisch  anlautender  hebung  die  ab- 
lautstufe si  vorfanden.  An  erster  stelle  des  auftakts  vor  konsonantisch 
anlautender  hebung  hat  nur  die  vollform  statt.  In  der  Senkung  vor 
konsonantisch  anlautender  betonter  silbe  kennt  die  Umgangssprache 
nur  die  ablautstufe  se.  Diese  sprechform  findet  sich  in  zahlreichen 
belegen  in  allen  3  fassen  beider  halbverse.  Sie  beweisen  mit  Sicherheit, 
dass  in  unbetonter  satzstellung  vor  konsonantisch  anlautender  hebung 
nur  diese  reduktionsstufe  geltung  hat.  Darnach  sind  die  belege  der 
vollform  umzusetzen. 

1.  fuss: 

1.  halbvers:  66  sie  19  se 

2.  halbvers:  24  sie  14  se. 


2.  fuss. 

1.  halbvers:           25  sie 

11  se 

2.  halbvers:             6  sie 

3  se. 

0.  fuss. 

1.  halbvers:           3  sie 

6  se 

2.  halbvers:           5  sie 

6  se. 

An  zweiter  stelle  der  Senkung  stehen  5  sprechformen  7  schreib- 
formen gegenüber.  In  der  mehrzahl  aller  belege  erscheint  das  prono- 
minale Subjekt  oder  akkusativobjekt  in  der  proklise  oder  enklise  neben 
dem  verbum.  Die  sprechform  se  wird  sich  in  satztieftoniger  Stellung 
aus  der  diphthongischen  form  entwickelt  haben.  Aus  dem  fallenden 
wurde  ein  steigender  diphthong;    das  konsonantische  /  schwindet  wie 


HIATUS   UND    SYNAI.ÖPHE   BEI   OTFKID  69 

jedes  postkonsonantisclie  /  in  frühahd.  zeit.  Die  tiefstufe  des  ablauts 
hat  auch  an  zweiter  stelle  des  auftakts  vor  konsonantisch  anlautender 
hebung-  statt:  vgl.  IV 15 59  So  er  se  Urtn  thö  in  thera  naht  beweist 
für  II 10 9   Tliaz  sie  Idsun  er  in  r'thti. 

Diese  tiefstufe  des  ablauts  wird  auf  die  Schwundstufe  s-  herab- 
gesetzt, wenn  das  pronomen  in  unbetonter  satzstellung  vor  eine  voka- 
lisch anlautende  betonte  silbe  tritt.  An  zweiter  stelle  des  auftakts  vor 
vokalisch  anlautender  hebung  ist  die  reduktion  in  17  versen  durch 
die  Schreibungen  s-  sie  se  sie  und  sie  (vor  l-)  eindeutig  gesichert.  In 
den  Varianten  dieser  verse  finden  sich  wiederholt  auch  die  übrigen 
nicht  ohne  weiteres  eindeutigen  darstellungsformen  sie  (vor  einer  nicht 
auf  /'  anlautenden  hebung),  se  neben  der  schreibform  sie.  Die  synalöphe 
ist  somit  auch  für  die  übrigen  belege  bewiesen.  An  dritter  stelle  des 
auftakts  ist  II  9u  die  reduktion  auf  den  anlautenden  konsonanten  durch 
die  Schreibung  sie  dargestellt.  Genau  dieselben  graphischen  Varianten 
treten  an  zweiter  und  dritter  stelle  der  Senkung  hervor.  Für  44  verse 
sind  die  Schreibungen  s-  sie  se  si  sie  beweisend.  19mal  begegnet 
die  form  se,  llmal  sie,  27mal  die  vollform  sie.  Das  pronomen  erscheint 
regelmässig  in  proklitischer  oder  enklitischer  Stellung,  meist  neben 
dem  verbum. 

Vor  einer  zweiten  vokalisch  anlautenden  Senkungssilbe  wird  die 
tiefstufe  des  ablauts  auf  die  Schwundstufe  herabgesetzt.  Die  in  der 
Senkung  folgenden  wörter  erweisen  sich  als  gewichtiger.  Die  Ver- 
hältnisse treten  hier  nicht  überall  klar  hervor,  da  die  Schreiber  sehr 
oft  die  orthographische  vollform  des  pronomens  gesetzt  haben.  Die 
Schwundstufe  ist  zunächst  handschriftlich  belegt  vor  den  präfixen  ir- 
int-  und  vor  ouJi:  V2I4  simtar  ziu  se  irgdzin,  P  sc,  F  sie.  lIlSu  mit 
oiigon  bilden  er  sie  inffinng,  P  sie,  F  se.  II 4 31  fon  himile  sie  ouh 
nerita,  P  sie.  Die  Varianten  dieser  3  verse  weisen  alle  nur  vorkom- 
menden darstellungsformen  des  pronomens  auf.  Die  ortliograi)liic  ist 
von  konstanz  der  darstellung  hier  noch  weit  entfernt,  wenn  sicii  die 
vollform  auch  schon  stark  in  den  Vordergrund  drängt.  Das  gleiche 
bunte  bild  gewähren  die  verse,  in  denen  die  synalöphe  nicht  bezeichnet 
ist  vgl.  II  16 18  V4i7  II  24 13.  Vor  dem  pronomen  es  ist  der  n.  a.  pl.  m. 
in  4  versen  auf  den  anlautenden  konsonanten  reduziert;  die  hss.  zeigen 
die  formen  ses  sies,  in  den  Varianten  sies.  Die  beiden  vollformen  sie 
es  finden  sich  nirgends  nebeneinander.  In  19  halbversen  haben  die 
Schreiber  das  kontraktionsprodukt  sies  in  den  text  gesetzt,  das  also 
wohl  durch  die  Orthographie  sanktioniert  war  und  als  schreibform  zur 
sprechform   ses  sies   aufzufassen    ist.     Ähnliche  zustände,  nur  weniger 


60  KArri:,  iiiatts  rxn  syxat.öi'he  v.va  otfrid 

konsequent  durclig-et'ührt,  treten  in  die  erscheinung,  wenn  das  jjro- 
nomen  iz  an  zweiter  stelle  der  Senkung-  steht,  llmal  finden  sich  die 
vollformen  beider  pronomina  nebeneinander;  4mal  begegnet  das  kon- 
traktionsprodukt  siez  sie  iz.  Nur  Ilioo  und  V46  haben  die  Schreiber 
die  vollform  des  grammatischen  Subjekts  angetastet:  Uno  joh  sie  iz 
ouh  irfidlen,  P  jöh  sie  iz.  V46  in  fr'iadag  sie  iz  dätun,  P  sie  iz. 
V  llno  belegt  die  sprechform  [s/s],  die  allein  hier  der  Umgangssprache 
geläufig  gewesen  sein  wird.  Der  Schreiber  wird  den  punkt  hier  mit 
vollem  bedacht  gesetzt  liaben,  da  er  von  der  akzentuierung  des  verses 
in  V  bewusst  abwich  und  dies  durch  die  sprechform  zum  ausdruck 
bringen  wollte.  V  46  hat  er  wahrscheinlich  erst  den  sonanten  des 
pronomens  iz  unterpunktiert;  dann  hat  er  die  vollform  des  pronomens 
sie  in  V  in  die  sprechform  umgesetzt.  Dabei  hat  er  den  punkt  ent- 
weder falsch  gesetzt  oder  er  vergass  den  punkt  unter  iz  wieder  zu 
tilgen.  Vielleicht  aber  waren  ihm  auch  die  formen  [siz\  und  [sez] 
phonetisch  annähernd  gleichwertig,  da  man  den  sonanten  der  tief- 
stufe f<e  wohl  am  ehesten  als  irrationalen  vokal  ansprechen  wird.  Die 
elision  vor  den  präfixen  //•-  und  int-  beweist  jedenfalls  für  das  ganz 
geringe  phonetische  gewicht  der  form  se.  Vor  dem  prätix  in-,  der 
praep.  in,  vor  cd  und  vor  uns  ist  danach  mit  Sicherheit  die  Schwund- 
stufe des  pronomens  anzusetzen ;  die  liss.  zeigen  hier  die  formen  se 
und  .sV^.  Tritt  das  pronomen  sie  vor  das  endbetonte  pronomen  inan, 
so  zeigen  die  hss.  5mal  die  darstellungsform  sie  nan,  2mal  sie  inan  V, 
de  nan  P.  Die  Statistik  für  das  pronomen  inan  hat  gezeigt,  dass  die 
endbetonte  form  m)n  in  den  Otfridhss.  durchaus  orthographische  Selb- 
ständigkeit gewonnen  hat;  nur  selten  schreiben  die  hss.  s?'e  «m)n.  Wir 
können  hier  sie  nan  also  als  normale  schreibform  ansprechen.  Die 
zugehörige  sprechform  springt  heraus,  wenn  P  III 20 so  sie  nan  schreibt: 
in  th'ni  sie  nan  irhiätin,  P  sie.  IV  36 15  ist  in  V  die  form  sinan  durch 
überschreiben  des  e  in  sienan  geändert.  Diese  sprechform  sie  nan 
kann  nur  besagen,  dass  hier  das  pronomen  sie,  das  in  satztieftoniger 
Stellung  in  der  tiefstufe  se  umläuft,  auf  die  Schwundstufe  s-  herab- 
gesetzt wird,  während  der  wurzelvokal  des  endbetonten  pronomens 
inan  in  die  Senkung  tritt.  Der  tiefstufe  se  eignet  nur  geringste  druck- 
stärke  und  schallfülle;  das  pronomen  weicht  allen  in  der  Senkung 
folgenden  silben,  selbst  ganz  leichten  silben  wie  ir-  iz  int-  inan.  Da- 
nach ist  auch  III 16  30  die  sprechform  [s/m]  einzusetzen. 

KIEL.  RUDOLF    KAPPE. 

(Schluss  folgt.) 


CÜRVES,    STUDIEN    ÜBER   DIE    NIBELINGEXHANDSCHKIFT   A  61 

STUDIEN  ÜBER  DIE  NIBELUNGENHAND8CHKIFT  A. 

(Fortsetzung-  und  schluss'.) 

Kapitel  IL 

Beiträge  zur  textkritischen  beurteilung  der  hs.  A. 
1.  Das  yerliältnis  der  Schreiber  zu  dem  stroplienbestande  der  Torlage. 

Unter  ausscheidung  der  für  diesen  zweck  unergiebigen,  weil  zu 
wenig  umfangreichen  partien  des  dritten  bis  sechsten  Schreibers  unter- 
suche ich  den  anteil  der  beiden  baupthände  an  den  veräDderungeu 
im  Strophen-  bezw.  zeilenbestande  der  beiden  gedichte  ~  gemessen  im 
allgemeinen  an  dem  umfange  der  rezension  B*  -,  um  die  verschie- 
dene Stellung  beider  zu  ihrer  vorläge,  die  die  Untersuchung 
der  Orthographie  ergeben  hatte,    auch  in  diesem  stücke  nachzuweisen. 

In  der  ganz  von  der  zweiten  band  geschriebenen  Kl.  sind, 
abgesehen  von  dem  in  A  mit  recht  fehlenden  Schlüsse  (4323-60),  der 
in  B  erst  nachträglich  aus  C*  interpoliert  ist-,  folgende  diiferenzen 
festzustellen.  In  A  fehlen:  171-72,  2205,  2445-48,  3849-56.  Schon 
Lachmann  hat  diese  15  zeilen  gegen  das  zeugnis  von  A  in  den  text 
aufgenommen,  ihr  fehlen  also  auf  fiüchtigkeit  des  Schreibers  zurück- 
geführt^.    Über  ihre  uneutbehrlichkeit  besteht  kein  zweifei. 

Eine  nur  scheinbare  diiferenz  liegt  vor  bezüglich  der  in  Lach- 
nianns  texte  fehlenden  zeilen  3769/70,  die  auch  in  dem  Varianten- 
apparat von  Bartsch^  und  Edzardi^^  als  der  hs.  fehlend  verzeichnet 
sind.  Aus  ihrem  übereinstimmenden  fehlen  in  A  und  C  zog  dann 
Bartsch-  den  schluss'',  dass  sie  'als  ein  zusatz  betrachtet  werden 
müssen'  und  setzt  sie  eingeklammert  in  den  text.  Tatsächlich 
stehen  beide  zeilen  nach  aus  weis  der  phototypie  in  der 
hs.  (fol.  57  r,  sp.  a)  und  sind  von  Lachmann  übersprungen, 
was  merkwürdigerw^eise  Vollmer,  der  zwei  andere  von  Lachmaun 
ausgelassene  verspaare  entdeckte ',  entgangen  ist.  Zu  bedauern  ist, 
dass    der    alte    fehler   noch    in    die    neueste   beliandhing  der  frage  bei 

1)  Vgl.  zeitschr.  41,  271.  487. 

2;  Vgl.  die  zutreöenden  ausfüiiruiigen  von  Ursinus.  a.  ;i.  o.  s.  38—40.  Souiraer- 
meier  (Diss.  Halle  1906,  s.  50)  schreibt  die  entlehnung-  des  Schlusses  bereits  'einer 
direkten  Vorstufe  von  B'  zu. 

3)  So  auch  zuletzt  von  Ursinus  (Diss.  Halle  1908)  s.  38  beurteilt. 

4)  Die  Klage,  s.  195  zu  3769  f. 

5)  Die  Klage,  s.  226  zu  4105  f. 

6)  A.  a.  0.  s.  XVI. 

7)  Der  Nibelunge  not  (Leipzig  1843)  zu  294  7-8  und  zu  3o7  i5-ifi. 


62  CORVES 

Ursiniis^  übergeg-angen  ist,  obwohl  ihm  Laistners  publikation  vorlag: 
auch  er  s])richt  das  verspaar  dem  echten  texte  ab  unter  der  irrigen 
Voraussetzung  seines  fehlens  in  A.  Da  es  sonst  nur  in  B  und  d 
überliefert  ist,  dient  es  weiter  dazu,  eine  engere  Verwandtschaft  zwischen 
diesen  beiden  hss.  zu  begründen  ^.  Die  durch  A  B  d  bezeugten  verse 
sind  aber  jetzt  mit  Edzardi-^  dem  original  zuzuweisen:  in  C*  sind  sie 
ausgeschieden;  dass  sie  mit  C*  übereinstimmend  zufällig  auch  in  b, 
an  dieser  stelle  dem  einzigen  zeugen  von  Db*,  fehlen,  kann  ihre 
echtheit  nicht  ernsthaft  in  frage  stellen. 

Durch  die  tatsache,  dass  Lachmann  dies  verspaar  übersehen  hat, 
sind  auch  die  'abschnitte  zu  dreissigen'^  endgiltig  beseitigte 

Die  aus  der  betrachtung  der  Zeilendifferenzen  in  der  Kl.  ge- 
wonnene einsieht  in  die  gelegentliche  flüchtigkeit  des  zweiten 
Schreibers  ist  auch  für  die  von  ihm  geschriebene  liedpartie  zu 
verwerten:  das  fehlen  von  str.  1818  5_8  ist  konsequenterweise  auf 
auslassung  infolge  von  flüchtigkeit  zurückzuführen  ^ 

Weit  bedeutendere  diflferenzen  im  strophenbestande  weist  die 
von  dem  ersten  Schreiber  stammende  partie  der  hs.  auf:  gegenüber 
B  fehlen  hier  62  Strophen.  Von  diesen  sind  60  allein  in  A,  zwei 
{str.  102  5_i2)  dagegen  auch  in  Id  nicht  vorhanden.  Beider  Zugehörig- 
keit zu  der  rezension  C*  hat  Braune  '  hinreichend  wahrscheinlich  ge- 
macht; sie  sind  'nur  von  der  hs.  B  oder  einer  ihrer  direkten  Vor- 
gänger'   aus    ihr    aufgenommen  ^,   A   hat   also    in    diesem   punkte    das 


1)  A.  a.  0.  s.  38;  danach  ist  auch  Ursiuus  s.  59  zu  berichtigeu.  [Vgl.  jetzt 
Afda.  33,  314.     Eed.] 

2)  A.  a.  0.  s.  44.     Damit  fällt  ein  mchtiger  grund  für  diese  annähme. 

3)  Auch  Sommerraeier  s.  52  f.  hält  sie  ohne  kenntiiis  des  tatsächlichen  zu- 
standes  der  Überlieferung  für  echt. 

4)  Lachmann,  Der  Nibelunge  not,  s.  XII.  So  sind  auch  z.  b.  die  bemerkungen 
Scherers  hinfällig,  vgl.  Kl.  sehr.  I,  los;  ferner  Deutsche  stud.  I,  303  und  308. 

5)  In  genau  entsprechender  weise  hatte  Vollmers  entdeckung  die  ursprüng- 
liche einteilung  der  Kl.  in  abschnitte  zu  28  versen  (vgl.  Lachmanu,  Anmerkungen 
a.  163)  unmöglich  gemacht. 

6)  Dies  tat  auch  Z  a  r  n  c  k  e ;  vgl.  Edzardi,  Die  Klage,  s.  3. 

7)  PBB  25,  64  f. 

8)  Mit  unrecht  spricht  Eoediger  (Herrigs  Archiv  108,  159)  von  dem  'unwahr- 
scheinlichen auswege  einer  entlehnung  aus  der  rezension  C\  Die  handschriftliche 
Überlieferung  berechtigt,  die  Strophen  102  6—12  anders  zu  beurteilen  als  die  übrigen 
plusstrophen.  (So  auch  Panzer,  Zeitschr.  34,  539.)  Andererseits  bietet  der  schluss 
der  Kl.  ein  entsprechendes  gegenstück  einer  solchen  entlehnung  in  hs.  B  (vgl.  s.  57). 


STUDIEN    ÜBER   DIE    NIBELUNGENHAXDSCHKIFT    A  63 

ursprüng-liche  gewahrt.  In  Verbindung  mit  der  Überlieferung  entscheidet 
auch  der  stil  dieser  Strophen  gegen  ihre  echtheit  \ 

Da  die  weiteren  differenzen  erst  nach  str.  338  auftreten,  ist  A  an 
der  gruppe  Db*  zu  kontrollieren,  die  von  str.  2682  ab  den  text  von  B* 
bietet.  Db*  fordert  sämtliche  60  fehlstrophen  für  die  gemeinsame 
vorläge  ADb. 

Die  Verteilung  der  fehlstrophen  ist  folgende: 

In   av.  6:   11  str.  (auf  64  str,  nach  Bartsch) 

n         Ti        '   •     1'-'      7i        (    7?        93      „     ) 


8: 

1 

„     (.     47    „  )! 

9: 

8 

„     ( „     50    „  ) 

10: 

12 

.,     (  „  111    „  ) 

11: 

4 

„     (  „     44   „   ). 

Von  fünf  weiteren  vereinzelten  Strophen  entfallen  zwei  auf  die 
16.,  eine  auf  die  17.  und  zwei  auf  die  27.  aventiure. 

Während  La  eh  mann  alle  in  A  fehlenden  Strophen  dem  original 
des  XI.  absprach,  nahm  v.  d.  Hagen ^  an,  manche  Strophen  seien  'offen- 
bar nur  vergessen'  •,  'die  meisten  könnten  daher  fehlen,  wenn  dies  nicht 
in  einer  gewissen  partie  so  häufig  wäre  und  mehrere  sich  nicht  als 
merkliche  zusätze  kenntlich  machten'.  Holtzmann  hielt  sämtliche 
Strophen  für  echt  und  suchte  für  einzelne  den  nachweis  der  unent- 
behrlichkeit  zu  erbringen^;  so  gelangte  er  zu  dem  ergebnis*:  'einige 
Strophen  sind  absichtlich  übergangen,  einige  aus  versehen'.  In  der 
Sache  mit  ihm  eins,  nahm  Bartsch^  allzu  äusserlich  in  zahlreichen 
fällen  'graphische  auslassungen'  an,  entsprechend  der  auch  sonst  feststell- 
baren flüchtigkeit  des  Schreibers.  Unter  den  Verteidigern  von  A  gieng 
Seh  er  er  soweit,  dass  er  in  dem  von  ihm  berechneten  umfange  des 
urkodex  *eiue  art  äusserer  begiaubigung  des  strophenbestandes'  in  A 
sah^  Die  von  Bartsch  kaum  gestreifte  absichtlichkeit  in  den  aus- 
lassungen betonte  erst  wieder  Braune'^  mit  nachdruck  unter  abwei- 
sung  des  subjektiven  kriteriums  der  'Überflüssigkeit'.  Andererseits 
versuchte  er  für  eine  reihe  von  Strophen  den  nachweis  ihrer  unent- 
behrlichkeit.     So   hält   er   die   fehlstrophen    für   'auslassungen   von  a', 

1)  Vgl.  Zwierziua,  Zfda.  44,  67  f. 

2)  Der  Xibelungen  lied,  3.  aufl.  (Breslau  1820),  s.  XLVI. 

3)  Untersuclumgeii,  s.  G  ff. 

4)  A.  a.  0.  s.  9. 

5)  Untersuchungen,  s.  304  if. 

6)  Wiener  sitzungsber.,  pliil.-hist.  kl.,  1870,  bd.  64,  306. 

7)  A.  a.  0.  s.  79  ff. 


64  couvES 

der  durch  planmässige  tätig-keit  eines  bearbeiters  entstandenen  vorläge 
von  A,  'soweit  nicht  einige  davon  etwa  erst  versehentliche  auslassungen 
von  hs.  A  sind'  K  Da  die  lesartendifferenzen  von  A  gegenüber  B* 
'durch  das  ganze  gedieht  hindurch  ungefähr  die  gleichen  sind'  ^,  da 
sich  also  in  dem  abschnitte  zwischen  der  6.  und  der  11.  avent.  kein 
anderes  Verhältnis  der  lesartendifferenzen  entdecken  lasse  als  in  den 
übrigen  teilen  des  gedichts,  sei  eine  mechanische  mischung  eines 
kürzeren  und  eines  längeren  textes,  wie  sie  Hofmanu'^  und  Rauten- 
berg* annahmen,  abzuweisen. 

Während  Zwierzina^  ursprünglich  in  A  'eine  klasse'  sah,  'die 
B*  gegenüber  vor  allem  im  Strophenbestand  das  ursprünglichere  be- 
wahrt hat',  erkennt  er  unter  dem  eindruck  von  Braunes  beweisführung 
nicht  nur  die  fünf  Strophen  ausserhalb  der  partie  324-666  als  aus- 
lassungen von  A  an '',  sondern  will  auch  innerhalb  dieses  abschnittes 
den  ausfall  der  einen  oder  der  anderen  Strophe  durch  unachtsand^eit 
des  Schreibers  zugeben,  zumal  sie  'dem  Zusammenhang  der  erzählung 
nach  als  zusätze  nur  schwer  ihre  erklärung  linden'.  Dass  A  mit  ab- 
sieht einzelne  auslassungen  begangen  habe,  hält  er  nicht  für  wahr- 
scheinlich ^  Gegen  6285,  392  b  und  53  le  bleiben  stilkritische  bedenken 
bestehen,  zumal  die  möglichkeit  "*  vorliegt,  dass  Db  aus  einer  B-hs. 
Strophen  aufgenommen  haben,  A  jedoch  'innerhalb  der  gruppe  ADb 
von  dieser  zutat  frei  geblieben  sein'  kann. 

Eine  ähnliche  vermittelnde  Stellung  nehmen  auch  Roediger 
und  Panzer  ein.  Ersterer  ist  der  ansieht,  Braune  habe  A  'nament- 
lich in  bezug  auf  den  Strophenbestand'  unterschätzt^.  Nicht  alle 
plusstrophen  von  B  seien  in  A  absichtlich  ausgelassen'";  zur  stütze 
der  auffassung,  dass  der  Strophenbestand  in  A  'ursprünglicher'  sei, 
wird  'nachdrücklich'  auf  Zwierzinas  an  die  reime  anknüpfende  er- 
örterungen  hingewiesen  ^^ 

1)  A.  a.  0.  s.  75. 

2)  A.  a.  0.  s.  76  f. 

3)  Münchener  sitzungsber.  1870,  s.  527  f.  Münchener  abhandl.,  phil.-philol. 
kl,  1872,  bd.  Xm,  1.  abt.,  s.  3  ff. 

4)  Germ.  17,  433  ff. 

5)  Zfda.  44,  32. 

6)  Zfda.  45,  393  f. 

7)  Ebd.  s.  394. 

8)  Ebd.  s.  394  f. 

9)  Jahresbericht  22  (1900),  s.  89. 

10)  Herrigs  Archiv  108,  159. 

11)  Ergebnisse  und  fortschritte  s.  594. 


STUDIEN    ÜBER   DIE    NIBELUXGENHAXDSCHKIFT   A  65 

Panzer  1  vermag  dem  Standpunkte  Zwierzinas  'eine  gewisse 
prinzipielle  berechtigung'  nicht  abzusprechen.  'Die  anstösse  sind  min- 
destens an  zwei  stellen  (531 7,  3925-6)  sehr  bedeutend.'  Überhaupt 
sei  'in  noch  ausgedehnterem  masse,  als  Braune  angenommen  hatte, 
mit  der  entlehnung  einzelner  Strophen  aus  einer  anderen  handschrift 
als  der  jeweiligen  vorläge  zu  rechnen'. 

Jegliches  kompromiss  verwirft  Kettner-';  er  bestreitet  die  echt- 
heit  aller  sogenannten  'plusstrophen'.  'Ob  die  eine  oder  andere  zum 
original  gehören  und  von  A  übersprungen  sein  mag,  kommt  nicht  in 
betracht'^.  Insbesondere  bemüht  er  sich,  die  unursprünglichkeit  der 
von  Braune  aus  dem  Zusammenhang  als  notwendig  erwiesenen  Strophen 
darzutun,  doch  scheinen  mir  seine  gründe  gegenüber  letzterem  in 
keinem  falle  durchzuschlagen  ^. 

Mit  Braune  ist  die  annähme  einer  mechanischen  nüschung  des 
textes  in  A  abzulehnen.  Andererseits  weist  nicht  nur  die  Verteilung 
der  fehlstrophen,  sondern  auch  die  tatsache,  dass  gelegentlich  vor  und 
nach  ihnen  durch  den  neuen  Zusammenhang  erforderlich  gewordene 
textänderungen  vorgenommen  sind^,  gebieterisch  darauf  hin,  dass 
diese  Strophen  zum  teil  mit  Überlegung  ausgeschieden 
sind.  Die  frühere,  z.  b.  von  Bartsch  vertretene  meinung,  dass  ihr 
fehlen  auf  flüchtigkeit  des  Schreibers  zurückzuführen  sei,  ist  offen- 
bar lediglich  aus  seiner  sonst  oft  erkennbaren  nachlässigkeit  ge- 
folgert; aus  ihr  werden  nun  auch  die  meisten  Strophendifferenzen 
erklärt.  Dem  widerspricht  ausser  den  oben  angeführten  tatsachen 
der  besondere,  nur  auf  planmässige  änderung  zurückführbare  Charakter 
zahlreicher  lesarten,  deren  Zusammenhang  mit  den  ditferenzen  im 
strophenbestande  nachdrücklich  zu  betonen  ist  (vgl.  unten  s.  68  ff".). 
Daher  suchte  Braune  ein  überlegtes  vorgehen  in  den  strophenauslas- 
sungen  wahrscheinlich  zu  machen,  glaubte  aber  dies  dem  sonst  so 
nachlässigen  Schreiber  ebensowenig  zutrauen  zu  dürfen  als  die  zahl- 
reichen Varianten  von  ausgeprägtem  charakter  und  kam  so  zur  auf- 
stellung  eines  bearbeiters  a.     Für  die  Kl.  hat  allerdings  Ursinus "  die 

1)  Zeitschr.  34,  539. 

2)  Zeitschr.  34,  323—39. 

3)  A.  a.  0.  s.  323. 

4)  Ablehnend  verhält  sich  gegenüber  dieser  schon  in  den  älteren  arbeiten 
Kettuers  (Zeitschr.  20,  202  ff.,  26,  433  ff.)  vertretenen  einseitigen  bevorzuguug  von  A 
Koediger  (Ergebnisse  und  fortschritte  s.  594):  Kettner  -überschätzt  A  und  ver- 
wirft mit  unrecht  alle  plusstrophen  von  B'. 

5)  Braune  a.  a.  0.  s.  79. 

6)  A.  a.  0.  s.  39;  vgl.  Zeitschr.  41,  279. 

ZEITSCIIKIFT   F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  5 


66  «oiivEs 

unnötigkeit  dieser  aiifstellung  behauptet.  Die  tatsächliche  existenz 
einer  von  ADb  abweichenden  vorlag-e  yJ  wird  aber  sichergestellt 
durch  eine  anzahl  von  Varianten,  die  noch  altmodische,  den  Schreibern 
von  A  nicht  mehr  geläufige  orthographische  eigentümlichkeiten  aufweisen. 
Man  vergleiche  z.  b.  37O4  schüne  (=  schcene)  vromven  st.  hdhgemuote 
V)-.-;  6864  ez  seiet  von  clannen  manic  degen  st.  daz  wolde  Günther  der 
degen^;  9603  Sigmunt  der  rike  st.  Mrre^.  Zweifelhaft  bleibt  dagegen, 
ob  das  fehlen  der  Umlautsbezeichnung  in  folgenden  fällen  über  die 
hs.  A  hinausreicht:  vgl.  3844  des  kuonen  (st,  starken)  SuTzdes  lotp ; 
3344  in  grozen  noten  (st.  sorgen)]  463,  Albrich  ivas  kuone  (st.  vil  grimme). 
Nicht  nur  der  orthographische  habitus,  sondern  vielleicht  auch  das  ähn- 
liche gepräge  einzelner  Varianten  bei  beiden  Schreibern  (vgl.  s.  95  zu  1681 4 
und  1901 1,  S.95  zu  1922  4)  weisen  auf  ein  älteres  Stadium  der  textgeschichte, 
eine  vorläge  a,  zurück.  Diese  halte  ich  jedoch  nicht  für  eine  wesentlich 
mit  A  gleichlautende  Überarbeitung  der  hs.  ADb,  sondern  ich  glaube, 
zwischen  a  und  ADb  keine  wesentlichen  differenzen  ansetzen  zu  dürfen. 

Denn  das  f  ü  r  d  i  e  p  a  r  t  i  e  n  der  beiden  h  a  u  p  t  h  ä  n  d  e  v  ö  1 1  i  g 
verschiedene  Verhältnis  von  A  zu  den  hss.  der  gruppe  ADb  (und 
ferner  auch  zu  allen  übrigen  hss.)''  spricht  nicht  für  die  annähme  eines 
redaktors  y.  -  man  müsste  sonst  eine  ungleichmässige  bearbeitung  an- 
nehmen -,  sondern  erklärt  sich  am  einfachsten  aus  der  abweichenden 
Stellung  zweier  verschiedener  Individualitäten  zu  ihrer  vorläge : 
der  text  A  ist  im  wesentlichen  nicht  älter  als  die  hs.  A;  erst  aus 
der  einschneidenden,  in  Strophenausscheidungen  und  textumgestaltungen 
erfassbaren,  planmässigen  arbeit  des  ersten  Schreibers  stammt  der 
text  A  mit  seinen  charakteristischen  besonderheiten  gegenüber  sämt- 
lichen übrigen  hss.  Ein  wesentlich  anderes  bild  zeigt  er  in  der  von 
der  zweiten  band  herrührenden  Schlusspartie  des  XI.  und  dem  texte 
der  Kl.:  dieser  Schreiber  steht  seiner  vorläge  keineswegs 
so  selbständig  gegenüber  wie  der  erste. 

Wenn  in  A  eine  planmässige  bearbeitung  eines  älteren  textes 
A'orliegt,  so  muss  es  gelingen,  einige  der  für  die  tätigkeit  des  redak- 
tors richtunggebenden  tendenzen  blosszulegen.    Ich  behandle  zunächst 

1)  Hiernach  ist  Zeitschr.  41,  27«  zu  berichtigen. 

2)  Vgl.  Zeitschr.  41,  291. 

3)  Vgl.  Zeitschr.  41,  3i4. 

4)  Vgl.  Zeitschr.  41,  310. 

5)  Dies  abweichende  verhalten  tritt  gieichmässig  in  den  Veränderungen  des 
Strophenbestandes  und  in  der  Verteilung  der  erheblichen  Varianten  heraus.  Über 
die  Stellung  der  Schreiber  zur  vorläge  vgl.  s.  75  ff. 


STUUrEX    lliKU    IHK    XinELUNGENHANDSCIlKlFT   A  67 

den  zusammenhaug-  zwischen  der  Verteilung-  der  fehlstrophen  und  der 
der  Varianten,  abgesehen  von  denen  rein  sprachlichen  Charakters ;  ferner 
versuche  ich  nachzuweisen,  dass  das  fehlen  einer  reihe  von  Strophen  auf 
dieselben  gründe  zurückgeht,  die  auch  für  die  Umgestaltung  vieler  lesarten 
massgebend  waren.  Danach  beruhen  die  Strophendifferenzen  zum  grossen 
teil  auf  bewusster  tätigkeit  eines  der  Überlieferung  gegen- 
über allmählich  selbständig  werdenden  bearbeiters;  nur  wenige 
Strophen  dürften  daneben  durch  seine  Unachtsamkeit  übergangen  sein. 

1.  Die  av.  1-3  (nach  A  137  str.)  bieten  verhältnismässig  wenige, 
bedeutungslose  Varianten.  Aus  av.  4  sind  als  stärkere  abweichungen 
etwa  die  Umstellung  der  zweiten  halbzeilen  in  146 1_2  und  die  einen 
formelhaften  ausdruck  durch  einen  individualisierenden  ersetzende  ^ 
lesart  1434  zn  notieren.  Im  übrigen  handelt  es  sich  fast  ausschliess- 
lich um  differenzen  in  einzelnen  Wörtern  beziehungsweise  um  kleine 
auslassungen ;  etwas  stärker  geändert  sind  227  4  und  2454;  durch  eiu- 
f  ügung  des  höfischen  Arrz-ew  ^  wird  die  langzeile  2044  metrisch  zerstört. 
Die  durch  A  I  bezeugten  Varianten  reichen  zum  teil  ^vahrscheinlich  in 
ein  älteres  Stadium  der  textgeschichte  zurück. 

2.  Nachdem  der  anfangs  nur  in  geringem  umfange  ändernde 
Schreiber  sich  in  der  4.  av.  schon  etwas  erheblichere  eingriffe  erlaubt 
liat,  nimmt  er  in  der  durch  ihren  Inhalt  dazu  besonders  herausfordern- 
den 5.  av.  eine  tief  eingreifende  Umarbeitung-  in  höfisch  minniglichem 
Stile  vor^:  in  den  60  Strophen  häufen  sich  die  Varianten,  darunter 
qualitativ  sehr  bedeutende;  auch  der  reim  wird  angetastet  (292 i-o). 
Der  Strophen  bestand  bleibt  jedoch  noch  gewahrt. 

3.  Die  freiheit  der  bearbeitung  setzt  sich  fort  in  den  lesarten 
der  6.  av.;  zugleich  fallen  11  von  den  64  Strophen  dem  bestreben  des 
bearbeiters,  die  komposition  straffer  zu  gestalten,  zum  opfer-,  obwohl 
er  keineswegs  ohne  geschick  verfährt,  hat  er  sich  doch  nach  Braunes 
nachweis  bezüglich  3385_i2^  und  3485-20''  vergriffen. 

1)  Vgl.  Braune  a.  a.  0.  s.  112  ff. 

2)  Vgl.  Bartsch,  Nib.  not,  II  2,  XXI  f. ;  Braune  s.  107. 

3)  Den  von  Bartsch  festgestellten  höfischen  charakter  der  in  A  vor- 
liegenden Überarbeitung  des  Nl.  erkennt  nicht  nur  Braune  (s.  106  ff.),  sondern  auch 
Eoediger  (Herrigs  Archiv  108,  159)  au. 

4)  A.  a.  0.  s.  81;  dagegen  Kettner  s.  325  f.  In  3389-12  mochte  der  höfische 
bearbeiter  austoss  nehmen  an  3389  wir  suln  in  recken  tvise  varn;  mau  ver- 
gleiche zu  diesem  zuge  Roth.  560  in  recke  vis  ovcr  mere  varn.  Die  Streichung 
von  3385-8  mag  der  von  Kettner  (Zeitschr.  26,435  und  34,  32B  f.)  berührte  Wider- 
spruch zwischen  3385—7  und  3394  veranlasst  haben. 

5)  S.  81  f.;  dagegen  Kettner  s.  326. 

5* 


68  CORVES 

4.  In  der  7.  av.  streicht  er  19  von  93  Strophen,  also  mehr  als 
ein  volles  fünftel.  Von  seinem  durchaus  absichtsvollen  vorgehen  zeugt 
der  zwischen  kürzungen  und  textänderungen  bestehende  Zusammen- 
hang. So  wird  die  dem  höfischen  geschmack  anstössige  dienerrolle 
des  k  ö  n  i  g  s  s  0  h  n  e  s  Siegfried,  deren  völlige  beseitigung  die  spätere 
bedeutung  dieses  zuges  verbot,  planmässig  abgeschwächt^:  ausge- 
schieden wird  zunächst  str.  376 5_8,  in  der  Siegfried  sein  auftreten 
als  Günthers  mann  motiviert  und  dadurch  die  aufmerksamkeit  beson- 
ders auf  diesen  zug  hinlenkt.  Die  details  des  dienens  (str.  383  5 -le) 
werden  konsequent  beseitigt.  Durch  die  weitere  Streichung  von 
3945_2o  wird  nicht  nur  erreicht,  dass  Siegfried  besonders  hervortritt, 
sondern  zugleich  auch  eine  konzentration  der  handlang  herbeigeführt. 
Völlig  entsprechend  zeigt  sich  in  den  lesarten  eine  durchgängige  ab- 
schwächung  des  angeblichen  dienstverhältnisses.  Das  399  4  unentbehr- 
liche mm  herre  wird  400  4  durch  ein  farbloses  er  ersetzt.  Noch  cha- 
rakteristischer sind  folgende  änderungen:  401 3  durch  dich  mit  im  ick 
her  gevarn  hau  »t.  ja  gebot  mir  her  ze  varne  der  recke  wol  getdn^ 
und  401 4  ivcerer  niht  min  herre,  ich  hetcz  nimmer  getan  st.  möht 
ich  es  im  gew eig ert  haben,  ich  het  iz  gerne  Verlan.  Während 
zeile  4  sehr  glücklich  geraten  ist,  ist  der  rhythmus  von  zeile  3  höchst 
ungeschickt.  Es  muss  also  keineswegs  '400.  401  in  der  fassung  A 
vom  Standpunkt  B*  aus  als  eine  sachlich  völlig  zwecklose  stilistische  Ver- 
schlechterung des  durchaus  unanstössigen  B*-textes  angesehen  werden'  ^ 
vielmehr  ist  ein  w^ohlüberlegtes  vorgehen  des  bearbeitenden  Schreibers 
in  A  erkennbar.  Dass  jedoch  hierbei  infolge  der  in  ihren  motiven 
begreiflichen  auslassung  von  str.  3835_i6  der  Zusammenhang  zerrissen 
wird,   woraus  die  unentbehrlichkeit  jener  Strophen  folgt,  hat  Braune^ 

1)  Kettner  findet  dagegen  (Zeitschr.  26,  437)  bei  dem  redaktor  B*  'eine  inelir- 
fach  liervortretende  neignng,  den  gegensatz  von  scliein  und  wirkliclikeit 
möglichst  klar  zu  machen'. 

2)  Hierdurch  wird  zugleich  das  unliöfische  cpithetou  für  den  könig  der  recke 
ivol  getan  beseitigt;  vgl.  s.  73,  aum.  1. 

3)  Kettner  a.  a.  0.  s.  326.  Zeitschr.  26,  437  erkannte  K.  selbst  dem  redaktor 
B  ein  planvolles  vorgehen  zu :  dieser  bemühte  sich,  'der  sache  einen  möglichst 
scharfen  ausdruck  zu  geben'. 

4)  S.  82  f.  Kettners  einwände  (s.  326)  bleiben  völlig  erfolglos.  Aus  der 
äusserung:  '377—81  reden  nur  Günther  und  Siegfried,  auch  382.  383  werden  die 
beiden  anderen  nicht  genannt'  scheint  hervorzugehen,  dass  K.  die  allgemeinen  Wen- 
dungen 3823  die  fremden,  383 1  die  iinkundai,  3834  die  hclde  statt  auf  alle  an- 
kömmlinge  gewaltsam  nur  auf  G.  und  S.  beziehen  will  oder  vielmehr  muss.  Denn 
das  in  der  unmittelbar  folgenden   zeile  384 1  begegnende   den   heldin,   das   klärlich 


STUDIEN    ÜBER   DIE    MBELUXGEXHAXDSCHRIl'T   A  69 

zwing-end  aufgezeigt.  Damit  ist  auch  str.  385  5-8  als  notwendig  an- 
erkannt. Abgesehen  von  Braunes  bemerkungen  ^  bestätigt  dies  die  von 
Kettner  gemachte  beobachtung  'der  8887,  le,  885  8  durchgeführten  Wieder- 
holung' ^.  Wenn  Kettner  dagegen  geltend  macht,  dass  885  s-s  den 
parallelismus  von  884.  385  und  886.  887  aufhebe,  so  ist  dies  argu- 
ment  nicht  ausreichend,  die  strophe  für  unecht  zu  erklären '^ 

Überlegung  verrät  ferner  die  nach  der  auslassung  von  428  5_8 
vorgenommene  änderung  von  429 1,  die  eine  allerdings  nur  sehr  harte 
Verbindung  herstellt  ^ ;  ebenso  ermöglichte  erst  die  änderung  von  442  4 
die  beseitigung  der  folgenden  drei  Strophen^;  wenn  Kettner" 
A  442  3_4  als  'altepische  formel'  verteidigt,  so  ist  demgegenüber  zu 
konstatieren,  dass  es  die  Wendung  leides  vergezzen  im  Nl.  nicht  gibt, 
und  dass  die  berufung  auf  Roth.  1337.  2507  deshalb  unzulässig  ist, 
weil  dort  die  beiden  bei  speise  und  trank  ihr  leid  vergessen,  nicht 
aber  bei  den  trauen  wie  in  der  fraglichen,  von  höfischem  geiste  er- 
füllten A-lesart  ^.  In  ihr  ist  überdies  443 1  mcere  hart,  w^eil  der  aus- 
gang  des  kampfes  Siegfried  noch  nicht  mitgeteilt  ist,  wie  es  nuere 
voraussetzt.  Der  inhalt  der  3  Strophen  -  der  ein  wenig  plumpe  ver- 
such, Brunhilde  zu  täuschen  -  gab  dem  bearbeiter  die  veranlassung 
zu  ihrer  Streichung ;  seinem  geschmacke  widerstrebte  auch  ein  epitlieton 
wie  der  listige  man  (442  8)  für  Siegfried  (vgl.  s.  85  zu  4344). 

In  ergänzung  von  Braunes  ausführungen  sei  hier  auf  die  un- 
entbehrlichkeit  der  fehlstrophe  392 5_8  verwiesen:  zu  dem  höfischen 
besuchszeremoniell  gehört  unumgänglich  die  offizielle  anmeldung  fremder 
gaste,  wenn  sie  auch  schon  längst  gesehen  sind ;  vgl.  die  parallelszene 
Str.  80'^  (vgl.  auch  5183  ff.). 

nur  auf  S.  und  G.  allein  gehen  kann,  muss  dem  zusammenhange  in  A  nach  identisch 
sein  mit  8884  die  Jielde,  d.  h.  es  muss  auf  alle  vier  helden  bezogen  werden.  So 
führt  Kettuers  auffassung  zu  offenharen  Widersprüchen  oder  zu  gewaltsamer  Inter- 
pretation.    Eine  solche  ist  aucli  429 1  erforderlich;  vgl.  Zeitschr.  26,  4:38  anm.  1. 

1)  S.  83f. 

2)  A.  a.  0.  s.  827.  Wenn  aber  von  einer  dieser  Strophen  erwiesen  ist,  dass 
sie  in  A  absichtlich  ausgelassen  ist,  so  sind  alle  vier  als  echt  anzuerkennen. 

3)  Bartsch,  Unters.,  s.  305  nimmt  fehlerhaftes  überspringen  der  str.  an,  weil 
3855  und  386 1  mit  Mit  beginnen. 

4)  Anders  Kettner,  Zeitschr.  26,  438  f.  Gezwungen  erscheint,  was  a.  a.  0. 
anm.  1  zur  rettung  der  ursprünglichkeit  des  Zusammenhanges  bemerkt  ist. 

6)  Braune  s.  79. 

6)  A.  a.  0.  s.  328.     leides  vergezzen  begeguet  z.  B.  Er.  6410. 

7)  Auch  37O4I1  findet  sich  die  ervvähnung  der  schcenen  froutveii  nur  in  A! 
Dem  entspriclit  auch  die  stärkere  betonung  des  fruuendienstes  in  A:  Braune  s.  108  f. 

8)  Dagegen  Kettner,  Zeitschr.  26,  435. 


70  COIIVES 

Die  berührte  tendeuz,  unliöfisclie  züge  zu  tilgen  bezw.  zu 
uiildern,  liegt  auch  der  Streichung  von  419 6_8  niid  421  b-s  zugrunde: 
ihr  fällt  die  an  feigheit  grenzende  äusserung  des  königs  Günther  ^ 
ebenso  zum  opfer  wie  die  drohung  Dankwarts.  Brunhilde  gegebenen- 
falls zu  töten  (zu  beachten  ist  auch  4216.'). 

Für  432  5_8  muss  man  die  von  Kettner  (Z.  26,  435  f.)  dargelegten 
Widersprüche  anerkennen;  dennoch  ist  es  an  sich  unwahrscheinlicher, 
dass  ein  zudichter  die  Widersprüche  in  den  text  gebracht  haben  soll, 
als  dass  ein  bearbeiter,  der  auch  sonst  an  Widersprüchen  anstoss  nahm 
(vgl.  s.  67  anm.  4),  hier  ebenfalls  besserte.  Die  echt  s  p  i  e  1  m  ä  n  n  i  s  c  h  e 
Übertreibung,  dass  das  stumpfe  ende  des  gers  den  schild  durch- 
schlagen und  teuer  aus  den  ringen  habe  stieben  lassen,  lag  dem 
dichter  des  Originals  deswegen  nahe,  weil  das  sprühen  der  funken 
ein  durchaus  stereotyper  zug  der  kampfschilderungen  ist:  sie  stieben 
vom  Schilde  (430  4,  1552  3),  von  den  ringen  (4312,  433 1,  1980 1,  2215 1), 
von  der  brünne  20093  usw. 

Neben  den  eiugriifen  in  den  Strophenbestand  legen  auch  erheb- 
liche Varianten  in  grosser  zahl  zeugnis  ab  für  die  umgestaltende  tätig- 
keit  des  bearbeiters. 

5.  Ein  stark  abweichendes  bild  bietet  die  8.  av.  Stärkere  les- 
artendifterenzen  treten  nur  470  4,  485  4  und  etwa  4884  heraus.  Hötische 
retouche  zeigen  4784  und  493].  Für  die  änderung  von  494  4  bot  das 
reimwort  s/nt  wahrscheinlich  den  anlass  (vgl.  unten  s.  85  f.).  Der 
(auch  angesichts  des  geringen  umfangs  der  av.  [47  str.])  wenig  ein- 
greifenden änderung  des  Wortlauts  entspricht  das  festhalten  am  strophen- 
bestande;  nur  486  5_8  wurde  gestrichen,  aus  demselben  gründe  Avie 
Str.  882  5_8:  beide  male  beseitigte  der  Schreiber  den  für  ihn  geschmack- 
losen, aber  echt  spielm an ni sehen  witz;  so  nahm  er  auch  an  dem 
'grimmen  humor'^  Hagens  497 5 _8  anstoss. 

6.  Diese  fehlstrophe  fällt  schon  in  die  9.  av.,  die  von  50  auf  42 
Strophen  reduziert  ist.  Dass,  abgesehen  von  dem  erwähnten  zuge, 
Str.  497  5_ 8  auch  sonst  anstössig  war,  beweist  die  Streichung  von  str. 
499  5_8.  In  beiden  fällen  lässt  der  redaktor  die  unhöfische  und  schein- 
bar zwecklose  Weigerung  Hagens  beziehungsweise  Siegfrieds  aus' 
(beachte  49981,!);  zugleich  erzielt   er  hierdurch  einen  schnelleren  fort- 

1)  So  scheint  mir  auch  15302  durch  die  auslassuug  der  worte  vor  leide  eine 
abschwächung  des  uuritterlichen  crschreckens  beabsichtigt  zu  sein. 

2)  Braune  s.  80,  anm.  1. 

3)  Damit  ist  Kettners  frage  (Zeitschr.  26,  438)  beantwortet,  weshalb  A  nicht 
str.  4995—8  habe  stehen  lassen,  obwohl  die  Strophe  Siegfrieds  Unabhängigkeit  bezeuge. 


STUDIEN    ÜBER    DIE   NIBELUXGEXHAXDSCHKIFT   A  71 

schritt  der  handliing.  Dennoch  führte  der  ausfall  von  str.  499  5_8 
zu  einer  härte:  das  folgende  er  sprach  500 1  ist  wegen  499  0  störend 
und  übertiüssig-;  verständlicher  ist  es,  wenn  Günthers  rede  durch  Sieg- 
frieds anfängliche  Weigerung  unterbrochen  worden  ist.  (Doch  vgl. 
601 5  und  602 1).  Die  Streichung  der  übrigen  6  Strophen  zeugt  von 
einer  geschickten  band.  Die  Varianten  sind  kaum  zahlreicher  als  in 
der  8.  av. :  von  geringeren  lesarten  abgesehen,  begegnen  immerhin 
einige  energische  Umstellungen  (503.2,  519 1_2)  beziehungsweise  ände- 
rungen  (502 1,  504.2,  522  4,  526.,  533  2). 

7.  In  der  10.  av.  fehlen  12  von  111  Strophen.  Als  abschwächung 
anstössiger  stellen^  ist  die  auslassung  von  582 5_8,  585 5_8,  628 5_8 
aufzufassen:  durchweg  werden  hier  die  details  des  nächtlichen 
kampfes  bezw.  des  beilagers  Günthers  gekürzt.  Auch  die  Günthers 
Sinnlichkeit  betonende  str.  607 5_s  fiel  fort'''.  Die  ausscheidung  von 
Str.  589  5_8  schränkte  die  details  der  fatalen  läge  des  königs  Günther 
ein  und  verringerte  ihre  dauer  zugleich  auf  eine  kurze  zeit^;  die  not- 
wendigkeit  dieser  Strophe  und  die  von  582  5_8  scheint  mir  jedoch  durch 
Braune*  hinlänglich  erwiesen  zu  sein. 

Die  auslassung  von  601 5 _8  veranlasste  eine  otfensichtliche  härte: 
602 1  er  sprach  m  u  s  s  man  nach  dem  zusammenhange  in  A  durchaus 
auf  Günther  beziehen;  erst  nachträglich  sieht  man,  dass  Siegfried 
spricht  (vgl.  oben  s.  68,  anm.  4).  Wenn  man  Kettner  glauben  darf, 
so  hat  erst  diese  härte  'die  interpolation  der  aus  völlig  leerem  gerede 
bestehenden  Strophe  veranlasst'!  'Ahnlich  noch  438/;  '<iw.n\\  er  sprach 
in  429 1  hat  diese  merkwürdige  Wirkung  gehabt''. 

Bezüglich  der  übrigen  7  Strophen  ist  durchaus  das  bei  ihrer 
Streichung  bewiesene  geschick  anzuerkennen.  Nach  beseitigung  von 
607  5_8  wurde  der  anfang  von  608  geändert,  wobei  das  allein  in  A 
vorkommende  verbum  beiten ''  in  den  text  drang.  Von  den  wenig 
zahlreichen  lesarten  der  ersten  25  Strophen  ist  nur  bemerkenswert  die 
ersetzung  des  dem  Schreiber  unverständlichen  reimwortes  kradew  558  1 


1)  Dass  diese  tendenz  auch  die  gestaltung  der  lesarten  beeinfliisst  liat,  zeigt 
Braune  s.  109. 

2)  Bartsch,  Unters.,  s.  304  nahm  hier  rein  graijhischen  ausfall  an:  'beide 
Strophen  fangen  mit  der  künec  an';  doch  ist  dies  in  608 1  erst  von  A  des  Zu- 
sammenhanges wegen  eingesetzt. 

3)  Vgl.  Braunes  berechtigte  bedenken  s.  86 ;  dagegen  Kettner  s.  327  f. 

4)  Braune  s.  85  f.;  dagegen  Kettner  s.  327. 

5)  Zeitschr.  26,  439,  anm.  1. 

6)  Bartsch,  Nib.  not  II  2,  IX. 


72  CORVES 

(:gadem)  durch  das  dem  siüne  nach  passende,  den  reim  aber  zerstörende 
schal.  (Der  zweite  Schreiber  leistet  sich  2007  2  ein  sinnloses  starcken.) 
In  den  letzten  75  Strophen  hingegen  begegnen  zahlreiche  Varianten 
von  bedeutung  (z.  b.  5684,  565  4,  568 1,  569  3,  572  4,  577  4a,  593  3-4, 
599, _2,  6144,  6174,  6204b,  6864),  charakteristisch  für  die  freiheit  der 
bearbeitung. 

8.  In  der  kurzen  11.  av.  (34  str.)  sind  geschickt  4  Strophen  aus- 
geschieden. Gleich  im  eiugange  der  av.  bietet  sich  dem  bearbeiter 
ein  anlass  zum  eingreifen :  er  beseitigt  die  im  texte  B*  vorliegende 
zwiespältige  Stellung  Siegfrieds  und  Kriemhildens  in  der  frage  der  ihr 
auf  Burgund  zustehenden  anspräche.  So  fällt  zunächst  str.  637  5_e, 
in  der  Kriemhilde  die  Siegfried  höchst  unwillkommene  absieht  aus- 
spricht, vor  der  abreise  ihre  anspräche  durchzusetzen  \  Er  verzichtet 
denn  auch  str.  640  4.5  in  Kriemhildens  namen  auf  den  ihnen  angebotenen 
teil  des  landes  trotz  ihrer  in  str.  637  7  ausgesprochenen  gegenteiligen 
absieht.  Die  Streichung  der  str.  637  5_8  verdeckt  diesen  gegensatz, 
der  nun  erheblich  abgeschwächt,  aber  dennoch  deutlich  ausgeprägt,  in 
str.  641  hervortritt.  Sie  verzichtet  hier  keineswegs  völlig  auf  ihre 
anspräche,  sondern  fordert  eine  tcilung  der  burgundischen  beiden.  — 
Die  gewandte  änderung  von  640  4  beseitig-te  die  unhöfische  wendung 
diu  liebe  tvhie"  min,  führte  aber  zum  ausfall  der  mit  str.  640 1_4  gram- 
matisch eng  verbundenen  str.  640  5 _s 

Fär  655 5_8  ist  darauf  hinzuweisen,  dass  das  bei  feierlichen  ge- 
legenheiten  äbliche  schenken  von  festkl eidern -^  durchaus  ein  fester 
bestandteil  des  Zeremoniells  ist.  Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit 
Str.  662  5_8:  der  hinweis  auf  die  sorgfältige  beaufsichtigung  und  er- 
ziehung  des  jungen  prinzen  ist  auch  sonst  geläufig  (vgl.  24 ,)  und  hier 
um  so  unentbehrlicher,  als  sein  fehlen  den  parallelismus  zu  660  4  auf- 
heben würde.  Offenbar  sind  die  Strophen  659.  660  und  662.  662 5_8 
ursprünglich  beabsichtigte  parallelschilderungen. 

An  Varianten  ist  auf  30  Strophen  nicht  viel  zu  erwarten ;  als 
etwas  stärkere  abweichungeu  sind  nur  639  3,  6482,  652  4,  6564  zu 
nennen. 

9.  In  der  12.-15.  av.  bleibt  der  Strophenbestand  intakt.     Gleich- 

1)  Ganz  anders  versteht  Kettner  (Zeitschr.  26,  436")  die  Strophe.  Für  ihre  echt- 
heit  spricht  die  tatsache,  dass  6374  und  6378  einander,  sicherlich  nicht  zufällig, 
korrespondieren;  auch  schliesst  sich  638 1  zuo  im  besser  an  6378  an. 

2)  Ebenso  wird  841 2  dies  wort  ersetzt,  wie  selbst  Kettner  zugesteht,  dazu 
von  dem  2.  Schreiber  1684i;  vgl.  Braune  s.  112  aum.;  Kettner  s.  352  zu  1684i. 

3)  Vgl.  42i,  6342,  6352,3,  1309 1  f.  und  Kettner,  Zeitschr.  16,  50 f. 


STUDIEN   ÜBER    DIE    XIBELUXGEXHAXDSCHRIFT   A  73 

zeitig-  nehmen  in  der  12.  av.  die  lesarten  an  zahl  und  insbesondere  an 
bedeutung-  ab;  erwähnenswert  sind  nur  etwa  670 4,  6824,  701  j.  Un- 
höfisches hdhlUhe  ist  689  4  durch  zierUche,  recke  als  epitheton  von 
Gere  693 1  durch  riter  ersetzt.  Auch  die  13.  av.  bietet  auf  36  Strophen 
nur  ca.  4  stärkere  Varianten;  7363.4  sind  die  reime  verändert  und 
die  hütischen  färben  stark  aufgetragen ;  daneben  ist  noch  die  moderni- 
sierung  von  7274,  ferner  7344  und  751  j  hervorzuheben.  Zu  dem  er- 
satz  von  unhöfischem  frumte  7554  durch  schuof  ist  zu  ver- 
gleichen 432  4 :  hier  ist  frumte  ersetzt  durch  i<ch6z. 

10.  Die  56  Strophen  der  14.  av.  sind  wiederum  stärker  mit  les- 
arten durchsetzt.  Ausser  der  beseitigung  einzelner  un  höfisch  er 
Wörter  {eigendin  771 4  und  781 4,  criedel  790 3  und  7984)  zeigt  sich 
816  ib  klar  das  bestreben,  un  höfische  Wendungen  abzu- 
schwächen: während  in  der  echten  lesart  ir  muget  ivol  stille  dagen 
Hagen  seinen  herrn,  den  könig  Günther,  zum  schweigen  auffordert, 
beseitigt  A  diesen  Verstoss  gegen  die  etikette  durch  die  allgemeine, 
sonst  unbeiegte  redensart:  Idt  iu  ez  wol  behagen! 

Eine  rhetorische,  keineswegs  ungeschickte  belebung  der  ausdrucks- 
w^eise  tritt  daneben  klar  zutage:  vgl.  779  4,  797  4,  800 3-4,  801 1,  965  1 : 
auch  die  Umstellung  von  9544  und  die  beseitigung  des  formelhaften 
ich  tvame  zugunsten  einer  rhetorischen  wendung  mit  vorangestelltem 
nie  rechne  ich  hierzu. 

11.  Unter  den  ziemlich  unerheblichen  Varianten  der  15.  av.  be- 
gegnet wieder  der  ersatz  un  höfisch  er  wMirter:  84l2?«"'we  ist  be- 
seitigt (vgl.  s.  72  anm.  2);  858 1  bekommt  Siegfried  das  epitheton  riter 
st.  recke  ^;  über  den  höfischen  charakter  von  832 1  rater  mhi  her 
Sigemunt  st.  tnin  vater  Sigemunt  A'gl.  unten  s.  93  (zu  beachten  ist 
auch  836 1,  935 1).  Ähnlich  w^ie  her  wird  vrouive  in  den  text  gebracht : 
948.2,  3944,  14363  und  besonders  976 4  orouwe  liep  als  stilwidrige  an- 
rede (vgl.  unten  s.  93). 

12.  In  der  16.  av.  sind  2  Strophen  ausgeschieden:  über  882 6-g 
vgl.  oben  s.  70;  auch  8865-8  dürfte  wohl  absichtlich  ausgelassen  sein 
(vgl.  886  g). 

Bemerkenswert  unter  den  zahlreichen  Varianten  ist:  8684  wunder- 

1)  So  wurde  2403  die  unhöfischc  wendung-  der  tv (etil che  recke  S'ivrit  der 
junge  man  gebessert  in  S.  der  junge  der  uKctliche  man.  Dass  S'ivrit  der  junge  stil- 
widrig ist,  betont  Braune  s.  108,  anm.  3.  (Der  plur.  inrtliche  recken  wird  547s  ge- 
duldet, vgl.  Kettner  s.  355  f.)  Der  könig  Günther  verliert  324 1  das  epitheton  recke  und 
die  völlige  abänderung  von  401 3  tilgt  das  unhöfische  beiwort  des  königs:  der  recke 
wol  getan  (das  adj.  gilt  auch  vom  manne,  vgl.  18592);  zu  vergleichen  ist  G93i. 


74  COKVES 

schoene,  weil  dies  wort  sonst  dem  NI.  fremd  ^  ist;  869  3  die  einführiing 
Siegfrieds,  der  891 4  degen  (auch  in  J)  statt  recke  lieisst;  904*  das 
epitheton  stolz  st.  edel  (s.  unten  s.  95  zu  1502  4). 

13.  Einschneidende  änderungen  erlitt  die  17.  av.  Das  fehlen 
von  999 5_8  ist  nicht  zufällig,  sondern  erklärt  sich  aus  der  absieht  des 
Schreibers,  das  spielmän  nische  dement  zurückzudrängen: 
die  erwähnung  der  fahrenden  ist  getilgt.  Charakteristisch  sind  auch 
die  Varianten  6343  A  küene  man  st.  varnde  mcui'-  und  1613 1  A  der 
seihe  sjnhnan  st.  der  edele  s'pilman  (1416 1  ist  dies  bewahrt).  39.2  i^nd 
42 1  blieb  die  erwähnung  der  fahrenden  stehen,  weil  stärkere,  von 
grösserer  freiheit  der  vorläge  gegenüber  zeugende  eingritfe  des  Schreibers 
erst  später  einsetzen.  Höfisches  her  bezw.  nun  her  wird  974 1  und 
9993  zugesetzt.     Zu  988 1  ist  die  änderung  927  4  zu  vergleichen. 

14,  Während  in  der  18.  av.  noch  einige  stärkere  Varianten  be- 
gegnen, treten  sie  in  der  19.-26.  av.  an  zahl  und  bedeutung  auffällig 
zurück.  Der  Schreiber  hat  hier,  aus  welchen  gründen  steht  dahin, 
die  Stellung  zu  seiner  vorläge  wesentlich  verändert.  In 
der  27.  av.,  der  letzten  von  seiner  band,  erscheinen  wiederum  einige 
erhebliche  lesarten  (1614 1,  1633  4,  1596  2);  ferner  sind  die  str.  1598 ö^s 
und  1614 5_s  ausgelassen;  die  fehlerhafte  Umstellung  von  1633  und 
1634  ist  wohl  veranlasst  durch  anfängliches  überspringen  von  1633 
(infolge  des  gleichen  anfangs  von  1634) ;  dann  bemerkte  der  Schreiber 
das  versehen  und  trug  die  ausgelassene  strophe  nach  ^. 


Die  Übersicht  über  die  Verteilung  der  lesarten  und  die  der  fehl- 
■  Strophen  dürfte  gezeigt  haben,  dass  oft  zwischen  ihnen  ein  Zusammen- 
hang besteht;  daraus  folgt  zwingend,  dass  einzelne  partien  des  liedes 
eine  energische,  wohlüberlegte,  keineswegs  stümpe  rhafte 
be arbeitung  erfiihren  habend  die  den  für  uns  erfiissbaren  motiven 
nach  einerseits  das  s  p  i  e  1  m  ä  n  n  i  s  c  h  e  e  1  e  m  e  n  t  z  u  r  ü  c  k  d  r  ä  n  g  t , 
andererseits  das  h  (j  f i  s  c  h  e  dement  entschieden  b  e  v  0  r- 
zugt  und  sich  so  als  von  einem  entwickelteren  geschmacke  einge- 
geben erweist. 

1)  Vgl.  Braune  s.  108,  anra.  2. 

2)  Anders  Kettner,  Zeitschr.  26,  446  f.  und  Üsterr.  Nibel.  s.  139. 

3)  Bartsch,  Unters.,  s.  75. 

4)  Vgl.  die  beraerkung-  Braunes  (s.  115),  dass  die  von  zahlreichen  lesarten 
durchsetzte  partie  str.  292—470  'sich  wenigstens  zum  teil  deckt  mit  derjenigen,  in 
der  a  auch  so  viele  Strophen  seiner  vorläge  ausgeschieden  hat'. 


STUDIEN    UBEK   DIE    XIBELUXGEXHAXDSCHÜU  T   A  75 

Wenn  Kettner  ^  in  dem  gelegentlich  hervorbrechenden  witz  (vgl. 
4]95_f,  486  5_8,  882  5_e)  ein  spielmännisches  dement  erblickt  und 
ähnliches  607  5_8,  6285-8  und  in  der  originalen  lesart  von  599  0  fest- 
stellt, so  ist  dies  gewiss  zutreffend;  wenn  er  jedoch-  behauptet,  der 
spielmännische  einfluss  sei  nur  in  den  'plusstrophen'  nachweisbar,  so 
verkennt  er  die  originale  kunstform  des  Nl.,  die,  auf  stilmisch ung 
beruhend,  eine  Veredelung  des  stils  der  spielmannspoesie  durch  den 
der  höfischen  poesie  darstellt. 

Unter  den  für  den  bearbeiter  charakteristischen  stilclementen 
wurde  die  rhetorische  färb  ung  des  ausdruckst  schon  hervor- 
gehoben (s.  73,  Vgl.  auch  s.  85  zu  4344).  Eine  w^eitere  stilistische 
manier  ist  bezeugt  durch  folgende  A-lesarten,  die  sämtlich  ein  ähn- 
liches gepräge  tragen:  485  4  ez  ivas  ir  swcere  unde  leif  {st.  ez  tvas  ir 
wccrUche  leit),  820  4  grözer  iämer  unde  leit  (st.  diu  edler  grcezesten  leit), 
845  4  des  hCm  ich  sorge  unde  leit  (st.  des  ist  mir  sorgen  eil  bereit), 
15944  si  imren  hübsch  unde  dar  (st.  daz  ist  an  den  triinven  imr)'^ 
ferner  401 1  ein  künec  rieh  unde  her  (st.  und  ist  ein  k.  her),  568 1  i-'on 
liebe  und  ouch  von  vrönden  (st.  von  lieber  ougen  blicke).  Wertvoll  sind 
auch  Braunes  beobachtungen  s.  112  ff.  Von  geschickter  stilistischer 
retusche  zeugt  nicht  nur  die  Verwendung  kleinerer  nüancen  (vgl.  981 1 
wie  vil  da  glokenklanc,  841 4  diu  vil  bezzer  ivceren  Verlan,  591 4  sdlea 
st.  nimmer),  sondern  auch  die  nicht  seltene  beseitig  ung  des  ein- 
förmigen do  im  strophenanfange :  vgl.  347  1,  508 1,  555  1,  879  1,  883,, 
950 1,  968 1,  972 1,  1574 1;  nu  st.  dö  343  1,  735  r,  doch  st.  ci^6)495i;  dar 
st.  da  530 1  (durch  Umstellung).  Im  stropheninnern  sind  beispiele  für 
ersparung  des  dö  viel  häufiger. 

2.  Die  Schreiber  und  die  lesarteu. 

a)  Die  Stellung  der  Schreiber  zum  t  e  x  t  der  vorläge. 

Für  jeden  der  6  Schreiber  ist  das  Verhältnis  zur  vorläge  an- 
näherungsweise feststellbar  aus  der  zahl  und  l)edeutung  der  Varianten 
gegenüber  Db  +  B  (als  repräsentant  der  ADb-lesart)  •,  wo  der  textzeuge 
Db  versagt,  ist  auf  B  allein  zurückzugreifen  (nur  für  str.  89). 

In  den  partien  des  dritten  bis  sechsten  Schreibers,  die 
im  zusammenhange  vorab  behandelt  werden,  sind  die  differenzen  ge- 
ringfügig. 

1)  Zeitschr.  26,  448. 
2 1  A.  a.  0.  s.  444  ff. 

3)  Über  die  vergrösserung  von  zahlangabeu  (474 1,  70441  vgl.  Bartsch,  Unters., 
s.  191,  anm.  2. 


76  CORVES 

1.  Für  den  dritten  Schreiber  fehlt  die  kontrolle  durch  Db; 
gegen  B  weist  die  von  ihm  geschriebene  Strophe  nur  folgende  ab- 
weichungen  auf:  89  3  A  als  mir  ist  geseit  (B  daz  ist  mir  wol  yeseit). 
Nach  Kettner  '  hätte  A  hier  die  originale  lesart,  jedenfalls  darf  man 
sie  schon  ADb  mit  Wahrscheinlichkeit  zurechnen;  894  vil  vremde  {eil 
fehlt  in  B). 

2.  Schreiber  4:  16652  waz  (B:  wes,  abhängig  von  wägen, 
also  rein  sprachlich);  1665  3  her  fehlt  ADb;  16654  manich  ADb,  menigiii 
B;  1666  2  nü  fehlt  AD. 

3.  Schreiber  5:  1768 2  ich  fehlt;  1768 3  hemt  der  schilfwach 
st.  der  schiltwahte  h/nte. 

4.  Schreiber  6:  dem  (st.  den)  tischen. 

Abgesehen  von  Schreibfehlern  (dazu  gehört  auch  das  fehlen  von 
ich  17682)  und  der  Umstellung  1768 3  sind  diese  lesarten  älter  als 
die  hs.  A,  also  schon  in  der  vorläge  vorhanden  gewesen,  die  diese 
bände  ziemlich  treu  kopierten. 

Ein  weit  klareres  bild  lässt  sich  von  der  tätigkeit  der  beiden 
haupthäude  gewinnen.  Der  umfang  der  betreffenden  partien  beträgt 
1658 '/■)  bezw.  652  V4  Strophen  +  text  der  Kl.;  für  das  Nl.  ist  also 
das  umfangsverhältnis  etwa  2\/-2  :  1.  Dass  für  die  Stellung  jeder  hs. 
neben  dem  strophenbestande  vorwiegend  die  lesarten  in  anschlag 
zu  bringen  sind,  betonte  schon  Lachmann'"^  und  noch  nachdrücklicher 
Zacher^.  Auch  Braune^  erkannte  im  verlaufe  seiner  Untersuchungen 
das  Zeugnis  der  lesarten  als  für  die  handschriftenfiliation 
allein  entscheidend.  Der  nachweis  der  unursprünglichkeit  von  A 
in  diesem  punkte,  den  zuerst  Holtzmann  in  seinen  Untersuchungen 
.unternahm,  wäre  nach  Zarnckc^  überzeugender  geworden  durch  eine 
derartige  gruppierung  der  lesarten,  'dass  aus  ihnen  sogleich  die  art 
und  weise  deutlich  geworden  wäre,  wie  die  Schreiber  von  A  (ob  beide 
gleich  schuldig  waren,  darauf  geht  der  Verfasser  nicht  ein,  so  nahe 
die  frage  liegen  musste)  verfuhren'.  Die  von  Zarncke  geforderte  Zu- 
sammenstellung  der  Varianten  gab  z.  b.  Bartsch**;    unbeachtet  blieb 

1)  A.  a.  0.  s.  338. 

2)  Kl.  sehr.  I.  216. 

3)  Briefe  über  neuere  erscheiuungen  auf  dem  gebiete  der  deutschen  phil.  = 
Neue  Jahrb.  f.  phil.  u.  pädag-ogik  78,  232. 

4)  A.a.O.  s.  3.  Vgl.  dazu  Roediger  (Ergebnisse  und  fortschritte,  s.  594): 
'Braune  hält  sich,  wie  notwendig,  vor  allem  an  die  lesarten.'  Ferner  Panzer, 
Zeitschr.  34,  530. 

5)  Literar.  zentralblatt  1854,  sp.  116. 

6)  Nib.  not  II  2,  einieitung. 


STUDIEN   ÜBER   DIE   XIBELUXGENHAND.SCHRirr   A  77 

jedoch  die  anregung  Zarnckei?,  die  Stellung-  der  beiden  Schreiber- 
individiialitäten  zu  ihrer  vorläge  zum  gegenständ  der 
Untersuchung  zu  machen.  Dass  sich  erst  aus  der  Scheidung 
beider  autoren  bezüglich  ihres  anteils  an  den  textabweichungen  ein 
anschauliches  bild  von  ihrer  individualität  gewinnen  lässt,  zeigt  die 
nachfolgende  Statistik  der  von  Bartsch  gesammelten  belege. 

Charakteristisch  ist  die  liste  bewusster  Umänderungen  meist  ganzer 
Zeilen,  'die  .  .  .  den  charakter  der  höfischen  lyrik  und  ejjik  des  13.  jalir- 
hunderts  an  sich  tragen'  ^  oder  statt  der  typischen  tbrmel  einen  indi- 
vidualisierenden ausdruck  bieten.  Unter  berücksichtigung  eines  aus 
Nib.  not  I,  XIX  nicht  wiederholten  beispiels  sind  es  30  fälle  ^:  davon 
entfallen  4  auf  die  partie  des  zweiten,  26  auf  die  des  ersten  Schreibers : 
im  Verhältnis  zum  umfange  würde  man  nur  ca.  10  erwarten. 

Von  den  nur  in  A  vorkommenden  Wörtern^  entstammen  6  der 
partie  des  zw^eiten,  26  (davon  vielleicht  3  Schreibfehler)  der  des  ersten 
Schreibers  (statt  ca.  15). 

Eine  dritte  kategorie  von  belegen^  erscheint  19mal  bei  11,  99mal 
bei  I.  Lehrreich  für  die  Verschiedenheit  beider  Schreiber  ist  auch  die 
Sammlung  Kettners  ^:  von  67  fällen,  an  denen  in  B  stärkerer  parallelis- 
raus  vorliegt,  A  also  vom  stilistischen  Standpunkte  aus  verdächtig  er- 
scheint, gehören  9  dem  zweiten,  58(!)  dem  ersten  Schreiber;  unter  An- 
rechnung der  4  von  Kettner  eingeklammerten  belege  sind  die  zahlen 
10  bezw.  61  (statt  ca.  25). 

Das  aus  dem  strophenbestande  gewonnene  bild  von  der  gänzlicli 
verschiedenen  arbeitsw^eise  der  beiden  Schreiber  erhält  aus  der  Verteilung 
der  lesarten  seine  ergänzung  und  bestätigung :  während  II  sich  bei  den 
änderungen  Zurückhaltung  auferlegt,  steht  I  der  vorläge  selbständig 
redigierend  gegenüber. 

b)  Zur  frage  des  stilkritcriums. 

Eine  umfassende  beurteilung  der  lesarten  vom  Standpunkte  des 
Stils  aus  hat  neuerdings  Kettner"  vorgenommen.     Kr  geht  von  dem 

1)  Bartsch  a.  a.  o.  II  2,  xix  f. 

2)  In  9044  riter  sph^i  st.  richer  spisc  sehe  icli  einen  lescfehlcr  (t  für  c,  vgl. 
Zeitschr.  41,  309  ohen). 

3)  A.  a.  0.  s.  IX  ff.  Ich  ühergeh(!  die  in  der  erstgenannten  tahelle  schon 
enthaltenen,  bei  Bartsch  hier  zum  teil  wieder  erscheinenden  fälle. 

4)  A.  a.  0.  s.  XIV  ff. 

5)  Zeitschr.  34,  355- (;2. 

6)  Zeitschr.  34,  335  ff.    Vgl.  dazu  die  ältere  arbeit  Kettners,  Zeitschr.  20,  202  ff 


78  C ORTES 

prinzip  aus:  'der  text,  der  die  meisten  und  stärksten  parallelstellen 
hat  und  innerhalb  der  g-enieinsamen  parallelstellen  die  g-rössere  ähu- 
lichkeit  zeigt,  steht  dem  original  am  nächsten'.  So  kommt  er  zu  dem 
ergebnis ',  dass  der  text  A  entweder  'den  anderen  texten  übergeordnet' 
ist,  'oder,  wenn  er  dem  texte  B*(+  Db*)  nur  nebengeordnet  ist,  so 
befindet  er  sich  doch  mit  dem  weit  überwiegenden  teil  seiner  ab- 
weichungen  in  Übereinstimmung  mit  dem  original'. 

Dies  überraschende  ergebnis  zwingt  zu  einer  genaueren  prüfung 
der  tragweite  des  Stilkriteriums  im  allgemeinen  und  der  art  seiner 
anwendung  im  besonderen.  Unzweifelhaft  geben  beobachtungen  über 
den  Stil  eines  werkes  ein  objektives  kriterium  für  die  textkritik 
ab;  insbesondere  ist  dies  für  das  Nl.  der  fall,  in  dem  die  'epische 
formel'  noch  eine  bedeutende  rolle  spielt.  Kettner  hält  sich  je- 
doch nicht  an  diesen  begriff',  sondern  an  den  umfassenderen,  aber 
jiuch  unbestimmteren  des  'p  a r  a  11  e  1  i  s  m  u  s'  ^.  Für  die  parallel- 
stellen ist  indessen  eine  grössere  Variabilität  möglich  als  für  die  for- 
mein im  engeren  sinne,  und  dementsprechend  ist  bei  ihnen  die  text- 
kritik nicht  so  sichergestellt. 

Kettner  verkennt  keineswegs  die  möglichkeit  des  sekundären 
Ursprungs  solcher  parallelstellen,  sondern  gibt  zu,  dass  auch  an  dem 
Originaltexte  vorgenommene  änderungen  den  stilcharakter  getroö'en 
haben  können,  wenn  eben  'ein  bearbeiter  eine  ihm  nicht  genehme  rede- 
form in  ermangelung  von  besserem  durch  eine  der  in  seinem  gedächtnis 
haftenden  redensarten  und  formein  ersetzte,  von  denen  manche  fast 
überall  hinpassen'  ^.  Infolgedessen  sei  zwar  nicht  jeder  parallelismus 
für  die  echtheit  der  betreffenden  lesart  unbedingt  beweisend,  'wohl 
aber  ist  das  zahl-  und  w^ortverhältnis  des  gesamten  parallelismus  be- 
weisend für  die  ursprünglichkeit  ganzer  rezensionen'  *. 

Damit  nimmt  aber  die  Unsicherheit,  die  jeder  einzelnen  lesart 
gegenüber  bestehen  bleibt,  auch  der  summe  der  lesarten  gegenüber 
keineswegs  ab  '.    Zuverlässiger  wird  das  stilkriterium  erst  in  Verbindung 


1)  A.  a.  0.  s.  362. 

2)  Nach  Kettner  (Zeitschr.  20,  202 f.)  ist  das  bestebeu  eines  formelliaften 
epischen  stils  nur  eine  der  Ursachen  des  parallelismus.  Neben  diesem  traditio- 
nellen demente  kann  ferner  die  individuelle  eigentümlicbkeit  des  dichters  oder 
drittens  die  tätigkeit  eines  'bearbeitenden  und  ergänzenden  dichters'  parallelstellen 
verursachen. 

3)  Zeitschr.  34,  336. 

4)  A.  a.  0.  s.  337. 

5)  Roediger  sagt  zutreffend  mit  bezug  auf  Kettners  ältere  arbeiten  (Zeit- 


STUDIEN   ÜBER   DIE    XrBELUXGEXHAXDSCHRIFT   A  79 

mit  den  anderweitig-  gewonnenen  einsichten  in  das  handseliriftenver- 
hältnis;  für  sich  g-enonimen  kann  es  jedoch  keine  entscheidung  über 
die  'ursprüngiichkeit  ganzer  rezensionen'  herbeiführen.  Gegenüber 
dem  Zeugnis  aller  anderen  hss.  eine  A-lesart  wegen  eines  stärkeren 
parallelismus  zu  bevorzugen,  ist  nur  möglich,  wenn  für  A  eine  Sonder- 
stellung auf  grund  des  handschriftenverhältnisses  als  schon  erwiesen 
angesehen  werden  darf. 

Wenn  ich  das  vertrauen  Kettners  auf  das  prinzip  des  parallelis- 
mus nur  in  sehr  beschränktem  masse,  d.  h.  unter  berücksichtigung  des 
anderweitig  festgelegten  handschriftenverhältnisses,  zu  teilen  vermag, 
so  erscheint  mir  sein  verfahren  im  einzelnen  nicht  minder  bedenklich. 
Das  oben  berührte  moment  der  Unsicherheit  ist  konsequenterweise  für 
beide  zeugen,  A  und  B*  (die  prinzi])ielle  berechtigung  dieser  gegen- 
überstellung  sei  einmal  zugegeben),  entweder  zu  ignorieren  oder  gleich- 
massig  geltend  zu  machen.  Kettner  nimmt  aber  einseitig  nur 
für  B*  innerhalb  des  stilcharakters  sich  bewegende  än- 
derungen  an,  setzt  also  damit  die  zu  erweisende  Sonderstellung 
von  A  als  bewiesen  voraus. 

Für  10143  1,  giht  er  zu',  dass  'eine  der  lesart  A  entsprechende 
Wendung  sich  nicht  findet',  während  die  von  BDbdJCa  gebotene 
Variante  noch  durch  die  parallelen  523  4  und  20534  gesichert  ist. 
Kettner  scheint  zwar  geneigt,  A  hier  preiszugeben-;  'aber  für  A3b 
teil  tuon  in  triiven  schhi  spricht  der  gegensatz  zu  dem  Vordersätze 
Sld  claz  uns  untriuwe  dne  hat  getun^l  Auch  10144  haben  Bd  eine 
gut  epische  formel,  also  sicher  ein  kriterium  der  echtheit  nach  Kettner, 
und  doch  konstatiert^  er,  dass  'die  Schlussformel,  für  die  Ca  und  J 
eine  andere  eingesetzt  haben,  den  eindruck  einer  willkürlichen  än- 
derung'  mache.  An  anderer  stelle  (s.  360)  heisst  es:  'doch  ist  der 
wiederholte  gebrauch  solcher  leicht  sich  einstellenden,  zur  vcrsfüllung 
besonders  geeigneter  formein  kaum  als  ein  beweis  für  Originalität  zu 
betrachten'  *.      Damit  wird  willkürlicher  anwendung  des  stilkriterinms 

scbrift  20,  202-25,  26,  433-48) :  'Kettner  baut  auf  einen  anfechtbaren  grundsatz' 
(Erg-ebnisse  n.  fortschritte,  s.  594). 

1)  A.  a.  0.  s.  360. 

2)  A.  a.  0.  s.  321. 

3)  A.  a.  0.  s.  320  f. 

4)  So  sei  auch  in  C*  die  formel  des  sulf  ir  änc  zwlvel  s/u  an  den  stellen 
1434  b  und  13924  b  nicht  original.  Die  unnrsprüniilichkeit  von  C-  folirt  hier  aber 
nicht  ans  dem  stil,  sondern  aus  der  überlieferuno'  und  d(T  arbeitsweise  des  redaktors 
C*.  Da  die  stilforni  nach  Kettner  für  Originalität  .sprechen  müsste,  zeigt  sich  die 
Unsicherheit  des  formalistischen  kriteriums,  sofern  es  für  sicli  allein  genommen  wird. 


80  CORVES 

für  und  tor  g-eöflfnet.  Wo  es  überhaupt  versagt  (wie  1014 3,,  A) 
versucht  Kettner,  z.  b.  auf  grund  eines  'g-egensatzes  zu  dem  Vorder- 
sätze' die  A-lesart  für  echt  auszugeben.  Dies  ist  um  so  weniger 
einleuchtend,  als  gerade  hier  ein  verständlicher  grund  für  die  offen- 
bar von  A  vorgenommene  änderung  in  dem  rührenden  reime 
vorliegt:  für  10143b  ist  durch  alle  hss.  ausser  A  als  echt  bezeugt: 
ich  ivil  iu  ivcege  srn.  Dazu  bieten  BdCa  10144b  den  rührenden  reim 
des  sult  ir  dne  ztvtoel  {gor  cm  angest  Ca)  sin.  ADb  beseitigte  den  me- 
trischen anstoss :  für  den  zweiten  inf.  shi  trat  das  possessivum  sin  ein 
{und  durch  des  edelen  h'ndes  sin  ADb)  ^  Während  A  dies  beibehielt, 
in  10143  b  aber  für  die  formel  ein  stilistisch  anfechtbares  ich  tuon 
iu  triu-en  schin  einführte,  begnügte  sich  Db  mit  dem  durch  ein  gleiches 
bedenken  veranlassten  ersatz  von  sin  in  zeile  4  b  durch  dhi  -.  Für 
die  form  der  änderung  10143^  A  mag  der  von  Kettner  angedeutete 
gegensatz  mitbestimmend  gewesen  sein.  Immerhin  führt  Kettner 
diesen   fall   unter   den   stellen  mit  stärkerem   parallelismus  in  ß*  auf. 

Für  292.2  B*  wird  zugegeben  (s.  339),  dass  B*  'eine  auch  sonst 
im  Nl.  begegnende  Wendung'  enthält,  die  B*  ausser  292  2  noch  5263 
und  (in  einer  'plusstrophe')  6625  gegenüber  A  bietet:  Kettner  schliesst 
hieraus  nicht  auf  die  echtheit  der  B*-lesart  2922  und  weiter  der  beiden 
parallelstellen,  sondern  es  heisst"^:  'dass  B  diese  wendung  gern  an- 
bringt, zeigt  ihr  vorkommen  an  drei  stellen,  wo  sie  A  nicht  hat,  unter 
denen    5263  der   Zusammenhang   anders   (A)   statt   tvie  rehte  (B*)  ver- 


1)  Anders  Braune  s.  48.  Doch  vermied  der  Schreiber  von  ADb  auch  14332 
den  rührenden  reim :  als  lückenbüsser  trat  hier  ein  stilwidriges  als  ich  {nü)  ge- 
sagen  kein  ein  (vgl.  Bartsch,  Unt.,  s.  179  f. ;  Braune  s.  42).  Derselbe  grund  führte 
1066  2  zu  der  schlimmbesserung  gesunder  sin  gewiesen  Ab  (selbständig  auch  a); 
D  zog  der  sprachlichen  Unmöglichkeit  die  metrische  härte  vor  und  setzte  das  echte 
gewesan  wieder  ein  (anders  Braune  s.  73).  Der  von  ADb  eingeführte  rührende 
reim  1988  3-4  beruht  sicher  auf  einem  Schreibfehler  (vgl.  Braune  s.  42).  Nicht  aus- 
geschlossen erscheint  es  dagegen,  dass  die  gruppe  ADb  759 1—2  mit  dem  rührenden 
reim  das  echte  bewahrt  (vgl.  Bartsch  s.  179 ;  Braune  s.  48). 

2)  Um  des  rührenden  reimes  willen  behilft  sich  A  327  2  mit  dem  höchst  auf- 
fälligen ein  riiter  tcol  verstau  (st.  ivol  getan)-,  Jh  ändert  in  lohesam!  (1245  3-4 
duldet  A  die  härte);  vgl.  Bartsch  s.  179.  Auch  5092  war  für  A  und  Jd  metrisch 
anstössig,  vgl.  Bartsch  s.  179,  Braune  s.  74;  bei  der  änderung  1168 1—2  wurde  der  reim 
meit : gemeit  in  den  kauf  genommen;  vgl.  Zeitschr.  41,  288  und  unten  s.  94.  A  er- 
zeugte irrtümlich  rührenden  reim  durch  dittographie  des  r e im worts  (vgl.  19883-4 
ADb;:  273i-2,  382i_2,  532i-2,  697 1-2,  14013-4  und  14983-4;  vgl.  ferner  Bartsch, 
Unters.,  s.  72f.     (Wieder  getilgt  6863-4,  II863-4.) 

3)  S.  839. 


STUDIEN   ÜBER   DIE   NIBELUNGENHANDSCHIUFT   A  81 

langt'.  Ferner  wird  die  'eigentümlichkeit'  mehrerer  stellen  betont', 
'dass  die  lesart  A  in  engerer  logischer  Verbindung  mit  der  ganzen  odei 
der  folgenden  Strophe  steht',  ...  'wo  B*  überall  formelhafte  Wendungen 
zeigt,  über  deren  wert  ich  mich  oben  ausgesprochen  habe'. 

Die  in  diesen  äusserungen  liegende  durchbrechung  des  voran- 
gestellten prinzips  schlägt  auffälligerweise  stets  zu  Ungunsten  von  R* 
aus :  verständlich  ist  dies  nur  unter  stillschweigender  annähme  der  erst 
nachzuweisenden  ansieht,  dass  B*  eine  Überarbeitung  des  A-textes  ist  ^. 

Eine  weitere  Verletzung  des  prinzips  sehe  ich  darin,  dass  Kettner 
trotz  des  von  ihm  selbst  gelieferten  ^  überzeugenden  nachwcises,  dass 
der  Stil  der  'plusstrophen'  durchaus  zu  dem  des  Originals  stimmt,  jene 
Strophen  dennoch  für  unecht  erklärt.  Der  konsequenten  anerkennung 
ihrer  echtheit  kann  er  nur  dadurch  entgehen,  dass  er  den  begriff  der 
'nachahmung'  einführt.  Wenn  das  sekundäre  entstehen  von  paral- 
lelismus  bei  geläufigen  formein  auf  'eine  momentane  eingebung  des 
gedächtnisses'  zurückgeht,  'so  sind  stellen  von  grösserem  umfang  oder 
individuellerem  ausdruck  bei  ihrer  nachahmung  wohl  meist  nachgelesen 
worden'  ^  Dies  verfahren  ist  nicht  allein  bei  dem  hinzudichten  der 
plusstrophen  in  B*  befolgt  worden  ■%  sondern  auch  der  selbständig 
arbeitende  redaktor  C*  scheute  sich  nicht  davor  ^  Zahlreiche  nach- 
ahmungen  weisen  auch  die  dJ-zusatzstrophen  auf  (Kettner  s.  323-25). 
In  keinem  dieser  fälle  kann  meines  erachtens  aus  dem  mit  dem  ori- 
ginale zusammengehenden  stile  der  plusstrophen  ein  schluss  auf  ihre 
uuechtheit  gezogen  werden.  Gegen  die  echtheit,  z.  b.  der  angeführten 
C*-plusstrophe  622  i2_i6  spricht  ausser  dem  zustande  der  Überlieferung 

1)  S.  363. 

2)  Die  zahl  der  inkonsequeiizen  lässt  sich  noch  vermehren:  zu  10382  wird 
(s.  349)  für  6  fälle  'eine  besondere  Vorliebe'  von  B  für  das  wort  sini  (adv.)  kon- 
statiert; zu  868  2  bemerkt  Kettner  (s.  357) :  'der  kreftige  man  ist  ein  häufiger  vers- 
schluss,  der  sich  bei  der  aus  metrischen  gründen  erfolgten  ändernug  in  B*  leicht 
einstellte'.  An  anderer  stelle  (s.  346)  behauptet  er  wiederum  einige  änderungeii  für 
B* :  'bei  diesen  änderungen  haben  reminiszenzen  eingewirkt,  weshalb  jede  der  beiden 
lesarten  sich  durch  parallelen  stützen  lässt'. 

Aus  einer  älteren  arbeit  Kettners  schlagen  folgende  stellen  hier  ein:  Zeit- 
schr.  20,  207  wird  ein  'textverderb  an  nicht  wenigen  stellen  von  B'  angenommen ; 
ebd.  s.  216  wird  entstehen  von  parallelismus  durch  abweiciuing  vom  original  nur 
für  B*  konstatiert. 

3)  Zeitschr.  20,  217—21  und  26,  440  ff. 

4)  S.  386. 

5)  Ihr  Verfasser  hat  nach  Kettner,  Zeitschr.  20,  219  it.  die  Lachmaiinschcn 
lieder  XVI-XVIII  'stark  ausgenutzt'. 

6)  Kettner  gibt  s.  323  eine  beweisende  probe  davon. 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE    iMII  LOL(>(;  I  K.      liD.  XLII.  6 


82  CORVES 

die  arbeitsweise  des  redaktors  C^,  die  es  wahrscheinlich  macht  ihm 
die  Strophe  zuzuschreiben.  Der  stil  allein  würde  in  der  mehrzahl 
der  fälle  für  echtheit  sprechen. 

Nachahmung-  soll  aber  nicht  ausschliesslich  in  zusatzstrophen  an- 
zutreffen sein,  doch  ist  sie  'l)ei  änderung-  des  textes  selten,  und  sie 
kommt  mehr  auf  die  zusatzstrophen''.  Immerhin  soll  ein  solcher  fall 
in  dem  folgenden  parallelismus  vorliegen: 

C  1352 3_4  .  .  .  daz  nüner  frouwen  friunde  darziio  mügen  komen'^ 

des   ivart   der  kiineginne  ir  leides  harte  eil  benomen. 

AB  1751  a_4  .  .  .  daz  ir  mir  sU  bekomen 

des  ist  der  kiineginne  vil  michel  trüren  benomen. 

Der  parallelismus  ist  hier  keineswegs  auffällig  und  beruht  wesent- 
lich auf  einer  formelhaften  wendung:  vgl.  vreude  benemen  9563,  1140  4; 
tvunne  benemen  1445.);  leit  benemen  6543,  vgl.  ferner  699  o,  1249  4. 
Auch  in  einer  plusstrophe  (519  8)  begegnet  die  durchaus  übliche  aus- 
drucksweise. Der  redaktor  C"  hat  also  keine  'nachahmung'  begangen, 
bei  der  ihm  der  text  von  AB  1751  :j_4  als  muster  vorlag,  sondern  er 
griff  geschickt  aus  dem  s])rachschatze  des  Nl.  einen  viel  gebrauchten 
ausdruck  auf  und  traf  so  den  ton  des  gedicktes. 

Der  redaktor  B'^  soll  sich  nicht  darauf  beschränkt  haben,  ent- 
fernt liegende  partien  zur  dichtung  der  plusstrophen  auszubeuten,  auch 
der  text  soll  davon  zeugen.  So  hat  nach  Kettner  z.  b.  1691 0  er  ist 
geborn  von  Tronije  zur  'Umformung'  von  400 1  Er  ist  kilnec  ze  Blne 
in  Er  ist  geborn  von  Eine  gedient ' ! 

Der  versuch  Kettners,  das  prinzip  der  nachahmung  als  das 
treibende  motiv  an  text  Varianten  nachzuweisen,  ist  völlig  unbe- 
friedigend. Ein  solches  prinzip  aber  allein  für  die  plusstrophen 
aufzustellen,  ist  unzulässig  und  in  sich  haltlos.  Es  ist  leicht  ersichtlich, 
dass  in  Kettners  Statistik  die  zahl  der  parallelstellen  von  B*  mit  67 
viel  zu  niedrig  angesetzt  worden  ist.  Andererseits  ist  die  zahl  von 
114  parallelstellen  in  A  beträchtlich  zu  reduzieren.  Zunächst  entfallen 
14  von  ihnen  auf  ADb-varianten  (als  solche  bezeugt);  hinzu  kommen 
noch  11084  AD  (b  fehlt  hier);  1445  4  AB  (Db  ändert  die  fehlerhafte 
vorläge);  16744  Ab  holden  ivillen  (D  ändert  in  giioten  willen);  792  4  Ab 

Ij  S.  336. 

2)  S.  336.  Zeitsclir.  20,  219  wurde  die  lesart  398-2  B*  iiuf  benutzimg-  von  1661 2 
zurückgeführt:  'der  interpolator  hat  also  diesen  entfernt  gelegenen  abschnitt 
(=  Lachmanns  XVI.  bis  XVIII.  lied)  nicht  bloss  für  seine  zusätze,  sondern  auch 
für  abänderuüg  des  textes  ausgebeutet'.     Zu  400 1  A  vgl.  unten  s.  89  f. 


STUDIEN    ÜliEl!    DIE    NlliELUNGENHANDSCHKIlT    A  83 

i)/?)i  fehlt  (D  setzt  inhi  lieber  zu).  Diese  18  ADb-varianten  sind  (als 
nicht  für  A  allein  charakteristisch)  abzuziehen ;  al)er  auch  unter  den 
verbleibenden  96  stellen  werden  noch  einige,  allerdings  nicht  sicher 
nachweisbare  ADb-lesarten  enthalten  sein.  Von  den  7  aus  str.  1-268 
-  hier  ist  A  einziger  Vertreter  von  ADb  -  in  betracht  kommenden 
stellen^  halte  ich  mindestens  3  für  ADb-varianten:  in  13 1  und  18 1 
sehe  ich  die  echten  lesarten ;  für  150 4  veranlasst  mich  die  ent- 
sprechende äuderung  1507.,  ADb  zu  der  annähme,  die  lesart  schon 
ADb  zuzuschreiben. 

Eine  reihe  der  von  Kettner  beigebrachten  parallelen  kommt  aber 
ferner  als  nicht  zutreffend  in  wegfall.  Ich  greife  nur  einige  beispiele 
heraus. 

253 1:  die  s.  338  angezogenen  parallelen  betreffen  (vil)  güeülche 
pflegen;  in  betracht  kommt  jedoch  nur  die  Steigerung  von  rool.  Das 
von  B*  gebotene  groezUche  ist  vor  adj.  und  adv.  in  steigernder  funktion 
durchaus  üblich:  vgl.  1044-2,  6244,  6544  AD  (wohl  hs.  ADb) ;  hingegen 
ist  güeÜtcJie  in  dieser  Verwendung  nur  hier  belegbar!  Bei  der  ab- 
neigung  des  ersten  Schreibers  von  A  gegen  groezlkh  ^  ist  die  änderung 
in  A  durchaus  begreiflich;  beeinflusst  scheint  sie  durch  2b'di  güetUchen 
pflegen. 

275. 2 :  B*  der  edelen  wade  'nur  hier'  (s.  339);  A  der  guoten 
zccete  'so  oft'.  Kettner  w^ar  allerdings  berechtigt,  diesen  fall  zu  zählen. 
Wenn  man  jedoch  erwägt,  dass  5923  schcene  ivat,  380.2  sneivtze  ivat, 
3923  fürstliche  wät  auch  nur  je  einmal  belegt  sind,  so  zeigt  sich  eine 
Variabilität  des  epithetons,  der  gegenüber  die  lesart  von  B*  um  ihrer 
Isoliertheit  willen  nicht  von  vornherein  verdächtig  ist.  Andererseits 
ist  für  die  A-lesart  die  möglichkeit  einer  Wiederholung  des  gnot  aus 
der  vorhergehenden  zeile  nicht  abzuweisen. 

292-93 :  Kettner  gegenüber  (s.  339  f.)  stelle  ich  die  v.~v^  zip-qj-i^x 
in  A  noch  einmal  zusammen.  Str.  292:  1.  292 1  genäde  bieten,  2.  292.2 
gen  einander  twingen'\    3.  292.2  senede  minne,   4.  292o  der  minne  not. 

1)  Kettner  s.  338. 

2)  Einige  stellen  verzeichnet  Kettner  s.  340  zu  3074  (gegen  B*).  Vgl. 
Bartsch,  Unters.,  s.  212;  Braune  s.  115  (9  stellen!).  Hinzu  kommt  noch  lB:-354  A 
vreisliche  not  st.  groszUche  n.  (mit  g  zusammen).  (Bequem  überschaut  man  die 
Überlieferung  in  der  übersichtlichen  tal>€llc  IX  u  [und  XIX  zu  ]r)3B4]  bei  Alice 
Vorkampff-Laue,  Leben  und  vergclieii  einiger  mhd.  Wörter).  Die  lOmalige  beseitigung 
Tun  gr'fzUche  zeigt,  dass  das  wort  im  liöflschen  stil  als  veraltet  empl'uudeu  wurde. 

3)  Kettner  verweist  (s.  339)  für  A  si  twanch  gen  einander  der  sencden  minne 
n(k  irrtümlich  auf  die  ziemlich  häutige  wendung  mich  ticinget  eines  dinges  not: 
das  allein  in  betracht  kommende  gen  ^««anc^cr  ^r///^c/t  ist  völlig  beispiellos  im  XL 


84  convEs 

Zwar  bemüht  sich  Kettner,  die  zwei  ganze  halbverse  füllende  'reini- 
formel'  in  B*  zu  verdächtig-en,  doch  muss  er  2922  B*  als  'eine  auch 
sonst  im  Nl.  begegnende  Wendung'  anerkennen.  Aber  auch  292 1  B* 
b^  der  hende  vcihen  ist  ein  durchaus  üblicher  zug  im  höfischen  zere- 
moniell (vgl.  z.  b.  737  1  usw.).  Die  Varianten  halten  sich  also  nicht  die 
wage,  vielmehr  sind  zwei  zu  den  B*-parallelen  hinzuzurechnen  (292 1  u..,). 
Str.  293:  zu  293 1  A  kann  allerdings  6093  verglichen  werden;  dagegen  ist 
für  2934  zivei  minne  gerndiu  herzen  der  verweis  auf  rfer  ere  gernde  man 
(733 1,  21553)  deshalb  unzulässig,  weil  aus  dieser  wendung  eine  ganz 
andere  anschauungsweise  spricht.  Auch  individuell  gefärbtes  ^loer  ir 
minne  gerte  (326  2)  darf  man  nicht  in  parallele  stellen  zu  der  abstrakt-all- 
gemeinen A-lesart  2934.  inis.ietiioii  2934:  der  gebrauch  des  verbums 
an  dieser  stelle  ist  ganz  isoliert.  Die  gekünstelte  wendung  heten 
anders  miaseidn  ähnelt  5263  ander,^  (st.  ivie  rehte)  m'ninecl'iche,  wodurch 
eine  gute  formel  ohne  zwingende  inhaltliche  gründe  beseitigt  wird. 

Der  einen  A-parallele  293 1  entspricht  auf  selten  von  B*  die 
formel  holder  wille  2934;  die  wendung  holden  ivillen  kunt  tuen  ist 
zwar  nur  hier  belegt,  doch  genügt  dies  nicht,  sie  zu  beanstanden,  da 
sie  durchaus  nicht  stilwidrig  ist  (vgl.  holden  willen  tragen  3554  usw., 
andererseits  für  den  gebrauch  von  kunt  tuon:  1551 4  strUen  kunt  tuon)^. 
So  ist  in  Str.  293  für  A  (293 1)  und  für  B*  (2984)  je  eine  parallele 
nachweisbar.  Die  von  Kettner  anscheinend  für  A  gerechneten  zwei 
parallelen  kommen  in  fortfall ;  die  entscheidung  für  B*  bringt  die  tat- 
sache,  dass  A  in  den  beiden  fraglichen  Strophen  6  alleinstehende 
ausdrücke  enthält,  die  man  nur  dann  für  echt  ansehen  darf,  wenn 
die  ausnahmestellung  von  A  völlig  gesichert  ist. 

3074:  hier  versagt  das  formalistische  kriterium;  die  s.  340  an- 
gezogenen drei  parallelen  stehen  in  der  6.  halbzeile,  die  verglichene 
stelle  aber  steht  in  der  achten,  also  unter  veränderten  rhythmischen 
bedingungen.  Nicht  der  parallelismus,  sondern  nur  die  metrik  kann 
hier  für  großzUch  entscheiden:  der  dreihebige  vers  si  heten  niichel 
kraft  ist  bei  dem  ersatz  von  groszlUh  durch  michel  (s.  zu  253 1  s.  83, 
anm.  2)   entstanden. 

3192  er  ivände  niht  eriverben:  in  der  fälschlich  zitierten  parallel- 
stelle 14134  (s.  340)  ist  ivmnen  mit  se  +  inf.  konstruiert,  ivmnen  mit 
blossem  inf.  ist  3192  vereinzelt  und  (ganz  abgesehen  von  dem  zeugnis 
der  hss.)   an   sich    auffällig ;    gegenüber   dem   geläufigen    trüwen  -  inf. 

1)  Vgl.  Zwierzinas  treffende  bemerkuugen  über  die  für  fragen  der  echt- 
heit  entscheidenden  d-ag  elpr/iisva:  Zfda.  44,  es. 


STUDIEX    ÜBEIl    DIE    XI15ELUNGENHAXDSCHRIFT   A  85 

der  anderen  hss.  erweist  es  sich  als  sekundäre  änderung-.  Die  A- 
parallele  scheidet  also  aus ;  zu  den  B*-parallelen  ist  diese  stelle  hinzu- 
zurechnen, oder  es  sind  2  A-parallelen  in  abzug  zu  bringen. 

3693a:  ebene  stän  (vgl.  s.  341)  ist  nirgends  sonst  belegt;  die 
konstruktion  mit  einem  verbum  der  ruhe  ist  im  Nl.  unerhört,  ebene 
ist  irrtündich  von  dem  Schreiber  aus  der  folgenden  zeile  übernommen, 
in  der  er  oiich  hinzufügte,  um  die  folgen  seines  Irrtums  abzuschwächen 
(vgl.  253i,  275,). 

351 1  (s.  341):  der  ersatz  des  stilgemäss  umschriebenen  imp.:  ir 
sult  pH  rehte  merken  durch  prosaisches  merket  rehte  ist  auch  sonst 
von  dem  Schreiber  vorgenommen:  390 1  gebet  uns  ^t.  ir  sult  uns  geben ; 
961.,  so  vernemet  selbe  st.  so  muget  ir  seihe  hceren. 

Was  die  parallelen  zu  321 1,„  356;3,  3864  (s.  340f.)  beweisen 
sollen,  ist,  da  es  sich  nicht  um  formelhafte  elemente  handelt,  um  so 
weniger  einzusehen,  als  die  fraglichen  stellen  sich  nicht  völlig  decken. 

4342a  (s.  342):  je  eine  parallele  für  A  und  für  B*,  d.h.  das 
Stilkriterium  versagt;  entscheiden  kann  nur  die  anderweit  gewonnene 
einsieht  in  das  handschriften Verhältnis. 

4344:  die  s.  342  beigebrachte  parallele  scheint  für  A  zu  sprechen. 
Die  B*-lesart  ir  was  darnach  geslichen  .  .  .  konnte  jedoch  einem 
höfischen  bearbeiter  zu  einer  änderung  anstoss  geben  ^  Für  die  form 
nein,  si  hete  gecellet  ist  zu  beachten,  dass  der  Schreiber  auch  801] 
ein  rhetorisches  nein  ich  und  951 3  (unter  Zerstörung  der  metrischen 
kunstform)  ein  weiteres  lebhaftes  nein  einführte. 

469.2:  degenlich  als  adj.  zwar  nur  hier,  aber  nicht  stilwidrig. 

47O4:  die  s.  342  angezogenen  parallelen  reichen  nicht  aus;  die 
Wendung  in  A  leit  geschehen  läzen  ist  singulär.  Auf  grund  der  ähn- 
lichkeit  von  47O4  B*  und  17134  ADb  wird  s.  336  konstatiert,  dass 
B*  47O4  'veranlasst'  ist  durch  die  parallclstelle  17134  ADb. 

4944  (s.  343):  den  anlass  zu  der  glücklich  den  stil  des  Nl. 
treffenden  änderung  bot  das  reimwort  sint  (vgl.  9434,  9884,  9894, 
1038.,  und  die  fehlstrophe  54O5-8).  Bei  den  Umgestaltungen  geriet 
9884  das  stilwidrige  nazzes  blint  in  den  text;  9434  ist  sprachlich 
falsch;  1038-2  führt  gleich  zwei  vereinzelte  Wendungen  ein.  Zu  1038.2 
sorgen    äne   vergleicht  Kettner  ^  zwar   die   beiden    kurz   vorher   begeg- 

1)  So  heisst  es  auch  6704  von  Brünhilde:  in  vil  höchverten  (st.  listigen) 
siten.  (Db  setzte  kunstigen  ein.)  Das  epithcton  der  listige  man  wird  4428  für 
Sicirfried  gemieden:  es  ist  spielmännisch  (vgl.  Salman  und  Morolf). 

2)  A.  a.  0.  s.  349. 


86  CORVES 

nenden  Verbindungen  diie  sorge  vani  (1030 1)  und  vröuden  une  rUen 
(IO343);  m.  e.  reicht  dies  nicht  aus,  weil  das  Nl.  nur  dne  tiion  mit 
gen.,  nicht  dne  bringen  kennt,  sorgen  dne  bringen  ist  also  eine  ände- 
rung"  von  A,  auf  deren  form  vielleicht  die  von  Kettner  zitierten 
Wendungen  gewirkt  haben.  Jeden  zweifei  daran,  dass  A  geändert 
hat;  schliesst  der  in  derselben  zeile  begegnende  ausdruck  hi  leide  sin 
aus,  zu  dem  es  kein  analogon  gibt.  Wenn  sich  nun  diese  härten 
beziehungsweise  stilistischen  mängel  in  A  gerade  an  den  stellen  zeigen, 
wo  B*  das  nur  im  reim  belegbare  adv.  sint  hat,  so  muss  geschlossen 
werden,  dass  der  modernisierende  Überarbeiter  versucht  hat  -  keines- 
wegs ohne  geschick  — ,  das  ihm  anstössige  sint  gelegentlich  zu  be- 
seitigen \  nicht  aber,  dass  der  Verfasser  von  B*  'eine  besondere  Vor- 
liebe für  das  wort'  -  besass,  der  er  auffallenderweise  nur  dann  fWint, 
wenn  sich  sint  in  reimstellung  befindet;  ausserhalb  des  reimes  per- 
horresziert  er  das  wort. 

9683  (s.  348):  die  Variante  in  disem  küse  st.  in  dirre  bürge  ist 
noch  von  der  rein  sprachlichen  seite  zu  beleuchten.  Dem  Schreiber 
war  im  gen.  und  dat.  sg.  die  form  hure  geläufig  (nicht  bHrge)\  ^11 2 
(dat.)  und  456 1  (gen.)  führte  er  diese  form  ohne  bedenken  ein. 
Schwierigkeiten  ergaben  sich,  wenn  die  form  in  der  zäsur  stand;  hier 
hätte  burc  eine  nebenhebung  ausfallen  lassen.  So  wurde  391 1  und 
7273  gleichzeitig  mit  der  einführung  der  sprechform  eine  Umstellung 
vorgenommen,  um  dem  verse  aufzuhelfen;  393.2  wurde  die  anstössige 
form  entfernt  und  bei  der  improvisierten  änderung  ich  vergessen; 
9683  wurde  eine  form  liuse  st.  bürge  eingesetzt'.  Neben  den  6  ge- 
änderten belegen  sind  8  fälle  vorhanden,  wo  der  Schreiber  aus  seiner 
schon  berührten  Inkonsequenz  (vgl.  sint  usw.)  bürge  stehen  Hess,  ausser- 
halb der  zäsur  jedoch  nur  6533.  (391 1  entschied  sich  z.  b.  Hofmann ^ 
für  B). 

9694:  für  A  ist  eine  parallele  angeführt  (s.  348),  unter  den  B*- 
parallelen  fehlt  aber  die  formelhafte  B*-lesart;  das  stilkriterium  kann 
widerum  nicht  entscheiden.  Andererseits  zeigt  Braune  (s.  113  f.),  dass 
es  sich  in  A  9274  und  969 4  um  den  er s atz  der  forniel  des  gie  im 
iimrlichen  not  handelt.  Eine  Individualisierung  des  formelhaften  ez  was 
ir  wcerltchen  leit  ist  nicht  nur  9734,    sondern  auch  4854  durchgeführt 

1)  Vgl.  seine  Stellung  zu  den  rührenden  reimen  (s.  80). 

2)  So  Kettuer  s.  349. 

3)  So  erklärt  sich  wahrscheinlich  auch  6204  ftv  dem  bette  an  einen  schrm 
st.  zwischen  der  wende  und  einen  schrin. 

4)  Zur  textkritik  der  Nib.  s.  85. 


«TUDIEN   ÜBER   DIE    NIBELrXdEXHAXDSCIlKIFT    A  87 

(vgl.  s.  75);  darauf  beruht  auch  die  änderung  von  970 4  daz  was  ir  grcez- 
Uchen  leit.  Dass  3774  A  daz  was  im  tvcerltche  leit  (st.  Gunthere  leit) 
eintrat,  hängt  zusammen  mit  dem  ersatz  des  eigen  namens  (bezw. 
Substantivs)  durch  das  pronomen  (vgl.  7884!  3334,  3464,  62O2, 
7744,  7794,  9593,  IO3O3,  10544)  Schon  Schmedes  (Kieler  Diss.  1893, 
s.  49)  gab  7744,  7884  und  10544  die  A-lesart  preis. 

11034:  zu  der  lesart  von  A  wird  (s.  349)  mit  recht  auf  261 4 
verwiesen,  wozu  15934  fast  völlig  stimmt.  Während  jedoch  261 4  alle 
hss.  von  schoenen  frouwen  bieten,  steht  15934  in  AD  und  B  wiben, 
in  d  maiden,  in  Jh  frawen.  Danach  ist  mit  Lachmann  wtbeit  zu  lesen 
gegen  Bartsch,  der  frouwen  schrieb.  Da  nändich  schwniu  w/p  '  ebenso 
stilgemäss  ist  als  schoene  crouwen,  so  besteht  keine  Veranlassung, 
gegen  das  zeugnis  von  ADB  einem  äusserlichen  Schematismus  zuliebe 
zu  uniformieren.  Ebenso  steht  es  nun  1103  4:  da  schoeniu  kint  auch 
sonst  belegt  ist  (z.  b.  5543),  so  besteht  kein  stilistisches  bedenken 
gegen  die  B*-lesart ;  ADb  (b  fehlt  hier)  setzt  vromven  st.  kini  -  ein.  Die 
3  belege  261 4,  IIO34  und  15934  sind  ein  schöner  ausdruck  des  wesens 
der  epischen  formel:  in  ihren  festgefügten  rahmen  können  je  nach 
bedürfnis  variable,  auch  ihrerseits  formelhafte  glieder  eintreten". 

Ich  breche  die  naehprüfung  ab.  Sie  dürfte  gezeigt  haben,  dass 
das  sehr  dehnbare  prinzip  des  parallelismus  vielfach  eine  entscbeidung 
nicht  gestattet;  erst  in  Verbindung  mit  den  anderen  raitteln  der  text- 
kritik  kann  es  sich  als  fruchtbar  erweisen.  In  fällen,  wo  die  Über- 
lieferung auseinander  geht,  kann  der  stil  den  ausschlag  geben,  jedoch 
nur,  soweit  es  sich  um  völlig  aus  der  diktion  des  Nl.  herausfallende  les- 
arten  handelt  (z.  b.  102  n  tvizze  Krist).  Doch  reichen  die  stilkritischen 
bedenken  Zwierzinas*,  deren  wert  zum  teil  unverkennbar  ist  (so  zu  392  5, 
5316,  6285),  für  mich  nicht  aus,  das  fehlen  von  Strophen  in  A  als  etwas 
ursprüngliches  zu  stützen.  ^Mindestens  ebenso  schwer  wiegt  die  tat- 
sache,  dass  eine  grosse  anzahl  Strophen  als  von  A  absichtlich  aus- 
geschieden erkannt  worden  ist;  und  durch  diese  tatsache  halte  ich 
mich  für  berechtigt,  das  'kritische  grundgesetz'  Za rucke s"'  zu  adop- 

1)  Die  belege  jetzt  am  bequemsten  bei  Hawel:  'Das  sclimUckende  beiwort  in 
den  mhd.  volkstümlichen  epen',  Diss.  Greifswald  1908,  s.  84;  für  frouwe  [mit 
schoene  verbunden]  s.  81. 

2)  477 1  setzte  A  wip  für  kint  ein,  sah  sich  aber  des  reimes  wog-cn  genötigt, 
wip  zu  tilgen  und  liint  wieder  einzuführen. 

3)  Eine  höchst  treffende  Charakterisierung  des  wesens  und  der  bedcutung 
epischer  formcln  gibt  Vogt,  Salnian  und  Morolf,  s.  CXXXVI. 

4)  Zfda.  44,  go  ff. 

B)  Lit.  zentralbl.  1854,  sp.  116. 


88  CORVES 


tieren:  'jede  stroplienditferenz  ist  auslassung  in  A,  wenn  sieh  von  ihr 
nicht  das  g-ej^-enteil  besonders  beweisen  lässt'  (wie  z.  b.  für  102  5-12). 
Durch  Kettners  'ergebnisse'  halte  ich  Braunes  grundlegende  auf- 
stellungen  nicht  für  ernstlich  bedroht.  Andererseits  sehe  ich  in  dem 
von  diesem  als  dem  Nl.  adäquat  nachgewiesenen  stil  der  plusstrophen, 
für  deren  absichtliche  auslassung  zum  teil  gründe  wahrscheinlich  zu 
machen  waren,  ein  argument  für  ihre  echtheit,  das  im  verein  mit  der 
von  Braune  für  eine  reihe  von  Strophen  erwiesene  unentbehrlichkeit 
durchschlagend  sein  dürfte. 


Zur  ergänzung  der  Sammlung  Kettners  bespreche  ich  -  ohne 
Vollständigkeit  anzustreben  -  eine  reihe  von  A-lesarten,  die,  abgesehen 
von  der  handschriftlichen  Überlieferung,  auf  grund  des  stils  als  ände- 
rungen  des  Schreibers  erscheinen. 

8O3  rhhe  briinne  A:  nur  hier  belegt,  wtze  bn'inne  (B*)  wird 
durch  187  2  gestützt  (vgl.  Bartsch,  Unters.,  s.  219). 

1023  sm  Ifp  der  ist  so  schcene  A  (st.  küene),  von  Siegfried 
gesagt  (vgl.  Braune  s.  108);  so  heisst  es  bezeichnenderweise  in  der 
'zudichtung'  des  Schreibers^  21 1.  2:  Ich  sage  tu  von  dem  degne  ivie 
schoene  der  wart.  Dazu  stimmt  die  änderung  4224  der  schoenen 
(st.  starken)  crouwen  tthermuot;  auch  Db  nahm  hier  anstoss  und 
änderte.  Ferner  vergleiche  man  6354  schoeuiu  (st.  und  oiich  diu)  ros; 
das  attributive  adj.  steht  hier  völlig  isoliert,  üblich  ist  guot;  vgl. 
Hawel  s.  94  (69 1,  863). 

1463  hdn  ich  guoter  {st.  getrimver)  iemen:  substantiviertes  guot 
ist  als  diu  guote  nur  142  im  reim  bekannt.  18  2  (im  zäsurreim)  stellt 
es  die  C*-lesart  dar,  das  echte  bieten  AJ '-.  So  ist  guoter  iemen  ver- 
einzelt; B  wird  gestützt  durch  1759  2  hat  er  getriuwen  iemen;  zu  ver- 
gleichen ist  auch  10202,  wo  A  ebenfalls  ändert. 

2303  degenltchen  tuon  +  oh'].:  die  alleinstehende  A-lesart  durch- 
bricht den  formelhaften  gebrauch  von  willecltche  tuon,  das  B*  bietet 
(vgl.  26O2,  348i6,  5132,  516 3,  811 4  usw.). 

2644  b  ros  imde  {herlwh  fehlt)  gewant:  das  fehlen  des  formel- 
haften Mrltch  fülirt  zu  einem  metrischen  anstoss:  alle  vergleichbaren 
stellen  haben  einen  takt  mehr  als  A  2644  1,:  284,  7054,  12224,  14694. 
A  hat  also  herlick  ausgelassen. 

1)  Vgl.  darüber  Braune  s.  179.  Mau  beachte,  dass  aucli  die  betouung  der 
stärke  gelegentlich  unterbleibt,  vgl.  s.  90  (zu  417 1). 

2)  So  auch  Braune  s.  180  ff. 


.sTUDiEx  Cbeh  die  nibelungenhand.schrift  a  89 

2724  {hie  fehlt)  zen  Burgonden  sint:  die  parallelen  121 4  iiiul 
12004  erweisen  zwingend  die  notwendigkeit  des  hie  und  damit  die 
viertaktigkeit  der  balbzeile  (vgl.  481 4,  10324,  23044). 

2704  sich  zierte  riferiiche  (st.  vllzecHche)  manic  ivcctlwhiu  meit: 
schon  Bartsch,  Nib.  not  II  0,  xvn  betonte,  dass  dies  epitheton,  auf 
frauen  angewandt  -  offenbar  stilwidrig  -,  nur  hier  belegt  ist.  Kurz 
nachher  (292 1)  wird  vltzecltche  ebenfalls  ersetzt  (durch  minnecHche) ; 
zu  beachten  ist,  dass  A  auch  681 4  für  der  chitnig  hiez  mit  geleite  die 
boten  vUze cUch  bewarn  BDhd  die  änderung  der  kiinic  mit  gewfdte{\) 
{mit  cleidern  Jh)  Jiiez  die  boten  ivot  beivarn  vornimmt;  J  ändert  in 
her  lieh  beivarn,  während  C  ivol  bewarn  bietet. 

301 1:  si  .  .  .  kam  gestdn  A:  die  anstössige  lesart  ist  sonst  nicht 
belegbar. 

3084  ze  dienste  tiion  A:  die  formel  d-enst  tuon  (bezw.  ril,  lützel 
d.  t.)  wird  von  A  durchbrochen. 

321 3  ich  wolde  sin  ze  lant  A  (st. Ja  loold  ich  in  mtn  laut)',  ab- 
gesehen von  der  form  se  lant  statt  des  allein  üblichen  ze  lande  be- 
fremdet die  bedentung  'zu  liause',  'in  meinem  lande' :  ze  lande  bedeutet 
'heimwärts'  (siehe  Bartsch  II 2,   189). 

342:3  3^  lobe  (st.  ze  wiimche)  ivol  gekielt  A:  für  A  kein  beleg, 
zu -B*  ist  zu  vergleichen:  45:3  ze  lounsche  wol  getan;  16032  den  was 
tvol  ze  ivitnsche  geschaffen  der  irp. 

3534  diit  {vil  fehlt)  herliche  meit:  dass  ril  ebenso  wie  554  aus- 
gelassen^ ist,  beweisen  5I4,  594,  1224  (mit  auftakt).  6234  ist  es 
durch  Umstellung  beseitigt. 

398  2  zuhtecliche  sprechen  A  statt  einer  von  B*  gebotenen  formel- 
haften Wendung  kommt  zwar  1126  1  noch  vor,  ist  aber  verdächtig,  wenn 
man  berücksichtigt,  dass  A  1615 4  zuhtecliche  antwiirten  (sonst  unbelegt!) 
und  2983  zuhtecliche  gän  als  plus  gegen  B*  bietet  (letzteres  nur  1126 1 
belegt).  Die  3  gemeinsamen  belege  des  höfischen  Wortes  vermehrt 
der  erste  Schreiber  von  A  um  3  weitere"-'!  Den  anstoss  zu  der  än- 
derung 398.2  gab  die  echt  spielmännische  formel:  nu  muget  ir 
gerne  hmren  (vgl.  Vogt,  Salman  und  Morolf.  s.  CXXXIX  und  CXLI; 
Piper,  Si)ielmannsdichtung  I,  70).  Während  II  sie  1661 2  duldet,  bietet  I 
ein  höfisches  Surrogat. 

400  1:  kilnec  ze  Mine  {A)  st  geborn  ron  R/ne  (B*)"-     A  ist  falsdi. 


1)  Ebenso  Hofmaiin,  Zur  textkritik  d.  Nib.,  s.  88  und  84. 

2)  Vg-1.  Braune  s.  108. 

3)  Nach  Kettner  (s.  33H)  hat  16912    er   ist   gehnrn    von  Tronije   'zur    unifor- 


90  COHVE.S 

denn  CS  g'ibt  nur  die  Verbindung-  künec  von  Rhie  (mehrfach).  Der 
Schreiber  vergreift  sich  bei  dem  bestreben,  die  ihm  offenbar  zu  wenig 
aussagende  echte  lesart  zu  verbessern.  Hier,  wie  auch  sonst,  kam  es 
ihm  darauf  an,  die  bezeichnung  des  ranges  als  könig  anzu- 
bringen; so  erhält  Siegfried  6882  die  völlig  stilwidrige  anrede 
künec  (st.  her)  Slfrä,  so  heisst  er  635 1  der  künec  S^frit  st.  Slfrit  der 
herre:  der  titel  steht  im  echten  text  nur  700  4  (vgl.  0694).  80  ändert 
auch  A  (mit  G  zufällig  zusammentreffend)  523  3  die  von  BDbdJh  als 
echt  gesicherte  lesart  wes  iuch  bittet  Günther  in  ives  iuch  der  künec 
bittet,  was  schon  Hofmann  aus  metrischen  rücksichten  aufgab  (Zur  text- 
kritik  der  Nibelungen  s.  87). 

Auch  Brunhilde  bekommt  so  den  königinnen titel:  vgl.  403  4 
ein  ahe  s,chcene  künigin  A  (st.  magedhi),  siehe  auch  Braune  s.  108; 
450 4  der  küniginne  A  (st.  Prünhilde);  614 1  der  küniginne  A  (st.  der 
iuncfrouweit) ;  1222 1  diu  clagende  kunigin  A  {i^i.  vrouwe). 

408 4  .  .  .  schein  liehte  dar  an  st.  daz  sach  man  sclünen  daran: 
die  gut  epische,  umschreibende  wendung  ist  präziser  wiedergegeben; 
siehe  oben  zu  351 1  (s.  85). 

412  4b  die  ivärheit  sagen:  eine  völlig  ungebräuchliche  wxndung, 
nur  hier  allein  in  A  belegt. 

410  3  nianiger  leie  A  (st.  hande  B"):  die  dem  Nl.  fremde  ausdrucks- 
weise ist,  gegen  die  geläufige  in  B^'  gehalten,  auffällig. 

417  1  der  degen  Hagne  (st.  der  starke  Hagne):  hier  verletzt  A  in 
schroffer  weise  die  diktion  des  Nl.  Während  Hagene  der  degen  eine 
weit  verbreitete  formel  ist,  gibt  es  die  A-lesart  der  degen  Hagene 
nirgends ;  sie  ist  unzweifelhaft  eine  ungeschickte  änderung  des  Schreibers, 
der  gleich  darauf  422  4  der  starken  vrouwen  ebenfalls  beseitigt.  So 
trat  auch  3484  für  des  starken  Stvrides  ivtp  ein:  des  küeneti  IS/vr.  iv. 
und    ebenso    verliert    Siegfried   3682    das    epitheton   der   kreftige  man. 

4243  der  küene  {st.  sn eile)  man  A;  auch  591 1  ist  die  formel  ge- 
tilgt: der  edel  (st.  snelle)  man!  Weitere  belege  für  die  abneigung 
des  Schreibers  gegen  snel^:  22 1  der  selbe  (st.  snelle)  degen  guot  A 
unter  Zerstörung  der  formel,  die  Hawel  s.  37  belegt;  514 1  Giselher 
der  iimge  (st.  snelle)  A,  ebenso  geändert  14312  A;  nur  1232 1  bleibt 
die  echte  lesart  stehen.  Auch  1596  2  beseitigt  nur  A  Rüedeger  der 
snelle.     Alle    diese    eingriffe    entspringen    offensichtlich    dem   höfischen 


mung'  von  400 1  Er  ist  künec  ze  Rtne   in  Er  ist  geborn  von  Eine  'gedient'.     Dies 
ist  eine  der  stellen,  die  'bei  ihrer  nachahmung  wohl  meist  nacligelesen  worden'  sind ! 
1)  Auffälligerweise  führt  A  das  wort  4363  ein  (vgl.  s.  91). 


STUDIEN   ÜBER   DIE    NIBELUXUEXHAXDSCHRIFT   A  91 

geschmack  des  ersten  Schreibers;  der  zweite  duldet  2021 2  die  von  I 
2nial  g-eänderte  forrael  der  snelle  man. 

4254  der  küenen  helde  unde  snel :  die  unnatürliche  Wortstellung-,  für 
die  es  kein  seitenstück  gibt\  beruht  auf  einer  änderung;  es  hätte 
noch  unde  getilgt  werden  müssen  (vgl.  die  änderung  397  4  die  küenen 
helde  gemeü  A  st.  die  helde  küene  nnde  yemeit,  dazu  1036  4). 

434 1  .  .  .  halde  lifapranc  A  st.  wie  holde  si  üfspranc  B*.  Gegen 
die  dem  stil  des  Nl.  konforme  Wendung,  die  in  .B*  erhalten  ist,  zeigt 
der  Schreiber  auch  sonst  seine  abneigung  durch  auslassung  des 
formelhaften  icie  (vgl.  795.,  799  2,  503  4,  0263,  1034 1,  1507  2,  1596,). 
Auch  292  2  ist  tvie  bei  der  änderung  beseitigt.  Der  grund  für 
die  änderungen  des  Schreibers  liegt  darin,  dass  in  der  Verbindung 
tvie  +  adv.  ein  festes  dement  des  spielinännischen  stils  vorliegt  (vgl. 
Vogt,  Salman  und  Morolf,  s.  CLIV). 

4363  der  snelle  Sifrit  A  st.  der  Jierre  S.  B*.  Diese  lesart  gibt 
es  nirgends ;  wohl  ist  Stfrit  der  snelle  belegbar  (442 1) ;  die  änderung 
führte  ähnlich  wie  417 1  zu  einer  entgleisung. 

5644  min  swester  ivan  aleine  A  st.  niwan  min  sivester  eine  B*: 
vgl.  2274  wan  aleine  Sifrif  A  st.  unz  eine  an  Sifriden  B*.  wan  aleine 
ist  nur  an  diesen  2  stellen  von  A  nachzuweisen.  Kettner  belegt  zu 
2273-4(8.355)  den  stärkeren  jDarallelismus  in  B*;  unverkennbar  zeigt 
aber  A  5644  dasselbe  gepräge  wie  A  227  4.  Das  Nl.  kennt  nur  niwan  . .  . 
aleine  1698.,  1769  3,  2245  2  ADb  (b  lässt  aleine  aus),  22584;  weder 
ivan  (st.  niwan)  an  beiden  stellen  von  A,  noch  die  Stellung  entspricht 
dem  Sprachgebrauch  des  Nl.  Ausser  227  4  und  5644  wird  aleine  noch 
941 3  gegenüber  eine  bevorzugt. 

580  4  noch  ivas  ez  beidenthalben  üne  nit  st.  noch  ivas  ez  an  ir 
beider  nit.  Den  durch  änderung  entstandenen  fehlerhaften  halbvers 
besserte  Lachmann  in  beidetdhalp  an  nit  und  brachte  damit  gegen 
den  klaren  Sprachgebrauch  des  Nl.  (belege  in  Bartschs  Wb.)  den  ein- 
zigen fall  von  beidenthalp  als  adv.  in  den  text.  Die  zweifelnd  vor- 
getragene konjektur  Hofmanns  (Zur  textkritik  der  Nib.,  s.  87)  ist  gegen- 
über der  einwandfreien  lesart  aller  hss.  überflüssig. 

587  3  eime  starken  borten  A  st.  daz  was  ein  starker  borte  B''- :  vgl. 
887  4  einen  beren  wilden  A  st.  daz  ivas  ein  bere  ivilde.  Unter  Vermeidung 
des  formelhaften  daz  was  strebt  der  Schreiber  nach  engcrem  syn- 
taktischen anschlusse;  auch  619  2,652  4,655  4  legen  davon  zeugnis  ab. 

1)  Vgl.  die  samiiikiugeu  vou  Radke,  Epische  fonnel  im  Nl.,  s.  25  f.  (Progr. 
von  Fraustadt  1890j. 


92  COKVKS 

593 3_4  triTrec  was  shi  muot  (st.  ivas  yenuoc)  der  herre  defs  landes 
(st.  von  dem  lande),  ir  fröude  diiht  in  nikt  ze  giiot  (st.  swie  er  des 
fages  kröne  truoc).  Kettner  versucht  (s.  344)  die  A-lesart  durch  paral- 
lelen zu  verteidigen :  593  3 1,  in  der  fassung-  von  A  ist  in  der  tat  stilistisch 
einwandfrei ;  ebenso  aber  die  B*-lesart  (vgl.  442 1  usw.).  trürec  ist  in 
der  formelhaften  Verbindung  adj.  +  ivas  (bezw\  wart)  genuoc  zwar  nur 
5933  belegt;  dies  spricht  aber  keineswegs  gegen  diese  lesart,  da  das 
adj.  in  der  formel  variabel  ist.  So  versagt  593  3  das  formalistische 
kriterium,  entscheidet  aber  593  4  zugunsten  von  B*.  Die  gekünstelte 
Wendung  niht  ze  guot  dünken^  ist  nur  669  4  aus  C*  belegbar,  fehlt 
sonst  dem  Nl.,  denn  409  4  niht  ze  guot  ivesen  (auch  1249  2,  1246 4,  wo  A 
ze  auslässt)  wird  man  nicht  anziehen  dürfen.  Andererseits  ist  der  zug 
des  kröne  tragen  (in  B^)  häufig  belegt,  auch  gerade  im  reim  auf  genuoc 
(vgl.  559 3_4,  ähnlich  772 3—4).  Braune  versucht  in  seiner  textkritischen 
behandlung  der  stelle  (s.  72  f.)  hier  ADb  einen  fehler  zu  vindizieren; 
wahrscheinlicher  ist,  dass  das  von  hs.  b  gebotene  gemuof  st.  genuoc 
5933  -  eine  auch  sonst  vorkommende  vertauschung,  wie  die  von  Braune 
(s.  72)  angeführten  fälle  zeigen  -  erst  ein  Schreibfehler  dieser  hs.  ist ; 
damit  hat  Db  die  korrekte  lesart  erhalten,  und  nur  A  weicht  mit  einer 
die  reime  antastenden  änderung  ab;  zu  ihr  vgl.  man  den  ähnlichen 
Charakter  der  änderung  von  324  3_4. 

595  4  under  kröne  .  .  .  schöne  (B"  vroeltchen)  stein :  in  der  Verbin- 
dung under  kröne  stdn  (bezw.  gdn)  begegnet  sonst  kein  epitheton ;  doch 
berechtigt  die  Verbindung  vroellchen  stdn  807  4,  1949  4,  die  BMesart 
zu  bevorzugen.  Die  eiusetzung  von  schöne  (hs.  schoe.ne)  durch  den 
Schreiber  ist  bezeichnend,  vgl.  oben  zu  102$  (s.  88). 

618 2  iu  zimet  niht  zefi'teren  A  st.  ir  sult  mir  niht  zefüeren^. 
Die  höfisch  stilisierte  A-lesart  entspricht  der  schon  gestreiften 
tendenz  zur  milderung  starker  ausdrücke:  so  bedient  sich  hier  Brun- 
hilde  dem  scheinbaren  Günther  gegenüber  einer  zeremoniell  höflichen 
ausdrucksweise,  vgl.  s.  73  zu  816  j:  hier  steht  A  infolge  der  änderung 
allein,  während  die  lesart  der  anderen  hss.  genau  gleich  575 1  ist,  wo  A 
ebenfalls,  wenn  auch  in  geringem  masse,  änderte.  (Zur  sache  vgl. 
1145],  wo  die  formulierung  weniger  anstössig  ist.) 

6224  cersuochende  angestlichen  an  usw\  A  st.  er  versuoht  ez  an- 
gestlichen  usw.  B*.  Gegen  das  auffällige  partizipium  in  A  spricht 
entscheidend,    dass    cersuochen   einer   beziehung    bedarf,    ausgedrückt 

1)  Sie   ist  vielleicht   auf   reimzwang  zurückzuführen  (vgl.  Zeitschr.  41,  287  f.). 

2)  Die  hs.  bietet  sinnloses  mich  niht  zefiicren. 


.STUDIEN    ÜKEK   DIE   XIBELUNGENHAXD.SCHKIFT    A  93 

entweder  durch  ein  acc-  obj.  oder  einen  abhängigen  satz:  A  durchbricht 
hier  den  Sprachgebrauch  des  Nl.  (vgl.  1049  4). 

6393:  das  bei  der  änderang  ausgefallene  ncÄe  ist  unbedingt  auf- 
zunehmen, weil  ein  plur.  diu  icifen  nicht  vorkommt. 

6564  siis  pflnc  vUzecUchen  ir  diu  edel  kunigin:  die  unnatürliche 
Wortstellung  genügt  zum  mindesten,  A  für  verdächtig  anzusehen. 

832 1  cater  nun  her  Sigemiint  A  st.  min  vater  S.  B'^.  Über  den 
höfischen  Charakter  der  lesart  von  A  vgl.  Braune  s.  107;  stilistisch 
betrachtet  dürfte  sie  ein  unikum  sein:  es  gibt  nur  min  vater  oder  mit 
adj.  vil  liebe)-  vater  min. 

841 2  man  den  liehen  min  A  st.  den  holden  (bezw.  lieben  siehe  hss.) 
wine  min  B*  (vgl.  s.  72,  anm.  2):  die  Wortstellung  in  A  sucht  ihres- 
gleichen; es  kchinte  nur  heissen  den  liehen  man  mm,  aber  dies  kommt 
ebensowenig  vor  als  die  A-lesart.  Es  heisst  stets  min  {eil)  lieber  man. 
Da  nun  in  der  nächsten  zeile  841 3  den  minen  lieben  man  begegnete, 
musste  der  Schreiber,  um  die  Wiederholung  weniger  fühlbar  zu  machen, 
auch  hier  die  feste  formel  antasten:  daz  du  wol  behüetest  mir  den 
liehen  wem  A  st.  daz  du  mir  tvol  hehüetest  den  minen  lieben  man; 
vgl.  dazu  8433,  8443,  1841 3,  ferner  9763,  17273,  wo  den  fehlt  -  eine 
rein  sprachliche  änderung  jüngeren  alters  gegenüber  dem  echten  text. 
Der  austoss  zu  den  änderungen  gieng  aus  von  der  un höfischen 
Wendung  841 2  der  holde  wine  min. 

8861  den  lagern  tvol  geborn  (st.  üzerkorn):  woL  geborn  erscheint 
an  den  drei  sonst  belegten  stellen  3263,  1369  4,  2087  4  noch  nicht  in 
abgeblasster  bedeutung,  sondern  wird  nur  von  personen  aus  königlichem 
geschlechte  gebraucht. 

9764  vrouive  licp,  daz  si  getan  A  st.  daz  sol  werden  getan:  die 
höfische  anrede  geht  gegen  den  stil  des  Nl.;  es  gibt  nur  (vil)  liebiu 
vrouwe  mit  vorangestelltem  adj. 

992  i  Sifrides  wörtlichen  lip  A  st.  den  sinen  wcetlichen  Up  B*  =  1455  4; 
vgl.  1086  4. 

10304  b  das  von  A  zugesetzte  guoten  zerstört  den  achten  halbvers; 
um  es  zu  retten,  schrieb  Lachmann  gnade  (st.  genäde)  gegen  die  hs. ; 
ferner  änderte  er  die  von  der  hs.  l)eibehaltene  echte  zäsur:  seine  zäsur 
ist  aber  auffällig,  weil  sie  das  adj.  vom  zugehörigen  subst.  trennt:  in 
guoten/reken.  Auch  die  zäsur  333  2,  beruht  nur  auf  dem  festhalten 
an  der  A-lesart  in  daz  lant  statt  der  von  allen  hss.  (ausser  D)  ge- 
botenen her  in  ditze  lant.      llofmann  (Zur  textkritik  d.  Nl.,  s.  84)  las 


94  f'ORVES 

deshalb  mit  B.  Vg-1.  die  ziisiir  1530  2;  Hofmann  (s.  93)  folgte  auch 
hier  B^\ 

10974  init  ivarheite  iehen  A  st.  mit  rehter  ivürheite  ieJien  B"". 
Auch  844  hat  A  die  tautolog-ische  verbindiiDg  der  rehten  wurheite  iehen 
mit  auslassung-  des  adj.g-eändert  zu  hie  der  wärheiie  veriehen. 

1168 1_2:  1168 1  DÜ  manige  schcene  nieit  A  st.  ?v7  man/'c  schoene 
lüip  B*.  Kettner  (s.  349)  verweist  für  A  auf  1237  2 ;  da  jedoch  die 
BMesart  gleich  806 1  ist,  scheidet  die  stelle  aus.  1168  2  steht  dem 
vereinzelten  diu  vroiiwe  vil  gemeit  A  in  B*  Kriemhilde  Up  gegenüber, 
das  alle  hss.  1961 0  bieten;  ebenso  779  4,  wo  nur  A  stärker  änderte 
Der  Stil  entscheidet  also  1168.  für  B". 

11734  einen  A  (st.  ein  den  heden):  die  zum  mindesten  unver- 
ständliche lesart  von  A  ist  eine  änderung  des  Schreibers:  vgl.  6663 
daz  er  wcere  der  beste  A  st.  ein  der  beste  W'  (1157  2  hat  auch  A  ein 
der  (dler  beste  bewahrt). 

1270 1  Der  bischof  vriuntliche  (st.  minnecliche)  oon  shier  nifteln 
schiet  A:  vriuntliche  scheiden  ist  nur  hier  in  A  belegbar;  andererseits 
repräsentiert  minnecliche  scheiden  die  stehende  formel  (ausser  dieser 
stelle  noch  4  weitere  belege). 

1272 1  A  der  kilnec  uz  Hinnen  lernt  st.  von  H.  laut  W' ]  letzteres 
bestätigt  der  gemeinsame  text  1108  3  und  1190  3  (hier  schreibt  Bartsch 
mit  unrecht  rlz).  Vgl.  689  2  A  Gere  tiz  (st.  von)  Burgonden  lant.  (695 1 
hat  A  nicht  geändert). 

1340  4  daz  vil  wcetUche  (st.  herliche  B")  wip;  das  epitheton  ivcet- 
Uch  wird  nie  von  einer  einzelnen,  bestimmten  frau  gebraucht:  es  in- 
dividualisiert nicht,  sondern  gilt  von  der  gattung;  nur  der  plur.  oder 
die  unbestimmt  allgemeine  formel  vil  manec  ivcetlichez  ivip  kommt  vor. 
daz  vil  herliche  wip  ist  feststehende  bezeichnung  für  Kriemhilde  336  4, 
10 10  3.  Auch  2864,  wo  A  manec  wadlichez  (st.  herlichez)  wip  bietet  (Kettner 
s.  339),  ist  die  B*-lesart  stilistisch  zu  rechtfertigen,  da  273  2  und  753 1 

1)  Auch  470  2  hat  der  eingriff  des  Schreibers  die  zäsur  der  besten  j  reken 
veranlasst;  doch  vgl.  z.  h.  3932,  13072. 

2)  Hs.  B  hat  die  verschreibung  rehter  ereii  mit  maniger  wdrheite  iehen 
st.  maniger  eren  mit  rehter  wärjieita  iehen. 

3)  Vgl.  Zeitschr.  41,288.  Dass  die  änderung  von  1268 1  gedankenlos  geschah 
unter  psychologischer  einvvirkung  einer  sonst  geläufigen  wendung  und  dann  die 
Variante  1168 2  improvisiert  wurde,  zeigen  z.  b.  folgende,  wieder  getilgte  fehler: 
1047  3  der  Niblunge  lant  golt  (:hoU);  1263  1  der  Niblunge  hart  golt  {-.holt)]  1156  1 
da  er  Krietnhilte  vant  sack  {:  .sprach.  Vgl.  ferner  477 1,  1145  3,  1186 1,  6312.  1049  1—2 
da  das  icas  geschehen  (st.  getan) : gan. 


STUDIEN    ÜBER    DIE    NIBELUNCiEXIIAXDSC  IIKIFT    A  95 

das  epitheton  Mrltch  in  allgemeiner  Verwendung  aufweisen.  Die  von 
Kettner  urgierte  Verbindung  mit  schcene  meide  spricht  nicht  gegen  die 
zulässigkeit  des  epithetons  herlich  in  str.  2864. 

1411 4  eil  iverllcheii  (st.  gewedUhen  B*)  viini;  B"  wird  bestätigt 
durch  15284,   1958  0. 

14484  A  got  inüeze  si  (st.  ir  ere)  da  beivarn.  Für  B*  spricht 
4402  got  müeze  iuwer  ere  die  ztt  tvol  beivarn. 

15024  den  {stolzen  fehlt)  Burgonden  kunt;  hier  wollte  auch  Lach- 
mann eventuell  stolzen  aus  B*  aufnehmen.  802 4  ist  die  formel  die 
stolzen  Burgonden  ersetzt  (erhalten  231 3)  durch  die  von  Burgonden 
(ohne  lant!),  eine  wendung,  die  derselbe  Schreiber  1602 4  an  den  von 
Burgonden  (st.  an  den  B.)  ein  zweites  mal  einführt;  sie  begegnet  sonst 
nur  202 1. 

Aus  der  partie  des  2.  Schreibers  greife  ich  folgende  Varianten 
heraus.  Sie  tragen  überwiegend  leichteren  Charakter:  Umstellungen, 
ersatz  einzelner  Wörter,  kleine  zusätze  mehren  sich  allmählich,  worin 
das  selbständigerwerden  des  Schreibers  klar  wird.  In  den  ersten 
100  Strophen  von  seiner  band  sind  ernsthafte  Varianten  nur  spärlich 
vertreten. 

Die  Varianten  charakterisieren  sich  gelegentlich  durch  ihre  stil- 
widrigkeit als  änderungen;  das  streben,  formein  zu  ersetzen,  ist 
jedoch  weniger  oft  belegbar  als  bei  I. 

1681 4  des  hän  ich  ztt  vil  swcere  und  manegen  trürigen  tac  A 
st.  des  han  ich  alle  zite  vil  m.  tr.  t.  B*.  Da  zit  nie  mit  einem  adj. 
wie  sivcere  verbunden  ist,  kann  die  lesart  nicht  original  sein.  Kettners 
parallele  9984  (s.  352)  versagt.  Der  stil  des  höfischen  romans  war 
für  die  änderung  massgebend;  man  vergleiche  etwa  siva'ren  tac  Iw. 
1740,  übele  ztt  Iw.  1741.  Über  ähnliche  änderungen  des  ersten  Schreibers 
siehe  oben  zu  820 4  (s.  75). 

17664  A  ivend  ez  (st.  so  genese)  danne  swer  der  mac:  mit  neu- 
tralem ez  ist  wenden  nicht  nachweisbar:  155.j  A  icenden  elliu  iuriii 
leit,  ähnlich  1183  0-3,  wo  ADb  swenden  bietet. 

1901 1  sprach  Wcerbel  sun  A  st.  sprach  Wau-bel  der  spileman: 
vgl.  dazu  1710i  ein  wimdernküene  man  (st.  ein  kiiene  spilman),  wohl 
um  videlmre  und  spilman  in  einer  zeile  zu  vermeiden.  Auffällig  ist 
die  1901 1  ähnelnde  änderung  von  I  1614,  sprach  der  degen  sdn  (st. 
dei-  spileman)]  vgl.  s.  74. 

19224:  der  Schreiber  ersetzt  die  formelhafte  zeile  durch  einen 
individuellen  ausdruck  nach  seinem  geschmack:  vgl.  dazu  die  ände- 
rungen   der    ersten    band    in  9274    «nd    9884.     19224  A  iihners  sorge 


96  (OKVES,    STUDIEN    Ül'ER    DIE   XmELUNGENHANDSC  HKIIT   A 

steht  aber  völlig-  allein;  ebenso  verhält  es  sich  mit  ez  gut  mir  an  des 
l^bes  not.  Kettner  belegt  die  stelle  nicht,  führt  sie  aber  auch  nicht 
zugunsten  von  B*  an.  Braune  (s.  113)  verweist  mit  recht  auf  988  j-, 
über  die  Verwendung  von  twingen  vgl.  weiter  9274  A  (nicht  ganz 
dazu  stimmt  2922  A). 

19303  hat  A  allein:  daz  was  von  den  herrnn  durch  triuwe  getan. 
Gegenüber  Kettner  (s.  353)  ist  zu  unterstreichen,  dass  die  Verbindung 
durch  triuwe  tuon  nur  hier  vorkommt:  vgl,  1221 4  mit  grözen  tri ii wen 
getan;  14324  ez  was  mit  triuiven  getan  (ebenso  I77O4  daz  st.  ez). 
durch  triuwe  ganz  allgemein  gefasst  ist  nicht  nachweisbar,  wohl  aber 
mit  Personalpronomen:  1007 4  durch  iuwer  triuwe,  IOI84  durch  dine 
fr.,  11534  durch  die  tr.  din.  Dagegen  begegnet  durch  triuwe  im 
höfischen  roman,  z.  b.  Er.  3415,  3961 ;  Iw.  3151  usw. 

19784  Guntheren  der  Burgonden  künic  st.  Guntheren  von  den 
Bürgenden:  A  singul'ar.  Dieser  und  der  folgende  beleg  sprechen 
deutlich  für  die  auch  bei  dem  ersten  Schreiber  nachweisbare  Vorliebe, 
den  titel  bezw\  rang  hinzuzufügen,  siehe  oben  zu  400 1  (s.  90). 

1980 3  der  kunic  Gernöt  st.  der  starke  Gernöt  direkt  stilwidrig. 
Vgl.  Kettner  s.  362. 

2036i  A^/ere  reken  st.  Hiimen  reken  B*;  eine  ähnliche  änderung 
ist  22683  A  ziere  reken  st.  guote  reken  B*.  Diese  dem  XI.  fremde 
Verbindung  setzte  auch  I  15124  in  den  text  (statt  riche  reken):  das 
Zeugnis  von  Hd  verbürgt  ihre  echtheit  nicht  ausreichend.  Bartsch 
setzte  sie  ohne  grund  7524  (=  809 4  seines  textes)  ein,  obwohl  BAJd 
ziere  riter  überliefern. 

21523  zorns  was  (st.  gie  B*)  im  not:  mir  id  not  eines  dinges 
bedeutet  im  Nl.  nur  'ich  bedarf  eines  dinges' ;  so  liegt  die  änderung 
auf  der  band.  Der  parallelismus  von  B*  wird  durch  A  nicht  auf- 
gehoben, w^eil  A  keinen  befriedigenden  sinn  gibt. 

2199 3_4  ...  er  hat  getan  (st.  began)  an  uns  eil  groze  triuwe: 
triuwe   tuo}i   fehlt   dem  XL;   zu   triiiice  began  ati  +  dat.-obj.  vgl.  937.2. 

2251 2  A  des  get  mir  gröziu  not  st.  {ein  idmer)  vor  aller  miner 
not  B*.  Kettner  (s.  354)  sucht  A  zu  verteidigen:  mir  get  groziu  not 
mit  gen.  ist  aber  schlechterdings  unmöglich  im  stile  des  Kl.,  denn  in 
der  formel  mir  get  not  mit  gen.  steht  nie  ein  adjektivum.  Vergleichbar 
ist  nur  1812.  C! 

2299 3_4:  die  ausserordentlichen  Schwierigkeiten  dieser  stelle  be- 
hebt auch  Braune  (s.  145  f.)  nicht  gänzlich.  Hier  nur  einige  stilistische 
bemerkungen  zu  A:  22993,,  ist  nicht  nur  metrisch  anfechtbar,  sondern 
stilistisch   geradezu   falsch :    das   epitheton    ein  helt   uz  Bürgende  lant 


GERHARDT,    ZU    AMBRO.SIUS    ÖSTERREICHERS    SCinVEItDTTANZ  97 

kommt  Günther  nicht  zu  (kein  beleg!).  Zu  seiner  führung  ist  ledig- 
lich Dankwart  berechtigt;  sonst  erscheint  es  nur  pluralisch.  22994  b 
ist  ein  höchst  verdächtiges  a-ai;  £ip7;[yivov,  in  dem  ein  ähnlicher  ge- 
schmack  zutage  tritt  wie  in  den  änderungen  9694  und  IOI43  des 
ersten  Schreibers.  B*  bietet  dagegen  22994  b  eine  formelhafte,  von 
Kettner  allerdings  nicht  zugunsten  von  B*  aufgeführte  wendung. 

Höfisches  her  ist  analog  dem  geschmacke   des  ersten  Schreibers 
zugesetzt  in  22654,  2276 1  vgl.  Bartsch,  Nib.  not  II  2,  xxi. 

KIEL.  CARL    CORVES. 


MISZELLE. 

Zu  Aiubrosius  Österreichers  Schwerdttanz. 

(Zeitschr.  40,  349  ff.) 

So  verdienstlich  es  von  M.  Schneider  war,  uns  den  text  dieses  godichtes  ab- 
zudrucken, so  bedauerlich  ist  es,  daß  seine  einleitung  und  anmerkungen  in  so  vielen 
punkten  der  berichtiguug  und  ergänzung  bedürfen.  Um  es  kurz  zu  sagen,  ist  näm- 
lich kaum  weniger  als  alles  falsch,  was  sich  auf  die  topographie  der  Stadt  Nürnberg 
und  auf  ihre  reichsstädtische  Verfassung  bezieht.  Aber  auch  einzelnes  andere.  Ich 
bin  weit  entfernt,  dem  herausgeber  des  gedichtes  daraus  einen  Vorwurf  zu  machen. 
Handelt  es  sich  doch  dabei  größtenteils  um  dinge,  deren  Verständnis  ebensowohl 
eingehende  kenntnis  der  Verfassungsgeschichte  wie  eine  nur  an  ort  und  stelle  er- 
werbbare Vertrautheit  mit  der  topographie  meiner  Vaterstadt  voraussetzt.  Es  gilt 
eben  auch  für  diese  kulturhistorisch  so  lehrreiche,  ästhetisch  aber  recht  unbedeutende 
dichtung  das  wort 

'Wer  den  dichter  will  verstehen, 

muss  in  dichters  lande  gehen.' 

Bei  der  bedeutung,  die  der  Nürnberger  meistergesang  in  der  literaturgeschichte, 
der  schwerttanz  in  der  Volkskunde  spielt,  sind  daher  vielleicht  die  folgenden  bemer- 
kungen  manchem  leser  der  Zeitschrift  nicht  unwillkommen. 

Was  zunächst  die  person  Österreichers  betrifft,  so  wäre  es  ein  grosser  Irrtum, 
mit  Schneider  s.  3489  anzunehmen,  er  habe  fingiert,  1561  dem  schwerttanz  'als 
kleiner  knabe'  zugeschaut  zu  haben.  Denn  auch  wenn  wir  nicht  durch  Goedeke  ' 
und  Tli.  Hampe  ^  wüssten,  dass  bereits  1558  meistergesänge  Österreichers  im  druck 
erschienen  sind,  die  er  also  sozusagen  als  säugling  müsstc  gedichtet  haben,  so  sagt 
ja  Schneider  selber  eine  seite  vorher  und  wenige  selten  nachher  das  gegeiiteil  seiner 
erstangeführten  behauptung.  S.  354  druckt  er  ja  das  schon  im  folgenden  Jahr  1562 
erschienene  geistliche  gedieht  Österreichers  auf  die  pestilenz  ab,  und  s.  347  anm.  1 


1)  Grundriss  2,  260,  41  f. 

2)  Hans  Sachs-forschungen,  licrausg.  von  A.  L.  Stiefel,  Niirnl)erg  1894,  s.  399. 

ZEITSCIIKIFT    F.    DEUTSCHK    IMII I-OLOC IK.      JU).  XUI.  7 


98  GEP.HARDT 

stellt  er  selber  ihn  uns  im  jähr  1B66   als   bürger   und   poeten  vor.     Fürwahr,  ein 
sehr  plötzliches  ausziehen  der  kiuderschuhe ! 
Österreichers  worte  (vers  326  f. ) 

Ich  lieff  mit  als  ein  kleiner  pub 
Und  wolt  auch  sehen  diesen  strauss 

besagen  doch  auch  sprachlich  nichts  weiter,  als  dass  er  wie  ein  kleiner  junge,  mit 
der  neugierde  eines  kleinen  jungen  dem  meuschenschwarm  nachgelaufen  ist. 

Wir  wissen  nicht  viel  über  Österreicher.  Herrn  direkter  Hampe  verdanke 
ich  den  nachweis,  dass  in  dem  IV.,  die  jähre  1569  bis  1571  umfassenden  Nürn- 
berger totenbuch  des  kgl.  kreisarchivs  daselbst  sich  zum  31.  mai  1571  auf  blatt  177 
der  eintrag  befinde:  'Ambrosius  Österreicher,  maier  in  der  Ledergassen,  f  im  Spittal' 
und  gegenüber  'der  vormundtpieter  hat  angetzaigt  er  konns  nit  erfragen  [nämlich, 
wie  es  sich  mit  der  Verwandtschaft,  den  erben  usw.  verhält],  actum  den  21t.  july 
1571'.  Ob  aber  dieser  maier  A.  Ö.  mit  dem  dichter  und  'teutschen  Schreiber'  iden- 
tisch ist? 

Als  ich  mir  am  10.  September  1909  das  buch  am  kgl.  kreisarchiv  selber  vor- 
legen Hess,  las  ich  aber  deutlich  Lodergasseu,  nicht  Ledergassen,  was  für  uns  von 
bedeutuug  ist. 

'Das  buch  d^  ustorbe'  des  Heilig-Geist-spitals  '  enthält  zum  31.  mai  1571  nur 
den  eintrag: 

'81  /  starb  arabrosi9  /  Österreicher  ein  maier'. 

Nun  besitzt  nacli  den  'Libri  literarum'  des  Nürnberger  Stadtarchivs,  d.  h.  den 
bei  amte  verbliebenen  abschriften  gerichtlicher  Verlautbarungen,  band  XIII,  blatt  62''. 
63,  ein  Hermann  Österreichler)  am  Eritag  vor  Sannt  Mertinstag  1495  ein  haus  in 
der  Lodergasse,  der  jetzigen  Ottostraße,  das  er  nach  Libri  lit.  XI,  25'»,  wo  aber  die 
belegenheit  nicht  angegeben  ist,  am  montag  nacli  Bonifacius  1494  von  Michel  und 
Elsbeth  Schmid  gekauft  hatte-. 

Wenn  nun  unser  Ambrosius  Österreicher  identisch  mit  dem  1B71  mai  31 
begrabenen  maier  A.  Ö.,  oder  wanin  er  der  erbe  jenes  Hermann  Österreicher  war, 
möglichkeiten  von  denen  sowohl  die  eine  wie  die  andere,  wie  auch  aUe  beide 
denkbar  sind,  so  stimmt  zur  läge  seines  hauses  in  der  Lodergasse  vortrefflich  seine 
angäbe  vors  22,    dass  er   nicht   weit   von    seiner  wohnung  in   die  Kotgasse  kommt. 

Es  ist  nämlich  ein  widriges  schicksalsspiel,  dass  von  den  zwei  nach  dem 
alten  druck  möglichen  lesungen  Kotgassen  und  Korgassen  der  herausgeber  nicht 
die  einzig  mögliche  erste,  sondern  die  sachlich  unmögliche  zweite  in  den  text  auf- 
genommen hat. 


1)  Nürnberger  Stadtarchiv  S  XVII  a,  120  in  fol.,  ohne  seitcnzählung,  aber 
nach  der  zeit  angeordnet,  umfassend  die  jähre  1536—1577. 

2)  Wenn  Hermann  Österreichers  haus,  Lib.  lit.  XXII,  18 'J,  am  Pflnztag  nach 
sant  Franciscen  tag  1506  und,  XXIII,  111,  mitwoch  nach  Martini  1508  als  in  der 
Ledergassen  gelegen  erwähnt  wird,  so  beruht  diese  angäbe  sicher  gleich  Hampes 
zitat  auf  einem  nicht  allzu  seltenen  lesefehler  e  für  o,  also  Ledergasse  für  Loder- 
gasse, denn  das  haus  kommt,  XXFV,  10,  zum  29.  november  1507  vor  als  austossend 
an  das  hinterhaus  eines  anwesens  'an  der  Schmidgassen',  d.  i.  der  jetzigen  Ludwigs- 
strasse und  gegenüber  der  Jakobskirche.  Lodergasse  und  Schmidgasse  aber  laufen 
parallel  zu  einander  an  beiden  selten  eines  häuserblocks,  während  die  Ledergassen 
gauz  wo  anders  liegen. 


ZV  AJimtosirs  (Österreichers  schwerdttaxz  99 

Denn  eine  Korgasse  hat  es  in  Nürnberg  nie  gegeben,  wohl  aber  eine 
Kiitgasse.  Und  zwar  werden  wir  unten  sehen,  dass  sicher  diese  gemeint  ist.  Kot- 
fjasse  ist  der  alte  name  für  die  jetzige  Brunnengasse,  eine  der  nächsten  und 
bequemsten  Verbindungen  von  der  gegend  bei  St.  Jakob  nach  Sanct  Lorentzen. 
Dieser  name  Kotgasse  ist  im  täglichen  verkehr  noch  in  der  Jugend  der  jetzt 
zum  absterben  kommenden  geueration,  also  noch  bis  über  die  mitte  des  19.  Jahr- 
hunderts, gebräuchlich  gewesen,  und  so  finde  ich  ihn  auch  noch  1842  in  einem 
halbamtlichen  adressbuch  in  klammer  neben  dem  jetzigen  namen  Brunnengasse 
aufgeführte  Auch  in  der  literaturgeschichte  ist  sie  nicht  ganz  unbekannt:  in  ihr 
war  Hans  Sachs  geboren  -. 

War  nun  auch  die  Kotgasse  eine  der  bequemsten,  so  war  sie  doch  nicht  die 
bequemste  Verbindung  zwischen  den  gegendeu  um  die  Jakober  und  die  Lorenzer 
kirche  an  sich.  Allein  wenn  Österreicher  vorgibt,  er  sei  zufällig  zum  schwerttanze 
gekommen,  so  fällt  er  gerade  damit  aus  der  rolle,  dass  er  in  die  Kotgasse  kommt 
und  verrät  sich,  dass  es  seine  absieht  war,  zu  des  'alten  herrn  Im  Hoff'  hause  zu 
gehen,  wo  er  wusste,  dass  die  messerer  tanzen  würden. 

Und  abgesehen  davon,  dass  vermutlich  der  schwerttanz  der  messerer  eine  auf- 
führuug  war,  auf  die  die  Nürnberger  damals  mit  vielleicht  der  gleichen  Spannung 
warteten  wie  kürzlich  auf  das  luftschiff  des  grafen  Zeppelin  und  heute  auf  den 
Parseval-ballon,  und  der  tanz  vor  den  ältesten  im  rat  jedesmal  stattfand,  abgesehen 
davon  glaube  ich,  dass  unser  dichter  höchstwahrscheinlich  nahe  beziehungen  zu 
messerermeisteru  seliger  hatte. 

Nach  dem  Protokoll  des  schwerttanzes  1561^  befand  sich  unter  denjenigen 
meistern  'die  neben  vnd  vmb  die  Eosen  getantzt',  auch  Endres  Österreicher,  und 
unter  den  gesellen  ein  Hanns  Österreicher*,  vielleicht  Endres'  söhn. 

Und  wenn  wir  auch  trotz  der  gleichheit  des  immerhin  nicht  gerade  sehr 
häufigen  familieunamens  noch  nicht  auf  Verwandtschaft  zu  schliessen  brauchen,  so 
war  der  messerer  Endres  Österreicher  ein  nachbar  des  maiers  Österreicher  in  der 
Lodergasse,  denn  wir  finden  in  dem  Verzeichnis  der  ins  Hl.  Geistspital  aufgenom- 
menen^ in  der  rubrik  mit  der  Überschrift  'Ao  1605  hereingekommen'  folgenden 
eintrag  'Margretha  Österreichin.  Andreaß  Osterreichen  geweßnen  messerschmidts 
hind'laßue  Tochter.  In  der  Engletsgaß.  bürg,  den  23  Marti  1605',  und  in  der 
zweiten  'hinaus,  den  14.  October.  Ao  160.5'.  Zwar  können  in  dem  namen  der  gasse 
der  fünfte  und  sechste  buchstabe  ebensogut  als  n  und  d  oder  als  blosse  Schnörkel 
gelesen  werden.  Allein  die  abkürzung  kann  nicht  anders  verstanden  werden  denn 
als  Engelhardsgasse  und  diese  stösst  im  rechten  winkel  auf  die  Lodergasse, 
und  zwar  an   dem   nach   dem   stadtinneren   gehenden,   also   verkehrsreicheren   ende 

1)  Vollständiges  adressbuch  und  handlungssclicmatisuius  der  stadt  Nürnberg 
und  des  ganzen  Burgfriedens.  Nach  den  besten  quellen  bearbeitet.  Nürnberg  1842. 
Verlag  von  Carl  Felssecker,  s.  104  f.,  109  ff. 

2)  Ernst  Mummenhoff,  Hans  Sachs.     Nürnberg  1894,  s.  6f. 

3)  Der  Messerer  Schwcrtttantz,  wie  der  Im  1661  ten  lar  von  einem  ganntzen 
Hanndtwerck  In  der  Löblichen  Eeichsstadt  Nuremberg  von  Maisteni  Gesellen  vnnd 
Puben  zu  löblicher  gedechtnus  Irer  Alke«  Freyiieiten  gehallten  vnnd  getanntzet 
worden  Ist,  in  einem  sammelbande  der  messererzunft  —  dem  von  Müllenhoff,  Festg. 
f.  Homeyer  s.  119  für  verschwunden  erklärten?  -  jetzt  im  städtischen  archiv  zu 
Nürnberg  unter  der  sign.  'Messerer  1',  fol.,  blatt  6  rückseite. 

4)  Ebd.  blatt  10  vorders. 

5)  Städtisches  archiv  S  XVII ->,  122  fol.,  blatt  132. 


100  OEBHARDT 

beider    gassen,    sodass   wir    annehmen    können,    die    beiden    männer   hatten    schon 
manches  stückleiu  weg  miteinander  gemacht. 

In  dem  protokoll  über  den  schwerttanz  1570 '  hab  ich  keinen  Österreicher 
melir  gefunden,  wohl  aber  in  dem  stück  'Steur  augelegt  In  das  verprentt  greifcn- 
burck  1567  lar  an  16  ~  Junius' '•  -.     Da  gibt  Hanns  Österreicher  15  ^. 

Bei  der  Sammlung  zum  ersatz  für  drei  aus  der  truhe  des  messererhandwerks 
in  der  Lorenzkirche  um  1567  gestohlenen  Leücht-Tüecher  gibt  Endres  Ostereicher 
mit  noch  fünf  anderen  zusammen  20  J)  ^ 

Auch  hieraus  können  wir  vielleicht  auf  eine  Verwandtschaft  unseres  Ambro- 
sius  mit  der  niessererfamilie  Österreicher  schliessen,  dass  diese  1567  zum  letzten 
mal  vorkommt,  und  dass  nach  Ambrosius'  tode  der  Vormundbieter  keinerlei  Ver- 
wandtschaftsverhältnisse ausfinden  kann.  Aber  beim  heutigen  stände  der  akteu- 
repertorisierung  sind  das  alles  vorläufig  noch  offene  fragen. 

Was  aber  Schneider  mit  den  Worten  s.  348  25  'zur  stadt  hinaus  zum  hause 
des  ersten  ratsherrn'  meint,  das  ist  mir  schlechterdings  unverständlich.  Von  einem 
austritt  aus  der  stadt  ist  mit  keinem  werte  die  rede.  Denn  wenn  der  dichter  sagt 
35  Als  ich  kam  durch  die  gassen  nauss 
Fürs  alten  Herren  im  Hof  hauss 
so  bedeutet  das  [hijnaus  eben  nur  den  Übergang  aus  der  engen  Kotgasse, 
die  gelegentlich  im  gegensatze  zu  der  ihr  näclist  liegenden  Breiten  auch  die 
Schmale  gasse  hiess  ^,  auf  den  offenen,  freien  Loreuzer  platz.  Dieser  aber  und 
sämtliche  au  und  nahe  bei  ihm  liegenden  Imhötfischen  häuser  lagen  und  liegen  in 
der  inneren  stadt,  nicht  nur  innerhalb  der  dritten  und  letzten  um  1380  angelegten 
umwallung,  sondern  noch  innerhalb  der  vorhergehenden  zweiten. 

Nach  Lochner*  waren  zu  beginn  des  16.  Jahrhunderts  eine  ganze  anzahl  von 
häusern  in  der  nähe  der  Lorenzkirche  in  Imhöffischem  besitz.  In  betracht  kommt 
aber  höchstwahrscheinlich  nur  das  tafel  XVHI  angedeutete  jetzt  bankier  Kohnsche 
eckanwesen  Königsstrasse  24,  26  und  Bruunengasse  2,  alte  nummern  L  367,  368, 
369,  also  die  ecke  der  hier  zu  einem  platze  erweiterten  Königsstrasse  und  der  ehe- 
maligen Kotgasse,  dessen  aussen-  und  Innenansichten  um  1700  uns  in  Zeichnungen 
von  J.  A.  Böner '"  erhalten  sind. 

Schon  die  ganze  darstellung  Österreichers,  sein  weg  durch  die  Kotgasse  und 
vor  allem  das  sichstauen  der  menge  gerade  am  ausgang  der  Kotgasse  sprechen 
deutlich  für  dieses  unter  den  vielen  ImhöfSschen  häusern,  das  auch  sonst  bekannt 
ist  durch  die  legende,  die  sich  daran  knüpft.  Im  jähr  1386  soll  nach  einem  gast- 
mahl  der  damalige  besitzer  dieses  hauses,  auch  schon  ein  Im  Hoff,  einen  goldenen 
becher  vermisst  und  des  diebstahls  daran  seinen  alten  treuen  dieuer  bezichtigt 
haben,    der    denn    auch  trotz  allen  leugnens  hingerichtet  wurde.     Als  dann  Im  Hoff 

1)  Im  sammelband  'Messerer  1'  des  Stadtarchivs. 

2)  Das  nürnbergische  Städtchen  Gräfenberg  —  Wirnts  Vaterstadt  —  war  am 
4.  juni  1567  vollständig  abgebraunt  durch  die  Unvorsichtigkeit  eines  pferdeknechtes, 
der  beim  reiten  in  die  schwemme  den  kienspan  an  einer  hölzernen  säule  im  stall 
hatte  brennen  lassen.  Vgl.  G.  K.  Adler,  Geschichte  und  beschreibung  des  Städtchens 
Gräfenberg,  Nürnberg  1850,  s.  52  f. 

3)  Mummenhoff  a.  a.  o. 

4)  Topographische  tafeln  zur  geschichte  der  reichsstadt  Nürnberg.  Heraus- 
gegeben  von   Georg  Wolfgang  Karl  Lochner.     Dresden  [1874],   tafel  XVII.   XVIIl. 

5)  Nachgebildet  bei  Hugo  Barbeck,  Altnürnberg,  niappe  7,  Nürnberg  1896, 
tafel  5  und  mappe  11  [o.  j.,  zwischen  1896  und  1900],  tafel  7. 


zu   AMBROSIUS    ÖSTERUEICHERS    SCHWERDTTAXZ  101 

den  becher  in  seinem  eignen  geheimschranke  fand,  wurde  zum  ewigen  gedächtnis, 
dass  er  eigentlich  selbst  den  tod  durch  den  strick  verdient  habe,  ein  solcher  über 
seiner  haustüre  aufgehängt,    wo    er  Jahrhunderte  lang  zu  sehen  gewesen  sein  soll '. 

Dieses  haus  ist  auch  auf  dem  plane  hinter  dem  XI.  bände  der  Chroniken 
deutscher  städte  mit  dem  titel  'Nürnberg  im  16.  und  16.  Jahrhundert'  unter  nr.  43 
als  'Andi-eas  Imhofl'  bezeichnet.  Freilich  ist  die  quelle  für  diese  angäbe  nicht 
nachgewiesen.  Allein  da  dieser  plan  nach  angaben  Hegels  s.  888  unter  mithife  des 
damaligen  stadtarchivars  Lochner  gefertigt  ist,  so  dürfen  wir  die  bezeichnung  als 
zuverlässig  betrachten. 

Auf  diesen  plan  verweise  ich  auch  für  andere  noch  vorkommende  örtlich- 
keiten, und  kann  mit  rücksicht  darauf  die  ursprünglich  beabsichtigte  beigäbe  einer 
kartenskizze  zu  diesen  ausfükrungen  unterlassen.  Das  haus  Furtenbachs  wäre  auf 
diesem  plane  in  feld  C  3  einzutragen,  da  wo  die  buchstaben  b  und  L  von  'unter- 
hall) Lorenzen'  an  den  häuserblock  östlich  davon  rühren.  Der  'Herrenmarkt'  steht 
auf  ihm  als  'Salzmarkt'. 

Es  ist  nämlich  ferner  ein  irrtum,  wenn  Schneider  s.  349  8  und  anm.  6  angibt, 
die  bezeichnungen  'Herrenmarckf  vers  7.  240.  319,  marckt  286.  309.  324  und  platz 
31.5  seien  ein  und  dasselbe.  Der  dichter  sagt  ja  ausdrücklich,  dass  er  an  den 
Herren  Marckt  hinaufgeht  (819),  weil  ihm  am  Marckt  (309)  der  platz  zu  eng  wurde 
(316).  Unter  Herrenmarckt  ist  also  etwas  anderes  zu  verstehen  als  unter  Marckt, 
nämlich  der  strassenähnliche  nordwestliche  ausläufer  des  marktplatzes,  etwa  vom 
Schönen  brunuen  bis  zur  Sebalduskirche  -,  während  Marckt  bei  Österreicher  eben  den 
eigentlichen  markt  platz  meint.  Dass  heute  auch  offiziell  beide  unter  dem  einen 
namen  Hauptmarkt  zusammengefasst  sind,  und  eine  häuserzählung  durch  beide 
durchgeht,  tut  nichts  zur  sache:  noch  in  meiner  jugeud  wurden  in  der  täglichen  Um- 
gangssprache beide  als  Herrenmarkt  und  Markt  oder  Marktplatz  auseinandergehalten. 
Da  beim  Schembart  bisweilen  die  'hölle'  vor  dem  rathause  gestürmt  oder  verbrannt 
wurde,  so  sind  uns  gerade  in  den  Schembartbüchern  des  öfteren  abbildungen  der 
obersten,  dem  rathause  schräg  gegenüberliegenden  häuser  am  Herrenmarkt,  vor 
allem  der  alten  von  Bayern  abgerissenen  'Schau',  als  hintergrund  erhalten,  so  auf 
blatt  12/13  des  Schembartbuchs  der  Hamburger  stadtbililiothek''  als  hintergrund  zur 
abbildung  der  hölle  beim  letzten  Schembart  1639,  sodann  in  demjenigen,  das 
M.M.Mayer  benutzt  hat,  als  hintergrund  zum  'zämertanz'  der  metzgerS  und  wie 
es  nach  Müllenhofts  andeutung''  scheint,  auch  im  Berliner  cod.  Germ.  fol.  442,  3, 
blatt  86  \ 

Dass  endlicli  platz  (315)  kein  eigenname  einer  bestimmten  örtlichkeit, 
sondern  gleichbedeutend  ist  mit  räum,  ergibt  sich  schon  aus  dem  Wortlaut  der 
platz  wurd  beengt. 

1)  J.  M.  Lotter,  Sagen,  legenden  und  geschichten  der  Stadt  Nürnberg,  Nürn- 
berg 1896,  nr.  106. 

2)  Lochner,  tafel  VIE. 

3)  Herausg.  von  Karl  Drescher,  Weimar  1908. 

4)  Des  alten  Nürnbergs  sitten  und  gel)räucbe  geschildert  von  Moritz  Maxi- 
milian Mayer,  I.  abteilung,  erstes  lieft,  Nürnbergisches  Schembartbuch,  Nürnberg 
1831,  abb.  vor  seite  25. 

5)  Festg.  für  Homever  s.  119. 

6)  Nach  einer  pause,  die  mir  herr  professor  Drescher  davon  zu  nclimcii  die 
gute  hatte,  ist  es  die  den  westlichen  abschluss  des  marktplatzes  bildende  südliche 
fortsetzung  jener  häuserreihe  (korrekturnote). 


102  GEBHARDT 

Nach  seinen  Worten  349  n,  der  tanz  am  abend  des  zweiten  tages  finde  statt 
'am  Fortenbach',  scheint  Schneider  den  Fortenbach  für  ein  dnrch  die  stadt  fliessen- 
des  gewässer  zu  halten. 

Des  dichters  werte  (vers  352) 

Sie  gieugen  ein  zum  Fortenbach 

besagen  aber  deutlich,  dass  die  schwerttänzer  iu  das  nachmals  Waldstromerische, 
jetzt  Kuglerische,  haus,  alte  nr.  L  11,  neue  Königsstrasse  11,  eintraten,  das  der 
bekannte  Bonaventura  Furtenbach  1503  erworben  hatte  und  bis  zu  seinem  tode 
1564  juni  24  bewohnte  K 

s  Stromers  haus  (vers  328)  vermag  ich  nicht  zu  bestininien,  wie  es  denn 
gerade  bei  den  angehörigen  der  ratsfähigen  geschlechter  mit  ihren  ruhigen  ge- 
sicherten Verhältnissen  überhaupt  oft  sehr  schwierig  ist,  festzustellen,  wo  sie  ge- 
wohnt haben,  da  nach  Nürnberger  recht  nur  verkaufe,  nicht  aber  besitzüber- 
tragungen  im  erbgang  verbrieft  wurden.  Nach  Biedermann  -  waren  damals  nur 
zwei  erwachsene  männUche  glieder  dieses  geschlechts  in  Nürnberg  vorhanden : 
Hans  IV,  des  reiches  Stadt-,  blut-  und  bannrichter,  geb.  1517  nov.  1,  -{-  1592  und 
Fritz  Friederich,  alt  genannter,  geb.  1522  juli  8,  ■]-  1580  aug.  30,  von  denen  aber 
nur  der  letztere  in  betracht  kommt,  da  Hans  'um  Entleibung  eines  Edelmanns 
Tfillen  durch  das  Kriegsrecht  zum  Todt  verurteilt,  aber  von  E.  E.  Rath  zu  Nürn- 
berg zu  ewiger  Gefängniß  erbetten'  sich  von  1554  au  bis  zu  seinem  tode  1592  'in 
solcher  gefängniß'  befand  ^  Darum  nennt  auch  das  protokoU  wie  deii  Fortenbach, 
so  auch  nur  den  herrn  Stromer,  während  alle  anderen,  dort  sowohl,  wie  bei  Am- 
brosius  Österreicher,  entweder  durch  den  vornamen  oder  den  titel  näher  bezeichnet 
sind,  z.  b.  'der  alte  herr  Im  Hoff'  oder  'Enndres  Im  Hoif' ,  'heiT  Barnabas  Bömer'. 
Al)er  wo  Fritz  Friederich  gewohnt,  liesse  sich  wohl  nur  feststellen,  wenn  sein  haus 
einmal  als  nachbarhaus  zur  bestimmung  der  läge  anderer  angegeben  ist.  Darauf- 
hin sind  aber  leider  die  Libri  lit.  aus  der  zeit  um  1560  noch  nicht  repertorisch 
bearbeitet.  Das  stattliche,  jetzt  Meisenbachische,  haus  des  berühmten  Ulmann 
Stromer  am  Markte,  alte  nr.  S  880,  neue  Obstgasse  2*,  war  seit  1479  nicht  mehr 
in  Stromerischem  besitz  ^,  und  'Stromer  zu  den  Rosen' "  kommt  wiegen  seiner  läge 
in  der  Dillinggasse,  der  jetzigen  Theresienstrasse,  wohl  nicht  in  betracht. 

Wenn  Schneider  s.  348  anm.  4  sagt  'wie  der  zusatz  „alter  herr"  ergibt, 
kann  1661  kein  anderer  als  Johann  II  Imhoff...  der  gemahl  der  Felicitas 
Pirkheimer  .  .  .  gemeint  sein',  und  sich  dafür  mit  einem  hässlichen  druckfehler  auf 
Witt  statt  Will,  Nürnberg.  Gelehrteulexikon  II,  231  beruft,  so  behaupte  ich  mit 
mindestens  eben  derselben  Sicherheit:  wie  der  zusatz  'alter  herr'  ergibt,  kann  1561 
unmöglich  Johann  II  Im  Hoflf,  sondern  kann  kein  anderer  gemeint  sein  als  sein 
jüngerer  bruder  Endres  Im  Hoff  (der  ältere),  geboren  1491  nov.  29,  der  1523  in 
den  rat  und  zum  jungen   bürgermeister,    1529   zum   alten   bürgermeister,  1539  zum 

1)  [Georg  "N^'olfgang  Karl]  Lochner,  Die  noch  vorhandenen  abzeichen  Nürn- 
berger häuser.    Nürnberg  1855,  s.  45  und  desselben  Topographische  tafeln,  tafel  XVII. 

2)  Johann  Gottlieb  Biedermann,  Geschlechtsreirister  des  hochadeligen  patriciats 
zu  Nürnberg.     Bayreuth  1748,  tafel  467.  469. 

3)  AVappenbuch  des  Germ.  mus.  7178  foL,  s.  77. 

4)  Plan  hinten  iu  Chron.  d.  deutsch,  städte  XI,  nr.  36,  feld  C  2. 

5)  [Lochner,]  Abzeiclien  s.  9  f. 

6)  Plan,  nr.  37,  feld  C  2. 


zu   AMBROSIUS    ÖSTERRER'HEKS    S(H\VI-:UI)rr.\NZ  103 

alten  herrn,    1544  zum  obersten  hauptmann  und  losungsherrn  gewählt  worden  war 
und  als  solcher  1579  okt.  28  gestorben  ist,  nachdem  er  56  jähre  'regiert'  hatte  '. 

Ein  bildnis  von  ihm  gibt  Reicke  in  dem  in  der  nächsten  anmerkung  an- 
geführten werke  s.  282  wieder.  >  In  seiner  jugeud  war  Endres  Im  Hoff  selber  der 
beteiligung  au  öffentlichen  lustbarkeiten  nicht  abgeneigt  gewesen,  und  so  wissen 
wir  von  ihm  aus  den  Schembartbüchern,  z.  b.  demjenigen  der  Ambergerschen 
Sammlung  in  der  Nürnberger  stadtbibliothek  nr.  427,  blatt  60,  dass  er  1518,  also 
in  seinem  28sten  jähre,  im  Schembart  mitgelaufen  ist. 

Es  ist  eben  das  missliche,  dass  man  solche  dinge  aus  dem  alten  Nürnberg 
nicht  kommentieren  kann,  ohne  zu  beachten,  dass  iu  dem  damaligen  Nürnberger 
Sprachgebrauch,  der  ebenso  verknöchert  war  wie  die  ganze  streng  oligarchische 
reichsstädtische  Verfassung,  dass  da  die  wortgruppe  alter  herr  durchaus  nicht  im 
natürlichen  sinn  zu  verstehen  ist,  sondern  eine  ganz  bestimmte  Stellung  innerhalb 
des  rates  angibt,  genau  wie  ein  jeder  angehörige  der  'geschlechter'  von  seinem 
eintritt  in  den  rat  an  den  titel  alter  genannter  führte,  wenn  er  auch  noch  so 
jung  war,  im  gegensatz  zu  den  gewöhnlichen  genannten,  die  aus  den  'ehrbaren' 
gewälilt  waren  und  kaum  ein  anderes  recht  hatten,  als  dass  sie  siegelmässig  waren. 

Da  auch  bei  Hans  Sachs  und  anderen  dichtem  öfters  auf  die  Nürnberger 
Verfassungsverhältnisse  angespielt,  beziehungsweise  ihre  kenntnis  voraus-gesetzt  wird, 
so  mag  es  erlaubt  sein,  auch  hier  in  dieser  germanistischen  Zeitschrift  die  Zu- 
sammensetzung des  rates  in  der  'freien'  reichsstadt  Nürnberg  kurz,  scheniatisch, 
anzugeben,  unter  vorausschickung,  dass  in  der  regel  nur  derjenige  zu  den  höheren 
ämtern  berufen  werden  konnte,  der  vorlier  die  niederen  bekleidet  hatte,  und  dass 
die  8  handwerker  überhaupt  zu  keinen  eigentlichen  ämtern  zugelassen  wurden.  Sie 
wurden  auch  nicht  regelmässig  zu  den  Sitzungen  zugezogen  und  hatten  auch  dann 
kaum  etwas  zu  sagen,    sondern   waren   bloss   eine   art  saalordncr  und  türschliesser. 

Es  Sassen  also  im  rate : 
2  losunger,  duumviri,  .    3  .^erstehauptleut 


quaestores,  ,        ,  . 

'  '        triumviri, 


7  fbisw.  8)  alte 
herren, eheste, 
septemviri. 


13  alte  bürger- 
iiieister,con- 
sules, 


1  Obersterhauptmann, 
4,  bisweilen  5,  alte  herren,  elteste, 
6,  bisweilen  6,  alte  bürgerraeister, 
13  junge  bürgermeister, 

26  bürgermeister, 
8  alte  genannte, 

34  ratsherren,  durchweg  aus  den  'geschlechtern', 
8  handwerker,  je  einer  aus  acht  bestimmmten  gewerben, 

42  bürger  des  rats. 

1)  Biedermann,  tafel  244.  Ferner  u.  a.  handscliriftliches  -Eathsliuch  der  Statt 
Nurmberg  .  .  .  von  mir  N.  M.  beschriben  Anno  Cliristi  1619',  in  kleinstem  4'°  auf 
der  Stadtbibliothek,  Sign.  Amb[ergersche  Sammlung]  88  4*",  angeordnet  nacii  den 
jähren  der  wähl  in  den  rat,  zum  jähr  1523. 

Ein  anderes  anonymes  'Nürnbergisches  Eathsbucb',  Amb  376  fol..  mit  schönen 
gemalten  wappen,  nach  dem  abc  der  geschlechternanien  angelegt  ende  des  17.  Jahr- 
hunderts, letzter  eintrag  1737,  lässt  ihn  blatt  41  vord.  schon  1543  zum  obersten 
hauptmann  und  dann  das  jähr  darauf  zum  losunger,  1565  zum  schultheissen  wählen. 

Er  war  der  erste,  der  mit  dem  losungeramte  das  des  reiclisschultheissen  ver- 
band, das  vorher  stets  von  nichtpatrizischen  adeligen  bekleidet  war. 


104  GERHARDT 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ist  zugleich  ersichtlich,  wie  die  inhaber  der 
obersten  amtssteilen  alle  zugleich  aucli  noch  der  nächstfolgenden  gTuppe  angehören. 
Mit  der  einteiluug  der  26  bürgermeister  in  13  alte  und  13  junge  kreuzte  sich  aber 
noch  eine  andere  in  13  eigentliche  bürgermeister,  consules  i.  e.  s.  und  schöpfen, 
scabini '. 

Da  nun  einerseits  1561  Endres  Im  Hoff  (der  ältere)  losuuger  war,  ein  Johann 
Im  Hoff  aber  überhaupt  nicht  im  rate  sass,  so  ist  es  schon  deshalb  ausgeschlossen,  au 
Hanß  II  zu  denken.  Denn  angenommen,  er  wäre  damals  der  an  jähren  älteste  ge- 
wesen, so  spielt  das  lebensalter  dem  zeremoniell  gegenüber  nicht  die  mindeste  rolle. 

Selbst  wenn  wir  es  aber  nicht  aus  zeremoniellen  gründen  für  ausgeschlossen 
halten  müssten,  dass  der  von  Österreicher  gemeinte  alte  herr  Im  Hoff  Johann  II, 
der  gemahl  der  Felicitas  Pirckheimer  gewesen  sei,  von  dem  es  Schneider  mit  solch 
bestechender  Sicherheit  behauptet,  selbst  dann  hätten  wir  einen  sicheren  beweis, 
dass  er  es  nicht  war :  Hanß  II.  Im  Hoff  war  nämlich  bereits  vor  mehr  als  einem 
dritteljahrhundert,  am  2.  juli  1526,  gestorben-. 

Wenn  nun  Österreicher  sagt: 

V.  251  Sie  werden  tantzen  in  der  stat 
Für  den  vier  eltesten  im  rat, 

Hans  Sachs  dagegen  in  'Der  mesrer  schwertancz  im  1640  jähr': 

die  gestert  mit 
V.  35  Auch  haben  gedanczet  zu  ern 

Vür  den  hewsern  der  sieben  hern, 

so  ist  dieser  Widerspruch  nur  scheiul)ar. 

Wir  sahen  aus  unserer  Zusammenstellung  der  höchsten  ämter,  dass  unter  den 
eigentlich  regierenden  sieben  alten  herren  oder  sieben  eltesten  dreie  noch  eine  be- 
sondere Stellung  iuue  hatten,  nämlich  als  die  obersten  hauptleut,  und  unter  diesen 
"wieder  zweie  als  die  losunger  von  dem  dritten  sich  abhoben. 

Wenn  nun  die  schwerttänzer  von  des  alten  herrn  Im  Hoff  haus  abziehen  und 
noch  vor  denen  der  'vier  eltesten'  zu  tanzen  haben,  so  gebraucht  eben  Österreicher 
die  bezeichnung  die  vier  eltesten  in  dem  sinne  'diejenigen  vier  unter  den  sieben 
eltesten,  die  nicht  ein  noch  höheres  amt  bekleiden',  während  Hans  Sachs,  wenn 
er  am  zweiten  festtage  von  den  begebenheiten  des  ersten  erzählt,  die  drei  obersten 
hauptleut  und  die  übrigen  vier  eltesten  als  die  sieben  hern  zusammenfasst. 

Ja,  vielleicht  können  wir  sogar  einen  weitereu  schluss  auf  das  zeremoniell 
aus  der  erzählung  Österreichers  ziehen. 

Im  rate  vollzog  sich  nämlich  die  abstimmung  nicht  so,  dass  zuerst  der  erste 
losunger,  dann  der  zweite  losunger,  dann  der  dritte  oberste  hauptmann,  dann  der 
viertälteste   herr   seine   stimme   abgegeben   hätte  usw.,   sondern  es  war  eine  andere 

1)  Vgl.  hierzu  z.  b.  Merlans  Topographia  Franconise,  Frankfurt  a.  M.  [1650], 
s.  69  oder  den,  übrigens  sehr  schwer  verständlichen,  brief  Christophs  Scheurls  an 
.Johann  Staupitz  vom  15.  dezember  1516,  abgedruckt  bei  Joli.  Christoph  AVagenseil, 
De  civitate  Noribergensi  commentatio,  Altdorf  1697,  p.  191  ff.  und  in  alter  deutscher 
Übersetzung  in  Chroniken  deutscher  städte  Bd.  XI :  Nürnberg,  Bd.  V,  Leipzig  1874, 
s.  785  ff.,  oder  Emil  Reicke,  Geschichte  der  reichstadt  Nüi-nberg,  Nürnberg  1896, 
s.  260  ff. 

2)  Biedermann,  Tafel  235. 


zu   AMBROSIU«    ÖSTERREICHERS   SCHWERDTTAXZ  105 

mit  grossem  Scharfsinn,  um  nicht  zu  sagen,  grösster  Spitzfindigkeit  ausgetüftelte 
reihenfolge  üblich  \ 

Nach  der  handschrift  des  Germauischen  museums  31 794,  einem  bis  1762 
reichenden  Rathsbuch  in  fulio,  in  der  gleichfalls  bei  jeder  neuaufziihlung  des  rates 
vor  jedem  namen  eines  ratsmitgiiedes  die  zahl  beigefügt  ist,  nach  der  er  'an  der 
frag'  war,  war  Endres  Im  Hoff,  obgleich  losunger,   dennoch  der  dritte  an  der  frag. 

Wenn  nun  beim  wegzug  von  Im  Hoffs  hause  noch  vor  vier  eltesten  zu  tanzen 
übrig  war,  so  scheint  daraus  hervorzugehen,  dass  auch  bei  solchen  huldigungen  der 
Itürgerschaft  vor  den  herrschenden  die  gleiche  reihenfolge  eingehalten  werden 
iiiusste,  wie  sie  innerhalb  des  rates  bei  der  abstimmung  üblich  war. 

Möglich  ist  aber  auch  eine  andere  auffassuug  der  zahlangabe.  Im  Protokoll 
blatt  14,  rückseite,  finden  wir  unter  den  einnahmen  auch  verzeichnet,  es  habe  ver- 
ehrt: 'H.  Endres  Im  Hoff  3  thaler,  H,  Linhart  Tucher  vnd  H.  Iheronimus  Baumgartner 
leder  3  thaler,  H.  Jacob  Muffel  3  thaler,  H.  Barnabas  Bemer  4  thalcr  und  H.  Sebald 
Haller  3  thaler'. 

Also  haben  fünf  herren  den  gleichen  betrag  von  3  talern  gegeben.  Da 
wir  nun  wissen,  dass  vor  Endres  Im  Hoff  getanzt  wurde,  und  da  ferner  die  übrigen 
4  drei-taler-schenker  auch  'alte  herren'  waren,  so  fällt  es  auf,  warum  die  beiden 
übrigen  alten  herren  dieses  amtsjahrs,  Jobst  Tetzel,  der  damals  'der  erste  an  der 
frag'  war,  und  Caspar  Xützel  sich  weniger  erkenntlich  für  die  huldigung  zeigten 
als  die  anderen.  Caspar  Nützel  war  aber  schon  im  laufe  des  jahres  1560  gestorben -; 
und  vielleicht  war  Tetzel  damals  abwesend,  so  dass  also  1561  vielleicht 
nur  vor  5  alten  herren  getanzt  worden  ist,  und  wenn  etwa  bei  Endres  Im  Hoff 
angefangen  war,  so  blieb  nachher  noch  vor  vieren  zu  tanzen  übrig,  wie  Österreicher 
vers  261  sagt,  während  die  oben  besprochene  andere  möglichkeit  nur  dann  anzu- 
nehmen ist,  wenn  für  den  im  amtsjahr  gestorbenen  ein  anderer  zum  eiteren  herrn 
aufgerückt  ist,  was  ich  nicht  weiss. 

Der  ratsherr,  der  sich  freigebiger  gezeigt,  als  diejenigen  eltesten,  die  durch 
ihre  3  taler  ihre  erkenntlichkeit  für  die  huldigung  durch  den  tanz  vor  ihren  häusern 
ausgedrückt  haben,  Barnabas  Pömer,  war  seit  1567  'Zeug-Herr' ^  und  hat  durch 
seine  gäbe  eiue  sehr  reichlich  bemessene  gegengabe  geleistet  für  ein  andenken,  das 
ihm  die  zunft  überreicht  hatte,  wie  wir  gleich  sehen  werden.  Dass  dem  haudwerk 
'ein  E.  Rath  Auß  gemeiner  statt  Losungstuben  verehrt  50  thaler' ',  daran  hatte  er 
wohl  keinen  anteil,  er,  der  ja  kein  losunger,  ja  nicht  einmal  alter  herr,  sondern 
nur  altbürgermeister  war^.  So  hatte  der  gute  wille,  den  er  bewiesen,  und  für  den 
er  ein  ganz  besonderes  andenken  erhalten  hatte,  wohl  darin  bestanden,  dass  er  als 
zeuglierr  sich  für  die  Stellung  von  stadtknecliten  und  reitern,  stadt-  und  ratspfeifern 
un  1  trommlern  verwendet  haben  dürfte. 

Vielleicht  mag  nämlich  den  lesern  der  Zeitschrift  auch  mir  einer  weiteren 
rechnerischen  mitteilung  gedient  sein,  nämlich  der,  dass  sowohl  der  herr  Stromer, 
als  der  Fortenbach  durch  ein  andenken  dafür  entschädigt  wurden,  dass  sie  ihre 
häuser   zur  verfüouns:   cestcllt   haben.     Wir  lesen   nämlicli  in  dem  Protokoll  über 


1)  Chroniken  XI,  805  nach  hs.  Germ.  mus.  5052,  4 1». 

2)  Germ.  uius.  31  794  zum  jähr  1560,  blatt  97. 

3)  Biedermann,  Tafel  573  B. 

4)  Protokoll  im  sammelband  'Messerer  1'  des  Stadtarchivs,   blatt  1,  rückseite. 

5)  Rathsbuch  des  Germ.  nius.  31  794  fol.  blatt  97. 


106  (JEBHARDT 

den  schwerttauz  '  'Item  so  haben  wir  vier  Credentz  schaiden  mit  eyseren  messeren 
machen  lassen,  die  wir  hernachuermellten  heiTn  gescheuckt  vnnd  verehrt  haben 
Costen  In  alles  fl  7/  3  •*?  23  nemblich  [1]  herrn  Barnabas  Bömer  eine  d*  vns  dann 
allen  guten  willen  hewisen  hatt.  [2]  Mer  dem  herrn  Stromer  eine,  bey  dem  sich 
die  2  preutt,  auch  Frauen  und  Juuckfraueu  versamblet  haben.  [3]  Mer  dem  Forten- 
pach  eine  da  d«  sehwerttantz  außgangen  vnnd  nachuolgeundts  d^  Frauen  vnd  Junck- 
frauen  tanntz  gewest.  [4]  Mer  dem  Jörg  Thraiuer  eine,  d^  vns  dz  haus  darlnu  ett- 
lich  maister  gezecht  vergunth  hat'. 

Über  den  empfänger  des  vierten  gedenkmessers  finde  ich  in  der  Topochrouo- 
graphia  Noribergeusis  -  folgende  angäbe  'Görg  Trainer  stehet  unter  den  Genanten 
zu  Nürnberg  im  jähr  1537,  wurde  ein  Yiertheilmeister  der  Burgerschaft  im  Jahr  1562". 
Er  war  also  'ehrbar',  was  die  Vorbedingung  zum  genanntenamt  war,  aber  ebenso- 
wenig ratsfähig  wie  der  Fortenbach,  wie  schon  äusserlich  an  dem  mangel  des  titeis 
herr  zu  erkennen. 

Sieht  man  schon  aus  der  'Verehrung'  für  den  guten  willen  an  den  herrn 
Pömer,  dass  damals  den  regierenden  die  annähme  kleiner  geschenke  nicht  als  un- 
recht erschien,  so  darf  vielleicht  bei  dieser  gelegeuheit  noch  auf  einen  auderen 
ähnlichen  umstand  hingewiesen  werden. 

Die  entstehung  des  Schenibarts  der  metzger  wie  des  schwerttanzprivilegs  der 
messerer  sind  in  das  gleiche  mystische  dunkel  gehüllt  wie  der  ganze  aufstand  von 
1349,  auf  den  sie  zurückgeführt  werden.  Bei  diesem  aufruhr  'sollen^  die  messer- 
schmiede  (und  die  metzger)  dem  rate  treu  beigestanden  haben'  sagt  Schneider 
s.  348  anm.  2 :  ist  es  nicht  merkwürdig,  dass  gerade  diejenigen  züufte  ihre  standes- 
genossen im  kämpfe  um  die  bürgerlichen  rechte  im  stich  gelassen  haben  sollen, 
die  fleisch  und  w äffen  liefern?  Gerade  diese  erwägung  ist  wohl  am  besten 
geeignet,  die  richtigkeit  der  alten  begründuug  für  die  Privilegien  zu  bestätigen, 
so  dass  wir  eigentlich  des  hilfszeitworts  sollen  nicht  bedürfen.  Und  selbst  dieses 
Privileg  haben  zwar  nicht  die  messerer,  wohl  aber  die  metzger  wiederum  gar  oft 
um  schnöden  mammon  verkauft,  indem  sie  den  Schembart  an  die  'ehrbaren'  —  d.  h. 
ratsfähigen  und  einige  wenige  aridere,  nicht  ganz  rechtlose,  bürger  —  'vmbs  geld 
zu  kauffen  geben' ;  oder,  wie  es  meist  umgekehrt  ausgedrückt  ist,  wurde  der  Schem- 
bart durch  die  ehrbaren  'bestanden  von  Metzkern'  um  so  und  so  viel  Ü.''. 

Zu  der  angäbe  des  Hans  Sachs,  es  hätten  beim  schvverttanz  1540  431  fechter 
mitgewirkt,  macht  Schneider  s.  348  ein  ausrufezeichen.  Das  staunen  über  diese 
hohe  zahl  ist  begreiflich,  und  nach  dem  protokoll  kommt  auch  diese  zahl  für  15til 
nicht  zustande,  wenn  wir  bloss  die  eigentlichen  schwerttänzer  rechnen.  Wohl  aber 
mag  die  gesamtzahl  aller  beteiligten  diese  höhe  annähernd  erreicht  haben.  Wir 
finden  darin  ausgegeben : 

maister  so  in  der  ersten  rosen  getanzt  haben  28 

„         „    „      „    anndern  „  ,,  „  27 

„         „    „      „    dritten      „  „  „  27 

,,    „      ,,    vierten     ,,  „  ,,  28 

,,         ,,  neben  und  um  die .,  „  „  48 

1)  Stadtarchiv,  im  samnielband  'Messerer  1',  blatt  14  vorn. 

2)  Germ.  mus.  7178,  fol.,  s.  842. 

3)  Von  Gebhardt  gesperrt. 

4)  Z.  b.  1485.  1489.  1490  usf.  Schembartbuch  der  Hbg.  stadtbibl.,  hrsgg.  von 
Drescher  s.  8  ff. 


t 


zu   AMBROSIUS    ÖSTERREICHERS   SCHWERT)  ITANZ  107 

summa  aller  maister  158 

gesellen  89 

meistersöhne  und  lehrjungen  114 

alte   maister   so  vor  dem  schwerttanz  vorhergegangen  sind  21 

382'. 
Dazu  kamen  aber  noch,  wie  v.ir  aus  den  kostenherechnimgeu  '  sehen: 
die  stattpfeiffer 
der  vorhengela  ^ 

der  herrn  Trummelschlager  uud  pfeifi'er 
die  Stattknecht 
Jörg  Zeyh  maisterpott 

10  Reuter,  so  daß,  wenn  wir  'der  herren  —  d.  h.  des  rats  —  trummel- 
schlager und  pfeifi'er'  als  eine  gruppe  rechnen,  auf  sie  und  die  stadtpfeiffer  und 
stadtknechte  nur  je  12  oder  13  mann  kommen,  um  die  zahl  tou  431  teilnehm ern 
voll  zu  machen.  Eechneu  wir  aber  die  ratstrommler  und  pfeifer  als  zwei  gruppen, 
so  besteht  durchschnittlich  jede  aus  9  oder  10  manu.  Dass  nämlich  die  stadtpfeifer 
und  die  ratspfeifer  nicht  die  selben  sind,  ergibt  sich  aus  dem  posten  in  der  kosten- 
rechnung :  'Item  bey  dem  Suessen  wein  für  d.  Statpf eiffer  vnd  pf eiffer  vnnd  Drummel- 

schlags>  Stattknecht  vnd  10  Reutter  fl  5  / "*. 

Dringend  hätte  übrigens  vers  285  einer  anraerkung  bedurft,  am  nächsten 
festtag 

Zu  morgens  frü,  da  es  vier  schlug, 
Gmachsam  am  Marckt  ich  fürhin  zug, 
Des  Tantz  het  ich  lust  in  gedanckeu. 

Vier  ubr  früh  am  17.  februar  alten  stils,  das  war  also  2^ji  stunden  vor 
Sonnenaufgang,  eine  zeit  die  auf  ein  festfieber  schliessen  Hesse,  das  noch  weit  über 
das  eines  kleinen  hüben  (vers  326)  hinausgienge.  Und  auch  der  beginn  des  tanzes 
zwei  stunden  später  (vers  289),  also  7-'  stunde  vor  Sonnenaufgang,  wäre  in  der 
februarkälte  kaum  von  den  tänzern  zu  verlangen  gewesen. 

Hier  war  eine  anmerkung  zu  machen,  dass  es  sich  selbstverständlich  um 
4  uhr  auf  der  sogenannten  'grossen  uhr'*  handelte,  also  '/l»  11  unserer  heutigen, 
von  den  alten  Nürnbergern,  Rothenburgern,  Windsheimern  usw.  'die  kleine  uhr' 
genannten  Stundenzählung. 

AVas  sollen  wir  aber  mit  der  sprachlich  und  sachlich  gleich  unbegreiflichen 
angäbe  s.  348,  aum.  3  machen,  das  wort  Göckelman  vers  262  sei  =  Gökelhahn? 
Es  bedeutet  doch,  wie  sich  auch  mit  Österreichers  darstellung  aufs  beste  verträgt, 
nichts  anderes  als  einen  spassmacher,  oder  wie  wir  heute  sagen  würden,  einen 
clown,  vgl.  Dwb.  IV,  I,  I,  1552  samt  den  zahlreichen  belegen  daselbst.  Damit  fällt 
auch  Schneiders  behauptung  in  sich  zusammen,  dieses  wort  sei  nicht  nachweisbar. 
Ebenso    ist    diese    behauptung    völlig    aus    der   luft   gegriffen   bezüglich    Waidner 

1)  Protokoll,  auf  verscliiedenen  blättern. 

2)  Vortänzer  oder  ausrufer;  vgl.  Schmeller-Frommann,  I,  1069  und  die  dort 
angeführten  stellen. 

3)  Protokoll  12,  rückseite. 

4)  Vgl.  Wagenseil  s.  137  ff'.,  Friedrich  Nicolai,  Beschreibung  einer  reise  durch 
Deutschland  und  die  Schweiz,  I,  Berlin  und  Stettin  1783,  s.  107  ff. 


108  GEiniAKDI-,    ZU   AMBROSIUS   ÖSTERREICHERS    SCHWERDTTAXZ 

vers  134  =  waidmesser  und  tussecke  vers  191  =  eine  waffe  zum  stoss.  Ersteres 
war  schon  mittelhochdeutsch  (Lexer  III,  740),  und  über  das  letztere  handelt 
Schmeller-Frommann  I,  549  eine  viertel,  das  Dwb.  11,  1189  gar  eine  halbe  spalte 
lang.  Unter  anderem  kommt  es  aber  auch  vor  bei  Nikolaus  Pol  in  seiner  beschrei- 
bung  des  schwerttanzes  der  kürschnermeister  zu  Breslau  1620,  in  dem  satze  'da 
hielten  sie  ihren  schwerttanz,  schlössen  einen  zirkel,  fochten  im  schwert  und 
tussaken',  den  Müllenhoff  beibringt  auf  seite  121  seines  auch  von  Schneider  benutzten 
und  mehrfach  augeführten  aufsatzes  über  den  schwerttanz  in  den  Festgaben  für 
Homeyer.  Es  durfte  also  höchstens  heissen,  dass  ÖsteiTcicher  ausser  hartzhittel 
noch  ein  nicht  nachweisbares  wort,  weittorff,  und  von  den  übrigens  bekannten 
Wörtern  göckelman  und  tusseck  diese  bisher  nicht  belegte  wortgestalt  oder 
Schreibung  gebraucht. 

Doch  scheinen  die  beiden  Wörter  hartzkittel  und  tusseck  gerade  für  die  beim 
schwerttanz  1661  verwendeten  gegenstände  die  technischen  bezeichnungen  gewesen 
zu  sein.  Das  protokoU  spricht  blatt  21  vord.  von  3  par  Busseckeii  und  vom 
macherlohn  solcher  hartzkitl. 

Zum  schwerttanz  selber  könnte  jetzt  nachgetragen  werden,  dass  alte  hand- 
zeichnungen  dieser  aufführung  nunmehr  allgemeiner  zugänglich  sind  durch  nach- 
bildung  auf  der  neunten  und  zehnten  bildseite  von  'Das  Nüi'nbergische  Schönbart- 
buch. Nach  der  Hamburger  Handschrift  herausgegeben  von  Karl  Drescher.  Mit 
97  Abbildungen  auf  78  handkolorierten  Tafeln',  Weimar  1908,  Gesellschaft  der 
Bibliophilen. 

Ein  paar  stellen  im  texte  sind  der  entstellung  durch  druckfehler  dermassen 
verdächtig,  dass  im  anderen  falle  der  herausgeber  zur  beruhigung  der  leser  einen 
hin  weis  hätte  bringen  soUeu,  dass  es  wirklich  so  im  alten  drucke  steht: 

1.  vers  109:  'Für   den   Ehrnuesten  Herren  hauss  im  Hof  ist  wohl  zu  lesen: 

'Für  des'  usw. ; 

2.  vers  146:  'Hupauff'  gegenüber  s.  348  drittletzte  textzeile  'Hupfauf '; 

3.  vers  265:  'An  einem  grossen  kam  der  klein',  wohl:  'An  einen'? 

4.  vers  274:  'Ich  sah  in  zu':  im? 

5.  vers  307 :  'Die  Eatsherren  theten  zuschawen, 

Stunden  oben  bei  unser  Frawen 

Gegen  dem  Marckt  auft"  einen  gang; 

Dem  gfiel   ir  weiss    wol  .  .  .':    'auff  einem  gang'?     'Deu  gfiel'? 

6.  vers  349:  'Yegkliche  Junckfraw  zu  dem  tantz 

Het  iteu  fürer  gebn  ein  krantz' :  ireu  oder  noch  eher  irem  für-  iten  ? 

Endlich  hiess  der  s.  347  unten  und  348  anin.  2  genannte  gelehrte  nicht 
Siebenkaes,  sondern  Siebenkees. 

ERLAXGEN.  AUGUST  GERHARDT. 


STOLZENBÜRG   ÜBER   DIEL.S,   DIE    STELLUNG   DE.S    VEKIUMS    IM    AIII).  109 

LITERATUR. 

Paul  Diels,  Die  Stellung  des  verbums  in  der  älteren  altliocli- 
deut sehen  prosa  [Palaestra  LIX].  Berlin,  Mayer  &  Müller  1906.  206  s. 
7,60  m. 

Das  buch  bietet  mehr,  als  der  titel  besagt.  Seit  Braune '  den  begriff  der 
'gedeckten  anfangsstellung'  eingeführt  hatte,  musste  den  formwörtern-  eine  grössere 
rolle  bei  der  Untersuchung  der  Wortstellungsprobleme  zufallen.  So  hat  auch  Diels, 
obwohl  er  die  Stellung  des  verbums  als  einteilungsprinzip  beibehält,  dem  demou- 
strativpronomen,  persönlichen  prouomen  und  den  unbetonten  adverbien  eine  eiji- 
gehende  Untersuchung  gewidmet  und  sah  sich,  um  diese  im  Zusammenhang  be- 
sprechen zu  können,  genötigt,  von  dem  ursprünglichen  einteilungsprinzip  vielfach 
abzuweichen.  Er  behandelt  im  ersten  teil  die  Stellung  des  verbums  im  hauptsatz, 
und  zwar  nacheinander  die  mittelstellung,  anfangsstellung  und  Schlussstellung  des 
verbums  -.  Das  material  wird  für  die  einzelnen  teile  ausgebreitet  und  dann  in  be- 
sonderen, an  die  einzelnen  teile  sich  anschliessenden  abschnitten  besprochen.  Für 
die  materialsammlung,  die  unter  genauer  Scheidung  der  belege  nach  ihrem  jeweiligen 
Verhältnis  zur  lateinischen  vorläge  angelegt  ist,  sind  neben  den  Glossen  und  der 
Benediktinerregel  in  erster  linie  Isidor,  die  Monseer  fragmente,  der  Tatiau  und  die 
kleineren  prosadenkmäler  verarbeitet.  Für  die  spätere  prosa  ist  (mangels  eines  ge- 
nauen index  für  diesen  Schriftsteller)  nicht  Notker,  sondern  Williram  berücksichtigt. 
Die   kleineren   poetischen  denkmäler   sind  gelegentlich  zum  vergleich  herangezogen. 

Bei  der  dürftigkeit  des  zur  Verfügung  stehenden  materials,  seiner  abhängigkeit 
vom  lateinischen  und  bei  der  Schwierigkeit,  sich  von  der  rhythmik  der  ahd.  prosa 
ein  bild  zu  machen,  nimmt  es  nicht  wunder,  wenn  Diels  trotz  seiner  eingehenden 
und  sorgfältigen  Untersuchungen  häufig  zu  keinen  positiven  resultaten  gelangt  ist  *. 

Ich  weise  jedoch  auf  die  folgenden  bedeutsamen  ergebnisse  seiner  arbeit  hin : 

1.  Einige  betonte  Wortklassen  erweisen  sich  in  bezug  auf  die  Wortstellung 
als  einheit,  nämlich  das  prädikatsnomen,  die  nominale  ergänzung  des  prädikats 
(infinitiv  und  partizip),  die  von  adjektiven  abgeleiteten  o-adverbien  und  die  präpo- 
sitionaladverbien.     Sie  alle  sind  zur  einleitung  des  hauptsatzes  ungeeignet*. 

2.  Das  ergebnis  der  Untersuchung  über  die  formwörter  findet  sich  auf  s.  112: 
'dass  die  sogenannte  gedeckte  anfangsstellung  ein  sekundäres  produkt  sei,  d.  h. 
dass  der  satz  ursprünglich  nur  mit  einem  betonten  wort  oder  mit  dem  verb  be- 
ginnen konnte,  nicht  aber  mit  einem  proklitischen  wort'. 

Für  die  beiden  hauptgruppen  der  proklitika,  das  demonstrativ-  und  Personal- 
pronomen, ergeben  sich  nämlich  folgende  Stellungsmöglichkeiten : 

a)  die  durch  besondere  bedeutungsmomeute  (emphasej  bedingte  voraustellung ; 


1)  Forschungen  zur  deutschen  philologie,  festgabe  für  K.  Hildebrand. 

2)  Hierbei  ist  nur  der  unabhängige  aussagesatz  berücksichtigt,  da  der  Ver- 
fasser zur  erkenntuis  des  fragesatzes,  Wunschsatzes  und  der  partizipialkoustruktioneii 
'nicht  wesentliches  beizutragen  verinoclite'. 

3)  Das  gilt  z.  b.  von  der  Schlussstellung  des  verbums,  für  die  eine  allgemeine 
erklärung  sich  'noch  nicht  versuchen'  lässt. 

4)  Ungeeignet  ist  offenbar  auch   die  reilie:    io,  iiio,  ioman,  nioman,  iowihi, 

7liOKiht. 


110  STOLZENBUKG 

b)  die  Stellung  hinter  dem  satzbegiunenden  verb  in  reiner  anfangssteUung. 
Diese  Stellung  ist  jedenfalls  in  den  älteren  denkmälern  noch  nachzuweisen  und 
hält  sich  bei  vorantretendem  inti  auch  noch  länger'; 

c)  aus  der  Stellung  b  erst  entwickelt  hat  sich  oifenbar  die  in  späterer  zeit 
ganz  allgemein  durchgeführte  Stellung  als  deckung  des  satzbegiunenden  verbs. 

Bei  dem  demonstrativpronomen  ist  die  entwicklung  von  b  zu  c  noch  deut- 
licher zu  verfolgen  als  beim  persönlichen  pronomen,  wo  sich  belege  für  die  ältere 
Stellung  ausser  nach  inti  nur  bei  gleichzeitigem  auftreten  eines  demonstrativprono- 
mens  finden. 

Was  von  dem  pronominalen  Subjekt  gilt,  triift  bei  den  unpersönlichen  verben 
auch  für  die  casus  obliqui  zu.  Im  übrigen  lässt  sich  über  die  casus  obliqui  des 
persönlichen  pronomens  nur  sagen,  dass  neben  einigen  fällen  von  voranstelluug, 
die  durch  emphase  ihre  erklärung  finden,  doch  'eine  reihe  anderer  bleibt',  die  ihrem 
Inhalt  nach  durchaus  als  uubetont  gelten  müssen. 

Für  das  demonstrativpronomen  kommt  noch  die  Stellung  hinter  einem  verb 
in  mittelstellung  in  betracht.  Gegen  die  oben  ausgesprochene  anschauung  lässt 
sich  nicht  die  anfangssteUung  gewisser  unbetonter  adverbia  wie  ouh,  abur,  doh,  in 
(schon)  ins  feld  führen,  da  diese  werte  erst  'im  verlaufe  der  Sprachentwicklung  die 
fähigkeit,  vor  den  fertigen  satz  zu  treten'.  geM'innen  (s.  109).  Auch  die  untrenn- 
baren  verbalpräfixe   widersprechen   dieser   anschauung  nur  scheinbar  (vgl.  s.  112  f.). 

3.  Nach  den  fällen  von  gedeckter  oder  gestützter  anfangssteUung,  die  bereits 
in  dem  abschnitt  über  die  formwörter  behandelt  sind,  bleiben  noch  die  fälle  von 
echter  anfangssteUung  zu  erledigen.  Im  anschluss  an  sie  gibt  Diels  nochmals  eine 
Übersicht  über  sämtliche  fälle  von  anfangssteUung  des  verbums  und  kommt  (s.  136  f.) 
zu  dem  ergebnis,  dass  es  sich  fast  in  allen  fällen  um  verben  handelt,  denen  ein 
schwach  betontes  persönliches  pronomen  folgt  -'.  Diels  liat  die  verben  zu  diesem 
zweck  in  drei  gruppen  geordnet.  In  den  beiden  ersten  gruppen  geht  das  gesetz 
unmittelbar  aus  den  belegen  hervor.  Die  dritte  gruppe  aber  'braucht  nicht  anders 
erklärt  zu  werden,  denn  diese  reihe  ist  fast  identisch  mit  der  reihe  der  sogenannten 
medialen  verben,  d.  h.  der  verben,  die  im  as.  und  ags.  (auch  in  der  mlid.  Volks- 
sprache) mit  einem  unbetonten  reflexiven  pronomen  verbunden  werden.  Dahin  ge- 
hören toesan,  werdan,  queman,  arqueman,  gangan,  faran,  stantan'  usw.  (s.  135). 
Die  anfangssteUung  im  angeschlossenen  hauptsatz  gleichen  Subjekts  scheint  die- 
selbe erklärung  zuzulassen,  wenn  sich  hier  auch  eine  reihe  von  belegen  der 
obigen  regel  zu  entziehen  scheinen  (vgl.  s.  124). 

Eine  besondere  Untersuchung  ist  auch  der  Inversion  im  nachsatz,  die  von 
den  konjunktionen  des  Vordersatzes  abzuhängen  scheint,  und  der  anfangssteUung 
des  verbums  nach  der  negation  gewidmet. 

Der  zweite  teil  des  buches  untersucht  die  Stellung  des  verbums  im  neben- 
s  a  t  z.  Den  angeführten  erscheinungen  der  hauptsatzstellung  treten  die  folgenden 
ergebnisse  über  die  nebeusatzstellung  zur  seite: 

1.  Die  zur  einleitung  des  hauptsatzes  als  ungeeignet  erscheinenden  Wortklassen 


1)  Bei  dem  demonstrativpronomen  bleibt  diese  Stellung  auch  lebendig  in 
Sätzen,  die  sich  unmittelbar  an  einen  satz  gleichen  Subjekts  anschliessen. 

2)  Diels  schliesst  sich  dabei  an  den  schon  von  Todt  (Auglia  XVI)  und  Reis 
(Zeitschrift  33)  geäusserten  gedanken  an,  dass  es  sich  bei  der  anfangssteUung  um 
die  eigentümlichkeit  gewisser  verben  handelt. 


TBEll   DIELS,    DIE    STELLUNG   DES  VERBUMS    TM    AIID.  111 

erweisen  sich  auch  ia  bezug  auf  ihre  Stellung  im  nebensatz  als  einheit.  Der  älteste 
zustand,  vertreten  durch  den  Isidor  und  die  Monseer  fragmente,  ist  der,  dass  nach 
einem  andern  betonten  wort  (subjekt  usw.)  diese  Wortklassen  hinter  dem  verbum 
stehen^;  im  laufe  des  9.— 12.  Jahrhunderts  werden  sie  jedoch  vor  das  verbum  ge- 
drängt und  sind  nun  ziemlich  streng  an  die  stelle  direkt  vor  dem  verbum  gebannt. 
Sell)st  bei  den  verben,  die  sonst  anfangsstellung  zeigen,  treten  sie  vor  das  verbum 
und  'stören  so  das  bild',  das  sich  von  der  anfangsstellung  dieser  verben  ergibt.  Es 
lässt  sich  daher  ein  entwicklungszustand  rekonstruieren,  in  dem  für  liaupt-  und 
nebensatz  Übereinstimmung  herrschte,  und  sich  die  regel  aufstellen:  'von  den  voll 
betonten  Wortklassen  hat  keine  im  nebensatz  vor  das  verb  treten  können,  die  es 
nicht  auch  im  haupt.-atz  konnte,  und  wir  gewinnen  für  eine  unzahl  von  häufigen 
typen  die  dem  hauptsatz  völlig  entsprechende  doppelheit:  das  verbum  geht  allen 
l>etonteu  gliedern  voran  (reine  oder  gedeckte  anfangsstellung),  oder  es  schliesst  sich 
einem  dazu  geeigneten,  voll  betonten  wort,  am  häufigsten  natürlich  auch  hier  dem 
Subjekt,  an'  (s.  203).  Der  hypothetische  Charakter  dieses  Schlusses  lässt  sich  freilich 
nicht  leugnen.  Diels  sucht  die  rückwärtsverlängerung  der  entwicklungslinie  noch 
dadurch  zu  stützen,  dass  er  auf  ihren  verlauf  in  der  neuesten  zeit  lünweist.  Hier 
liabe  das  verbum  im  nebensatz  auch  die  andern  betonten  Wortklassen  (die  inhalts- 
reichen akkusative,  präpositionalverbindungen  usw.)  übersprungen  und  als  regel  der 
unendlichen  häufigkeit  die  endstellung  eingenommen  (s.  202).  Das  trifft  zwar  für 
die  Schriftsprache,  aber  nicht  für  die  Umgangssprache  zu,  auf  die  wir  uns  doch 
wohl  in  erster  Knie  zu  beziehen  haben  -. 

2.  Für  die  Stellung  der  enklitika  lässt  sich  das  gesetz  aufstellen,  dass  sie 
im  nebensatz  vor  alle  andern  Satzteile  an  den  anfang,  d.  h.  hinter  die  einleitung 
des  nebensatzes,  treten.  Ein  älterer  zustand  wie  im  hauptsatz,  wo  sie  anfangs 
hinter  dem  satzbeginnenden  verbum  stehen,  ist  für  den  nebensatz  nicht  nachzu- 
weisen. 

3.  Die  anfangsstellung  im  nebensatz  erweist  sich  als  'weseusgleieh  mit  der 
im  hauptsatz'  (s.  201).  Sieht  man  von  den  abhängigen  finalsätzen  und  den  ange- 
knüpften nebensätzen  ab,  so  sind  auch  im  nebensatz  zur  anfangsstellung  nur  die- 
jenigen verben  befähigt,  denen  ein  dativ  oder  akkusativ  des  persönlichen  pronomens 
folgt,  beziehungsweise  die  sogenannten  medialen  verben. 

'Vielleicht  der  einzige  unterschied  zwischen  hauptsatz-  und  nebensatzstellung, 
den  man  als  von  anfang  an  gegeben  anerkennen  muss',  ist  demnach  in  der  ver- 
schiedenen Stellung  der  enklitika  zu  suchen :  'im  hauptsatz  können  die  enkliticae  in 
älterer  zeit  dem  satzbeginnenden  verbum  folgen,  im  nebensatz  gehören  sie  unmittel- 
bar hinter  die  einleitung  und  stets  vor  das  verb'. 

Das  buch  liest  sich  nicht  gerade  leicht.  Durch  die  grosse  fülle  des  aus- 
gebreiteten materials  werden  die  einzelnen  erörterungen  und  ergebnisse  vielfach 
weit  voneinander  getrennt.  Im  zweiten  teil  sind  die  belege,  die  der  lateinischen 
vorläge  entsprechen,  fortgelassen,  und  Sammlung  und  darstellung  sind  zum  vorteil 
für  die  lektüre  'nach  möglichkeit  verwoben'.     Der  Verfasser  selber  bat  ülirigens  die 


1)  Deutlich  nachweisen  lässt  sich  diese  entwicklungsstufe  allerdings  luir  bei 
der   nominalen    ergänzuny   des  prädikats  (insbesondere  bei  der  passivunisclircibung). 

2)  Vgl.  Reis,  Zeitschr.  33,  348.  R.  gelangt,  hier  zu  dem  resultat:  die  end- 
stellung des  Zeitworts  ist  im  alid.  entschiedener  durchgeführt  als  in  der  mhd.  Um- 
gangssprache. 


112  BOEK 

inängel  der  darstellung  empfunden  (s.  8)  und  seinem  buch  eine  einleitung  voraus- 
geschickt, die  von  der  begrenzung  und  anordnung  des  Stoffes  rechenschaft  gibt. 

Am  schluss  derselben  glaubt  er  'den  Vorwurf,  zu  mechanisch  gewesen  zu  sein', 
zurückweisen  zu  müssen.  Dieser  Vorwurf  soll  gewiss  gegen  die  sorgfältige  und 
reichhaltige  arbeit  nicht  erhoben  werden.  Aber  wenn  der  Verfasser  sagt,  'das  recht, 
ein  allgemeines  und  umfassendes  bild  der  germ.,  der  indogerm.  Wortstellung  zu 
zeichnen',  könne  erst  der  erwerben,  'der  zugleich  alle  eiuzellieiten  an  ihren  platz, 
der  vor  allem  jeden  beliebigen  querschnitt  durch  die  geschichte  dieser  Wortstellung 
als  ein  in  sich  widerspruchsloses  System  aufzuweisen  vermöchte',  so  hiesse  das 
wohl  auf  ein  bild  der  germ.  Wortstellung  verzichten.  Gegen  wen  diese  bemerkung 
in  erster  linie  gerichtet  ist,  ersieht  man  aus  einer  anmerkung  auf  s.  4,  wo  gegen 
Braune  der  Vorwurf  erhoben  wird,  seine  Schlüsse  zu  leichtfertig,  ohne  eindringende 
Untersuchung  des  materials,  gezogen  zu  haben :  'Die  an.  und  ae.  fälle  der  schluss- 
stellung  werden  ohne  weiteres  in  parallele  zu  den  deutschen  gesetzt.  Und 
dieses  chaos,  in  dem  der  einzeluntersuchung  nur  noch  die  aufgäbe  zufällt,  die 
typen  zu  zählen,  wird  als  der  Weisheit  letzter  schluss  ausgegeben :  die  urgerm. 
Wortstellung  war  eine  freie.'  Dass  die  Braunische  arbeit  ihrem  ganzen  Charakter 
nach  nichts  anderes  ist  und  sein  will  als  eine  die  detailforschung  durch  allgemeine, 
vielfach  hypothetische  richtliiiien  vorbereitende  skizze,  scheint  Diels  übersehen 
zu  haben. 

Ohne  solche  hypothesen  werden  wir  aber  auf  dem  gebiete  der  Wortstellung 
am  allerwenigsten  auskommen  können.  Jedesfalls  aber  erscheint  es  schwer  ver- 
ständlich, warum  Diels  die  Wackernagelsche  hypothese  gegen  die  von  Braune  in 
schütz  nimmt.  Spricht  doch  das  ergebnis  seiner  eigenen  arbeit  dafür,  die  Scheidung 
zwischen  hauptsatz-  und  nebensatzstellung  nicht  als  ursprünglich,  sondern  als 
sekundäre,  erst  germanische  entwicklungsstufe  anzusehen.  Eine  ursprüngliche  fülle 
von  stelluugsmöglichkeiten  macht  im  laufe  der  Sprachentwicklung  einem  sich  immer 
mehr  ausbreitenden  Schematismus  platz,  das  ist  das  bild,  das  auch  die  Dielsschen 
Untersuchungen  wieder  bestätigen.  Dass  eine  entwicklung  von  freier  Wortstellung 
zur  Stabilisierung  auch  vom  psychologischen  Standpunkt  die  einzig  fruchtbare  theorie 
ist,  darf  dabei  nicht  unbeachtet  bleiben.  Wundt  hat  in  seiner  Völkerpsychologie  * 
der  Stabilisierung  der  Wortstellungen  einen  besonderen  abschnitt  gewidmet,  in  dem 
es  heisst:  'da  nun  bei  einer  solchen  Stabilisierung  der  satzordnuug  die  assoziative 
einübung  eine  hauptroUe  spielt,  diese  aber  natürlich  einer  gewissen  zeit  bedarf,  so 
ist  von  vornherein  zu  erwarten,  dass  innerhalb  derjenigen  sprachfamilien,  die  wir 
in  längerer  entwicklung  verfolgen  können,  die  älteren  formen  in  der  regel  über 
eine  freiere  Wortstellung  verfügen  werden  als  die  jüngeren'  (s.  362). 

1)  Bd.  1,  teil  2. 

HA^rurin;.  haxs  stolzexf.i'kg. 


Bruno  Crome,  Das  Markuskreuz  vom  Göttinger  Leiuebusch.  Ein 
Zeugnis  und  ein  exkurs  zur  deutschen  heldensage.  Mit  einer  tafel.  Strass- 
burg,  Karl  J.  Trübner  1906.     1  m. 

Der   Verfasser   dieses   büchleins   besitzt   ein   bedeutendes   kombinationstalent, 

aqer  ein  geringes  mass  von  Selbstkritik  und  von  philologischer  methode.    So  kommt 


ÜBEU    CKOME,   DAS    MAKKUSKKEUZ    VOM    GÖTTIXGElt    LEFNEBUSCH  IIB 

es,  dass  der  leser  wiederholt  sich  über  die  scharfsinnigen  einfalle  \vundert,  aber 
nirgends  durch  die  beweisführung-  überzeugt  wird. 

Auf  einem  steinkreuz,  dessen  Jahreszahl  (durcli  absprengung)  unsicher  ist  — 
aus  zwei  zuerst  von  dem  Verfasser  angenommenen  möglichkeiten  wählt  er  die,  dass 
1260  die  richtige  zahl  sei  — ,  steht  eine  zirka  20  buchstaben  umfassende  Inschrift. 
Zu  lesen  ist  am  anfang  der  name  Willehelm,  ferner  ein  e,  die  buchstaben  iry,  und 
mit  Wahrscheinlichkeit  noch  ein  e  und  ein  /.  Die  lückenhafte  stelle  wird  zu 
ejs  wylaendis  ergänzt;  dass  weder  das  d  noch  das  s  noch  das  n  die  zu  erwartende 
form  aufweist,  wird  liiuwegerklärt,  für  die  beiden  zuerst  genannten  buchstaben  mit 
einem  argumente,  das  der  Verfasser  gleich  am  fuss  derselben  seite  zu  widerrufen 
genötigt  ist;  von  den  übrigen  zeichen  beruhen  x  und  a  auf  zum  teil  nicht  unbe- 
denklicher konjektur,  während  das  l  unsicher  bleibt^).  Aus  der  Zeichnung  lässt 
sich  ferner  ersehen,  dass  zwischen  dem  angenommenen  l  und  a  noch  platz  für  einen 
buchstaben  ist ;  also  fehlt  entweder  ein  buchstabe,  oder  mit  dem  l  schliesst  ein  wort. 

Der  auf  diese  weise  gewonnene  Inhalt  der  inschrift  wird  zum  ausgangspunkt 
der  weiteren  Untersuchung.  Die  worte  sollen  bedeuten :  'Wilhelm  aus  dem  ge- 
schlechte der  Wielande'.  Wunderlich  ist  das  ae  der  vorletzten  silbe.  Aber  damit 
'werden  wir  uns  abfinden  müssen'  (s.  9);  auf  welche  weise,  wird  nicht  gesagt.  Die 
möglichkeit,  dass  eine  familie  ihre  herkunft  von  Wieland  hergeleitet  haben  sollte, 
sowie  die  andere,  dass  ein  kunstfertiger  handwerker  von  anderen  leuten  Wieland 
genannt  worden  sei,  wird  dann  s.  10  abgefertigt  als  eine  denkbare  Vermutung 
weniger  'skeptische(r)  leute  .  .  .  noch  dazu  in  einer  zeit,  wo  das  kritische  vermögen 
sich  so  gerne  zu  eitler  Spiegelfechterei  verkehrt',  bezw.  als  eine  Vorstellung,  die 
zeugt  für  ein  'sich  Scheuklappen  vorbinden,  damit  man  die  hier  sich  bergenden 
rätsei  in  ihrer  Wirklichkeit  nicht  sehe',  was  dann  weiter  noch  in  anderen  für  die 
heutige  Wissenschaft  wenig  schmeichelhaften  worten  ausgeführt  wird.  Und  so  bleibt 
denn  s.  11  nur  die  möglichkeit  übrig,  dass  das  kreuz  zur  erinnerung  an  einen  sagen- 
haften AMlhelm  aus  Wielands  geschlecht  gesetzt  worden  sei. 

Das  veranlasst  einen  exkurs  über  die  AVielandsage,  dem  15  seiten,  d.  h.  nahezu 
ein  drittel  des  büchleins  gewidmet  sind.  Der  versuch,  aus  den  quellen  eine  ursprüng- 
liche sagenform  zu  konstruieren,  muss  methodisch  als  vollständig  misslungen  be- 
zeichnet werden.  Die  heutige  forschung  ist  wohl  so  weit  gekommen,  dass  sie  weiss, 
dass  durch  addierung  der  quellen  und  auswalil  nach  belieben  keine  einsieht  in  die 
geschichte  einer  Überlieferung  gewonnen  wird  -'.     Die  methode  erklärt  sich  ans  dem 

1)  Nach  der  beigegebenen  Zeichnung  lässt  es  sich  auch  als  ein  i  mit  darauf- 
folgendem rest  eines  verlorenen  buchstaben  deuten. 

2)  Auch  im  einzelnen  ist  hier  vieles  fehlerhaft  und  willkürlich.  Dass  Slagßdr 
nur  eine  fähigkeit  A\'ielands  bedeute  (s.  12),  ist  eine  leere  beliauptung.  Von  anfang 
liat  er  mit  Wielaud  gar  nichts  zu  schaffen  (Arkiv  23,  129  f.),  und  da  dasselbe  für 
seinen  bruder  Egill  gilt,  ist  ein  alter  zusammenliang  zwischen  diesem  und  dem 
Egill  der  tiörekssaga  sehr  unsicher.  ~  S.  12-13  heisst  es,  die  darsteüung  eines 
bogcnschützen  auf  dem  ags.  runenkästchen  'gehöre'  zu  der  A\'ielandsage.  Im  besten 
fall  kann  die  frage  aufgeworfen  werden,  ob  dieser  Egil  genannte  schütze  derselbe 
ist,  den  die  1)S  Velents  bruder  nennt;  dass  aber  ein  kämpf  eines  schützen  gegen 
i-ine  Übermacht  jemals  in  irgendeiner  Überlieferung  ein  teil  der  Wielandsage  ge- 
wesen sei,  wird  nicht  leicht  zu  beweisen  sein,  und  wird  auch  durch  die  Vorderseite 
des  runenkästchcns  nicht  bewiesen,  selbst  dann,  wenn  man  die  darauf  befindlichen 
darstellungen  richtig  auf  \\'ieland  bezogen  hat,  was  übrigens  sehr  uiisiclier  ist. 
Denn  auf  dem  kästchen  stehen  sehr  verschiedene  dinge,  die  weder  zu  Wieland  noch 
zu  Egil   gehören,   noch    untereinander   zusammenhängen.     Bezeichnend   aber  ist  die 

ZEITSCHRIFT   F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  S 


114?       BOER    ÜI5EU    CKOME,    DAS    MAKKlSKKErZ    VOM    GÖTTINGEi:    l.EIXEBUSCH 

bei  liebhabern  bestehenden  hang,  in  den  Varianten  einer  Überlieferung  versi^reugte 
reste  einer  alten,  nicht  nur  reichen,  sondern  auch  breiten  tradition  zu  erblicken. 
Im  gründe  hat  diese  ausführung  für  den  zweck  der  sclirift,  die  nicht  Wieland, 
sondern  Wilhelm  zu  seinem  recht  verhelfen  soll,  eine  verhältnismässig  geringe  be- 
deutung;  der  Zusammenhang  mit  dem  folgenden  besteht  darin,  dass  auf  das  resultat 
hingesteuert  wird,  dass  die  sage  von  dem  bogenschützen,  der  in  der  f'iörekssaga 
als  Wielands  bruder  auftritt,  ein  'uralter  bestand  der  Wielandsage'  sei.  Die  annek- 
tierung  der  erzählung  von  Wielands  Jugend  verhilft  ferner  zu  dem  schluss,  dass 
Wate  und  Wieland  von  anfaug  an  zusammengehören,  und  daraus  wird  wiederum 
geschlossen,  dass  diese  von  der  blinden  Wissenschaft  unserer  tage  für  aus-  und  an- 
wüchse der  sage  angesehenen  erzählungen  ihr  schon  angehörten,  als  das  iirinzip  der 
alliteration  noch  die  namengebung  beherrschte.  Zu  diesem  behuf  werden  auch 
Viöga  und  sogar  die  nur  einem  gedichte  von  der  Zuverlässigkeit  der  Eabenschlacht 
bekannte  mutter  Wates,  Wächilt,  herbeigeholt.  Damit  ist  dann  der  weg  zu  der 
später  (s.  26)  folgenden  behauptung,  der  schütze  könne  unmöglich  Egil  geheissen 
haben,  sein  richtiger  name  aber  sei  notwendigerweise  Wilhelm,  und  Egil  sei  ein 
beiname  dieses  Wilhelm,  gebahnt. 

So  wird  nun  eine  brücke  zu  der  Teilsage  hinübergeschlageu.  Dass  A^'illlelm 
Teil  mit  dem  Egill  der  t'iörekssaga  und  ferner  mit  dem  beiden  der  bailade  von 
William  of  Cloudesly,  die  Wadsteiu  mit  den  sagen  von  Wieland  und  von  Egill 
verglichen  hat,  sowie  mit  dem  schützen  auf  dem  deckel  des  angelsächsischen  runen- 
kästchens  und  schliesslich  mit  dem  auf  dem  kreuze  genannten  Wilhelm  identisch 
sei,  daran  zweifelt  herr  C.  keinen  augenblick,  und  dieser  schütze  wird  nun  dem 
leser  vorgestellt  als  ein  'göttlicher  held,  ein  helfer  der  menschheit',  der  'von  dem 
ausgehenden  mittelalter  politisch  tendenziös  ausgedeutet,  des  ursprünglich  auf  ihm 
liegenden  himmlischen  glanzes  beraubt  und  in  den  kreis  menschlicher  Wirklich- 
keiten herabgezogen'  wurde  (s.  34).  Der  name  Teil  soll  ein  spottname  sein.  Dass 
die   Sagenforschung   die   göttliche   bedeutung   dieses   beiden   nicht   eher  erfasst  hat, 

leichtigkeit,  mit  der  s.  16  über  die  schwer  verständlichen  darstelluugen  geurteilt 
wird.  —  S.  16,  17  geht  der  Verfasser  in  seiner  darstellung  der  sage  sehr  willkürlich 
von  der  t)S  auf  die  Volkv.  über  und  umgekehrt;  ähnlich  s.  20.  —  Ganz  haltlos  ist 
die  wunderlicberweise  von  Heusler  gutgeheissene  Verdrehung  der  erzählung  von 
dem  einen  ring,  der  aus  700  anderen  allein  fortgenommen  wird ;  die  diebe  sollen 
knechte  des  königs  sein,  die  den  ring  'als  Wahrzeichen'  mitnehmen,  und  dem  dichter 
des  Völkv.  wird  eine  fälschung  der  Überlieferung  zur  last  gelegt,  die  den  zweck 
haben  soll,  vorzeitig  einen  erst  später  in  der  erzählung  auftretenden  flugring  zu 
erwähnen.  Aber  dass  der  fortgenommeue  ring  ein  flugring  ist,  sagt  der  dichter 
gar  nicht ;  er  bat  das  als  allbekannt  vorausgesetzt,  während  die  heutige  forschung, 
der  die  Voraussetzungen  des  dichters  nicht  bekannt  sind,  das  erst  aus  dem  zusam- 
menbang des  ganzen  hat  schliessen  müssen.  —  Über  die  bedeutung  der  durch- 
schneidung der  sehnen  (s.  19)  ist  Arkiv  23,  139  zu  vergleichen.  —  Dass  der  schlaf- . 
trank,  den  Völundr  der  Bgövild  kredenzt,  ein  liebestrank  gewesen  sei  (s.  21), 
wäre  zu  beweisen ;  dass  sie  nach  dem,  was  zwischen  ihr  und  ihm  vorgefallen,  sich 
ihm  verbunden  fühlt,  ist  etwas  ganz  anderes ;  aus  der  Piörekssaga,  die  'hätte  lehren 
sollen',  'dass  hier  ein  auch  für  Wielands  geschick  bedeutsames  tragisches  moment 
der  alten  sage  hervorblickt',  habe  auch  ich  das  nicht  gelernt.  Denn  dass  Boövild 
und  Velent  vorläufig  die  sache  dem  könige  verheimlichen,  versteht  sich  auch  ohne 
liebestrank.  Der  friede,  der  c.  79  geschlossen  wird,  ist  natürlich  eine  zutat  aus 
der  zeit  der  genealogischen  Verbindung  mit  Yiöga.  —  S.  23  findet  sich  eine  berufung 
auf  die  autorität  des  gedichtes  von  Friedlich  von  Schwaben,  die  man  zurzeit  nicht 
mehr  für  möglich  halten  sollte. 


iii,Hi!ic!i  (üEi;  l;^:[(■lll•:l;T,  dik  üueslaueu  familiexxamkn  115 

liegt  daran,  dass  sie  zu  ausschliesslich  damit  beschäftigt  gewesen  ist,  den  nationa- 
listisch-euhemeristisohen  tendenzeu  der  schweizerischen  gelehrten,  die  Teil  zu  einem 
nationalen  beiden  herabwürdigten,  entgegenzuarbeiten,  und  in  ihrem  eifer,  zu  be- 
weisen, dass  die  gestalt  aus  dem  norden  importiert  sei,  'das  kind  mit  dem  bad 
ausschüttete'  (s.  27  f.  und  passim). 

Über  den  Ursprung  der  Teilsage  ist  das  letzte  wort  noch  nicht  gesprochen. 
Ein  gewisser  Zusammenhang  mit  Wielands  bruder  lässt  sich  freilich  nicht  leugnen, 
aber  im  gründe  haben  die  beiden  gestalten  nur  das  motiv  von  dem  ajjfelschuss 
gemein,  und  für  diese  gleichheit  sind  eine  reihe  erklärungen  denkbar,  zwischen 
denen  sich  nicht  im  handumdrehen  eine  wähl  treffen  lässt.  An  Egils  geschichte 
ist  das  motiv  augenscheinlich  sekundär  angehängt  worden,  und  auch  bei  Teil  gehört 
es  nicht  zu  der  haupthandlung.  Dass  es  auch  ein  Avandermotiv  sein  kann,  das  in 
sagen  von  meisterschützen  leicht  aufgenommen  wurde,  fällt  herrn  C.  gar  nicht  ein. 
Dass  der  Verfasser  auch  schweizerisclie  quellen  in  die  Untersuchung  liineinzieht,  ist 
zu  loben,  aber  um  ein  resultat  zu  erzielen,  müsste  das  weit  gründlicher  und  metho- 
discher geschehen,  als  hier  geschehen  ist.  Wenn  sich  hie  und  da  ansätze  zu  der 
auffassung  des  nationalen  beiden  als  eines  heiligen  finden,  so  ist  der  schluss  geAviss 
nicht  berechtigt,  der  held  sei  von  anfang  an  eine  heidnische  gottheit,  der  als 
katholischer  heiliger  einen  teil  seiner  alten  göttlichkeit  bewahrt  habe.  Ziehen  wir 
dann  in  betracht,  dass  die  einzige  stütze  für  eine  allgemeinere  Verbreitung  dieses 
Willielmkultus  das  kreuz  vom  Leinebusch  mit  seiner  unsicheren  Inschrift  ist,  so 
werden  wir  schliessen  müssen,  dass  der  göttliche  Ursprung  Wilhelms,  des  bruders 
Wielands,  ungeachtet  der  datierung  auf  dem  kreuze  i.  crastino.  ßfi.  Marci.  (ewn). 
vorläufig  im  fabelland  seine  heimat  hat. 

Für  die  meinung  des  Verfassers,  dass  das  kreuz  für  einen  verwandten  Wie- 
lands errichtet  worden  sei,  werden  auch  die  darauf  beflndlicbeii  bildliciien  darstel- 
lungen  angeführt.  Hammer  und  zauge  passen  zu  Wieland,  aber  auch  zu  jedem 
beliebigen  schmiede.  Eine  dritte  figur,  die  ein  beil  darzustellen  scheint,  wird  für 
einen  tittig  ausgegeben  und  soU  sich  auf  Wielands  flugmaschine  beziehen.  Weshalb 
auf  einem  dem  Willielm  zu  ehren  errichteten  denkmal  hammer,  zange  und  fittig 
anstatt  pfeil  und  bogen  dargestellt  sind,  vernehmen  wir  nicht. 

AMSTEUDAM.  U.  C.    liOEl?. 


Hermann  Reichert,  Die  deutschen  familiennamennach  Breslau  er 
quellen  des  13.  und  14.  Jahrhunderts.  [Wort  und  brauch.  Volks- 
kundliche arbeiten,  namens  der  Schlesischen  gesellschaft  für  Volkskunde  in 
zwanglosen  heften  herausgegeben  von  Theodor  Siel)s  und  Max  Hippe.  1.  heft.] 
Breslau,  M.  u.  H.  Marcus  1908.     IX,  192  s.     6,40  m. 

Die  Schlesische  gesellschaft  für  Volkskunde,  1894  gegründet 
von  Friedrich  Vogt,  schuf  zunächst  in  ihrer  Zeitschrift,  den  'Mitteilungen",  ein 
Organ,  das  in  weiten  kreisen  zu  beobachtungen,  mitteilungen  und  Sammlungen  an- 
regen und  über  das  geleistete  rechenschaft  geben  sollte.  Daneben  l)egauu  alsbald 
die  wissenschaftliche  Verarbeitung  des  gewonnenen  materials,  und  so  konnten  be- 
i'eits  als  weihiiachtsgruss  für  1900  Friedrich  Vogts  'Schlesisclie  wcihnachtsspicle' 
erscheinen,    denen    sich    1903    und  1906   Paul    Drechslers   'Sitte,    brauch  und  volks- 


116  Ol.HlUCH 

glaube'  (2  teile)  anschloss,  der  erste  versuch  einer  zusammenfassenden  behandlun.ü: 
schlesischen  Volksglaubens  und  volksbraucbes  und  ein  ergebnis  langjähriger  sammel- 
arbeit.  Diesen  drei  ersten  bänden  von  'Schlesiens  volkstümlichen  Überlieferungen' 
(herausgegeben  von  Theodor  Siebs,  verlag  von  B.  G.  Teubner)  werden  in  den  nächsten 
Jahren  weitere  folgen,  die  sage,  märchen,  Volkslied  usw.  behandeln.  Daneben  be- 
ginnt, von  dem  rührigen  Vorsitzenden  der  gesellschaft  angeregt  und  gefördert, 
seit  1908  unter  dem  kennwort  'Wort  und  brauch'  ein  neues  Sammelwerk  für  volks- 
kundliche einzelarbeiten  in  zwanglosen  heften  zu  erscheinen,  das  auch  Untersuchungen, 
die  nicht  aus  der  gesellschaft  hervorgehen,  und  arbeiten,  die  nicht  der  schlesischen 
Volkskunde  angehören,  aufnähme  gewäliren  soll.  Von  den  vier  bisher  erschienenen 
abhandlungen  bewegen  sich  die  drei  ersten  noch  auf  rein  schlesischem  gebiete. 
Wolf  von  Uuwerth  behandelt  die  schlesische  muudart  in  ihren  lautverhältnissen. 
Jäschke  gibt  ein  lateinisch-romanisches  fremdwörterbuch  der  schlesischen  nmndart, 
und  Reichert  bearbeitet  die  deutschen  familiennamen  nach  Breslauer  quellen  des 
13.  und  14.  Jahrhunderts. 

Die  neuhochdeutsche  namenkunde  ist  ein  interessantes,  immer  wieder  zur 
bearbeitung  anregendes  gebiet,  und  mehr  oder  weniger  wissenschaftlich  gehaltene 
einzelarbeiten  sind  auch  schon  in  menge  vorhanden.  Einen  überblick  über  den 
gesamtbestand  und  die  cntvvicklung  aller  deutschen  familiennamen  zu  gewinnen, 
dazu  reichen  freilich  die  vorhandenen  eiuzelarbeiten  bei  weitem  nicht  aus;  das  ist 
der  Zukunft  vorbelialten.  Um  so  dankenswerter  aber  ist  es,  wenn  in  gründlicher 
Vorarbeit  das  material  mit  möglichster  Vollständigkeit  in  örtlicher  und  zeitlicher 
beschränkung  gegeben  wird,  wie  es  in  Eeicherts  arbeit  geschieht.  Von  den  frühereu 
Untersuchungen  über  schlesische  personennamen  [Hoffmann  von  Fallersleben,  'Bres- 
lauer nameubüchlein',  184.3;  Damroth,  'Die  schlesisch-iiolnischen  personennamen  älterer 
zeit  (anhang  zu  'Die  älteren  Ortsnamen  Schlesiens",  1896);  Ondrusch,  'Die  familien- 
namen in  Neustadt  O.-S.,  1894—99;  .Techt,  'Beiträge  zur  Görlitzer  namenkunde',  N.- 
Laus, magaziu  bd.  68  (1892)]  ist  Jechts  arbeit  vor  allem  wertvoll ;  ihm  standen  ja 
auch  die  reichen  arcbivalischen  schätze  der  700  jähre  alten,  einst  gewaltigen  Stadt 
Görlitz  zur  Verfügung,  so  dass  seine  'Beiträge'  über  Görlitzer  namen  des  14.  Jahr- 
hunderts unser  wissen  von  den  mittelhochdeutschen  namen  erfreulich  bereichert 
haben.  Eine  erkenntnis  des  mittelhochdeutschen  namensystems  ist  aber,  wie  auch 
Socin  erkannte,  die  unumgängliche  Vorbedingung  für  unsere  kenntnis  der  neuhoch- 
deutschen; wie  aber  Socin  trotz  des  allgemeinen  titeis  'Mittelhochdeutsches  uamen- 
buch'  (1903)  sich  auf  das  12.  und  18.  Jahrhundert  und  auf  Basel  und  Umgebung 
beschränkte,  so  hat  auch  Reichert  trotz  des  scheinbar  allgemeinen  titeis  in  richtiger 
erkenntnis  des  vorläufig  möglichen  nur  die  Breslauer  namen  des  13.  und  14.  Jahr- 
hunderts behandelt. 

An  erster  stelle  stehen  die  taufnamen,  dann  werden  die  aus  taufnamen  ent- 
standenen familiennamen  besprochen;  ihnen  schliessen  sich  die  au,  welche  von 
örtlichkeiten,  ländern  oder  stammen  hergenommen  sind.  Unter  dem  kennwort 
'Übernamen'  zusammengefasst,  erscheinen  dann  die  von  allerlei  eigenschaften,  Zu- 
fälligkeiten oder  vergleichungen  hergenommenen,  darauf  die  zusammengesetzten 
familiennamen.  Reichert  legt  dabei,  wozu  die  Verleitung  oft  nahe  lag,  absichtlich 
nicht  das  hauptgewicht  auf  die  erklärung  der  einzeloen  namen  —  die  nur  aUzu  oft 
unsicher  bleibt  — ,  sondern  auf  die  namenbildung  als  System.  Hier  sind  denn  auch 
gewisse  richtlinien  gewonnen,  an  die  weitere  Untersuchungen  sich  halten  können ; 
unter   6.  (Übernamen)  Hessen  sich  durch  noch   schärfere   disposition  später  vielleicht 


ÜBER    JÄSCHKE,   LATEnslSt'H-lt()MAX[S(IlKS    FliE.MDWÜKTElUU'CIl  117 

Übergeordnete  gesichtspunkte  herstellen,  die  den  überblick  erleichtern  würden.  Das 
matcrial  ist  überall  mit  Sorgfalt  und  genaiügkeit  zusammengetragen,  durch  besonders 
charakteristische  beispiele  gut  erläutert,  durch  kulturgeschichtliche  hinweise,  ver- 
gleichende rückblicke,  parallelerscheinungen  aus  der  neuzeit  belebt  und  beleuchtet. 
Besonders  anregend  sind  die  eingestreuten  statistischen  Zusammenstellungen,  z.  b. 
über  das  verschiedene  Verhältnis  der  deutschen  und  der  fremden  (biblisch-kirchlichen, 
slawischen,  wallonischen)  vornameu  bei  beiden'gescblechtern  (s.  6  und  30),  über  die 
Wandelungen  im  bestände  der  verbreitetsten  namen  (29.  30.  36),  wo  durch  ver- 
gleichung  sich  bereits  eine  grosse  Stetigkeit  über  weite  strecken  ergibt,  die 
Zusammenstellungen  über  die  Verschiebungen  der  frequenz  in  den  einzelnen  klassen 
(1.  alte  taufnamen,  2.  ortsuamen,  3.  berufsnamen,  4.  Übernamen)  in  den  jähren 
1287—1400  mit  dem  charakteristischen  ergebnis,  dass  gegenüber  der  stetigen  klasse  1 
die  namen  von  2  und  4  stark  schwanken,  4  allmählich  überwiegt  und  andererseits 
die  doppeluamigkeit  begünstigt  u.  a.  m. 

Eeichert  hat  in  mühevoller  arbeit  seinen  stoff  aus  teils  handschriftlichen, 
teils  gedruckt  vorliegenden  quellen  (handwerkersatzungen,  Schöffen-,  bürger-,  sig- 
naturbüchern  —  Grünhagen-Wutkes  regesten,  Korns  Breslauer  urkundenbuch,  Mark- 
graf-Frenzels  Breslauer  stadtbuch)  gewonnen.  Es  wäre  wünschenswert,  dass  auch 
anderwärts,  namentlich,  w^o  reiche  alte  archivschätze  zur  Verfügung  stehen,  gleich 
gründliche  und  vollständige  arbeiten  entständen ;  nur  so  kann,  wie  oben  betont 
wurde,  allmählich  eine  allgemeindeutsche  namenkunde  entstehen. 

BRESLAT'.  K.    ol.l'.KK  11. 


Erich  Jäschke,  Lateinisch -romanisches  f  r  e  m  d  w  ö  r  t  e  r  b  u  c  h  der 
schlesi sehen  mundart.  [Wort  und  brauch,  heft  2.]  Breslau  1908.  XVI, 
160  s.  5,60  ni. 
Wenn  'Schlesiens  volkstümliche  Überlieferungen'  zur  mitteilung  mundartlicher 
texte  reichlich  gelegenheit  gegeben  haben  und  noch  geben  werden,  wurde  für  die 
grammatikalische  und  lexikalische  bearbeitung  der  mundarten  von  Vogt  zunächst 
die  form  von  selbständigen  'beiheften'  der  Vereinszeitschrift  als  am  meisten  geeignet 
gewählt.  Die  von  Siebs  und  Hippe  neu  herausgegebene  Sammlung  'Wort  und 
brauch'  kann  jetzt  auch  umfangreichere  arbeiten  auf  diesem  gel)iete  in  ihren  rahmen 
aufnehmen,  wie  bereits  die  abhandlungen  von  W.  von  Unwerth  und  E.  Jäschke  zeigen. 
Während  die  versuche  einer  darstellung  der  schlesischen  mundart  nach  ihren 
lautverhältnissen,  ihrer  grammatik,  der  geographischen  Verteilung  ihrer  abarten  usw. 
seit  Weinholds  grundlegenden  Vorstudien  nie  völlig  aufhörten,  ist  für  die  fremden 
bestandteile  des  dialekts  nur  wenig  geschehen.  Eingehender  untersucht  wurden 
bisher  nur  die  slawischen  bestandteile  (vgl.  'Mitteilungen'  I,  17  ft.  Xehriug :  'Sla- 
wische niederschlage  im  schlesischen  deutsch') ;  über  die  lateinisch-romanischen  sind 
so  gut  wie  gar  keine  arbeiten  vorhanden.  Und  doch  sind  sie  in  grosser  zahl  ver- 
treten: der  Schlesier  gebraucht  noch  heute  in  vielen  fällen  das  vielleicht  schon 
veraltete  fremdwort  lieber  als  das  entsprechende  gute  deutsche  wort.  Freilich  gilt 
dies  nicht  vom  Schlesier  allein,  sondern  trotz  aller  sprachreinigungsljcstrcbungen 
auch    vom  Deutschen    im    allgemeinen;    aus    dieser   unendlichen  frcindwörtertiut  das 


118         OLBUICH    ÜUEH   JÄSCHKE,    LATEIXISf'II-KO.MANISCHES    FKEMDWÖUTEKBUCH 

spezifisch  eclit  schlesische  herauszuheben,  war  gewiss  keine  leichte  arbeit  und  erfor- 
derte einen  geschulten,  sicheren  blick.  Jäschke  hat  solche  gemeinsamen  Wörter 
nur  dann  aufgenommen,  wenn  sie  in  der  dialektform  grössere  abweichungen  vom 
deutschen  zeigten,  als  durch  die  regelmässigen  lautveränderungeu  bedingt  sind. 
Da  dabei,  wie  bei  den  slawischen  bestandteilen,  die  Volksetymologie  umformend  und 
angleichend  besonders  tätig  war,  musste  sie  häufig  erklärend  herangezogen  werden. 

Auch  bei  der  gewinnung  des  Stoffes  war  grosse  vorsieht  geboten.  Gesell- 
schaftliche konvention  und  literarische  tradition,  ja,  willkürliche  selbstbildungen 
setzen  den  wert  der  dialektschriftsteller  als  quelle  für  solche  forschungen  sehr 
herab;  mit  recht  zieht  daher  Jäschke  sie  erst  in  zweiter  linie  heran  und  stützt 
sich  bei  der  feststellung  eines  fremdwortes,  einer  volkstümlichen  redensart,  wo  es 
ihm  möglich  ist,  vor  allem  auf  ihr  auftreten  im  noch  lebenden  dialekte,  von  dessen 
zahlreichen  Schattierungen  er  meistens  den  am  leichtesten  verständlichen  'kleiu- 
städterdialekt'  zur  darstellung  wählte ;  eine  ganze  anzahl  von  Wörtern  musste  natür- 
lich in  der  form  des  flachland-  resp.  gebirgsdialekts  aufgenommen  werden,  in  dem 
sie  üblich  sind.  Einen  anspruch  auf  Vollständigkeit,  sowohl  bei  der  aufzählung 
der  fremdwörter  selbst  als  ihrer  formen,  darf  man  bei  einer  solchen  arbeit  nicht 
erheben;  was  aber  fleissige,  oft  recht  mühevolle  arbeit  leisten  konnte,  ist  hier  ge- 
schehen ;  was  etwa  noch  fehlen  sollte,  wird  gewiss  unter  der  anregung  dieser  Ver- 
öffentlichung bald  nachgetragen  werden. 

Durcli  kirchen-  und  Staatsterminologie,  Jurisprudenz  und  mcdizin  sind,  wie 
anderswo,  so  auch  im  schlesischen  lateinische  fremdworte  in  die  Volkssprache  ein- 
gedrungen ;  aber  auch  in  der  bezeichnung  von  pflanzen,  in  der  landwirtschaft,  liei 
haus  und  kleidung  usw.  treten  sie  auf.  Die  französischen  bestandteile  sind  zu 
verschiedenen  zeiten  unter  dem  überwiegenden  einflusse  dieser  nation  auch  in  die 
unteren  schichten  eingedrungen  und  bilden  auf  manchen  gebieten  (heerwesen,  handel, 
verkehr,  putz,  kleidung  usw.)  einen  festen  bestandteil  der  spräche.  Die  italienischen 
lehnworte  sind  vielfach  durch  die  oberdeutsch-österreichischen  dialekte  von  Süden 
her  nach  Schlesien  eingewandert  und  konkurrieren  auf  manchen  gebieten  mit  dem 
lateinischen  und  französischen ;  nicht  wenige  können  ebensogut  aus  zwei  von  diesen 
sprachen  stammen. 

Die  gewählte  form  der  lexikalischen  darstellung  ist  durchaus  anzuerkennen: 
auf  das  in  annähernd  mundartlicher  form  gegebene  Stichwort  folgt  die  phonetische 
lautform  (ev.  in  anehreren  abarten) ;  bedeutung  und  anwendung  wird  dann  au  pho- 
netisch transskribierten,  selbst  gehörten  volkstümlichen  redensarten  und  stellen  aus 
schriftlichen  quellen  (in  ihrer  Schrift)  gezeigt  und  belegt.  Am  schluss  jedes  artikels 
steht  in  einer  anmerkung  die  (mit  kluger  vorsieht  gehandhabte)  etymologische 
erklärung  nebst  kritischen  bemerkungen  und  verweisen  auf  andere  dialekte.  An 
Übersichtlichkeit  und  praktischer  brauchbarkeit  kann  so  dieses  Wörterbuch  vorbildlich 
für  ähnliche  arbeiten  auf  dem  gebiete  anderer  dialekte  sein.  Einer  späteren  for- 
schung  wird  es  vorbehalten  bleiben,  auf  grund  einer  genaueren  keuntnis  der  schle- 
sischen einzeldialekte  mit  ihren  Unterschiedsmerkmalen  zu  verscliiedenen  zeiten 
festzustellen,  wann  und  in  welcher  gestalt  das  fremdwort  in  die  mundart  eintrat, 
ob  und  welchen  lautwandel  in  der  heimischen  entwicklung  es  mitmachte,  ob  es 
vielleicht  mehrmals  aufgenommen  wurde  u.  a.  ra. 

BRESLAU.  K.  OLBKICH. 


V.  PAULS    ÜBER    BOKCHLINC,    I»[K    XU.  UECHTSQUELLEX    ( )SIKi;iESLAXUS         119 

C.  Borcliling,  Die  nieder deutscheo  recbtsqu eilen  Ostfrieslands. 
Bd.  I:  Die  rechte  der  einzellaudschafteu.  Aurich,  A.  H.  F.  Dunckinann,  1908. 
[Quellen  zur  geschichte  Ostfrieslands.  Herausgeg.  vom  kgl.  Staatsarchiv  zu 
Aurich.     Bd.  1.]     CXL,  282  s.  und   1  taf.     8  ra. 

Die  nd.  rechtsquellen  Ostfrieslands,  die  sämtlich  in  dem  Jahrhundert  von 
1460—1560  entstanden  sind,  schliessen  sich  zeitlich  und  inhaltlich  eng  an  die  alt- 
friesischen rechtsdenkmäler  an  und  sind  daher  in  gleicher  weise  für  den  sjjrach- 
forscher  wie  für  den  rechtshisturiker  wichtig.  Der  rechtshistoriker  erkennt  liier, 
wie  nach  der  1464  erfolgten  grUndung  der  reichsgrafschaft  Ostfriesland  die  rechts- 
bildung  allmählich  von  der  freien  Volksgemeinde  auf  die  laudesherren  übergeht. 
In  den  küren  und  landrechten  treten  die  'herren'  an  die  stelle  der  'lüde',  des  freien 
volks.  Daneben  macht  sich  seit  der  wende  des  15.  und  16,  Jahrhunderts  das  ein- 
dringen des  römischen  rechts  in  die  altheimischen  rechtssatzungen  in  immer  stärke- 
rem masse  bemerkbar. 

Für  den  Sprachforscher  bieten  diese  nd.  ostfriesischen  rechtsquellea  eine 
hauptquelle  für  altfriesische  sprachreste  im  ostfriesischeu  niederdeutsch.  Um  1450 
dringt  die  nd.  spräche  in  die  rechtsprosa  Ostfrieslands  ein.  Aber  durch  den  engen 
Zusammenhang  mit  den  rechtsquellen  in  friesischer  spräche,  die  teilweise  als  direkte 
vorlagen  der  nd.  Übersetzungen  gedient  haben,  ist  friesisches  in  die  nd.  fassungen 
hinübei'gerettet.  Ausserdem  gestattet  die  Überlieferung  dadurch,  dass  ältere  und 
jüngere  fassungen  derselben  rechte  vorhanden  sind,  reiche  beobaclitungen  zur  ge- 
schichte der  alten  rechtstermiui. 

Die  einleitung  Borchlings  gibt  zunächst  eine  kurze  historische  Übersicht  über 
die  einzelnen  rechtsgebiete  und  ausführliche  haudschriftenbeschreibungen.  Die 
nähere  Untersuchung  über  die  Verwandtschaft  der  quellen  und  ihre  abliäugigkeit 
von  der  friesischen  vorläge  ist  nur  für  das  Eüstringer  recht  eingehend  be- 
iiaudelt.  Für  die  schwierigeren  Emsgauer  texte  gibt  Verfasser  nur  die  resultate 
spezieller  Untersuchungen ;  die  genaue  quellenanalyse  soll  an  anderer  stelle  ver- 
öffentlicht werden.  An  Emsgauer  texten  enthält  dieser  band  alle  dem  allgemeinen 
ostfriesischen  landrecht  von  1516,  dem  der  zweite  band  dieser  publikation  vor- 
behalten ist,  vorausgehenden  geistlichen  und  weltlichen  rechte.  Die  älteste  rezen- 
sion,  wie  .sie  in  einer  hs.  der  zweiten  hälfte  des  15.  jahrlmnderts  vorliegt,  zerfällt 
in  drei  abschnitte,  die  auf  drei  verschiedene  friesische  vorlagen  zurückgehen,  und 
zwar  ist  der  erste  teil  —  die  grösseren  allgemeinfriesischen  rechtsquellen :  die 
17  küren  und  24  landrechte  mit  der  kurzen  vorrede  —  aus  einer  nicht  mehr  erhal- 
tenen friesischen  vorläge  geflossen.  Die  direkte  quelle  des  zweiten  teils,  einer 
Sammlung  von  kürzeren  nachtragen  und  ergänzungen  zu  den  allgemeinfriesischen 
gesetzen  des  ersten  teils,  ist  die  bei  Richthofen,  Fries,  rqu.  als  E I  bezeichnete 
friesische  hs.  des  Emsgaus.  Die  stücke  des  dritten  hauptteils  —  Spezialgesetze 
des  Emsgaus:  emsiger  dornen  von  1312,  das  penningschuldbok,  die  speziellen  buss- 
taxen  und  die  sog.  bischofssühne  von  1276  —  haben  eine  ebenfalls  verloren  ge- 
gangene, aber  der  friesischen  hs.  E  II  bei  Eichthofen  nahe  verwandte  friesische  hs. 
zur  Vorlage  gehabt.  Die  fremdrechtlichen  teile  dieser  rezension  -  liiiiter  küre  3 
und  küre  6  und  das  erbrecht  (s.  27-3Bj  -  sind  Übersetzungen  aus  den  italienischen 
Juristen  des  14./15.  Jahrhunderts.  Die  fussnoten  des  textes  enthalten  die  nachweise 
zu  den  römischen  und  kanonischen  quellenzitaten.  Was  sonst  nocli  an  Emsgauer 
rechten  mitgeteilt  ist,  entstammt  jüngeren  hss.,  die  zwar  von  der  ältesten  rezension 
ausgegangen  sind,  aber  infolge  selbständiger  quellenbenutzung,  erheblich  von  dieser 


120  hlDZBAIWKI 

abweichen.  Das  seendrecht,  die  bestinimungeu  des  seendgerichts,  bescliliesst  die 
Eiusgauer  quellen. 

Einfacher  liegen  die  Verhältnisse  bei  den  nd.  Rüstringer  texten.  Die  Über- 
lieferung ist  zwar  jünger,  dafür  aber  einheitlicher.  Zwei  rezensionen,  an  umfang 
verschieden,  nicht  aber  nach  ihren  quellen,  gehören  beide  derselben  Übersetzung 
an,  die  auf  das  alte  Rüstringer  asegabok,  die  älteren  der  grossen  Rüstringer 
friesischen  hss.  (RI  bei  Richthofen),  zurückgeht.  Neben  den  allgemeinfriesischen 
küren,  landrechten  und  busstaxen  enthalten  sie  die  speziellen  gesetze  des  Rüstringer 
landes.  Als  anhang  I  folgen  jüngere  Rüstringer  texte:  Butjadiuger  küren  von  1479, 
Wurster  Willküren  von  1508,  die  jüngeren  Wurster  busstaxen,  das  Würder  buss- 
buch von  1627.     Anhang  n  enthält  die  sagenhaften  stücke  der  Wurster  hss. 

Den  dritten  haui)tabschnitt  umfasst  ein  kurzes  stück  von  12  kapiteln  aus 
dem  Harlingerland  und  ein  bruchstück  eines  seendrechts  für  Ostringen  und  AVanger- 
land,  der  einzige  beitrag  aus  dem  Jeverland. 

Ein  reichhaltiges  lesartenverzeichnis  beschliesst  diesen  ersten  band.  Ein 
glossar  soll  am  schluss  des  zweiten  baudes  folgen. 

TÖXXING    (SOHLE.SWKi-HOL.STEIX).  V.  PAULS. 


Hermann  Möller,  Semitisch  und  indogermanisch.  Erster  teil.  Konsonanten. 
Kopenhagen,  H.  Hagerup  1907.  XVI,  395  s.  16  m. 
Die  Sprachwissenschaft  stand  in  Europa  in  ihren  anfangen,  wie  fast  alle 
disziplinen,  unter  dem  einflusse  der  biblischen  Urgeschichte.  Gott  und  die  ersten 
menschen,  bis  zur  Sprachverwirrung,  sprachen  hebräisch,  das  hebräische  war  die 
'alma  mater  omnium  linguarum',  also  müssen  sich  alle  sprachen  daraus  ableiten 
lassen.  Seit  dem  aufkommen  der  hebräischen  Studien  in  Europa  suchte  mau,  wo 
man  überhaupt  dem  Ursprünge  der  sprachen  nachgieng,  sie  auf  das  hebräische 
zurückzuführen.  Das  19.  Jahrhundert  räumte  auch  hiermit  auf.  Kein  ernster  gelehr- 
ter stellte  mehr  das  hebräische  als  die  mutter  der  europäischen  sprachen  hin,  aber 
es  wurden  noch  oft  genug  versuche  gemacht,  eine  Verwandtschaft  zwischen  der 
neuentdeckten  indoeuropäischen  sprachen familie  und  den  schon  früher  als  einheit 
erkannten  semitischen  sprachen  nachzuweisen.  Möller  strebt  in  dem  gross  angelegten 
werke,  dessen  erster  band  vorliegt,  demselben  ziele  zu.  Sein  versuch  ist  gründ- 
licher, gediegener,  wissenschaftlicher  als  alle  seine  vorlauter,  und  doch  ist  auch  er 
abzulehnen.  Eine  Verwandtschaft  zwischen  den .  indogermanischen  und  semitischen 
sprachen  ist  nicht  a  limine  abzuweisen.  Von  den  Wörtern  sicherer  oder  möglicher 
entlehnung  und  der  dehnbaren  masse  der  onoraatopöien  abgesehen,  zeigen  beide 
Sprachenfamilien  berühruugspunkte,  die  vielleicht  zufällig  zusammengetrotfen  sind, 
aber  aucli  auf  gemeinsamem  Ursprünge  beruhen  können.  Dies  fällt  auch  dem  semi- 
tisten  auf,  und  schon  mancher  hat  sich  die  frage  vorgelegt,  ob  das  problem  sich 
nicht  mit  sicherer  methode  untersuchen  und  nach  der  einen  oder  anderen  seite  hin 
entscheiden  lasse.  Aber  die  Überzeugung  drängt  sich  bald  auf,  dass  die  semitische 
Sprachwissenschaft  nicht  soweit  vorgeschritten  ist,  um  über  sie  hinaus  fäden  nach 
dem  arischen  hin  zu  ziehen.  Die  semitische  Sprachwissenschaft  ist  weit  hinter  der 
indogermanischen  zurück,   und   es  kann  nicht  anders  sein.     Die  zahl  der  semitisten 


ÜBER   MÖLl.EU,    SEMITISCH    UND    INDOGERMANISCH  121 

ist  verhältnismässig  gering.  Durch  die  ummterhrocheneii  ausgrahungen  und  viele 
einzelfunde  wird  ihnen  neues  sprachliches  material  in  so  rascher  folge  und  in 
solchem  umfange  zugetragen,  wie  auf  keinem  anderen  linguistischen  gebiete.  Es 
vergeht  fast  kein  monat,  ohne  dass  neue  funde,  kein  jähr,  ohne  dass  umstürzende 
entdeckuugen  gemacht  würden.  Dabei  steht  mau  erst  am  anfange  der  ausgrabungs- 
tätigkeit.  Der  reichtum  an  neuem,  so  erfreulich  er  an  sich  sein  mag,  hemmt  eine 
gründliche  durchforschuug  des  alten,  und  darunter  leidet  auch  die  Sprachwissenschaft. 
Schon  vor  der  trenuung  der  uns  bekaunteu  semitischen  Völker  war  das  semitische 
triliteral  ausgeViildet.  Dies  kann  aber  nur  ein  sekundärer  zustand  sein,  durch  eine 
weitgehende,  straffe  analogiebildung  durchgeführt.  Die  Voraussetzung  für  eine 
gesunde  semitisch-indogermanische  Sprachvergleichung  ist  eine  auf  grund  exakter 
forschung  vom  semitischen  aus  durchgeführte  analyse  der  semitischen  wortstämme, 
eine  beantwortung  der  frage,  bei  welchen  die  triliteralität  primär,  bei  welchen  sie 
durch  erweiterungen  entstanden  ist,  ob  und  wie  die  afformative  die  älteren  bestand- 
teile  beeinflusst  haben,  welcher  zusanimeuhaug  zwischen  ihnen  und  den  flexions- 
affixen  bestehe.  Ob  es  uns  aber  möglich  sein  wird,  diese  fragen,  die  in  zeiten 
hineinreichen,  die  um  viele  Jahrtausende  vor  jeder  schriftlichen  aufzeichnung  liegen, 
mit  einiger  Sicherheit  zu  beantworten,  lässt  sich  jetzt  nicht  voraussehen.  Manche 
aufklärung  wird  das  ägyptische  bringen,  und  wenn  erst  nach  fertigstellung  des 
ägyptischen  thesaurus  die  ägyptische  w^ortforschung  eine  sichere  grundlage  erhalten 
hat,  wird  auch  auf  die  ältere  geschichte  der  asiatischen  semitischen  sprachen  ein 
licht  fallen.  Die  lautliche  erforschung  der  w^irzeln  muss  hand  in  band  mit  dem 
versuche  gehen,  die  Wortbedeutungen  möglichst  weit  nach  rückwärts  zu  verfolgen. 
Hier  sind  aber  die  Voraussetzungen  jetzt  noch  weit  uugünstiger.  Seihst  bei  inner- 
semitischen Studien  hemmt  die  mangelhaftigkeit  der  lexikalischen  hilfsmittel.  Nur 
für  das  hebräische,  d.  h.  das  kleine  buch  des  alten  testaments,  besitzen  wir  ein 
wissenschaftlichen  anforderungen  genügendes  Wörterbuch.  Für  das  arabische,  das 
wegen  des  reichtums  seines  Wortschatzes  und  seiner  literatur  wichtigste  semitische 
idiom,  gibt  es  kein  Wörterbuch,  das  auch  nur  bescheidenen  ansprüchen  genügte. 
In  keinem  sind  die  übrigen  semitischen  sprachen  berücksichtigt,  kaum  dass  sich 
aus  ihnen  altes  und  neues  sprachgut  auseinanderhalten  oder  sich  unterscheiden 
lässt,  was  aus  den  einheimischen  lexikographen  geschöpft,  was  der  literatur  ent- 
nommen ist.  Man  bedenke,  was  herauskäme,  wenn  jemand  auf  grund  eines 
griechischen,  lateinischen  und  deutschen  Wörterbuches,  nicht  etwa  der  Thesauri  und 
des  Grimm,  sondern  des  Passow,  Freund  und  des  alten  Adelung  arische  urwurzeln 
herstellen  und  daraufhin  eine  indogermanisch-finnische  Sprachvergleichung  aufbauen 
wollte.  Wenn  der  Verfasser  die  vorhandenen  hilfsmittel  gewissenhaft  benutzte,  auch 
verstecktes  erspähte,  das  für  die  lösung  seiner  frage  von  nutzen  sein  konnte,  so 
ist  es  bei  der  weiten  entfernung  der  semitischen  linguistik  von  seinem  eigenen 
arbeitsgebiete  ganz  besonders  anzuerkennen;  der  objektive  wert  seiner  arbeit 
gewinnt  dadurch  nicht.  Im  jähr  1875  schrieb  \\'hituey  (Leben  und  Wachstum  der 
spräche,  übersetzt  von  Leskien,  s.  269) :  'Es  kann  niclit  stark  genug  l)etunt  werden, 
dass  es  verfrüht  ist  über  die  Verwandtschaft  des  semitischen  mit  irgend  welcher 
andern  spräche  eine  meinung  auszusprechen,  ehe  die  besonderheiten  desselben 
wenigstens  annähernd  erklärt  sind.'     Diese  Warnung  gilt  noch  jetzt. 

GKKIFSWAM).  M.    LH  •/.HAUSK  I. 


122  VOSSLEI : 

Jac.  Villi  Criiinecken,  Priiicipes  de  li  n  guist  iq  iie  p  sy  chologiqu  c  ,  essai 
de  syutliese.  Paris,  Leipzig,  Amsterdam  1907  (Bd.  IV  der  Bibliotlieque  de 
Philosophie  experimentale).     VIII  u.  552  s.     10  m. 

Auf  den  letzten  selten  dieses  umfangreichen  und  fleissigen  werkes  steht 
zu  lesen : 

'Unmöglich  wäre  mir  die  Synthese  gewesen,  wenn  ich  nach  der  positivistischen 
inethode,  wie  sie  in  der  indogermanischen  Sprachvergleichung  als  die  einzig  sichere 
anerkannt  ist,  hätte  arbeiten  müssen.  Sehr  leicht  wäre  mir  die  synthese  geworden, 
wenn  ich  mich  blindlings  auf  eine  rein  idealistische  theorie  hätte  werfen  wollen, 
etwa  so,  wie  es  einst  Bopp  und  Pott  getan  haben  und  wie  es  neuerdings  wieder 
K.  Vössler  und  B.  Croce  tun  möchten.  —  Eine  richtige  synthese  wäre  ferner  diese 
Synthese  niemals  geworden,  wenn  ich  mich  auf  den  Standpunkt  derer  gestellt  hätte, 
die  mit  H.  Paul  an  der  spräche  immer  nur  die  geschichte  sehen,  oder  derer,  die 
als  gefolgsleute  der  phonetiker  und  dialektologen  sich  lediglich  mit  aktuellen  tat- 
sachen  beschäftigen.     Diese  sind  gerade  so  einseitig  wie  jene. 

Vielmehr  habe  ich  getrachtet,  mir  von  allen  zusammen  etwas  anzueignen. 
Von  den  positivisten  die  Sicherheit  ihrer  methode,  von  den  Idealisten  den  zusammen- 
fassenden überblick,  von  den  historisten  die  einsieht  in  entst^hung  und  Wechsel  der 
spräche,  von  den  phonetisten .  und  dialektologen  die  einsieht  in  die  beschaft'enheit 
und  in  die  kleinen  einzelheiten  der  spräche.' 

So  mangelhaft  und  anfechtbar  mir  immer  die  Zusammenstellung  und  Charak- 
teristik dieser  4  Massen  von  -isten  erscheinen  mag,  so  muss  ich  dennoch  anerkennen, 
dass  der  Verfasser  mit  den  obigen  worten  sein  werk  in  durchschlagender  weise 
charakterisiert  hat.  Es  ist  in  der  tat  eine  auf  dem  wege  teilweiser  entlehuungen 
und  aueignuugen  zustande  gebrachte  synthese,  in  Wirklichkeit  also  keine  synthese, 
sondern  eine  eklektische  kompilation.  Ein  haltbarer  grundgedanke,  der  das  ganze 
beherrschte,  ist,  soviel  ich  sehe,  nicht  vorhanden.  Der  Verfasser  versichert  uns  zwar, 
dass  er  kraft  eines  solchen  grundgedankens,  kraft  einer  solchen  'virtus  in  medio' 
die  vier  genannten  -isten-klassen  umsclilungen  und  bezwungen  habe,  und  dass  dieser 
grundgedanke  der  psychologische  sei.  —  Indessen  bezeugt  uns  ein  psychologe  von 
fach,  dr.  K.  Bühler,  auf  grund  einer  eingehenden  besprechung,  dass  das  werk  für 
die  heutige  psychologie  keine  sonderliche  bedeutung  hat,  ja  sogar  von  psycho- 
logischen Irrtümern  wimmelt  (Zeitschr.  f.  psychol.  und  physiol.  d.  Sinnesorgane,  Leipzig 
1908,  I.  abt.  s.  274—294).  Aber  es  wäre  denkbar,  dass  Ginneckens  psychologischer 
grundgedanke  sich  dafür  um  so  fruchtbarer  für  die  Sprachwissenschaft  erwiese. 

Die  spräche  von  ihrer  entstehung  beim  Sprecher  bis  zu  ihrem  Verständnis 
beim  hörer  zu  verfolgen  und  all  die  typischen  Vorgänge,  die  sich  auf  diesem  wege 
abspielen  können,  in  ein  möglichst  genaues  begriff'ssystem  einzugliedern,  das  ist  in 
kürze  der  grundgedanke.  Dabei  wird  natürlich  vorausgesetzt,  dass  das  psychologisch 
typische  immer  auch  ein  sprachwissenschaftliches  typicum  zu  sein  hat;  denn,  wäre 
dem  nicht  so,  bestände  zwischen  den  gesetzen,  die  der  psychologe  lindet,  und  den- 
jenigen, die  der  Sprachforscher  konstatiert,  keine  durchgängige  kongruenz,  analogie 
oder  korrelation,  so  müsste  entweder  auf  eine  linguistique  psychologique  verzichtet 
werden,  oder  es  müsste  durch  irgendwelche  art  der  bearbeitung  das  gesamte  psycho- 
logische begriffssystem  in  das  sprachwissenschaftliche  eingepasst  und  eingefügt 
werden.  Diese  einpassuug  wäre  eben  gerade  die  hauptaufgabe  einer  linguistique 
psychologique. 


ÜBER   VAX    GINNECKEX,   PRINCIPES   DE   LINGUISTIQUE   PSYCHOLOGIQUE         123 

Eine  psychologie  linguistique,  d.  h.  eine  eingliederung  und  auflösung  sprach- 
wissenschaftlicher begriffe,  v>ie  z.  b.  kuitwandel,  flexionssystem,  kasus,  modus  usw., 
in  eine  psychologische  begriffsordnung,  wie  z.  b.  ausdrucksbewegung,  assoziation, 
apperzeption,  aifekt  und  dergleichen,  ist  etwas  rafJgliches,  wünschenswertes  und  zum 
teil  auch  schon  vollbrachtes.  Es  werden  dabei  tj-pische  Vorgänge  des  sprachlichen 
lebens  auf  typische  Vorgänge  des  Seelenlebens  überhaupt  zurückgeführt,  und  der 
grammatiker  sowohl  wie  der  psychologe  gewinnen,  jeder  in  seine  besonderen  Pro- 
bleme, eine  vertiefte  einsieht. 

Welchen  vorteil  wir  uns  aber  von  einer  linguistique  psychologique  zu  ver- 
sprechen haben,  ist  mir  unerfindlich.  Denn  so  gewiss  es  ist,  dass  alles  sprachliche 
leben  ausnahmslos  und  unterschiedslos  aus  dem  leben  der  seele  quillt  und  nur 
von  hier  aus  zu  begreifen  ist,  ebenso  sicher  ist  es,  dass  entfernt  nicht  alles  seelische 
leben  von  der  spräche  aus  begreiflich  wird.  Wir  kennen  unterhalb  sowohl  wie  ober- 
halb der  sprachlichen  Sphäre  ein  reiches  seelisches  leben.  Es  ist  darum  für  eine  reihe 
jüngst  erschienener  psychologisch-sprachwissenschaftlicher  arbeiten  charakteristisch, 
dass  sie  eine  unmasse  von  tatsacheu,  begriffen  und  gesetzen  mit  sich  schleppen, 
die  mit  den  Interessen  des  Sprachforschers  nicht  das  geringste  mehr  zu  tun  haben. 
Sie  hoffen  unsere  kenntnis  zu  vertiefen,  indem  sie  uns  in  die  breite  führen.  Wenn 
man  von  dem  werke  W.  W'undts,  das  ich  übrigens  nicht  als  linguistique  psycho- 
logique, sondern  als  psychologie  linguistique  ansprechen  möchte,  absieht,  so  wüsste 
ich  nicht,  was  die  anderen  uns  nennenswertes  oder  brauchbares  gebracht  hätten. 
In  der  hauptsache  haben  sie  uns  nur  schuft  herbeigeschleppt,  den  der  kritiker  seine 
liebe  mühe  hat,  wieder  auszuscheiden  und  wegzuschaffen.  Aus  dem  untersprach- 
lichen reiche  kommend,  erzählen  sie  uns  von  den  ausdrucksbeweguugen  der  tiere, 
vom  herzschlag,  von  kongestioncn  und  krankheiten.  Aus  dem  übersprachlichen 
himmel  herab  werfen  sie  uns  die  ganzen  logischen  kategorien  wieder  auf  das 
dach,  nachdem  wir  doch  längst  erkannt  hatten,  dass  die  kategorien  der  spräche 
(verbum,  nomen,  adjektiv)  weder  logisch  noch  unlogisch,  sondern  eben  sprachlich, 
d.  h.  alogisch  sind. 

So  bringt  denn  auch,  wie  sicli  bei  dieser  Sachlage  erwarten  liess,  das  werk 
Ginneckens  eine  flut  von  material,  von  tatsachen,  beobachtungen,  begriffen,  begrifl's- 
tabellen,  begriffskombinationen,  unter  denen  man  nur  mit  grosser  geduld  und  an- 
strengung  das  wenige,  das  neu  und  zugleich  brauchbar  ist,  sich  suchen  muss. 

In  dem  streben,  vollständig  zu  sein,  ist  der  Verfasser  ermüdend  geworden; 
das  streben  nach  neuen  gesichtspunkten  hat  ihn  oft  von  den  spezifisch  sprach- 
wissenschaftlichen Interessen  abgeführt.  Kurzum,  der  leitende  grundgedanke  ist 
nicht  sprachwissenschaftlich  genug,  um  dem  psychologen,  und  nicht  psychologisch 
genug,  um  dem  Sprachwissenschaftler  eine  wesentliche  förderung  zu  bringen.  In 
der  hauptsache  bleibt  es  bei  einer  fleissigen,  emsigen,  unermüdlichen  Sammlung  und 
verquickung  ungleichartiger  dinge.  Die  ganze  einteilung  ist  dogmatisch  und  para- 
graphenmässig,  denn  gedankenmässig  konnte  sie  scliAverlicli  gestaltet  werden. 

Das  erste  buch  handelt  von  sach-  und  wortvorstellungen,  von  ihrer  jeweiligen 
sinnlichen  färbung  und  von  den  Verbindungen,  die  sie  eingehen.  Das  zweite  handelt 
vom  verstehen  (intelligence  et  son  adhesion).  Dieses  verstehen  oder  einwilligen  in 
die  Vorstellungen  der  Sachen  und  würter  ist,  wie  rünnccken  zu  beweisen  suclit,  der 
eigentliche  lebensnerv  alles  Sprechens.  Das  verständnislose  vorstellen  und  ver- 
knüpfen von  Vorstellungen  macht  noch  keine  spräche.  Trotzdem  der  Verfasser  diese 
lehre   erst  im   zweiten  buche  entwickelt,  mutet  er  uns  sclion  im  ersten  eine  unter- 


124  SOKOLOWSKY 

Scheidung  von  Avorteu  und  Sachen  zu  und  spricht  uns  von  den  quatre  phases  daus 
la  comprt^hension  du  niot,  macht  also  den  zweiten  schritt,  bevor  er  den  ersten 
getan  hat. 

Aus  dem  begriff  des  verstehens  (adhesiou)  werden  nun  sämtliche  wortkate- 
gorien  der  grammatik  abgeleitet.  Verstehen  wir  etwas  ols  existierend,  so  entspricht 
diesem  Vorgang  die  Wortklasse  der  substantiva  oder  die  des  präsens  Indikativ.  Ver- 
stehen wir  etM'as  als  möglich,  so  pflegt  sich  das  in  adjektiven  oder  modal-  und 
tempusformen,  die  nicht  präseutisch  oder  indikativisch  sind,  darzustellen.  Ist  unser 
A'erstehen  isoliert,  einmalig,  neu,  absolut,  so  drückt  es  sich  im  Zeitwert  aus;  ist  es 
zusammeuhängend,  mehrmalig,  auf  etwas  früheres  bezogen  und  relativ,  so  kommt 
ein  nomen  zustande.  Verstehen  wir  etwas  durch  rein  abstrakte  bezeichnung,  so 
bedienen  wir  uns  der  klassen  des  hilfszeitwortes,  des  pronomens,  der  Zahlwörter, 
der  eigennamen  und  dergleichen ;  verstehen  wir  es  in  seiner  anschaulichen  gegen- 
ständlichkeit,  so  treten  adjektive,  Substantive  und  Zeitwörter  zutage. 

Wie  man  leicht  sieht,  liegt  dieser  subtilen  Spielerei  ein  kolossaler  Irrtum  zu- 
grunde: nämlich  die  gleichsetzuug  von  logischem  oder  wissenschaftlichem  und 
sprachlichem  oder  künstlerischem  verstehen  und  der  glaube,  dass  diese  grundver- 
schiedenen formen  unserer  geistigen  tätigkeit  auf  dem  boden  einer  alles  nivellierenden 
Psychologie  sich  miteinander  kombinieren  lassen. 

Derselbe  irrtum  setzt  sich  im  dritten  buche  fort,  indem  hier  die  psychologische 
kategorie  des  gefühles  mit  der  grammatischen  der  iudeklinabeln  oder  unflektierten 
worte  in  kausalzusammenhang  gebracht  wird. 

Das  vierte,  letzte  und  längste  buch  versucht,  die  psychologische  kategorie 
des  willens  in  die  grammatik  hineinzuarbeiten.  Automatismus  und  bewusster 
wille  liegen  allen  dynamischen  erscheinuugen  des  sprachlichen  lebens  zugrunde, 
eine  tatsacbe,  die,  richtig  verstanden,  gewiss  von  niemand  bestritten  wird.  Aber 
selbst  in  diesem  vierten  buche,  wo  der  oben  gekennzeichnete  grundirrtum  sich  hätte 
neutralisieren  können,  selbst  hier  verdirbt  die  psychologisch-spekulative  barbarei 
des  Verfassers  den  reichen  schätz  von  kenntnissen,  tatsachen  und  beobachtungen, 
den  er  zusammenhäuft.  Auf  vier  psychologische  grundgesetze,  die  selbst  von  den 
Psychologen  noch  als  fragwürdig  bezeichnet  werden,  führt  er  durch  zahlreiche  kom- 
binationen  hindurch  sämtliche  Wandlungen  der  spräche  zurück.  Also  auch  hier 
liegt  der  wert  nicht  in  der  synthese,  sondern  in  den  einzelheiten.  Solcher  einzel- 
heiten,  teil-  und  einzelerklärungen  findet  man  eine  fülle.  Das  buch  ist  eine  fund- 
grube  instruktiver  beispiele,  lelirreicher  kuriosa,  interessanter  exkurse,  scharfsinniger 
polemik  und  ein  staunenswertes  zeuguis  allseitiger  sprachgeschichtlicher  gelelirsam- 
keit.  Um  so  mehr  ist  zu  bedauern,  dass  eine  so  überaus  tüchtige  arbeitskraft  sich 
in  spekulativen  Spielereien  vergeudet,  und  dass  der  Verfasser  den  schätz  seines  ge- 
diegenen linguistischen  wissens  in  den  dienst  eines  hinfälligen  gedankensystems  ge- 
stellt hat, 

WL'RZBURG.  KAKL    VUSSLEK. 


Hans  trerhard  Graef,  Goethe  über  seine  dichtungen.  II.  teil:  Die  drama- 
tischen dichtungen,  IV.  band.  (Des  ganzen  Werkes  VI.  band.)  Frankfurt  a.  M., 
Literarische  anstalt,  1908.     VIII,  711  s.     20  m. 

Die   hoffnung,    mit    der   ich   meine    besprechung   des   letzten   bandes  schloss, 

scheint   sich    nicht   im  vollen  umfange,   oder  wenigstens  nicht  so  rasch,  erfüllen  zu 


ÜBER   GKAEF,    C40ETHE    CHER   SEINE   DICHTUNGEN  125 

solleu.  Der  Verfasser  sieht  sich  bei  dem  vorliegenden  bände  leider  zu  der  er- 
kiärung-  veranlasst,  dass  er  infolge  der  übergrossen,  diesem  seinem  geliebten 
schmerzenskinde  gebrachten  pekuniären  opfer  von  ihm  abschied  nehmen  und  die 
Vollendung  des  dritten,  die  lyrischen  dichtungen  behandelnden  teiles  'wo  nicht  ganz 
aufgeben,  so  doch  bis  auf  unbestimmte  zeit  vertagen'  müsse.  So  sehr  man  das 
bedauert,  so  muss  man  ihm  und  der  Verlagsbuchhandlung  auch  dankbar  sein,  liegt 
doch  mit  diesem  VI.  bände  der  II.  teil  des  Werkes,  der  sich  auf  Goethes  dramatische 
dichtungen  bezieht,  als  ein  geschlossenes  ganzes  vor.  Nach  anläge  und  stoffbe- 
handhmg  schliesst  er  sich  seinen  Vorgängern  würdig  an.  Eine  grössere  menge 
kleinerer  arbeiten  und  entwürfe,  die  er  umfasst,  weist  deutlich  auf  eine  anzahl 
Micken  in  der  heutigen  Goetheforschung  hin,  von  denen  allerdings  ein  gut  teil  wohl 
niemals  ausgefüllt  werden  wird.  Dass  Goethe  sich  1767  in  Leipzig  mit  einem 
K  0  m  e  0  Stoff  trug  und  damit  das  bürgerliche  trauerspiel  von  Chr.  Felix  Weisse 
übertreffen  wollte,  ist  bekannt.  Ob  er  seiner  arbeit  aber  wirklich,  wie  Minor 
(Zeitschr.  für  allgem.  geschichte  IX,  655)  meint,  den  titel  'Der  neue  Romeo'  geben 
wollte,  welcher  art  sein  plan  und  seine  absiebten  waren,  und  ob  er  schon  an  die 
ausführung  gegangen  ist,  muss  dahingestellt  bleiben,  so  sehr  auch  die  kenntnis  des 
Leipziger  Studiosus  Goethe  der  kombination  tür  und  tor  zu  öffnen  scheint.  Eine 
ansprechende  Vermutung,  wenngleich  vorläufig  auch  nichts  weiter  als  eben  eine 
solche,  ist  es,  wenn  Graef  die  möglichkeit  hervorhebt,  dass  der  gleichfalls  schon  in 
das  jähr  1767  zurückreichende  plan  einer  dichterischen  behandlung  des  buches 
Ruth  nicht  ein  drama,  sondern  ein  epos  zum  ziel  gehabt  habe.  Bielschowsky  (I,  40) 
und  andere  bringen  diese  arbeit  in  Verbindung  mit  jener  heerschar  dramatischer 
dichtungen  nach  französischem  typus,  denen  die  theaterbegeisterung  des  jungen 
Goethe  in  der  Frankfurter  zeit  das  leben  schenkte.  Möglich  ist  das  natürlich, 
zwingend  aber  nicht.  Es  kann  sich  hier  ebensogut  um  einen  epischen  plan  handeln, 
und  wer  weiss,  ob  sich  nicht  noch  einmal  geheime  fäden  aufdecken  lassen,  die  von 
1767  in  die  mitte  der  90er  jähre,  von  Euth  nach  'Hermann  und  Dorothea'  hinüber- 
führen? Berichtet  doch  Schiller  selbst,  dass  Goethe  sich  mit  dem  letzteren  werke 
mehrere  jähre  herumgetragen  habe,  und  leiten  doch  auch  sonst  manche  brücken 
(vgl.  unter  anderem  den  Richter  und  Goethes  gleichzeitige  beschäftigung  mit  dem 
Mosesstoff)  von  'Hermann  und  Dorothea'  zur  biblischen  geschichte  zurück.  Interes- 
sant ist  es  ferner,  im  vorliegenden  bände  des  Graefschen  werkes  im  zusammenhange 
zu  beobachten,  wie  sorgsam  Goethe  bei  'Scherz,  list  und  räche'  das  kompo- 
nieren seines  stückes  durch  Christoph  Kayser  verfolgt,  eine  sorgsamkeit,  die  freilicli 
ilurch  Mozarts  auftreten  mit  der  'Entführung  aus  dem  serail'  um  den  erhofften 
lohn  kam.  Dass  die  theaterreden  von  grosser  bedeutung  für  die  kenntnis  von 
Goethes  tätigkeit  als  theaterleiter  und  dramaturg  sind,  liegt  auf  der  haml.  Eine 
wichtige  frage  bleibt  dabei  aber  die,  ob  der  'Epilog  zu  Schillers  g locke' 
als  eine  selbständige  theaterrede  (Graef)  oder  als  ein  teil,  und  zwar  als  das  'einzig 
ausgeführte  stück'  von  'Schillers  totenfeier'  (Morris  2.  aufl.  I,  318  ff.)  aufzufassen 
sei.  Nicht  mit  unrecht  führt  Graef  an,  dass  Goethe  das  Vaterland  doch  nicht  selbst 
die  am  sciüusse  der  ersten  fassung  des  'Epilogs'  sich  findenden  worte  hätte  sagen 
lassen  können: 

0  möge  doch  den  heil'geu  letzten  willen 

das  Vaterland  vernehmen  und  erfüllen ! 
Neben   dem   'Tasso'   und   der   'Stella'   sei   hier  noch   auf  einige   kleinere 
plane  beziehungsweise  dichterische  vorwürfe  hingewiesen.     Aus  dem  jähre  1771  auf 


126    KAUFMANN  ÜBEU  GEBHARDT,  GUAJnrAirK  DER  NÜRNHERER  MUNDART 

den  'Sokrates'.  Bekanntlich  sieht  ein  moderner,  viel  gelesener  und  belesener 
Schriftsteller  (Chamberlain)  in  dem  griechischen  philosophen  nur  einen  abergläuhischea, 
von  priesterinnen  belehrten  und  von  dämonen  besessenen  philister.  Was  muss 
dieser  sagen,  wenn  er  sieht,  wie  ein  Goethe  einerseits  den  lehrer  des  Plato  mit 
Christus  vergleicht,  anderseits  in  ihm  einen  grossen  menschen  erblickt,  den  er  mit 
'liebcuthusiasmus'  an  die  brüst  drücken  möchte.  Das  sind  Worte  aus  Goethes 
Jünglingszeit.  Wie  wunderbar  aber  erscheint  uns  der  dichter,  wenn  wir  ihn  dann 
als  greis  im  höchsten  alter  mit  gleichem  feuer  seiner  augenblicklichen  laune  nach- 
geben und  vor  den  erstaunten  zuhöreru  (Eckermann  beziehungsweise  graf  Kozmian 
und  anderen)  plan  und  gedanken  zu  einer  'Moses' oper  oder  zu  einem  epos 
'Kasimir,  der  mönch'  äussern  hören!  Für  die  Goetheforscher  sei  noch  erwähnt, 
dass  der  vorliegende  band  das  ausführliche  register  für  die  bände  III— VI  (drama- 
tische werke)  und  eine  vollständige  Übersicht  der  dramatischen  dichtungen  nach 
den  jähren  ihrer  entstehung  bringt,  und  Verfasser  und  Verleger  sei  endlich  die  frage 
vorgelegt,  ob  es  nicht  ratsam  ist,  sich  zugunsten  der  beeudigung  ihres  ganzen 
Werkes  an  die  GoethegeseUschaft  zu  wenden  ^ 

1)  Dies  ist  inzwischen  geschehen  und  die  fortfahrung  des  Graefschen  werkes  da- 
durch gesichert  worden. 

ALTONA.  RUDOLF    .SOKOLO\VSKY. 


Grammatiken  deutscher  mundarten  bd.  MI:  Grammatik  der  Nürnberger 
mundart  von  August  Gerhardt,  unter  mitwirkung  von  Otto  Bremer.  Leipzig, 
Breitkopf  &  Härtel  1907.  XVI,  392  s.  12  m. 
Die  besondere  aufgäbe,  vor  die  sich  die  bearbeiter  der  Nürnberger  mundart 
gestellt  sahen,  lag  darin,  dass  sie  es  mit  einem  städtischen  dialekt  zu  tun 
hatten.  Ich  hätte  darum  den  ausdruck  'Nürnberger  mundart'  lieber  vermieden 
gesehen.  Denn  ein  stadtdialekt  ist  etwas  anderes  als  eine  volksmuudart  des  platten 
landes.  Gebhardt  deutet  dies  mit  der  bemerkung  an,  dass  in  den  einzelnen  Stadt- 
vierteln die  zahl  der  mundartsprecher  grösser  oder  kleiner  ist  (s.  3).  Als  beobach- 
tungsfeld  hat  er  das  Egidierviertel  gewählt:  'hier  herrscht  noch  der  kleinbürger, 
der  mit  wenigen  gesellen  sein  geschäft  betreibt,  beim  abliefern  seiner  waren  an 
den  exporteur  selbst  nicht  in  berührung  kommt  mit  fremden  —  es  sind  meist  rot- 
giesser,  zirkelschmiede  und  verwandte  haudwerker,  die  hier  in  betracht  kommen  — 
und  abends  nach  des  tages  last  und  mühe  unter  seinesgleichen  in  einer  kleinen,  aber 
säubern  bierstube  der  nachbarschaft,  am  sonntag  aber  auf  einem  Spaziergang  mit 
seinen  angehörigen  erholung  sucht'  (s.  5).  Der  sprachkreis  ist  also  etwa  dem  zu 
vergleichen,  aus  dem  Hans  Sachs  hervorgegangen  ist ;  durch  die  werke  dieses  autors 
gewinnt  er  seine  bedeutsame  Perspektive.  Leider  erfahren  wir  s.  IX  (vgl.  s.  311 
anm.  2),  dass  'eine  mehr  als  gelegentliche  herauziehung  der  spräche  der  Chroniken 
und  der  mundai'taukläuge  bei  Hans  Sachs  grundsätzlich  ausgeschlossen  war'.  Wir 
erwarteten  vergeblich  von  dem  umfangreichen  buch  die  entscheidenden  aufschlüsse 
über  den  sprachtypus  des  alten  Nürnberger  meisters.  Denn  der  wird  als  gross- 
städter  ungefähr  ebensoweit  von  der  volksmundart  der  Pegnitz  sich  entfernt  haben 
wie  der  von  Gebhardt  bevorzugte  Grübel  (vgl.  s.  312  f.)  und  wie  die  heutigen  klein- 


NEUE   ERSCHEINUNGEN  127 

biirg-er  seiner  raterstadt.  Die  aualyse  eines  modernen  stadtbürgerdeutsch  ist  nun 
al)er  an  und  für  sich  willkommen.  Gebhardt  spricht  von  einer  Zwischenstufe  zwischen 
mundart  und  Schriftsprache  (s.  8),  will  jedoch  diese  'halbmundart  der  gebildeten' 
von  dem  echten  nürnbergerisch  strenger  auseinandergehalten  sehen  als  in  den  älteren 
darstellungen  seines  Vorgängers  Frommann  (s.  34).  Die  'nürnbergerische  Volkssprache', 
die  sich  einerseits  von  der  gesellschaftssprache  der  gebildeten,  andererseits  vom 
Jargon  des  pöbeis  sondern  lässt,  ist  aber  darum  noch  nicht  ein  und  dasselbe  wie 
eine  'alte  mundart'  (s.  9;  vgl.  z.  b.  s.  62  f.  86,2).  Im  vorwort  sagt  uns  der  Ver- 
fasser selbst:  'rein  wird  die  mundart  nie  mehr  gesprochen'.  Darum  hätte  statt 
des  allzu  bequemen  ausdrucks  'mundart'  ein  adäquater  terminus  gewählt  werden 
sollen,  durch  den  zugleich  die  ältere,  dialektische  literatursprache  Nüi-nbergs  gedeckt 
und  in  die  erörterung  einbezogen  worden  wäre  (vgl.  s.  10  und  die  dankenswerte 
Übersicht  s.  35  ff.).  Weil  die  ältere  Sprachüberlieferung  Nürnbergs  nicht  genügend 
berücksichtigt  wurde,  haben  die  sehr  breit  vorgetragenen  Vermutungen  über  die 
Chronologie  der  lautveränderungen  fast  bloss  den  wert  einer  Spekulation  (vgl.  s.  245  f.). 
Auffallend  wenig  Idiotismen  entliält  der  Wortschatz,  den  Gebhardt  vor  uns  aus- 
breitet; auch  dies  moment  beeinträchtigt  in  hohem  grad  den  'mundartlichen' 
Charakter  der  spräche  (s.  141)  und  steigert  ihren  ausgeprägten  mischcharakter,  der 
auch  für  die  phonetischen  demente  immer  wieder  erwogen  werden  musste.  Ich 
kann  mich  z.  b.  nicht  davon  überzeugen,  dass  die  belege  für  stimmhaftes  -d-  (§§  112, 
114)  oder  für  -g  ^ -l-  (§  121,4;  vgl.  s.  133,  140,  184)  beweiskräftig  und  die  weit 
hergeholten  argumente  des  bearbeiters  erforderlich  seien.  Auch  die  'ausnahmen' 
von  dem  quautitätsgesetz  (§  130  aum.  2)  werden  schwerlich  dialektgemäss  sein  (vgl. 
§  131  anm.  1  u.  ö.). 

KIEL.  FRIEDRICH    KAUFFMANX. 


NEUE  ERSCHEINUNGEN. 

(Die  redaktion   ist  bemüht,   für  alle  zur  besprechunfj  geeigneten  werke  aus  dem  gebiete  der  german. 

Philologie  sachkundifie  referenten  zu  gewinnen,  üliernimmt  jedoch  keine  Verpflichtung,   unverlangt 

eingesendete    hücher    zu    rezensieren.     Eine    z  u  r  ii  c  k  1  i  e  f  e  r  u  n  g    der    r  o  z  e  n  s  i  o  n  s  -  e  x  e  m- 

plare    an    die    lierren    Verleger    findet    unter   keinen  umständen  statt.) 

Brugmann,  Karl,  Das  wesen  der  lautlichen  dissimilationen.    [Abhandl.  der  philol.- 

hist.  klasse  der  kgl.  sächs.  gesellscli.  d.  wiss.  XXVII,  6].    Leipzig,  Teubner  1909. 

(II),  40  s.     I,ß0  m. 
Busch,  Wilhelm.  —  Volkmann,  Otto  Felix,  Wilhelm  Busch  der  poet.    [Unter- 
suchungen zur  neueren  sprach-  u.  lit.gesch.,   herausg.  0.  F.  Walze  1.     K  f.  V.] 

Leipzig,  Haessel  1910.     (VI),  85  s.     2  m. 
Egils  s.aga  Skallagrimssonar.  —  Bley,  A.,   Eigla-studien.     [Universite   de   Gand. 

Recueil   de   travaux   publies   par   la   faculte  de  philosophie  et  lettres,  fasc.  39.] 

Gand,  E.  van  Goethem  &  cie.  1910.     X,  2B3  s.     13  fr. 
Fischer,  Frank,  Die  lehnwörter  des  altwestnordischen.    [Falaestra  LXXXV.]    Berlin, 

Mayer  &  Müller  1909.     X,  233  s.     6,B0  m. 
(iroethe.   —    Doli,    Alfred,    Goethes    Mitschuldigen.     Mit    anhang:    Abdruck    der 

ältesten  handschrift.    [Bausteine  zur  gesch.  der  neueren  deutschen  lit.,  herausg. 

von  Franz  Saran.    III.]     Halle,  Niemeyer  1909.     XIII,  275  s.     5  m. 
—   Francois-Poncet,   Andre,    Les   Affinites    electives   de   Goethe.     Avec   une 

preface  de  H  (>  n  r  i  L  i  c  h  t  e  n  b  e  r  g  e  r.   Paris,  Felix  Alcau  1910.   VII,  276  s.   5  fr. 


128  NEUE   ERSCHEINUNGEN   —   NACHRICHTEN 

—  Trau  manu,  Ernst,  Zu  Goethes  leben  und  werken.    Berlin,  Emil  Felber  1909. 

Vm,  161  s.     2,50  m. 
Heine.  —  Eck  er  tz,  Erich,  Heine  und  sein  witz.     [Lit.hist.  forschuugen,  heraus^. 

von  J.  Schick  und  M.  fr h.  von  Waldberg.   26.]    Berlin,  Emil  Felber  1908. 

VI,  196  s.     4  m. 
Jürgrensen,  Willi.,   Martinslieder.     Untersuchung  u.  texte.     [Wort  u.  brauch  .  .  ., 

herausg-.  von  Th.  Siebs  u.  M.Hippe.   VI.]    Breslau,  Marcus  1910.    VI,  174  s. 

5,60  m. 
Kobilinski,  Maximilian  \.,  Alter  und  neuer  versrhythmus.    Leipzig-Gohlis,  Bruno 

Volger  1909.     IV,  87  s.     2  m. 
Lessing.    —    Schmidt,    Erich,    Lessing.     Geschichte    seines    lebens    und    seiner 

Schriften.    3.  aufl.    Berlin,  Weidmann  1909.    2  bde.   VIII,  734 ;  VIII,  668  s.   20  m. 
Manacorda,  GJiiido,  Germania  filologica.    Guida  bibliografica  per  gli  studiosi  e  per 

gli    insegnanti    di    lingua   e   letteratura    tedesca    con    circa   20  000    indicazioni. 

Cremona,  Pietro  Fezzi  1910.     280  s.     10  1. 
Ordbok   öfver   svenska   spräket   utgifven  af  Svenska  akademien.     Hafte  40.    Bibe- 

hällighet  —  bildning.     Lund,  Gleerup  (Leipzig,  Nils  Pehrsson)  1909.     Sp.  2401 

bis  2560.     1,50  kr. 
Ranke,   Friedr.,    Die   deutschen   volkssagen.     [Deutsches  Sagenbuch  .  .  .,  herausg. 

von  Friedr.  V.  d.  Leyeu.    IV.]    München,  Beck  1910.    XVII,  294  s.    Geb.  B  m. 
Römverja  saga  (AM.  595,  4")  herausgegeben  von  Rudolf  Meissner.     [Palaestra 

LXXXVIIL]     Berlin,  Mayer  &  Müller  1910.     IV,  330  s.     14  m. 
Rübezjilil.  —  de  Wyl,  Karl,  Rübezahl-forschungeu.    Die  Schriften  des  M.  Johannes 

Prätorius.     [Wort   u.  brauch  .  .  .,   herausg.  von  Th.  Siebs  u.  M.Hippe.    V.] 

Breslau,  Marcus  1909.     VIII,  159  s.     6,60  m. 
Sagen,     Sclilesische.       I.    Spuk-    und    gespenstersagen.      "\'on    Rieh.   Kühn  au. 

[Schlesiens   volkstüml.  Überlieferungen  .  .  .,   herausg.  von  Th.  Siebs.    III,  1.] 

Leipzig,  Teubner  1910.     XXXVIH,  618  s.     8  m. 
Schiller.  —  Thiemann,  Georg,  Schiller  und  Goethe  in  den  Xenien.    [Münsterer 

dissert.]     Borna-Leipzig  1909.     (X),  58  s. 
Stockmayer,  Gertrud,  Über  naturgefühl  in  Deutschland  im  10.  und  11.  Jahrhundert. 

[Beiträge   zur   kulturgesch.  des   mittelalters   und   der  renaissance,  herausg.  von 

Walter  Goetz.    4.]     [Tübinger  dissert.]    Leipzig,  Teubner  1910.    (VI),  86  s. 

2,40  m. 
Weise,  Oskar,    Unsere   mundarten,   ihr  werden  und  ihr  wesen.     Leipzig  u.  Berlin, 

Teubner  1910.     XII,  279  s.     Geb.  2,80  m. 


NACHRICHTEN. 


Der  ordentl.  professor  an  der  Universität  Strassburg  dr.  Ernst  Martin 
tritt  am  1.  april  1910  in  den  ruhestand.  An  seine  stelle  ist  der  bisherige  privat- 
dozent  au  der  Universität  Bonn  dr.  Franz  Schultz  berufen  worden. 

Dem  ordentl.  professor  au  der  uuiversität  Ki-akau  dr.  Wilh.  Creizenach 
wurde  der  hofratstitel  verliehen,  dem  ausserordeutl.  professor  an  der  Universität  Prag 
dr.  Ad.  Häuften  titel  und  rang  eines  ord.  professors.  ^o 


BRAUT  UND  GEMAHL. 

Bräiitig-ara  und  braut  einerseits,  gemahl  und  geniahlin  anderer- 
seits werden  in  der  nhd.  Schriftsprache  so  unterschieden,  dass  jene 
bezeichnungen  durch  die  Verlobung,  diese  durch  die  Vermählung  oder 
trauung  begründet  erscheinen.  Die  'magd'  (junges  mädchen)  und 
der  'knecht'  (junger  mann)  heissen  nach  ihrer  Verlobung  'braut'  und 
'bräutigam',  und  ihre  Vermählung-  wird  erst  durch  die  nachfolgende 
trauung  vollzogen.  Der  moderne  Sprachgebrauch  hängt  also  mit  der 
zeremoniellen  trennung  und  zeitlichen  aufeinanderfolge  von  'Verlobung' 
und  'Vermählung'  zusammen:  nicht  durch  die  Verlobung,  sondern  erst 
durch  die  trauung  wird  ein  junger  mann  zum  eheraann  und  ein  mädchen 
zur  ehefrau  erhoben ;  denn  in  den  neueren  zelten  wird  nicht  durch  die 
Verlobung,  sondern  durch  die  kirchliche  bezw.  die  ziviltrauung  eine 
ehe  geschlossen. 

Nach  alter  deutscher  sitte  ist  aber  die  ehe  durch  den  kauf- 
vertrag  ('heirat')  einer  Verlobung,  die  zugleich  Vermählung  war,  be- 
gründet worden.  Die  nachfolgende  laientrauung  hatte  nur  die  funktion, 
den  'verspruch'  oder  den  vorhergehenden  heirats vertrag  zu  erfüllen. 
Dieser  ursprüngliche  Sachverhalt  ergibt  sich  sofort,  wean  man  die  in 
den  neueren  zeiten  zu  einer  selbständigen  Zeremonie  gewordene  kirch- 
liche trauung  auf  ihre  Wesenheit  prüft  und  erkennt,  dass  sie  nur 
dazu  dient,  ein  Verlöbnis  unter  gottesdienstlichen  formen  zu  wieder- 
hol e  n  \ 

Eines  der  frühesten  und  anschaulichsten  beispiele  liefert  der  mhd. 
Lohengrin. 

Hier  wird  erst  eine  Verlobung  und  danach  deren  Wiederholung 
als  sogenannte  kirchliche  trauung  erwähnt.  Beiden  partien  ist  der 
entscheidende  Verlobungsterminus  verjehen  gemeinsam:  der  e  man 
heidenthalh  verjach  heisst  es  v.  2308  und  ein  andermal  (v.  6811  ff.): 
dem    Lutrlnger    gegeben     wart    heiser    Heinrichs    tohter.       Auf    diese 

1)  R.  S  0  h  m ,  Das  recht  der  ehescUiessung  s.  101  ff. 

ZEITSCHRIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  9 


130  KAIFFMANN 

'trauung'  (als  hingebimg)  folgt  das  beilager.  Am  anderen  tag,  nach- 
dem die  niorgengabe  überreicht  worden  ist,  lädt  der  giocken  klang 
die  vermählten  zur  kirchlichen  trauiing,  und  diese  ist  im  text  aus- 
drücklich als  wiederholte  Verlobung  bezeichnet  (v.  6837):  der  e  nu 
an  der  IV  ei  de  verjaliens.  cor  des  münsiers  tür  dem  b/schof  von  Alenze  \ 
Die  eheleute  wurden  also  kirchlich  getraut,  indem  sie  vor  der 
kirchtür  noch  einmal  ihren  auf  die  ehe  gerichteten  willen  bekannten. 
Diese  kirchliche  Wiederholung  der  Verlobungsformalitäten  ist  seit  dem 
ausgang  des  mittelalters  allgemeine  volkssitte  geworden.  Auch  im  kano- 
nischen recht  liess  man  auf  die  traditio  prima  die  traditio  secunda 
folgen  ^,  und  bis  auf  den  heutigen  tag  weist  die  kirchliche  trauung  die 
Wiederholung  der  Verlobungsformeln  auf^  So  ist  es  gekommen,  dass 
auch  die  alte  verlob ungsterminologie  unserer  spräche  auf  die  neu- 
modische trauung  übergegangen  ist^  Es  gab  eine  reihe  von  syno- 
nymen Wörtern  für  'verloben'.  Aus  ihnen  konnte  jetzt  eine  auswald 
für  die  verschiedenen  akte  der  veränderten  eheschliessungszeremonie 
getroffen  werden.  Tatsächlich  hat  sich  der  ausdruck  'vermählen',  der 
bisher  'verloben'  bedeutet  hatte,  bei  der  trauung  eingebürgert.  Folge- 
richtig ist  auch  bei  'gemahl'  ein  bedeutungswechsel  eingeleitet  worden. 
Denn  seitdem  dies  Wort  bei  der  wiederholten  Verlobung,  bei  der  trauung 
sich  festsetzte,  kam  es  im  15.-16.  Jahrhundert  nicht  mehr  den  ver- 
lobten, sondern  den  getrauten  eheleuten  zu  (vgl.  Luthers  traubüch- 
lein) ''.  Dies  konnte  um  so  leichter  geschehen,  als  nicht  bloss  das 
Volk,  sondern  auch  die  kirche  vorerst  an  dem  fundamentalsatz  fest- 
hielt, dass  die  ehe  durch  die  Verlobung  geschlossen  werde  *^ ;  erst  im 
17.-18.  Jahrhundert  haben  sich  die  dinge  noch  weiter  gewandelt,  als 
die  trauung  an   stelle  der  Verlobung  der  allein  zulässige  und  recht- 


1)  Vgl.  Zfda.  13,  159  f.  Zeitschr.  1,  272  anm.  So  hm  a.  a.  o.  s.  101  aum.  61; 
s.  177  anm.  53. 

2)  S  0  h  m  s.  149,  vgl.  s.  159  ff. 

3)  So  hm  s.  104.  105  anm.  70;  'es  waren  während  des  ganzen  mittelalters 
nur  Verlobungsformen,  welche  in  die  kirchliche  trauungshaudluug  aufnähme  ge- 
funden hatten'  s.  179  (vgl.  s.  216.  217  ff.).  Aus  dem  mähelring  (d.  h.  verlobungs- 
riug)  ist  ein  trauring  geworden,  weil  er  nicht  mehr  bloss  beim  Verlöbnis,  sondern 
nochmals  bei  der  trauung  gegeben  wurde. 

4)  S  0  h  m  s.  104  f. ;  in  Deutschland  gehört  dieser  Vorgang  der  zweiten  hälfte 
des  mittelalters  an  (s.  166.  185). 

5)  So  hm  s.  170.     Braune,  Beitr.  32,  33. 

6)  Sohm  s.  197;  'vermählt' : 'verlobt' : 'getraut'  traten  in  freien  Wechsel  s.  213 
(vgl.  Braune,  Beitr.  32,  32  anm.  2);  eine 'Verlobung' wird  noch  im  16.  Jahrhundert 
eine  'Vermählung'  und  ebenso  die  'braut'  ein  ehelich  'gemahl'  genannt  (s.  198). 


BRAUT   UND    GE^rAHL  131 

lieh  unentbehrliche  bestandteil  der  eheschliessung  geworden  ist  K  Be- 
deutete fortan  'g-emahlin'  nicht  bloss  die  vermählte  (bezw.  verlobte), 
sondern  die  getraute  ehefrau,  so  fehlte  im  deutschen  Sprachgebrauch 
eine  Sonderbezeichnung  der  verlobten  frau.  Hiefür  ist  in  Ostmittel- 
deutschland als  neuerer  ersatz  der  name  'braut'  aufgekommen-. 

Will  man  von  diesen  neuerungen  absehen  und  die  ältere  bedeu- 
tung  von  'braut'  und  'gemahl'  ergründen,  so  dürfen  diese  ausdrücke 
keinesfalls  in  die  seit  dem  13.  Jahrhundert  in  stärkere  aufnähme 
gekommene  trauung  (Vermahlung)  eingestellt  veerden.  Sie  könnten 
eventuell  höchstens  auf  die  altdeutsche  Verlobung  bezogen  werden, 
und  es  ist  in  der  tat  sowohl  ahd.  hrilt  als  ahd.  gemalda  für  die 
verlobte  belegbar '^  Auch  ist  niemals  bestritten  worden,  dass  seit 
ältester  zeit  'gemahl'  ein  epitheton  der  verlobten  gewesen  ist.  Während 
man  aber  früher  das  wort  'braut'  ebenfalls  durch  'verlobte'  wieder- 
gegeben hat,  ist  neuerdings  von  W.  Braune  mit  erfolg  erwiesen  worden, 
dass  man  sich  dabei  im  Irrtum  befand,  dass  für  'braut'  die  bedeutung 
'verlobte'  vollständig  ausgeschaltet  werden  muss.  Wenn  Braune  sagte, 
es  müsse  der  begriif  'verlobte,  versprochene'  von  dem  wort  bnU  in 
allen  älteren  germanischen  sprachen  vollständig  ferngehalten  werden, 
so  fügte  er  positiv  hinzu,  als  wesentliches  moment  habe  vielmehr  bei 
diesem  ausdruck  der  Vollzug  der  ehe  zu  gelten^.  Es  lag  ihm  zwar 
fern,  das  wort  'braut'  in  die  trauungszeremonie  einzuschalten,  er 
empfahl  vielmehr  als  kennzeichen  der  braut  die  am  abend  des  hoch- 
zeitstags  beginnende  geschlechtliche  aktivität,  hielt  es  aber  doch  für 
den  neuhochdeutschen  Sprachgebrauch  charakteristisch,  dass  die  be- 
zeichnung  'braut'  von  der  am  hochzeitstag  jung  vermählten  auf  eben 
diesen  hochzeitstag  als  den  letzten  tag  ihres  jungfräulichen  Standes 
ausgedehnt  worden  sei^.  Braune  spricht  in  diesem  Zusammenhang 
davon,  'dass  der  hochzeitstag  nur  durch  eine  art  vorausnähme  schon 
zum  zustand  des  neuvermähltseins  hinzugezogen  wird'.  Jedoch  nach 
altem  deutschen  recht  ist  die  braut  schon  durch  die  eidliche  bekräfti- 
gung  des  verlöbnisvertrags  vermählt   und   hat   seit  alters   ihren  hoch- 

1)  Doch  ist  der  unterschied  zwischen  katholischer  und  protestantischer  auf- 
fassung  in  den  konfessionell  gemischten  deutschen  landschaften  nicht  zu  übersehen 
(Sohm  s.  272  f.  u.  ö.);  bei  den  Protestanten  ist  die  alte  deutsche  Verlobung  ganz 
verloren  gegangen  (s.  283),   bis   die  ziviltrauung  sie  wieder  hergestellt  hat  (s.  286;. 

2)  Braune,  Beitr.  32,  53  if.  56. 

3)  Braune,  Beitr.  32,  44  f.  uum. 

4)  Beitr.  32,  36. 

5)  Beitr.  32,  45. 

9* 


132  KAUFFMAXN 

zeitstag-   als    'vermählte'   gefeiert;    denn   dieser   ausdruck   hat   dieselbe 
Bedeutung  wie  'verlobt'  \ 

Die  darlegung  Braunes  leidet  also  zum  mindesten  unter  den 
von  ihm  gebrauchten  Wendungen,  die  den  Irrtum  befestigen  könnten, 
die  Synonyma  'verloben'  und  'vermählen'  auf  zwei  zeitlich  getrennte 
Vorgänge  zu  verteilen.  Eine  weitere  Unklarheit  entstand  dadurch, 
dass  Braune  unter  'Vermahlung'  zwar  nicht  die  trauung,  wohl  aber 
die  hochzeitsfeierlichkeiten  verstanden  wissen  will.  Er  bemerkt  z.  b., 
in  der  altnordischen  prosa  gelte  h-üpr  nur  von  der  braut  während 
der  hochzeitsfeierlichkeiten,  zu  denen  auch  schon  die  reise  zum 
haus  des  bräutigams,  wo  die  hochzeit  gehalten  wurde,  proleptisch 
eingerechnet  werde".  Nun  ist  aber  diese  'reise  zum  hause  des 
bräutigams'  gerade  eine  der  allerwichtigsten  hochzeitsfeierlich- 
keiten ^  und  unter  dem  namen  heimführung  oder  heimholung  all- 
gemein bekannt.  Neben  ihr  sind  von  hochzeitsfeierlichkeiten  nur 
noch  das  hochzeitsmahl  und  der  hochzeitstanz  zu  nennen.  Braune 
fügt  allerdings  auch  das  beilager  hinzu  als  den  nach  seinem  urteil 
letzten  und  entscheidenden  akt  der  hochzeitsfeier.  Er  meint,  erst 
durch  das  beilager  werde  die  ehe  vollzogen;  er  hält  das  beilager  für 
den  wesentlichsten  moment  der  eheschliessung  und  leitet  aus  ihm 
gerade  das  wo-rt  'braut'  ab.  Erst  nach  der  durch  das  beilager  voll- 
zogenen 'Vermählung'  soll  von  haus  aus  die  bezeichnung  des  mäd- 
chens  als  'braut'  berechtigt  gewesen  sein. 

So  gelangte  Braune  zu  der  Schlussfolgerung,  für  'braut'  sei  als 
zentrale  bedeutung  gesichert:  uxor  quae  concumbit  cum  viro. 

Diese  these  ist  aus  wortgeschichtlichen  gründen  schon  von  Kluge 
angefochten  worden*;  ich  möchte  sie  auch  sachgeschichtlich  widerlegen. 

Braune  scheint  anzunehmen 

1.  zur  hochzeitsfeier  gehöre  die  copula  carnalis  auch  in  dem 
sinne,  dass  sie  nicht  auf  die  'Verlobung',  sondern  erst  auf  die  zeitlich 
davon  getrennte  'Vermählung'  folge ; 

2.  das  auf  hochzeitsmahl  und  hochzeitstanz  folgende  beilager 
bedeute  den  Vollzug  der  ehe^. 

1)  Zfda.  2,  548.     S  o  li  m  s.  78.  198. 

2)  Beitr.  32,  49. 

3)  Wolfram  von  Eschenbach  nennt  schon  der  hrütloufte  hochgezit. 

4)  Beitr.  34,  561  ff. 

6)  Er  stellt  es  z.  b.  als  ganz  unzweifelhaft  hin,  'dass  das  nord.  brud,  welches 
nur  noch  den  anfangstermin  der  altgermanischen  brautzeit,  die  hochzeitsfeier  fest- 
hält, das  hauptgebiet  seines  alten  bedeutungsumfangs  eingebüsst  hat'. 


BRAUT   UND    GEJrAHL  133 

Dem  ersten  satz  steht  die  im  deutschen  volk  zähe  sich  erhaltende 
lebensauffassung  entgeg-en,  dass  die  copula  carnalis  vorwurfsfrei  vor  dem 
hochzeitstag-  nach  der  Verlobung  schon  am  heiratstag  eintreten  könne. 
Diese  gegeninstanz  hat  übrigens  Braune  selbst  anerkannt,  wenn  er 
den  bedeutungswandel,  den.  das  wort  'gemahl'  erfahren  hat,  sachlich 
auch  dadurch  bedingt  sein  lässt,  dass  in  vielen  fällen  der  'Vollzug 
der  ehe'  unmittelbar  auf  die  Verlobung  gefolgt  sei',  also  ein  braut- 
stand  entfiel.  Verhält  es  sich  so,  dann  durfte  das  entscheidende  kenn- 
zeichen  der  braut  nicht  auf  den  hochzeitstag  datiert  werden,  weil  in 
vielen  fällen  nichts  im  wege  stünde''^,  dass  die  'braut'  bereits  als 
solche,  und  zwar  nicht  als  'jung  vermählte'  (Beitr.  32,  52),  sondern  als 
verlobte  lagergenossin,  in  die  öffentlichen  feierlichkeiten  des  hochzeits- 
tags  einträte.  Ferner  brauchte  Braune  keine  Schwierigkeiten  darin  zu 
sehen,  'dass  der  hochzeitstag-  nur  durch  eine  art  vorausnähme  schon 
zum  zustand  des  neuvermähltseins  hinzugezogen  wird',  würde  es  sich 
doch  unter  jener  volkstümlichen  datierung  der  copula  carnalis  von 
selbst  verstehen,  dass  das  hochzeitsfest  in  dem  sexualbegrifi*  'braut' 
enthalten  wäre  ^. 

Gegen  den  zweiten  satz  kann  ich  mich  kurzerhand  auf  Sohm 
berufen.  Dieser  scharfsinnige  historiker  hat  mit  der  in  der  älteren 
rechtsliteratur  herrschenden  und  auch  noch  die  ausführungen  Braunes 
beherrschenden  lehre  aufgeräumt.  Früher  glaubte  man  in  der  tat,  in 
dem  auf  die  Vermählung  oder  die  trauung  folgenden  beilager  die  ehe- 
schliessung  des  deutschen  rechts  gefunden  zu  haben  *.  Mit  dem  feier- 
lichen, als  beilager  bezeichneten  akte  wird  aber  nicht  die  ehe  ge- 
schlossen ;  mit  ihm  beginnt  vielmehr  das  genossenschaftsverhältnis  und 
die  Standes-  und  lebensgemeinschaft  der  eheleute.  Nachdem  die  eheliche 
Verbindung  durch  Verlobung  und  hingäbe  (trauung)  in  vollem  sinn  tat- 
sächlich geworden   ist,    tritt   mit   dem  rechtssymbolischen  beilager  das 


1)  Beitr.  32,  33 f.;  vgl.  insbesondere  Sohm  s.  233  f.  Weinhold,  Deutsche 
frauen  1',  347.  'Mit  dem  heiratstag  beginnt  gewissermassen  die  ehe;  wenigstens 
findet  man,  sobald  er  vorüber,  das  leben  der  brautleute  auf  ehelichem  fusse  nicht 
mehr  anstössig'.  Birlinger,  Aus  Schwaben  2,  271.  —  Über  den  mlid.  Lohen- 
giin  ist  bereits  s.  129  f.  gehandelt. 

2)  Braune  hebt  ausserdem  hervor,  dass  zwar  das  wort  braut  sich  in  allen 
lebenden  neugermauischen  Schriftsprachen  nur  auf  das  legitime  Verhältnis  beziehe, 
dass  aber  diese  beschränkung  in  dem  älteren  Sprachgebrauch  nicht  vorliege  (vgl. 
Beitr.  32,  47  f.  51  f.). 

3)  Beitr.  32,  45.  52. 

4)  Sohm,  Das  recht  der  eheschliessung  s.  88  ff.  233  ff.  264  ff. 


134  KArFF^rA^•^• 

eheliche,  d.  h.  das  genossenschaftliche  güterrecht  in  kraft  \  Die  jung 
vermählte  frau  ist  also  bereits  e  h  e  frau,  bevor  sie  das  lager  des  ehe- 
herru  teilt;  durch  das  beilager  wird  sie  seine  ehegenossin.  Für  die 
bettgenossin  kommt  übrigens  der  aiisdruck  hraiit  auch  deswegen  nicht 
in  frage,  weil  wir  dafür  eine  treffende  bezeichnung  in  dem  wortpaar 
gatte  —  gattin  besitzen,  das  in  seiner  westgermanischen  form  (ags.  ;^e^acl'f, 
and.  gigado,  ahd.  gegafo)  zwar  im  allgemeinen  nur  irgendw^elche  'ge- 
nossen', aber  gewisslich  auch  die  ehegenossen  bezeichnete  (vgl.  schon 
got.  gadil/gg ff,  d.gs.  ;jcedelin^,  and.  gaduling^  nhd.  gatul/7ig  verwandter)-. 

Die  erörterung  Braunes  führt  unS;  von  welcher  seite  wir  sie 
kritisch  beleuchten,  zu  dem  ergebnis,  dass  auf  grund  der  von  ihm 
erwähnten  beziehungen  die  'braut'  der  altgermanischen  verlobungs- 
terminologie  angehören  müsste.  Dem  steht  nun,  wie  gerade  Braune 
mit  voll  überzeugenden  gründen  bewiesen  hat,  der  tatsächliche  Sprach- 
gebrauch konträr  gegenüber.  Aus  dieser  antinomie  gibt  es  nur  einen 
ausweg:  Braunes  argumentation  muss  an  irgend  einer  stelle  unrichtig 
sein.  Sie  fordert  demnach  zu  einem  erneuten  versuch  heraus,  dem 
Worte  'braut'  seinen  platz  in  dem  ritual  der  altgermanischen  ehe- 
schliessung  anzuweisen  und  dadurch  seine  grundbedeutung  anders  zu 
bestimmen. 

Eine  eheliche,  d.  h.  legitime  Verlobung  spielte  sich  ehemals  unter 
unserem  volk  in  vier  akten  ab.  Der  zeremoniell  gebundene  hergang 
wurde  durch  eine  sippen Versammlung  eingeleitet;  diese  beriet 
über  den  kauf  vertrag  (heirats  vertrag),  dessen  erfüllung  durch  ein 
handgeld  in  rechtsverbindlicher  wettform  sichergestellt  werden  musste 
(vgl.  got.  gawadjon) ;  den  abschluss  der  Verhandlung  bildete  die  rechts- 
symbolische bekräftigung  ihres  ergebnisses  durch  handschlag  einer- 
seits und  gern  ein  Schaft  Strunk  andererseits.  Mit  dem  handschlag 
als  der  alten  deutschen  schwurgebärde  ist  eine  neu  zu  begründende 
eheliche  lebensgemeinschaft  zwischen  den  angehörigen  zweier  sippen 
eidlich  gelobt  oder  beschworen   worden.     Erst    der   feierliche   gemein- 


1)  Sohm  s.  96.  97.  v.  Amira  in  Pauls  Gruudr.  3-,  109  ('auf  bettes  zeugung 
gründet  sich  alles  erbrecht').  Der  von  Braune  für  die  braut  verwertete  terminus 
'bettgenossin'  gewinnt  dadui-ch  einen  ganz  neuen  sinn;  vgl.  dat  wif  is  ok  des 
mannes  genotinne  tohant  alse  sie  in  sin  hedde  trit  (Sachsenspiegel  3,  45,  3).  Auch 
nach  dem  kanonischen  recht  hat  das  beilager  nicht  die  bedeutung  des  ehevollzugs 
(Sohm  8.  114 f.),  sondern  macht  die  ehe  unauflöslich  (s.  142.  1521  2391).  Aus 
analogem  gedankengang  wird  man  and.  sinhiun  (ehegatten)  ableiten  müssen. 

2)  Es  ist  schliesslich  noch  an  ahd.  gimahhidi  >  nhd.  gemachte  (ehegatten)  zu 
erinnern. 


r.RAUT   UND    GEMAHL  135 

schaftstrimk  bildet  die  volkstümliche  ausdrucksform  dessen,  was  wir 
die  eigentliche  Verlobung  neuneu,  denn  durch  gemeinschaftliches  essen 
und  trinken  wird  der  wille  zur  lebensgemeinschaft  zum  erstenmal  rituell 
betätigt;  kraft  dieser  symbolischeu  handlung-  verloben  sieh  die  ledigen 
leute,  der  knecht  und  die  magd\ 

Zu  geschlossener  anschaulichkeit  sind  die  als  ein  feierliches  ge- 
lübde  bezeichneten  Verlobungszeremonien  von  Neocorus  gebracht 
worden.  Er  berichtet-:  Up  erkmgeür  iinde  bescheidener  tidt  holden 
linde,  schicken  sick  beide  parte  thom  gelöffte 

1.  bidden  ehre  f  runde  im  de  andere  gude  luede,  so  se  gerne  darbt 
hebben  ^,  erschinen  am  benömeden  orde,  itt  sl  in  einem  hiise  edder,  wo 
nun  an  etlichen  orden  am  meisten  gebr ucklich,  in  der  kercken. 

2.  iiha  erorteringe  edler  corlopener  hendele  bereden  se  sick  verner 
der  uthredinge,  brndtwagen,  brudtschatt,  medegiffte  unde  wat  demsiUven 
bifeUig,  ico  it  np  vormotlichen  dodffall  beides  deles  schole  geholden 
werden. 

3.  wan  solches  vorgeliket  unnd  bigelecht,  danket  mit  fruntliker 
ehr  unnd  handbeding  de  brudegam  unnd  sin  bistand  der  brut  f runde 
unde  affgeferdigede,  unnd  beide  dehel  vorcögen  sick  gemcinichlik  tho- 
samen  in  eines  iverdes  hus,  dar  de  cordrach  in  de  kercken  gescheen; 
is  acerst  solches  in  einem  huse  thogegaen,  bliven  se  dar. 

4.  önnd  geit  denn  de  lövede-beker  .  .  .  wertt  desulve  einem  iedern 
anwesenden  dorch  einander  volgeschenket  nnde  mot  ein  ieder  demgeliken 
ehn  gar  up  den  Lodden  leddigen,  It  wahret  averst  de  brudegam  den 
beker  gar  genow  .  .  .  de  ohrsake  acerst,  warumme  de  brudegam  den 
beker  so  genoive  achtet  unde  vorwharet,  is  .  .  .  dat  he  densulcen  der 
brut  up  den  avent  mit  einem  stattlichen  ehren-penning ,  an  dem  orde, 
dar  'Se   is,    bringe   unnd   thodrinke'^.     Is   averst   de   brut   in    demsulven 

1)  Über  das  genossenschaftssymbol  der  Speisegemeinschaft  vgl.  Wörter  und 
Sachen,  herausg.  von  Meringer  2,  20  if.  Bewirtung  durch  hier  und  brot  stellt  sym- 
bolisch die  gegenseitig  geschlossene  freundschaft  dar  (Beiträge  zur  deutsch-böhmischen 
Volkskunde  6,  138) ;  das  hauptbeisi«el  ist  der  in  Hessen  und  Thüringen  übliche 
'weinkauf  bei  der  Verlobung. 

2)  Chronik  des  landes  Ditmarschen,  herausg.  von  Dahlmann  1,  106  f. 

3)  Vgl.  aus  den  Prager  Statuten  bei  Rö ssler,  Deutsche  rechtsdenkmäler 
aus  Böhmen  1,  49:  zum  ersten,  loen  das  ist,  daz  ain  man  ain  jungfraiven  oder 
wittewen  nennen  wil,  so  schol  er  und  sie  von  paiden  tailen  ir  frund  bitten  oder 
ander  piderh  gesessen  leute  zu  heirezlenten  und  daz  sint  recht  hcirezlcute,  vor  den 
das  gelilh  geschieht  (Friedberg,  Das  recht  der  eheschliessung  s.  25  anm.). 

4)  Vgl.  das  Kölner  Verlobungsformular  (14.  jahrh.),  Zfda.  7,  553  f.:  dan  sal 
de  hrutgem  der   brut   schenken    ussc   eime   kopp    ind  der   brut  gern  sal  irst  drinhen 


136  KAUFFMANN 

huse,  dar  dat  gelöffte  geschieht,  kumbt  de  nun  allererst  thom  imrschine 
int  gelach  .  .  .  entfenget  den  heker  .  .  .  wen  nun  solche  dinge  vorrichtet, 
wert  tq)gedecket  unnd  np  der  brut  unde  hrudegammes  Unkosten  ivol- 
geteret,  offt  .  .  .  wo  de  Ditmerschen  singen:  de  leve  nacht  beth  an  den 
lichten  morgoi. 

In  diesem  bericht  ist  fast  alles  -  nur  nicht  die  bezeichnung  der 
verlobten  als  brudegam  und  brut,  sowie  das  der  braut  statt  ihrem  Vor- 
mund eingehändigte  handgeld  {ehrenpenning)  -  hoch  altertümlich.  Die 
Verlobung  vollzieht  sich  noch  nicht  zwischen  bräutigara  und  braut, 
sondern  zwischen  den  beiden  sippen.  Von  ihnen  wird  die  erfüllung 
des  gelöbuisses  (kaufvertrags)  durch  handreichung  (handschlag)  ^  fest- 
gemacht. Dies  handgelöbnis  ist  aber  nur  eine  abbreviatur  des  älteren 
eidschwurs.  Ursprünglich  war  die  formelle  Vereidigung  der  beiden 
Sippen  oder  ihrer  bevollmächtigten  Vertreter  erforderlich  gewesen.  Noch 
im  Nibelungenlied  und  in  der  Gudrun  ist  dieser  verlobungsakt  vor- 
trefflich überliefert.     Es  heisst  im  Nibelungenlied  str.  1681 : 

man  besciet  der  iuncfrouwen     bürge  unde  lant. 

des  sichert  da  mit  ei  den     des  edelen  küneges  hant 

und  auch  der  herre  Gernot 
und  Gudrun  str.  665: 

do  vestente  man  die  schcenen     dem  recken  an  der  stunt 
ferner  str.  1043: 

Ir  wizzet  wol  her  Hartmuot  .  .  . 

daz  man  mich  bevestent     einem  künege  hat 

mit  vil  sta'ten  ei  den     zeim  elichen  wibe 
und  Str.  1245: 

do  sprach  der  vürste  Herwic  .  .  . 

diu  mag  et  ivas  in  in  ivip 

si  IV  as  mir  bevestent     mit  ei  den  also  sta'ten^. 
Nach  solchen  Schwurzeremonien  heisst  das  mädehen  anord.  festar- 
mey^:   es   ist   damit   dem  jungen   manu   eidlich  versprochen  oder  zu- 


ind  der  brut  dar  na  schenken.  Weiteres  bei  Weinhold,  Deutsche  frauen  1-,  382 ff.; 
Friedberg,  Recht  der  eheschliessung  s.  62  f.  (Roman  de  Perreforest) ;  42  (engl,  to 
drink  to  each  other).  Auch  in  Tirol  und  andernorts  'trinkt  sich  das  paar  einig', 
Hochzeitsbuch  s.  119. 

1)  Da  der  verspruch  durch  handschlag,  den  der  brautvater  dem  bräutigam 
noch  in  manchen  dörfern  erteilt,  bekräftigt  wird,  so  heisst  er  auch  'handstreich' 
wie  in  Tirol  'handschlag'  (E.  H.  M  e  y  e  r ,  Badisches  Volksleben  s.  257). 

2)  Vgl.  S  0  h  m  s.  35  f.  46  ff.  (handfeste). 

3)  Braune,  Beitr.  32,  31  f.  32  anm.  2;  vgl.  den  schwäbischen  'festwein'  am 


BRAUT   UND    GEMAHL  137 

,i::eschworen  und  erhält  darum  im  altertum  das  altnd.  (und  afries.) 
epitheton  anthHi^.  Also  nicht  der  knecht  und  die  magd  verlobten 
sich  durch  eidliche  Vereinbarung-,  sondern  die  mag-d  wurde  dem  knecht 
von  ihrem  mundwalt  gelobt  und  versprochen,  durch  ein  feierliches 
gelübde  mit  mund  und  band  zugesagt  {do  siviwr  man  im  ze  ivibe 
Nibel.  1680  A). 

Durch  den  eid  wurde  der  junge  ehemann  mit  der  brautsippe 
verschwägert  oder  in  die  sippe  der  braut  aufgenommen.  Er  heisst 
darum  e  i  d  a  m.  Sehr  treffend  kommt  dieser  Zusammenhang  noch  im 
Tristan  des  Heinrich  von  Freiberg  zutage.  Bei  der  Verlobung  der 
Isot  sagt  der  herzog  Jovelin  zu  Tristan  (v.  496 ff.): 

'nu  sult  ir  .  .  .  mir  ivilkome  sin 

sun  und  lieber  ei  dem  min. 

iuch  sol  ivesen  undertan 

lernt  und  Hute  und  swoz  ich  han.^ 

waz  sol  ich  lange  hie  von  sagen? 

daz  heilictuom  ivart  dar  getragen 

und  wart  Tristande  vür  gehabet 

und  wart  im  der  eit  gestabet. 

nu  sivuor  auch  her  Tristan, 

daz  er  walte  Isoten  hau 

und  nemen  sinem  Übe 

zu  eime  elichen  wibe. 
Als  wertvollen  beleg  für  die  herbeiführung  einer  'künstlichen'  Ver- 
wandtschaft im  rechtsgebiet  der  Westgermanen  hat  schon  M.  Pappen- 
heim das  wort  ei  dam  angezogen,  denn  es  deutet  auf  die  durch  einen 
eidschwur  vermittelte  aufnähme  des  verlobten  mannes  in  die  sippe  der 
haustochter  hin  (engl,  son-in-laiv)  ^.  'Eidam'  ist  nicht  der  name  für 
den  tochtermann,  sondern  für  den  an  sohnesstatt  angenommenen 
'Schwiegersohn'.  Der  formalismus  der  Verlobung  enthüllt  sich  uns 
von  dieser  seite  her  als  ein  a  d  o  p  t  i  o  n  s  r  i  t  u  s  ^. 


heiratstag  bei  Birlinger,  Aus  Schwaben  2,  294.     Tis  eher,  Schwab.  Wörterbuch 
2,  1444  f. 

1)  Braune,  Beitr.  32,  32.  Verf.  Wörter  und  Sachen  2,  25  vgl.  ahd.  antheisit: 
uouitur  Ahd.  gl.  4,  24,  20. 

2)  Zeitschr.  d.  Savignystiftung  für  rechtsgeschichte,  germanistische  abteilung 
29,  312. 

3)  Unter  den  bekannten  adoptions gebrauchen  kommt  für  den  cidam  die 
eiuhüllung  des  zu  adoptierenden  iu  das  gewand  des  adoptierenden  für  Deutschland 
in  betracht  (Pappen  he  im  a.  a.  o.  s.  318  f.),  denn  hier  ist  es  allgemein  verbreitete 


138  KAUFFJrANN 

Wie  nun  der  verlobte  mann  durch  eidschwur  in  die  sippe  des 
umworbenen  mädchens  aufgenommen  und  durch  die  anknüpfung  künst- 
licher verwandtschaftsbande  als  Schwiegersohn  adoptiert  wurde,  so  war 
für  die  verlobte  frau,  die  in  die  sippe  ihres  mannes  einheiratete,  eben- 
falls die  adoption  erforderlich.  Ihren  sprachlichen  ausdruck  fand  die 
vollzogene  adoption  der  ehefrau  von  selten  der  Schwiegereltern  durch 
das  wort  'braut':  braut  ist  das  suppletive  fem  in  in  um  zu 
eidani^.     Diese  behauptung  soll  im  einzelnen  begründet  werden. 

Wie  die  eitern  des  mädchens,  so  mussten  auch  die  eitern  des 
barschen  auf  künstliche  herstellung  eines  kiudschaftsverhältnisses  be- 
dacht sein.  Das  verfahren,  durch  das  es  zustande  kam,  ist  aber  nicht 
von  vornherein  so  deutlich  wie  die  adoption  des  eidams.  Die  betref- 
fenden hochzeitsgebräuche  sind  von  philologischer  seite  zwar  wieder- 
holt berührt,  aber  noch  ganz  ungenügend  erläutert  worden. 

Wir  haben  gesehen,  dass  bei  einer  eheschliessung  als  erste  In- 
stanz die  Sippen  Versammlung  (s.  134)  aufgeboten  ward'-.  Diese 
heisst  in  der  Lex  Wisigotorum  placitmii  (3,  1,  4).  Das  altdeutsche 
wort  dafür  ist  mahal.  Davon  sind  'gemahl'  und  'vermählen'  ab- 
geleitet ^  In  diesen  Wörtern  kommt  die  für  die  sich  verloben- 
den entscheidende  fuuktion  der  Sippenversammlung  oder,  wie  wir 
auch  sagen  können,  der  geschlechtsvormundschaft  zum  ausdruck. 
'Gemahl'  und  'vermählen'  beziehen  sich  also  auf  eine  durch  die  ge- 
schlechtsvormundschaft in  der  Sippenversammlung  nach  förmlicher 
beratung  vollzogene  Verlobung.  J.  Grimm  und  andere  (vgl.  DWb.  s.  v. 
gemahl)  hatten  dafür  gehalten,  'mahl'  sei  auch  in  diesem  fall  als 
'gerichtsversammlung'    zu    interpretieren ;    aber    dafür   ist,    wie    Sohm 


sitte,  dass  die  verlobte  ihrem  bräutigam  ein  hemd  schenkt.  Mau  wird  gerne  der 
Vermutung  räum  geben,  dass  angesichts  der  unselbständigen  rolle,  die  das  mädchen 
beim  Verlobungsgeschäft  spielte,  ursprünglich  ihr  mundwalt  es  war,  der  den  ver- 
lobten in  sein  'hemd'  hüllte. 

1)  Wie  im  ledigen  stände  magd  zu  knecht. 

2)  intersunt  jinrentes  et  lyropinqiii  Tacitus.  Germania  c.  18  (vgl.  c.  22  de  inn- 
gendis  affiiiiiatibus).  Si  quis  ßliam  alienam  ad  coniugium  quaesien't  praesenfibus 
suis  et  puellae  jjarentihus  Lex  Salica  70;  vgl.  E.  Kost  1er,  Muntgewalt  und  ehe- 
bevrilligung.  Zeitschr.  d.  Savignystiftung,  germ.  abteil.,  29,  96.  130  ff.  R.  Schröder, 
Geschichte  des  ehelichen  güterrechts  in  Deutschland  1,  3  ff.  u.  a. 

3)  ahd.  mahal:  concio,  pactio,  foedus  nuptiarum  (Ahd.  gl.  2,  147,  30);  maha- 
lon :  causas  agere  ;  gimahaUa  :  pacta,  desponsata ;  gemahala :  sponsa ;  gemahelo : 
sponsus;  tnaliaJscaz:  arrha  (handgeld,  Verlobungsring);  maheltac:  dies  sponsionis. 
Vgl.  dän.  giftermaal  (Verabredung  über  die  hingäbe  eines  mädchens:  hoi-ttinge 
en  ])ige). 


BHAUT   UND    GEMAHL  139 

s.  62  f.  mit  recht  eingewendet  hat,  nicht  der  geringste  beleg  beizu- 
bringen, denn  'wohl  werden  zeugen  und  verwandte,  aber  niemals  wird 
das  gericht  zur  trauung  oder  Verlobung  zugezogen'.  Auch  ist  es  nicht 
angängig,  im  altgermanischen  Sprachgebrauch  *mapla  und  ^maßlian  auf 
gerichtsverhandlungen  einzuschränken;  wie  *maj)liaii  in  den  altger- 
manischen sprachen  einfach  'reden'  bedeutet  \  so  kommt  auch  dem 
grundwort  eine  weitere  bedeutung  zu  (vgl.  ags.  mceöel):  es  mag  über- 
haupt für  Versammlungen  gebraucht  worden  sein,  in  denen  über  ge- 
meinsame angelegenheiten  verhandelt  wurde  ^. 

Der  ausdruck  'gemahl'  stammt  also  aus  einer  zeit,  da  die  ehe- 
schliessung  noch  nicht  sache  der  einzelnen,  sondern  der  sippe  bezw. 
der  geschlechtsvormundschaft  gewesen  ist.  Nun  hat  sich  aber  bekannt- 
lich die  Sippenverfassung  im  lauf  des  deutschen  mittelalters  aufgelöst. 
Die  folge  war,  dass  die  jungen  leute  sich  aus  der  geschlechtsvormund- 
schaft befreiten  und  dass  demgemäss  eine  vollständige  neuordnung  der 
Verlobungsformalitäten  platzgriff.  Der  bräutigam  konnte  sich  in  den 
neueren  zeiten  ohne  Vermittlung  der  sippe  verloben  und  das  von  ihm 
umworbene  mädchen,  das  bisher  nur  objekt  des  Verlobungsvertrags 
gewesen  war,  konnte  nun  ihre  Verlobung  auch  als  persönliche  an- 
gelegenheit  betreiben.  Die  jungen  leute  waren  nunmehr  für  sich 
selbst  verlobungsfähig.  Der  wichtigste  ausdruck  für  diese  veränderte 
Situation  ist  die  sitte,  dass  jetzt  nicht  mehr  der  vormund,  sondern  das 
mädchen  von  ihrem  verlobten  das  handgeld  empfängt  ^  Auch  der 
eidschwur,  den  die  im  ring  stehenden  sippegenossen  auf  die  er- 
füllung  des  ehevertrags  zu  leisten  hatten,  ist  fortan  zu  einem  persön- 
lichen treuegelöbnis  zwischen  den  beiden  ledigen  personen  geworden. 

Nach  dieser  veränderten  rechtsordnung  des  deutschen  mittelalters 
gehörte  zum  tatbestand  einer  Verlobung  vor  allen  dingen  die  Willens- 
erklärung der  jungen  eheleute.  Im  übrigen  ist  nach  volkstümlicher 
weise  der  herkömmliche  formalismus  einer  Verlobung  vielfach  bestehen 


1)  'gemahr  ist  confabulatus,  Wörter  und  Sachen  2,  25 ;  die  verlobten  wurden 
durch  die  sippenvertreter  'zusammeugesprocheu'. 

2)  Vgl.  colloquium  ubi  familiäres  pactioues  voventur:  alder  ma  sueslika  triua 
liiuad  (Rieh  thof  en  ,  Friesische  rechtsquellen  s.  20,  14  f.). 

3)  Gerne  schon  nach  römischer  sitte  in  der  gestalt  des  eherings: 

do  bevestente  si  der  gtiote  ehneht 
so  ivas  geivonlich  unde  recht : 
er  gap  ir  sin  vingerlin, 

daz  was  rechte  gemahelin  (Hochzeit  226  ff.). 
Vgl.  Sohm  s.  33f. ;  'Ist  der  finger  beringt,  ist  die  Jungfer  bedingt'  (s.  55  f.). 


140  •  KAUFFMANN 

geblieben.  Die  äussere  form  darf  aber  nicht  darüber  hinwegtäuschen, 
dass  die  heirat  jetzt  anders  verläuft  als  im  altertum.  Mindestens  ist 
der  realkontrakt  des  älteren  deutschen  Verlobungsrechts  in  einen 
formalkontrakt  umgesetzt  worden.  Und  diesen  tiefgreifenden  Um- 
schwung begleitet  wiederum  ein  veränderter  Sprachgebrauch:  'trauen, 
vertrauen'  traten  jetzt  an  die  stelle  von  'vermählen' ;  der  alte  ausdruck 
für  das  handgeld  mahelschcdz  wandelte  sich  zu  'treuschatz'  ^,  und  folge- 
richtig ist  der  mahelrinc  zum  'trauring'  geworden ;  aus  den  vermählungs- 
bezw.  Verlobungsfragen  wurden  traufragen,  denn  der  formalkontrakt 
einer  mittelalterlichen  Verlobung  ist  ein  treugelöbnis  ^.  Diese  neuere 
trauungsterminologie  ist  im  gründe  die  terminologie  der  Verlobung^, 
aber  bemerkenswerterweise  beherrscht  sie  später  nur  die  vor  dem 
priester  wiederholte  Verlobung,  während  die  nicht  auf  die  treue,  sondern 
auf  das  gelöbnis  gestellte  terminologie  bei  der  ersten,  die  ehe  schliessen- 
den  Verlobung  geblieben  ist.  Aber  die  grundtatsache,  dass  auch  die 
'trauung'  eine  Vermählung  oder  Verlobung*,  nur  eben  in  der  Wieder- 
holung, darstellt^,  kommt  sehr  gut  in  der  Übertragung  der  Wortsippe 
von  'vermählen'  auf  die  trauung  heraus.  Seitdem  die  geschlechts- 
vormundschaft  verschwunden  und  die  entscheidende  mitwirkung  der 
sippe  aus  den  Verlobungsformalitäten  ausgeschieden  ist,  waren  die 
alten,  aus  der  Sippenversammlung  stammenden  verlobungsausdrücke 
'vermählen'  ^  und  'gemahl'  in  der  gefahr,  mit  der  zu  ihnen  gehörenden 
Institution  ebenso  unterzugehen  wie  mahelschatz,  mahelring  u.  a.  Sie 
waren   für   das   Verlobungsgeschäft   überflüssig   geworden.     Diese   alt- 

1)  'wenn  die  eheberedung  (d.  h.  Verlobung)  zwischen  den  ehegemahlen  ge- 
schlossen, sie  einander  ihre  treue  verheissen,  auch  treuschatz  daraufgegeben 
haben'  (So hm  s.  57  anm.). 

2)  So  hm  s.  33;  trauen,  vertrauen  =  auf  treue  versprechen  s.  213  (vgl. 
anord.  trülofa). 

3)  Eine  interessante  stelle  findet  sich  schon  im  Passional  (ed.  Köpke) 
119,  6ff. :  'du  Salt  vertruwen  dich  darohe  mit  Agneten  der  guten  .  .  .  und  sie 
zu,  einer  hrut  tizlesen,  die  ouch  dir  nutze  mac  gesin.'  ein  harte  richez  vingerlin 
gab  er  do  dem  guten  man  .  .  .  daz  solt  er  Agneten  gehen,  der  gute  man  so  hin 
beneben  in  sante  Agneten  closter  trat,  da  was  ir  bilde  an  einer  stat  gemäht  rich- 
lichen  genuc.  das  vingerlin  er  hin  truc  und  bot  ez  der  iuncvrouwen.  ein  wunder 
liez  sich  schouwen  an  dem  bilde  sanzuhant.  einen  vinger  von  der  hant  ez  gegen 
im  do  rechte,  daz  vingerlin  er  steckte  im  an  den  vinger  .  .  . 

4)  Im  16.  jahrh.  wird  'trauen'  für  'verloben'  gesetzt  (vgl.  die  belege  bei 
So  hm  s.  213). 

5)  Vgl.  z.  b.  Sohm  s.  217  ff. 

6)  Noch  im  16.  jahrh.  wird  es  im  sinne  von  'verloben'  gebraucht  (Sohm 
s.  198\ 


BRAUT   UND    GEMAHL  .  141 

modischen  bezeichniingen  sind  uns  nur  dadurch  erhalten  geblieben, 
dass  sie  mit  der  wiederholten  Verlobung  in  Verbindung  traten.  Seit- 
dem gebrauchen  wir  nicht  mehr  'verloben'  und  'vermählen',  sondern 
'trauen'  und  'vermählen'  als  Synonyma  \  und  seitdem  ist  das  epitheton 
'gemahl'  den  getrauten  personen  vorbehalten.  Im  sinn  von  'verlobte' 
ist  das  wort  'gemahl'  vollständig  durch  'braut'  ersetzt  worden. 

Zum  unterschied  von  'gemahl'  gehörte  das  wort  'braut'  von  haus 
aus  nicht  zur  terminologie  der  Verlobung,  sondern,  wie  J.  Grimm  meines 
erachtens  richtig  gesagt  hat,  zur  heimführung  (s.  DWb.  2,  331). 

Schon  in  der  alten  benennung  dieser  hochzeitszeremonie  treffen 
wir  das  wort  bnit  an  seinem  richtigen  platz;  vgl.  ahd.  brutleiti,  mhd. 
brutleite  und  noch  altertümlicher  mhd.  brutlouft,  ahd.  bnithlaiift,  mnd. 
bnäloft,  fries.  brölep,  ags.  brijdMop,  anord.  bniphlnup.  Dieser  uralte 
ausdruck  führt  uns  in  den  für  die  grundbedeutung  der  'braut'  ent- 
scheidenden zusammenhangt  Bis  zum  brautlauf  war  das  verlobte 
mädchen  des  ledigen  mannes  'gemahl  {sponsa)\  durch  die  heimführung 
wurde  sie  seine  'braut  {uxory  ^. 

Die  durch  die  Verlobung  vertragsmässig  geschlossene  ehe  wird 
durch  die  heimführung  vollzogen.  Im  stand  der  Verlobung  war  die 
ehe  ein  rechtsverhältnis,  nun  wird  sie  ein  tatverhältnis  ^  Dazu  kommt 
es  erstens  dadurch,  dass  das  verlobte  mädchen  aus  dem  haus  ihrer 
eitern  scheidet,  nachdem  sie  ihrem  verlobten  oder  dessen  Stellvertreter 
übergeben  und  anvertraut  worden  ist  (sog.  altgermanische  'trauung'); 
zweitens  dadurch,  dass  sie,  in  das  haus  ihres  verlobten  zeremoniell 
eingeführt,  mit  ihm  die  eheliche  lebensgemeinschaft  beginnt. 

Der  heiratsvertrag  forderte  seine  erfüllung,  wenn  er  nicht  gelöst 
wurde.  Zu  dem  zweck  seiner  erfüllung  musste  das  verlobte  mädchen 
nicht  bloss  in  die  munt  ihres  neuen  eheherrn  übergeben,  sondern  sie 
musste  auch  in  seine  hausgenossenschaft  aufgenommen  und  mit  seiner 
familie   verschwägert    werden.     Die    erfüllung    des   Verlobungsvertrags 


1)  der  geist  tvirt  gotes  eigen  .  .  .  aher  in  geistlicher  vrouden  icirt  er  gelruicet 
und  gemäht  (Mystiker  1,  23,  13j. 

2)  Kluge,  Beitr.  34,  562  f. 

3)  Vgl.  brautführer;  dazu  ein  frowethe  imrt  tho  unter  in  sam  sie  einehr  ut 
scolten  fuoren  (Eolandslied  7746  f.).  einen  boten...  sande  er...  für  die  brout 
junge  .  .  .  das  si  sceme  siiiem  Hute  vil  tool  zuo  einer  braute  .  .  .  do  cliomen  mit  der 
braute  heremuode  loute  ...  da  was  diu  beste  ivirtschaft  die  der  ie  dehein  man  ze 
sinen  broutlouften  gewan  (Hochzeit  247  ff.  317 ff.;  dazu  afries.  breid  hala  Beitr.  35, 
306  anm.). 

4)  So  hm  s.  91. 


142  •  KAUFFMAXN 

geschieht  nach  altem  deutschen  brauch  in  zwei  Stadien:  das  eine  ist 
die  trauung-,  das  andere  die  heimholung. 

Die  altgermanische  trauung  beginnt  mit  der  sogenannten  'braut- 
auslösung'  \  sofern  der  bräutigam  den  Kaufpreis  für  das  mädchen 
bezahlte,  wie  er  im  heiratsvertrag  vereinbart  worden  war^;  darauf 
folgt  die  sogenannte  'hingäbe',  sofern  der  bisherige  muntwalt  das 
versprochene  mädchen  ihrem  verlobten  übergab  -^ ;  den  dritten  akt  bildet 
die  förmliche  besitzergreifung,  sofern  der  junge  ehemann  das  ihm  an- 
vertraute weib  als  ihr  nunmehriger  muntboro  in  seine  herrschaftliche 
gewalt  nahm  \ 

Die  trauung  als  hingäbe  des  mädchens  an  den  eheherrn  ist  aber 
eine  Übergabe  zur  heimholung.  Erst  wenn  die  vermählte  frau  in 
die  familie  des  mannes  eingeführt  ist,  beginnt  die  ehe  als  haus-  und 
Wirtschaftsgemeinschaft  der  frau  mit  ihrem  'wirte'.  Nach  volkstüm- 
licher sitte  sucht  sich  die  junge  frau  dieser  über  ihre  zukunft  ent- 
scheidenden heimholung  noch  im  letzten  augenblick  zu  entziehen. 
Unterwegs,  ehe  sie  ihr  zukünftiges  heim  erreicht  hat,  entläuft  sie  dem 
in  Waffen  sie  geleitenden  hochzeitsgefolge  (druht)  ^,  wird  aber  ein- 
geholt, endgiltig  ihrem  eheherrn  ausgeliefert  und  in  ihr  hochzeitshaus 
eingeführt. 

Um  die  Vorgänge  bei  der  nun  folgenden  aufnähme  in  die  neue 
hausgemeinschaft  und  bei  der  mit  ihr  verbundenen  verschwägerung 
zwischen  braut  und  bräutigamssippe  zu  erkennen  und  das  wesentliche 
von  dem  unwesentlichen  beiwerk  zu  entlasten,  müssen  die  rechtswirk- 
samen Symbole  aufgesucht  werden.    Nun  hat  man  längst  gesehen,  dass 

1 )  A.  J  0  h  u ,  Sitte  brauch  und  Volksglaube  im  deutschen  Westböhmen  s.  133. 

2)  Vgl.  ags.  witumbora  (Boeder,  Nachrichten  der  gesellsch.  d.  wissensch. 
zu  Göttingen,  hist.-phil.  kl.  1909,  14  ff.). 

3)  Vgl.  den  schluss  der  schwäbischen  trauformel  MSD=^  1,  320,  23  ff.  Aus 
dem  formalismus  der  hingäbe  (traditio)  stammen  die  alten  eheschliessungstermini 
wie  got.  frag ifts,  anord.  gif t  gipta,  ags.  giß,  mnd.  to  liope  geven  u.  a.;  nach  neuerem 
Sprachgebrauch  wird  das  mädchen  dem  mann  anvertraut  oder  angetraut  (vgl.  Sohm 
s.  69.  70.  73). 

4)  de  man  is  ok  Vormunde  sines  wiues  to  haut  als  sie  ime  getruwet  wert 
(Sachsenspiegel  3,  45,  3;  Sohm  s.  61).  Er  umhüllte  sie  mit  seinem  mantel.  Rechts- 
wirksam war  aber  insbesondere  das  symbol,  dass  der  junge  ehemann  dem  ihm  über- 
gebenen  mädchen  auf  den  fuss  trat  (Meier  Helmbrecht  1507 f.  Weinhold, 
Frauen  1-,  371.     Zeitschr.  d.  Ver.  f.  volksk.  4,  173  f.). 

5)  Dargun,  Mutterrecht  und  raubehe  s.  127 ff.  Roeder  a.a.O.  Das  ist 
der  eigentliche  brautlauf,  nach  dem  die  ganze  Zeremonie  der  heimführung  be- 
nannt worden  ist  (Weinhold,  Frauen  1-,  384.  411  f.  Henning,  Die  deutschen 
runendenkmäler  s.  100  ff.). 


BKAUT  UND    GEMAHL  143 

ein  uraltes  Symbol  für  die  aufnähme  der  jungen  fremden  frau  in  die 
sippe  ihres  mannes  uns  in  den  brautschuh en  erhalten  geblieben 
ist,  die  nach  weit  verbreiteter  sitte  der  verlobte  zur  hochzeitstracht  der 
braut  spenden  rauss  \  Dieses  überlebsel  hat  noch  nicht  die  ihm  ge- 
l)ührende  Würdigung  gefunden,  weil  man  bisher  bei  den  hochzeits- 
gebräuchen  zu  wenig  auf  die  im  Zeitalter  der  sippenverfassung  und 
-eschlechtsvormundschaft  blühenden,  später  verwelkten  formalitäten 
geachtet  hat.  Sie  bestehen  in  der  durch  die  eheschliessung  gefor- 
derten verschwägerung  zweier  sippen.  Die  verschwägerung  wurde 
in  der  rechtssymbolischen  form  der  sogenannten  künstlichen  Verwandt- 
schaft vollzogen '.  Insbesondere  handelt  es  sich  hierbei  um  eine  alt- 
deutsche geschlechtsleite.  Diese  darf  man  als  den  klassischen  fall 
der  künstlichen  Verwandtschaft  bezeichnen,  und  gerade  hierzu  liefern 
die  hochzeitsgebräuche  wertvolle  materialien. 

Pappenheim  hat  im  einzelnen  ausgeführt,  wie  es  auch  unter 
den  Germanen  zu  einer  künstliehen  erzeugung  der  Verwandtschaft 
kommen  musste.  Als  nachbildung  natürlicher  Verwandtschaftsverhält- 
nisse ist  eine  künstlich  herbeigeführte  Verwandtschaft  zum  bedürfnis 
geworden,  wo  rechtswirkungen  der  Verwandtschaft  unter  umständen 
sich  geltend  machten,  bei  denen  die  natürliche  Verwandtschaft  aus  tat- 
sächlichen gründen  versagte.  Sollten  jene  rechtswirkungen  aber,  doch 
eintreten,  obwohl  es  an  Verwandtschaft  fehlte,  so  konnte  dies  nur 
geschehen,  indem  unter  den  beteiligten  die  fehlende  Verwandtschaft 
hergestellt  wurde.  War  sie  künstlich  geschaffen,  so  knüpften  sich 
daran  die  gleichen  rechtswirkungen,  wie  die  natürliche  Verwandtschaft 
sie  besass  ^  Die  erzeugung  künstlicher  Verwandtschaft  ist  zum  guten 
teil  auf  ein  verwandtschaftsverhältnis  in  der  art  der  verschwägerung 
gerichtet.  Diese  ist  aber  nur  ein  Spezialfall  der  adoption  oder 
wahlkindschaft. 

Da  die  eheschliessung  in  erster  linie  ein  familienrechtlicher  Vor- 
gang ist,  bildet  die  verschwägerung  oder,  wie  wir  uns  besser  aus- 
drücken,   die    adoption    einen    ihrer    hauptbestandteile  \      Unter    den 


1)  J.  Grimm,   Rechtsaltertümer  1',  214.     E.  H.  Meyer,   Badisches   volks- 
lehen  s.  259  u.  a. 

2)  M.  Pappenheim,   Zeitschrift  der  Savignystiftung  für  rechtsgeschichte, 
germanist.  abteil.  29,  304  ff. 

3)  Pappenheim  a.  a.  o.  s.  305. 

4)  'Die  trauung  wurde,   da   der   brautkauf  nicht  die  bedeutuug  eines  sacheu- 
kaufs  besass,  sondern  ein  familienrechtlicher  akt   war,   als   eine   hingäbe  der  braut 


144  KAUFFMAXX 

hocbzeitsgebräuchen  kehren  denn  auch  typische  adoptionsriten  in 
verhältnismässig  gut  erhaltenem  zustand  wieder. 

Bei  der  adoption  der  braut  handelt  es  sich  darum,  sie  als  ge- 
sehlechtsfremde  in  die  sippe  des  bräutigams  nach  der  sogenannten 
geschlechtsleite  (anord.  cettleipimj)  aufzunehmen.  Das  symbol  der  durch 
geschlechtsleite  herbeigeführten  adoption  ist  nun  aber  das  schuh- 
steigen. In  Deutschland  gehört  zu  den  verbreitetsten  und  unver- 
brüchlichsten hochzeitsbräuchen,  dass  die  braut,  wenn  sie  die  hoch- 
zeitstracht  anlegt,  in  die  vom  bräutigam  geschenkten  schuhe  steigen 
muss.  Folglich  steckt  dahinter  eine  echte  adoptionszeremonie.  In  der 
Verbindung  brautschuhe  hat  anscheinend  das  wort  braut  seine  grund- 
bedeutung  bewahrt. 

Vom  Standpunkt  der  bräutigamseltern  aus  erscheint  eine  Ver- 
lobung als  die  Stiftung  einer  wahlkindschaft;  das  von  ihrem  söhn 
erwählte  mädchen  wird  ihnen  als  'tochter'  ins  haus  geführt.  Damit 
sie  die  Zugehörigkeit  zum  väterlichen  geschlecht  ihres  mannes  er- 
lange, muss  sie  mit  ihm  verwandt  gemacht,  muss  die  wahlkind- 
schaft  legitimiert  werden.  Welche  massnahmen  hierzu  getroifen 
wurden,  zeigt  uns  am  anschaulichsten  der  formalismus  der  alt- 
norwegischen geschlechtsleite  eines  illegitim  geborenen  sohnes:  aus 
der  haut  eines  frisch  geschlachteten  ochsen  fertigt  unter  beobachtung 
bestimmter  riten  der  vater  des  zu  legitimierenden  einen  schuh.  In 
ihn  tritt  zunächst  der  vater  selbst,  dann  der  zu  legitimierende  söhn, 
darauf  der  nächste  erbe,  dem  die  entfernteren  folgen.  Der  vater 
spricht  dabei  die  einführungsformel,  die  auf  volle  gleichberech- 
tigung  des  in  das  geschlecht  geführten  mit  dem  ehelich  geborenen 
hinweist.  Der  legitimand  und  die  gesippen,  die  schon  vorher  um  ihre 
Zustimmung  angegangen  worden  sind,  erklären  wohl  nur  nochmals 
in  förmlicher  weise  ihr  ja.  Ausdrücklich  gesagt  wird  dies  in  den 
quellen  nicht.  Die  hauptsache  ist  der  sichtbare  formalismus  des 
schuhsteigens  ^. 

An  einer  klassischen  stelle  wird  im  König  Rother  (v.  2021  If.) 
geschildert,    wie   aus   dem    schuhsteigen  eine   heirat  wird  ^,    und  ähn- 


iu    adoption    aufgefasst'    (E.  Schröder,    Eechtsgeschichte °   s.  71.      Brunner, 
Rechtsgesclüchte  1-,  103.  131.     M.  Pappenheim  a.  a.  o.  s.  318  u.  a.). 

1)  J.  Grimm,  RA.  1^  213.     M.  Pappenheim  a.a.O.  s.  310.     A.  Olrik, 
Nordisches  geistesleben  s.  15  f. 

2)  Die  ältesten  belege   liefert  Gregor  von  Tours  (IVIGH.  Script,  rer.  Meroving. 
1,  724  f.  741,  27   cum   poculis  frequentibus   etiam   calciamenta    deferret  .  .  .    dato 


BRAUT    rXD    GEMAHL  145 

liches  ist  ja  auch  aus  dem  Volksmärchen  bekannt.  Weit  besser  hat 
der  volksbrauch  konkrete  einzelheiten  aus  der  geschlechtsleite  der 
braut  bewahrt '.  Zwar  wird  uns  aus  dem  neueren  hochzeitsritual  nicht 
mehr  bekannt,  dass  der  bräutig-am  oder  der  bräutigamsvater  sich 
selbst  entschuhte,  oder  dass  bräutigani  und  braut  in  den  gleichen 
schuh  gestiegen  w^äreu;  unsere  volkssitte  legt  jetzt  nur  noch  wert  auf 
das  beschuhen  der  braut  von  selten  des  bräutigams,  und  zu  dem 
zweck  genügt  es,  wenn  sie  neue  schuhe  von  ihm  bekommt.  Es  ist 
aber  von  Wichtigkeit,  ausdrücklich  darauf  hinzuweisen,  dass  diese 
spende  nicht  zu  den  Verlöbnis-,  sondern  zu  den  trauungs-  bezw.  heim- 
führungszeremonien  gehört^.  Auch  bedeutet  der  schuh  nicht,  wie  man 
schon  gemeint  hat,  das  zeichen  der  muntschaft  des  mannes,  in  die 
das  verlobte  mädchen  übertritt-^,  sondern  das  beschuhen  der  braut  ist 
das  rechtswirksame  symbol  ihrer  verschwägerung^  Aus  dem  west- 
fälischen Süderland  und  dem  Bergischen  wurde  die  redensart  beige- 
bracht: 'unsere  vorfahren  haben  einmal  mit  holzschuhen  getauscht'; 
womit  man  ausdrücken  will:  wir  sind  weitläufig  miteinander  ver- 
wandt'. Wie  dieser  Sprachgebrauch  entstanden  ist,  lehrt  der  alte 
adoptionsritus,  der  besonders  in  Siebenbürgen  fortbestand.  In  der 
nähe  von  Schässburg  findet  die  verschwägerung  statt,  wenn  der  hoch- 
zeitszug  des  bräutigams  die  braut  zur  trauung  abholt.  Nachdem  sich 
die  eine  partei  rechts,  die  andere  links  aufgestellt,  und  nachdem  man 
sich  gegenseitig  in  die  freundschaft  aufgenommen,  tritt 
von  jeder  seite  eine  frau  vor;  die  des  bräutigams  hält  in  einem  tuch 


■sponsae  anulo,  porregü  osculum,  praehet  calciainentum,    caelebrat  sponsaliae  diem 
festuni). 

1)  Sar  tori  in  der  Zeitechr.  d.  ver.  f.  volksk.  4,  166  ff. 

2)  stvan  man  auch  hochzit  hat,  so  sol  man  nieman  chainen  schlich  geben, 
tz  welle  ein  man  danne  siner  hiisfrouwen  zwene  sc/iuch  bringen  (Birlinger,  Aus 
Schwaben  2,  305,  Augsburg). 

3)  E.  H.  Meyer,  Badisches  volksieben  s.  259.  Hier  ist  die  Zeremonie  des  auf- 
den-fuss-tretens  (s.  142  anm.  4)  und  die  bekannte  mautelzeremonie  (S  o  h  ni  s.  66) 
mit  dem  schuhsteigen  verwechselt. 

4)  Besonders  interessant  ist  das  Statut  von  Geseke  a.  1360:  vortmer  mach 
de  brudegam  gheven  dre  jjar  scho  der  brut  und  eren  nesten  (Jahrb.  d.  ver.  f. 
nd.  sprachforsch.  1877,  127) ;  vgl.  dazu  den  analogen  neueren  beleg  aus  Böhmen : 
'in  Karlstadt  erhält  erst  kurz  vor  der  heimführung  der  braut  auch  der  brautvater 
vom  bräutigam  seinen  betrag,  der  immer  in  einem  paar  Stiefel  besteht,  während 
alle  Schwägerinnen  und  die  Schwiegermutter  ein  geldstück  empfangen'  (Zeitschr.  d. 
ver.  f.  volksk.  4,  168). 

5)  Jahrb.  d.  ver.  f.  nd.  sprachforsch.  1877,  127. 

ZI-:iTSCHEIFT.F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLH.  10 


146  KAL'FFMANN 

ein  paar  neue  schuhe  verdeckt,  während  die  frau  der  brautpartei  für 
den  bräutigam  ein  hemd^  und  eine  schürze  verhüllt  darbringt.  Beide 
bieten  nun  tauschhandel  an,  wobei  jene  nicht  ermangelt,  ihre  schönen 
schwarzen  rosse  (die  schuhe),  diese  dagegen  die  weissen  (hemd  und 
schürze)  anzupreisen.  Der  bräutigam  geht  im  neuen  hemde  wie  die 
braut  in  den  neuen  schuhen  zum  altar". 

Von  dem  adoptionsritus  des  schuhsteigens  her  wird  auch  die 
weit  verbreitete  hochzeitssitte  des  schuh stehleus'"  aufgehellt.  Das 
bemerkenswerte  dabei  ist,  dass  der  gestohlene  schuh  für  die  braut 
den  höchsten  wert  besitzt  und  sie  ihn,  wie  teuer  sein  preis  auch  ge- 
steigert werden  möge,  notwendigerweise  einlösen  muss.  Denn  der 
schuh  ist  das  symbol  ihres  neuen  Standes^.  Gelingt  es  den  ledigen 
burschen,  der  braut  den  schuh  wegzunehmen,  so  ist  sie  aus  der  sippe 
ihres  bräutigams  gelöst.  Jetzt  ist  es  ja  nur  noch  ein  hochzeitliches 
spiel,  dem  aber  von  haus  aus  die  rechtswirkuug  so  wenig  gefehlt 
haben  kann  wie  der  mit  dem  schuhstehlen  ganz  nahe  verwandten  flucht 
der  braut  aus  dem  hochzeitszug,  dem  sogenannten  brautlauf  \ 

Zum  adoptionsritus  gehört  ausser  der  prozedur  des  schuhsteigens 
eine  einführungsformel,  die  auf  verwandtschaftliche  gleichberech- 
tigung  der  in  das  geschlecht  geführten  jungen  frau  hinweist.  Die 
formel  ist  uns,  wenn  auch  in  verschiedenartigem  Wortlaut,  erhalten 
und  gehört  jener  wichtigen  szene  der  heiniholung  an,  die  schon  an 
der  pforte  des  hochzeitshauses  spielt,  bevor  die  gildefeier  des  hoch- 
zeitsmahles  beginnt. 

Neocorus  schildert  die  aufnähme  der  braut  in  das  neue  heim 
oder  in  die  neue  hausgenossenschaft  folgendermassen":  de  brat  kwnht 
mit  rütern,  ivagen  und  spellüden  na  des  brudeganimes  begeren  unde 
royordening  an  .  .  .  vöget  sick  vor  de  dore  und  bllfft  darhuten  bestahen, 

1)  Vgl.  oben  s.  141  f. 

2)  Zeitschr.  d.  ver.  f.  volksk.  4,  168  =  J.  Mätz,  Die  siebenbürgisch  -  säch- 
sische bauernhochzeit  (progr.  Schässburg  1860)  s.  52;  vgl.  ebenda  s.  70  f. :  der 
bräutigam  bittet  den  vater,  seiue  liebe  junge  braut  zu  einem  kiud,  zu  einer  tochter 
anzunehmen;  der  brautknecht  bittet  die  freundschaft  der  braut  bei  dem  vater  des 
bräutigams  ein. 

3)  Zeitschr.  d.  ver.  f.  volksk.  4,  169  f.,  vgl.  10,  382.  E.  H.  Meyer,  Volks- 
kunde s.  181.     Badisches  Volksleben  s.  242.  246.  248.  261.  299  f.  310  u.  a. 

4)  In  Hessen  bekommt  die  braut,  ehe  sie  sich  unter  die  verheirateten 
setzen  darf,  ein  paar  neue  schuhe  (Zeitschr.  für  mythol.  2,  78  f.). 

5)  Weinhold,  Frauen  1-,  411  f.;  vgl.  Zeitschr.  d.  ver.  f.  volksk.  10,  171. 
380.     Hochzeitsbuch  s.  125  f.  u.  ö. 

6)  ed.  Dahlmann  1,  115;  vgl.  ags.  hwman,  hcemed,  hcemed  ictf  (uxor). 


BRAUT   UND    GEMAHU  147 

mit  ehren  mltgehrochfen  bisiüern,  de  achter  ehr  stahen.  Als  den  kumht 
de  hrudegam  buten  vor  der  döre  to  der  brut  blotes  hövedes,  fraget  dre- 
mal :  mag  ik  tvol  mit  ehren  mine  brut  intrechen?  dremal  wert  ehm  ivedder 
darup  geantivordet:  trecket  se  in  in  gades  namen.  Als  den  nimbt  he 
se  bi  der  handt,  leih  se  dremal  herumme  kamen  und  mit  dem  lesten 
schivenget  he  sine  brut  glimplich  int  hues  lienin  unde  sprickt:  Mit  ehren 
trecke  ik  mine  brut  in.  Geleidet  se  also  bi  der  handt  beth  vor  de  pisel- 
döre,  dar  kueselt  he  se  avermals  dremaal  und  de  drudden  reise  schwenget 
he  se  höfflich  henin  in  den  piiscl,  vorleth  se  unde  rorvöget  sik  in  sin 
gemak  ...  Es  folgen  hochzeitsmahl  und  hochzeitstanz '  unmittelbar 
auf  diese  einführungsszene.  Und  das  ist  zweifellos  der  ursprüngliche 
Zusammenhang. 

Neuerdings  hat  er  sich  nicht  bloss  topographisch,  sondern  auch 
chronologisch  verschoben,  aber  diese  Veränderungen  sind  von  neben- 
sächlicher bedeutung.  Wesentlich  scheint  mir  zu  sein,  dass  die  un- 
persönliche einführuugsformel  des  Neocorus  (trecket  se  in  in  gades 
wmien)  in  älterer,  das  will  sagen  in  persfjnlicher  form  beigebracht 
werden  kann.  Besonders  gut  entwickelt  ist  nämlich  die  aufnähme 
der  braut  in  die  bräutigamssippe  im  ostmitteldeutschen  volksbrauche. 
Wenn  in  Böhmen  das  heimzuführende  mädchen  ihr  eiternhaus  verlässt 
und  vom  vater  abschied  nimmt,  reicht  es  als  braut  dem  Schwiegervater 
die  band  mit  der  bitte:  nehmts  mi  oan  wöi  enka  eigens  kind^.  Feier- 
lich zieht  sie  danach  ins  haus  der  Schwiegereltern  ein.  Gewöhnlich 
tindet  sie  die  haustür  verschlossen.  Es  wird  ihr  erst  nach  dreimaligem 
klopfen  oder  nach  längeren  Unterhandlungen  aufgemacht.  Die  mutter 
als  schwieger  besprengt  die  braut  als  schnür  mit  Weihwasser  und 
macht  ihr  auf  stirne,  mund  und  brüst  das  kreuzeszeichen ;  dann  reicht 
sie  ihr  ein  gefülltes  triukglas,  w^elches  die  braut  leeren  und  zu  einem 
guten  Vorzeichen  hinter  sich  werfen  muss.  Im  Egerlande  gar  bewill- 
kummte  die  schwieger  die  braut  mit  der  die  adoption  begleitenden 
echten  einf ührungsformel : 

Willst  du  eine  gute  schnüre  sein, 
werd  ich  eine  gute  schivieger  sein; 


1)  Diese  festlichen  veranstaltungeu,  die  über  den  rahmen  der  familienfeier 
hinaus  unter  beteilig'ung  der  gemeinde  stattfinden,  dienten  wohl  auch  zugleich  der 
besiegelung  des  neuen  Verwandtschaftsverhältnisses  (Zeitschr.  d.  ver.  f.  volksk. 
7,  41).  —  Erst  nachdem  das  kränzlein  abgetanzt  und  die  braut  unter  die  haube 
gebracht  ist,  wird  sie  'fr au'  genannt  (Hochzeitsbuch  s.  Iü9.  202  u.  ö.)- 

2)  John,  Sitte  in  Westböhmen  s.  142. 

10- 


148  KAUFFMANN 

tritt  ein  in  mein  haus 

und  mach  dir  nichts  draus  ^. 

Ahnlich  spielt  sich  die  szene  in  Schlesien  ab.  Der  hochzeitszug 
findet  die  tür  zum  hochzeitshaus  verschlossen.  Die  Schwiegermutter 
erhält  von  der  braut  einen  mutterkuchen  und  gibt  der  jungen  frau 
ein  brautbrot  ('schneid  dir  meine  tochter  brot,  damit  du  bei  meinem 
söhne  leidest  keine  not')  und  ein  glas  bier,  das  die  braut  antrinkt 
und  im  kreise  der  verwandten  weitergibt.  Darauf  umwickelt  die 
Schwiegermutter  die  rechte  band  der  jungen  frau  mit  einem  handtucb 
und  zieht  sie  so  ins  haus  '^  In  Rösnitz  kommt  die  junge  frau  ins 
bräutigamshaus  mit  ihren  basen  und  muhmen  und  lässt  sich  ohne 
weitere  förmlichkeit  zum  brautessen  nieder;  alsbald  tritt  die  schwieger 
ins  zimmer  und  wirft  der  braut  ein  geschenk  mit  den  werten  zu :  'lass 
dir  meinen  söhn  lieber  sein  als  mein  geschenk' -^  In  Iglau  (Mähren) 
aber  singen  die  weiber  auf  dem  kammerwagen  vor  dem  bräutigams- 
haus: 

Macht  auf,  herzliebe  frau  schivieger,  das  thürl: 
Wir  bringen  euch  ein  sauberreiches  schnürt  .  .  . 

Die  Schwiegermutter  wird  von  der  schnür  um  gütige  aufnähme 
gebeten  und  verspricht  ihr,  sie  in  ehren  zu  halten^. 

Andernorts  finden  sich  andere  aufnahmezeremonien.  In  der  Mark 
musste  der  bräutigam  die  braut  ins  haus  tragen  und  mit  ihr  dreimal 
den  kesselhaken  umwandeln  ^.  Auch  in  Westfalen  wird  die  braut 
begrüsst.  Der  vater  oder,  wenn  er  nicht  mehr  lebt,  der  nächste  ver- 
wandte des  bräutigams  händigt  der  braut  ein  stück  brot  und  ein  glas 
branntwein  ein  -  als  genossenschaftssymbole  -;  es  wird  ihr  ein  stuhl 

1)  John  s.  147  f.;  vgl.  die  Variante  s.  161  f.  Andernorts  erfolgt  nämlich  der 
'eintritt  in  die  hausgemeinschaft'  (John  s.  423)  so,  dass  der  bräutigam  erst  an  die 
verschlossene  tür  klopfte,  worauf  von  innen  seine  mutter  antwortete:  Svas  bringst 
du,  mein  söhn?'  'Euch  eine  neue  tochter  und  mir  eine  hauswirtin  .  .  .'  Nun 
tritt  die  schwieger  vor  und  küsst  die  braut  mit  den  worteu :  'Sei  mir  willkommen 
und  nimm  dies  zum  willkommtrunke',  wobei  sie  ihr  zur  betätigung  der  nahrungs- 
gemeinschaft  ein  glas  wasser  reicht. 

2)  P.  Drechsler,  Sitte  brauch  und  Volksglaube  in  Schlesien  1,  243. 
263  ff.  280  f. 

3)  Hochzeitsbuch  s.  202. 

4)  Zeitschr.  d.  ver.  f.  volksk.  6,  256.  260.  Bei  der  anfahrt  findet  sie  das  tor 
gesperrt  und  bekommt  nach  langem  klopfen  zu  hören,  man  nehme  keine  fremden 
auf  (8.  257j. 

5)  Kuhn,  Märkische  sagen  und  märchen  s.  361 ;  vgl.  Kück-Sohnrey, 
Feste  und  spiele  des  deutschen  landvolks  s.  225  u.  a. 


r.UAUT   UND    GEMAHL  149 

an  den  herd  g-erückt;  sie  muss  sich  niederlassen,  zange  und  feuer- 
brand  ergreifen  oder,  wie  im  Süderlande,  dreimal  ums  herdfeuer  und 
um  den  kesselhaken  schreitend  Eine  ausgiebigere  Schilderung  lautet 
folgendermassen :  'Der  eintritt  der  braut  ins  haus  ist  sehr  zeremoniös, 
aber  überall  ziemlich  gleich,  nur  dass  hier  mehr,  dort  weniger  von 
dem  ursprünglichen  verwischt  ist.  Die  braut  wird  von  der  Schwieger- 
mutter oder  der  köchin  an  der  grossen  tür  bewillkommt,  und  zwar 
mit  einem  krug  süssen,  d,  h.  verzuckerten  branntweins.  In  Grafeid 
wird  ihr  darauf  branntwein  ohne  zucker  und  endlich  eine  irdene  tasse 
mit  Wasser  gereicht;  sobald  sie  aber  hiervon  gekostet,  wirft  sie  die- 
selbe in  die  luft :  zerfällt  sie,  so  bedeutet  das  glück  in  der  ehe.  Dann 
wird  ihr  ein  kleinbrot  gereicht,  welches  so  eingeschnitten  ist,  dass  sie 
leicht  ein  stück  davon  abbeissen  kann.  Dieses  stück,  den  brint- 
ImiKst,  hebt  die  frau  auf .  .  .  das  übrige  brot  erhalten  die  armen. 
Dann  reicht  die  Schwiegermutter  dem  bräutigam  forke  und  schaufei, 
während  die  braut  einen  eigens  hingestellten  besen  ergreift  und  damit 
kehrt,  bis  er  zerbricht.  Die  braut  wird  darauf  zum  herde  geleitet, 
dreimal  um  ihn  herumgeführt  und  ihr  hcfhl  (kesselhaken)  und  schleif 
(löffel)  in  die  band  gegeben.  Das  ist  die  eigentliche  rechtliche  ein- 
leitung.  Lebt  die  Schwiegermutter  noch,  und  will  und  kann  sie  herrin 
bleiben,  so  übergibt  sie  den  schleif  nicht,  denn  er  ist  das  symbol  der 
herrschaft  im  hause.  Tut  sie  es  aber,  dann  erhält  sie  einen  taler  von 
der  braut'  ^. 

Diese  hausherrschaftssymbole  wollen  wir  fein  säuberlich  von 
den  verschwägerungsriten  fernhalten,  denn  sie  sind  ganz  anderer  a.Yt\ 
während  der  formalismus  der  adoption  gleichförmig  in  den  grund- 
zügen  wiederkehrt.  Ich  verweise  beispielshalber  auf  die  Schweiz.  In 
Stilli  an  der  Aare  pflegten  der  junge  ehemann  und  seine  eitern  nach 
dem  schmause  sich  unter  der  band  heimzumachen  und  verschlossen 
hinter  sich  thür  und  fensterladen.  Alsbald  kam  der  brautführer  mit  der 
braut  ihnen  nach  ...  mit  dem  brautstock  klopfte  er  an  der  schwieger- 


1)  Hochzeitsbiich  s.  222.  223.  E.  H.  Meyer,  Volkskunde  s.  179  ('um  die 
junge  frau  in  die  familie  und  in  das  heim  des  gatten  einzuführen').  —  Wie  beim 
einzug  des  gesindes  muss  die  braut  zuerst  ins  ofenloch  sehen  (Witzschel,  Sagen 
Sitten  und  gebrauche  aus  Thüringen  2,  228).  —  Der  nächste  verwandte  führt  die 
braut  ins  neue  heim  (Zeitschr.  f.  Niedersachsen  1861,  107). 

2)  Jostes,  Westfälisches  trachtenbuch  s.  101. 

3)  Vgl.  z.  b.  A.  Heimreich,  Nordfriesische  chronik  1  (1819),  51  f.  Sohm, 
Altdeutsche  reichs-  und  gerichtsverfassung  s.  551  f.  Brunn  er,  Rechtsgeschichte 
1-,  102. 


150  KAUFF.AIANN 

eitern  türe.  Auf  die  durch  die  geschlossenen  fensterladen  kommende 
frage,  wer  draussen,  erwidert  er,  eine  person,  die  gern  ins  haus  auf- 
genommen sein  möchte.  Viel  verlangt,  sagt  der  Schwiegervater,  ist  sie 
fromm,  ordentlich,  arbeitsam?  Der  brautführer  bejaht,  und  der  fragende 
fährt  fort:  Kann  sie  auch  kochen,  spinnen,  nähen,  stricken,  waschen, 
backen?  So  geht  die  anfrage  endlos  fort  .  .  .  nun  wird  zwar  die  haus- 
türe  geöffnet,  aber  für  die  braut  ist  nur  eine  kammer  ohne  licht  vor- 
handen. Hier  hinein  muss  sie,  während  der  brautführer  sich  in  die 
Wohnstube  begibt,  die  erleuchtet  und  geschmückt  ist.  Gewöhnlich  steht 
hier  der  schullehrer  aufgepflanzt,  um  den  brautsegen  abzusprechen;  .  .  . 
hierbei  werden  alle  fenster  und  laden  geöffnet,  damit  die  ums  haus 
versammelten  nichts  überhören.  Hat  er  geendigt,  so  wird  die  braut 
ins  kerzenhelle  zimmer  hereingeführt  .  .  .  aus  dem  selbstgebauten  rot- 
wein  der  schwiegerschaft  erfolgt  hierauf  der  ehrentrunk;  den  Zuschauern 
wird  ihr  teil  durchs  fenster  verabreicht  ^ 

Es  möge  noch  ein  beleg  aus  Hessen  folgen.  Im  Schaumburger 
laud  überreicht  ein  naher  verwandter  des  bräutigams  als  brautführer 
der  braut,  wenn  sie  nach  dem  brautlauf  l)ei  dem  neuen  heim  angelangt 
ist,  erfrischungen  und  bittet  sie,  in  ihr  neues  heim  einzutreten.  Nach- 
dem man  ihr  kuchen  und  wein  gespendet  und  der  brautführer  mit  be- 
redten Worten  das  glück  geschildert  hat,  das  ihr  entgegenwinkt  .  .  . 
schreitet  das  junge  paar  band  in  band  dem  hause  zu,  wo  es  am  ein- 
gang  der  stube  von  den  verwandten  begrüsst  und  die  braut  herz- 
lich willkommengeheissen  wird.  Im  hessischen  hinterland  hebt  der 
bräutigam,  wenn  der  braut  wagen  bei  seinem  hofe  angekommen  ist, 
seine  verlobte  vom  wagen.  An  der  haustür  wird  ihnen  ein  krug  bier 
gereicht.  Nachdem  er,  die  braut,  sowie  der  brautvater  und  die  nächsten 
verwandten  getrunken  haben,  wirft  der  bräutigam  den  krug  hinter 
sich.  Alsdann  geht  das  paar  in  das  haus ;  tränen  vergiesst  die  braut 
jetzt  nicht  mehr;  statt  dessen  klagt  sie  über  den  druck  der  engen 
schuhe,  welche  sie  dem  herkommen  gemäss  bei  dieser 
gelegenheit  tragen  musste'. 

1)  Roch  holz,  Deutscher  glaube  und  brauch  2,  245  f.;  vgl.  Hochzeitsbuch 
8.  107  f.  —  Im  französischen  Jura  bleibt  das  haus  den  neuvermählten  so  lange  ver- 
schlossen, bis  die  mutter  des  bräutigams  aus  dem  fenster  mehrere  bände  voll  körner 
und  bohnen  auf  sie  herabgestreut  hat.  Dann  zeigt  sie  sich  auf  der  schwelle  und 
bietet  ihrer  Schwiegertochter  ein  stück  brot  und  ein  glas  wein  ...  als  Sinnbild  des 
gemeinsamen  lebens.  Dann  wird  ihr  das  haus  gezeigt.  Endlich  geht  man  zu  tisch, 
wobei   alle   ehrenbezeugungen   ausschliesslich   für  sie  sind  (Hochzeitsbuch  s.  253  f.). 

2)  Hessische  Volkskunde  2,  561.  209.  287.  420  f. 


IIKAUT    TNl)    (lEMAHL  151 

Bei  dieser  hinterländischen  heimführung-szerenionie  kommt  in 
unverstandener  tradition  die  eigentliche  bedeutung-  der  braut  schuhe 
(s.  144)  vortrefflich  heraus.  Den  adoptionsritus  begleiten  im  übrigen 
die  genossenschaftssymbole  gemeinsamen  essens  und  trinkens,  bei 
denen  die  sprachlichen  benennungen  brautessen  (brautknust,  braut- 
brot)  und  brautsegen  das  wort  braut  in  seiner  ursprünglichsten  be- 
deutung (=  adoptierte  tochter)  bewahrt  haben.  Mit  ihnen  darf  viel- 
leicht mhd.  hnUnmos  und  ags.  brydealo  (>  engl,  hrldal)  vereinigt  werden. 
Jedenfalls  stehen  diese  ausdrücke  alle  im  schönsten  einklang  mit  braut- 
lauf (dazu  anord.  hri'ipferp,  hrüpfgr)  und  gestatten  die  sichere  schluss- 
folgerung,  dass  in  keiner  szene  des  hochzeitsrituals  das  wort  'braut' 
fester  verankert  ist  als  in  der  die  eheschliessung  vollziehenden  heim- 
führung ^  Durch  sie  erhält  nun  auch  schliesslich  das  wort  'bräutigam' 
(got.  hrupfajjs,  anord,  J)ri'iJmumi,  ags.  hrijd^umü,  and.  hrudigwno,  ahd. 
hrütigomo)  seinen  vollen  sinn.  Denn  wenn  man  eine  hypertrophische 
tautologie  vermeiden  will,  dass  der  junge  ehemann  etwa  der  mann 
seiner  gattin  wäre,  bleibt  offenbar  nur  die  von  uns  erschlossene  be- 
ziehung  auf  ein  konkretes,  rechtliches  und  soziales  Verhältnis  übriger 
der  bräutigam  ist  der  tochtermann,  genauer  der  mann  der  adoptiv- 
tochter  seiner  eitern. 

Nun  kann  es  doch  nicht  mehr  zufällig  oder  okkasionell  sein,  dass 
uns  der  älteste  literarische  beleg  des  wortes  gerade  die  nämliche  bedeu- 
tung liefert.  Matth.  10,  35  lesen  wir  in  der  gotischen  bibelübersetzung : 
qam  auk  skaidan  maanan  wipra  attan  is  jah  dauhtar  ivipra  aipein  izos 
jah  hriip  wipra  sioaihron  izos  (vu[7.(pr,v  /.axa  tt;?  — sv^O-spa?  auTr;).  Wie 
uns  die  hochzeitsgebräuche  der  heimführung  die  braut  im  persön- 
lichsten Verhältnis  zur  Schwiegermutter  gezeigt  haben,  so  tritt  sie  uns 
aus  dieser  bibelstelle  entgegen.  Es  ist  ungenau,  ja  es  ist  streng  ge- 
nommen geradezu  unrichtig,  wenn  man,  wie  die  späteren  bibelüber- 
setzungen  es  getan  haben,  anstatt  brat  das  wort  'schnür'  gebraucht 
(Tatian,    vorlutherische    und   lutherische   bibel).     Denn    'schnür'    heisst 


1)  Dazu  füge  ich  nocli  anord.  brüßfe,  das  die  J)rymskvil)a  im  selben  sinne  zu 
verwenden  scheint  wie  der  neuere  deutsche  volksbrauch  die  'briuitstücke',  die  die 
braut  den  verwandten  spendet  (E.  H.  Meyer,  Badisches  Volksleben  s.  269 ;  Hoch- 
zeitsbuch s.  122).  —  Vortreff licli  ist  also  der  alte  zustand  bewahrt,  wenn  Braune  auf 
gTund  der  angaben  von  Gallee  mitteilen  konnte,  dass  in  der  grafschaft  Zütphen 
bruid  für  junge  frau  nur  von  dem  tage  ab  galt,  an  welchem  sie  feierlich  aus  dem 
haus  ihrer  eitern  in  das  haus  des  raanncs  abgeholt  wurde  (Beitr.  32,  561). 

2)  'In  den  alten  Zusammensetzungen  tritt  nirgends  eine  sexuelle  bedeutung 
(des  Wortes  braut)  zutage,   sondern   nur  eine  rechtliche'  (Kluge,  Beitr.  34,  562  f.). 


152  KAUFFMANX 

nach  der  üblichen  etymologischen  deutung  'söhnerin'  oder  'sohnstrau'; 
die  zitierte  bibelstelle  fordert  aber  einen  dem  modernen  kompositum 
'Schwiegertochter'  adäquaten  ausdruck,  und  den  haben  wir  nicht,  es 
sei  denn,  dass  wir  ihn  besitzen  in  dem  nach  seiner  ursprünglichen 
bedeutung  richtig  verstandenen  worte  'braut',  als  dem  femininen  kor- 
relativ zu  'ei dam'. 

Ich  hoffe  damit  die  behauptung  von  Braune,  got.  hrups  werde 
fälschlich  als  Schwiegertochter  aufgefasst,  widerlegt  zu  haben.  Auch 
seine  Vermutung,  es  würde  uns  Matth.  10,  35,  w^enn  im  griech.  vjo? 
gestanden  hätte,  das  echt  gotische  wort  snuzo  für  Schwiegertochter 
erhalten  sein,  hat  keinen  bestand,  wenn  man  zugibt,  dass  snuzo  zwar 
'söhnerin",  aber  nicht  'Schwiegertochter'  bedeutet,  und  dass  die  bibel 
die  adoptivtochter  nicht  in  ihrem  Verhältnis  zum  ehemann,  sondern 
in  ihrer  beziehung  zur  schwieger  nennt.  Mir  scheint,  dass  Braune  die 
im  neueren  Sprachgebrauch  durchgedrungene  differenzierung  zwischen 
'schnür'  und  'Schwiegertochter'  (oder  'tochter'  der  Schwiegereltern 
schlechtweg)  ausser  acht  gelassen  hat.  Ich  glaube,  man  kann  diese 
differenzierung  auch  für  das  germanische  altertum  noch  einigermassen 
zur  anschauung  bringen.  Denn  das  Wortpaar  suniis  und  '^^smczo  bezieht 
sich  vermutlich  auf  das  gen ossenschafts Verhältnis  der  ehegatten, 
das  zwischen  dem  söhn  der  familie  und  seiner  ehefrau  durch  den  Voll- 
zug des  beilagers  begründet  worden  ist  (s.  133  f.).  Das  wort  brupfaps 
für  den  eheherrn  der  *snnzo  drückt  aber  ein  h  er  r  Schafts  Verhältnis 
zwischen  dem  ~6aic  und  der  adoptivtochter  seiner  eitern  aus.  Wie 
es  sich  damit  auch  verhalten  möge,  die  etymologisch  verschieden  ge- 
arteten w^örter  öriijjs  und  '^s)iiizo  werden  wir  auch  auf  verschieden 
geartete  rechtsverhältnisse  beziehen  müssen. 

Got.  briips  =  adoptivtochter  (Schwiegertochter)  steht  keineswegs 
isoliert  da.  Braune  selbst  hat  schon  erklärt,  dass  auch  in  der  Sphäre 
des  in  die  westeuropäische  soldatenspraehe  übergegangenen  lehnwortes 
lat.  bnita  die  bedeutung  'Schwiegertochter'  auftrete  (Beitr.  32,  41  ff.), 
und  V.  Domaszewski  hat  auf  grund  einer  erneuten  prüfung  der  ost- 
europäischen Inschriften,  die  das  lat.  lehnwort  brut/'s  nennen,  die  be- 
deutung 'verheiratete  tochter'  angesetzt.  Er  bemerkte,  dass  lat.  nurus 
in  Verbindung  mit  dem  söhn,  dem  sie  angetraut  war,  auftrete,  dass 
folglich  -  im  einklang  mit  meinen  darlegungen  -  brutis  von  nunis 
(=  schnür)  unterschieden  werden  müsse.  Seine  feststellungen  nötigen 
uns  nun  zu  der  annähme,  dass  in  der  soldatenspraehe  die  junge  frau 

1)  Yj  Toö  'jlou  Y'jvY)  (Braune,  Beitr.  32,  38  anm.  1). 


BRAUT    UND    GEMAHL  153 

nicht  mehr  bloss  vom  Standpunkt  der  Schwiegereltern,  sondern  auch 
vom  Standpunkt  der  eigenen  eitern  aus,  nachdem  ihre  leibliche  tochter 
heimgeführt  und  mitglied  einer  anderen  sippe  geworden  war,  hnitis 
genannt  worden  ist.  Aber  dieser  Sprachgebrauch  darf  keinesfalls  in 
der  deutschen  heimat  des  grundwortes  als  usuell  betrachtet  werden, 
denn  auch  im  ahd.  ist  brnta,  hroid  als  synonymon  von  'Schwieger- 
tochter' belegbar  (Ahd.  gl.  1,  216.  20.  21.  4,  82,  1.  2)';  in  Überein- 
stimmung mit  nordfranzösisch  hru  und  rätoromanisch  hrit  (<  hrut  — 
Schwiegertochter)  -.  Diese  bedeutung  ist  also  aus  älteren  und  jüngeren 
quellen  für  braut  so  gut  bezeugt,  dass  ich  sie  für  unanfechtbar  halte 
und  aus  ihr  allein  den  von  Braune  nachgewiesenen  bedeutungswandel 
allseitig  zu  begreifen  vermag^.  Denn  nicht  vor,  sondern  erst  nach 
der  altgermanischen  trauung  (heiniführung)  heisst  die  verheiratete  frau 
im  haus  ihrer  Schwiegereltern  als  adoptivtochter  brnt,  in  demselben 
sinn,  in  dem  der  ehemann  bei  seinen  Schwiegereltern  eirlmn  hiess. 

Wortforschung   ohne   Sachforschung   dürfte   auch   in  diesem  falle 
sich  als  ungenügend  erwiesen  haben. 


1)  Dazu  kommt  noch  Corp.  gloss.  lat.  5,  314,  32.  Wie  die  von  Braune  nicht 
berücksichtigten  komposita  gezeigt  haben  dürften,  ist  er  nicht  ganz  im  recht,  wenn 
er  das  Zugeständnis  machte,  dass  wir  'in  diesen  ahd.  glossierungeu  die  einzigen 
belege  der  bedeutung  „Schwiegertochter"  für  hrut  aus  dem  lebendigen  und  zu- 
sammenhängenden westgerm.  Sprachgebiet'  besitzen  (Beitr.  32,  41  f.). 

2)  Auch  Braune  schien  'die  tatsache  der  beachtung  wert,  dass  die  bedeutung 
'Schwiegertochter'  unabhängig  in  drei  verschiedenen  lateinisch-romanischen  ent- 
lehnungsgebieten  sich  festgesetzt  hat,  obwohl  die  lebenden  germanischen  dialekte 
das  wort  in  dieser  bedeutung  nicht  gebrauchen'  (Beitr.  32,  43)  —  nur  hätte  er  statt 
'nicht'  sagen  sollen  'nicht  mehr'. 

3)  Zur  erklärung  des  neueren  Sprachgebrauchs,  in  dem  'braut'  das  wort 
'gemahl'  ersetzt  hat,  bedarf  es  jetzt  nur  noch  der  annähme,  die  hochzeiterin  sei 
schon  vor  der  heimholuug  'braut'  genannt  worden  (vgl.  z.  b.  den  niederländischen 
Sprachgebrauch,  Beitr.  32,  51  oder  eine  wendung  wie  ivenn  mir  meine  braut  stirbt, 
ehe  ich  sie  heimhole  bei  Braune,  Beitr.  32,  55).  Aber  lange  zeit  blieb  auch  in 
Deutschland  das  wortpaar  'braut  —  bräutigam'  auf  den  hochzeitstag  beschränkt 
(Beitr.  32,  53). 

KIEL.  FRIEDRICH   KAUFFMANN. 


154  ORAHEK 

HEINEICH  VON  DEM  TÜKLIN  UND  DIE  SPRACHFORM 

SEINER  KRÖNE. 

I. 
Die  Krone  und  ihr  dichter. 

Ungefähr  um  dieselbe  zeit,  da  Neidhart  von  Reiiental  in  Oster- 
reich eine  neue  heimat  fand,  verpflanzte  Heinrich  von  dem  Turlin  die 
höfische  romanliteratur  nach  Österreich. 

Er  hat  in  einer  über  dreissigtausend  reimzeilen  zählenden  dich- 
tung  anfangs  die  lebensgeschichte  des  königs  Artus  behandelt,  aber 
nach  etwa  vierzehntausend  versen  Gawein  in  den  mittelpunkt  der 
handlung  gerückt.  Durch  flüchtige  erwähnung  einzelner  abenteuer 
Gaweins  werden  die  leser  schon  im  ersten  teile  auf  die  ausführungen 
des  zweiten  vorbereitet.  So  gibt  sich  dieser  gleichsam  als  eine  fort- 
setzung  der  ersten  hälfte  des  gedichtes  (bis  13  901),  welche  in  ihrer 
komposition  selbständig  war  und  vielleicht  auch  für  sich  veröifeutlicht 
wurde.  Singer  gebührt  das  verdienst,  im  artikel  'Heinrich  von  dem 
Turlin'  der  Allgem.  deutsch,  biographie  zuerst  eine  klare  analyse  und 
ein  günstigeres  urteil  über  komposition  und  poetischen  wert  der  'Krone' 
gegeben  zu  haben. 

Überliefert  ist  die  Krone  in  einer  vollständigen  handschrift 
und  drei  brachstücken.  Das  ganze  gedieht  umfasst  die  Heidelberger 
papierhs.  (Codex  pal.  374.  495  blatt  fol.)  aus  dem  jähre  1479,  welche 
prof.  Keller  für  die  Tübinger  Universität  abschrieb.  Ihr  gilt  die  be- 
zeichnung  P. 

Dem  Schreiber  dieser  hs.  fällt  zur  last,  dass  er  oft  den  Wortlaut 
willkürlich  ändert,  ältere  ausdrücke  durch  solche  aus  seinem  dialekte 
ersetzt,  ja  die  verse  manchmal  mit  eigenen  Zusätzen  versieht.  Aber 
eine  gewisse  Sorgfalt  im  abschreiben  kann  ihm  nicht  abgesprochen 
werden,  da  sich  in  der  grossen  mehrzahl  der  fälle  der  ursprüngliche 
text  mit  verhältnismässig  geringer  mühe  auch  da  herstellen  lässt,  wo 
uns  die  übrigen  hss.  im  stiche  lassen.  Das  eingreifen  des  Schreibers 
gibt  sich  immer  zugleich  in  Störungen  des  metrums  oder  reimes  kund. 
Reissenbergers  Untersuchung  zufolge  stammt  diese  hs.  aus  dem  Sprach- 
gebiet, wo  sich  alemannisch  und  fränkisch  berühren. 

Mit  ihr  steht  in  näherem  Verhältnis  das  bruchstück  D,  welches 
die  verse  12  898-13  505  und  14116-14  725  enthält  und  bei  Diemer 
in    den   Kleinen  beitragen  H,    s.  85  if.    abgedruckt   ist.     Es   steht   auf 


HEINRICH    VON    DEM    Tl'RLlN    UND    DIE    SPKAt'HFOKM    SEIXBR    KRONE  155 

vier  pergamentblättern  des  14.  Jahrhunderts  und  stammt  aus  Steiereck 
in  Oberösterreich. 

In  mancher  beziehung  verlässlicher  und  um  ein  Jahrhundert  älter 
als  P  ist  die  pergamenths.  V,  die  aber  leider  nur  bis  vers  12  281  reicht. 
Sie  befindet  sich  in  der  Wiener  hofbibliothek  als  uo.  2779,  bl.  131^ 
bis  170^.  Eine  abschrift  dieses  bruchstückes  besitzt  die  Berliner 
bibliothek  von  Goldhann,  eine  andere,  von  prof.  Keller  besorgte,  die 
Universitätsbibliothek  in  Tübingen.  Diese  letztere  hs.  bildet  die  grund- 
lage  für  Scholls  text.  Eine  kollation  dieser  ausgäbe  mit  der  Wiener 
hs.  wurde  von  Schönbach  im  33.  bände  der  Beiträge  s.  340  ff.  gegeben. 
V  wurde  nach  Schönbach  um  die  wende  des  13.  und  14.  Jahrhunderts 
zu  Wien  geschrieben.  Nebst  kleineren  gedichten  enthält  diese  hs,  auch 
die  Kaiserchronik  und  Hartmanns  Iwein.  Ihr  Schreiber  befleisst  sich 
keiner  grösseren  genauigkeit  als  der  von  P,  denn  auch  er  gibt  manche 
stellen  seiner  vorläge  ganz  sinnlos  wieder  und  lässt  sich  häufiger  als 
jeuer  auslassungen  zuschulde  kommen.  Sein  vorzug  aber  besteht  darin, 
dass  er  sich  nicht  so  willkürliche  änderungen  des  textes  erlaubt.  Diese 
hs.  trägt  entschiedene  merkmale  des  österreichischen  dialekts. 

Endlich  ist  ein  kleines  bruchstück  der  Krone,  G,  enthaltend  die 
verse  3122-3258  auf  einem  pergamentblatt  aus  dem  14.  oder  15.  Jahr- 
hundert erhalten  (abgedruckt  in  no.  12  und  13  der  Literar.  beil.  zu 
Idunna  und  Hermode  1814-15  und  wiederum  in  den  Altd.  blättern  II, 
s.  155  f.  von  Haupt).  Das  blatt  war  auf  eine  bücherdecke  aufgeklebt 
und  hat  sehr  stark  gelitten,  weshalb  der  text  mehrere  lücken  aufweist. 
Die  spräche  zeigt  mitteldeutsche  eigentümlichkeiten,  doch  schliesst  sich 
G  im  wesentlichen  mehr  an  V  an. 

Da  die  hss.  P  V  G  von  Scholl .  in  den  Varianten  nur  sehr  un- 
genügend, und  wie  die  abdrücke  einiger  stellen  bezeugen,  oft  fehler- 
haft, D  aber  gar  nicht  berücksichtigt  wurde,  kann  einem  künftigen 
herausgeber  der  Krone  die  neuerliche  kollation  sämtlicher  vier  hss. 
nicht  erspart  bleiben.  In  der  vorliegenden  Untersuchung  habe  ich 
selbstverständlich  auf  die  lesarten  aller  texte  rücksicht  genommen. 

Was  die  zeit  der  ab f a s s u n g  des  Werkes  betrifft,  so  lässt 
sich  aus  der  literarischen  stelle  der  Krone,  v.  2348-2455,  die  obere 
grenze  mit  Sicherheit  feststellen,  vor  der  das  werk  nicht  entstanden 
sein  kann. 

Dort  erfleht  Heinrich  in  warmen  worten  die  göttliche  gnade  für 
den  'reinen  Hartmann ,  der  'shi  herze  besitzet'.  (Hartmann  starb  frühe- 
stens 1210.)  Jeder,  der  nach  weltlicher  freude  strebe,  müsse  seinen 
und  Reinmars  (des  alten)  verlust  auf  das   tiefste    beklagen    (Reinmars 


166  OKAIiEK 

todesjalir  ist  1210.)  Auch  Dietmar  von  Aist  (am  spätesten  erwähnt 
in  einer  Urkunde  von  1209),  Heinrich  von  Rugge  (um  1178),  Friedrich 
von  Hausen  (gestorben  1190j,  Uh'ich  von  Guotenburc  (in  einer  Urkunde 
von  1170)  und  Hug  von  Salzä  (urkundlich  im  jähre  1174  belegt),  habe 
der  tod  hinweggeraift.  Die  allerfrüheste  zeit,  da  Heinrich  v.  T.  seine 
Krone  zu  dichten  begann,  wäre  also  das  jähr  1210.  Radolf  von  Ems, 
der  in  seinem  'Alexander'  hohe  worte  auf  das  lob  der  Krone  wendet, 
stellt  Heinrich  v.  T.  zwischen  Blikker  und  Freidank.  All  dies  würde 
stimmen,  die  entstehung  unseres  werkes  etwa  in  die  zeit  von  1215 
bis  1220  anzusetzen. 

Über  die  heimat  des  dichters  sind  mannigfache  Vermutungen 
aufgestellt  worden.  Docen,  Mus.  I,  174  anm.,  hielt  Heinrich  für  einen 
Schwaben,  ohne  diese  ansieht  näher  zu  begründen.  Aber  schon  Diemer 
lässt  die  möglichkeit  offen,  dass  er  ein  Franke  oder  Kärntner 
gewesen  sei,  unterlässt  es  jedoch,  die  eine  oder  andere  Vermutung 
durch  einen  beweis  zu  stützen.  Es  bleibt  daher  das  verdienst  von 
der  Hagens,  zuerst  für  die  kärntische  herkunft  des  dichters  eingetreten 
zu  sein.  Ausser  v.  d.  Hagen  hat  sich  nur  Wackernagel  (Gesch.  d. 
deutsch,  literatur)  für  die  kärntische  qualität  der  spräche  in  der  Krone 
erklärt.  Nach  Lachmann  und  Müllenhotf  war  H.  v.  T.  ein  mann  von 
bürgerlicher  abkunft. 

In  bezug  auf  die  lebensdaten,  die  abstammung  und  die  persön- 
lichen Verhältnisse  Heinrichs  erfahren  wir  aus  der  dichtung  selbst  so 
gut  wie  nichts ;  es  müsste  denn  sein,  dass  man  v.  2938-2988,  w^elche 
Niedner  in  seinem  buche  'Das  deutsche  turnier'  nach  emendations- 
vorschlägen  Müllenhoffs  mitteilt,  als  einen  hinweis  des  dichters  auf 
seine  kärntische  abstammung  nehmen  dürfte-,  hier  stellt  sich  Heinrich 
zu  denen  von  Friaul  und  Kärnten.  Durch  Schönbachs  erklärung 
dieser  stelle  Beitr.  33,  363  ff.  gewinnt  diese  annähme  viel  Wahrschein- 
lichkeit. Eine  urkundliche  bestätigung  dieser  ansieht  ist  noch  nicht 
erbracht  worden. 

Nimmt  man  mit  ßeissenberger  an,  dass  der  dichter  wirklich  dem 
geschlechte  des  von  Ottokar  in  der  Reimchronik  60  609  Kuonrät 
von  dem  Turnlin  und  61183  K.  v.  d.  Turlin  genannten  mannes 
zugehört,  so  beweisen  mehrere  ungedruckte  Urkunden,  dass  die  namens- 
form Turlin  die  einzig  richtige  ist;  ferner,  dass  sie  keineswegs  einem 
ml.  turricella,  titrriculus  und  ähnlichem  entspricht,  wie  Schönbach  a.  a.  o. 
s.  362  meint.  Nicht  nur,  dass  der  dichter  selbst  sich  im  akrostichon 
der  Krone  (v.  182-216)  Heinrich  von  dem  Turlin  nennt,  bringt  auch 
die   Reimchronik   an   zweiter   stelle   diesen   namen ;    die   form  Turnlhi 


HEINRICH   VON    DEM   TURLIX    UND    DIE    SI'RACHFORJI    SEINER    KRONE  157 

mag    durch    ein    missverständnis    Ottokars    entstanden    sein,    der    die 
lateinische  namensforni  jedenfalls  niclit  kannte. 

Das  St.  Veiter  geschlecht,  dem  jener  Konrad  von  dem  Turliu 
angehörte,  heisst  nämlich  in  lat.  Urkunden  de  Porta  oder  de  Portula. 
Wie  in  der  von  Schönbach  aus  den  Monumenta  ducatus  Carinthiae 
(IV,  no.  2966)  angeführten  Urkunde  des  Jahres  1268  findet  sich  der 
name  Chonrad  con  Tnrleine,  purgere  zu  St.  Veit,  noch  in  einer  Urkunde 
aus  deii  jähre  1284.  (Das  original  liegt  im  Wiener  Staatsarchiv,  das 
regest  im  archiv  des  Geschichts Vereins  für  Kärnten  in  Klagenfurt.) 
In  diesem  Schriftstück  bestätigt  Albrecht,  söhn  des  schenken  Ulrich 
von  Osterwitz,  dem  söhne  seines  vetters,  dem  schenken  Hermann  von 
Osterwitz,  den  verkauf  seines  anteils  an  bürg  und  herrschaft  Osterwitz. 
Unter  den  namen  der  St.  Veiter  bürger,  die  als  zeugen  unterschrieben 
sind,  befindet  sich  auch  Konrad  von  Turlin,  vermutlich  derselbe,  der 
am  Überfall  gegen  den  söhn  herzog  Meinhards,  1292,  sich  beteiligte. 
Und  in  einer  lat.  Urkunde  vom  4.  dezember  1289  wird  derselbe  zeuge 
angeführt  als  Chunradus  de  Portula.  Sollte  über  die  Identität  der 
beiden  noch  ein  zweifei  bestehen,  so  genügt  der  hinweis,  dass  beide 
Urkunden  aus  demselben  interessenkreis  stammen,  zu  seiner  entkräf- 
tung: der  in  der  erstgenannten  Urkunde  als  rechtsbeteiligter  angeführte 
schenk  Hermann  von  Osterwitz  erscheint  auch  in  der  späteren  und 
sein  Siegel  hängt  nebst  zw^ei  anderen  bei. 

Einen  söhn  dieses  Konrad  v.  T.,  der  1292  von  herzog  Meinhard 
hingerichtet  wurde,  dürfen  wir  wohl  in  Chuonrat  pei  dem  Türlein; 
bürger  zu  St.  Veit,  vermuten,  welcher  in  einer 
Urkunde  vom  17.  märz  1328  (orig.  im  Wiener 
Staatsarchiv)  ^  durch  Unterschrift  und  Siegel 
dem  Michel,  des  Laurenzen  eidam,  einem 
St.  Veiter  bürger,  den  verkauf  einer  mühle 
bestätigt.  Das  Siegel  trägt  die  Inschrift: 
CVNRADI  DE  PORTVLA  und  ist  auch  des- 
halb höchst  wertvoll,  weil  es  uns  das  wappen 
derer  von  Turlin  zeigt:  auf  dem  vom  oberen 
teile  des  wappeus  durch  eine  querlaufende, 
dreimal   geteilte   spitzenlinie   getrennten   felde   eine  fünfblättrige  rose. 

Derselbe  Chunrat  pei/  dem   Türlein   erscheint   noch    fünfmal   auf 


1)  Die  einsieht  in  die  Urkunden  verdanke  ich  dem  liebenswürdigen  entgegen- 
kommen des  herrn  landesarchivars  in  Kärnten,  dr.  Aug.  Jaksch,  R.  v.  Wartenliorst 
in  Klagenfurt,  dem  ich  an  dieser  stelle  meinen  herzlichsten  dank  aussprec^he. 


158  GKABEK 

Urkunden  als  zeuge;  so  bekräftigt  er  nebst  anderen  bürgern  am 
23.  märz  1330  den  verkauf  einer  hübe  zu  St.  Veit  'ze  nest  vor  dem 
Turlein'.  Auch  ortolf  vor  dem  Ttirlein,  ein  bruder  oder  anderer  ver- 
wandter Konrads  steht  unter  den  zeugen.  Dass  man  zu  diesem  rechts- 
geschäfte  zwei  Türlein  heranzog,  erklärt  sich  wohl  am  besten  daraus, 
dass  gerade  sie  wegen  der  läge  ihres  stammgutes  vor  dem  Turlein, 
an  besitzveränderungen  in  der  nähe  desselben  ein  natürliches  Interesse 
besassen. 

Am  26.  mai  1330  beurkundet  Konrad  als  zeuge  die  aussteuer, 
w^elche  Katrey,  gemahlin  Heinrichs  des  roten,  purgers  ze  sand  Veyt, 
ihrer  tochter  Perchten,  nonne  im  Klarissenkloster  der  Stadt,  verschreibt. 

In  einer  Urkunde  vom  23.  dezember  1330  vermacht  eine  witwe 
Dyemüt  dem  Klarissenkloster  gründe  unterhalb  des  klosters  und  spitals, 
sowie  eine  mühle  und  zwei  guter  ausserhalb  der  Stadt,  aus  deren  er- 
trägnis  jährlich  an  ihrem  Sterbetage  zwölf  feierliche  totenämter  bezahlt 
und  sämtliche  brüder,  Schwestern  und  priester  mit  wein,  semmein, 
fleisch  und  anderen  chuchenspeys  beschenkt  werden  sollen.  Unter 
den  zeugen  kommt  unmittelbar  nach  den  adeligen  Chiinrat  peij  dem 
Türlein,  dann  folgen  andere  bürger. 

Noch  zweimal  finden  wir  den  namen  Cünrat  pey  detn  Türlain: 
in  einer  Urkunde  vom  14.  juni  1338,  die  den  verkauf  eines  hofes  in 
St.  Veit  bestätigt.  Und  zum  letztenmal  wird  er  erwähnt  in  einer  Ur- 
kunde vom  20.  märz  1341 :  Jcekel,  Chilnrates  aydem  peij  dem  Turlein, 
jnlrger  ze  sand  veif,  und  seine  frau  Soffey  (Konrads  tochter),  verkaufen 
ein  gut  zu  Lint  unter  dem  Drcesenpery  einem  anderen  bürger  der  Stadt. 

Der  schon  in  der  Urkunde  vom  23.  märz  1330  genannte  Ortolf 
begegnet  uns  wieder  in  einer  Urkunde  vom  31.jänner  1350  als  Ortel 
peij  dem  Tor.  Diesmal  schenkt  er  seinem  freunde,  dem  abt  Niklas 
von  Viktring  und  dessen  kloster  ein  gut.  Da  er  selbst  kein  Siegel 
besitzt,  lässt  er  das  stadtsiegel  von  St.  Veit  und  das  des  deutschen 
Ordens  in  Friesach  au  der  schrift  anbringen. 

Aus  den  angeführten  Urkunden  ergibt  sich  für  die  beurteilung 
des  geschlechtes  derer  von  Turlin,  dass  sie  weitverzweigte  Verbin- 
dungen besassen,  begütert  und  angesehen  waren  und  sowohl  zu  welt- 
lichen als  zu  geistlichen  herren  in  nahen  beziehungen  standen. 

Noch  zu  erwähnen  bleibt  eine  Gretel  Truscha  (Gertrud)  vor  dem 
Turlein,  die  in  einer  Urkunde  vom  20.  jänner  1384  (orig.  im  St.  Veiter 
Stadtmuseum)  den  verkauf  eines  gutes  au  die  bruderschaft  der  schuchster 
7Ai  St.  Veit  bekräftigen  lässt. 

Geht  schon  aus  diesen  Urkunden  mit  Sicherheit  hervor,  dass  die 


HKINKICH    VON    OKM    TIKlix    UND    DIE    SPKACHFOKM    SEINEK    KKUNK  159 

namensform  des  dichters  Tiirlin  einem  lateinischen  Porta  oder  Portula 
entspricht,  so  ergibt  sich  ein  anderer  beweis  aus  dem  umstände,  dass 
sich  sogar  die  läge  jenes  türleins,  nach  dem  das  geschlecht  benannt 
ist  -  offenbar,  weil  sein  stammgut  in  der  nähe  des  türleins  stand  - 
unzweifelhaft  bestimmen  lässt.  In  St.  Veiter  Verkaufs-  und  Schenkungs- 
urkunden des  14.  Jahrhunderts  und  der  folgenden  zeit  bis  zum  jähre 
1537  wird  nämlich  zur  bezeiehnung  der  läge  der  betreffenden  liegen- 
schaften  oft  jenes  türleins  gedacht,  das  in  der  nördlichen  Stadtmauer 
angebracht  und  wahrscheinlich  nur  für  fussgänger  bestimmt  war, 
während  durch  die  grossen  haupttore  auch  der  wagenverkehr  erfolgte. 
Die  häuser  und  grundstücke,  um  die  es  sich  in  den  genannten  Schrift- 
stücken handelt,  liegen  sämtliche  'vor  dem  turlein,  oh  dem  türlein,  vor 
dei)i  Tivrlein,  Tiierlein,  vor  dem  stadthürlem,  also  ausserhall)  der 
Stadt,  auf  derselben  seile  der  ringmauern.  Der  bestimmte  gebrauch 
des  Wortes  türlein  für  einen  mauerdurchlass,  dem  diese  stehende 
bezeiehnung  zukommt,  erleichtert  so  die  auffindung  desselben.  In 
allen  fällen  kann  nämlich  nur  die  nördliche  Stadtmauer  in  frage 
kommen,  weil  durch  sie  die  Strasse  ^m  den  Döber  ['in  die  Dober'] 
-  wahrscheinlich  der  westlich  von  St.  Peter  befindliche  Dobern  berg, 
von  der  stadt  St.  Veit  aus  auf  dem  wege  nach  nordosten  zu  erreichen  - 
sowie  die  Strasse  'ge7i  Swartzenfnrt'  und  'der  gemeine  iveg  gen  Kreig' 
führt.  An  diesen  Strassen  liegen  die  in  den  Urkunden  beschriebenen 
guter.  Auch  später  noch  war  das  türlein  vorhanden,  wie  aus  Urkunden 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts  sowie  aus  Valvasors  buch  'Erzherzog- 
thum  Kärndten',  Laibach-Nürnberg  1688,  hervorgeht;  darin  heisst 
es  (s.  234)  von  St.  Veit :  hat  drey  Hauptthor  und  ein  kleines  Thürlein. 
Doch  ist  das  türlein  weder  auf  der  abbildung  dieses  werkes  (fig.  s.  235), 
noch  auf  dem  bilde  von  St.  Veit,  welches  Merian  in  seiner  Topo- 
graphia  prov.  Austr.,  Frankfurt  1649,  bringt,  zu  sehen.  Beide 
bilder  zeigen  vielmehr  gegen  den  Kalvarienberg,  das  ist  gegen  nord- 
westen  einen  runden  türm,  woraus  man  schliessen  kann,  dass  das 
von  Valvasor  erwähnte  türlein  östlich  vom  genannten  türm,  also  in 
der  nordmauer  zu  suchen  ist.  Weder  der  Mon.  car.  III,  no.  2751 
(II,  no.  643)  als  zeuge  erwähnte  Heinrich  auf  dem  Turm  noch  die 
Wolfsberger  de  Porta  dürfen  mit  der  St.  Veiter  familie  identifiziert 
werden. 

Geben  so  einesteils  die  Urkunden  auskunft  über  das  geschlecht 
derer  von  Turlin  und  die  ablcitung  des  namens,  so  gewinnen  wir 
andernteils  aus  der  Krone  doch  ein  annähernd  deutliches  bild  der 
persönlichkeit   des    dichters,    der    diesem   St.  Veiter   bürgergeschlechte 


160  GRA15ER 

angehörte..  Heinrich  v.  T.  hat,  ähnlich  wie  Hartmann  und  Gottfried, 
eine  gute  Schulbildung  genossen  ^  Die  menge  lateinischer,  griechischer 
und  französischer  Wörter,  die  anspielungen  auf  Ovid  und  Horaz  scheinen 
mir  (trotz  Afda.  6,  114  f.)  Heinrichs  gelehrsamkeit  zu  bekunden.  Das 
kriterium  der  bildung  allein  aber  vermöchte  nicht  zu  beweisen,  Heinrich 
sei  ein  bürgerlicher  gewesen,  wie  Lachmann  und  Wackernagel  an- 
nehmen, falls  uns  nicht  andere  gründe,  namentlich  die  urkundlichen 
Zeugnisse,  dazu  bestimmten. 

Das  ganze  werk  ist  von  ritterlichem  geiste  durchAveht :  der  dichter 
überträgt  wappen  von  innerösterreichischen,  namentlich  kärntischen 
ministerialen  und  herren  auf  die  ritter  der  tafeirunde;  seine  anschau- 
ung  vom  rittertum,  die  auffassung  des  minnedienstes  und  der  lehens- 
pflichten,  seine  einsieht  in  einen  prunkvollen  hofhalt  und  endlich  seine 
genaue  kenntnis  des  ritterlichen  kampfes  und  aller  höfischen  gesell- 
schaftsspiele  weisen  darauf  hin,  dass  er  eigenen  einbliek  in  ritterliche 
kreise  genommen  hat,  seine  wappenkenntnis  sogar  auf  engeren  Um- 
gang mit  adeligen.  Alle  diese  tatsachen  lassen  sich  auch  aus  den  oben 
angeführten  Urkunden  erklären.  Gelegenheit,  das  ritterliche  leben  aus 
nächster  nähe  zu  betrachten,  hat  Heinrich  v.  T.  am  hofe  des  Spon- 
heimers  Bernhard  genug  gehabt:  einmal  genossen  die  Turlin  grosses 
ansehen  und  verkehrten  viel  mit  adeligen  herren ;  dann  aber  herrschte 
in  St.  Veit  ein  reges  leben  und  buntes  treiben,  denn  es  war  bis  zum 
aussterben  der  Sponheimer,  1269,  die  residenz  der  kärntischen  herzöge, 
von  denen  besonders  Bernhard  ein  freund  der  künste  und  geselligkeit 
war.  Es  ist  auch  nicht  ausgeschlossen,  dass  Heinrich  am  herzogshofe 
irgendeine  beamtensteile  bekleidete  und  als  ministeriale  Bernhards 
waffenberechtigt  war,  avozu  dann  die  stelle  10449  der  Krone  passen 
würde,  wo  der  dichter,  nachdem  er  sich  einige  zeilen  früher  von  dem 
TiirUn  der  iverlt  kint  Heinrich  bezeichnet  hat,  von  sich  sagt :  ick  trage 
daz  iväfen  M  mir  da,  daz  valschen  man  versnidet.  Als  hofmann  weiss 
er  auch,  wie  die  Krone  beweist,   in   der   romanliteratur   der  höfischen 


1)  Gelegenheit  zum  Schulbesuche  war  ja  in  8t.  Veit  vorhanden.  Unter  den 
Sponheimern  besass  St.  Veit  eine  schule.  So  werden  in  der  rechuung  bischof  Wolf- 
gers V.  Passau  über  die  ausgaben  auf  seiner  reise  nach  Italien  durch  Kärnten  die 
scolares  aput  S.  Vitum  angeführt,  denen  er  am  7.  april  1204  ein  geldgeschenk 
macht  (Mon.  car.  lU,  no.  1563).  No.  1813  desselben  bandes  führt  einen  Hainricus 
scolasticus  de  S.  Vito  (10.  jan.  1220)  als  zeugen  an.  Ein  Hainricus  magister  scola- 
sticus  s.  Viti  wird  erwähnt  in  einer  Urkunde  vom  30.  jan.  1233  (Mon.  car.  II,  no.  543). 
Endlich  wissen  wir  von  einem  Bernhardus  scolasticus  (1248j  in  S.  Vito  plon.  car.  II, 
no.  585). 


HEINRICH   VON   DEM   TURLIN   UND   DIE    SFRACHFORM   SEINER   KRÖNE  161 

sowohl,  als  der  volksepen,  sowie  im  mimiesaDg  seiner  zeit  gut  bescheid, 
zeigt  sich  aber  auch  der  bibel  in  manchen  auspielungen  kundig.  So 
erklärt  es  sich,  dass  seine  geschichten  fast  ausschliesslich  der  lektüre 
französischer  werke  entnommen  und  nur  zum  geringsten  teile  dem 
leben  nachgebildet  sind  oder  eigener  ertindung  entspriessen. 

Das  hochgefeierte  vorbild,  das  er  nicht  genug  rühmen  kann 
und  dem  er  nachzustreben  versucht,  gibt  Hartmann  ab.  Heinrich  ent- 
nimmt ihm  nicht  nur  gewisse  motive,  sondern  richtet  sich  auch  in  der 
wähl  bestimmter  Wortarten  im  reime  nach  Hartmann ;  freilich  erreicht 
ihn  der  nachahmer  weder  in  sprachlicher  feinheit,  noch  in  dichte- 
rischer kunst. 

An  Wolframs  darstellung  lehnt  er  sich  oft  genug  an.  Von  ihm 
nimmt  er  eine  reihe  von  Wörtern  an ;  viele  derselben  erklären  sich 
aber  auch  aus  der  gemeinsamen  bayrischen  heimat  der  beiden  dichter. 
Wie  jener  liebt  Heinrich  französische  und  lateinische  fremdwörter  in 
der  darstellung,  nur  dass  er  sie  immer  richtig  versteht  und  auslegt. 
Mit  Wolfram  hat  er  auch  gewisse  märchenhafte  Stoffe  und  manche 
wunderlichen  gelehrten  auspielungen  gemein.  Grosse  partien  des  Par- 
cival  sind  in  der  Krone  einfach  ausgeschrieben  und  mit  anderen  namen 
und  Worten  in  Heinrichs  spräche  wiedergegeben.  Schon  Zingerle  hat 
(Germania  V,  468  If.)  aus  stellen  der  Krone,  die  in  nahem  Verhältnis 
zum  Parcival  stehen,  den  beweis  erbracht,  dass  beide  dichter  dasselbe 
werk  Chrestiens  von  Troyes  zum  vorbild  gehabt  haben  und  die  wohl- 
begründete Vermutung  ausgesprochen,  dass  Heinrich  Wolframs  gedieht 
in  seipem  ganzen  umfange  gekannt  habe.  Ich  bin  der  ansieht,  dass 
eine  darauf  gerichtete  einzeluntersuchung  die  ansieht  Ziugerles  vollauf 
bestätigen  würde,  da  sich  mir  Übereinstimmungen  mit  ganz  späten 
partien  des  Parcival  ergeben  haben.  Übrigens  bemerkte  schon  Lach- 
mann, dass  Heinrich  der  französischen  vorläge  näher  stand  als  Wolfram. 

Nach  diesem  und  Hartmann  ist  es  Wirnt  von  Gravenberc,  in 
dessen  spuren  unser  dichter  wandelt.  Der  'Wigalois'  gilt  als  bekannt 
und  wird  inhaltlich  stark  benutzt  (der  glückspendende  gürtel,  das 
rad  des  glückes  u.  a.).  Wirnt  verdankt  Heinrich  die  äussere  gestaltung 
des  Werkes;  dessen  dreizeilige  Schlüsse  von  abschnitten  und  dessen 
Ungebühr  zu  reflektieren,  ahmt  er  aufs  getreueste  nach.  2942  nennt 
er  seinen  gewährsmann  auch  mit  namen.  Doch  sind  in  der  Krone 
die  reflexionen  noch  nicht  ins  masslose  gesteigert,  ja  manche  bean- 
spruchen mit  recht  einen  hohen  dichterischen  wert  und  zählen  zu  den 
schönsten  stellen  des  gedichts.  Sicher  ist  es  auch,  dass  Heinrich  den 
'Tristan'  gelesen  hatte,  als  er  sein  werk  dichtete. 

ZEITSCHRIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  11 


162  (IRABER 

Endlieh  g-ab  auch  Ulrichs  von  Zatzikoweu  'Lanzelet'  für  die 
Schilderung-  des  mit  edelsteinen  geschmückten  palas  der  frau  Sjielde, 
Krone  15  679  ff.,  einzelne  züge  her. 

Als  grundlage  für  die  Untersuchung  der  spräche  Heinrichs  von 
dem  Turltn  haben  mir  Zwierzinas  'Mhd.  Studien'  sowie  die  beobach- 
tungen  'Über  den  reimgebrauch  Hartmanns  und  Wolframs'  gedient. 
Es  hat  auch  sehr  der  sache  genützt,  seine  rezension  von  Junks  arbeit 
über  den  reimgebrauch  Rudolfs  von  Ems  (Beitr.  28)  heranzuziehen  und 
die  darin  für  jede  reimuntersuchung  aufgestellten  Vorschriften  zu 
befolgen. 

In  erster  linie  kam  es  darauf  an,  aus  den  lauten  und  formen 
der  reimwörter  in  der  Krone  diejenigen  merkmale  herauszufinden, 
welche  auf  bayrisch-österreichischen  und  speziell  kärntischen  charakter 
der  spräche  hinzuweisen  schienen.  In  allen  fällen,  wo  dazu  die  mög- 
lichkeit  geboten  war,  habe  ich  aus  der  heutigen  mundart  Kärntens 
mehr  oder  weniger  belege  angeführt  und  auf  grund  einer  sorgfältigen 
vergleichung  festgestellt,  welchem  Sprachstande  die  betreffenden  laute 
und  formen  zuzuweisen  sind.  Lessiak,  Ma.  von  Pernegg,  die  reich- 
lich benutzt  wurde,    bot   die  beste  fundgrube   mundartlicher   beispiele. 

Das  ergebnis  meiner  Untersuchung  ist  dies:  viele  erscheinungen 
in  Heinrichs  Krone  stimmen  mit  der  kärntischen  landessprache  über- 
ein, manche  Sonderentwicklungen  bei  Heinrich  lassen  sich  nur  aus 
dieser  erklären;  ebenso  stark  sind  die  Übereinstimmungen  im  Wort- 
schatz. Der  dialektische  einschlag  ist  trotz  aller  nachahmung  Hart- 
manns so  stark  wie  vielleicht  bei  keinem  anderen  mhd.  dichter,  so 
tief  eingewurzelt  steht  Heinrich  im  boden  seiner  mundart. 

Durch  meine  Untersuchung  glaube  ich  zugleich  die  grundlage  für 
eine  neue  ausgäbe  der  Krone  gegeben  zu  haben,  indem  ich  einerseits 
die  beziehungen  der  spräche  Heinrichs  v.  T.  zur  literarischen  spräche 
des  12.  und  13.  Jahrhunderts  und  andererseits  zur  kärntischen  mundart 
in  betracht  gezogen  habe. 

n. 

Die  sprachform  der  Krone. 

I.  Vokale. 

A)  Die  rt  - 1  a  u  t  e  u  u  d  deren  u  m  1  a  u  t. 

1.  Bindiingeu  von  a  :  ä. 

a  :  ä  reimt  in  der  Krone  358mal,und  zwar:  vor  auslautendem  k  (c)  iu  stumpfen 
reimen  nur  2mal:  lac  :  pflac  :  iväc  (subst.)  17  248;  tvdc  :  tif  wac  (praet.)  27  572. 
Durch   Singers    ansprechende   konjektiu-  zu  20  007   schantliche   tat :  mac  erscheint 


HEINRICH    VON    DEM    TURLIN    UND    DIE    SPRACHFOKM    SEINER    KRONE  163 

dieser  doppelt  unreine  reim  nunmehr  beseitigt  und  die  stelle  lautet:  schantlichen 
slac  :  viac. 

4mal  wird  a  vor  auslautendem  ch  (in  stumpfen  reimen)  gedehnt.  So  reimt 
sach  (praet.)  :  ?'er*jrtrit7t  fadv.)  3368;  :  gäcli  14  813;  sach  (subst.)  ;  n«c/t  (praep.j 
25  412.  Denn  warum  soll  man,  ohne  dass  weder  die  Überlieferung,  noch  der  text 
selbst  hierfür  anlass  bieten,  roubes  schdch  für  roubes  sach  setzen,  wie  Haupt  vor- 
schlug, bei  einem  dichter,  der  in  soviel  fällen  die  a  ungleicher  quantitäten  zusam- 
menbindet? Parataktisches  aneinanderreihen  von  abstrakten  gehört  überdies  zum 
gewöhnlichsten  kunstmittel  Heinrichs ;  6509  nach  (praep.)  :  geschach. 

Niemals  bindet  Heinrich  a  :  d  vor  d  und  nie  vor  g.  5401  muss  wohl  mit 
Lexer  (Wb.  in,  633)  gelesen  werden:  Die  vamt  iemer  enwage  (P  varent !  iemer 
enweg,  V  varen  in  mir  zewage):  sage  'Meine  gedankeu  sind  fortwährend  in  be- 
wegung,  allzeit  unstet'.  Daher  sind  die  verse  30003  gnaden :  überladen  und  30  027 
gnade  :  entlade  Heinrich  abzusprechen  und  der  abschnitt,  in  dem  sie  stehen,  auch 
aus  sprachlichen  gründen  als  schreiberanhang  zu  bezeichnen.  (Andere  gründe  für 
diese  behauptung  s.  im  letzten  abschnitte.) 

Der  typus  -ade-  findet  sich  in  der  Krone  überhaupt  nicht,  weil  es  sehr  schwer 
ist,  zu  gnade  ein  reimwort  zu  finden.  Für  -dge-  dagegen  steht  eine  grosse  menge 
von  Vokabeln  zur  Verfügung,  noch  mehr  für  -age-.  Wenn  dessenungeachtet  Heinrich 
V.  T.  solche  bindungen  meidet,  muss  es  wohl  absichtlich  geschehen,  d.  h.  die  dehnung 
der  kurzen  a  hatte  vor  d  und  g  eben  noch  nicht  stattgefunden.  24672  mägen : 
jagen  :  betragen  wurde  entweder  bei  Scholl  verdruckt  (wie  so  häufig),  oder  es  liegt 
ein  schreiberfehler  vor.  Denn  dies  wäre  der  einzige  fall  von  dehnung  des  ä  vor  g. 
Auch  Singer  hat,  vermutlich  aus  inhaltlichen  gründen,  jagen  verdächtig  ge- 
funden und  lügen  vorgeschlagen,  welches  sich  Heinrichs  spräche  trefflich  fügt.  Des- 
gleichen muss  die  bindung  26  345  von  -age :  -dge  abgewiesen  werden.  Singer  schlägt 
wieder  vor:  Sus  sliefen  sie  dri  tage  und  naht,  Daz  sie  nie  lourden  enwaht.  Er 
entfernt  sich  dabei  aber  allzusehr  von  der  hs.  Ich  meine,  Scholl  habe  nur  fälschlich 
über  ivage  den  Zirkumflex  gesetzt  und  durch  weglassung  desselben  erziele  man  den 
richtigen  sinn :  Älsus  sliefen  sie  dri  tage,  Das  sie  nie  wurden  enwage.  'So  schliefen 
sie  drei  tage  lang,  ohne  sich  zu  rühren',  enwage  werden  steht  auch  im  Lohen- 
grin  19.52. 

a  :  ä  vor  ht  in  stumpfem  reim  lässt  sich  4mal  nachweisen:  685  etlicher  slaht : 
andäht,  6551  vaht  :  gedäht  (cogitare) ;  22  801  endaht  (tegere)  :  anddht,  24  053  ge- 
daht:äht;  21418  wird  nach  Krügers  Vorschlag  gelesen  werden  dürfen:  Und  reit 
in  der  ahte,  Daz  in  vil  gar  bedahte  Grimmer  muot  usf.  Kurzes  a  wird  demnach 
auch  vor  ht  nur  in  einsilbigen  reimen  gedehnt. 

a  :  ä  steht  ferner  fünfmal  vor  auslautendem  l  (stumpfe  reime):  über  al :  mal 
911;  mal:  tal  1454.  14  067;  :  enhal  (praet.)  24  498.     äl  (ahle)  ;  über  al  19  687'. 

1)  Die  reime,  wo  Scholl  den  namen  Parcivdl  zu  kürze  bindet,  dürfen  nicht 
mitgezählt  werden,  da  sie  dem  dichter  nicht  für  unrein  galten.  Bei  Heinrich  wechseln 
nämlich  wie  bei  Wolfram,  der  anfangs  diesen  namen  ständig  auf  -al  und  erst  später 
nur  auf  -äl  reimte,  die  nameusformen  mit  kürze  und  länge  der  endsilbe  regellos 
ab.  Farcival  reimt  auf  kurz  -al  2211.  25  921  ;  al :  23  865.  25  861  ;  zal ;  nur  2mal 
steht  der  name  mit  äl  :  Farcival  :  grül  13  996  und  29  485.  Dagegen  kommen  für 
die  bewertung  des  a  im  selben  namen  gar  nicht  in  auschlag  die  neutralen  reime 
2291  Farcival :  Lenval  und  1547  ;  dal.  Erwägt  man  noch,  dass  der  reimmöglich- 
keiten  auf  -dZ  in  der  Krone  nicht  wenige  sind,  so  scheint  Heinrich  v.  T.  die  naniens- 
forni  mit  kürze  der  endsilbe  .•  Farcival  zu  bevorzugen. 

11^ 


164  (iUABEK 

12  964  druckt  Scholl  entw^U  (praet.)  :  m^lt  (praes.  von  malen).  Doch  scheint 
es  fast,  als  ob  nach  dem  sprachgebrauche  Heinrichs  die  3.  sg.  ind.  praes.  zum  sin. 
malen  eher  er  malt  lauten  müsste,  zumal  das  praet.  mit  rückumlaut  entwalüe)  in 
der  Krone  sich  häufig  findet.  Auch  dieser  reim  also  zählt  zu  den  fällen  der  deh- 
uung  des  ä. 

Vor  m  im  stumpfen  reim  wird  a  5mal  gedehnt :  sträm  :  mitesam  310.  (Ad- 
jektiv-ableitungen  auf  -sam  reimen  meist  auf  kürze,  brauchen  daher  wegen  einzelner 
bindungeu  zu  länge  nicht  als  lange  silben  beansprucht  zu  werden.)  :  kam  12  837, 
:  nam  14  509,  ;  nam  :  sorgesam  20  541,  nam  (praet.)  :  squdm  15  166.  Wieder  zählen, 
abweichend  von  Scholls  text,  die  reime  von  eigennamen  nicht  mit.  Das  vorkommen 
des  Wortes  Amurßnäm  im  reim  zeigt  vielmehr,  dass  wir  es  auch  hier  mit  doppel- 
formen zu  tun  haben.  Der  nom.  reimt  durchwegs  auf  langes  ä :  so  7795.  7937. 
8297.  8662.  13  610.  13  673.  17129.  231i7  :dd;  .•««17196.  Vermischung  der  quanti- 
täten  des  a  tritt  endlich  vor  m  auch  ein  14  287  vreissam  :  rdm,  was  bei  Scholl  nicht 
ersichtlich  ist. 

In  klingendem  ausgang  steht  gedehntes  a  vor  m  4mal :  566  qudmen  :  natnen 
(subst.)  :  Hrtwew  (praet.) ;  :  namen  620;  namen  :  squämeii  960;  :  gerdmen  1712.  In 
zweisilbigen  Wörtern  wagt  Heinrich  also  nur  in  den  ersten  2000  versen  des  gedichts 
a  vor  m  zu  dehnen,  bezw.  die  gedehnten  formen  aus  seiner  mundart  in  die  dichtung 
aufzunehmen,  und  vermeidet  diese  später  sorgfältig. 

a  :  ä  vor  n  steht  am  häufigsten  in  stumpfen  reimen,  im  ganzen  204mal.  Das 
material  für  solche  bindungen  geben  auf  der  einen  seite  die  reimwörter  vian,  han, 
sican,  tan,  han  (subst.);  began,  getvan,  ran,  versan,  hran ,  kan,  gan;  dan  und  an 
(praep.),  auf  der  anderen  die  Wörter  wän,  grdn  (stf.,  scharlachfarbe) ;  gdn,  gegdn 
(part.),  stdn,  hdn,  kdn  (1.  pers.),  getan  und  an  (praep.) '. 

Dazu  kommen  noch  die  beiden  reime  ha nt :  vant  29  968  und  :  gemant  2685; 
507  grdn  :  hran  ist  bei  Scholl  nicht  als  'unreiner'  reim  erkennbar.  Desgleichen 
13982  casieldn  :  swan.  Durch  ein  nachfolgendes  m  oder  n,  welches  den  vokal 
nasaliert,  wird  der  unterschied  der  quantitäten  verwischt,  weshalb  dann  a  :  d  ohne 
dem  hörer  aufzufallen,  gereimt  werden  kann  -. 

Der  zahl  nach  kommen  die  dehnungen  des  a  vor  r  denen  vor  n  am  nächsten. 
In  diesem  falle  wird  a  90mal  zu  d  gebunden ;  darunter  aber  nur  3mal  in  klingen- 
dem reime:  7415  heivarie  : gehdrte;  7565  :  värte:  12  514  beicarten  :  vdrten,  also  wieder 
nur  in  der  ersten  hälfte  des  gedichts.  Folgende  stellen  müssen  noch  hinzugezählt 
werden:  941  ff.  lautet:   Ditz  mcere  nü  konien  was  Artus  ze  wa^re  (P  hat  zu  wäre), 


1)  An  eine  form  ich  han  ist  für  Heinrich  bei  der  füUe  von  anderwärtigen 
belegen  von  a  :  d  vor  n  gar  nicht  zu  denken.  Aus  dem  heutigen  kämt,  i  hQn  aber 
lässt  sich  auf  die  frühere  quantität  des  vokales  nicht  schliessen,  da  jetzt  sämtliche 
d  und  d  lang  gesprochen  werden. 

2)  Die  bei  bayr.  dichtem  beliebte  form  sdn  wird  von  Heinrich  konstant  ge- 
mieden. Wolfram  gebraucht  sdn,  Hartmann  nur  sd.  Nicht  ein  reim  enthält  diese 
adverbialform,  so  dass  man  wohl  schliessen  muss,  sie  sei  im  dialekte  des  dichters 
nicht  vorhanden  gewesen.  Diese  form  der  partikel  müsste  sich  bei  der  grossen  zahl 
von  reimmöglichkeiten  für  sdn  überall  leicht  einfinden,  zumal  Heinrich  die  typen 
-an  und  -dn  ganz  anstandslos  auch  untereinander  reimt.  Von  diesem  gesichtspunkte 
aus  zeigt  es  sich,  dass  der  dichter  sdn  bewusst  und  absichtlich  gemieden  hat.  Denn 
es  wäre  bei  Heinrich  unerhört,  dass  ihm  nicht  ein  einzigesmal  sein  eigenes  ma.  sdn 
entschlüpft  wäre,  falls  er  es  in  seinem  dialekte  besessen  und  nur  in  hinblick  auf 
Hartmann  vermieden  hätte. 


HETNKICH   VOX   DEM   TURlIn    UND    DIE   SPRACHFORM   SEINER   KRONE  165 

Wie  (h'i  ein  ritter  wwre  Erbeizet  vor  dem  sal  (V  uud  Singer),  wcere  stf.,  hat  hier 
unmöglich  die  bedeutung  'wahrheit,  Wirklichkeit',  der  sinn  fordert  unbedingt  war 
oder  wäre  (stf.)  'Wahrnehmung,  beobachtung'.  Nun  kann  aber  Heinrich  v.  T.  nicht 
(B  auf  a  gereimt  haben,  wie  sich  später  bei  behandlung  der  e-laute  herausstellen 
wird.  Daher  liegt  die  Vermutung  nahe  und  erhebt  sich  zur  gewissheit,  dass  Hein- 
rich den  coni.  praet.  von  wesen  (srn)  aus  seinem  dialekt  entlehnte  und  die  grob 
mundartliche  form  ich  unlr  statt  wcere  auch  in  sein  poetisches  werk  aufnahm.  Die 
stelle  muss  daher  gelesen  werden :  ze  war  :  ein  ritter  ivdr.  (Andere  belege  aus  der 
Krone  für  diese  coni. -form  s.  seite  165,  166,  168  und  180.) 

1075  dagegen  ist  das  bewcere^  welches  auf  woire  (coni.)  reimt,  zu  zweideutig, 
als  dass  man  sich  bestimmt  für  die  unumgelautete  form  entscheiden  dürfte.  Es 
passt  sowohl  die  bedeutung  'beweisen,  als  wahr  dartun',  als  auch  bewarn  'sich  wo- 
vor hüten,  unterlassen',  d.  h.  'in  abrede  stellen'  mit  folgendem  negativem  satze. 

Im  übrigen  wird  das  reimniaterial  gestellt  durch  die  Wörter:  dar,  schar,  bar, 
gevar  (adi.),  war  (praep.),  gewar  (praet.  und  praep.-adv.)  und  gebar,  denen  hdr,  jdr, 
dar  und  ivär  gegenüberstehen.  Vers  2415  scfiar  :  Reinmär  zählt  nicht  hierher,  da 
das  -ar  des  namens  als  anceps  gilt.  Ebenso  darf  man  auf  die  bindung  offenbar  : 
bar  (praet.) :  schar  25  157  nicht  allzu  grosses  gewicht  legen,  da  Heinrich  auch  diese 
ableitungssilbe  als  anceps  gebraucht.     Vgl.  2282.  29  588 :  ivdr. 

Dagegen  druckt  Scholl  15  733  hlär  :  adeldr,  während  gerade  diese  bindung 
eine  'unreine'  ist.  Das  wort  adelar  wird  von  keinem  dichter  auf  lang  c?  gereimt 
und  auch  Heinrich  v.  T.  bindet  es  immer  zu  kürze :  22  673.  23  516.  25  157  :  gar, 
nie  ausser  in  diesem  falle  zu  länge. 

Es  erübrigt  noch,  die  reime  von  gar  (adv.  und  adi.) :  här,  ivdr,  jdr  zu  er- 
wähnen. Die  Krone  weist  deren  33  auf.  Ausserdem  reimt  gar  gegen  70mal  zu 
-var,  dar,  gewar  (praet.  und  adj.),  war,  adelar,  beioar,  swar  (praet.),  tar,  Leiga- 
mar  u.  a. '. 

a  wird  sonst  noch  gedehnt  vor  r  +  cons.  in  offener  silbe :  ivdrn ;  am  (subst.) 
8235.  18  438;  :  varn  8715;  :  beivarn  21463.  27  608;  vdrn  (nachstellen)  .•  fee^rara 
10  816;  jdrti :  sparn  :  varn  30  031;  ferner  bewart  (-paYt.)  :  besivdrt  (praet.)  2906. 
22  667 ;  :  gevdrt  (part.)  27  045 ;  :  vdrt  (praet.)  28  568 ;  ;  enbart  (praet.  zu  tnbarn) 
:  bestcdrt  20  343.  Dehnungen  unter  sonst  gleichen  umständen  in  gedeckter  silbe 
(klingendem  reim)  sind  wieder  nur  drei  zu  belegen,  und  zwar  alle  nur  aus  der 
ersten  hälfte  des  gedichts :  bewarte  :  gebdrte  7415 ;  :  vdrte  7565 ;  bewarten  :  vdrten 
12  514. 

Zu  den  dialektischen  reimen  zählen  noch,  ohne  dass  sie  in  Scholls  ausgäbe 
als  solche  ersichtlich  wären,  folgende  stellen:  1266  bewaren :  vdren  ;  bewart : gevdrt 
(zu  swv.  vdren  'auf  den  willen  eines  anderen  rücksicht  nehmen,  ihn  zu  erfüllen 
suchen,  gewähren')  6734.  Das  Wb.  gibt  belegstellen  aus  Gregorius,  Frauendienst 
und  Lohengrin.     Daher  möchte  ich  dort  nicht  mit  Singer  gewart  lesen.    2360  muss 

1)  Die  zweisilbige  form  des  adv.  begarwe  :  varwe  reimt  121  (V  P  begarbe) ; 
6495.  8211  (V  P  begarbe).  14  341.  20  135.  21  132  (P  farwen  :  begarbe)  und  23  177. 
Nacli  Zwierzina  hat  es  den  anschein,  als  ob  in  der  Krone  kein  begarwe  vorkäme. 
Die  angeführten  stellen  belehren  uns  eines  anderen  und  weisen  darauf  hin,  dass 
auch  die  zweisilbige  form  im  dialekte  des  dichters  ihren  wolilberechtigteu  platz 
einnalim.  Freilich  konnte  Heinrich  sie  nicht  so  oft  im  reime  gebrauchen,  aus  dem 
einfachen  gründe,  weil  die  drei  reimwörter  harwe,  vanve,  marve  nicht  au  allen 
Stelleu  der  erzählung  ohne  weiteres  herangezogen  werden  konnten. 


166  (JRABEK 

es  heissen  lodren  :  hewaren  (inf.),  ahd.  pewarön  'verhüten,  unterlassen',  weil  hewdren 
hier  ganz  sinnlos  ist.  Derselbe  reim  liegt  vor  6660,  nur  dass  hier  hewaren  die  be- 
deutung  'servare'  trägt  (hss.  waren  :  beivaren).  wären  aber  vertritt  die  gew.  oberd. 
conj.-form  wceren.  Der  satz  6659  f.  Weder  und  oder  las  Der  dder  siege  Ovaren  ist 
der  von  6658  D6  greif  er  aber  vi'irhaz  abhäugifie  indirekte  fragesatz  und  verlangt 
demnach  den  conj.  des  verbs.  Dies  ist  also  der  zweite  fall,  dass  Heinrich  die  aus- 
schliesslich mundartliche  form  tvur  für  liuere  setzt. 

Ein  reim  von  a :  d  ist  aber  auch  für  24  377  zu  erschliessen.  24  376  0'.  lautet: 
SU  man  vor  die  rrouwen  hat  Da  mit  (sc.  mit  dem  hantschnoch)  alle  bewart.  Ohe 
ir  in  holt  wärt  usf.  'Da  man  vorher  doch  auch  alle  damen  mit  dem  handschuh 
bekleidet  hat',  tc^rn  (got.  wasjan)  hat  bei  Heinrich  im  praet.  und  part.  immer 
a.     Das  part.  bewart  steht  so  24  005  u.  ö. 

wärt  vertritt  wieder  das  'regelmässige'  ivteret.  20  343  bewart  ('bekleidet' ) : 
enbart :  bestvärt.  Endlich  muss  es  25  848  heissen:  ,90  wo'ren  übel  bewart  Dver  laut, 
der  (P!)  vil  maneger  värt  'nach  dem  viele  in  feindlicher  absieht  trachten'. 

Bei  der  sogenannten  dehnung  des  a  vor  l  und  r  handelt  es  sich  weniger  um 
eine  Verschiebung  der  quantität  als  viel  mehr  der  qualität.  l,  insbesondere  aber  r 
üben  auf  den  vorausstehenden  vokal  einen  starken  einfluss  aus.  Durch  folgendes 
l  wird  in  Kärnten  auch  heute  noch  vielfach  der  vokal  infolge  der  lippenrundung, 
welche  die  ausspräche  des  l  erfordert,  verändert.  Auch  ein  folgendes  ;•,  nament- 
lich, wenn  es  im  silbenauslaute  steht,  beeinflusst  den  vokal.  Unterliegen  nun  ä 
und  (/  in  derselben  weise  der  einwirkung  folgender  liquiden,  so  ist  es  begreiflich, 
wenn  die  laute  in  ihrer  qualität  sich  nahekommen  und  im  reime  gebunden  werden 
können. 

Vor  s  steht  gedehntes  a  nur  3mal  in  stumpfen  reimen:  13  088  was  :  cicläs : 
2399  hast  :  last .:  :  gast  29  467. 

Vor  i  in  21  stumpfen  reimen,  welche  gebildet  werden  aus  den  Wörtern  stat 
(subst.),  blat,  bat  (praet.),  trat  und  parät,  h/rät,  rät,  wät,  tat,  sigelät,  er  lät,  hat. 
Nur  ganz  zu  anfang  des  werkes  findet  sich  auch  eine  dehnung  des  o  in  klingen- 
dem reim :  481  laten  <  ladeten  :  täten.  (Vgl.  Paul,  Mhd.  gr.^,  §  86,  anm.  2.)  Zwier- 
zinas  behauptung,  dass  a  :  ä  in  geschlossener  silbe  bei  Heinrich  'ein  unerhörter 
reim'  wäre,  widerlegt  sich  auch  noch  durch  ein  zweites  beispiel  aus  der  Krone: 
19  686  täte7i  (praet.)  :  gestaten  (inf.).    (Vgl.  Zwierzina,  Zfda.  44,  s.  367,  anm.  2.). 

Die  reime  von  hän,  hast,  hat  auf  -an,  asf,  at  sind  sicherlich  als  unrein  an- 
zusprechen, da  es  an  gründen  fehlt,  die  bei  Heinrich  für  hau,  hast,  hat  sprechen 
könnten.  Er  bindet  getan,  län,  stän  und  gän  in  ihren  formen  ebenso  auf  länge 
wie  auf  kürze,  er  muss  daher  hän,  hast,  hat  gesprochen  haben. 

Eeine  binduugen  sind  daher  entgegen  Scholls  Schreibung:  7622  beraten :  ver- 
späten :  laten.  Aus  V  lässt  sich  der  3.  vers  also  rekonstruieren:  Dem  gotts  herde 
täten  (mit  enklise  des  pronomens  'in'),  hert  (erde)  steht  ausserdem  noch  25  073. 
22  461. 

Auch  vor  z  kennt  Heinrich  keinen  unterschied  in  der  quantität  des  a,  denn 
er  bindet  zehnmal  a  :  ä.  Um  die  Verstösse  bei  Scholl  zu  berichtigen,  gebe  ich 
sämtliche  belegstellen :  7655  praet.  az  :  wäz.  Es  wird  kaum  anzunehmen  sein, 
Heinrich  habe  wie  Rudolf  v.  Ems  B.  173.  13  und  Wehr.  Germ.  30,  180.  19,  auf  das 
altertümlichere  äz  zurückgegriffen;  in  der  Krone  findet  sich  wohl  6mal  äz,  niemals 
aber   äz  belegt,   obschon    die   reimmöglichkeit   dafür  vorhanden  war.     9055  ungäz  : 


HKINKICH    VON    DEM    TURLIN    rXD    DIE    SPRACHFOKM    SEINER    KRONE  167 

vergaz;  :  hesaz  26  997;  :  sas  29  324.  güz  :  saz  13  629.  28  876.  29  856;  :  gesaz 
14  803;  :  vaz  27  804.     strdz  :  maz  (praet.)  14  219. 

Aus  dem  vorgeführteu  reiramaterial  ergibt  sich,  dass  Heinrich  v.  T.  o  mit 
ungleiclieii  quantitäteu  bindet,  und  zwar  am  häufigsten  vor  liquiden  m,  n  und  r, 
aber  auch  vor  c  (A)?  c^»>  ''^>  h  ^j  *  "i^d  2.  Weiter  steht  fest,  dass  in  der  mundart 
des  dichters  die  quantitativ  verschiedenen  a  meist  in  einsUbigen,  selten  auch  in 
zweisilbigen  Wörtern,  qualitativ  gleich  oder  doch  so  ähnlich  waren,  dass  sie  unter 
ein  reimband  gestellt  werden  konnten:  gelängtes  a  fiel  mit  altem  d  zusammen. 

Wie  die  heutigen  mundarten  beweisen,  erlitt  das  kurze  alte  a  auf  dem  ge- 
samten bayr.-österr.  Sprachgebiete  dehnung,  nicht  bloss  vor  einfachen  konsonanten, 
sondern  auch  vielfach  vor  doppelten.  Diese  erscheinung  in  der  Krone  kann  daher 
nicht  als  ein  kennzeichen  ihres  kärntischen,  wohl  aber  ihres  bayr.-österr.  Ursprunges 
gelten  ^ 

2.  Widerstand  gegen  den  u  m  1  a  u  t  des  ä  und  d. 

Umlautfähiges  kurzes  a  finden  wir  in  der  Krone  vor  germ.  h  erhalten.  So 
lautet  der  inf.  praes.  sivachen  und  reimt  '.lachen  1891;  :  suchen  11649.  23  923; 
:  machen  21  214:.  21548;  geswachen  :  lachen  (suhst.)  24:879.  28  788;  sivachen :  suchen 
(subst.)  27  675.  Das  präsens  swachet  :  tcachet  10  436 ;  der  coni.  sivache  :  suche 
10  580;  das  Präteritum  sicachte  :  machte  16  656.  22  235.  Das  participium  {ge-, 
ver)swachet  :  {ge-,  ver)machet  2253.  3978.  8170.  14  866.  15  787.  19  772.  21  157. 
27  486;  :  muchet  5941.  8776.  10  305. 

Ausserdem  gebraucht  Heinrich  Imal  die  form  brachen  statt  brechen  und  reimt 
jene  auf  machen  27  400.  Im  kärnt.-wind.  dieselbe  erscheinung  bei  späh(n)  speck. 
Der  inf.  tivuhen  :  trahen  (subst.)  steht  2mal:  22  071.  16  993".  Der  umlaut  tritt 
endlich  nicht  ein  in  stuheUn  :  shi  (inf.)  20  859.  Demnach  vermute  ich  auch  für 
13  222  stahelm,  wo  Scholl  keine  lesart  verzeichnet. 

Noch  viel  häufiger  und  in  ausgedehnterem  masse  leistet  ä  dem  umlaut  wider- 
stand, wie  die  reime  beweisen;  es  hat  sich  erhalten  vor  r:  12  989  wcere  :  durnare 
(PI)  =  da  ndr.  Scholl  druckt  ganz  sinnlos  ncere,  da  er  die  umlautlose  form  für 
den  reim  nicht  brauchen  zu  können  vermeint.  Eine  andere  lesart  lautet:  den  het 
er  dd  mcere  Vil  gerne  gevrdget  'er  hätte  ihn  gern  um  auskunft  gefragt'.  Aber  das 
ndre  in  P  scheint  eine  solche  koujektur  nicht  zuzulassen.  Interpretieren  wir  zu- 
nächst  die   stelle   nach    dieser   hs.  ivdr  :  den   het   er   da  ndr  vil  gerne  gevrdget  'er 


ll  In  der  Kärntner  mundart  wird  a  ohne  rücksicht  auf  den  folgenden  konso- 
nanten bald  zu  p,  bald  zu  ä  entwickelt:  sirpl  schwall,  sipdl  stadel,  fpsn  fassen, 
gpr  gar,  pg»  flachsspreu  (mhd.  agene) ,  hpmr  hammer,  fiba  <  *abher  'herunter', 
spfjua  spanne ;  änul  (mhd.  U7ie)  'aviu\  äujtse  die  gabeldeichsel  an  einspännigen 
fuhrwerken,  zu  got.  ans  'der  balken'.  ksümig  zu  sQmon  sich  schämen,  ivädl  und 
wQdl  Tuihd.  ivadcl)  fächer,  Sprengwedel,  isüxr  zähre,  häsn,  häsig  (Drautal  und  ur- 
kundlich) schlüpfrig,  glatt  zu  ahd.  haf<an,  hasnisto,  venicstus,  ijolitissimus  u.v.a. 

Ganz  gleich  entwickelte  sich  mhd.  d :  jpmm  oder  jämm  jammern,  klagen, 
trQm  oder  träm  querbalken,  sQm  same,  spgn  spahn ;  hkOr  zur  weide  benutzter  berg- 
teil, gräte  {m\\(l.  grdt)  gräte,  imba  (vi\h.^.bdbc)  altes  weih;  slpj'n  schlafen,  mQsl 
narbe,  fphn  fangen,  u'(>r  wahr,  Ipsn  lassen  u.  v.  a. 

Auf  grund  dieses  dialektischen  Zusammenfalls  von  d  und  d  konnten  die  beiden 
laute  auch  aufeinander  gereimt  werden. 

2)  Auffällig  ist  das  sonst  nicht  belegte  rahen  :  slahm  10  758.  Es  ist  wohl 
spezifisch  kärntisch,  denn  diese  ma.  bewahrt  noch  heute  die  Wörter  rähl  und  ralihl 
'Stange'. 


168  GRÄBER 

(Gawein)  hätte  ihn  sehr  gern,  dar  dorthin '  ndr,  kontr.  aus  naher  „genauer,  deut- 
licher, eindringlicher'-,  um  das,  was  dort  drinnen  vorgieng,  gefragt'.  Wenn  die 
richtigkeit  dieser  auslegung  einleuchtet,  erhalten  wir  zugleich  einen  neuen  heweis 
für  den  rückumlaut  im  coni.  praet.  von  vesen,  welcher  schon  3mal  in  der  Krone 
begegnete.  Um  alle  zweifei  zu  beheben,  genügt  es,  27  754  anzuführen,  wo  ervarn 
(inf.)  ;  warn  (conj.  praet.)  gereimt  wird,  ein  deutlicher  beweis  für  den  frühen  ein- 
tritt des  sogenannten  rückumlauts. 

6454  migtbdre  (subst.)  :  Ä/?re  ,•  :  seivdre  (adv.).  11278.  19  812  ze  wäre  :  un- 
ddre  (appositionell  nachgesetztes  adj.). 

Am  meisten  unilauthemmend  wirkt  auch  hier  germ.  h. 

1248  geivcehet  (part.)  :  vwhet  (3.  pers.  sg.  ind.)  P  hat  gewahet  :  vahet!  24249 
versmdhe  (adj.)  ;  vdhen;  gevdhe  (conj.)  :  versmdhe  (conj.)  1015;  versmähet  (2.  pl.) 
:  enpfdhei  7604.  Der  inf.  versmdhen  :  enpfdhen  11773,  :  jähen  :  fidhen  13  751, 
;  vähcn  18  483,  :  ndhen  (adv.)  6862.  20  053.  Das  part.  versmdhet  :  gdhet  (2.  pl.) 
':  enpfdhet  3174. 

19  651  wwhe  (adv.)  :  jcehe  (conj.  praet.).  Die  vorläge  von  P  hatte  tvahe  und 
daraus  nahm  es  der  Schreiber  dieser  hs.  herüber.  Daher  dürfen  wir  auch  für  7762 
icdhe  (adv.)  ;  spcehe  ansetzen. 

Der  Umlaut  unterbleibt  auch  vor  h -\- s  und  h  +  i:  5663  ncehste  :  gcehste, 
P  den  aller  gahste! ;  8070  hrwhte :  fchte,  24  869.  ;  bedachte  :  (ehte  11  121.  In  den 
beiden  ersten  fällen  schreibt  P  brehte  :  a  h  i  e.  Wahrscheinlich  stand  in  der  vorläge 
beidesmal  ahte  und  der  abschreiber  meinte  den  conj.  in  die  ihm  geläufige  form 
mit  Umlaut  'bessern'  zu  müssen.  Der  ständige  Wechsel  von  a  und  w  in  der  hs.  P 
kann  keineswegs  der  willkür  des  Schreibers  zugemutet  werden.  Wie  die  Charak- 
teristik von  P  bei  Reissenberger  s.  4  f.  zeigt,  ist  es  nicht  seine  art,  ce  durch  a 
wiederzugeben.  Wir  dürfen  also  darin  einen  beweis  dafür  erblic^cen,  dass  in  allen 
fällen,  welche  in  betracht  kommen,  sich  in  der  dem  original  ziemlich  nahestehenden 
Vorlage  von  P  das  schriftzeichen  a  befunden  habe. 

Scholl  druckt  21418  fälschlich:  üz  der  ähte  :  beddhte  (unumgelauteter  conj. 
praet.  zu  denken),  während  die  stelle  heisst:  Und  reit  in  der  ahte,  Als  in  vil  gar 
hedahte  Grimmer  muot  .  .  . 

Ferner  tritt  der  umlaut  nicht  ein  vor  t. 

19  173  mi  SS  erat  et  (3.  sg.  ind.)  ;  bestätet  (part.).  Letztere  form  wird  durch 
den  Zusammenhang  gefordert:  'Jede  sache,  die  gut  ausgehen  soll,  muss  vorher  in 
ihrem  anfang  und  ende  festgesetzt,  d.h.  überlegt  werden.'  20  329  wiltprcete  (pl.) 
•  rcete  (dat.  sg.).  Heinrich  verwendet  sehr  selten  die  zweisilbigen  uragelauteten  formen 
der  casus  obliqui  der  masc.  /-stamme.  Dazu  kommt  das  zeugnis  von  P,  welches 
michelem  rät  bietet.  7622  beraten  (inf.)  ;  verspäten  (inf.)  :  läten  (imper.  mit 
enklise  des  pron.). 

Einmal  widersetzt  sich  ä  dem  umlaute  auch  vor/,  3698  släfen  :  g  ewäfen 
(subst.)  und  7351.  Was  endlich  noch  Eeissenberger  anführt:  b  es  warte  :  vdrte 
17  024  ist  einfach  rückumlaut,  der  bei  Heinrich  in  seltenen  fällen  und  nur  dann  nicht 
eintritt,  wenn   der  'bindevokal'  zwischen   stammauslaut   und  endung  erhalten  blieb. 


1)  Vgl.  Paul,  Mhd.gr.  §322:  Bezeichnungen  der  richtung  werden  häutig  zu 
Verben  gesetzt,  die  au  und  für  sich  keine  bewegung  ausdrücken,  bei  denen  man  die 
Vorstellung  einer  bewegung  erst  infolge  der  beigefügten  richtungsbezeichnung  er- 
gänzen muss. 


HEINRICH    VON   DEM   TURlix    UND    DIE    SPRACHFORM    SEINER    KRONE  169 

Vor  ^:  19  938  häzen  (pl.  stm.  'rock,  'klei^')  :  verwäsen  :  geläzen,  Das  wort 
heisst  auch  hcez,  pl.  hmze,  Heinrich  verwendet  also  die  umlautlose  form.  lu  all 
den  angeführten  reimen  handelt  es  sich  nicht  um  'unreine'  reime,  sondern  um 
sprachlichen  ausgleich:  unumgelautetes  ä  oder  a  konnte,  wie  heute  in  der  mundart, 
so  auch  im  12.  oder  13.  Jahrhundert,  schon  zu  erhalten  gebliebeueiu,  des  umlauts 
nicht  fähigem  ä  oder  u  gebunden  werden.  Aber  auch  diese  erscheinuug  weist  nicht 
auf  Kärnten  speziell  hin,  denn  sie  erstreckt  sich  wieder  auf  das  ganze  bayr.-österr. 
Sprachgebiet. 

3.  d  aus  kontraktiou  entstanden. 

d  <  äire:  16  188  kUu  (dat.  pl.)  ;  hün  (inf.);  Uä  (acc.  pl.)  ;  da  10  551.  17  838. 
17  922.  18  486.  18  505;  :  «Zd  (dat.)  {:  wä)  10  697.  11834.  12  117.  13  002.  13  960. 
14023.  14922.  16215.  16  266.  16  387.  16  921.  17  624.  18  240.  18698.  18854.  19029. 
21975.  22  899.  26  218.  28  363.  28  745.  29  132. 

d  <  äht:  19  399  vervdn  :  ergän. 

ä  <  aJie  2842  gestälet  :  gemälet.  Das  d  hat  sich  hier  nur  scheinbar  dem 
Umlaut  widersetzt,  denn  die  kontraktion  zu  d  musste  bereits  eingetreten  sein,  bevor 
der  Umlaut  erfolgt  war;  stäle  :  male  7482;  :  sträle  10  526;  :  male  14  291.  15  262. 
17  164.  19  222.  23117.  23  791.  28112;  ;  «^m^e  26  716;  sträle  10  626. 

4.  ce  aus  kontraktion  entstanden. 
ce  <  ahe :  6353  locelen  <  wahelen  :  gevcelen. 

Die  verba  pura  erscheinen  im  präteritum  nicht  umlautlos,  wie  etwa  bei  Hart- 
mann, auch  nicht  im  Wechsel  von  umgelauteten  und  unilautlosen  formen,  wie  bei 
Wolfram,  sondern  durchweg  mit  dem  charaktervokal  des  präseus :  6687  metc  (conj.) 
:  icete:  wwte  (ind.)  :  skete  6032  (P  wcet.),  14  374  (P  ivote  :  state),  15  834. 

Das  participium  lautet  gedrcete  :  süete  8209 ;  19  679  gebUet  :  gesfet  (P  gehlat  : 
gesät).     Formen  wie  gedrät  oder  gedrän  fehlen  vollständig. 

Das  präsens  erscheint  immer  ohne  ./ ;  25  539  nnet  :  bl(et  (3.  sg.).  P  hat  wat : 
hlat!  Mit  unrecht  druckt  Scholl  3806  und  3860  underivcejet  :  hlmjet.  V  bietet  Wöe<  ; 
hlret,  auch  P  hat  ivat  :  hlat. 

6.  0  für  a;  6  für  d. 

Die  anlautende  Verbindung  qua  (denn  quälte  musste  Heinrich  v.  T.  als  praet. 
von  qiieln  gesprochen  haben)  wird  zu  ko.  11156  kolde  :  wolde.  19  068  kolten  : 
emrolten ;  24  055  verdolt  :  kolt  (praet.). 

Dementsprechend  wird  die  anlautende  Verbindung  qua  zu  ko.  Kan'döl  :  köl 
(=  quäfe)  11  506. 

Auch  im  kämt,  dialekt  zeigen  sich  noch  spuren  dieser  lauterscheinungen : 
zwar  lautet  das  subst.  quäl  khwgl  <  quäle.  Die  zusammenziehung  findet  aber  statt 
in  khptemhr  •:  quatember ;  köpe  m.  kaulkopf,  <  quahbe. 

6.  Bindungen  von  a  :  o. 

Der  Übergang  der  gruppe  ar  <  or  muss  noch  immer  als  bayr.-österr.  eigen- 
tümlichkeit  der  spräche  eines  dichters  angesehen  werden,  wenngleich  er  nicht  aus- 
schliesslich auf  dieses  gebiet  beschränkt  blieb. 

In  der  'Krone'  reimt  2mal  a  :  o:  3430  worte  :  harte  ;  11  203  vart  :  irort.  Die 
übrigen  angaben  bei  Eeissenberger  beruhen  auf  Irrtum.  Denn  1025  sal  :  schal  muss 
zwar  angeführt  werden  zum  beweise,  dass  Heinrich  die  uebenform  sal  zu  .9«/«, 
Suhl  gebraucht,  der  reim  ist  aber  ein  'reiner'  a-reim.  Das  nämliche  gilt  für  das 
praet.  niaht  :  naht  26  332. 


170  GKABEU 

16  347  dagegen  liegt  ein  fehler  SchoUs  vor,  denn  das  von  der  hs.  P  weist 
auf  den  reim  gedon  hin.  gedon  (stf.)  bedeutet  'spaunung,  anstrengung,  bemühung', 
gedon  tuon  beschwerlich  fallen,  gewalt  antun,  quälen.  Heinrich  v.  T.  kennt  also 
noch  kein  ran^.  Auf  hochdeutschem  gebiet  erscheint  diese  form  ausser  bei  Gott- 
fried nur  bei  Fleck  (Flore  239)  und  selbst  dieses  van  wird  aus  dem  Tristan  ent- 
lehnt sein. 

B.  Die  e  - 1  a  u  t  e.     (r,  (,  e,  ä  und  w.) 

1.  Die  e-laute  gleicher  quantität. 

In  der  behandluug  der  verschiedenen  e  gibt  sich  Heinrich  von  dem  Turlin 
als  Inuerösterreicher,  ja  speziell  als  Kärntner  zu  erkennen. 

Zuerst  werden  die  sogenannten  'unreinen  bindungen'  von  f  ;  f  behandelt. 

a)  f  und  f  vor  m  ata. 

(  reimt  auf  e  vor  b :  lebet  :  begrabet  4970.  gehabe  (subst.)  ;  lebe  13  018.  leben 
:  hfbeii  13  494.  inderrfde  :  streben  18  039.  In  Heinrichs  spräche  nahm  daher  das 
offene  e  vor  b  den  geschlossenen  laut  des  f  an. 

Diesen  vier  reimen  von  (  :  e  vor  b  steht  nur  ein  einziger  von  f  in  sich  ge- 
reimt gegenüber:  h^bet  :  ents^bet  7229,  und  selbst  dieser  muss  als  'literarischer 
reim'  bezeichnet  werden,  da  entseben,  wie  Zwierzina  nachweist,  dem  österreichischen 
Sprachschatze  fremd  ist  und  nur  aus  dem  md.  entlehnt  sein  kann.  Die  vereinzelte 
bindung  c  •'  e  vor  b  findet  ihre  erklärung  daher  nicht  in  der  spräche  des  dichters, 
sondern  im  wortmaterial.  Der  typus  -^b-  enthält  nämlich  niu-  die  worte  begrabet, 
hfben  und  gehfbe,  entbehrt  aber  sonstiger  reimwörter.  Es  überwiegt  daher  die  zahl 
der  bindungen  mit  leben,  geben,  stveben,  streben,  weben,  reben  und  eben  ganz  be- 
deutend. 

Ähnlich  steht  es  mit  f  und  e  vor  g.  Heinrich  gebraucht  fünf  reimpaare  in 
-(ge(n)  :  gge  :  sl^ge  11536;  :  bewege  15  081.  g^gen  :  verlegen  3349;  ;  sUyen  18  387. 
Ugest  :  m(^gest  13 122,  also  5mal  mehr  als  im  t}i)us  -^he-.  Dagegen  finden  sich 
61  reimpaare  des  typus  -ege-.  Die  bindungen  auf  traget,  Ifget  usw.  kommen  für 
die  betrachtung  nicht  in  anschlag,  da  diese  formen  bei  Heinrich,  mit  eiuer  einzigen 
ausnähme,  immer  kontrahiert  werden. 

Die  Wahrscheinlichkeit  für  bindungen  von  -(ge-  im  Verhältnis  von  reimen  auf 


1)  Der  Vorgang,  dass  a  :  o  vor  /•  reimen  kann,  findet  seine  erklärung  in  der 
heutigen  mundart.  Das  kärntische  insbesondere  liebt  es,  die  lautgruppe  -or  als  -ar 
zu  sprechen.  Es  handelt  sich  also  auch  in  obigen  reimen  nicht  um  verdumpfung 
des  a,  sondern  um  öfiuung  und  erhöhuug  des  o  vor  r.  Beim  Übergang  vom  vokal 
zum  zäpfcheu-r  macht  sich  nämlich  ein  ganz  leiser  vokalischer  übergaugslaut  be- 
merkbar; dadurch  wird  der  vokal  etwas  diphthongisiert,  er  erscheint  gebrochen: 
nr)»r  narr,  fo^r  fahre  usw.  Diese  übergangslaute  unterscheiden  sich  wesentlich  von 
den  diphthongen  und  können  auf  diese  nie  gereimt  werden.  Auch  die  ursprüng- 
lichen oa  sind  vor  ;•  zu  p*  geworden  und  so  mit  einfachem  q  zusammengefallen. 
Ein  derartiger  zusammenfall  von  einfachem  vokal  und  diphthong  wird  durch  die 
reime  schon  fürs  mhd.  erwiesen.  Urk.  varderen  die  altvorderen,  verdarm  (jjt.  pf.), 
nrgelmeisttr.  Im  kärntischen  wird  jedes  mhd.  o  vor  r  zu  q.  q  aber,  der  velar- 
vokal, entwickelte  sich  in  derselben  Stellung  noch  weiter  zu  a:  die  zunge  nimmt 
eine  höhere  läge  ein  als  sonst  und  der  laut  ähnelt  nun  einem  a.  So  erklären  sich 
die  dialektformen  marg»  morgen,  u-ai-t  wort,  fart  fort  usw.  Sogar  das  aus  ver- 
dumpfung des  a  entstandene  p  muss  sich  dieser  Wandlung  unterziehen:  icär  i  (mit 
hellem  a)  <  ^icör  i  =  icaz  ich. 


HEINRICH   VON   DEM   TURLIN   UND    DIE    .Sl'RACHFORM    SEINER   KRONE  171 

-ehe-  ist  daher  bedeutend  grösser.  Tatsächlich  bringt  Heinrich  53  derartige  reime. 
Bei  der  geringen  möglichkeit,  in  jenem  typus  zu  reimen,  boten  sich  binduugeu  auf 
-(ige  in  fülle  dar. 

-(ge  reimt  auf  -ege  in  folgenden  beispielen :  engqgen  :  degen  l&l.  1995.  4267. 
6950.  9824.  18  472.  18  732.  27  389;  :  uvgen  5130.  8160.  10  912;  :  ige-,  er)wegen  (part.) 
•  pfl^'g^'*'  15  716.  26  677 ;  :  pflegen  :  gelegen  17  537 ;  tcnerwegeti  27  438 ;  shge(n) :  degen 
826.  28  043.  29  138;  -.pflegen  3973;  :  vertvegen  6538;  :  icege  13  165.  13  377.  20  916. 
28  743;  :  underwegen  19  057;  :  erlegen  19  797.  (ge)kgen  :  degen  9297.  19  499.20556; 
:  pflegen  3621.  10  107.  13  324.  15  339.  15  628.  18  812.  25  465.  25  854.  26  743;  hget : 
pfleget  (2.  pl.)  17  400;  ;  wege  3645.  12758.  29  907;  :  erivegen  :  degen  28  093;  :  under- 
wegen 2Ab7G.  24  373.  kge  :  pflege  :  wege  17  779.  (ge  :  wege  1750;  :  jyflege  10  70^3. 
22  620.  Iggent  :  2)flegent  2631.  'mfge(n)  :  wege  24.911;  :  segen  2Q  031;  und  endlich 
Wege  :  b(ge  (franz.)  25  641. 

f  und  ("  unterscheiden  sich  demnach  auch  vor  g  nicht  voneinander,  ihre  aus- 
spräche muss  in  dieser  Stellung  dieselbe  gewesen  sein. 

f  u  n  d  ("  V  0  r  t. 

An  reimwörtern,  welche  f  vor  einfachem  t  enthalten,  stehen  Heinrich  nur 
st{te  und  k(te  zur  Verfügung.  Beide  erscheinen  ein  einzigesmal  im  reim  beisammen: 
26  486.     Nur  einmal  (s.  unten)  gebraucht  er  auch  sqte  'Sättigung'. 

Nun  enthält  die  Krone  aber  68  reine  bindungen  von  het,  tet,  gewel(e),  bet(e) 
(bitte),  bret,  treten,  claret  und  den  -et  der  eigennamen,  wodurch  die  möglichkeit 
geboten  ist,  jene  zwei  Wörter  auf  qt-  in  mannigfacher  weise  zu  diesen  zu  binden. 
Die  31  beispiele  hierfür  sind: 

st(t:  bret  6579.  18  867.  22  116;  .•  brunet  6886;  :  tet  3681.  5713.  4631.  5901. 
6362.  9304.  12  987.  13  230.  19  370.  20  142.  23  828.  25  511.  25  692;  :  bet(e)  1664. 
4856.  7521.  19  951.  21802.  23  438.  25  335.  30  020;  s?te  :  hete  6854.  k?ten  :  geweten 
8466.  14  364.  28  705 ;  :  treten  13  245.  Es  ergibt  sich  daraus,  dass  Heinrich  f  und 
e  vor  t  unterschiedslos  zusammenwirft. 

Vor  muta  erscheint  mhd.  ("  in  der  mundart  als  ö-ähnlicher,  sehr  geschlossener 
laut,  welcher  sich  deshalb  am  besten  durch  das  schriftzeichen  ö  wiedergeben  lässt. 
Da  auch  dem  mhd.  f  im  kärntischen  ein  ö  immer  vor  einfacher  muta  entspricht, 
fallen  e  und  f  in  diesen  fällen  in  einem  einzigen  laut  zusammen.  Jedesmal  tritt 
aber  die  mundartliche  dehnung  des  betreffenden  e- lautes  hinzu,  lobm  —  leben, 
göbni  —  geben,  glogr  zu  legeren;  trötn  —  treten,  pflog u  —  pflegen;  tete  (conj.)  > 
mundartlich  tot,  bet  >  pot  usw. 

Davon  sind  ohne  Zuhilfenahme  der  histor.  worterklärung  die  f-formen  gar 
nicht  mehr  zu  unterscheiden :  höbm  —  hfben,  rüdn  —  reden,  nögl  —  nqgel,  khötn  — 
kfte,  slög  —  slqge,  stöt  (urbes)  —  stqte. 

Aus  diesem  vergleich  steht  der  zusammenfall  von  Heinrichs  mundart  mit  der 
in  Kärnten  noch  heute  gesprochenen  vollkommen  fest. 

e  in  der  Stellung  vor  tt  steht  in  der  Krone  nur  4mal  und  zwar  immer  f. 
hqtte  (dat.)  ;  wf^ie  (dat.)  1585.  20  661;  :  verwette  (1.  pers.  sg.)  8302.  betten  (dat. 
pl.)  :  errqtten  (inf.)  11  572.  Dass  sich  trotzdem  keine  bindungen  von  -?tte(n)  :  -ette{n) 
finden,  kann  noch  immer  nicht  die  Unmöglichkeit  eines  reimes  von  f ;  S  vor  doppelt  t 
beweisen.  Der  mangel  solcher  bindungen  erklärt  sich  teils  aus  dem  wortscliatze 
Heinrichs  von  Turlin  (es  stehen  ihm  viel  weniger  Wörter  in  -i'ttc  zur  Verfügung 
als  in  -(:tte),  teils,  und  das  ist  das  entscheidende,  aus  seinem  dialekte. 


172  GRABER 

In  der  Kärntner  mundart  werden  nämlich  e  und  f  vor  tt  ungleich  behandelt : 
fdtsötn  —  Z(tten  Verstreuen,  tsötl  —  zettel,  frötn  —  vt-ftten  weisen  noch  zusammen- 
fall beider  e-laute  auf.  Dagegen  unterscheidet  eine  ganze  anzahl  von  Wörtern  f 
yoü  ('  auf  das  strengste:  letn,  mhd.  l(tte,  khletn,  rahd.  klftte,  pöt  —  b^tte  bett,  petln 
—  bettelen;  smötn  <  *sm§tte  zu  smatzen  fett,  schmalz,  rahm. 

Was  früher  nur  zufall  schien,  gibt  sich  nun  als  absieht  des  dichters  zu  er- 
kennen ;  er  meidet  die  bindungen  von  f  ;  e  vor  doppel  /  deshalb,  weil  die  ausspräche 
in  der  mundart  keine  gleichmässige  war.  Darin  erblicken  wir  abermals  einen  beweis 
für  den  kämt.  Charakter  der  spräche  Heinrichs. 

Im  anschlusse  hieran  erörtere  ich  noch  alle  jene  fälle,  in  denen  ausserdem 
e  zum  laute  des  geschlossenen  f  hin  sich  entwickelt  hat.  In  gewissen  Stellungen 
konnten  beide  aufeinander  reimen,  ohne  dass  die  bindung  als  eine  'unreine'  auf- 
gefallen wäre. 

Zunächst  vor  /  (v).  14  687  steft  :  geschfft  (part.)  und  12  471  hfven  (inf.)  : 
neven  (acc).  Die  Seltenheit  derartiger  bindungen  hat  ihren  grund  einzig  im  wort- 
material.  Reimworte  in  den  typen  -even,  -Qven  und  -eft  fehlen  ausser  den  ange- 
führten überhaupt  und  belege  finden  sich  nur  in  -(ft,  die  aber  mangels  der  gleichen 
formen  auf  e  nur  in  sich  reimen  können:  es  sind  dies  kr^fte  :  schifte  801.  18  577; 
:  ritter schifte  11931.  26  779  und  haften  :  schiften  16  486;  :  hr^ften  15  367. 

Weiter  tritt  Vermischung  beider  e-laute  ein  vor  st,  und  zwar  nur  in  einem 
reimpaar:  1514  ne'st  :  test,  dem  auf  der  anderen  seite  45  bindungen  auf -?«<- gegen- 
überstehen: g (Stein)  :  b?ste(n)  446.  754.  2281.  3263.  5968.  30  014;  :  tv?ste  (^met. 
Yon  wizzen)   5828.*  17  947;    :  v?ste(n)   2591.    17  102.    18  071.    19  389.26140.27  416. 

27  746;  :  ksten  18  962;  v(ste(n)  :  b(ste(n)  1574.  5719.  6011.  9784.  13  423.  24  288. 
26  778.  27  096.  27  665;    :  iv^ste   3126.    8501.    10189.    12  748.  15  178.  20  771.  22  810. 

28  384;  v^st  :  geio^st  (part.)  3671.  16  690.  vi:ste{n)  :  iste{n)  11638.  12  200;  :  hste 
15  705.  19  473.  22  766.  25  207 ;  ;  r^ste  5699.  w^ste  (praet.)  ;  b^ste  17  221 ;  r^ste 
15  263. 

Daneben  zähle  ich  20  reime,  welche  e  und  f  vereinigen,  ein  beweis,  dass  die 
ausgleichuug  vor  st  schon  zu  Heinrichs  zeit  völlig  durchgeführt  war:  g^ste  :  veste 
{dies  festus)  613 ;  :  föreste  18  253.  22  558 ;  :  gebreste  22  400.  24  846 :  eng^sten  :  bresten 
15  491;  Vfste  (&dj.)  :  gebreste  6363.  15  904.  wgste  (]^ra,et.)  :  beste  :  gebreste  21816. 
«f6<e(n)  :  bresten  9100.  28  629.  28  945 ;  bresten  :  lösten  7710.  7241 ;  :  (sten  16  009 ; 
;&fsim3027;  :  totsten  12  219,.  v(ster  :  swester  14:^.0.  11177.  17  176.  23  897.  Das 
fehlen  von  bindungen  mit  e  und  f  vor  einfachem  s  kann  nichts  beweisen,  da  es  an 
reimworten  in  -^s  gebricht. 

Die  e-laute  vor  ic. 

f  und  e  werden  auch  gleichmässig  behandelt  vor  iv.  Die  möglichkeit,  so  zu 
reimen,  ist  nicht  gross.  Es  findet  sich  nur  e  i  n  derartiger  reim :  18 141  lewen 
(leonem)  :  Ansgqiven  (dat.) ;  immerhin  fällt  an  diesem  reime  die  namensform  auf, 
weshalb  es  sich  hier  schickt,  einen  exkurs  über  -gou,  -gftce  in  Zusammensetzungen 
und  im  anschluss  daran  über  turnoi  einzuschalten. 

Bei  Heinrich  steht  der  alte  wo-stamm  .90«  3mal  im  reim.  Als  w^T-stamm, 
nach  knie  flektiert,  erscheint  er  2962 :  Ilespelgou  :  Brisgou  {Phesjielgamv  :  hrysz- 
gauw),  als  ja-stamm,  nach  künne  flektiert,  in  18  141  Ihoen  :  Ansgfiven.  Endlich 
als  goi  in  Ansgoi :  turnoi  18  546.  Im  versinnern  steht  immer  nur  die  fonn  Ansgil 
(Vgl.  das  namenverzeichuis  bei  Scholl). 


HEINRICH   VON   DEM   TURLIN   UND    DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRONE  173 

Die  form  turnoi  wird  von  dem  dichter  bevorzugt;  so  reimt  sie  in  folgenden 
Versen:  806.  2984.  18  049.  18  411.  18  546.  22  644;  turnei  kommt  nur  2mal  vor: 
10  084  und  13  927.  (Über  die  stelle  2939-90  S.Medner,  'Das  deutsche  turnier'  s.  16  f.) 
An  der  besagten  stelle  der  Krone  muss  es  nach  F.  Lichtenstein  (Afda.  8,  15)  heissen: 
wol  priset  den  turnoi  dort,  als  der  (hs.  den)  franzoiser  croi  (hs.  twei)  iuot  mit  uns 
und  M  dem  Bin  (hs.  he  dem  R/n).  Zur  bestätigung  dieser  konjektur  diene  die  stelle 
804  ff.   (der  oder   diu  croi  fehlt  bei  Lexer  I,  1725.  1746  und  im  Mhd.  Wörterbuch). 

e  vor  w  steht  nur  noch  2mal  als  e:  10  557  und  12  760  Tcewen  :  lewen.  Laut- 
licher zusammenfall  von  ('  und  f  vor  w  lässt  sich  auch  in  der  Kärtner  mundart 
konstatieren :  ströw,  mhd.  strfu-e,  löiv,  mhd.  Wwe.  (Denn  diese  mhd.  form  ist  für 
die  ma.  vorauszusetzen,  da  aus  löuioe  ein  *l(eiiv  hätte  entstehen  müssen.) 

Zum   Schlüsse   mögen    die  e-laute  vor  kk  und  zz  zur  besprechung  gelangen '. 

e  vor  kk  und  zz. 

Vor  kk  überwiegen  die  reimmöglichkeiten  auf  f.  Die  Verhältnisse  werden 
durch  die  zahlen  aufs  genaueste  verdeutlicht.  Es  sind  nämlich  33  reimpaare  -(cke- 
überliefert :  rücken  (subst.  und  inf.)  ;  decken  (inf.  und  pl.)  2026.  4376.  4584.  6636. 
7262.  7904.  11802.  13  016.  16  576.  16  976.  17  796.  18  128.21478;  :  tv^cken  771. 
12  216.  22  612.  26  608.  26  82b;  ■:  backen  13  093;  :  strecken  19  721;  :  stocken  26  735; 
stfcken  :  decken  14  537;  r^cke  :  d^cke  706.  10  542.  25  838;  :  bgcke  29  280;  sm^cke  • 
decke  1577;  kcke  (subst.)  ;  ?cke  16  675;  decket  :  wecket  23  681.  23  948.  25  840; 
:  hacket  23  848 ;  bestücket  :  blicket  12  962. 

Da  der  dat.  sing,  oder  der  plur.  der  beiden  Wörter  st'ec  und  «-ec,  welche  in  der 
Krone  allein  diesen  typus  mit  e  ausmachen,  für  reime  auf  -(cke-  nicht  zu  brauchen 
sind,  würde  sich  daraus  die  Seltenheit  der  Vermischung  von  e  und  ?  vor  doppel-Ä; 
zum  teil  erklären  lassen.   Ein  derartiger  reim  ist  nur  in  13  469  dfcke :  vlecke  vorhanden. 

Immerhin  fragt  es  sich,  warum  Heinrich  worte  wie  kec,  zwec,  slee,  slecken, 
lecken,  die  doch  nicht  nur  einem  begrenzten  dialekte,  sondern  dem  ganzen  obd. 
gebiete  angehören,  nicht  für  reimzwecke  verwendet;  von  Worten  wie  s^jec,  zec,  snec 
u.  ä.  ganz  zu  geschweigen,  da  sie  in  einer  ritterlichen  erzählung  nicht  leicht  in  ge- 
brauch kommen  können.  Die  Versuchung,  obige  Wörter  in  den  reim  zu  stellen, 
musste  bei  dem  mangel  an  sonstigen  reimwörtern  doch  wohl  verführerisch  wirken! 

Die  erkläruug  für  das  verhalten  des  dichters  ergibt  sich  aus  der  mundart. 
Es  zeigt  sich  nämlich,  dass  im  Kärntischen  auch  heute  noch  ein  starkes  schwanken 
in  der  auffassung  der  e  vor  geminierten  gutturalen  herrscht.  So  spricht  man  khökh, 
drökh,  spökh,  tswökh,  aber  slekhn,  lekhn,  tsekx,  snekx,  tsekkatsn,  zappeln,  scherzen, 
(mhd.  zecken),  sekh9t,  mhd.  scheckeht  usw. 

Dieses  auffällige  schwanken  in  seiner  mundart  hat  den  dichter  bewogen, 
zweifelhafte  formen  nicht  in  den  reim  zu  stellen. 

In  manchen  Wörtern  fällt  allerdings  die  ausspräche  von  c  und  (  vor  kk  zu- 
sammen, wie  der  oben  angeführte  reim  zeigt. 

Ganz  ähnlich  wie  für  die  e  vor  kk  liegt  die  sache  für  f  und  e  vor  gemi- 
niertem  z. 

Auch   hier   überwiegen   die  reimmöglichkeiten  in  einer  gruppe :  -ezse-.    Es 

1)  Die  bindungen  -eize  sind  für  die  betrachtung  selbstverständlich  belanglos, 
da  sich  nur  f  finden  können.  Der  Vollständigkeit  halber  zähle  ich  sie  auf:  sgtzet  : 
ergötzet  8434.  12.334.  29  521;  ergötzet  :  gel(tzet  10  059;  setzen  :  ergötzen  11327. 
25  852;  :  ktzen  18  315.  20  663;  :  h(tzen  24193;  endlich  noch  n(tze  :  Iftze  21850. 


174  GRABE  1{ 

Stehen  42  -ezze-  gegen  2  -(zse.  Die  beispiele  für  den  ersten  typus  sind :  (be-,  ver-) 
sezsen  :  ezzen  2138.  5850.  7669.  8324.  12  633.  13  095.  14  729.  20  362.  28  920.  29  304. 
29  319;  :  vergezzen  1124.  2462.  7131.  9889.  11861.  14  984.  18  001.  19  833.  26  865. 
27  802.  28  160.  28  440.  29  258;  (ver-,  ge)mez2en  18  787.  23  798.  5579.  7057.  9350. 
17  729.  28  064.  vergezzen  :  {ge)mezzen  7901.  2B98.  3634.  8805.  11252;  .■  iizzen  6471. 
20  332.  26  627 ;  ezzen  :  (ver-,  ge)mezzen  9067.  8756.  13  204.  Die  beiden  f-reime  sind 
bfzzer  :  rn^zzer  9642 ;  mfzzern  :  hfzzern  8848,  doch  ist  zu  bedenken,  dass  diese  zu 
reimen  mit  den  obigen  nicht  taugen.  So  bleibt  nur  n^sze  (subst.)  und  das  verbum 
n^zzen  übrig.  In  der  tat  reimt  der  dat.  sing,  nfzzen  :  hesezzen  6682.  Trotz  der 
geringen  reimmöglichkeit  der  beiden  e  in  dieser  Stellung  beweist  der  vereinzelte 
reim  doch  die  identität  von  f  und  e  vor  doppel-^r  in  manchen  Wörtern.  Die  be- 
handlung  der  e-laute  in  der  kämt,  mundart  stimmt  mit  der  in  der  Krone  völlig 
überein:  no/ =  «eye,  höfn  =  7i(ven  hafen,  topf,  stöftn  ~  steft  stifte  haben  dieselbe 
ausspräche  des  e  wie  Wörter  mit  mhd.  f  .•  khröftn  kraft  (aus  den  obliquen  casus  des 
sg.  krqfte  entstanden),  h^fte ,  ma.  höft.  nöst  =  nest  nest;  i)öste  =  beste,  föst  — 
vest  stark ,  fest,  und  vfste  festung.  swöstr  =  swester.  Zusammenfall  beider  e  vor  kk : 
flökh  —  vlecke,  spökx  =  sp'ec ;  smökhn  =  smecken  kosten,  riechen,  schmecken,  dökhn 
—  decke(n).  fdrökhn,  die  giieder  starr  ausstreckend  sterben,  mhd.  verrücken  u.  a.  m ; 
vor  zz  :  nösn  —  nfzzen,  pösr  —  bfzzer,  sösl  —  sezzel,  mösn  —  mezzen,  frösn  — 
vrezzen  u.  a. 

Bei  Vermischung  der  ungleichartigen  e  reimt  Heinrich  immer  nur  f  ;  e,  nie- 
mals e  oder  gar  f.-  ä.  Wo  überhaupt  ä  im  reime  erscheint,  wird  es  nur  in  sich 
und  zwar  jedesmal  vor  ht  gereimt:  gesläht  (3.  pers.  sg.  zu  slagen,  slahen)  :  tiväJit 
(ttoahen)  21.  2055.  2370.  7320,  also  bloss  ganz  zu  anfang  des  Werkes.  Diese  rein- 
liche Scheidung  vollzieht  auch  die  heutige  kärntische  mundart: 

Vor  germ.  h  +  cons.  hat  sich  der  sekundäre  umlaut  des  kurzen  a  überall  ein- 
gestellt: naxhi  gestern  abends,  mhd.  nähten,  praxtn  grosssprechen,  mhd.  brühten, 
pfaxtn  eine  stute  probieren,  mhd.  brähtm.  taksn  und  tasn  nadelholzäste,  mhd. 
dähsen ;  dazu  r/eda^-*  buschwerk.  icaks  und  u-äs  schneidig,  xükA.  ivöhse.  khraksn 
g^estell  zum  tragen  auf  dem  rücken,  mhd.  krnhse  u.  v.  a.  Als  Vorstufe  dieses  se- 
kundären a  ist  überoffenes  ä  anzusetzen.  Dass  ä  schon  im  13.  Jahrhundert  in 
Kärnten  annähernd  den  gleichen  lautwert  besass  wie  heute,  erhellt  daraus,  dass 
Heinrich  bindungen  von  ä  zu  e  sichtlich  meidet;  denn  e  nahm  uur  vor  liquiden 
die  qualität  eines  offeneren  e  an,  behielt  aber  seinen  geschlossenen  laut  vor  allen 
übrigen  konsonanten.  «  und  e  waren  daher  von  anfang  an  grundverschiedene  laute 
und  konnten  von  einem  dichter,  der  wie  Heinrich  fast  aUe  bloss  'papierenen  reime' 
unter  steter  rücksichtname  auf  seine  eigene  spräche  meidet,  niemals  im  reime  ver- 
einigt werden. 

Es  stehen  in  der  Krone  135  reime  mit  sehen,  jehen,  geschehen  (~fhe-  fehlt). 
Aber  gegen  92  -("/«^-bindungen  (reht,  kneht,  sieht  [adi.],  tr  jeht,  seht,  speht ;  vehien) 
hätte  doch  wenigstens  eine  von  -eJit  :  -äht  gebracht  werden  können,  faUs  es  möglich 
g:ewesen  wäre,  sie  auf  eine  der  vorigen  zu  reimen.  Dieses  verhalten  Heinrichs  ist 
umso  auffallender,  als  doch  e  im  mundartlichen  khnext,  slext,  rext,  fextn  seine  alte 
offene  qualität  bewahrt  hat.  Daraus  folgt  der  ziemlich  sichere  schluss,  dass  ä 
schon  im  13.  Jahrhundert  ein  überoffener  laut  war,  der  stark  zu  a  hinneigte.  So 
«röifnet  sich  uns  ein  blick  auf  die  historische  entwicklung  des  ä  zum  heutigen 
kärntischen  a,  dem  'sekundären  umlaute'. 


HErNKK'H    VON    1>KM    Tl^Rlix    UND    DrE    .Si'IJACHFOUM    SEINER    KRONE  175 

Nunmehr  fällt  auch  licht  auf  eine  bisher  unaufgeklärte  stelle  der  Krone.  Da 
d  und  ff  vor  germ.  h  +  cons.  in  der  ma.  als  kurzes  a  erscheinen,  darf  11  268  nicht 
gelesen  werden  ersr/ien  :  wcehen  (wobei  das  zweite  reimwort  als  nachgestelltes  attribut 
zu  glast  aufzufassen  wäre;  vgl.  Scholl,  anm.),  sondern  die  stelle  lautet:  Unde  den 
ritter  ersehen     Und  hars  swertes  glast  wehen  {wehen,  ahd.  tvehan  'blinken,  strahlen'). 

b)  e  vor  liquiden, 

e  vor  h  Es  reimen:  kastei  :  gel  728;  :  hei  934;  .•  sinewel  6993.  14  576.  17372; 
;  stiel  12  709.  15  393.  20  272.  20  960.  27  205.  28  766;  :  marel  6911 ;  :  schappel  21  667. 
snel :  sinewel  4:U6.  69Q6 ;  :  spei  9901.  10  054.  23  808.  29  944;  :  gel  10  476;  :  vel 
17144;  :  schappel  21389.  gel  :  schappel  3703.  14173.  21150.  22  049;  :  kel  8196; 
:panel  7759;  :  vel  7124.  17  080.  19  636.  hei  (adi.  und  coni)  :  schapel  10  202;  :  spei 
24  640;  :  panel  19  921.    kel :  spei  17  433.    vel  :  sarantel  7723. 

-fl  fehlt.  Innerhalb  des  typus  -elde  reimen  die  subst.  velde  :  gezelde  3mal : 
815.  18  728.  22  255;  melde  4mal:  2943.  3896.  18  081.  18  291;  dagegen  reimt  hflde 
mir  zu  naJiisdde  7885.  15  019.  15  306.  17  383.  18  831.  22  722.  26  252.27  728.28  755. 

Ebenso  reimen  7mal  snelle,  welle,  helle  und  hellen,  snellen,  hellen,  vellen 
{pelles),  schellen  untereinander;  von  diesen  bindungen  erscheinen  auf  das  strengste 
getrennt  die  des  typus  -iUe-.  Hier  reimen  pf(lle,  geselle,  wflle  (coni.),  gev^lle 
(subst.),  kflle,  hflle  sowie  fllen,  vollen,  gesellen,  stallen,  pf^llen,  iv^llen  mit  ihren 
formen  67mal  nur  untereinander.  Typus  -ein  hält  dieselbe  Scheidung  ein.  Die 
sechs  p-bindungen  bestehen  aus  heln,  stein  4443.  7018.  8403  und  denselben  reim- 
wörteru  in  der  bindung  zu  kein  (dat.)  1614.  3415;  speln  3960.  Für  f  gibt  es  eben- 
soviel reime:  z^ln,  wein,  iivfln,  S(ln  kommen  in  unterschiedlichen  bindungen  vor: 
11788.  15  085.  15  646.  16  209.  16  311.  17  025. 

Auf  gleiche  weise  reimen  die  substantiva  seit,  velt,  gelt  und  die  worte  selten, 
gelten,  schelten  nur  untereinander,  im  ganzen  40mal,  während  hflt  nur  zu  ir  wfll, 
gesflt,  z(U,  tiv^lt  usw.  26mal  gebunden  wird.  Aus  der  bisherigen  Untersuchung  er- 
gel)en  sich  demnach  folgende  tatsachen :  vor  l,  II  und  /  +  cons.  werden  c  und 
e  strenge  geschieden.  Seit  Zwierzina  steht  fest,  dass  die  beiden  e-laute  in  dieser 
Stellung  bei  allen  Österreichern  grundverschiedene  laute  waren  und  niemals  auf- 
einander reimen  konnten. 

Auch  iin  heutigen  kärntischen  erscheint  e  als  offener  laut;  viel  niehl,  gel 
gelb,  fahl,  stein  stehlen,  khelr  keller,  gelt  geld,  spelta  (mhd.  spelte)  Spaltholz  für 
zäune  usw.,  mhd.  f  aber  wird  durchwegs  mit  geschlossenem  Charakter  als  ö  wieder- 
gegeben :  söln  schälen,  wüln  —  u^^len  wollen,  ksöl  geselle,  gehilfe,  khöln  —  kflle 
gefängnis,  gwölte  imstande,  mhd.  geiv^ltec,  öltn  —  ^Ite  das  alter  usw. 

c  vor  r. 

r  und  e  behalten  wie  vor  /,  so  vor  r  ihre  ganz  heterogene  qualität,  weshalb 
kein  e  :  q  in  dieser  Stellung  reimt.  Die  Wörter  w^r  (subst.),  m^r  (mare),  h(r  (exer- 
ciius),  n(r  (alo),  das  vp-  (in  den  Wbb.  nur  der  v?r,  vqrje,  v^rge  fährmauu)  nur  aus 
der  Krone  bekannt,  reimen  25mal  nur  aufeinander,  dagegen  her  nur  auf  ge'r,  geicer 
(bürge,  gewährsmann),  sjiiir,  er  (pron.),  der,  teer  (prou.)  oder  diese  formen  werden 
zueinander  gebunden.     Solcher  reime  zähle  ich  mehr  als  hundert. 

Typus  -^rbe-  wird  durch  zwei  reime  vertreten:  7811  verderbe:  p-he;  23  766 
verderbet :  ge^rbet,  typus  -erbe  durch  acht.  Hier  reimen  verderben  (intr.),  loerben, 
sterben  unter  sich;  -erc,  -erch  und  erde  stehen  nur  als  e  zusammen  25mal,  -grg 
reimt  nur  Imal  in  sich :  (rgcr  :  kerger  1276 ;  -erg  in  berge,  herberge,  halsperge  5mal. 


176  GRAUER 

Ferner  kommen  sieben  reime  auf  -^rh-  vor:  m(rk(en,  -et)  :  st(rk(.€n,  -et). 
Etwas  verwickelter  sind  die  Verhältnisse  bei  den  folgenden  typen.  Ich  bespreche 
-ern  und  -ert  zusammen,  da  die  sache  dies  erfordert. 

-ern  reimt  49mal  nur  in  sich.  Die  beispiele  sind  wem  (jtraebere),  spern, 
gwern  (acc.  bürge),  hini  (inf.),  gern  (adv.  und  inf.),  kern,  stern  und  swern  (dolere). 
Für  die  zweite  e-gruppe  stellen  folgende  Wörter  das  reimmaterial:  sivert,  wert  (adj. 
und  verbum),  gert,  geteert  oder  sicertcn  usf.    Solche  bindungen  finden  sich  gegen  90. 

Typus  -fj-n  ist  vertreten  durch  25  reime  von  sw^rn  (jurare),  n^rn,  ivfrn 
{arcere),  verz^rn,  (be-,  ver)h?rn,  typus  -^rt,  -^rte{n)  durch  56  bindungen  von  n^rt, 
gew^rt,  sw(rt  (iuratis),  beschert,  v(rt  (currit),  h^rte,  gev^rte,  überb^rt  {b^rn  schlagen, 
klopfen),  rerwpien,  beh^rten  usw.  in  sich. 

Bisher  Hess  sich  eine  reinliche  Scheidung  der  beiden  e  vor  r  +  cons.  konsta- 
tieren. Nun  stehen  aber  in  der  Krone  zehn  reime,  bei  denen  die  von  Zwierzina 
für  alle  Österreicher  aufgestellte  regel,  dass  f  und  e  vor  r  und  r  +  cons.  niemals 
zueinander  gebunden  werden  können,  nicht  zutrifft.  Zum  genaueren  Verständnis 
führe  ich  die  stellen  vollständig  au. 

Zusammenfall  von  «"und  f  vor  r -\-  n  tritt  ein: 

15  962  ff.  Er  künde  mit  eren  Z(rn,  Swas  sie  mohte  üf  in  gewern. 

16  677  ff.  unde  bat,  Das  er  ime  an  siner  stat  Aamans  hieze  sw^rn  Und 
hegunde  vaste  an  in  wem  Darumbe  vlehe  unde  bet. 

18  299  ff.  Ob  sie  ieman  da  runden.  Die  in  der  stat  gunden.  Da  sie  möhten 
an  gewern  Zivo  tjoste  und  diu  sper  v erzürn. 

Zusammenfall  von  e  und  f  vor  ;•  +  i  findet  statt : 

4675  ff.  (mit  neuer  Interpunktion)  doch  enkunder  Des  ritters  niht  gewinnen 
Mit  deheinen  sinen  sinnen,  Sit  in  der  schilt  Wfvte:  Dez  ir  ieglicher  gerte.  Des 
häte  er  rnere  danne  vil. 

11  916  ff.  Do  wart  slac  unde  stich  So  manl/chen  an  gewert,  Daz  mich 
wundert,  was  sie  nfrt. 

18  308  Barüz  ouch  daz  selbe  tet  Melden  und  durchstach  daz  swert;  Daz 
in  der  stahel  lützel  w^rt.     Jeclicher  vant,  des  er  heg  ert. 

20  237  ff.  Gelilcke  unde  maiiheit  Gäwein  da  erngrten,  Als  sie  in  dicke 
werten,  Des  ime  dürft  geschach. 

21  281  ff.  swar  dem  man  sin  muot  stat,  Daz  ist  im  dicke  unerw^rt.  Der 
so  (Singer)  gar  nach  eren  vfrt,  Da  ist  (Singer)  diu  reise  an  gewert. 

23  882  ff.  mit  konjektur:  Wan  sie  vil  käme  daz  vertruoc,  Daz  er  sie  so  lange 
wqrt.     Sehet,  wie  sie  der  minne  gi'rt. 

Und  endlich  27  009  ff.  Die  Stiche  zeiväre  Wol  wurden  an  gewert:  Niemanne 
daz  sin  herze  wfrt. 

Die  tatsache,  dass  in  der  Krone  t''  zu  f  vor  r  +  cons.  gebunden  wird,  kann, 
wie  mir  scheint,  trotz  Zwierzinas  'regel',  dass  kein  Österreicher  f  und  S  vor  liquida 
zusammenwirft,  nicht  mehr  bestritten  werden  *.  Es  fragt  sich  nun  nur  noch :  in 
welchen  laut  fielen  die  e  und  f  in  dieser  Stellung  zusammen?  Hat  manchmal  offenes 
a  entgegen  der  allgemeinen  tendenz  dieses  lautes  vor  r  den  i-ähnlicheu  Charakter 
angenommen,  wie  er  für  f  aus  der  Krone  schon  im  13.  Jahrhundert  nachweisbar  ist 
(17  437  ungehirme  :  ivirme^.,  oder  neigte  in  manchen  Wörtern  f  vor  r  +  cons.  zu  einer 
offenen  ausspräche  hin? 

l)  Vgl.  Zwierzina,  Zfda.  44,  274  und  a.  o. 


HEINRICH    VON    DEM    TURLIX   fXD    DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRONE  177 

Die  kämt.  ma.  vermag  auch  hier  aufschluss  zu  geben,  denn  sie  besitzt  Wörter 
mit  ursprünglichem  e,  das  im  heutigen  kärntischen  ganz  offen,  d.h.  als  helles  a 
gesprochen  wird :  z.  b.  warn;  gwärn,  mhd.  wem  dauern ;  praet.  i  wärdi,  part.  gwärt 
(Lesach-  und  Lavanttal) ;  harts,  mhd.  herse  (Oberkärnten,  Lesachtal) ;  pärig  zu  hern 
'trächtig'.  Diese  entwicklung  des  e  zu  a  hängt  enge  zusammen  mit  der  sonst  nur 
vor  h  eintretenden  'brechung'. 

Aber  auch  vor  r  und  r  +  cons.  ist  brechung  des  P  eingetreten,  nur  ist  meist 
der  prozess  auf  der  stufe  eines  diphthonges  ea  ins  stocken  geraten  und  das  ur- 
sprüngliche e  hat  sich  dann  nicht  ganz  zu  a  hin  geöffnet  wie  bei  her,  hear,  här, 
mhd.  her;  learn  —  lernen,  hearf  focus,  earndst  ernst,  hhearn  kern,  stearn  stern, 
pearg  berg  (Gaü-  und  MöUtal,  Mittelkäruten). 

Umgekehrt  gibt  es  auch  Wörter  im  kärntischen,  in  denen  ganz  abweichend 
von  der  sonstigen  entwicklung  f,  das  vor  r  mundartlich  meist  überall  als  /  erscheint, 
zu  a  geworden  ist:  Arndorf,  urk.  Erbendorf  und  Arhindorf,  lat.  hereditas;  garhm, 
whdi.  g^rwen :  bärii  entzaubern,  mhd.  brrcii  'ferire,  caedere' ;  drwartn  schmerz, 
Seitenstechen  bekommen,  part.  drwaHnt  lendenlahm  —  ahd.  irwerten :  därstubm  dörr- 
stube  zu  d(rren,  särn,  mhd.  zerren,  zQrge  <  zarge*,  mhd.  2(rge  holzeinfassung,  loeare, 
wäre,  mhd.  werre,  varix. 

Auch  dieses  f  kann  auf  dem  lautstande  ea  stehen  bleiben,  wie  e:  ivearn 
neben  wörn,  lolrn,  mhd.  w^rn  abwehren,  abhalten ;  nearn  —  ngrn .  spearnQdl  Steck- 
nadel, spear- nnA  sptr-  gehen  auf  altes  spör  wxiA  sper  zurück;  hartn  neben  hirtn, 
mhd.  harten  :  pearstlin  barsch. 

Die  möglichkeit,  e  und  f  vor  r  +  cons.  nach  dem  lautstande  seiner  mundart 
zu  reimen,  hat  sich  daher  Heinrich  ausreichend  zunutze  gemachtv  Denn  ein  deut- 
licherer beweis  dafür,  dass  er  für  die  Krone  die  kärntische  landessprache  verwendete, 
wird  sich  wohl  schwerlich  erbringen  lassen. 

Der  von  Zwierzina  (Zs.  44,  2.52)  aufgestellte  satz,  'dass  alle  diese  öster- 
reichischen denkmäler  (er  hat  vorher  auch  die  Krone  genannt),  die  ältesten  wie 
die  jüngsten,  f  und  *"  vor  r,  rr  und  ;•  +  cons.,  vor  l  und  l  +  cons.  auf  das  pein- 
lichste, und  ohne  dass  wir  auch  nur  eine  ausnähme  von  der  regel  zugeben 
dürften,  auseinanderhalten',  diese  regel  muss  nunmehr  die  entsprechende  ein- 
schränkung  erfahren. 

Ebenso  stimmt  darin  die  heutige  mundart  mit  Heinrichs  spräche  trefflich 
überein,  dass  in  der  übergrossen  mehrzahl  der  fälle  die  heterogene  qualität  des  f 
und  e  vor  r  gewahrt  bleibt:  f  wird  noch  als  geschlossener  laut  gesprochen  und 
geht  in  i  über:  firte  —  viertle,  tri  eiie,  firtn  —  vgrte  vor  einem  jähre;  tvirt  —  tv^rt 
insula :  Mari»  tvirt  Maria  Wörth ;  ir-ts-  in  Zusammensetzungen :  erz- ;  inv  erbe, 
incl  ärmel;  {f9)sirg)j  klagen,  zu  scherge;  m'ir  =  m^r,  mare. 

Nochmals  aber  muss  betont  werden,  dass  sich  e  und  f  abweichend  von  ihrer 
ui'sprünglichen  tendenz  manchmal  gleich  entwickelt  haben  (wie  der  umlaut  ä  vor 
r  +  cons.),  nämlich  zu  a  hin ;  und  hierin  liegt  die  erkläruug  für  die  auffallenden 
reime  von  e  :  f  vor  ;•  +  cons.  in  der  Krone,  üb  diese  entwicklung  im  kärntischen 
bodenständig  oder  durch  einen  einfluss  von  aussen  her  verursacht  war,  muss  frei- 
lich dahingestellt  bleiben. 

Die  Verschiedenheit  des  e  von  f  kommt  noch  zum  ausdruck  vor  gemin.  r. 
In  dieser  Stellung  erscheint  e  nur  im  typus  -erre:  herrein)  reimt  auf  iverren  (inf.), 
ZKTI  S(  IIKIKT   F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  12 


178  (lUAUKK 

vi''rre  (adi.),  vi'rren  (iut.)  29mal.     An    reiminöglichkeiteii    für  -(vre-  fehlt   es    in   der 
spräche  Heinrichs.        • 

c)  Die  beiden  c  vor  nasalen. 

Das  material  ist  hier  gering,  da  nur  biuduugen  von  f  vor  nasal  +  cons.  sich 
finden  können.  So  reimt  unser  dichter  niemals  -finen  auf  sich  selbst,  wohl  aber 
19mal  -em{en,  -et, -e)  untereinander:  ni'me(n)  :  zrmein  geziemen)  3503.  4:188.  10  863. 
25  432.  1375.  7703.  8612.  10  243.  13  593.  13  807.  20  984.  21  612.  23  083.  23  966. 
24  222.  26  906.  29  961;  sement  :  nement  8780;  wem  ;  mm  23  215. 

Nie  reimt  Urnen  'lähmen'  etwa  auf  zfinen  'zähmen',  greinen;  dagegen  stellen 
drei  bindungen  von  e.-f:  leinen :  gezemen  :  verneinen  5468;  nemen  :  lernen  14  058; 
:  m/ssezemeii  :  Iftnen  23  348.  h^mde  :  vremde  sind  bindungen  (3409,  10  194),  denen 
die  gleichberechtigten  c  fehlen.  Im  allgemeinen  also  ist  nach  ausweis  der  reime 
zusammenfall  von  e  und  f  vor  m  für  Heinrichs  spräche  erwiesen. 

Ähnlich  liegen  die  dinge  bei  e  vor  «.  Die  typen  -gn  und  -en  sind  nur  durch 
je  einen  reim  vertreten:  9417  V(n  'leerheit' :  ^rf?j  (dentes)  und  2264  eteswen  :  den. 
Mit  f  findet  sich  noch  denen  :  s^nen  :  getvenen  19  877  und  924.  Bei  diesem  kärg- 
lichen material  kann  das  fehlen  von  bindungen  e  :  c  nichts  beweisen.  Denn  der 
von  Zwierzina  angeführte  reim  sene  :  den  11  123  ist  in  der  Krone  nicht  auffindbar, 
sfnen  steht  überhaupt  nur  924:  j^nen  :  spien  (subst.).  An  reiramöglichkeiten  von 
e  vor  n  -{-  d  gebricht  es  vollständig,  dagegen  finden  sich  hundert  derartige  f •  bin- 
dungen :  hehtndic  :  umvendic  5489 ;  ferner  23  -^ndet :  die  reimwörter  sind  wandet, 
sendet,  schuldet,  verendet,  geendet,  ern^ndet,  {ver)siv(ndet.  Dazu  kommen  noch 
76  bindungen  von  fnde(n)  (subst.  und  verb.)  :  h(nde(n)  :  gehende  :  eilende,  wende{n) 
(subst.  und  verb.),  senden,  brende,  rfnde  (pl.),  ivaltsw^nde,  behende,  schänden  und 
banden. 

Das  fehlen  einer  bindung  f  ;  e  im  reime  erklärt  sich  aus  dem  Wortschatz  des 
dichters.  Auch  22117  bedeutet  keine  Vermischung  beider  e.  Die  stelle  22  116  ff. 
lautet:  Und  ivurden  sä  zuo  der  stet  Gehangen  zuo  den  wanden  Die  schilde  und 
■in  den  gründen  Diu  sarwät  gereinet.  Es  liegt  kein  grund  vor  'üon  den  grenden' 
zu  konjizieren.  Wohl  aber  gibt  die  heutige  mundart  aufschluss  über  die  stelle :  das 
fragliche  wort  lautet  im  kärntischen  gvQnt,  dim.  grantl  'ein  länglicher  schrank  zur 
aufbewahrung  des  getreides,  getreidekasten ;  dann  überhaupt  'schrein'  (mhd.  grant). 

Die  folgenden  Wörter  bieten  nur  f-reime:  lengen.  i^fr^ngen,  strengen  (adj.), 
hangen  (6raal).  Ausserdem  stehen  11828  Ipiger  :  gnger :  23  499  gelanget  (part.) 
:  hanget  ('zahlt')  und  aneggnge  :  Ignge  :  gnge  :  gedrgnge  :  verenge  ;  strenge  (9  belege). 
27mal  reimt  f  vor  n  +  k.  Die  beispiele  sind  krfnke{n)  (verb.  und  subst.),  Schenkeln), 
tvgitken,  denken,  sanken,  h(nke{n)  (verb.  und  subst.),  irenken,  schvfnken  (inf.),  J^nken, 
btnken  (pl.)  und  Schenkel  :  enkel  (knöchel  am  fuss)  15  484. 

Aus  etymologischen  gründen  fehlen  ferner  reimwörter  mit  /"  vor  doppel  n, 
so  dass  nur  der  typus  -enne  sich  findet.  Die  möglichkeit,  hier  zu  reimen,  ist  eine 
mannigfaltige:  kennen,  ivenne  (adv.),  nennen,  rennen,  denne  (adv.)  und  brennen. 

Typus  -ent  endlich  enthält  nur  präteritaiformen  von  verben  mit  einfachem 
wurzelhaftem  n  :  (ge)dent  (praet.  und  part.;,  spent,  gewent  (von  getvenen  und  loenden), 
versent  (senen).  Mit  e  steht  als  entsprechende  bindung  nur  das  ableitungssuffix 
-ent  zur  Verfügung:  pigment  :  gewgnt  (part.)  2517. 

Aus  den  obigen  betrachtungen  steht  nunmehr  folgendes  fest:  In  Heinrichs 
spräche  fallen  i'  und  e  vor  m   (durch  drei  reime  belegt)   und  n   (in  einem  falle)  in 


HEINRICir    VON    DEM    TUltLlX    UND    DIE    SPKACHFOKM    SEIXEK    KRÖNE  179 

einen  laut  zusammen.  Dieses  ergebnis  stimmt  genau  zum  heutigen  Sprachgebrauch 
des  kärntischen.  Hier  erscheinen  nämlich  mhd.  f  und  mhd.  e  als  gleichwertige  laute, 
beide  werden  Tsrtreten  durch  ein  offenes  e.  So  wird  g  gesprochen  in  frem  fremd, 
sUmpfn  stampfen,  Umprn  lämmer  werfen,  kliempm  die  zahne  am  kanimrad ;  ten 
tenne,  mengl  die  mängel,  gebrechen,  spengl ,  spendliu  <~  spfuala  spilliug,  gelbe 
pflaume,  slenkrn  dahinbaumeln,  icenkh»  krümnmng,  ausbiegung  machen,  tenkh, 
tenkh9s  linkisch,  mhd.  t^nke  die  linke  band,  khensn,  netidn,  rendn,  prtndn^  2^^^ndr 
die  brande,  ceinwende  inwendig,  frswendr  Verschwender;  pengln  sich  abmühen, 
mhd.  hangeln,  pfrengr  zwinger,  bürde,  drembl  knüttelstock,  prügel,  ungeschlachter 
meuscli,  ahd.  dr^mil,  mhd.  dr^mel  u.  v.  a. 

Die  beispiele  für  e  sind  seltener :  sembl  semmel ;  preme  bremse,  demrn  dämmern, 
ncm^n,  khemdn  kommen;  strtn  strähne,  sensf  senf,  sensn  sense  (mit  ausfall  des  g), 
die  pronn.  wen,  dm  u.  a. 

Überblicken  wir  nun  das  ganze,  so  stellt  sich  für  die  behandlung,  welche  die 
e-laute  gleicher  quantität  bei  Heinrich  v.  T.  erfahren,  folgendes  resultat  heraus :  c 
und  e  sind  der  qualität  nach  identisch  und  werden  daher  gleich  behandelt  vor 
den  mutae  h,  g,  t  und  tt,  vor  /  (v),  st,  w,  zs  und  den  nasalen,  teilweise  auch 
vor  hk,  und  r  +  n  oder  r  ■\-  t:  f  unterscheidet  sich  aber  von  e  vor  l,  r,  r  +  cons. 
ausser  n  und  t,  und  vor  rr;  es  fällt  mit  diesem  aber  wieder  teilweise  vor  ?•  -\-  n 
und  r  +  t  zusammen.  Ich  betone  nochmals,  dass  die  Untersuchung  in  allen  punkten 
die  vollkommene  Übereinstimmung  der  spräche  der  Krone  mit  der  kämt.  ma.  er- 
geben hat. 

2.  Die  e-laute  ungleicher  quantität. 

e-laute  verschiedener  quantität  bindet  Heinrich  nur  vor  r  und  zwar  immer 
nur  e  mit  e.  Es  reimen  folgende  Wörter:  2877  sper  :  niht  mir  (P  nit  mere,  nimvi^r 
kann  für  unseren  dichter  nicht  angenommen  werden,  da  er  e  und  f  vor  einfachem 
r  stets  aufs  genaueste  trennt).  4694  mer  ;  der;  1856.  4405  :  her  (adv.) ;  :  sper  3700. 
21295;  20  672  .-^eV  (1.  pers.  sg.  ind.);  er  :  ker  26  215.  Vers  11880  sperrt  :  kern, 
welchen  Eeissenberger  dazustellt,  ist  nach  Lexer,  Wb.  I,  1555  als  reiner  reim  zu 
betrachten,     kern  bedeutet  'das  innere  holz'.     So  allein  erhält  die  stelle  einen  sinn. 

wert  (subst. )  :  gunert  6847 ;  giirt  :  kert  3827 ;  gewert  :  bekert  26  161. 

Heute  erscheint  mhd.  e  ausser  vor  r,  l  und  h  als  offenes  e:  erst  erst,  rem 
weinen,  sei  seele,  Ur  lehre;  tsehnt  zehc;  sextn  laugwäsche,  sextndn  auslaugen, 
sextin  gerne  trinken  (sämtliche  zu  seihen). 

In  diesen  Stellungen  fällt  es  also  mit  e  zusammen.  Daraus  und  weiter  aus 
den  reimen  der  Krone  von  e  :  e  vor  r  ergibt  sich  die  offene  qualität  des  e  vor  r. 
Soweit  stimmen  die  tatsachen  auch  zu  Zwierzinas  ergebnissen.  Nun  findet  sich 
aber  Krone  19  001  der  reim  kert :  getv^rt,  den  Zw.  selbst  als  einen,  der  zu  seiner 
'regel'  nicht  stimme,  bezeichnet. 

Aber  selbst  dieser  reim  lässt  sich  mit  einzelentwicklungen  der  kärntner  mund- 
art  vergleichen  und  erklären.  Wenn  man  bedenkt,  dass  auch  mhd.  f  im  kärntischen 
vor  r  ausnahmsweise  zu  a  sich  entwickeln  konnte,  und  im  Drautale  ein  wort  plärn 
(mhd.  bleren)  'das  schreien  der  kälber,  schafe  und  schweine;  weinen'  im  gebrauche 
steht,  so  erklärt  sich  jener  reim  der  Krone  zur  genüge  aus  der  mundart  des  dichters. 
Es  wird  also  in  einzelnen  Wörtern  eine  Sonderentwicklung  des  mhd.  f  und  e  statt- 
gefunden haben,  welche  es  dann  ermöglichte,  solche  ausnahmsfälle  aufeinander  zu 
reimen. 

12* 


180  GUABEK 

Für  diese  aut'falleude  erscheinmig,  dass  sich  e  vor  r,  wie  mauchinal  f,  zu  a 
entwickelte,  steht  mir  aus  dem  känitischeu  nur  dies  eine  beispiel  zu  geböte.  In 
allen  übrigen  wörteni  entspricht  einem  mhd.  e  vor  r  heute  geschlossenes  e.  Aber 
es  braucht  die  Öffnung  des  e  zu  a  hin  nicht  einmal  gänzlich  vollzogen  gewesen  zu 
sein,  ich  denke  eher  an  eine  mittelstufe,  wie  sie  im  dialekte  noch  vielfach  erhalten 
ist  und  ungefähr  durch  ea  wiedergegeben  wird;  eigentlich  aber  ist  dieser  laut  der 
diphthong  e»,  der  sich  vom  alten  ea  sehr  wohl  unterscheidet:  mear  mehr,  rearn 
heulen,  weinen,  sear  wund,  ear  früher.  Da  sich  auch  f  vor  r  vielfach  zu  diesem 
'gebrochenen'  laut  hin  entwickelte  (s.  s.  177),  so  war  dadurch  die  möglichkeit 
gegeben  f  und  e  vor  r  zu  reimen.  Wenn  dieser  erklärungsversuch  zutrifft,  so  muss 
auch  das  letzte  bedenken  gegen  die  richtigkeit  des  reimes  22  278  iccere  :  mcere  : 
sere  fallen.  Sobald  ein  beispiel  aus  der  mundart  den  zusammenfall  von  mhd.  ce 
und  mhd.  e  vor  r  nachweist,  muss  auch  bei  dem  kärntischen  dichter  Heinrich  v.  T. 
die  möglichkeit  zugestanden  werden,  dass  er  beide  laute  zueinander  binden  konnte. 
Der  beweis  aus  der  ma.  wü'd  tatsächlich  durch  mehi'ere  beispiele  erbracht:  mhd.  ce 
erscheint  im  kärntischen  vor  r  immer  als  ä  :  märn  schwätzen,  erzählen,  mhd.  rmeren  ; 
märl  eine  erlogene  erzählung,  märcheu ,  mhd.  mcerlhi:  Jcfäre  —  gev(erec:  sära 
scheere,  jarlio  jähriges  tier,  sivär  schwer  u.  v.  a. 

Dieser  laut,  aus  ce  entstanden,  konnte  mit  jenem  e,  welches  seine  eigenen 
wege  gieng,  ohne  weiteres  im  reime  zusammenstehen,  ohne  dass  ein  kärntisches  ohr 
eine  solche  bindung  auffällig  fand.  Und  wenn  Heinrich  v.  T.  seinem  heimatlichen 
dialekte  in  der  dichtung  einen  so  weiten  Spielraum  Hess,  müssen  wir  wohl  an- 
nehmen, dass  sie  zuvörderst  für  das  kärntische  publikum,  die  hof- 
gesellschaft  herzog  Bernhards,  niedergeschrieben  wurde. 

Mir  scheint  übrigens  Zwierzinas  versuch,  v.  19  003  als  'die  vom  Schreiber 
angestrebte  Vervollständigung  des  dreireims'  zu  streichen,  schon  deshalb  unerlaubt, 
weil  dann  in  einer  längeren  reihe  von  abschnitten,  welche  je  13  zeilen  umfassen, 
dieser  eine  ausnähme  bilden  würde.  24  377  darf  weder  betvp-t  noch  heivceret  gelesen 
werden,  sondern  wie  24  005  und  24  026  beweisen,  lautet  das  praet.  zu  bew?rn, 
bew^rren,  got.  wasjan  'bekleiden'  (Lexer  III,  785)  heioarte,  bewart.  Der  reim 
hat  also  zu  lauten :  bewart :  wärt.  Der  conj.  praet.  ivär  für  wcere  begegnet  nun 
schon  zum  fünftenmale  in  der  Krone*. 

3.  e  in  endsilben  von  eigennamen. 

Das  e  der  endsilben  fremder  eigennamen  behandelt  Heinrich  als  aneeps ;  er 
bindet  dieselben  namen  oder  dieselbe  ableitungssilbe  bald  mit  c,  bald  mit  f. 

Erec  und  Gigamec  sind  durchwegs  nur  auf  rvec,  stec  gereimt :  2170.  23  858. 
26  862 ;  16  499.  16  704.  17  314.  28  546.  Zu  tv^r,  h^r  und  gern  werden  die  verschie- 
denen casus  von  tger,  vorwiegend  aber  zu  -ern  gebunden :  18  043.  18  404.  13  569. 
20  456.  21070.  22  313.  23  694.  27  267;  Jetiover  :  sper  791,  :  tder  588;  Alverne  : 
gerne  5698 ;   Gansguoter  :  geivcr  27  242 ;  tlamert  :  v(rt  15  346. 

Käles,  Orcades,  Gäles  und   alle   übrigen  namen  auf  -es  sowie  Auguintester, 

1)  Bei  besprechung  der  e-laute  im  Seifried  HelbUng  (Zs.  44,  268)  bemerkt 
Zwierzina,  es  könnte  auffallen,  dass  S.  H.  nie  —  und  sowie  er  nicht,  auch  kein 
anderer  der  von  Zw.  untersuchten  Österreicher  —  get  oder  stet :  -et  reimen.  In  der 
Krone,  2482,  steht  aber  zu  lesen :  claret  :  stet.  Für  daret  ist  ganz  sicher  (i  anzu- 
setzen, da  es  Wolfram  immer  zu  ii  bindet,  Heinrich  v.  T.  aber  nie  zu  sicherem  f. 
Wahrscheinlich  liegt  also  ein  'literarischer'  reim  vor. 


HEINRICH    VON    DES!    TURLIN    UND    DIE    Sl'KACHFORM    SEINER    KRONE  181 

Cluniester  und  Secester  aber  reimen  nur  mit  e  oder  untereinander.  Ebenso  er- 
scheint Serre  und  Serren  nur  zu  Jicrre,  herrcii,  gew'erren  gebunden:  7797.  7910. 
8719.  8912.  13  534. 

Dochel  :  snel  9036;  Isel :  kel  1617;  Tintaguel :  isnel  2335;  Dariel  :  Loventel 
2339;  Amurelle  :  snelle  6925,  :  Canelle  1612,  :  Mancipicelle  20  526;  dagegen  h^lle 
:  Galangelle  9004. 

Die  männlichen  französischen  eigennamen  auf  -et  reimen  mit  f  und  e,  die 
bindungen  auf  -et  herrschen  aber  vor:  Azet  :  st(;t  18  554,  :  Kar  et  18  170;  Aclaniet 
:  stft  24  227  ;  :  tet  :  hret  8639.  8321 ;  st^t  :  Giwanet  5730,  :  twanet  22  998;  tet,  het : 
Levenet  17  475,  :  Marmor  et  18  308. 

Von  Lanzelet  reimt  nur  Imal  der  dat.  auf  st(te  2073,  Der  nom.  und  acc. 
stehen  sonst  immer  im  reime  auf  tet  und  bet :  5988.  22  971.  24  075.  24  496.  25  950. 
29  001.  29  452;  :  Gladet  9017. 

4.  Apokope  des  e. 

I.  Nach  konsonanteu. 

Apokope  nach  liquiden. 

Formen  wie  ich  ner,  won,  hol,  der  ar,  nam,  sivan,  diu  scham^  hol  usw. 
stehen  bei  Heinrich  so  häufig,  dass  ich  nicht  aUe  einzeln  nennen  zu  müssen  glaubte. 
Im  allgemeinen  lässt  sich  die  eigenart  des  dialektes  Heinrichs  folgendermassen 
fixieren :  das  unbetonte  e  fällt  immer  fort  nach  m,  n,  l  und  r,  nicht  bloss  nach 
kurzer  hauptsilbe,  sondern  geradeso  nach  lauger.  Im  ersteren  falle  wird  mit  apo- 
kope des  e  meist  wohl  auch  die  dehnung  der  Stammsilbe  eingetreten  sein ;  nur  lässt 
sich  diese  nicht  überall,  ausser  bei  bindungen  von  länge  mit  kürze,  zwingend 
nachweisen. 

Erhält  durch  die  apokope  das  idiom  Heinrichs  ein  stark  dialektisches  gepräge, 
so  wird  dieser  eindruck  noch  verstärkt,  wenn  sich  apokope  mit  synkope  verbindet; 
auf  diese  weise  schwinden  sehr  oft  die  ganzen  endungen  des  Präteritums.  Durch 
das  häufige  vorkommen  derart  verstümmelter  formen  im  reime  ersclieint  die  Krone 
besonders  eigenartig.  Doch  steht  der  dichter  auch  damit  nicht  allein,  sondern  die 
meisten  bayrisch-österreichischen  dichter  vom  13.  Jahrhundert  an  scheuten  sich  nicht, 
diesem  zuge  ilires  dialektes  nachzugeben. 

Zur  Charakteristik  der  apokope  nach  liquiden  seien  einige  reimbeispiele  an- 
geführt : 

Nach  n:  ziven  :  sten  2468.  2990.  4205.  9678.  10  603.  16185.  20  590.  20  880. 
21443.  23  104.  23  530.  29  152;  :  gen  3895.  4281.  4853.  5135.  6939.  6138.  7440. 
12  038.  15  467.  17  875.  18  560.  19  196.  24  180.  26  285.  29  099.  29  259 ;  sardonicen 
15  691;  der  an  (dat.  ahne)  :  dan  22  285;  :  hegan  21  730;  ;  man  20  426;  grau  :  ran 
(praet.)  19  677 ;  ;  hran  6838 ;  :  man  988.  Der  dat.  von  man  lautet  sowohl  manne 
(9381),  als  auch  man  3154.  4690.  11018.  15  614  u.  ö.  kon  :  geivon  8671.  10  936. 
Babüön  (dut.)  :  Ion  18  343;  krön  :  Utpandragoii  1009.  362.  18  748.  20  390;  smn 
(nom.)  itiion  (inf.)  4042.  5616.  7542.  11129.  11694.  12  179.  20145.  24  998.  25  722. 
28  183;  gemein  (fem.)  :  schein  (praet.)  15  874.  dehein  (fem.  flektiert)  :  schein  (praet.) 
28  430;  :  Gäivein  7801.  21884;  :  halshein  :  Gasozein  11282;  zorn  {A»X.)  :  verlorn 
9509.  9286.  5894.  5230.  11243;  -.sporn  (pl.)  6343.  10  044;  :  vorn  8251;  (Zorn  (dat.) 
;  gehorn  :  zorn  4278. 

ich  mein:  Gasozein  4834.  4939;  ich  schin  :  min  29  532.  schin  (conj.  praet.) 
:in  8916.  18  669.  22  241.  24  635;  :  in  (praep.)   11  795. 


182  <;rabei; 

dn  (praep.)  :  gciäti  5908.  14  130.  26  947 ;  cnstelän  :  sivan  13  982. 

Das  adverbium  erscheint  mit  und  ohne  -e:  gemein  21768.  22  480.  22  977. 
23  326.  27  209  u.  ö.,  daneben  gemeine  ebensooft:  3624.  14  807.  15  729.  17125  u.  ö., 
gern  :  geweni  1676.  6634.  28  069;  ;  gern  (inf.)  2702;  :  {en)hern  10  371.  21  529.  26  587. 
Aber  auch  die  zweisilbige  form  ist  ihm  geläufig :  9989  gerne  :  sierne.  Eeissenberger 
behauptet,  in  der  Krone  finde  sich  kein  einziges  geringe  (adv.).  Doch  steht  27  144 
ringe  (dat.)  :  gedinge  :  geringe  (adv.);  das  adj.  geringe  :  bringe  reimt  27034 
(s.  Lachmann,  Iwein  11.  6514;  Sommer,  Flore  1259). 

Der  iufinitiv.  Die  mit  einer  praep.  versehenen  Infinitive  präsentis  haben 
nie  das  flexions-e.     Immer  heisst  es  ze  sehen,  geschehen,  ze  tuon,  ze  Ugen  usw. 

Nach  m:  schäm  (ßxihst.)  :  lain  88.  6029.  17  253;  :  gezam  21590.  24  271; 
:nam  (praet.)  25  964.  1273.  1394.  1447.  3436.  5190.  10  367.  8167.  20  847.  22  281. 
23  919;  :lobesam  200.  5932.  8330.  10  438;  :  sani  4781.  13155. 

nam  (subst.)  :  alsam  1144.  25  858.  24  335.  24  808;  :  nnm  (praet.)  8674.  16  520. 
Daneben  findet  sich  auch  die  form  namen  (acc.)  ;  schämen  1667.  4539.  5111;  :  :amen 
(inf.)  2425.     Immer  lautet  das  adv.  eben,  enebeii  (nie  ebene). 

Nach  Z:    äl  (ahle)  ;  über  al  19  687;  u.  v.  a. 

Nach  r:  vuor  (mhst.)  :  vuor  (praet.)  7150.  22  386.  23  946.  24  618;  :  siruor 
9956.  22  962.  23  844.  29  842 ;  er  (subst.)  ;  her  24  794. 

A  p  0  k  0  p  e  des  e  nach  m  u  t  a. 
1.  Bei  Substantiven. 

Nach  t:  bei  {^rex)  :  tet  1040.  1149.  3747.  4039.  4703.  5444.  6136.  6181. 
8387.   6076.    13  882.    16  213.    16  329.    16  681.  17.544.  18  664.  18  997.  21718.  22  709. 

23  154.  23  390.  23  533.  24  415.  24  941.  25  902.  27  710.  27  257 ;  :  tet  :  Lovenet  17  476; 
:  getvet  Q75o;  :  het  26  055;  :  stet :  tet  Ö89d ;  :  La)izeht  :  tet  22  972]  stet  (siih  st) 
:  bret  6579.  18  867.  22  116.  Apokopc  in  beiden  reimen  tritt  ein:  siei  :  bei  (subst.) 
1664.  4856.  7521.  19  951.  21802.  23  438.  25  335.  27  884.  30  020;  :  tet  .8682.  4631. 
5713.  13  231.  6362.  9304.  12  987.  19  370.  20142.  23  828.  25  511.  25  692;  :  hrunet 
6886;  :  Äset  18  554;  :  Aclamet  24  227;  ;  GHwanet  5730;  :  Iwanet  22  998;  s(t  (Sät- 
tigung) :  het  6853  (V  het,  P  hett  :  seit),  zeit  (dat.)  .•  velt  (nom.)  8807;  nest 
(dat.)  :  test  (nom.)  1541;  vest  (suh  st.)  :  gewest  (part.)  3671.  vest  (adj.)  :  gewest 
16  690;  reht  (dat.)  ;  ir  jeht  5044;  er  speht  :  kneht  6970;  :  kneht  (nom.)  9842; 
:  gespeht  (part.)  20  251;  :  ir  seht  24  039.  24  354;  jcert  (dat.  'insula')  :  verhört 
(part.)  5699. 

geleit  (dut.)  :  beit  (prät.)  11104  (bei  Scholl  ist  fälschlich  beite  gedruckt). 
hamit  (dat.)  ;  slrit  26137.  lieht  (dat.)  ;  niht  10  197.  rät  (dat.)  ;  tat  12  584; 
;  hat  7258;  :  tat  :  hat  24  822;  :  stät  :  tat  19  385;  :  tut  :  gdt  1587;  sit  (dat.)  ;  mit 
:  ZI«  (acc.)  19  714.  :  schrit  23  451;  bot  {angelus)  :  kldnöt  24  805;  not  (singnote) 
:  spot  (nom.)  16  922.  trost  (d?it.)  :  erlost  (part.)  26  888.  19  309.  19  565;  huot 
(dat.)  :  tuot  15  814;  ;  guot  26  812;  ;  muot  20514;  vluot  (nom.)  27  626;  guot  (dat.) 
:  tmt  1484;  :  gemuot  30  039;  inuot  (dat.)  ;  guot  7170.  27  362;  :  vluot  14  409; 
:  huot  (acc.)  26163;  :  tuot  7277.  24  302.  gebot  (dat.)  :  got  (nom.)  8433.  28147. 
29  581;  :  spot  12  573;  :  spot:  rot  (nom.)  10  610;  rot  (nom.)  :  gebot  5434;  got 
(dat.)  :  Spot  (acc.)  4666.  29  064.  29121;  :  gebot  26  033;  bot  (nom.)  :  gebot  25  332; 
:  got  19  321.  25  167;  :  got  (d&t.)  :  spot  (acc.)  24  387;  :  spot  1389.  1434.  1702.  1817. 
2493.    2720.   23  636.   24  988;    :  spot:  rot   (nom.)    2288;    spot   (dat.)  :  got  :  gebot 

24  571 ;  port  (dat.)  ;  ort  (acc.)  14  603. 


IIKINUICH   VON    DEM   TUKLIN    UND    DIE    Sl'KACHFORM    SEINEU    KltONE  183 

stunt  (dat.)  ;  hunt  166.  3462.  27  278  und  sehr  oft.  Der  dat.  von  stunde  steht, 
wenn  er  in  adverbialen  Verbindungen,  wie  ze  maneger  staut  u.  ä.  gebraucht  wird, 
immer  flexionslos, 

2.  Apokope  im  präteritum  schwacher  verba. 

Nach  langer  Stammsilbe. 

bes  IV  ä  r  t :  beivart  (part.j  2906.  22  667.  v  ä  r  t  :  bewart  (praet.)  27  045.  28  568. 
geddht  :  vaht  6552;  bräht  :  (ver-,  ge)däht  (part.)  1183.  2647.  6991.  11  750.  12  135. 
18101.  20169.  20  860.  21246.  24  723.  25  492.  27  360.  28  341.  29  824;  gäht:{be-, 
ge)ddht  (part.)  3797.  7849.  9456;  :  hrciht  (part.)  :  gedeiht  (part.)  19  956.  22  937; 
gtdäht  :  bräht  (part.)  6557.  14  466.  15  240.  22  592.  23  421.  23  986.  25  135.  27  796. 
29  408. 

kert  (praet.)  :  getr(rt  (part.)  19  001 ;  ;  geert  (part.)  9770.  2287.  16  247.  22  940. 
28  420;  :  gesert  (part.)  11993.  6846.  4589;  :  g eiert  (part.)  26193;  :  gekert  6832; 
hielt  (conj.  praet.)  :  icielt  (ind.)  12  378;  hört  (praet.)  ;  betört  10  802;  :  zestört 
(part.)  27  669 ;  :  dort  26  703 ;  :  hört  (subst.)  20  386 ;  erlöst  :  tröst  (acc.)  6660.  12  622. 
19.566.  25  563. 

v/iort  (praet.)  ;  sivuort  (2.  pers.  pl.)  14556;  rruort  (praet.)  :  antwurt  (acc.) 
27  280.     :  vurt  20  187.  9139.  18  077.  18  243;  beweint  :  geleint  (part.)  13  985. 

Nach  kurzem  vokal. 

spart  (praet.)  ;  war^  16236.  20920.  24543.  27371.  27859;  :  vart  10636. 
16  236 ;  :  vart  :  ivart  20  046.  2857.  12  123.  15  291.  16  766 ;  ;  bart  (acc.)  11  180 ;  :  gart 
CstAcheV)  :  wart  10  918.  enbart  (praet.  zu  enbern,  das  sonst  nur  stark  konju- 
giert) .•  bewart  (part.  'bekleidet')  20  343  (hier  trat  bereits  Vermischung  ein  mit  dem 
swv.  bcm  schlagen,  klopfen),    gart  (p  r  a  e  t. ) :  ivart  13  431 ;  z  a  rt  (praet.)  :  wart  6530. 

12  234.  12  891. 

st  alt  (])rtiet.)  :  gewalt  :  galt  20  139.  25  033;  salt  :  gewalt  9774.  22  415; 
;  gwalt  :  salt  (p r a e t.)  20  Ol  1 ;  ;  imlt  17  316.  tioalt  :  galt  24  703 ;  :  gestalt  :  ein- 
vnlt  19137.  :  walt  5659;  -.kalt  6441.  :  gevalt  (part.)  3321;  z  alt  :  geivalt  (a.cc.) 
23413;  gezalt  (conj.  praet.  V)  :  geioalt  (uom.)  6248;  -.schalt  16295;  -.walt 
16  997.     g  es  walt  :  galt  12  250;  wandelt  (Tarnet.)  :  gehandelt  (pai't.)  10  786. 

smaht  (praet.)  ;  mäht  (subst.)  ;  daht  (praet.)  9361.  28  725.  bedaht  (praet. 
von  decken)  :  mäht  (subst.)  8686.  12  380.  14  951.  16  888.  27  121 ;  :  naht  9658.  10  199. 

26  276;  ;  aht  11  268.  16  032;  :  vaht  :  slaht  15  670;  ;  gestaht  (part.  nur  in  D)  14  254; 
:  unerschraht   7121;    mäht  (p  raet.)  ;  «a7/i  26  332;    bläht:  bedaht  (part.)  26126. 

schämt  (praet.)  :  eHam<  (praet.)  23  487;  :  samt  1230.  11793.  20  207;  : ge- 
nant :  samt  17  633;  :  genant  :  gezamt  3898;  rant  :  vant  28  676;  ;  gemant  26  719. 
brant  :  sivant  28  400;  :  verswant  :  haut  16  383;  :  tvant  (subst.)  :  vant  16  017;  ;  hant 
14  843;  ;  lant  5101 ;  :  hant  :  sivant  13  485.    kant  :  vant  2219.  18  823.  19  606.  26  827. 

27  2.32.  ihant  4389.  12  771.  23  611.  -.genant  18  727;  :  gewant  2236.  bekant 
(pr&ot.)  :  hant  (nur  in  D)  14  609;  mant  :  givant  21289;  :  hant  20  647;  :  laut  : 
kant   (praet.)    17  351;    :  gesaut    9981.      want    (praet.    von    ivendeu)  :  Gomomant 

13  999.     nant  :  hant  7096. 

gert    (praet.)  :  sivert    (gen.  pl.)    [V  gert,    P  begert !\    9891;    :  sivert    8629. 

14  087.  16  445.  18  409.  28  972;  :  swert :  getvert  (part)  11  890.  17  477.  25  353.  26  900. 
27  216;  :  ictrt  (adi.)  22  966;  :  gewert  {pari.)  :  loert  (subst.)  6221;  :  gewert  (praet.) 

15  577.  16  081.  28  073.  28  633;  :  entivert  {p&xX..)  :  geivert  (part.)  20  320.  25  920. 

{eut-,    ge-)nu"rt    (praet.)  :  gewert    (part.)  :  swert    15335;    -.begert    (praes.) 


184  GRABER 

15472;  :begert  (part.)  27838;  :begrrf  (praet.)  17  618.  18  969.  19411;  :  siceii 
12  730.  13  427.  22  003.     :  wert  (adi.)  23  248;   -.geivert  (praet.)  14535. 

n^rt  (-pruet.)  :  geirert  (pt.)  11917;  :  behert  (imrt)  :  icert  (praes.)  19  820; 
:  (be-,  ver)hert  (part.)  22  593.  28  620;  :  gewert  (part.)  11400.  w(rt  :  geirert  (part.) 
27  010;  :  stvert  :  begert  (praet.)  18.309;  :gert  (praet.)  10289.  23883;  :  v erzer t 
(part.)  9739;  :  verliert  (part.) .  6583 ;  tvelt  (praet.)  [!  nicht,  wie  sonst  bei  Heinrich, 
mit  rückumlaut  gebildet]  :  helt  (subst.)  2033 ;  ;  melt  (praes.)  ;  zeit  12  964. 

erspeht  (pra  et.)  ;  A-weAi  :  rf/(<  24  955;  lebt  :  sn-tht  (praet.)  8454;  sirebt 
8871.     sj)ilt:wilt  (Adi.)  :  schilt  10  573;  :  schilt  13  445.  14  874.  17  013. 

kort:  hört  (subst.)  10509;  :  ort  6603;  worht  (praet.)  ;  «tiwä?  24451; 
Dahamorht  22  655 ;  ;  Ordohorht  15  245 ;  :  geworht  4645 ;  vorht  :  verworkt  (part.) 
19  256;  erholt  :  gedolt  i^Qxt.)  2d>9i'dh;  holt  :  verdolt  (ji-äxi.)  24  056;  dolt:  geholt 
21376.  17  826;  :  galt  3169;  solt:  geholt  (part.)  316.  2875.  10569.  21749;  -.geholt 
(praet.)  22  406;  :  verdolt  (part.  u.  praet.)  8967.  23  903;  :  tcolt  (2.  pers.  pl.)  19  595; 
:  erbolt  (part.)  ;  golt  7772.  (Daneben  befinden  sich  aber  die  vollständigen  formen 
solde  und  icolde  in  der  überzahl.) 

spurt  (praet.)  :  vurt  14  515;  g elust  :  äkust  (acc.)  19438;  :  brüst  10  661. 
ivundert :  hundert  21012.  24  692;  erbeizt  :  erstreizt  (part.)  12815. 

Wie  bereits  einige  reime  oben  s.  182  zeigten,  erfährt  auch  das  praeteritum 
von  tuon  häufig  apokope.  tet  {^vAtt.)  :  gebet  (oratio)  2403.  14  652;  :  bret  644. 
14  961.  22  753.  18  800.  27  054.  29  250;  :  Aclamet  8640;  :  Marmoret  18  307;  :  Lanzelet 
5987.  24  074.  24  497.  25  951.  29  002.  29  452.  Daraus  ergibt  sich  abfall  des  e  auch 
für  19  051  und  26  576  :  tet  :  gewet  .■  :  het  14  786. 

Demnach  steht  tet  als  die  dem  dichter  der  Krone  allein  geläufige  form  fest. 
Eine  ziemlich  sichere  handhabe  bieten  auch  die  hss.,  die  mit  ganz  seltenen  aus- 
nahmen stets  die  apokopierten  formen  überliefern. 

Ebenso  tritt  apokope  ein  im  praet.  von  haben,  hän: 

het:claret  1196.  1301.  1449.  1681.  1897.  2603.  18276;  :  Giwanet  5646; 
Lanzelet  12  876;  :  Laudelet  16  663;  :  Seimeret  18  880.  Aber  auch  für  1346  steht 
die  apokopierte  form  Lunet  :  het  fest  (V  und  P  überliefern  lunet  :  het).  Das  gleiche 
gilt  für  27  781  ;  het  :  gewet  (P  bietet  hett,  das  erste  reimwort  verzeichnet  Scholl 
unter  den  Varianten  nicht). 

Den  beiden  praeteritis  het  und  tet,  welche  Heinrich  v.  T.  in  der  Krone 
verwendet,  entsprechen  die  formen  höt,  tot  des  heutigen  kärntischen  lautlich  genau. 
Das  tat  des  ,bäuerischeu'  geht  auf  trete  zurück,  ein  beweis,  dass  höt  gewiss  nichts 
mit  mhd.  hcete  zu  tun  hat. 

Vollformen  nach  1  a u g e r  und  kurzer  Stammsilbe:  betraget  (praet.j 
:  ir  wäget  3940;  :  gevräget  (part.)  19  958;  läget  :  genräget  (part.)  12  991;  be- 
swär et  :  gebäret  (part.)  11604.  16  262;  hat  (praet.)  :  gät  20  822. 

meret  (praet.)  ;  gekeret  (part.)  9181;  neiget  :  {er)ze/get  (part.)  3022.  10293. 
27  769;  :  geseiget  (part.,  visiert)  27  444;  :  gezeiget  (part.)  28  611;  zeiget  (praet.i 
1226;  zeiget  :  geneiget  (part.)  21202.  24  019;  gesiveiget  (praet.)  11676: 
m  eil  et  :  teilet  (praet.)  1882 ;  v  eilet  :  geteilet  (part.)  21  447 ;  einet  :  geleinet 
(part.)  26  398;  bescheinet  :  meinet  (praet.)  25  416;  meinet  :  geleinet  (part.) 
17  679;  IV  ein  et  :  vereinet  (part.)  24  624;  arbeitet  (^pi-det.)  :  geleitet  (part.)  25  872. 

zieret  (praet.)  :  geparrieret  (part.)  24783;  gefiirrieret  (part.)  7721;  tjo- 
stieret  :  gecroyieret  (part.)  873 ;  pungieret  :  gecroyieret  (part.)  824.  drot  (praet.) 
:b(>t   (praet.i    21426.     {ver-,  geMoubet   (praet.)  :  Äow&ei  (acc.)  6674.  17192;    be- 


HErNlUCH   VON   DEM   TUHLIN   UND    DIE    SI'KACHFOKM    SEINER    KRONE  186 

raubet  :  houbct  97b2.  13386.  so  um  et  (praet.)  :  ^m/w^  (praet.)  ;  t^erswme^  (part.) 
835;  ervlöuicet  (praet.)  :  ströme  et  (part.)  6792;  vr  out  :  gestaut  (part.)  1778. 
16  845;  :  beströut  (part.)  8163.  12  265.  22  225.  29  214;  hoeret  (\)raet.)  :  ervraret 
(part.j  4025;  trür et  :  dürct  (praet.)  1874;  stiuret  :  gehiuret  (part.)  24  059;  be- 
riu7ret  (praet.)  :  ermuioet  (part.)  17306. 

lachet:  krachet  (praet.)  11167;  m  a  c  h  et  :  erwachet  (part.)  7376,  29450 
:  erwachet  (praet.)  24  664.  27  981.  28  897;  er  lach  et  (praet.)  1872;  geswachet  (part.) 
10  306.     s wachet   (praet.)  :  gemachet  (part.)  29  382;   :  erlachet  (praet.)  23  719 
wachet  (praet.)  :  gemachet  (part.)  8666;  swachet  (praet.)  10  437. 

ladet  :  geschadet  (part.)  11  868.  15  013 ;  schadet  :  geladet  (part.)  10  129 
erarnet :  geivarnet  (part.)  16119;  ha  zz  et  :  gevazzet  {i^axi.)  l'ili'^  öZecÄ;  ei  (praet 
sonst  blähte!)  :  bedecket  (part.  sonst  bedaht!)  23849;  ;  bestecket  (sonst  bestaht)  12  953 

g  es  eilet  :  gestellet  (part.)  15  399;  verendet  :  icendet  (praes.)  7229;  er- 
getvendet  (part.)  10  116.  21271;  er n endet  :  geschendct  (part.)  2564;  volendet 
:  besendet  (part.)  24  844.     er g et z et  :  gesetzet  (part.)  29  620. 

g esiget  :  pfliget  (praet.)  16  665;  erv oll e t  :  gezollet  (part.)  6487;  sorget 
:  gtborget  (part.)  27  116. 

Die  verba  mit  langer  Stammsilbe  haben  zuerst  das  endungs-e  abgeworfen. 
Von  ihnen  hat  sich  dieser  lautvorgaug  auch  auf  die  verba  mit  kurzer  Stammsilbe 
fortgepflanzt.  Da  nun  bei  allen  schwachen  verben  der  ind.  und  conj.  praet.  gleich 
behandelt  wurde,  d.  h.  ein  und  dieselbe  form  sowohl  ind.  als  conj.  funktionen  über- 
nehmen konnte ,  erklärt  es  sich ,  dass  im  heutigen  kärntischen  kein  ind.  praet. 
mehr  vorkommt. 

Weiter  erhalten  wir  einsieht  in  die  merkwürdige  erscheinung  des  kärn- 
tischen, dass  auch  die  starken  verba  im  conj.  praet.  die  enduug  der  schwachen, 
welche  —  9t  lautet,  annehmen.  Es  hat  nämlich  die  2.  pers.  pl.  der  starken  praeterital- 
konjunktive  gelautet  wie  der  sing,  derjenigen  schwachen  verba,  welche  das  praet. 
mit  apokope  bildeten.  Über  diese  brücke  hat  sich  allmählich  der  ausgleich  voll- 
zogen, welcher  heute  völlig  durchgeführt  ist.  Daneben  haben  sich  bis  jetzt  einige 
starke  praeteritalformen  erhalten ;    doch  sind  diese  sichtlich  im  absterben   begriffen. 

Endlich  tritt  apokope  des  e  ein  nach  t : 

sieht  (adv.) :  reht  (acc.)  24 583 ;  reht  (adv.)  ;  kneht  (uom.)  25  183.  ungenöt 
(adv.)  ;  tot  4627 ;  :  rot  23  842,  dazu  participium  praes.,  welches  z.  b.  nie  sehende, 
scheltende ,  laufende  usw.,  sondern  immer  sehent^  scJiehent,  laufent  lautet  (vgl. 
28  748  u.  V.  a.). 

Nach  h  {p.)\ 

äleip  (nom.)  ;  bleip  (praet.)  9302;  l^p  (dat.)  :  ivtp  (nom.)  24  776. 

Nach  f: 

h  u  of  (dat.) :  schuof  (praet.)  18  263.    t  i  ef  (adv.)  :  rief  ( ind.  praet.)  9445.  14 592. 

Nach  ch : 

lieh  (dat.)  :  gellch  20  081;  daz  g elic h  :  rieh  :  iegel/ch  18  658.  suoch 
(acc.)  ;  tuoch  (acc.)  8790;  versmdch  (adv.)  :  ersach  3369;  gelich  (adv.)  :  iege(s)- 
Uch  5140;  :  eislich  (adj.)  9.330;   -.Heinrich  (nom.)  10  445;  :  rüich  18  341. 

j (er lieh  (adv.)  :  ie gelich  (nom.)  5479.  Doch  kommt  auch  die  vollform  vor: 
gell  che  :  riche  4352;  :  kumberliche  4917;    auch    heisst   es  immer  späte,    nie  spät. 

Nach  c  (g,  k) : 

wäc  (dat.)  :  lac  :  pflac  17  248;  zoc  (dat.)  :  stoc  (acc.)  28  364;  hoc  (dat.)  :  stoc 


186  (IRABEH 

(acc.)  24  736;  ■'<tec  (dat.)  :  ircc  (acc.)  27  499.  Immer  aber  heisst  das  a.dver'b  g{e)nii0Cy 
nie  genuoge. 

Nach  *: 

has  (uom.)  ;  icas  (erat.)  18722.  28615;  nas  (subst.)  :  was  7502.  9353;  was 
(swm.)  :  iras  (erat.)  17  470;  1s  (dat.)  :  piis  (uom.)  1740;  ris  (nom.) ;  FJois  (nom.)  5582; 
:  geivis  27  074;  genis  (1.  pers.  sing.)  :  gewis  3969;  ;  tvis  15  091. 

Nach  z: 

hnhis  (dat.)  ;  vlh  2149.  15  406;  tcis  (subst.  weissheit,  weisse  färbe)  ;  vVtz  8178. 
griez  (dat.)  ;  Zi'e^  18  581.  12  926;  lös  {di&t.)  :  schös  (acc.)  1280;  gruoz  (dat.)  :  »jmojS 
(1.  sg.)  24331;  huoz  (nom.)  :  muoz  :  gruoz  8039.  26  580;  :  vuoz  (acc.)  14  968.  21387. 

24  535;  :  muoz  25  990;  schoz  {ö.dX.)  :  genoz  (nom.)  17  096;   ich  geniez  :  hiez  (praet.) 

25  247;  liez  (conj.  praet.)  :  ^eÄze^t  (ind.)  17  462. 

Die  endung  -e n  fällt  nach  stamraanslautendem  n: 

Inugen  (in  f.)  :  tougen  1492.  19397.  23906.  29466;  :  ougen  (pl.)  7592. 
1308.  8887.  9848.  11152.  20339;  ougen  (i n f.)  :  laugen  (adi.)  23852;  :  tougen 
17  709.  23  568;  laugen  (inf.)  16  0.55;  ;  laugen  :  tougen  7473;  orden  (inf.)  :  worden 
fpart.)  7909.  9549.  14  790.  15  388.  29  886. 

S  u  b  s  t  a  n  t  i  V  a  d  e  r  /  -  d  e  k  1  i  u  a  t  i  0  n : 

Es  ist  zu  bemerken,  daß  die  meisten  unflektiert  bleiben  und  eine  form,  die 
umlautlose,  durch  deu  ganzen  sing,  beibehalten.  So  lautet  der  sing,  durchweg  kraft, 
ritterschaft ,  geselleschaft ,  vart ,  ivät  (gen.  pl.  trat!  :  bat  [praet.]  13  212),  inziht, 
geschiht  (immer  apokopiert),  z/t,  tat,  hirdt,  diet,  not,  kleinöt,  kunst,  zuht,  vruht, 
vluot  u.  a. 

Die  umgelauteten  und  mit  endung  noch  versehenen  formen  des  sing,  der 
V-stämme  verschwinden  als  literarische  reime  an  zahl  vor  den  zuerst  besprochenen 
völlig.  Mit  dieser  kargheit  in  der  Verwendung  von  zweisilbigen  (und  mit  umlaut 
versehenen)  formen  gleicht  Heinrichs  spräche  der  Hartmanns.  Es  stehen  in  der 
Krone  nur  folgende  flektierte  formen :  die  dat.  sing,  riterschefte  :  krefte  (plur.)  11  930 
und  26  780 ;  krefte  :  schefte  (plur. )  801 ;  verte  :  herte  17  809. 

Eine  gesonderte  besprechung  erheischen  tugent  und  jugent.  Die  im- 
flektierten  formen  sind : 

i[iom.  tugent  :  dat.  jugent  1719.  21159;  nom.  jugent  :  d&t.  tugent  11186;  acc. 
jugent  :  dat.  tugent  17  489 ;  :  tugent  (nom.)  23  781. 

Die  flektierten  formen  sind :  jugende  (dat.)  :  tagende  (nom.  pl.)  352 ;  .•  tugende 
(acc.  sing.)  2044;  jugende  (uom.)  :  tugende  (dat.  sing.)  1533.  jugende  (gen.)  :  tugende 
(gen.)  17  004]  jugende  (äat.)  :  tugende  (dat.)  27  226. 

Im  heutigen  kärntnerdialekte  flektieren  die  fem.  /-stamme  nicht  und  ent- 
behren daher  auch  des  umlauts.  Doch  weisen  ihn  einzelne  Wörter  auf:  z.  b. 
khröftn  kraft.  Dieses  wort  beweist,  dass  früher  normal  flektierte  formen  vor- 
handen waren. 

II.  Apokope  nach  vokalen. 

Scholl  hat  in  seinem  texte  von  9096  ämU  (dat.)  :  hlU  (nom.).  Mehr  Wahr- 
scheinlichkeit aber  gewährt  die  annähme,  -e  in  dmie  sei  weggefallen  und  ämi  habe 
auf  l>li  gereimt.  Ein  flektierter  nom.  vom  stn.  hli  kommt  sonst  nirgends  vor.  Der 
gleiche  fall  begegnet  25  162,  wo  auch  Singer  masseni  (dat.j  :  vri  vorgeschlagen  hat. 

Der  dativ  bli  wird  1240  zu  bli  gebunden,  :  s/  4978. 


HKINKICH    VOX    DEM    TlKl^IX    rND    DIE    SPKAC'HFOKM    SEINEU    KRONE  187 

Zur  apokope  stelle  ich  auch  die  reime,  iu  denen  alte  ?fa-stämme  im  dat. 
sing,  uQflektiert  bleiben.  Das  auslautende  w  ist  lautgesetzlich  geschwunden:  dat. 
se  reimt  :  Tiiitague  468.  10  160 ;  :  e  (adv.)  16  365.  15  657 ;  :  we  28  316 ;  :  me  :  ge 
iconj.)  24  520.  Sonst  finden  sich  noch  noni.  und  acc.  sing.  14  664.  15  929.  17  324. 
17  466.  18  066.  28  292. 

dat.  S7ie  steht  im  reime  :  we  4327.  9201.  9474.  11275;  ;  me  7518.  Der  nom. 
und  acc.  reimt  9324.  3313.  3399.  6889.  12  469.  14  627.  16  382.  17  461.  18  350.  End- 
lich reimt  noch  der  dat.  kle  :  schre  17  612. 

Dadurch,  dass  diese  gekürzten  formen  so  häufig  im  reime  stehen,  erhält  das 
gedieht  aufs  neue  einen  stark  dialektischen  charakter;  doch  leistet  sich  Heinrich 
in  der  apokope  bei  weitem  nicht  soviel  wie  etwa  Wolfram;  die  feinheit  der  Hart- 
raannschen  verse  freilich  geht  ihm  ganz  ab  ^ 

5.  Synkope  des  e. 

Bei  Heinrich  fällt  synkope  zumeist  auch  mit  apokope  des  -e  zusammen, 
weshalb  es  ein  müssiges  beginnen  wäre,  zu  den  beispielen  abermals  die  reimbelege 
zu  bringen. 

1.  e  wird  synkopiert  nach  liquida  vor  muta. 

a)  in  Verben  mit  langer  Wurzelsilbe: 

bestvärt,  gevdrt,  geert,  gesert,  gekert,  gelert,  gehört,  betört,  sestort,  wobei  die 
formen  sowohl  für  das  praet.  als  das  partic.  gelten. 

warn  (3.  pers.  pl.)  :  am  (dat.  acc.  sg.)  8235.  18  439 ;  ;  ervarn  8716 ;  varn 
:  hewarn  2360.  10  816.  21  463.  27  607. 

b)  Im  Substantiv  ;  järn  (dat.  pl.)  :  varn  :  sparn  30  032. 

c)  Im  part.  praet.  :  vülde  -^  vülende  :  schulde  4438. 

d)  In  der  1.  klasse  der  swv.  :  vröut,  gestaut,  beströut. 

2.  Zwischen  d  +  t  oder  t  +  t. 

geioent  <  geivendet  (part.)  :  gedeiit  (part.)  8180 ;  laten  <  ladeten  :  täten  481 ; 
leite  <  leitete  :  spreite  <  spreitet   6669  (P  leite  :  spreite) ;    gehleit  <  -Meidet  :  bereit 

1)  Mhd.  -e  im  silbenauslaut  wird  im  kärntischen  dialekt  heute  auf  einem 
viel  weiteren  gebiet  abgeworfen  als  in  Heinrichs  spräche.  Der  prozess,  welcher 
schon  im  13.  Jahrhundert  begonnen  hatte,  und  wie  die  reime  der  Krone  zeigten, 
ziemlich  weit  vorgeschritten  war,  hat  in  der  späteren  entwicklung  Wörter  ergriffen, 
die  früher  nicht  apokopiert  wurden.  Fast  für  alle  fälle  von  apokopierung  bei 
Heinrich  gibt  es  in  der  ma.  die  genauen  entsprechungen. 

Die  tatsachen  gewähi-en  uns  aber  gleichzeitig  einen  interessanten  ausblick 
auf  die  zustände  der  kärntischen  landessprache  im  13.  Jahrhundert. 

Heute  wird  auslautendes  tonloses  e  apokopiert:  1.  im  nom.  sg.  aller  schwachen 
masculina  (in  der  Krone  noch  nicht  bei  allen  subst.  durchgedrungen) :  pöt  böte, 
her  herr,  n(}m  name,  sgm  same,  fQii  fahne  usw.  2.  In  allen  starken  masc.  und 
neutr.  ivüts  weizen,  möt  meth ,  stukx  stück,  pilt  bild  usw.  3.  Im  dat.  sing,  aller 
starken  subst.  (bei  Heinrich  bereits  sehr  stark  verbreitet).  4.  Bei  den  koUektiv- 
bildungen:  gnmt  gemüt,  girent  gewände,  felswand.  5.  Bei  femininen  subst.  der  ä- 
und  i-dekliuation :  md  scheide,  iräd  weide,  stät  statte,  p7t  bitte,  er  ehre,  ler  lehre, 
/ms  furcht;  kinderkrankheit  'fraisen';  .si««^  stunde  u.  v.  a.  6.  In  früher  zweisilbigen 
ableitungen :  -nusse,  -inne,  -uiige,  -<ere,  -tete  usw. 

In  der  flexion  schwindet  e:  1.  im  dat.  sing,  aller  starken  subst.  (bei  vielen 
schon  in  der  Krone).  2.  Im  nom.  und  acc.  plur.  der  masc.  und  fem.  /-stamme,  und 
3.  in  den  casus  obliqui  sing,  der  grösstcn  mchrzahl  der  fem.  /-stäuune. 

Beim  verbum  1.  in  der  1.  und  3.  pers.  sing,  des  ind.  und  conj.  praesentis  aller 
verba  und  ebenso  im  conj.  praet.  der  schwachen  vcrl)a.  2.  Im  imp.  der  schwachen 
verba.     3.  Im  substantivierten  infiiiitiv.     4.  im  part.  praes.  (<  ende). 


188         GKABEK,    IIKIXKICH    VON    DEM    TlRliX    UND    DIE    SPUACIIFORM    SEINER   KR(;NE 

(adj.)  13  660.  22  464;  schoeiiheit  14  356;  :  reit  (praet.)  17  535;  :  breit  21131;    leiten 
<  leiteten  :  breiten    18  096;    kleiten  <  kleideten  :  bereiten  <  bereiteten  :  breiten   (adj.) 

22  343;   beleiten  <  beleiteten  :  beiten   (inf.)    23  006;    versmit  <  -smidet  :  mit  (praep.) 
58.  29  931 ;  :  lit  (subst.)  1074 ;  erglast  (part.)  :  grast  (praet.)  19  818. 

2.  pers.  plur. :  6189  seit  <  seitet  :  arebeit ;  19  594  wolt  <  woltet  :  solt ; 
21  531  möht  <  möhtet :  töht.  Doch  geht  es  nicht  an,  formen  wie  tat  (für  tat  ei) 
Heinrich  zuzumuten;  wir  haben  vielmehr  für  1812  überschüssiges  t  anzunehmen. 
Ein  apokopiertes  adv.  sjxit  ist  bei  Heinrich  nicht  belegbar,  daher  lautet  der  reim 
:  tätet  :  späte  :  rate. 

Sonstige  synkopierte  formen  sind  noch :  ervorht  (part.)  24  450 ;  vorht  (praet.) 
4645;  gelust  <  gelüstete  :  äkust  19  438;  ;  brüst  10  661.    koste  <  kostete  :  tjoste  10  668. 

gehaft  (part.)  ;  Ära/it  19  356;  :  schuft  14  588;  zünden  (praet.)  :  gunden  (pl.) 
10  643;  nöte  (-pmet.)  :  ertöte  (praet.)  11569;  -.töte  (pl.)  6596;  ;  rd<e  (adj.)  4242. 
huote  (praet.)  ;  muote  1045.  2648.  20  626.  20  903.  27  044 ;  huoten  (praet.)  ;  guoten 
2829;  be/mot  (part.)  :  tuot  1483.  16  041;  :  muot  1917.  20  606.  21506.  23152;  :  giiot 
2200.  15  301.  21618;  :  bluot  6872;  :  vluot  24  146;  behuote  (praet.)  :  geimote  6526. 
tvuote  (praet.)  :  vluote  (dat.)  ;  Imote  (nom.)  8284;  :  muote  11863.  27  434;  huote 
(pva.et.)  :  gluote  8493;  :  guote  24  iGO ;  behuot  (part.)  ;  wwoi  28  506;  :  guot  28^70; 
.■  muot  :  bluot  29  034;  armuot  :  guot  29  208;  :  muot  :  tuot  29  339. 

3.  Im  präfix  g e-. 

a)  Vor  w:gwete  26  577.  reisegivant  21289.  isengioant  6709.  10  469.  10908. 
12  905.  13  384.  14  205.  15  114.  17  672.  19  127.  20  856.  21289.  23  395.  27  341  und 
öfter,  gioin,  gwinnen  2454.  2467.  3129.  3221.  4354.  4771.  4887.  5151.  8831.  9496. 
9911.    9149.   9973.    16  890.    17  636.    17  929.    18  084.    18  629.    19  119.  20  501.    21676. 

23  159.  29  181. 

b)  Vor  l:  glanc  :  lanc  9344;  heute  kärntisch  klQv,  schlinge  zum  Vogelfängen. 
glichen,  glich  21  582.  27  952.  29  385  und  sehr  häufig. 

c)  Vor  n:  gnäde  30  003.  .30  027  und  sehr  oft;  gnuoc,  gnöz  (praet.)  8189. 
179  u.  a. 

d)  Vor  g:  gangen  (part.)  18  753.  29  273. 

4.  Im  präfix  b  e-. 

bliben  (inf.)  13  902.  14192.  17  998.  17  343.  25191  und  öfter,  ir  blib et  10  695; 
hübe  (praes.)  12  575.  26042;  blibe  (conj.  praet.)  2267.  4536.  23  356.  24067;  ind.  bliben 
13682.  13950.  14523.  26287.  27  473  und  öfter;  part.  bliben  20  loh.  26 803  u.  v.  a. '. 

1)  Auch  in  bezug  auf  die  synkopieruug  des  e  erweist  sich  die  spräche  der 
Krone  als  vorläuferin  des  heutigen  kärntischen  dialektes. 

Hier  wird  -s  in  tonlosen  silben  zwischen  cons.  unter  allen  umständen  syn- 
kopiert. Ferner  zwischen  dentalen  ;  er  rot  redet ;  khröt  geredet ;  nach  r  vor  n : 
tsärn  zerren,  dlrn  döiren.  Für-  ersteren  fall  sind  beispiele:  sQmp  <  schamede,  pbmp 
<  abend;  bei  adj.  auf  n  verschmilzt  das  n  der  flexiousendung  vöUig  mit  dem 
Stammauslaut,  da  vorher  synkope  eintrat:  sean,_khlän  =  sean(a)n,  khlän(;i)n.  Infolge 
.synkopierung  ist  assimilation  eingetreten  bei  nöm  nehmen,  ts(>m  zusammen. 

Die  .synkope  der  vorsilbe  ge-  trat  in  der  ma.  nur  vor  dauerlauten  ein:  kfptr 
gevatter,  yt/i(7^  gehabt,  khern  gehören,  gnäkh  genick,  khceimn  (mhä.  gehöuu-en)  stossen, 
sich  kümmern,  gläbm  glauben,  khr'itn  geritten  u.  v.  a. 

Vor  Verschlußlauten  ist  sie  gesetzmässig  unterblieben. 

Bei  der  vorsilbe  be-  tritt  synkope  nui'  ein  vor  s,  s  und  h  (l),  sonst  bleibt 
der  vokal  erhalten  :  plceibm  bleiben.  psQfm  beschaffen,  psUsn  besitzen,  pfiatn  be- 
hüten u.  a. 

KL.\(;ENFrHT.  G.    GRABER. 


KAPPE,    HIATUS    UND    SYNALÖPHE   BEI   OTFRID  189 

HIATUS  UND  SYNALOEPHE  BEI  OTFKID. 

(Schluß.) 

5.  N.  acc.  pl.  neutr.  sin. 

Die  form  s/u  für  den  n.  acc.  pl.  neutr.  hat  keine  andere  sprech- 
form neben  sich.  In  derselben  vollform  begegnet  das  pronomen  auch 
ohne  ausnähme  im  auftakt  und  in  der  Senkung  vor  konsonantisch 
anlautender  silbe.  Denn  es  ist  daran  festzuhalten,  dass  eine  ab- 
schwächung-  der  form  siu  zu  sie  oder  ein  eindringen  der  maskulinform 
in  die  funktion  des  neutrums  in  den  Otfridhss.  noch  nicht  vorliegt. 
Der  Wechsel  zwischen  der  maskulinform  sie  und  der  neutralen  form 
sin  erklärt  sich  mit  Erdmann  ^  aus  syntaktischen  gründen.  Damit 
erledigen  sich  auch  die  fälle,  wo  den  neutralen  formen  in  der  einen 
hs.  maskulinformen  in  einer  anderen  hs.  gegenüberstehen. 

Nur  durch  synalöphe  werden  auch  die  neutralen  formen  im 
Vortrag  reduziert.  An  zweiter  stelle  des  auftakts  und  der  Senkung 
vor  vokalisch  anlautender  hebung  wird  das  pronomen  auf  die  Schwund- 
stufe herabgesetzt.  Yers  Uli  thaz  siu  ellu  tlirin  rüarit,  ¥  sellu  beweist 
für  III 2080  thaz  siv  dllesivio  ni  ddtin.  In  der  Senkung  ist  V15io  die 
Schwundstufe  eindeutig  bezeichnet:  Y  Ibiofuatiri  siu  io  zi  ivdru,  'P  sia. 
Danach  sind  folgende  verse  zu  bewerten:  Illle  nist  mdn,  ther  siu  cd 
irzelle,  P  siu.  11524  bithdlit  er  siu  iogiUcho.  120 13  Sie  zalatun  siu 
io  ubar  ddrj.     II 1296  ß>'  Inzit  sclnan  siu  ana  ivdn. 

6.  N.  acc.  pl.  fem.  sio. 

Die  form  sio  des  n.  acc.  pl.  fem.  kommt  in  den  Otfridhss.  nur 
noch  an  drei  stellen  vor;  sonst  ist  sie  durch  die  maskuline  plural- 
form sie  ersetzt.  Da  dieser  prozess  schon  völlig  durchgeführt  ist, 
kann  die  form  sio  in  jenen  3  fällen  unmöglich  phonetischen  wert 
haben.  Es  ist  allerdings  auffallend  genug,  dass  die  macht  ortho- 
graphischer tradition  die  längst  abgestorbene  form  überhaupt  noch 
bewahren  konnte. 

Einmal  begegnet  sio  unter  dem  nebeniktus:  V2599  tlioh  scöivon 
sio  zi  rugge,  V  sio  (0  aus  e?),  F  sie.  Piper  bemerkt  in  seinen  Varianten: 
'0  scheint  in  e  korrigiert  zu  sein,  es  ist  aber  nichts  radiert'. 

Ferner  I3i  im  auftakt:  sio  zeigotit  ßlu  scono.  Piper:  F  sio  die 
rechte  rundung  des  0  scheint  radiert. 

Für    den    letzten    vers    nimmt  Erdmann    an,    dass    die   form   sio 

1)  Vgl.  Erdmann  zu  120  29;  IV2Ü6fg.  35  24  fg.  und  Syntax  11  §57. 


190  KAPPE 

durch  die  vielen  o  des  halbverses  auf  assimilatorischem  wege  ein- 
g'edrungen  sei.  Diese  annähme  lässt  sich  vielleicht  auch  für  V2599 
i;eltend  machen.  Ausserdem  scheinen  doch  die  Varianten  beider  halb- 
verse  darauf  hinzuweisen,  dass  den  Schreibern  die  form  sio  durchaus 
ungewohnt  und  anstössig  war.  V2599  setzt  F  denn  auch  die  geläufige 
maskulinform  sie  ein.  Vielleicht  war  nur  das  bedürfnis  grösserer  syn- 
taktischer deutlichkeit  die  Ursache,  die  längst  vergessene  form  wieder 
einzuführen.  Recht  wahrscheinlich  ist  dies  für  den  dritten  beleg 
III 163  ivanta  er  ni  lerneta  sio  er,  sio  (0  in  V,  0  in  P  übergeschrieben). 
An  zweiter  stelle  der  Senkung  ^vird  das  pronomen  hier  auf  den  an- 
lautenden konsonanten  reduziert.  Die  Schreiber  suchten  im  Schrift- 
bild die  syntaktische  beziehung  deutlich  zu  machen  und  setzten  daher 
-die  form  sio  in  V,  sio  in  P  nachträglich  ein. 

7.  N.  sg.  fem.  siu-si. 

A.  siu-si  unter  dem  haupt-  oder  nebeniktus. 

I.  Vor  konsonantisch  anlautender  Senkung. 

a)  Unter  dem  hauptiktus. 

a)  Alle  hss.  zeigen  die  form  slu. 

III 1437  So  siu  tJio  thaz  gihoria. 

ß)  Alle  hss.  zeigen  die  form  si. 

I83  sr  ni  mohta  inheran  sin.  1146  er  si  zi  theru  gihürti.  IV  29 21  Was 
ai  nu  thero  ivörto. 

b)  Unter  dem  nebeniktus. 

a)  Alle  hss.  zeigen  die  form  siu. 

12241  So  SIU  gisah  then  l/oban  man.  r\^2i7  So  siu  thaz  sdlbon  tho  birvärb. 
P  stu.  ISei  Nust  siu  gibnrdinot  thes.  I7i  thaz  siu  zi  hüge  hdbeta.  Il-li  thaz 
siu  thaz  khid  sougta.  II 9  2  breitit  siu  sih  hdrto.  II 1485  So  sliumo  siu  gihorta 
thdz.  III  767  Thaz  siu  mit  themo  iverke.  V  siu  (acc.  rad.).  72  thaz  siu  thir  wiht 
ni  derre.  III 11 10  thaz  siu  sia  thära  brahti.  VTs  so  hdrto  siu  sin  rtiahta. 
12  ni  süahta  siu  thar  thes  thiu  min.     V  23 123  wio  in  büachon  siu  gilöbot  ist. 

ß)  In  den  Varianten  stehen  die  formen  sin  und  si  nebeneinander. 

111245  so  siu  thia  kiinft  gihörta.  P  siu.  F  si.  IV  6  36  siu  was  alles  zi 
breit.     F  67'.     VIT 21  wanta  wlrdig  si  ni  icds.     F  siu. 

Y)  Alle  hss.  zeigen  die  form  si. 

111 31  Stin  bar  si  tho  zeizan.     116 3  Si  was  förasagin  giiat.     e  war  si  then 

drost   suahti.     111473   Si  nam   gouma    hdrto.     Illllie   sliumo  fuar  si   sar   Mim. 

III 1445  thaz   si  thia   trddun   ruarta.     IIIlöis  si  fon  göte  queme  thir.     III 1755  si 

gab  äntirurti,  so  zdm.    III  24 11  so  si  zi  kriste  giilta.    37  thia  suester  si  sar  höleta. 


HIATUS    UND    8YXAI.ÖPHE    BEE    OTFRID  191 

43  thaz  si  SO  gahuii  i'ifirstuant.  48  thar  si  tlien  hruader  liohon  roz.  49  Iröugta 
si  tho  seraz  miiat.  47  Si  zi  fiiaze  kriste  fial.  P  SI.  III  24  48  mit  zciharin  si  thie 
bifföz.  P  si.  IV  231  duan  thiu  tverk,  thiu  si  higdn.  IV  2943  Selbo  si  thaz  ivölta. 
46  sid  si  sia  selbo  spünni.  47  sid  si  sia  selbo  sct'tafi.  52  si  noh  liiutu  ana  wank. 
IV 33 12  si  giMH  in  harto  tfidz.  V77  Si  thia  stuf  noh  tho  nirgdh.  43  So  sliumo 
si  tho  thaz  gispräh.  48  icaz  süahti  si  so  hdrto.  56  zi  füazou  si  sar  Uta.  es  zen 
jüngoron  si  sar  Uta.     V  12  ss  hi  thiu  ist  si  so  mdri. 

S)  IV  29  24  zeigt  P  die  form  de  gegen  si  in  Y,  F  ändert  den  text  in  So. 

IV  29  24  si  thie  faduvia  alle  gab.     P  sie.     F  So. 

II.  Vor  vokaliscli  anlautender  silbe. 

a)  Unter  dem  hauptiktus. 

7.)  In  den  Varianten  stehen  die  formen  siu  und  si  nebeneinander. 

11114 18  thdz  siu  inan  hintarti.     P  stu  inan.     F  thaz  si. 

^)  Alle  hss.  zeigen  die  form  si. 

III 1751  joh    si  ekrodo   einu.     P   si   ekrodo.     VT 55  joh   sinan   sar  irkdnta. 
F    *•/    inan.     V2oi5    Wanta    si    ist    in    war    min.      V833    Si    nan    sar    irkdnta. 

IV  29  44  thaz  si  in  thera  nahi.  P  si.  1726  thaz  si  uns  allo  ivörolti.  P  thdz  si. 
II 12  39  Joh  si  iz  ni  himide.     P  Joh  si. 

b)  Unter  dem  nebeniktus. 

a)  Alle  hss.  zeigen  die  form  siu. 
III II7  Ni  deta  siu  es  avur  mer.    12354  suntar  siu  nait  sue'nte.    IUI  37  Mit 
henti  siu  mo  scirmit.     11114 10  so  sliumo  siu  nan  ri'iarta.     IV  232  thaz  siu  iz  nir- 
fülle  nu  thiu  min. 

ß)  In  den  Varianten  stehen  die  formen  siu  und  si  nebeneinander. 

II 3  8  thaz  si  ist  ekord  eina.     F  siu. 

y)  Alle  hss.  zeigen  die  form  si. 
IV 11 43    thaz    si    in    iuih    gigät.      111134    siintar    si    imo    munto.     P    imo. 
n'2960^/iO  simo  ski'iaf  thaz  gifdnk.    Illse  in  thia  kripplia  sinan  legita.    N 1  hz  Ni 
ndnta  si  nan  dröf  er.     66  sageta  in  tho,  t/iaz  sinan  sah.     F  si  inan. 

B.  siu-si  iin  auftakt. 

I.  Vor  konsonantisch  anlautender  hebung. 

1.  Alle  hss.  zeigen  die  form  si. 

II 36  si  hdhet  thoii  thia  rihii.     15 70  si  quad,  si  ivdri  sin  thiu.     172  si  was 

sih  bUdenti.     I825  II54  14i7  I61  17;  III 10 5  20  27  lli;  IIIUio  is  21  244o;  IV2io 

473  29öi  55  329  33ii;  V72  43  40  54  14?  23216.     III 1428  so  füalta  sar  thes  güates. 

V  so  (0  aus  i).     P  F  si. 

2.  In  den  Varianten    stehen    die   formen  siti  und  si  neben- 
ein a  n  d  e  r. 
122 12  si  wanta  in  dlawari.    F  siu.     II  823  si  tvessa  thoh  in  diawar.    F  siu. 
V7c  si  stuant  thoh,  weinotn  thar.     P  sin. 


192  KAITE 

II.  Vor  vokaliseh  aul  nuten  der  bebiing. 
Es  finden  sich  4  belege ;  alle  hss.  zeigen  die  form  ai. 

II611;    Vis;    III  Uoo    23. 

III.  V  0  r  e  i  n  e  r  z  w  e  i  t  e  n  v  0  k  a  1  i  s  c  h  anlautenden  a  u  t't  a  k  t  s  i  I  b  e. 
In  5  belegen  zeigen  alle  bss.  die  form  si;  synalöphe  ist  nirgends 
bezeichnet. 

Vor  is. 

IV  29 26  si  iz  alias  göte  reisot.     V7ii  si  iz  al  irsiiachit  haheta. 

Vor  //•-. 

V  8  42  si  irkdnta  nan,  so  er  xvölta.     P  sq. 

Vor  in  (praep.). 
117  7  si  in  ihoon  ni  firivürti. 

Vor  ist. 
IV  29  56  si  ist  Ulla  sit  ioivänne. 

IV.  An  zweiter  stelle  des  auftakts  vor  vokalisch 
anlautender  h  e  b  u  n  g. 

1.   Das   pr Gnomen    ist   auf  den   anlautenden   konsonanten 

reduziert. 

1 14 12  thaz  si  unreini  thera  gihürti.     F  si. 

Die  hebung  lautet  mit  i-  an. 
II 1274  thaz  si   iamer   sin  ginilzzi.     P  s!  iamer.     III 11 22  ni   si  imo  föhjeti. 
P  si  imo.     III 26 14  tlioh  si  in  si  linthrati.     P  sin.     F  si  in. 

Nur  1723  begegnet  die  form  stu  V: 

1723   Was  siu  dfter  thiu  mit  iru  sar.     P  si.     F  si. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 

III 10 19  tfiaz  si  unsih  Idze  haben  lih.     IV29i6  thaz  si  älang  mit  giwnrti. 

C.  Das  pronomen  in  der  Senkung  vor  konsonantisch  anlautender  silbe. 

I.  Allein   in   der  Senkung  vor  konsonantisch  anlautender 

hebung. 
1.  Alle  hss.  zeigen  die  form  sl. 
II 35  N/st  si  so  gisiingan.     122   eigan   thiu   ist   si   thin.     I670  si  quad,   si 
tvdri    sin    thiu.      Ha    so  füar   si   zi   iro    selidon.     111 30  37    I65  7  9  2  4  13  14  16 

2225  42;  11825  1273  14 14  19  20  85  17  27  55  87;  III  1 35  10 13  29  9  ll2  3  9  20  31  32; 
III  1426  45  39;  m  1444  16 13  1756  246  13  23  34  37  38  39  40  46  50 ;  III  23 12;  rV^2ll  32 
474    2927    28    33    43    322;    V424    7 13    17    21    44    47    49    65    834    1221    24    81  ;    V23l21. 

2.  In  den  Varianten  stehen  siu  und  si  nebeneinander.  • 
1065    '/Ä   bin',    quad   si,   'gutes   thiu'.     P  siu.     Illös  Miiattr   ist   si  mürn, 

Y  siu.    113 10  in  ira  barm  si  sazta.    F  siu.    III 14 41  Quam  siu  förahtalu  sdr.    V  si. 

3.  Alle  hss.  zeigen  die  form  siu. 

i486    thaz   siu   scolta   in   clti.     V  I254  joh  wdz  siu  Mar  bizeine.     111266  = 

V  1241  so  siu  thar  giscriban.  stat.     IV  29  31  joh   s6  siu  bczist  biquam.     Se  oba  siu 


HIATUS   UND    SYNALÖPHE   BEI   OTFRID  193 

fri'mia  wesan  scal.  Hss  in  sunton  ward  sm  missilih.  II  8  24  nirzlgi,  thes  sin  hdti. 
rV28i2  weliches  siu  wesan  scal.  III 11 15  hi  thiit,  gisceinta  sia  tliaz.  27  Bi  fhni 
gihölota  siu  thctr. 

IL  Au  zweiter  und  dritter  stelle  der  s e n k u u g  vor 
k  0  n  s  0  n  a  u  t  i  s  e  h  anlautender  li  e  b  u  n  g. 

1.  Alle  hss.  zeigen  die  form  .s/. 
V73  Hdbeta  si  nu  in  loar  min. 

2.  In  den  Varianten  stehen  siu  und  si  einander  gegenüber. 
1111128  wanta  si  hdbeta  sulili  miiat.     P  siu. 

D.  In  der  Senkung  vor  vokaliscli  anlautender  silbe. 

1.  Allein  in  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender 

h  e  b  u  n  g. 

1.   Das   pronomen   ist   auf  den   anlautenden   konsonanten 

reduziert. 

15 10  then  sang  si  unz  in  enti.     P  si. 

2.  In  den  Varianten  stehen  die  voll  formen  siti  und  si 
nebeneinander. 

n  1443  'Thu  mohtis^  qudd  siu,  '■einan  riiam'.     P  si. 

IL    Vor   einer    zweiten   vokalisch   anlautenden    senkungs- 

silbe. 

1.  Vor  iz. 

Es  findet  sich  nur  die  form  si. 
a)  Das   pronomen   si  ist   auf  den  anlautenden  konsonanten  reduziert. 

111 34  ni  wdnu,  tliaz  si  iz  tcessi.  P  siz.  II  631  In  then  bouin,  thar  si  iz 
näm.     P  si.     II 17 14  tlio  siz  gerno  wolle. 

b)  Die  vollformen  stehen  nebeneinander. 

im  33  Thöh  si  iz  sero  fille.  37  mit  theru  si  iz  miihont  fillit.  IV  2929  Joh 
si  iz  dllaz  gimdz.  35  Bisdh  si  iz  iogiliclio.  II 12  39  in  V  gegen  P:  Jöh  si  iz  ni 
bimide.     P  Joh  si. 

2.  Vor  in  (praep.). 

a)  Das   pronomen  si  ist  auf  den  anlautenden  konsonanten  reduziert. 
I63  So  si  in  ira  hüs  giang.   P  So  si.    III 17  u  bifdngan  ist  si  in  drdti.   V  si. 

b)  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 
si  in  allen  hss. 
116 16  Tlio   quam   si  in   the'sen   stunton.     IV2i6    thia  göz  si  in  sine  ftiazi. 
l       rV2949  Siintar  selb  si  in  gd/ii.     VP  siu   F  si.    II 1449  'Th   ni  haben',   quad   siu, 
Hn  tvdr'  F  si. 

3.  Vor  ir-, 
III 1444  bi  hiu  si  irbdldota  so  frdm.     P  bi  htu  si. 
ZEITSCIIKIFT   F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  13 


194  KAl'l'K 

4.  Vor  uns. 
1338  thaz   f<i   lins    heran  scolti.     P  si  uns.     F  snuns.     I7jc  in  P  gegen  V: 
t/iae  st  uns  alJo  worolti.     P  thdz  si  uns. 

5.  Vor  in  (dat.  plur.). 
IV  338  irzeh  si  in  thes  si  nöti. 

6.  Vor  dl. 
ni  10  35  'Dnihtin'  quad  si,  'al  ist  iz  s(j'.     P  sia. 

7.  Vor  imo. 
1534  gab  si  imo  datwurti.     P  simo.     F  si  imo. 
8.  Vor  endbetontem  inän. 
Alle  liss.  zeigen  sinan. 

111 33  War  sinan  gihädoti.  joh  war  sinan  giUgiti.  36  Bitodnt  sinan  thoh 
thäre.  12359  thaz  sinan  ni  houtn'.  II 2  20  thciz  sinan  nirkdnta.  V  zeigt  die  form 
siu  inan:  III14i8  thdz  siu  inan  hirüarti.     F  thaz  si.     P  thaz  sia  inan. 

III.  Das  p r 0 u 0 m e n  in  z w e i t e r  s e n k u n g s s i  11) e  v 0 r  v 0 k a  1  i s cli 

anlautender  hebung. 
1.  Das   pronomen   ist    auf   den    anlautenden   konsonanteu 

reduzier  t. 
a)  Alle  hss.  zeigen  die  form  si. 

1 163    zi  gote   rihta   si  iru   miiat.     P  siru.     F  si  ira.     D  si   iru.  1166  so 

hdbeta   si  in  githdhti.     P  si.     7  joh    leita   si   ira    ddga   thar.     P  siro.  D  si   im. 

III  2445  Quddun,  silti  löufan.     V  s  :  ilti  (i  rad.).     P  si  Uli   {/  zwischen-  und  über- 
geschrieben).    F  D  si  ilti.     IV  2 11  Ni  loäni,  si  ouh  thes  ivdiigti.     P  si. 

b)  Alle  hss.  zeigen  die  form  .mt. 
15 12  thaz  deda  siu  io  gerno.     P  siu. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 

a)  si. 
11812  joJi  kriste  si   iz  gisdgeta.     III  1 33  nist,  ni  si  ävur  ivolle.     III  11 10  ni 
lodnu,  si  ouh  thes  thdhti.     III  14  40  thaz  wdnia  si,   er  ni  westi.     IV  29  25  thiu  werk 
bisi/iit   si   ellu.     30    scöno    si   iz   gifüagta.     IV  31 34    mih    scdden    si   io    intfüarta. 

IV  334  ni  wölta  si  in  then  riuon.     V52  deta   si  in  sar  mdri.     V  1222  ni  tht'dta  si 
in  giwissi.     V2041  thaz  fiirdir  si  iz  ni  finde. 

b)  siu. 
III  11 17  Hdbeta  siu  ouh  in  thia  stünt. 

Die  gemeinahd.  form  des  n.  sg.  fem.  im  8.  und  9.  Jahrhundert 
ist  sin.  Diese  form  ist  auch  in  den  Otfridhss.  mehrfach  belegt,  doch 
findet  sich  weit  überwiegend  die  form  si.  Die  form  si  begegnet  un- 
gefähr 220mal,  sin  nur  43mal.  Beide  formen  sind  allen  Schreibern 
bekannt.  In  den  Varianten  stehen  sich  sehr  häufig  beide  formen 
gegenüber.     Die  Umgangssprache  Otfrids  kennt  nur  die  form  si.     Die 


HIATUS   UND    SYNALÖPHE    HEI    OTUKID  195 

form  siu  hat  für  die  Schreiber  der  Otfridhss.  nur  die  bedeiitimg  einer 
rein  graphischen  normalform.  Dies  lehrt  die  Statistik  auf  schritt  und 
tritt.  In  dem  Schriftbild  si  haben  wir  2  sprechformen  zu  unterscheiden : 
eine  betonte  form  mit  langem  vokal  und  eine  in  unbetonter  Satzstellung 
quantitativ  reduzierte  sprechform  .s/.  In  50  halbversen  trägt  die  form 
67  einen  haupt-  oder  nebeniktus  ^  Erscheint  die  form  si  allein  im 
auftakt  und  in  der  Senkung  in  der  proklise  vor  vokalisch  und  konso- 
nantisch anlautender  hebung,  so  werden  wir  den  sonanten  als  kurz 
anzusprechen  haben.  In  einsilbiger  Senkung  vor  vokalisch  anlauten- 
der hebung  wird  diese  unbetonte  kurzform  si  auf  die  Schwundstufe 
herabgesetzt.  Unter  dem  haupt-  oder  nebeniktus,  in  der  Senkung  vor 
konsonantisch  anlautender  silbe,  im  auftakt  vor  konsonantisch  oder 
vokalisch  anlautender  hebung  ist  die  form  siu  für  den  vorti'ag  des 
gedichts  durch  die  sprechformen  s^  ai  zu  ersetzen.  Wenn  IV  2924  si 
thie  fäduma  alle  gab,  F  so,  P  die  form  sie  zeigt,  wird  man  kaum 
ein  eindringen  der  akkusativform  annehmen  dürfen.  Wohl  be- 
gegnet dieser  ausgleich  bisweilen  in  spätahd.  zeit.  Aber  für  Otfrid 
ist  sia  die  normalform  des  acc. ;  die  abgeschwächte  form  sie  erscheint 
nur  2mal  IV  29 19  in  F  und  II2O11  in  P.  In  P  wird  also  Schreib- 
fehler vorliegen,  vielleicht  in  anlehnung  an  das  folgende  thie.  111 33 
vertritt  sie  den  acc.  pl.  fem.;  es  ist  nicht  mit  Kelle  hier  si  einzusetzen: 
{TJw  bot  si  mit  giliisti,  thio  küulisyun  brüsti)  ni  eid  msih,  simfar  sie 
övgti,  P  sie,  F  sio  vgtl.  Die  Umgangssprache  Otfrids  kennt  nur  die 
beiden  formen  .-v  und  si  -  wie  in  mhd.  zeit. 

An  zweiter  stelle  des  auftakts  und  der  Senkung  vor  vokalisch 
anlautender  hebung  wird  die  kurzform  si  auf  die  Schwundstufe  herab- 
gesetzt. Im  auftakt  beweisen  6  sprechformen  für  2  schreibformen. 
17 23  zeigt  deutlich  die  rein  graphische  bedeutung  der  form  sin:  Was 
siu  äfter  thiii  mit  iru  sar,  P  si,  F  si.  In  der  Senkung  stehen  6  Schwund- 
stufen 12  vollformen  gegenüber. 

Vor  einer  vokalisch  anlautenden  zweiten  senkungssilbe  entscheidet 
das  phonetische  gewicht  über  den  Charakter  der  synalöphe.  Vor  dem 
pronomen  iz,  der  praep.  in,  dem  präfix  ir-  und  dem  pronomen  uns 
sehen  wir  das  pronomen  si  auf  den  anlautenden  konsonanten  reduziert. 
Vor  den  mit  /-  anlautenden  silben  findet  sich  der  elisionspunkt  aus- 
schliesslich unter  dem  sonanten  des  pronomens  si;  es  ist  nicht  daran 
zu  zweifeln,  dass  hier  die  synalöphe  an  dem  pronomen  statthat.  Vers 
133s  t/iaz  ni  uns  beran  scolti,  P  si  uns,  F  su  uns  liegt  in  V  natürlich 

1)  Die  länge  des  vokals  ist  durch  N  gesichert. 

13* 


196  KATl'K 

ein  versehen  in  der  Setzung  des  pimktes  vor.  Danach  ist  auch  IV  33  g 
vor  dem  d.  pl.  in  und  III 10  35  vor  al  die  Schwundstufe  des  pronomens 
einzusetzen.  Anders  ordnen  sich  die  Verhältnisse  15 34^  gab  si  imo  änt- 
wurti,  P  shno,  F  ^i  imo.  Hier  steht  der  dativ  imo  in  der  enklise  hinter 
dem  Subjekt  si  und  wird  als  phonetisch  leichtere  silbe  auf  die  Schwund- 
stufe reduziert.  Ebenso  behauptet  sich  das  i)ronomen  n/  vor  end- 
betontem imhi.  Die  Schreibung  siu  man  lehrt  die  Schreibung-  s/nun 
beurteilen. 

Ebenso  liegen  die  dinge  im  auftakt.  Die  phonetisch  leichtere 
silbe  fällt.  Der  auftakt  erfährt  jedoch  stets  eine  grössere  artikulations- 
energie  als  die  Senkung.  Im  einzelnen  können  sich  die  Verhältnisse 
im  auftakt  also  anders  ordnen.  Es  finden  sich  5  vollformen  si  vor 
den  zweiten  auftaktsilben  iz  ir-  in  (praep.)  ist.  Vor  der  praep.  i7i,  der 
verbalform  ist  und  dem  verbalpräfix  ir-  wird  man  das  proklitische 
pronomen  auf  den  anlautenden  konsonanten  reduzieren.  IV  2026  nnd 
V7ii  steht  jedoch  das  pronomen  iz  in  der  enklise  hinter  dem  prono- 
minalen Subjekt  si;  man  wird  den  sonanten  des  pronomens  iz  elidieren 
müssen. 

8.  Acc.  sg.  fem.  sia. 
A.  Im  auftakt. 

I.  Vor  konsonantisch  anlautender  hebung. 
111 60  sia  sdtanas  gindmi.     III 24 12  sia  ri'iartaz  filu  Jidrto. 

II.  Vor  einer  vokalisch  anlautenden  zweiten  auftaktsilbe. 
1 3  32  sia  ist  engilo  mmigi.     P  sia  ist. 

III.  In  zweiter  auftaktsilbe  vor  vokalisch  anlautender 

h  e  b  u  n  g. 

sa. 
IV  28 16  tvir  sa  dlanga  gihüUtn. 

sia. 
IV  29 19  thas  sia  dinlicher  ndmi.     F  sie. 

B.  Das  pronomen  in  einsilbiger  senliung-  vor  konsonantisch  anlautender 

hebung. 

1.  In  mindestens  einer  hs.  findet  sich  die  form  sa. 

Lss  tluis  er  sa  lesan  heizit.  I82  tho  er  sa  hdfta  gisah.  F  sa.  P  sia. 
III 1727  Qudti  er,  man  sia  Uazi.  P  Qudii  er,  man  sa  liazi.  III 2453  so  er  sa 
rlazan  gisah.  IV  12  38  inti  bot  sa  ludase  sar.  V  7  47  Frdgeta  er  sa  säre.  05  Bi 
nämen  er  sa  ndiita.     V  16  42  nuh  ir  sa  heilet  säre. 

2.  In  mindestens  einer  hs.  findet  sich  die  form  sie. 
II  20 11  thit  duent  sia  lütmara.     V  sia  (a  aus  e).     P  sie.     F  sia. 


HIATUS   UND    .SYXALÖl'HE   BEI   OTFRID  197 

3.  Alle  hss.  zeigen  die  form  sia. 

IÖ9  fnnd  sia  drürenta.  69  Drtihtin  kos  sia  güater.  1117 35  thu  fhar  sia 
dlofo  suachis.  P  t/idr.  III  11 10  thaz  siu  sia  ilidra  hrahti.  19  zi  ht'inton  er  sia 
zdlta.  III 1731  thaz  man  sia  steinoti.  IV  222  quad,  man  sia  molUi  scioro.  F  man 
fehlt,  si.  31  Ldz  sia,  quad  ther  meistar.  IV  2924  joh  sia  selbo  giwdb.  46  sid  st 
sia  selbo  spünni.  47  sid  st  sia  selbo  scilafi.  IV  32  4  ni  sia  rüarti  thaz  ser.  F  si. 
9  Thaz  er  sia  zi  imo  nami.  P  er.  IV  33  u  then  selbon,  ther  sia  imrahta. 
V738  ob  ih  sia  niazaii  ni  muas.  V829  Bi  ndmen  sia  druhtin  ndnta.  ziünz  er  sia 
wib  hiaz.    Y  12  ^o  joh  liiad  sia  hdrto  guates.    V1722  thaz  er  sia  fiirdir  drati.   F  er. 

C.  Das  pronomen  in  der  Senkung  vor  Tokaliscli  anlautender  silbe. 

I.  Allein  in  der  Senkung-  vor  vokalisch  anlautender 

h  e  b  u  n  g. 
1.  Alle  hss.  zeigen  die  Schwundstufe. 

V850  thiu  ndtara  gispiian  ses. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  form  s/a. 
I  8  7  Er  sia  erlicho  söh. 

n.   Vor   einer    zweiten   vokalisch    anlautenden    senkungs- 

silbe. 

IV  34 1  thiu  götes  kraft  sies  tiotta. 

III.  An  zweiter  stelle  der  Senkung  vor  vokalisch  an- 
lautender h  e  b  u  n  g. 
1.   Das   pronomen   ist   auf  den   anlautenden  konsonanten 

reduziert. 

I63  thiu  ivirtun  sia  erlicho  intßang.  I  8s  joh  brdhta  sq.  afur  thdnne.  P  sa. 
F  saviir. 

2.  V  P  sia.     F  sial. 
II 89  mit  suSrtu  sia  al  gistretcita.     F  sial. 

3.  Alle  hss.  zeigen  die  form  so. 

IV  28 10  iveli/t,  sa  imo  nami. 

4.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform  sia. 
III  16 18  od  ih  sia  eigine  mir. 

Die  gemeinahd.  form  des  acc.  sg.  fem.  ist  sia.  In  dieser  gestalt 
erscheint  das  pronomen  in  den  Otfridhss.,  wenn  es  einen  haupt-  oder 
nebeniktus  trägt.  Diese  form  galt  den  Schreibern  als  normalform  für 
die  Orthographie.  Sie  ist  häutig  dort  eingesetzt,  wo  die  Umgangs- 
sprache andere  ablautsformen  des  pronomens  verlangt.  2mal  erscheint 
eine  form  sie  als  orthographische  normalform:  IV 29 19  thaz  sia  ein- 
lic/ier  nämi,  F  sie.  II20ii  thie  dumt  sia  lüfmara,  V  sia  (a  aus  e), 
P  sie,  F  sia.    Vermutlich  sind  diese  formen  nur  auf  ein  versehen  der 


198  KAIM'K 

Schreiber  zurückzuführen.  TT20ii  verbessert  sich  V;  P  übernimmt  die 
unkorrigierte  form,  F  dagegen  die  gewöhnliche  form  sia,  obwohl  F 
IV  29 19  sie  schreibt  ^  Vereinzelt  begegnet  jedoch  in  ahd.  zeit  die 
abgeschwächte  form  .s/g  bei  T. ;  im  spätahd.  bei  Will,  verdrängt  xie 
die  form  s/rr.  Man  kannte  also  die  beiden  s/e-formen  der  Otfridhss. 
ebenso  auffassen  (vgl.  z.  b.  Braune,  Ahd.  gr.^  §  283,  anm.  1,  h).  IV 29.24 
fand  sich  in  P  für  den  n.  sg.  fem.  die  form  sie.  An  ein  eindringen  der 
für  Otfrid  nur  in  jenen  zwei  fraglichen  versen  belegten  abgeschwächten 
form  des  acc.  sg.  fem.  wird  kaum  zu  denken  sein.  Auch  hier  liegt  es 
näher,  ein  versehen  der  Schreiber  anzunehmen. 

In  unbetonter  satzstellung  hat  sich  aus  der  betonten  form  sia  eine 
unbetonte  sprechform  sa  entwickelt.  Wir  haben  darin  ein  analogon 
zu  der  tiefstufe  se  des  n.  acc.  pl.  m.  sie  zu  sehen.  Der  fallende  di- 
phthong  setzte  sich  in  einen  steigenden  diphthongen  um ;  das  postkon- 
sonantische /  fiel,  wie  stets  im  9.  Jahrhundert".  Die  tiefstufe  sa  stellt 
sich  bei  Otfrid  am  reinsten  in  einsilbiger  Senkung  vor  konsonantisch 
anlautender  liebuug  dar.  8  belege  der  sprechform  sa  beweisen  gegen- 
über 19  schreibformen,  dass  hier  für  den  Vortrag  nur  die  tiefstufe 
des  pronomens  geltung  hat.  Ausserdem  begegnet  die  form  sa  neben 
der  vollform  sia  zuweilen  als  schreibform  an  zw^eiter  stelle  des  auf- 
takts  und  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung,  wo  der 
Vortrag  nur  die  Schwundstufe  s-  des  pronomens  kennt.  In  der  Senkung 
ist  die  Schwundstufe  188  durch  die  Schreibung  sq,  1 6  3  durch  sia 
dargestellt.  In  den  andern  3  belegen  finden  sich  die  formen  sia  sa 
xia.  Im  auftakt  begegnet  IV28i6  die  form  sa,  IV  29 19  sia.  Die 
hs.  F  zeigt  in  der  Senkung  2mal  die  form  si,  obwohl  ihr  die  tiefstufe 
sa  durchaus  geläufig  ist:  1\  2.21  qua d^  man  sia  niohti  scioro;  man  fehlt 
in  F,  si  F.  IV  324  ni  sia  raarti  thaz  ser,  F  sl.  Diese  form  findet 
wohl  am  einfachsten  ihre  erklärung,  Avenn  man  sie  als  form  des 
n.  sg.  fem.  anspricht. 

Wir  haben  schon  wiederholt  beobachtet,  dass  die  eingangssenkung 
nicht  mit  der  Senkung  im  versinnern  auf  eine  stufe  gestellt  werden 
darf.  Der  auftakt  setzt  mit  erheblicher  druckstärke  ein.  Wie  bei  den 
übrigen  diphthongischen  einsilbigen  formen  des  anaphorischen  pro- 
nomens  haben   wir   auch  hier  für  den  auftakt  die  vollform  sia  auzu- 


1)  Noch  bei  N  lautet  der  acc.  sg.  fem.  sia. 

2)  Solche  redaktionell  von  diphthongen  unter  schwächerem  akzent  und  in 
satztieftoniger  Stellung  finden  sich  sehr  gewöhnlich  in  volkstümlicher  rede.  Winteler, 
Kerenzer  mundart  s.  118  hat  sie  zuerst  in  den  heutigen  dialekten  nachgewiesen. 


HIATUS    UND    SVNALÖPHE    BEI    OTFlilD  199 

setzen.  Sie  ist  Illeo  nnd  III 24 12  vor  konsonantisch  anlautender 
liebung-  belegt.  1 3  32  erscheint  die  vollform  sia  vor  der  verbalform 
ist;  der  sonant  des  verbums  fällt  als  der  vokal  geringerer  schallfülle : 
1832  i^ici  ist  enyilo  nu'niiji,  P  ^^ia  ist. 

In  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung  hat  nur  die 
Schwundstufe  des  pronomens  statt.  V850  ist  der  anlautende  konso- 
nant  der  hebung  vorgeschlagen;  I87  zeigen  alle  hss.  die  vollform  sia. 
Die  satztieftonige  ablautsstufe  des  pronomens  vermag  sich  in  ein- 
silbiger Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung  nicht  zu  behaupten. 
Die  ganz  schv^ach  artikulierte  tiefstufe  des  pronomens  werden  wir 
daher  vor  dem  pronomen  es  als  zweiter  senkungssilbe  auf  die  Schwund- 
stufe herabsetzen  müssen.  Wenn  sich  IV34i  thiu  götes  kraft  sies 
nötta  in  allen  hss.  das  kontraktionsprodukt  sies  findet,  werden  wir 
darin  eine  schreibform  zu  sehen  haben,  die  nach  analogie  der  für  den 
n.  acc.  pl.  m.  in  betonter  und  unbetonter  satzstellung  umlaufenden  form 
sies  gebildet  ist. 

C.  DemoustratiTprononiina. 

1.  Die   Präposition   zi  vor   den   formen    des  demonstrativ- 

pronomens. 

A.  Das  pronomen  trägt  einen  haupt-  oder  nebeniktns. 

I.  Die   praep.  füllt   allein    den   auftakt  oder  die  Senkung. 

1.  Den  auftakt. 

ni926  si  then,  ir  b/rut  filu  setz.  VlSas  si  then  ginöson  uharlut.  Ibe  si 
theru  itis  frono.  111 26  zi  tfteru  steti  ft'iart  er.  II 11 2  zi  thent,  lieimingi.  V  ISe 
zi  thera  selbun  ivisun.  1 183  zi  ttiemo  kästelte.  I14i9  zi  themo  drtlhtines  hus. 
118 32  zi  themo  laute  in  gdhe.  12234  zi  themo  fierote.  1126  ei  themo  ouh  thie 
4warton.  P  themo.  11  3 55  zi  tliemo  felitanne.  11452  zi  ttiemo  drilhtines  hüs—lii. 
11764  zi  ttiemo  flghoume.  11 14 117  zi  tliemo  seihen  wlhe.  11102  zi  ttiemo  heiminge. 
niSs  si  themo  scönen  laute.    20  zi  ttiemo  götes  biete.    111224  21 23  2445  93;  IV 536 

16u     1732     2O4     29b5    355     864;     V4l0     04     lOl    20b6    23264   2328  =  130    172    184   206    220 
232   242    256    270   284    296. 

2.  Die  Senkung. 

nSso  ttio  zi  ttien  rächen.  IV  35  40  ouh  zi  tlien  raction.  12335  Er  sprdti 
zi  tfien  es  rüahtun.  HI  4 15  Thar  zi  th4n  gizaltan.  1146  er  si  zi  ttieru  gibiirti. 
I23i  quam  zi  theru  stüllu.  2  ouh  zi  ttieru  zlti.  III  440  er  sar  zi  th4ra  fristi  =  2062. 
in  23 17  sar  zi  ttieru  fristi  =  Y  2569.  V1727  Sar  zi  ttieru  stullu.  I25i  quam, 
kr  ist  zi  ttiemo  thlnge.  II 824  ttidr  zi  themo  götes  tius.  II 10  22  joti  ivir  zi  ttiemo 
giiate.  II 11 62  tho  zi  ttiemo  sinde.  II 1438  nist  lang  zi  ttiemo  thinge.  1111490  tho 
zi  thdmo  friste.  IV  16 28  sar  zi  ttiemo  ivipjilie.  IV  20 3  thdr  zi  themo  pdlinzJms. 
VSe^o/i  er  zi  ttiemo  grabe  quam.     Y  Gib  joh  quam  zi  ttiemo  grabe  ouh  er. 


200  KAPPE 

n.  Die   Präposition    steht   an    zweiter   stelle   der  Senkung 

oder  des  auftakts. 
1.  In  der  Senkung, 
a)  Der  sonant  der  präposition  ist  synkopiert. 
V2561  Er  bieget  zemo  güate.    1112454  thie  qudmun  zi  themo  thinge.  Y  zemo. 

b)  Alle  hss.  zeigen  die  orthographischen  normalformen  nebeneinander. 

12242  tho  sprdh  si  zi  themo  klnde.  III 20 54  thära  zi  themo  thinge.  1112360 
mit  imo  zi  themo  fälle.  1112464  thära  zi  themo  Hoben  man.  97  thära  zi  themo 
döten.  III 253  Thära  zi  themo  ringe.  5  qudmun  zi  themo  thinge.  IV  63  thära  zi 
themo  götes  hus.  IV  1021  ther  queme  zi  themo  fäter  sar.  rV274  zuene  zi  themo 
mze.  V 194  ni  er  queme  zi  themo  thinge.  V25ö8  er  scöwot  zi  themo  giiate. 
11026  joh  sprdh  ouh  zi  theru  mi'caier.  111225  Thas  er  zi  tMru  icisun.  P  Thdz. 
II 14 100  unz  se  odo  u-driin  zi  theru  bi'irg.     IV  934  nu  främmort  zi  theru  redinu. 

2.  Im  auftakt. 

ni253io/t  zi  themo  selben  thinge. 

B.  Das  pronomeii  steht  im  auftakt. 

I.  Der  sonant  der  präposition  ist  synkopiert. 

zen. 
1222  zen  höhen  gizitin.  1225  Zen  tvihen  zitin  füarun.  128 11  zen  gotes 
driittheganon.  II  i486  zen  liutin,  sägeta  thiz  al  in.  11192  zen  seltsanen  werkon. 
m  1034  zen  wihen  zitin  fiiarun.  36  zen  stetin  filu  tvihen.  1112342  zen  jüngoron 
slnen.  rV1249  zen  östoron  toaz  giwt'inni.  IV  346  zen  liutin  in  thia  biirg  in. 
26  zen  östoron  quamun.    V  7 16  zen  höubiton  ther  ander.    60  zen  jüngoron  si  sar  Uta. 

ses. 
I  23  4  zi  thes  eivarten  kinde.     P  si  thes. 

zir  -  zer  (dat.  sg.  fem.). 
1 26 10  zir  heilegun  undu.  I  6  2  sind  die  schreibformen  in  V  erst  durch  den 
korrekter  hergestellt:  zi  ther  iru  mäginnu  V  zetheriru  (the  vom  korrekter  über- 
geschrieheu). F  ze  thero.  P  zi  ther.  11162  sind  die  schreibformen  in  V  erst 
durch  den  korrekter  hergestellt :  ze  thero  öberostun  noti.  V  the  und  0-  zukorrigiert. 
P  zi  theru.     F  ze  theru. 

z  e  m  0. 
11146    zemo    öphere    scolta.     111324   zemo    siine,    sih   nu   zdlta.     1112662   zi 
iliemo  höhen  himilriche.     P  zemo. 

IL  Alle   hss.    zeigen   die   orthographischen   normal  formen 

nebeneinander. 

z  i  t  h  e  n. 
II 363  zi  then  drühlines  ginddon.     II 11 59  zi  then  östrigen  gizitin.    lliliozi 
then  kristes  göumon  sizzen.    in  17  5  zi  then  hdroston  allen.    V459  zi  then  jüngoron 
sinen.     V7i5  zi  then  füazon  saz  ther  eino.     VI67  zi  then  süben  sconen  zitin. 


HIATUS   UND    SYNALÖPHE   BEI   OTFRID  201 

zi  thes. 
II  448  si  thes  mennisgen  ziihti.     IIIlSco  zi  thes  götitisses  güati.     III  24  90  zi 
thes  fater  banne  filu  frdm.     IV  1 26  21  thes  krüzotines  heile, 

zi  theru. 
112 19    Zi    theru    hiirgi    faret    h/'nana.      1172    zi    theru    drühtines    gihiirti. 
12231  zi  theru  bürg,  thar  siu  ivärun.     12351  zi  theru  wiirzelun  gisezzit.     II 3 11  zi 
theru   drühtines  gibiirti.     II 9  8    zi   theru   brüti  ginanle.     II 13 14   zi  theru   stiinmu 
fräwnlicho.     TV  21 2  zi  theru  ihrdu.  thia  er  in  zelita. 

zi  fhero. 
1112054  zi  thero  füristono  ringe.     IV  1922  zi  thero  b/skofo  thinge. 

zi  themo. 
ISs    zi  themo   ira   heiminge.     19 ig   zi   themo   sdligen   wibe.     116 7  zi  themo 
gotes   hüs  fuar    si   sär.     126  5    zi   themo    Jieilegen   döufe.     128 12    zi   themo   hohen 
Mmilriche.     1X837    zi    themo    Mresten    sih    tvantin.     111421    zi   tliemo    wdzare   imo 
zeinti.     IV  48;  V23i88. 

C.  Das  pronomen  steht  in  der  Senkung. 

I.  Der  sonant  der  präposition  ist  synkopiert. 

zen. 
II14i  fudr  hrist  zen  Mimingoa.  V  zi  then.  P  zen  (aus  zi).  117  35  -£/V 
sprah  zen  ewarion.  1 1812  joh  zen  inheimon.  EL  lös  joh  sih  zen  sinen  guatin. 
III 2327  Er  sprah  zen  jiUigoron  thö.  IV  37 19  So  er  zen  wlbon  thar  tho  sah. 
111789  io  zen  göumon  sinen.  III  Sie  thie  thar  zen  göumon  sazun.  11124 103  tho 
zen  ji'mgoron  thar.  IV  3 17  ther  zen  ostoron  quam.  IV  9  31  so  iz  zen  thürftin 
gitjeit.  1112480  spräh  er  tho  zen  sinen.  IV  7  91  in  then  öliberg  zen  ndhton. 
IV225  Sprdh  er  tho  zen  liutin.  IV23i  Pildtus  giang  zen  h'utin.  V436  sprah 
tho  sar  zen  ivlbon.  V  5 1  tho  zen  jüngoron  sar.  V  8 17  Tlier  zen  höubiton  sdz. 
19  Tiien  man  zen  fuazon  gisdh.  V  I272  mit  thiu  zen  gotes  minnon.  H79  tho  er 
zen  alten  ddgon  quam.    An  zweiter  stelle  der  Senkung:   V  10 2  thdra  zen  iro  selidon. 

zes. 
II 1445  Theih  zes  püzzes  diufi.     P  Theih  zi  thes. 

zer  —  zeru. 
IV  5  35  thih  zer  heimivisti.     III15i8  thaz  er  zeru  flru  quami. 

zeni  —  zenio. 
11969   thaz   loas   zem    öpphere  gimah.     V  zem    (aus   zi).     1111455   tho   zemo 
dbande.     IV  2 7    Tho   zemo   dbande   sdr.     196    tho    zemo   dntdagen   sdr.     VII5  Ni 
zemo  dntdagen  min.     V2567  Liiagent  io  zemo  drgen. 

II.  Alle   hss.  zeigen   die   orthog-raph  i  sehen   normal  formen 

nebeneinander. 

zi  theru. 
IV  439  so  iz  thö  zi  theru  reisu  biquam. 

zi  themo. 
II 5 11  mit  thiu  zi  Ihemo  dndremo  man.     IV  11 11  tho  zi  themo  abande. 


202  KAI'I'E 

Die  Statistik  lehrt  ein  doppeltes.  Otfrid  braucht  die  kontrahierten 
und  unkontrahierten  formen  nach  versteehnisehen  i;esichtspunkten,  die 
sieh  in  festen  rei>eln  ausdrücken.  Innerhalb  des  bereiches  der  kon- 
trahierten formen  erscheinen  die  nicht  kontrahierten  formen  als  schreib- 
formen. Kontraktionen  geht  die  präposition  zl  mit  folgenden  formen 
ein :  then  thes  tlicru  thcro  themo. 

Trägt  das  pronomen  einen  Raupt-  oder  nebeniktus  oder  tritt  die 
präposition  allein  in  den  auftakt  oder  in  die  Senkung,  so  hat  keine 
kontraktion  statt.  46mal  findet  sich  im  auftakt,  22mal  in  der  Senkung 
die  vollform  der  praeposition. 

Steht  die  präposition  dagegen  an  zweiter  stelle  des  auftakts  und 
der  Senkung  vor  dem  betonten  pronomen,  so  lässt  der  Vortrag  stets 
kontraktion  eintreten.  Es  lassen  sich  allerdings  nur  2  belege  für  den 
dat.  zemo  beibringen;  diese  beiden  verse  genügen  jedoch,  in  den  übrigen 
12  halbversen  die  vollformen  zl  fliemo  als  schreibformen  zu  erweisen. 
Danach  wird  man  auch  für  115  26,  III220,  14 100,  IV  9  34  die  kontra- 
hierte form  zeru  an  stelle  der  vollform  zi  tlieru  postulieren  müssen. 
Nach  analogie  der  Senkung  wird  man  den  auftakt  behandeln:  III  253 
joh  zl  themo  selben  th'inge. 

Wenn  das  pronomen  mit  in  den  auftakt  oder  in  die  Senkung 
tritt,  kennt  der  Vortrag  nur  die  unbetonten  kontrahierten  formen.  Die 
belege  sind  sehr  zahlreich.  Im  folgenden  abschnitt  wird  dargetan, 
dass  im  auftakt  und  in  der  Senkung  nicht  die  vollformen  thera  titcru 
thero  sondern  die  unbetonte  kurzform  ther  geltung  hat.  Der  Vortrag 
erreicht  durch  die  kontraktion  also  regelmässigen  Wechsel  von  hebung 
und  Senkung.     Es  stehen  sich  gegenüber: 

im  auftakt 
13  zen  7  zi  then 

1  zes  4  zi  thes 

1  zir  2  zer  8  zi  theni 

2  zi  thero 
3  zemo  9  zi  themo 

in  der  Senkung 
22  zen  — 

1  zes  — 

1  zer  1  zevu  1  zi  theni 

1  zem  5  zemo  2  zi  themo. 

Diese  kontraktionserscheinung  regelt  sich  also  nach  genau  den- 
selben gesetzen,  die  sich  für  die  synalöphe  ergaben. 


I 


HIATUS    UND    SYNALÖl'HK    BEI    OTFRIÜ  203 

Die  karolingische  Orthographie  verlangte  die  unkontrahierten  voll- 
formen. Die  kontrahierten  formen  gehören  der  archaischen  Schreib- 
weise an.  Zuweilen  stehen  sich  in  den  Varianten  sprechform  und 
schreibform  gegenüber;  zuweilen  hat  der  korrekter  in  V  die  sprech- 
form in  die  schreibform  umgesetzt  -  doch  ohne  konsequenz;  die 
sprechformen  nehmen  noch  einen  breiten  räum  ein. 

2.  Dat.  sg.  fem.  theru;   gen.  sg.  fem.  thera;   gen.  plur.  thero. 

Dat.  sg.  fem.  theru. 
A.  Unter  dem   liaiipt-  oder  nebeniktus  vor  konsonantisch  anlautender  silbe. 

I.  Vor  konsonantisch  anlautender  h  e  b  u  n  g. 
1.  In  mindestens   einer  hs.  findet  sich   die  kurzform  ther. 

Das  prouomen  trägt  einen  nebeniktus  in  einer  präpositionalen  wendung,  die 
durch  eine  zweisilbige  präposition  eingeleitet  ist :  1 22  44  mir  üntar  theru  henti. 
P  ther.     rV  1544  quad,  after  tlieru  thidü.     P  theru. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  zweisilbige  form. 

a)  Unter  dem  nebeniktus  in  einer  präpositionalen  wendung,  die  durch 

eine  zweisilbige  präposition  eingeleitet  ist. 

1239  Sar  thuzar  thiru  menigi.  11 11 32  ingegin  thera  ddti.  11216  innan 
theru  hriisti.     V  21  is  inti  innan  theru  hn'isti. 

b)  In  zahllosen  Wendungen,  die  durch  eine  einsilbige  präposition  ein- 
geleitet sind,   ti'ägt   das  pronomen   einen  haupt-  oder  nebeniktus.     Es 

hat  nur  die  zweisilbige  form  in  allen  hss.  statt. 

Z.  b.  111 26  zi  thiru  uteti  füart  er.  111140  sar  in  theru  noti.  11526  joh 
sprüh  ouh  zi  thera  müater.  V52i  Er  stuant  fon  theru  steti  früa.  1232;  111225 
2I20;  in44o  848  9i9  1026  45  1496  2084  23i7;  I23i  II34;  IIII2  14ioo;  HI  20 58  -e 

2642    52;     IV148     3l5     458     757     934     1067     1822     1559     242     285     2944     36 18 ;     VIO2O    36 
11  18    1727    21  18    2368    2559. 

IL  Vor  konsonantisch  anlautender  Senkung. 

2  belege  der  vollform  unter  dem  nebeniktus:  1146  er  si  zi  theru  giburti. 
Eni 37  mit  theru  si  iz  mithont  fillit. 

B.  Unter  dem  liauptiktus  vor  vokalisch  anlautender  Senkung. 
Das  pronomen  hat  demonstrative  funktion. 

1.  Der  sonant  der  senkungssilbe  ist  elidiert. 

U37  thanne  in  tMru  ist,  thiu,  nan  här.     P  ist. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 
V857  i'oii  theru  intfdiient  (theist  ouh  ivib). 


204  KAi^rE 

C.  Im  auftakl  vor  konsoiiautisch  anlautender  silbe. 

I.  Das  pro  110 111  eil  steht  allein  oder  mit  der  praep.  zl  im 

auftakt. 
1 .  Die  k  11  r  z  f  o  r  m  e  r  s  c  li  e  i  n  t  i  ii  mindestens  eine  r  h  s. 

12251  ther  thineru  gisi'mti.     I26io  zir  lieüeguu  undii. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 
1247  theni  thinera  giscefti.     1476  theru   sp7-dhq    er  bilemit  ivas.     194  theru 
drühtines  gifti.     19  30  10  s  2229  274;  III 7  832  449;  IHllu  20 172  22  30;  V2677. 

zi  theru. 
I12i9  Zi  theru  hi'irgi  faret  hlnana.    111 2  223i  235i;  EESn  98  13i4;  IV  272. 

IL   'ni  theru  vor  konsonantisch  anlautender  hebung-. 

II 50  in  theru  sibuntun  girestes.     12 15  17 70;  II  Is;  111202;  VlGso. 

D.  Im  auftakt  vor  Tokalisch  anlautender  hebung. 

1.  Die  kurzform  erscheint  in  mindestens  einer  hs. 

11162  ze  thero  öberostun  noti.  V  {the  und  0  zukorrigiert).  P  zi  theru. 
F  ze  theru.  I62  zi  ther  iru  mäginnu.  V  zetheriru  (the  vom  korr.  übergeschr.). 
F  ze  thero.     P  zi  ther  iru. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  form. 

12246  tJiera  cinigun  muater.     12350   theru  luwcru  gilati. 

E.  In  der  Senkung  vor  konsonantisch  anlautender  hebung. 

I.  Das  pronoinen  allein  in  der  Senkung. 

1.   Die   kurzform   ther    erscheint   in    mindestens    einer   hs. 

rV635  thih  zer  heimwisti.  19 14  thdz  man  in  ther  ndmiti.  I20i8  nem  iz 
foti  ther  brusii.  II  5  21  i^r  sih  ouh  fori  ther  höhi.  III 12  36  ir  stentit  in  ther  fösti. 
1112063  Thanne  6uh  fon  ther  menigi.  IV  828  was  er  ouh  in  ther  fdri.  17 n  gisciad 
foii  ther  güati.  F  theru.  122 11  er  tvdri  mit  ther  mitater.  F  thera.  12333  I'''uar 
er  mit  ther  brddigu.  F  theru.  II 446  thoh  iv6lt  er  in  ther  fdri.  F  thera.  111442 
süntar  fon  ther  menigi.  F  titer u.  111822  wdrun  in  ther  nöti.  F  deru.  1111041 
irkdnt  er  in  ther  brüstt.  F  theru.  III 20 104  ther  wönet  in  ther  giiati.  F  dero. 
IV  755  ther  Mime  ist  in  ther  festi.  F  dera.  IV  16 31  Tho  wdnt  er,  in  ther  nöti. 
F  dera.  IV 18  22  quad,  er  nan  in  ther  gdhi.  F  deru.  IV 1928  ihaz  sie  nan  in 
ther  fdru.  F  deru.  I64  joh  spilota  in  theru  mdater.  F  theru.  P  theru  (quer- 
strich  des  r  rad.  und  u  angeschrieben).  121 10  sdman  mit  ther  mdater.  P  thera 
(a  zugeschr.).  III 11 22  ni  firliaz  ouh  in  ther  noti.  P  thera.  F  theru.  III 14  40  tho 
mit  hont  in  theru  fristi.     P  theru. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollforni. 

114 19  Siu  füarun  fon  theru  bürg  uz.  120 13  thdr  iz  in  theru  wdgun  lag. 
11025  Thaz  ir  theru  selbun  ferti.  II 756  ni  hdbet  in  theru  brusti.  II 8  4  thetno 
Wirte  joh  theru  briUi.  II 11 4  so  füar  er  fon  theru  bürg  uz.  64  thie  in  wdrun 
in   theru   brusti.     II  1493  fon    theru   bürg   alle.     III 56    then    Ifdin  joh    thera   sSla. 


HIATUS   UND    SYNALÖPHE   BEI    OTFRIU  205 

ni8i4  tliaz  u-etar  in  theru  ferti.  V  theru  (acc.  rad.)-  III  14i2  ther  lit'dfi  im  in 
theru  nöti.  51  Mäht  lesan  in  theru  redinu.  lUlSis  thas  er  zerti  firu  quami. 
HE  19 18  thdr  thera  selbun  menigi.  III 22 1  Gisiüantun  in  thera  nähi.  IV  2223  Sie 
ndmun  in  thera  dciti.  1112262  gilöubet  thoh  thera  dciti.  rV439  so  iz  thö  zi  theru 
reisu  hiquam.  17  26 19  sie  scrigtin  fon  thera  bdru.  IV  283  thie  in  ihent  ddtiwari. 
V741  Thas  ih  thoh  in  thera  döti.  ¥  deru.  V9io  giang  üuh  in  thera  ferti.  P  ouh. 
VI 44  then  rüarta  mit  theru  lichi.  V1245  instüantin  in  thera  Uchi.  94  tvi  er  zdlta 
in  fon  theru  minnu,  V2O27  fon  theru  fdlawisgu.  V  23 144  ist  mera  imo  in  thera 
brüsti.  H  32  joh  fon  theru  sübun  farii.  V  fön  fdru  (akzente  rad.).  H  i44  fon 
theru  minnu  managaz  er. 

IL  Das  pronomen  an  zweiter  stelle  der  Senkung-. 
1.  Alle  hss.  zeigen  die  kurz  form  iher. 

IV462io/t  lizar  ther  biirg  thringit. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 
Die  vorhergehende   hebung  hat  kurze   Wurzelsilbe:   II 820   thaz  htmil  theru 
wörohi  ougit.     III 614  fora   theru   wihun   ziti.     IV  18  9    Tho   sprüh    er  fora   theru 
menigi. 

F.  In  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung. 

I.  Das  pronomen  allein  in  der  Senkung. 

1.  In  mindestens   einer  hs.  findet  sich  die  kurzform  ther. 
ni3i9  Ther  fon  ther   erdu   hinana  ist.     1456    int   uns   ist   iz   in  ther  elti. 
1 9 12  then  fdter  in  ther  elti.     I  23  es  thir  sdgen  ih  fon  ther  dkas.     F  tliero. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 
1112321  Thaz   in   thera    ümmahti.     P  in.     VI613  Tiiaz   in   thera   üngiivurti. 
V  25 101  Si  giiallichi  thera  ensti. 

II.  Das  pronomen  au  zweiter  stelle  der  Senkung. 

III8i8/«5/o  oba  t/itr  i'mdu. 

Gen.  sg.  fem.  thera;  gen.  plur.  thero. 
A.  Im  auftakt  Tor  konsonantisch  anlautender  silbe. 

I.  Das  pronomen  allein  im  auftakt. 

Der  gen.  sg.  fem.  thera  erscheint  nur  in  der  vollform. 

L84  thera  selbun  küninginna.     I812  thera  fr eisun   ouh  irlosta.     1226  82?  28 

483  816    176    2O14;    II  649    936    IO2I    1240    Us;    HI  6l9   7  61  72  IO4O  1355  1770 ;    IV  521  22 
1350    2945;    V645    820    1251    1029    23248;    H  128. 

Der  gen.  plur.  thero  erscheint  Imal  in  der  kurzform. 
III  26  8  thera  selbun  götes  dato.     P  ther.     F  Dera. 

Sonst  stets  in  allen  hss.  in  der  vollform. 

IJI206i  zi  thero  füristono  ringe.  IV  1922  ^i  thero  btscofo  thinge.  IIS 22  thero 
ivdrono  wortn.  128  thero  stnero  ivorto.  1459  70  II22  154  173o  19ii  2238;  11726 
94  12  93  II37  1473  I639  2I16;   ni4i7    655    750  1038  12i8  1443  100  15i6  20i62  23 1 ; 


206  KAIM'E 

IVllO    35     124    U    22     15l4    52     194     2321     27 1     31  1    g;     V6i2     748    1262    1420    1537    22 15 

23ii  2B35;  H 106  111  113  119;  Ho. 

IL  Der  gen.  plur.  thero  au  zweiter  stelle  des  auftakts. 
1.  In  mindestens   einer  hs.  findet  sich  die  kurzform  ther. 

V  1729  julc  ther  ivdgano  yistelli.     F  dero. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 

II 10  9  in  thero  biiahstabo  sUhtü     III  7  75  in  thero  hüahstaho  herti. 

B.  Im  auftakt  vor  vokalisch  anlautender  hebunj?. 

1.  Die  pronomina  allein  im  auftakt. 

1.  lu   mindestens   einer  hs.  findet  sich  die  kurzform  ther. 

a)  Gen.  sg'.  fem. 

12349   thera  iuivera  sldhta.     P   ther.     F   therro.     IV  33  3    thera   drmaUchun 
ddti.     P  ther.     F  Dera.     V  12  88  thera  ira  frdmhari.     F  Der. 

b)  Gen.  plur. 
12750  thero  ündono  ni  irsihu.    V  thero  (0  hiuzukorrigiert).    P  ther.   F  thera. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen. 

a)  Gen.  sg.  fem. 

111844    t/iera    nngilouha    hdrto.     III 23  30    thera   ererun    ddti.     IV  16  24    thera 
drmilichun  fdra.     V934  12  50. 

b)  Gen.  plur. 

II 100    t/iero    eigmi   si   10   glmiagi.     II  des    thero  engilo  stiura.     IV  5 12  thero 
ümmezlicha  hürdin.     IV  34 20;  V47  28293  25 7  97;  H 71; -HI  22 20. 

IL  Der  gen.  plur.  thero  an  zweiter  stelle  des  auftakts. 
12746  in  thero  dmbaht  is  gigange.     P  in  thero.     F  in  tJienc. 

C.  In  der  Senkung-  vor  konsonantisch  anlautender  hebun^. 

I.  Die  pronomina  allein  in  der  Senkung. 

1.  In   mindestens   einer  hs.  findet  sich  die  kurzform  ther. 

a)  Gen.  sg.  fem. 

117  21  thoh  tvir  thera  bürgt  irron.     F  P  thera. 

b)  Gen.  plur. 

II 1289   W(^rko  joh   thero    dato.     V  thero   (0  zukorrigiert).     P  ther.     F  thero. 
H  1   Oba  ih  thtro  büacho  giiaii.     V  thero  (o  zugeschrieben). 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen. 
a)  Gen.  sg.  fem. 

118  45   So    thti    thera    heimtoisii.     II 1165    ni   was    imo    thurft    thera  frdga. 
II 1234    bitharf  thera    r^inida    meist.     II 1467    Thoh    quimit    noh    thera    siti   frtst. 


HIATUS   UND    SYXALÖPHE   BEI   OTFRID  207 

III 16 14  er  thera  lera  wdiit.  III 1930  hri'stit  uns  tliera  ddti.  IIl20io6  qiiädan,  siJi 
tJiera  ddti.  r\^420  so  er  thera  reisa  higunni.  IVSi  Gisiüant  thera  z/ti  guati. 
IV  25 12  irlösta  nnsih  thera  htirdin. 

b)  Gen.  plur. 

13 17  Thaz  ivas  David,  thero  gomono  ein.  1459  Ih  bin  ein  thero  sibino. 
llSi  ni  girinnit  mih  tliero  worto.  II  9 19  S'ehsu  sint  thero  fdszo.  II 11 01  in  thero 
lluto  fara.  11122  fdristo  thero  li'uto.  ii  ther  güato  man  thero  wärt 0.  U  IS  3  thehein 
thero  förasagono.  P  theheinan.  II22i6  so  ein  thero  blüomono  thar.  III 6 55  thero 
fisgo  joh  thero  leibo.  III  7 12  io  so  spör  thero  ftiazo.  III  20 10  is  werk  thero  för- 
dorono.  4,2  jo7i  frag etun  thero  dato.  119  eiscoiun  thero  dato.  1112307  Qua d  Thomas, 
ein  thero  knehto.  IV  5  2  joh  in  tliero  Uuto  sänge.  8  ni  miduh  mih  thero  wörto. 
r\'b25  Nihein,  quad,  thoh  thero  vidnno.  IV  7 9  Göumet,  quad  er,  thero  dato. 
r\'19i3  ein  thero  männo  simo  sah.  n  joh  rdfsta  inan  thero  wörto.  IV  24 13  heri- 
scaf  thero  Uuto.  IV  26  5  Thiu  uih  thero  Idntliuto.  IV  8827  Ein  thero  knehto  thiz 
gisdh.  P  Ein.  V825  Gihögat  er  ouh  thero  fiiazo.  V14i9  ther  rim  thero  fisgo 
meinit.     H109  dhta  tho  thero  dri'do. 

IL  Die  pronomina  an  zweiter  stelle  der  Senkung. 
Es  begegnen  nur  die  vollformen. 

a)  Gen.  sg.  fem. 

II  722  sie  nuzzun  thera  heinnoist-i. 

b)  Gen.  plur. 

III  1938  firdregist  thero  manno  frdvili.  Hsg  thas  deta  thero  werko  githig. 
III 20  33  Quadun  sume  thero  knehto.  11 18  3  in  P  gegen  V:  thehein  thero  förasagono. 
P  theheinan: 

D.  lu  der  senkuugr  vor  vokalisch  anlautender  Iiebuug. 

Es  finden  sich  nur  belege  für  den  gen.  plur.  als  einzige 
Senkungssilbe. 

1.  In  mindestens   einer  hs.  findet  sich  die  kurzform  ther. 
V  23 179  io  thero  engilo  sank.     P  thero. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 

III 20  24  in  thero  öugono  stat.  IV  15 15  er  ein  thero  einlifo  ivas.  P  ein. 
III  6  üö  Joh  ward  thero  dleibo. 

Es  empfiehlt  sich,  die  3  formen  fherrt  thern  thero  zusammen  zu 
behandeln,  da  sie  im  9.  Jahrhundert  schon  nicht  mehr  deutlich  aus- 
einander gehalten  werden.  Neben  der  orthographischen  normalform 
des  dat.  thern  begegnet  zuweilen  eine  form  thero.  Die  mehrzahl  der 
belege  (12)  gehört  der  hs.  F  an  (vgl.  Kelle  II,  357  oben).  Einmal  er- 
scheint diese  form  auch  in  D :  1 23 1  nuäm  zi  theiii  stiHlu,  D  tJtero. 
Auch  V  scheint   sie   zu   kennen,   und   zwar  ist  sie  von  der  band  des 


208  KAI'l'K 

korrektors  nachträglich  in  den  text  gesetzt:  Illea  ze  thero  oberostim 
iioti  V  (tl/e  und  o  zukorrigiert),  P  zi  tlwrii,  F  ze  theru.  Man  wird 
in  diesen  formen  ein  kriterium  dafür  sehen,  dass  der  auslautende 
vokal  schon  auf  dem  wege  der  reduktion  begriffen  ist.  Wenn  hier 
die  form  des  gen.  plur.  eingedrungen  wäre,  müsste  sie  auch  im  gen. 
sg.  fem.  wiederholt  vorkommen.  Es  lassen  sich  jedoch  nur  2  belege 
beibringen:  IV  2639  thera  ivmeg]ieiti,Y  thero.    \  ^ ^2  furista  thera  güati , 

V  thera  {a  aus  u),  P  thero.  Für  den  dat.  erscheint  ferner  ungemein 
häufig  die  form  thera  unter  allen  akzentbedingungen  in  allen  hs.  (vgl. 
Kelle  II,  356).  Wiederholt  stehen  sich  theru  und  thera  in  den  Varianten 
gegenüber.  Umgekehrt  findet  sich  für  den  gen.  sg.  fem.  die  form  theru 
(Kelle  II,  356)   I  3  22  auch    die   form   thero :   I  3  22  furista   thera  güati, 

V  thera  {a  aus  11).,  P  thero. 

Die  ««-formen  im  gen.  sg.  fem.  könnten  allenfalls  ihre  erklärung 
darin  finden,  dass  das  kursive  oifene  a  der  vorläge  in  u  verschrieben 
sei.  Der  bunte  Wechsel  im  dat.  sg.  fem.  bliebe  jedoch  unaufgeklärt. 
Derselbe  formenreichtum  stellt  sich  endlich  auch  für  den  gen.  plur. 
ein;  es  lassen  sich  die  formen  tJiero  thera  theru  there  aufzeigen  (vgl. 
Kelle  II,  353 n)  358  6-  Braune^  nimmt,  wie  für  die  analogen  formen 
des  adjektivs  und  des  anaphorischen  pronomens,  formenausgleich 
zwischen  dem  gen.  thera  und  dem  dat.  theru  thero  an :  danach  sei 
die  dativform  schon  früh  in  den  genetiv  gedrungen,  der  gen.  nur 
selten  in  den  dativ.  Aber  gerade  die  form  thera  begegnet  überaus 
häufig  im  dativ;  ausserdem  treten  auch  für  den  gen.  plur.  alle  formen 
hervor.  Wir  stehen  hier  vor  demselben  formenkreis  wie  bei  den  ent- 
sprechenden formen  des  adjektivs  und  des  anaphorischen  pronomens. 
Man  wird  den  tatbestand  der  hss.  auch  hier  nur  durch  die  annähme 
begreifen,  dass  der  endvokal  dieser  3  formen  in  der  Umgangssprache 
des  9.  Jahrhunderts  schon  auf  die  stufe  des  irrationalen  vokals  redu- 
ziert war.  IV  5  57  scheint  in  der  jüngsten  Otfridhs.  F  schon  die  rein 
mhd.  form  dere  für  den  gen.  plur.  aufzutauchen.  Sogar  die  betonte 
einsilbige  mhd.  form  tlter  lässt  sich  in  erster  spur  schon  in  der  Um- 
gangssprache des  9.  Jahrhunderts  aufzeigen.  Der  dativ  sg.  fem.  ist 
2mal  in  der  betonten  kurzform  vor  konsonantisch  anlautender  hebung 
belegt:  l22uiMr  nntar  theru  henti,  V  ther.  V^  Xh^^^  quad,  after  theru 
thidti,  P  theni.  Beide  verse  zeigen  das  pronomen  in  einer  präpo- 
sitionalen  wenduug,  die  durch  eine  betonte  zweisilbige  präposition 
eingeleitet   ist.     Der   artikel   ordnet   sich   als  nebenhebung  der  ersten 

1)  Alid.  gr.2  §  287  aum.  1  d. 


HIATUS    UND    SYNALÖPHE    BEI    OTFRID  209 

dipodie  der  präposition  unter.  Mit  dem  Substantiv  beginnt  ein  neuer 
Sprechtakt.  Der  endvokal  des  artikels  fällt  also  an  die  schwächste 
akzentstelle.  Und  eben  unter  diesen  akzentbedingungen  wird  sich  im 
9.  Jahrhundert  die  betonte  kurzform  ther  entwickelt  haben.  Wird  die 
präpositionale  wendung  durch  eine  einsilbige  präposition  eingeleitet, 
so  erhält  je  nach  dem  bau  des  verses  entweder  die  praep.  oder  das 
pron.  den  akzent.  Trägt  das  pronomen  den  akzent,  so  zeigen  die 
verse  stets  eine  ganz  andere  rhythmische  gliederung,  als  wir  in  jenen 
beiden  halbversen  vorfanden.  Vgl.  z.  b.  1 1  yi  Joh  fand  in  theru  redinu. 
Die  satzrhythmische  pause  liegt  hinter  dem  verbum ;  das  pronomen 
schliesst  sich  mit  dem  Substantiv  zu  einem  Sprechtakt  zusammen.  Hier 
erhält  das  pronomen  einen  stärkeren  nebenakzent  als  hinter  der  hoch- 
betonten  zweisilbigen  präposition  am  ausgang  des  Sprechtakts.  Ganz 
ähnlich  liegen  die  rhythmischen  Verhältnisse  z.  b.  III26  ^i  theru  sf(;ti 
fuart  er.  Die  pause  liegt  hinter  dem  Substantiv.  Unter  diesen  um- 
ständen behauptet  sich  der  auslautende  vokal  des  pronomens.  Die 
hs8.  zeigen  ohne  ausnähme  die  vollform.  Die  kurzform  haben  wir  für 
den  Vortrag  nur  dann  einzusetzen,  wenn  das  pronomen  unter  dem 
abgeschwächten  nebenakzent  in  einer  durch  eine  zweisilbige  präposition 
eingeleiteten  präpositionalen  wendung  erscheint.  Diese  bedingungen 
sind  nur  in  4  versen  erfüllt:  12 39  Sar  thuzar  theru  menigi.  II 11 32 
ingegin  thera  ddti.  II216  /iinan  theru  hrnsti.  V  21  ig  intl  hinan  theru 
hri'isti.  Diese  betonte  kurzform  ist  jedoch  nur  im  dat.  und  nicht  für 
die  g-enetivformen  belegt.  Der  genetiv  des  pronomens  bildet  mit  dem 
folgenden  Substantiv  im  genetiv  eine  geschlossene  syntaktische  gruppe, 
die  sich  auch  rhythmisch  als  ein  Sprechtakt  darstellt.  Vgl.  z.b.  13  28 
miiater  thera  mdrun.  14lz6  fon  reue  thera  müater.  IBs  Adam  thero 
gömono.  I  27  44  m'rfhroz  se  thero  ivorto.  Die  satzpause  liegt  hinter  dem 
sb.  oder  vb.  Der  syntaktische  Charakter  des  genetivs  schliesst  also 
die  akzentverhältnisse  aus,  an  die  im  9.  Jahrhundert  das  auftreten 
der  betonten  einsilbigen  form  noch  gebunden  war.  Der  gen.  sg.  fem. 
und  der  gen.  plur.  erscheinen  daher  unter  dem  haupt-  und  nebenakzent 
vor  konsonantisch  anlautender  betonter  und  unbetonter  silbe  stets  in 
der  zweisilbigen  form;  die  belege  sind  so  zahlreich,  dass  ihre  Samm- 
lung unnötig  erschien.  Die  kurzform  des  dativs  wird  aber  allmählich 
ihren  geltungsbereich  erweitert  haben.  Mit  der  fortschreitenden  ab- 
schwächung  der  endvokale  bildeten  sich  auch  im  gen.  analoge  kurz- 
formen.  Schliesslich  mag  auch  die  analogie  der  vor  vokalisch  an- 
lautender unbetonter  silbe  hervortretenden  kurzform  ther  fördernd 
eingewirkt  haben.     In  den  Otfridhss.  ist  nur  der  dat.  2mal  vor  vokalisch 

ZEITSCHRIFT   E.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLH.  14 


210  KAPPE 

anlautender  Senkung  belegt:  II 3 7  th(i)ine  in  theni  ist,  thiu  nein  bar, 
P  ist.  Der  endvokal  des  betonten  pronomens  wurde  also  mit  erheb- 
lichem nachdruck  artikuliert ;  die  verbalform  lehnt  sich  hier  enklitisch 
an  das  kräftig  demonstrative  betonte  pronomen  an  und  verliert  daher 
ihren  sonanten.  Wahrscheinlich  wird  man  auch  V857  Fon  theru  inf- 
fdhent  (theist  ouh  wib)  den  sonanten  des  präüxes  hinter  dem  hoch- 
betonten demonsti'ativum  elidieren ;  sichere  entscheidung  ist  unmöglich, 
da  der  beleg  vereinzelt  ist. 

In  unbetonter  satzstellung  kennt  die  Umgangssprache  für  alle 
3  formen  nur  die  kurzform  ther.  Sie  ist  besonders  für  den  dativ  in 
präpositionalen  Wendungen  oft  belegt;  vor  konsonantisch  anlautender 
hebung  stehen  23  kurzformen  29  schreibformen  gegenüber.  An  zweiter 
stelle  der  Senkung  beweist  eine  kurzform  für  3  vollformen  des  dativs. 
Im  gen.  haben  die  Schreiber  wohl  aus  gründen  grösserer  syntaktischer 
deutlichkeit  nur  ganz  vereinzelt  die  kurzform  durchschlüpfen  lassen. 
Für  den  gen.  sg.  fem.  findet  sich  nur  1  sprechform  gegen  10  schreib- 
formen: 117  21  thoh  wir  tJierq  hilrgi  irron,  P  F  thera.  Für  den  gen. 
plur.  lassen  sich  2  belege  der  sprechform  beibringen:  1112^9  werko  j oh 
thero  dato,  V  thero  (0  zukorrigiert),  P  ther,  F  thero.  H  1  scheint  in  V 
die  sprechform  in  die  schreibform  geändert  zu  sein:  Hi  Oba  ih  thero 
büacho  güati,  V  thero  (0  zugeschrieben).  Die  belege  genügen  jedes- 
falls  auch  für  die  genetivforraen  die  satztieftonige  kurzform  ther  zu 
sichern.  An  zweiter  stelle  der  Senkung  vor  konsonantisch  anlautender 
hebung  begegnen  4  schreibformen  für  den  gen.  plur.,  eine  für  den 
gen.  sg.  fem. ;  sprechformen  sind  in  den  hss.  nicht  belegt.  Hier 
sind  für  den  Vortrag  natürlich  die  kurzformen  einzusetzen.  Spär- 
lich sind  die  kurzformen  im  auftakt  vor  konsonantisch  anlautender 
hebung.  Es  finden  sich  4  kurzformen:  2mal  für  den  dativ,  Imal  für 
der  gen.  plur.  in  •  einsilbigem  auftakt,  Imal  für  den  gen.  plur.  an 
zweiter  stelle  des  auftakts.  Die  vollformen  sind  überaus  zahlreich; 
den  gen.  sg.  fem.  erscheint  30mal  in  der  schreibform,  der  gen.  pl.  53, 
der  dat.  22mal ;  an  zweiter  stelle  des  auftakts  steht  der  dat.  6mal  in 
der  vollform,  der  gen.  plur.  2mal.  Die  wenigen  sprechformen,  die 
sich  der  normalisierenden  Orthographie  zum  trotz  durchgesetzt  haben, 
genügen  zum  beweis,  dass  auch  im  auftakt  nur  die  satztieftonige  kurz- 
form ther  statt  hat. 

Wenn  wir  an  erster  oder  zweiter  stelle  des  auftakts  und  der 
Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung  die  kurzform  vorfinden, 
handelt  es  sich  also  nicht  um  synalöphe,  sondern  lediglich  um  die 
Umsetzung  der  orthographischen  normalformen  in  die  ablautsstufe  ther, 


HIATUS    UND    SYXALÖPHE    BEI    OTFRID  211 

die  hier   allein  statt  hat.     Vgl.  die  belegstelleu  dat.  s.  204  D  205  F, 
gen.  sg.  fem.  s.  206  B  gen.  plur.  s.  206  B  und  II  s.  207  D. 

3.  Dat.  sg.  ni.  n.  themo. 
A.  Unter  dem  haupt-  oder  nebeuiktus   vor  rokalisch   anlautender  senkang^. 

1.  In  mindestens   einer  hs.  erscheint  die  kurzform  tliemo. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

Vor  iz. 
19  25  thia  Idz  ih  themo,  iz  lisit  tJiar.     P  themq  iz. 

Vor  ouh. 
112b  Zi  themo  ouh  thie  ('warton.     P  themo. 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 

Vor  ouh. 
ni  1242  ni  will  ih  tliemo  ouh  widoron.     P  themq. 

Vor  er. 
VI63  Fon  themo  er  unsih  retiia.     P  themq. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  formen. 

a)  Unter  dem  nebeniktus. 

Vor  ist. 
II 1284  thaz  themo  ist  giioisso  irdeilit. 

Vor  ih. 

IV  1237  themo  ih  hiutu  tids  hröt. 

Vor  in  (praep.). 

II  21 44  (jizelit  sint  themo  in  drdti. 

Vor  ir-. 
1117?  fora   themo   irstdnttiisse.     IV  8622   in   themo   irstdntnisse.     IV  37  43  = 
V  8 12/0«  themo  irstdntnisse. 

b)  Unter  dem  hauptiktus. 

Vor  ist. 

III  20 i:,i  j oll  themo  ist  io  gimiiati. 

Vor  ih. 
11116 14 /on  thimo  ih  hin  gisentit. 

Vor  ir-, 

V  21 10  ^oaz  ivanist  themo  irgange. 

Vor  ouh. 
VSs   Weiz,  themo  ouh  haz  zdweta. 

B.  Im  auftakt  vor  vokalisch  anlautender  hebung. 

I.   Das   pronomen   steht   allein    oder   mit   der   praep.  zi  im 

a  u  f  t  a  k  t. 

1.  Der  endvokal  des  pronomen s  ist  elidiert. 

II  5 15  Themo  dlten  det  er  snazi.     P  Themq. 

14* 


212  KAl'PE 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 

1242  themo  egislichen  fälle.  II 1337  Thema  avur  thäz,  ni  gidilat.  IV6i8 
thetno  Einigen  kinde.  IV  7  86  themo  egisen  intfliahet.  IV  18  21  themo  er  thaz  6ra 
thana  sliiag.     IV  2651  themo  ümbiderben  wälde.     H34;  III 46;  ISg;  V23i88. 

II.  Das  pronomen  steht  an  zweiter  stelle  des  auftakts. 
1.  Der  endvokal  des  pronomens  ist  elidiert. 

122 14  in  themo  dfteren  gange.  P  themo.  1112122  fon  themo  alten  ßnstar- 
nisse.     P  themo  alten. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 

1285  in  themo  ürdeile  helfa.  Hln  in  themo  e'winigeii  miiate.  II 24 41  in 
themo  hvinigen  llbe.  IV  7  27  fon  themo  endidagen  thdre.  V  20 28/0«  themo  irdis- 
gen  herde. 

C.  In  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung. 

I.  Das  pronomen  steht  allein  oder  mit  der  praep.  z i  in  der 

s  e  u  k  u  n  g. 
1.  Der  endvokal  des  pronomens  ist  elidiert. 

1234  in  themo  einote  Inne.  IV  36$  mit  themo  alten  nide.  P  themo  11959 
thaz  was  zem  öpphere  gimah.  V  zem  (aus  zi).  IV  2  7  Tho  zemo  ähande  sdr. 
P  zemg. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  form. 

n  146  in  themo  ägileize.  II  22 14  thie  in  themo  dkare  Stent.  rV468  in  themo 
öliberge  =  76.  V25  Zi  thiu  ouh  in  themo  ende.  V  23269  Ni  wirthit  in  themo  erbe. 
II 978  noh  themo  einigen  ni  leip.  rV22i  ther  io  in  themo  ärgeren  icas.  196  tho 
zemo  dntdagen  sär.  II 5 11  mit  thiu  zi  themo  ändremo  man.  III14öö  tho  zemo 
äbande.  IV 11 11  tho  zi  tliemo  ahande.  VII5  Ni  zemo  dntdagen  min.  V2567 
Liiagent  io  zemo  argen. 

II.  Das  pronomen  steht  an  zweiter  stelle  der  Senkung. 
114 11  Thier  in  themo  eristen  man.     P  Thicr. 

Der  dat.  sg.  m.  n.  themo  erscheint  unter  dem  haupt-  oder  neben- 
iktus  vor  konsonantisch  anlautender  betonter  oder  unbetonter  silbe 
regelmässig  in  der  zweisilbigen  vollform.  Die  belege  sind  überaus 
zahlreich.  Wenn  daher  IV  18  24  thär  In  themo  gärten,  P  them  in  P  die 
form  them  hervortritt,  kann  hier  nur  ein  versehen  vorliegen,  das 
111839  beseitigt  wurde:  in  themo  kdrkare  thar,  V  themo  (0  zuge- 
schrieben). 

Wo  die  kurzform  zu  recht  besteht,  haben  die  Schreiber  sie  stets 
durch  den  elisionspunkt  bezeichnet.  Selbst  in  satztieftoniger  Stellung 
scheint  die  unbetonte  vollform  zu  herrschen ;  eine  unbetonte  kurzform 
them  scheint   sich   noch  nicht  herausgebildet  zu  haben.     Datür  spricht 


HIATUS   UND    SYNALÖPHE    BEI   OTFRID  213 

zunächst  ein  argumentum  e  silentio.  Dat.  sg.  fem.,  gen.  sg.  fem.  und 
der  gen.  plur.  begegnen  wiederholt  in  der  Senkung,  weil  die  zwei- 
silbigen formen  hier  nur  graphischen  wert  haben  und  für  den  Vortrag 
durch  die  kurzform  ther  zu  ersetzen  sind.  Der  dat.  sg.  m.  n.  tritt  nur 
2mal  in  die  Senkung:  IV  7  ^i  ni  suorget  fora  themo  liute.  V835  so 
ist  themo  götes  drute,  P  ist.  Für  den  letzten  vers  ist  es  ausserdem 
noch  fraglich,  ob  der  erste  akzent  rhythmisch  gemeint  ist;  mit  P 
könnte  man  auf  das  pronomen  den  ersten  ictus  legen.  Auch  im  auf- 
takt  vor  konsonantisch  anlautender  silbe  lässt  sich  nur  die  zweisilbige 
form  aufzeigen  (vgl.  Wilmanns,  s.  71  oben).  Das  pronomen  themo  geht 
hier  also  andere  wege  als  die  formen  thero,  theru  thero.  Die  betonte 
und  die  unbetonte  kurzform  them  tritt  nur  vor  vokalisch  anlautender 
silbe  heraus.  Die  betonte  sprechform  them  ist  4mal  vor  den  senkungs- 
silben  iz  er  ouh  durch  die  Schreibung  themo  belegt;  die  akzentstufe 
des  pronomens  bleibt  wie  immer  irrelevant.  Danach  sind  die  schreib- 
formen vor  ist  ih  in  ir-  ouh  einzuschätzen.  Die  unbetonte  kurzform 
ist  3mal  im  auftakt,  4mal  in  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender 
hebung  belegt.  Diese  sprechformen  beweisen,  dass  an  erster  und 
zweiter  stelle  des  auftakts  und  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender 
hebung  nur  die  kurzform  them  geltung  hat. 

4.  N.  sg.  fem.  n.  acc.  pl.  neutr.  thin. 
A.  Im  auftakt  vor  vokalisch  anlautender  silbe. 

I.   Vor  einer  zweiten  vokalisch  anlautenden  auftaktsilbe 

(in  relativer  funktion). 
1.  In  mindestens  einer  hs.  ist  synalöphe  bezeichnet. 

aj  N.  sg.  fem. 

V  23 141  Thiu  mo  dllaz  Hob  inselzit.     P  ino. 

b)  N.  acc.  pl.  neutr. 

Vor  in  (praep.). 
11022  thiu  in  allen  then  stuntun.     P  in  fehlt. 

Vor  er. 
II 11 58  thier  Mar  gisprah  so  hdrto. 

Vor  uns. 
II 2427  tili  uns  zellent  alla  redina. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 
N.  acc.  pl.  neutr. 

Vor  er. 
113  in  thiu  er  forasagon  sdgctin.     IUI  3  thiu  er  d6ta  Mar  in  riche.    V  thiu 
(w  korrigiert  aus  e).     III 1452  thiu  er  dein  saman  ellu. 


214  KAPPK 

Vor  iz. 
II 21 26  thiii  iz  allaz  gdralicho. 

Vor  ir-, 
rV  26  5  thiu  irwHnotun  tho  liito. 

II.   An  zweiter  stelle  des  auftakts  vor  vokalisch 

anlautender  hebung  (als  artikel). 

1.   Das   pronomen   ist   auf  den   anlautenden   konsonanten 

reduziert. 

a)  N.  sg.  fem.  thiu. 

12351  Ist  thiu  dkus  ja  giwezzit.     P  thiu.     F  thakus.     III 22  thar  thiu  erda 
ligit  üfe.     V  thiu  (tu  zukorrigiert). 

b)  N.  acc.  pl.  neutr. 

1112091  iver  thiu  ougun  tmo    inddti.     P  thin.     III 2489  huah  thiu  öugun  uf 
zi  himile.     F  diu. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform. 
N.  sg.  fem. 

12358  iiian  thiu  dkus  ni  siiide. 

B,  In  der  Senkung-  vor  vokalisch  anlautender  silbe. 

I.  Vor  einer  zweiten  vokalisch  anlautenden  senkungs- 
silbe  (in  relativer  funktion). 
a)  N.  sg.  fem. 
Vollform  vor  der  praep.  in:  112 12  joh  dl  giticaft,  thiu  in  wörolli. 

b)  N.  acc.  pl.  neutr. 
Der  sonant   der   senkungssilbe   ih   ist   elidiert:    11122 17  Thiu   werk,   thiu   ih 
mfrka  innan  thes.     P  /  übergeschriebeu.     F  diu  ih. 

IL    An  zweiter  stelle  der  Senkung  vor  v 0 k a  1  i s c h 

anlautender  h  e  b  u  n  g. 

1.  Das  pronomen  ist  auf  den  anlautenden  konsonanten 

reduziert. 
a)  N.  sg.  fem. 
Art.  12228   hebig   loas   in   thiu   IIa.     F  thiu.     Art.  IV  293  Bizeinot   thiu  ira 
redina.     P  thiu. 

b)  N.  acc.  pl.  neutr. 
Rel.  V  20  lu   in  tv/zi,    thiu   in   ni   libent.    P  thiu.     Ebenso    wird    zu    inter- 
pretieren sein:  Art.  IV  2232  so  hli'iun  sie  ivio  thiu  örun.     P  sie.     P  thii}. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  form  (als  art.). 
a)  N.  sg.  fem. 

III  7  58  tvanta  thiu  iro  guati.     IV  220  irfuUa  thin  ira  giiati.     D  ira.     IV  9  31 
Nu  ist  uns  thiu  iro  gomaheit.     P  ist  uns.     IV  136  ni  Mißt  iuih  thiu  ila. 


HIATl'S    UND    SVNALÜPHE    BEI    OTFltlD  215 

b)  N.  acc.  pl.  ueiitr. 
III  21 4  tliaz  horo  in  thiu  öugun  giklan. 

Die  form  thiu  des  n.  sg.  fem.  und  n.  acc.  pl.  iieiitr.  zeigt  in  ahd. 
zeit  keinerlei  reduktionsstufen  neben  sich.  In  der  gestalt  thiu  er- 
scheint das  pronomen  in  neutraler  Umgebung  unter  dem  akzent  wie 
in  unbetonter  satzstellung ;  in  derselben  gestalt  geht  das  pronomen 
in  die  mhd.  zeit  über.  Es  erübrigt  nur  eine  betrachtung  der  synalöphe- 
erscheinungen.  Die  belege  beider  pronomina  können  sich  wechsel- 
seitig erhellen.  Trifft  das  pronomen  in  auftakt  oder  Senkung  mit 
einer  zweiten  vokalisch  anlautenden  unbetonten  silbe  zusammen,  so 
entscheidet  das  phonetische  gewicht  der  beiden  formen  über  den 
Charakter  der  synalöphe.  Die  pronomina  imo  und  ih  und  die  präpo- 
sition  in  verlieren  ihren  sonanten,  während  vor  auftaktsilben  von  be- 
deutendem phonetischen  gewicht  die  form  thiu  auf  die  ablautsstufe 
thi  herabgesetzt  wird  •,  der  konsonantische  faktor  des  diphthongen  geht 
unter  in  der  artikulation  des  folgenden  sonanten.  Das  pronomen  hat 
in  allen  belegen  einen  erheblichen  nachdruck,  da  es  in  relativer  funk- 
tion  einen  nebensatz  einleitet.  Die  sprechformen  ermöglichen  eine 
beurteilung  aller  halbverse,  in  denen  die  vollformen  nebeneinander 
stehen.  Mit  dem  pronomen  er  resultiert  das  kontraktionsprodukt  thier; 
die  formen  iz  ir-  in  (praep.)  werden  auf  die  Schwundstufe  reduziert. 
An  zweiter  stelle  des  auftakts  und  der  Senkung  vor  vokalisch  an- 
lautender hebung  erscheint  fast  ausschliesslich  der  proklitische  artikel, 
der  in  der  mehrzahl  der  belege  auf  den  anlautenden  konsonanten 
reduziert  ist.  Im  auftakt  stehen  4  Schwundstufen  des  artikels  einer 
schreibform  gegenüber.  In  der  Senkung  ist  I  22  28,  IV  29  3  die  Schwund- 
stufe des  artikels,  V  20  lu  die  des  relativpronomens  in  den  hss.  be- 
zeichnet. Danach  sind  die  5  vollformen  des  artikels  und  der  nicht 
ohne  weiteres  eindeutige  beleg  IV  22 32  einzuschätzen:  so  hli'mn  sie  imo 
thiu  (Wun,  P  sie,  V  tltiu. 

5.  Acc.  sg.  fem.  ihia. 
A.  Im  auftakt  vor  Tokaliscli  aulautender  silbe. 

I.  Vor  einer  zweiten  v  0  k  a  1  i  s  c  h  anlautende  n  a  u  f t  a  k  t  s  i  1  b  e. 

1.  Die  beiden  silben  sind  verschmolzen. 

V  12 92  thia  er  Uria  tvörolt  alla.    P  Thiacr.   V  thiaer  (e  zukorr.,  später  rad.). 


P  thi 


2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander, 

V  1033  ihia  ih  zdlta  thir  Mar  öbana. 


216  KAPPE 

II.    A 11  zweiter  stelle  des  a  u  f t  a  k  t  s  vor  v  o  k  a  1  i  s  c  h 

anlautender  h  e  b  im  g. 
13 11   Ther  thia  drca  sinen  klndon.     F  tharca.     P  thq. 

B.   In  der  Senkung'. 

I.  Vor  konsonantisch  anlautender  liebung. 

1.  In  mindestens  einer  lis.  findet  sich  die  ablautsstufe  tlia. 

V1292  hl  thia  selbim  minna.     P  thia. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollforra  thia. 
Sa  ther  io  thia  sdlida  thar  fand.     L46  Eigun  ivir  thia  giiati.     124  in  thia 
zi'cngun  viina.     I69  giang  er  in  thia  pdlinza.    I618  814  927  1225  1752  I842  192  12 
2O36  229  60  283  9;   11617   922    II48  12 14  63  13io  i486  108  USW.     All   zweitcr   stelle 
der  Senkung  nur  II 9  48  ufin  thia  wUavina. 

II.  An  zweiter  stelle  der  Senkung  vor  vokalisch 

anlautender  hebung  (als  art.). 

1.   Das   pronomen   ist   auf  den   anlautenden   konsonanten 

reduziert. 

111208  in  V  gegen  P:  zdlta  in  thia  lingimacha.     P  salta  in  thia. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  form. 

1 25  26  thuruh  thia  ira  guati.  IV  7  51  so  er  erist  thia  drcha  ingigiang. 
VI626  giwHhti  thia  iro  he'rti.  V  172i  Firliaz  er  thia  erda  ouh  thuruh  thdz. 
ni320  in  silmen  thuruh  thia  era.  VIO5  'Ni  düa  thir',  quaditn,  Hhia  drabeit'. 
III1729  thaz  er  thia  dltun  lera. 

Die  orthographische  normalform  des  acc.  sg.  fem.  ist  thia.  Allen 
Schreibern  ist  jedoch  auch  die  forai  tliie  geläufig. 

V  P  thia.     F  thie. 

12743  Jsli  firndmun   sie   thia   lera.     F  thie.     1113 12    thia   ünsera    ditmpheit. 

F  thie.     V2O58  thia  winistrun  ni  biwenkent.     F  die.     V  1223  mit   thiu   thia   ivörolt 

froiven.     F  thie. 

y  F  thia.     P  thie. 

n  I89   Wtzut  ir  thia  redina.     P  thie. 

P  F  thia.     V  thie. 

II 1263  thas  er  thia  ndtarun  irhiang.   Y  thie.    12322  thia  heristraza  insh'ere. 

V  thiei     Vllio   thia   selbun   krdft   sina.     V  thie.     V1726    Thia    si'mnun  joh    then 

mdnon.     V  thie. 

F  thia.     V  P  thie. 
II 46  in  frdnkisgon   thie   regula.     F  thia.     122?  thie  fira  gientotun.     F  thia. 
Y2572  sie  Ihoh,  bi  thie  meina.     F  dia. 

In  den  letzten  3  versen  könnte  die  form  thia  als  bayrische  dia- 
lektform   für  den  n.  pl.  m.  thie  gefasst  werden,  der  im  9.  Jahrhundert 


HIATUS    UND   SYNALÖI'HE   BEI    OTFRID  217 

den  u.  pl.  fem.  sclioii  stark  bedrängt.  123  02  1118  9  I  27  43  könnte  der 
plural  von  den  Schreibern  beabsichtigt  sein.  Nur  III  3 12  V2O58  I223 
1112  63  Vllio  V17  25  kann  man  die  form  fMe  mit  Sicherheit  als  ab- 
geschwächte form  des  acc.  sg.  fem.  in  anspruch  nehmen.  In  der  zweiten 
hälfte  des  9.  Jahrhunderts  hatte  der  diphthong  ia  wohl  schon  die 
stufe  ie  erreicht ;  die  form  ihie  ist  auch  sonst  im  9.  Jahrhundert  schon 
bezeugt,  wie  Braune,  Ahd.  gr.",  §  287,  anra.  Ic  angibt.  Ein  phonetisches 
kriterium  der  abschwächung  bietet  meines  erachtens  vers  V  12  92  thia 
er  lerta  wörolt  alla,  F  Thiaer,  V  thiaer  {e  zukorrigiert,  später  radiert), 
P  tJu'er.  Unter  der  meines  erachtens  notwendigen  Voraussetzung,  dass 
die  beiden  darstellungsformen  th/'ar  und  thier  gleichwertig  sind,  wird 
man  die  form  thia  phonetisch  als  [thie]  interpretieren.  Mau  wird  kaum 
fehlgehen  -  obwohl  sich  zuverlässiges  nicht  ausmachen  lässt  -,  wenn 
man  VISsb  den  sonanten  des  prouomens  ih  elidiert:  VI533  thia  ih 
zälta  tliir  Mar  öbana.  An  zweiter  stelle  des  auftakts  und  der  Senkung 
vor  vokalisch  anlautender  hebung  wird  das  pronomen  auf  die  Schwund- 
stufe herabgesetzt.  Es  findet  sich  je  1  beleg  im  auftakt  und  in  der 
Senkung,  denen  7  schreibformen  gegenüberstehen.  Sie  sind  mit  Sicher- 
heit auf  die  Schwundstufe  herabzusetzen.  Läuft  doch  das  pronomen 
in  neutraler  Umgebung  in  unbetonter  satzstellung  in  der  reduktions- 
stufe  tha  um  (s.  u.).  Ausserdem  können  die  analogen  zahlreichen 
belege  für  den  n.  sg.  fem.  n.  acc.  pl.  neutr.  thiu,  n.  a.  pl.  m.  thie,  n.  a. 
pl.  m.  sie  zum  beweisenden  vergleich  herangezogen  werden. 

Wir  haben  schon  wiederholt  die  beobachtung  gemacht,  dass  dem 
auftakt  eine  etwas  grössere  artikulationsenergie  zukommt  als  der 
Senkung.  Im  auftakt  vor  konsonantisch  anlautender  silbe  erscheint 
ohne  ausnähme  die  vollform  thia.  Dagegen  scheint  in  der  Senkung 
vor  konsonantisch  anlautender  silbe  die  reduktionsstufe  tha  heraus- 
zuspringen: VI292  b't  thia  sellmn  m'inna,  P  thia.  Für  die  Senkung 
lässt  sich  allerdings  nur  dieser  eine  beleg  beibringen.  Sonst  ist  diese 
ablautsstufe  noch  I3ii  an  zweiter  stelle  des  auftakts  in  P  bezeugt: 
Ther  thia  circa  sinen  k'mdon,  F  tharca,  P  tha.  An  der  existenz 
dieser  ablautsform  ist  also  nicht  zu  zweifeln.  Sie  stellt  ein  analogon 
dar  zur  ablautsstufe  sa  des  acc.  sg.  fem.  sia;  sie  ist  in  der  proklise 
ebenso  durch  akzentversetzung  und  ausfall  des  konsonantischen  /  ent- 
standen wie  die  ablautsstufen  sa  und  se  des  anaphorischen  pronomens. 
Wir  werden  also  für  den  Vortrag  des  gedichts  in  der  Senkung  vor 
konsonantisch  anlautender  silbe  stets  diese  form  tha  ansetzen,  obwohl 
die  Schreiber  in  zahlreichen  versen  stets  die  vollform  in  den  text  ge- 
setzt haben. 


218  KAT'l'R 

6.  N.  acc.  pl.  m.  tliie,  n.  a.  pl.  f.  tliio. 
A.  Im  aut'tiikt. 
I.  Vor  konsonantisch  anlautender  liebung. 
Das   femininum    erseheint   stets   in   der  vollforni.     Auch  für  das 
niasc.  findet  sich  in  der  regel  die  form  thie. 

Ausnahmen. 

114 18  thia  ddga,  thie  tvir  na  ndgetun.     F  Ihe.     12327   'Thie  icega  rihtet  alle. 
V  Th/e.     P  Thie. 

IL  Vor  einer  zweiten  v okalisch  anlautenden  auftaktsilhe 

(in  relativer  funktion). 

1.    Eine   Verschmelzung    der    beiden    auftaktsilben    ist   in 

mindestens  einer  hs.  bezeichnet. 

Es  finden  sich  nur  belege  für  die  maskulinform. 
Vor  der  praep.  in. 

1460  thie  in  sinenc  yisihti.     P  in. 

Vor  ir-. 
117  9    thie  irkantun    sünnun  fort.     P  irkdntun.     F  thierkantun.     VI614  thi 
erstdntan  nan  gisdhun.     F  Dicrstantinan. 

Vor  er. 

1461  Thi    er    Jiera    in    loorolt   sentit.     III 8  49    thier  fön    then  freison    retita. 
V2O17  thi  er  zöh  Mar  selbo  in  Übe. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander, 
a)  N.  pl,  masc. 
Vor  in  (praep.). 
111620  thie  in  herzen  ni  eigun  niheinas  ivlg.    11198  thie  in  thnoizzin  icarun. 
V82  thie  in  kristes  grabe  sazun. 

Vor  ih. 
III 1473  Thie  ih  al  irzellen  ni  mag.     P  Theih. 

Vor  uns. 
V8i3  thie  uns  scribent  kristes  redina.     14  thie  uns  scrlbent  sino  ddti. 

b)  N.  acc.  pl.  fem. 
Vor  in  (dat.  plur.). 
II 11  64  thie  in  ivdrun  in  theru  brüst i.     P  in. 

III.  An  zweiter  oder  dritter  stelle  des  auftakts  vor  voka- 
lisch anlautender  hebung. 
Es  handelt  sich  stets  um  den  proklitischen  artikel. 
1.  Das   pronomen    ist    auf  den   anlautenden   konsonanten 

r  e  d  u  z  i  e  r  t. 
Es   finden    sich   nur   belege  für  die  maskulinform :    1 13  u  thaz  thie  e'ngila  in 
iröugtun.    V  thie  punkte  unten  radiert,  oben  stehen  geblieben.     P  thie.     23  so  thie 
^iigila  in  gizdJtun.     P  thie.     III  26  2  so  thie  (hrarion  qudtun.     P  thie  (ie  zugeschr.) 


HIATUS    UNI)    SYNALÖPHE    BEI    OTFRID  219 

2.  V  zeigt  im  masc.  die  form  the. 
IV  64  joh  thie  dsti,  thie  se  setitun.     V  joh  the. 

3.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  form. 

a)  N.  acc.  pl.  m. 
1116 17    joh    thie    ärmu    wihti    smerze.      IV  li    Nu    thie    eioarton    hi    nöti. 
IV  16 13  Joh  thie  ewarion  rehto.     V8i  waz  thie  engila   bizeinen.    F  thia.     H 23  joh 
tliie  andere  gikerit. 

b)  N.  acc.  pl.  fem. 

V45  joh  thie  egislichun  däti.  V2O95  joh  thie  iihili  in  ßrwlzit.  P  tliio. 
Hi62  jo  thio  ewinigun  zi'ari.  Au  dritter  stelle  des  auftakts:  128 14  thurult  thio 
('winigon  ivunni, 

B.  An  zweiter  stelle  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung. 
1.   Das   pronomen   ist   auf  den    anlautenden   konsonanten 

reduziert  (als  art.) 
a)  N.  acc.  pl.  m. 
I IO2  spräh  er,  thaz  uns  thie  dltim.     P  thie.     F  thie.     112 15  In  Be'ihlem  — 
thiiie  küninga. 

b)  N.  acc.  pl.  fem. 

12224  joh  riiarluii  thio  iru  hrnsti.  P  thio  iro.  F  thiru.  II  21 44  allo  thio 
tindati.  P  thio.  F  thundati.  12346  bisct'rmen  tJiiwo  ddti.  III 10  5  ki'imta  thio  iro 
thürfti.  P  thio  iro.  V  23 124  sint  dllo  thio  iro  giiati.  P  thio.  II 144  ni  lazent 
thie  draheit  es  fr  Ist.  P  thie  araheiti.  Ebenso  ist  111434  zu  interpretieren:  III 4  34 
tho  drühtin  thio  t'mganzi  ndm.     F  thio. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollform, 
a)  Als  artikel. 
a)  N.  acc.  pl.  masc. 
II  9  83  Hdftetun  thie  ärmon. 

(i)  N.  acc.  pl.  fem. 

S9  Mir  lodrun  thio  itvo  wizzi.  II 1446  himidi  thio  drabdti.  11162  in  tldu 
ir  thie  dnnuati.  II 21 20  ni  firlidsest  thie  draheiti.  IV  2 28  odo  inan  thie  drmuati. 
IV  6  27  so  miinit  thio  iro  frdvili.  V634  irweichent  thio  iro  bnisti.  IV  16  56  daiun 
thio  iro  henli.  IV 269  thuruh  thio  dngusti  =  Y  10 30.  IV  1976  thuruh  thio  t'cnsero 
ubili.  V  I84  in  P  gegen  V:  ziu  sint  thie  iuo  tvizzi.  P  ziu  sint.  F  thio.  V  23 
Otih  Zellen  thio  draheiti.  V7i7  Sie  sprdchun  tluo  ünthuUi.  V2552  thurah  thio 
iro  giiati. 

b)  In  relativer  funktion. 
rV255  Thio  snnta,  thio  unsih  stechent. 

In  vielen  versen  haben  wir  die  maskulinform  die  funktion  des 
femininums  erfüllen  sehen.  Wiederholt  standen  sich  die  formen  thie 
thio  in  den  Varianten  gegenüber.  Dieser  ausgleich  kann  durch  system- 
zwang veranlasst   sein.     Vieles  spricht  jedoch  dafür,  dass  die  beiden 


220  KAIM'E 

formen  im  9.  jalirlmndert  auch  schon  phonetisch  identisch  waren. 
Einmal  schon  der  Wechsel  beider  formen  in  den  Varianten  desselben 
halbverses ;  danach  werden  die  formen  für  die  Schreiber  nur  graphisch 
diflferenziert  gewesen  sein.  Für  beide  formen  lässt  sich  mehrfach  die 
Schreibung  tliia  beibringen,  vgl.  Kelle  II  352,  7  und  354,  11,  358  und 
359.  Wir  haben  ferner  gesehen,  dass  beide  formen  in  einsilbigem 
auftakt  und  in  einsilbiger  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung 
die  gleichen  synalöpheerscheinungen  zeigen,  die  sich  wesentlich  von 
denen  der  übrigen  formen  des  demonstrativen  pronomens  unterscheiden. 
Die  beiden  formen  sind  zweifellos  schon  in  der  Umgangssprache  des 
9.  Jahrhunderts  phonetisch  gleichwertig  gewesen.  Die  neutrale  form 
ist  im  9.  Jahrhundert  noch  intakt. 

Im  einsilbigen  auftakt  und  in  einsilbiger  Senkung  vor  vokalisch 
anlautender  hebung  werden  die  proklitischen  artikelformen  fhie  und 
thio  auf  den  anlautenden  konsonanten  reduziert.  In  relativer  funktion 
hat  hier  die  vollform  statt;  nur  die  maskulinform  geht  in  einigen 
belegen  im  auftakt  mit  dem  betonten  pronomen  er  die  kontraktion  tJiier 
ein.  Die  beiden  formen  stellen  sich  hiemit  auf  eine  stufe  mit  dem 
acc.  sg.  fem.  thia  und  den  formen  sie  und  sia  des  anaphorischen 
pronomens.  Wir  sind  daher  genötigt,  auch  für  die  formen  ihie  und 
tJdo  -  oder  kurz  für  thie  -  eine  analoge  satztieftonige  reduktionsstufe 
vorauszusetzen,  die  für  den  proklitischen  artikel  in  auftakt  und  Senkung 
umliefe.  Und  eine  satztieftonige  sprechform  ist  handschriftlich  belegt. 
Im  auftakt  vor  konsonantisch  anlautender  hebung  haben  die  Schreiber 
durchgehend  die  orthographischen  normalformen  gewählt.  Nur  ganz 
vereinzelt  hat  sich  eine  sprechform  durchgesetzt:  114^  thia  däga,  thie 
wir  im  sagettm,  F  the.  123  27  Thie  tvef/a  rihtet  alle,  V  Thie,  P  Thie. 
Die  ablautsstufe  the  ist  noch  III  262  in  F  belegt:  so  thie  ewarton 
qiidtun,  F  de;  auch  dem  Schreiber  von  V  ist  sie  bekannt :  IV  5  4  joh 
thie  esti,  thie  se  zetitun,  V  the.  Die  form  the  scheint  also  die  geläufige 
tiefstufe  darzustellen  ;  diese  gestalt  wäre  auch  a  priori  zu  erschliessen. 
Die  Schreibung  thie  in  V  steht  ganz  ohne  parallele ;  der  Schreiber  ver- 
suchte noch  nachträglich  der  Umgangssprache  gerecht  zu  werden.  In 
auftakt  und  Senkung  vor  konsonantisch  anlautender  silbe  werden  wir 
für  den  Vortrag  stets  die  tiefstufe  the  des  proklitischen  artikels  an- 
setzen. Diese  tiefstufe  des  ablauts  ist  ein  analogon  der  ablautsstufe 
se  des  n.  acc.  pl.  m.  sie  und  ist  ebenso  zu  erklären.  Tritt  diese  redu- 
zierte form  des  proklitischen  artikels  an  zweiter  oder  dritter  stelle 
des  auftakts  und  der  Senkung  vor  eine  vokalisch  anlautende  hebung, 
so  wird  sie  auf  die  Schwundstufe  tJi-  herabgesetzt.    Im  auftakt  stehen 


HIATUS    UND    SYNALÖPHE    BEI    OTFKID  221 

3  sprechformen  10  schreibformen  geg-enüber;  iu  der  senkimg  beweiscD 
8  Schwundstufen  für  17  schreibformen.  Dem  pronomeu  in  relativer 
funktion  eignet  ein  ungleich  stärkerer  uachdruck.  Es  finden  sieh 
zahlreiche  belege  des  relativums  vor  einer  zweiten  vokalisch  an- 
lautenden auftaktsilbe.  Die  praep.  in  und  das  prätix  ir-  verlieren 
ihren  sonanten  hinter  der  vollform  des  relativums,  während  vor  dem 
prouomen  er  das  relativum  sein  konsonantisches  element  aufgibt.  Vor 
dem  pronomen  uns  wird  man  dieselbe  ablautsstufe  thi  ansetzen ;  das 
pronomen  ih  wird  hinter  der  vollform  des  übergeordneten  relativums 
seinen  sonanten  einbüssen.  Vor  dem  dat.  plur.  in  ward  der  Vortrag 
das  konsonantische  element  des  rel.  fallen  lassen ;  die  sonanten  gleicher 
Qualität  werden  kontrahiert:  II  1164  thie  in  wcirun  in  theru  hrmti, 
P  In  ivarun.  Der  akzent  in  P  sollte  vielleicht  nur  andeuten,  dass 
der  sonant  nicht  zu  elidieren  sei.  Stets  entscheidet  das  phonetische 
gewicht  der  zusammenstossenden  silben ;  wo  sich  kein  vergleichs- 
material  bietet,  können  nur  aus  der  bisherigen  erfahrung  heraus  Ver- 
mutungen geäussert  werden.  IV  25  5  Tkio  si'rnta,  thio  unsih  stechent: 
es  ist  immerhin  fraglich,  ob  hier  das  relativum  auf  die  Schwundstufe 
zu  reduzieren  sei;  hinter  das  sb.  fällt  eine  sprechtaktgrenze,  das  pro- 
nomen leitet  einen  neuen  satz  ein.  Da  das  pronomen  sich  proklitisch 
an  die  folgende  hebung  unsih  anlehnt,  ist  trotzdem  Schwundstufe  des 
relativums  wahrscheinlich. 

7.  Instrumentalis  thiu. 

A.  An  zweiter  stelle  des  auftakts  vor  rokaliscli  .aulautender  hebnng. 

1.  Der  instr.  ist  auf  den  anlautenden  kousouanten 

reduziert. 

12229  bt  thiu  tttun  siu  sar  wldarori.     P  thni. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  form. 

121 8  hi  thiu  ili  io  thes  sintkes.  11 3  es  Bi  thiu  iltmes,  io  gigdhon.  II 57  zi 
thiu  ('inen  wesan  lingimah.  II 6  53  si  thiu  einen  missidäti.  IV  37  44  hi  thiu  ('ig in 
iamer  frdivaz  muat.     Eel.  V254  mit  thiu  ih  fuar  ßrienti. 

B.  In  der  Senkung  vor  konsonantisch  anlautender  hebung. 

Es  handelt  sich  nur  um  adverbiale  Verbindungen. 

1.  Der  instr.  erscheint  in  mindestens  einer  hs.  in  der 
sprechform  thi  the. 
IV  25 14  thas  uns  es  iamer  si  the  hdz.    F  di.     IV  33  30  nl  was  thes  Idchanes 
thi  baz,     r  diu.     1 1  se  nüb  in  es  thiu  wirs  si.     V  thi  uuirsi.     P  thiuulrs  si. 


222  KAI'l'R 

Die  sprecliforin  ist  nachträglieh  in  die  schreibform  geändert. 

1249  thuz  mir  es  io  mer  si  thiu  bas.  V  thiu  (aus  tht  korr.)  12247  liuarta 
mili  ouh  thes  ihiii  vier.     V  tliiu  (tu  korr.  aus  e,  daun  raiL). 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  voll  form. 
Alle  belege  gehören  dem  3.  fuss  an. 
12257  ni  u-as  er  drühtin  thes  thiu  mm.  1275  thaz  er  mo  Ifbi  thes  thiu  mer. 
II  S  5  ihaz  wir  iz  bit henken  thes  thiu  häz.  11 5  3  thaz  wir  giwdrten  uns  thiu  bäz. 
II65  thaz  er  tno  börgeti  thiu  haz.  II 8  34  siu  mohtun  weren  thes  thiu  bdz.  II  IS  eni 
sägen  iz  nu  ouh  thes  thiu  m/n.  II 15 15  thes  uns  iamer  ist  thiu  bdz.  II  17  21  man 
iuih  lühon  thes  thiu  mer.  II 21 1-2  bi  thiu  nist  es  loiht  in  thiu  baz.  19  thaz  thes 
gibetes  st  thiu  bdz.     111847  IGes  22i9  47;  IY232  769  1847;  V625  7i2  12i6  2039. 

Wir  haben  gesehen,  dass  jedes  vokalisch  auslautende  einsilbige 
wort  an  zweiter  stelle  des  auftakts  vor  vokalisch  anlautender  hebung 
auf  die  Schwundstufe  herabgesetzt  wird.  Obwohl  sich  für  den  Instru- 
mentalis nur  1  beleg  der  Schwundstufe  beibringen  lässt,  können  wir 
also  mit  Sicherheit  auch  für  die  übrigen  6  schreibformen  die  ablauts- 
stufe  tk-  in  anspruch  nehmen.  In  der  proklise  vor  dem  komparativ 
kennt  die  Umgangssprache  nur  die  tiefstufe  des  ablauts,  die  sich  als 
thi^  weiter  abgeschwächt  the  darstellt.  Sie  ist  5mal  von  den  Schreibern 
in  den  text  gesetzt,  2mal  allerdings  wieder  in  die  schreibform  korri- 
giert. Die  orthographische  normalform  thiu  hat  sich  also  in  der 
mehrzahl  der  belege  durchgesetzt. 

8.  the  ist,   theih,  theiz. 
I.  the  ist  —  thaz  ist. 

Das  auftreten  der  formen  theist  und  thaz  ist  hängt  ab  von  den 
jeweiligen  rhythmischen  bedingungen  des  halbverses. 

Die  form  thaz  ist  hat  statt,  wenn  im  sinngemässen  vorti'ag  eins 
der  beiden  wörter  einen  besonderen  nachdruck  erhält.  Das  pronoraen 
trägt  einen  hauptiktus,  wenn  es  ausgeprägt  demonstrative  bedeutung  hat: 

III 26 69  Tlidz  ist  in  gißstit.  Y85  Joh  thaz  ist  mihil  loi'mtar.  15  Thdz  ist 
uns  iröugit.     V12i3  thaz  ist  selisani.     V  23 177   Thdz  ist  in  gin'hti. 

V660  erhält  das  relativum  einen  hauptiktus: 

(Bizeinot  in  gitvissi  ther  duah  tliaz  götnissi)  thaz  ist  in  giwelti,  dna  theheinig 
e'nti.     P  thdz. 

Einen  nebeniktus  trägt  das  pronomen  in  der  beteuerungsformel 
thaz  ist  war;  sie  bildet  stets  den  schluss  des  halbverses: 

Leo  so  iz  gote  zimit,  thaz  ist  wdr.  112231  Nist  iuer  nihein  (thaz  ist  wdrh 
III 9 18  ther  selbo  se,  thaz  ist  ivar.     IlllSse  in  allen  r ichin,  thaz  ist  war.    III 1427 

2O59;    W427    928    1146    1521    I639;    V751    14l4    2042    105. 


HIATUS    UXD    SYNALÖPHE    liEI    OTFiaD  223 

II  1463  ist  in  V  nachträglich  die  kurzform  in  die  rhythmisch 
notwendige  vollform  geändert: 

711  betot  fhen  fdter,  thaz  ist  weh:     V  thaz  (aus  the  corr.j. 
Die   verbalform   int   trägt   einen    hauptiktus  nur,   wenn  sie  präg- 
nante bedeutung  hat;  das  pronomen  steht  dann  in  relativer  funktion: 

1233  AI  gisüngilo,  thaz  Ist.     II  22 20  tlianne  al  giftigiles,  thaz  ist. 

Um  regelmässigen  Wechsel  von  hebung  und  Senkung  zu  erreichen, 
hat  Otfrid  bald  auf  das  pronomen  bald  auf  die  verbalform  einen 
nebeniktus  gelegt : 

III  1335  Ni  mag  er,  thaz  ist  al  niin'ht.    IV' 13  31  thaz  w/g  thaz  ist  so  hebigaz. 

In  diesen  versen  kommt  weder  dem  pronomen  noch  dem  verbum 
ein  besonderer  sinnesnachdruck  zu.  In  derselben  rhythmischen  tendeuz 
hat  Otfrid  die  nebenbetonte  form  tkeist  in  den  text  gesetzt,  w^enn 
eine  unbetonte  silbe  vorausgeht  und  folgt: 

2.  hebimg-. 

1262  thaz  ivazar  theist  giwihit.     IV  104  gitr/sso  theist  gilümplih. 

3.  hebung. 

II 2226  Bi  thiu  laz  thia  suörga  (tJieist  es  giiat).  r\'"3326  so  er  qudd  hiar 
föra.  theist  gizdlt.     V857  i''o«  therii  intfdhent  {theist  oah  wib). 

Zuw^eilen  findet  sich  unmittelbar  hinter  einer  haupthebung  die 
betonte  form  iJirist.  Hier  gaben  W'ohl  stilistische  rücksichten  die  ent- 
scheiduug;  durch  die  synkope  der  Senkung  wird  die  autithese  ver- 
stärkt, auf  die  der  syntaktische  bau  dieser  verse  hinarbeitet: 

II 21 13  thaz  selba  lob  theist  thaz  Ion.  IVösg  Thaz  ander  dl,  theist  nitctht. 
IV  9 7   Wir  ni  eigun  sdr,  theist  es  meist. 

Es  lassen  sich  nun  15  halbverse  aufzeigen,  die  durch  ueben- 
betontes  theist  eingeleitet  w^erden.  Ihnen  stehen  9  halbverse  gegen- 
über, in  denen  alle  hss.  thaz  ist  schreiben,  bald  mit,  bald  ohne  akzent 
auf  der  verbalform,  ohne  dass  dem  pronomen  oder  dem  verbum  ein 
deutlicher  sinnesnachdruck  zukäme.  Es  ist  nicht  einzusehen,  warum 
in  den  ersten  15  versen  auf  den  auftakt  verzichtet  ist,  da  ein  syn- 
taktischer unterschied  zwischen  beiden  gruppen  sich  nicht  erweisen 
lässt.  Hier  müssen  die  formen  theist  und  thaz  ist  im  Verhältnis  von 
sprechform  und  schreibforni  zueinander  stehen,  theist  lebte  als  iso- 
lierte form  im  volksmund-,  tJiaz  ist  stellt  eine  neubildung  im  sinne 
der  Orthographiereform  dar.  Es  zeigt  sich,  dass  der  2.  Schreiber  der 
hs.  V  der  volkstümlichen  sprechform  vor  der  neuen  orthographischen 
vollform  den  vorzug  gibt.  Es  handelt  sich  stets  um  das  demonstrativ- 
pronomen;  nur  III  22 19  zeigen  alle  hss.  die  form  thaz  ist  in  relativer 
funktion:  thaz  ist  in  öj'to  gizdlt. 


224  kappp: 

thaz  ist. 

1.  Schreiber. 

12753  thaz  ist  thoh  drunti  min.  P  ist.  II  857  TItaz  Ist  uns  Mar  gihilidot. 
D  ist.  11199  Thus  ist  giwdra  mera.  1111840  thaz  ist  niwiht  allaz.  III  20 145  'Thas 
isV  quad  er,  'nu  wiintar'.     1112637  Tha.:  ist  nu  loiintarlichaz  thhig. 

2.  Schreiber. 

V1925  Thas  Ist  oufi  dag  hörnes.     V2355  Thaz  ist  in  thar  in  llbe. 

thei  a  t. 

1.  Schreiber, 

1525  thcist  min  drunti.  II 1284  theist  ju  sar  gimiinit.  II  13i6  Theist  thaz 
mhiaz  heila  miiat.  P  Theist.  III  629  theist  si  th/'u  thoh  niwiht.  III  7 13  theist  in 
fr^nkisgon   rcid.     lYöss  Theist  giscrth    heiJag.     IV  15 51  Theist  giböt   minaz  zi  iu. 

2.  Schreiber. 

VII14  theist   ouh  festi   ubar  dl.  V  I233  Theist  giwis  io  so  ddg.     63  Theist 

ther    /leilego  geist.     91    Theist    es    dller 0  meist.     V23i63    Theist    al    ander   gimah. 

164  theist   al  einfoltaz  gilat.     291  Theist  thiu   wünna  jo/i,   thaz  güat.     248  theist  in 
6uh  gimeini.     P  titeist  in  ouh  gimeini. 

Treten  endlich  beide  formen  -  das  pronomen  und  das  verbum  - 
in  den  auftakt  oder  in  die  Senkung,  so  bat  nur  die  form  theist  statt. 
Sie  ist  ohne  ausnähme  von  allen  Schreibern  gesetzt: 

A.  Im  auftakt. 

1 1 17  theist  mannes  last  si  Übe.  20  theist  göuma  filu  reini.  48  theist  sconi 
fers    sar   giddn.     II 55  l'he.ist   süasi  joh    ouh    ni'izzi.     I34i  theist    imo    thlomuati. 

112 14   29   24 15   2813;     II2l9    1234    I619;     IIIIO37    1756    194   2050   2229   2429;    IV  57   39 
730    1938;    Vi  33    34    725    8 16    19 10    27    2386    292;    H  57    129. 

II 14 10  scheinen  sich  die  volkstümliche  sprechform  und  die 
schreibforra  in  V  und  P  gegenüberzustehen:  theist  dayes  heizesta, 
P  thaz  ist.  Der  Schreiber  von  P  wollte  jedoch  vielleicht  einer  anderen 
rhythmischen  auffassung  des  verses  ausdruck  geben,  indem  er  auf 
das  pronomen  einen  nebeniktus  legte. 

B.  In  der  Senkung. 

11231  thaz  wort  theist  man  u-ortan.  III 759  Körp  theist  scdlklichaz  fdz. 
112134  joA  föllon  ouh,  theist  mera.  111122  irquicki  in  mir,  theist  mera.  II 855  joh 
sina  güallichi,  theist  wdr. 

II.   theih  —  thaz  ih. 

Die  formen  theih  und  thaz  ih  stehen  sich  schon  fast  völlig  selb- 
ständig in  getrennten  gebrauchssphären  gegenüber.  Nur  1  beleg  weist 
auf  eine  berührung  der  beiden  kreise. 

Die  vollformen  erscheinen  nebeneinander,  wenn  der  rhythmus 
des  verses  in  seinem  streben  nach  Wechsel  von  hebung  und  Senkung 
einem  der  beiden  Wörter  einen  iktus  zuweist.     Ein  deutlicher  sinnes- 


HIATUS   UND    SYNALÜPHE   BEI    OTFRID  226 

nachdruck   kommt   dem    gehobenen   worte   nur   selten   zu.      Die    form 
thaz  hat  in  den  meisten  fällen  die  funktion  der  konjunktion. 

I.  Die  form  thaz  erhält  einen  iktus. 

thaz  als  conj. 
a)  1.  hebung  mit  auftakt. 
in  I27  Joh  thaz  ili  liiar  nu  zellu. 

b)  1.  hebung  ohne  auftakt. 
125  Thaz  ih  lob  thinaz.    15  Thaz  ih,  drühtin,  thanne.    P  Tlidz.    12 55  Thaz 
ih  iamer,  druhtin  min.    1.536  tltaz  ili  dnihtine.    37  thaz  ih  werde  suängar,   P  thaz. 
1540  thaz  ih  einluzzo.    IUI 25  73;  IV  11 35  1344  21  n  234;  VI65  2O75  25ii  u. 

c)  2.  hebung. 
III  20 13  Mir  liinphit,  thaz  ih  thenke. 

/^Är/2  als  rel. 

a)  1.  hebung  ohne  auftakt. 
III  6 1  Thaz  ih  Mar  nu  zellu.    IV  1 28  thdz  ih  gerno  ivölta.   P  thaz  ih  gerno. 
1V2730  thaz  ih  screih,  in  alatcdr.     P  thaz  ih.     V  1034  thaz  ih  wllle,  so  thu  weist. 

b)  2.  hebung. 
I  25  20  dllaz,  thaz  ih  wille. 

IL  Das  pronomen  ih  erhält  einen  iktus. 
thaz  als  conj. 

1.  hebung. 

128  thaz  ih  gitvar  si  härto.  u  Thaz  ih  ouh  Mar  giscn'be.  12 17  Thaz  ih 
ni  scrtbu  thuruh  rtiam.  43  Thaz  ih  in  himilriche.  P  ih.  48  thaz  ili  thanne  iamer 
löbo  thih.    49  Thaz  ih  ouh  nu  gisido  thaz.     löss  2248;  II  126o  14ig  2326;  III2I2; 

IVI27    37    39    IO3    128    1327    42    45    I647    2I32;    VSs    741    51    16l7    24l8    25l0    31    32    33    34; 

He  13  15. 

2.  hebung. 

1242  in  thiu  thaz  ih  is  künni.  12243  Wio  ivdrd,  thaz  ih  ni  westa. 
12760  zi  thiu,  thaz  ih  inhlenhe. 

thaz  als  rel. 

1.  hebung. 

I  1926  thaz  ih  giwlsso  ni  weiz.  IV  11 27  Thaz  ih  nu  meinu  mit  thiu.  V23i76 
thaz  ih  irzellen  ni  mag.     212  thaz  ih  thir  hiar  nu  zdlta. 

2.  hebung. 

115 10  in  hus,  thaz  ih  nu  sdgeta.     119 17  in  Idnt,  thaz  ih  nu  zdlta. 

Zuweilen  weichen  V  und  P  in  der  rhythmisierung  solcher  mit 
thaz  ih  eingeleiteten  versc  von  einander  ab;  P  zieht  es  vor,  das  pro- 
nomen ih  durch  einen  akzent  hervorzuheben. 

Conj.  12754  thdz  ih  iu  gizdlti.  P  thaz  ih.  II 138  thdz  ih  fon  niivihte. 
P  thaz  ih.     1112258  t/idz  ih  thes  gin^ndu.     P  thaz  ih. 

Rel.     IV  27  30  thaz  ih  screib,  in  alawdr.    P  ih  screib  in  dlatvar. 
ZEITSCHRIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOOIE.     BD.  XLH.  15 


226  KAl'l'E 

Den  zahlreichen,  mit  thaz  '/h  eingeleiteten  halbversen  steht  nur 
ein  beleg  gegenüber,  in  dem  alle  hss.  die  form  theih  im  eiugang  zeigen: 
II  1445   Theili  zes  pitzzes  dii/ß,  P  Thrik  auf  rasur, 

Sie  ist  im  eingang  des  verses  schon  völlig  durch  die  neuen 
vollformen  verdrängt.  Nur  im  versinnern  greift  Otfrid,  um  einen 
flüssigen  rhythmus  zu  erzielen,  auf  diese  volkstümliche  betonte  form 
zurück;  sie  hat  statt,  wenn  eine  unbetonte  silbe  voraufgeht  und  folgt: 

Conj. 
1.  liebung  mit  auftakt. 
1241   Joh   theih   thir   Mar   nu   ziaro.      P   theili.     III 10  24   ni  si  theih  gidue 
githi'ati. 

2.  hebung. 
12364  =  IV  29  27  ni  wdne  theih  thir  gelb 0.    1\  11  ii  giUmphit,  theih  thiz  wolle. 
V839  Ndles,  theih  thih  zeino. 

Rel. 
11028  thu  thlarna,  theih  thir  .sägen  scal.     II  6  4  ohaz,  theih  hiar  föra  quad. 
II  9  71  =  in  144  Lis  selbo,  theih  thir  redion.     V  20 104   leithes,    theih  gitJu'dta.     H  120 
thaz  selba,  theih  thir  redinon. 

In  antithetischer  teudenz  scheint  hinter  einer  betonten  silbe  die 
form  theili  gesetzt:  V2O79    Ward  ouh  thaz,  theih  irstärb. 

Treten  beide  formen  in  den  auftakt  oder  in  die  Senkung,  so  hat 
Otfrid  stets  die  unbetonte  form  tlieih  gewählt:  sie  allein  ermöglicht 
einsilbigkeit  des  auftakts  und  der  Senkung. 

Im  auftakt. 
theih  allein  im  auftakt. 

Conj.  L9  theih  sinaz  lob  zellu.  10  theih  scribe  ddti  sino.  I25o  thei?i  tMo- 
nost  thinas  fülle.     1464   25i8  2758;   II818   1446   102   2328;   111123   41  841  42  IO26 

I634    44    63    2O13    148    175    226i;    IV  1  33    llsO    36     134    48    2130    31    24l8    3136;     V736    38    60 
1625    2074    248    19. 

Rel.  n8i4  theih  mithon  ouh  nu  westa.  II 9 1  tlieili  zdlta  nu  hiar  obana. 
H  48  theih  hiar  thir  se'lle,  thaz  firn/'m.  III 1473  in  P  gegen  V:  Thie  ih  al  irzdllen 
ni  mag.  P  Theih. 

theih  als  erste  auftaktsilbe. 

1  2  /  20  theih  so  höhan  mili  gizelle. 

In  der  Senkung. 

Conj.  IUI  14  er  düe,  theih  hiar  ni  hinke  V  P  theih  (e  zukorrigiert).  VTei 
Joh  theih  fdru  in  rihti.  P  theih  (acc.  rad.).  12254  jah  Umphit  mir,  theih  icerbe. 
II 927  ni  thiihta  mih,  theili  qudnii.    R"2l29  'Thu  quis\  quad  er,  'theih  Jcüning  bin'. 

Rel.  V157  Quad  er:  theih  thir  giblete.  VI622  dl,  theih  iu  gibi'ete.  111435 
firnim  nu,  wib,  theih  redino.     H  54  so  niuzis  ihn,  theih  zdlta. 

III.  theiz  —  thaz  iz. 
Es   handelt   sich    stets   um    die   konjunktion    thaz.      Im    Wechsel 


HIATUS    UXD    SYNALÖPHE    BEI    OTFRID  227 

von  hebung-  und  Senkung-  erhält  die  konjunktion  oft  einen  uebeuiktus; 
das  pronomen  iz  füllt  die  Senkung: 

1.  hebung. 

1117 18  thaz  iz  liuhte  uhar  al.  II21i8  thaz  is  göt  gihore.  1112036  thaz  iz 
ther  ni  tvari.  III  26 13  thaz  iz  Ubosamaz  si.  IV  2 12  thaz  iz  dl  gizcimi.  P  thaz 
(acc.  rad.).  R'llsa  Thaz  iz  io  ni  werde.  VI234  thaz  iz  mag,  so  ih  n'dinon.  P 
thdz.     V2538  thdz  iz  hiar  ni  merre. 

Einmal  scheint  der  Schreiber  zunächst  die  form  fhe^z  haben  setzen 
zu  wollen;   sie  ist  in  die  rhythmisch  erforderliche  vollform  korrigiert: 
III  448  thdz  iz  iras  ther  hcilant.     V  tlidsiz  {dz  korrigiert  aus  e). 

2.  hebuug. 
I8ii  ni  wölta,  thaz  iz  tnirdi. 

Das  pronomen  iz  hat  nur  2mal  einen  nebeniktus  erhalten  im 
Wechsel  von  hebung  und  Senkung: 

III 10  28  thaz  iz  irhdrmeti  inan  )ii(-r.     r\'l34  t/iaz  iz  zi  sudr  ni  zdlti.     P  tz. 

In  den  übrigen  8  versen   findet  sich  die  form  iheiz  im  eingang: 
12748  theiz  sin  dmbaJit  iciis.    111235  theiz  thiii  z/t  tvas  in  wdr.    III 132  theis 

ni  icurti  mdri.     1112424  theiz  ouh  man  ni  firgt'it.     IV  3728  theiz  ni  wurti  irfüntan. 

V746  tlieiz  in  dlatvari.     V258f>  theiz  bithekitaz  nist.    V1923  theiz  ist  dbulges  dag. 

Otfrid  hat  es  offenbar  vermieden,  auf  das  leichte  pronomen  iz 
einen  nebeniktus  zu  legen.  Daher  konnte  sich  die  sprechform  theiz 
im  verseingang  erfolgreich  gegen  die  neuen  orthogi-aphischen  vollformen 
behaupten.  Im  übrigen  hat  auch  hier  jede  form  ihren  rhythmisch 
fest  begrenzten  geltungskreis. 

Die  betonte  form  theiz  hat  statt,  wenn  eine  unbetonte  silbe 
vorausgeht  und  folgt: 

1.  hebung. 

I81S  joh  theiz  gidöugno  tcarti.  II 3 13  Joh  theiz  ni  wds  ouh  böralang.  V 
tlii^iz.    IV  720  quad,  theiz  ni  ivdri  hi  dUeswaz.    P  b}.    V32  joh  theiz  io  Mar  in  libe. 

2.  hebung. 

I  026  Tho  scre/'b  er,  theiz  ther  Hat  sah.    V  11 30  thoh  förahtit,  theiz  ni  megi  sin. 

Im  auftakt  und  in  der  Senkung  erscheint  wiederum  ohne  aus- 
nähme die  unbetonte  form  theiz. 

Im  auftakt.  ^ 

II 37  theiz  scöno  thoh  gilute.  I84  theiz  alles  wesan  möhti.  19 12  theiz  wari 
gidfaronti.     11768  2344  208  272;  II  2  ig  36  32  49  484  629  840  42  9 40  II52  149  17 10 

2I4   2434;    III  I34    75   824    1925   2036    55    158   2I2O   35    22  3   24l5;   IV  1 39    Uso    1329  I633 
1959    29l7    46    3O12    376    14;     VI25    27    5 17    18    854    936    11  16    12  12    1324    17  7    23228    2565. 

1 1 22  theiz  gihistlichaz  ivürti.     V  theiz  {z  korrigiert  aus  st). 

In  der  Senkung. 

115 12    er   bifdnd,   theiz  was  niviht.     III 12 so  ni  theiz  mdn  gidati.     1228  gi- 
lb* 


228  KAPPK 

nada   thtn,    theiz   thlhe.     11728  v^zun  ouh,   theiz  war  ist.     111491  so   thihikü  mih, 
theis  megi  sin.   V  938  nust  thritio  dag,  theiz  izt  gidtin.   V  2 17  iJaa,  theiz  in  thir  seine. 

9.  Die  relativpartikeln  fhi  und  the. 
A.  Im  auftakt. 

I.  Vor  konsonantisch  anlautender  li  e  b  u  n  g. 

V856  thiu  töd  giscankt  iu  enti.     V  ihiii  (korrigiert  aus  the).     P  the. 

II.  Vor   einer  zweiten  konsonantisch  anlautenden 
auftaktsilbe. 

12827  the  ze  herzen  iu  gigdnge.     P  thie. 

III.  Vor  einer  zweiten  vokalisch  anlautenden  auftaktsilbe. 

1.  Der  sonant  der  partikel  ist  in  mindestens  Ihs.  elidiert. 

Vor  ih. 
I  16 15  thi  ih  zdlta  hi  then  dltoii.     P  thih.     D  thiih. 

Vor  ir. 
12733  the  ir  eiscot  nu  so  gemo.     F  thir.     P  t/ieir. 

Vor  er. 
110 18  thi  er  uns  ist  Uhenti.    P  thi.    F  ther.     115-26  ther  unsih  erist  bisueih. 
28  ther  nnsili  ju  biskrdnkta. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 
IV  625  thi  ih  hera  nu  bat  so  gemo. 

B.  In  der  Senkung'. 

I.  Vor  y okalisch  anlautender  hebung-. 
Es  findet  sich  nur  ein  beleg  der  vollform  der  partikel  the. 

IV  16  29  fon  then,  theiz  gisähan. 

IL  Vor  einer  v  0  k  a  1  i  s  e  h  anlautenden  zweiten 

Senkungssilbe. 

1.  In  mindestens  1  hs.  ist  die  partikel  auf  den  anlautenden 

konsonanten  reduziert. 

Vor  //*. 

11741    thie   wisun   man,    theih   sdgeia.    V  theih   (e  korrigiert  aus  i).     P  thih. 

F  thie  ih.     IV  11 47  widar  thie,  thih  wältu. 

Vor  in  (dat.  plur.). 

V  6 19  thio  biiah,  thin  frtima  zaltan. 

Vor  er. 
II 4  66  tJten  it^eg,  ther  f dran  ivölle. 

2.  Alle  hss.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

Vor  ih. 
I81  Ther  man,  theih  noh  ni  sügeta.    III  128  iver  quedent  sie  theih  sc  tili  sin. 
Hi3B  Altan  nid,  theih  redota. 


HIATUS   UND    SYNALÖPHE   BEI   OTFRID  229 

Vor  iz. 
111439  ^ver  ther  ivdri,  theiz  gihöt.     111193  Nist  untar  uns,  theiz  thi'dte. 

III.  An  zweiter  oder  dritter  stelle  der  Senkung  vor 

vokalisch  anlautender  hebung. 

1.  In  mindestens  1  hs.  ist  die  partikel  auf  den  anlautenden 

konsonanten  reduziert. 

Vor  ih. 

111 36    bi   nöte,    thih    nu  sdgeta.     F   theih.     111 25  Bi   tJiiu   ivard,   thi  ih  nu 

sdgeta.    V  thi  ih  (i  übergeschrieben).    P  tliih.    F  theih  (e  aus  i  korrigiert).     IV  9  30 

thia  selhun  era,  thih  un  quää.     F  dia  ih. 

Vor  unsih. 
1269  In  döufe,  the  unsih  reinot.   V  the  (hinzukorrigiert).     P  thiu. 

Vor  er. 
11935  In  berge,  the  er  mo  zeinti.   P  ther.    II 7  2  joh  meistera,  ther  uns  önda. 
V  ther  (acc.  rad.). 

2.  Alle  h SS.  zeigen  die  vollformen  nebeneinander. 

Vor  ih. 

IV  33?  T/ies  seltnen,  thi  ih  nu  zelita.  V  143o  thesses,  thi  ih  nu  hiar  gi- 
wiiag.     P  ih. 

Vor  imo. 

V  23  3  themo,  thi  imo  thionot.     F  der  imo. 

Vor  uns. 
IV  1633  Sin   kraft    ouh,   thi   uns  giscrihan  ist.    V  thi:  (u  rad.).    F  diu  uns. 

Zur  relativen  anknüpfung  braucht  Otfrid  gern  die  partikeln  thi 
the.  Die  formen  werden  promiscue  gebraucht;  doch  ist  the  allen 
Schreibern  geläufiger.  Die  partikel  erscheint  in  auftakt  und  Senkung 
gern,  wenn  die  vollform  des  pronomens  das  tempo  übermässig  be- 
schleunigen würde.  Vor  vokalisch  anlautender  silbe  wird  die  pro- 
klitische  partikel  auf  die  Schwundstufe  herabgesetzt.  Diese  ist  häufig 
in  den  hss.  bezeichnet;  zuweilen  findet  sich  dann  in  den  Varianten 
die  vollform  der  partikel  oder  die  vollform  des  pronomens.  Vor  einer 
zweiten  vokalisch  anlautenden  auftakt-  oder  seukungssilbe  erweist 
sich  die  partikel  stets  als  phonetisch  leichter.  Im  auftakt  ist  die 
Schwundstufe  vor  ih  ir  er  belegt ;  IV  6  25  zeigen  alle  hss.  die  voll- 
formen thi  ih  im  auftakt.  In  der  Senkung  stehen  4  Schwundstufen 
vor  ih  in  er  5  vollformen  gegenüber,  die  stets  mit  den  folgenden 
pronominibus  ih  iz  als  theih  theiz  zusammengeschrieben  sind.  An 
zweiter  und  dritter  stelle  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender 
hebung  wird  die  partikel  auf  den  anlautenden  konsonanten  redu- 
ziert; 6  Schwundstufen  vor  ih  er  um^ih  beweisen  für  4  vollformen  vor 
ih   imo    lois.     Wegen   der   proklitischen    natur   der  partikel  wird  man 


230  KAl'l'E 

sie  auch  in  einsilbiger  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung  auf 
den  anlautenden  konsonanten  reduzieren,  obwohl  sich  nur  einmal  die 
voUtbrm  tJieiz  belegen  lässt:  IN  IQ^^  fon  then,  theiz  (/iaa/iwi.  Im  ein- 
silbigen auftakt  vor  vokalisch  anlautender  hebung  ist  IV  1841  thi  Ih 
es  wurti  winlly,  V  thi:  (11  radiert),  P  tlüihes  durch  den  akzent  in  P 
völlige  synalöphe  eindeutig  bezeichnet.  Man  wird  auch  H  150  thi  unsih 
ticöno,  so  yizäm  die  partikel  auf  die  Schwundstufe  herabsetzen.  Er- 
scheint doch  auch  der  proklitische  artikel  thie  thio  im  einsilbigen  auf- 
takt vor  vokalisch  anlautender  hebung  in  der  Schwundstufe. 

I).  Interrogativa. 

1.  tveih  weist. 

Die  formenpaare  iveih  —  tvaz  ih  und  iveist  —  waz  ist  scheiden 
sich  nach  denselben  regeln,  die  sich  schon  bei  der  betrachtung  der 
analogen  formenkreise  des  demonsti-ativpronomens  ergaben. 

Im  regelmässigen  Wechsel  von  hebung  und  Senkung  erhält  das 
pronomen  ivaz  einen  nebeniktus:  IV  23  35  ni  iceidu,  waz  ih  sagen  thir. 
In  derselben  tendenz  hat  Otfrid  die  form  iveih  gesetzt,  wenn  eine  un- 
betonte silbe  vorausgeht  und  folgt: 

13  29  Hiigi,  iveih  thir  aägöti.  II818  theih  äuge,  tcei/i  fon  thir  nam.  II 21 13 
Weist  thu,  iveih  thir  redinon. 

Ebenso  weist: 

III 13  50  quad,  er  wdri  (weist  es  mer  !).     V  I46  er  sälta  (tveist  es  mera). 

Vielleicht  haben  wir  hier  eine  echt  volkstümliche  redewendung 
vor  uns,  die  Otfrid  in  fester  prägung  übernahm,  und  zeigt,  wie  echt 
der  dichter  sich  der  Volkssprache  bediente.  Sie  findet  sich  IV  6  32 
hinter  einer  betonten  silbe:  thiu  hnbeta  ji'i  (weist  es  mer!). 

Vers   V  9 13   ist   in   allen   hss.  durch   die    hauptbetonte    kurzform 
weist  eingeleitet:  'Weist',  quad,  'iiier  redina.    V  9  21  tritt  das  pronomen 
in    den    auftakt ;    das    verbum    erhält   den  hauptiktus ,    ohne   dass    es   | 
einen  merklichen  sinnesakzent  trüge:    Waz  ist  thaz',  quad  er,  'sidihes'?   \ 
Dieser  vers  erfüllt  die  forderungen  der  Orthographiereform ;   der  erste   i 
schliesst  sich  an  die  volkstümliche  redeweise  an. 

2.   wemo.  I 

Der  dat.  wemo  ist  bei  Otfrid  nur  5mal  belegt,  stets  unter  diesem  i 

Schriftbild:    V2i7  fon    wemo    quami    sMihthimj.      III  18 35    wemo    thih  ' 

ivolles   ebonon.     Dass   die   form   in    der   Umgangssprache   des  9.  jähr-  i 

hunderts   aber   schon  den  mhd.  lautstand  erreicht  hat  -  wie  auch  der  i 

dat.  /?no  -  beweist  115  32  so  wemo  jz  ni  (jilöiihit,  P  iremo  iz,  Y  ivemoa  j 


HIATUS   UND    SYNALÖI'HE   BEI    OTFRID  231 

D  wemo  /c.  Vor  den  senkungssilben  er  und  //•  hat  die  hoehbetonte 
satzdoppelform  iremo  statt:  IV12i6/o»  ivemo  er  suWi  qudti.  Vlln 
'So  iremo  ir    quacl,  'giheizef. 

3.  Instrumentalis. 

Der  instrumentalis  des  interrogativums  läuft  in  ahd.  zeit  in  der 
doppelten  gestalt  hin  und  wiu  um.  Auch  Otfrid  braucht  beide  formen, 
hin  16mal,  'wln  6mal.     Vgl.  z.  b. : 

II 14 19  Thaz  offonot  Johannes  tlulr,  bi  hiu  si  so  qtiad  in  lodr.  ?,o  hi  wiu 
si  thaz  so  zelita.     ini4ii3  bi  km  er  hera  in  wörolt  quam.     F  wiu. 

Möglicherweise  ist  bi  hin  als  biu  zu  lesen ;  eine  handschriftliche 
gewähr  bietet  sich  nicht.  Die  präposition  zi  verbindet  sich  mit  dem 
instr.  hiu  unter  allen  akzentverhältnissen  zu  ziu.  Die  schreibform  zi 
hiu  zur  sprechform  siit  begegnet  in  den  Otfridhss.  nicht;  doch  kommt 
sie  sonst  vor,  vgl.  z.  b.  Tatian  64,  4  183,  4,  Mit  der  form  iviu  hat 
keine  kontraktion  statt:  IV 18 3  Zi  ivhi  sie  iz  ouh  bibrähtin.  Alle 
anderen  verse  sind  durch  ziu  eingeleitet: 

Z.  b.:  1472  ziu  ther  iwarto.  11120 126;  IV  19 11  8817;  V747  18  4.  II 57  Ziu 
sculun  Frdnkon,  so  ih  qudd.  12745;  1119-26;  IV  19  20  20  31  26 11;  VI84.  N  1  w  Wib, 
ziu  kümistu  thar? 

Vor  vokalisch  anlautender  silbe  begegnet  der  unbetonte  instru- 
mentalis nur  3mal  vor  einer  zweiten  vokalisch  anlautenden  auftakt- 
silbe.     In  allen  3  belegen  stehen  die  vollformen  nebeneinander: 

Vor  ist. 
nil43i  ^Ziu   ist,   drühtinl'    quad   tho    Petrus.     1111643  Ziu   ist   thdnne  in 
Widarmuati. 

Vor  er. 
111845  Ziu  er  scölti  io  thes  yithenhen. 

III 1431  16  43  ist  zweifellos  der  sonant  der  verbalform  zu  eli- 
dieren. Das  pronomen  er  bringt  stets  seine  bedeutende  schallfülle 
zur  geltung;  hinter  den  betonten  oder  unbetonten  formen  wio  thia 
thiu  thie  bleibt  das  pronomen  er  stets  intakt,  während  die  synalöphe 
durch  reduktion  des  vorhergehenden  wortes  vor  sich  geht.  Man  wird 
daher  das  richtige  treffen,  wenn  man  III 8  45  das  konsonantische  de- 
ment des  diphthongen  unterdrückt. 

III.  Zusammenfassende  Übersicht. 

Der  Übersicht  halber  seien  die  gesetze  für  den  hiatiis  und  die 
synalöphe  noch  einmal  zusammengestellt. 

Der  Vortrag  der  Otfridverse  lässt  den  h  latus  in  folgenden  fällen  zu : 


282  KAl'PK,    HIATUS   UND    SYNAL«')PHE   HEI   OTFUrD 

1.  Wenn    eine   vokaliscli   auslautende  hebung-  vor  eine  vokalisch 
anlautende  bebung-  tritt. 

2.  Wenn   ein   vokalisch    auslautendes   einsilbiges   wort  allein  im 
auftakt  oder  in  der  Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung  erscheint. 

Ausnahmen  für  den  auftakt. 

a)  Die  präpositionen  In  zi,  die  relativpartikel  thi  und  das  präfix 
gi-  werden  auf  die  Schwundstufe  herabgesetzt. 

b)  Die  neg'ation  ni  verliert  ihren  sonanten,  wenn  die  hebung 
auf  /-  anlautet;  sonst  hat  keine  synalöphe  statt. 

c)  Der  u.  a.  pl.  m.  sie  wird   auf  die  ablautsstufe  si  herabgesetzt. 

d)  Der  n.  a.  pl.  m.  thie  und  der  n.  a.  pl.  fem.  thio  werden  je  nach 
ihrer  syntaktischen  funktion  verschieden  behandelt:  Der  pro- 
klitische  artikel  wird  auf  den  anlautenden  konsonanten  redu- 
ziert. Das  relativpronomen  thie  verbindet  sich  mit  dem  pro- 
nomen  er  zu  dem  steigenden  diphthongen  thier;  vor  einer 
hebung  mit  qualitativ  abweichendem  anlaut  hat  keine  syna- 
löphe statt.  Das  demonstrativpronomen  erscheint  stets  in  der 
vollform. 

Ausnahmen  für  die  Senkung. 

a)  Die  präpositionen  hi  zi  und  das  präfix  gi-  werden  auf  die 
Schwundstufe  reduziert. 

b)  Der  n.  sg.  fem.  si,  der  acc.  sg.  fem.  sia  und  der  n.  a.  pl.  m.  sie 
werden  auf  die  Schwundstufe  reduziert. 

c)  Der  acc.  sg.  fem.  thia,  der  n.  a.  pl.  m.  thie  und  der  n.  a.  pl.  fem. 
thio  werden  je  nach  ihrer  syntaktischen  funktion  verschieden 
behandelt:  der  proklitische  artikel  wird  auf  den  anlautenden 
konsonanten  reduziert,  das  relativpronomen  erscheint  stets  in 
der  vollform. 

3.  Wenn   auf  eine  vokalisch  auslautende  hebung  eine  vokalisch 
anlautende  einsilbige  Senkung  folgt. 

Ausnahmen. 

a)  Das  betonte  adverb  lolo  geht  mit  dem  pronomen  er  die  Ver- 
bindung iv'ier  ein. 

b)  Enkliticae  geringsten  nach  drucks  wie  das  pronomen  iz  und  das 
endbetonte  pronomen  i}u))i  verlieren  den  unbetonten  sonanten. 

4.  Wenn  zweisilbige  wurzelbetonte  werter  mit  kurzer  Wurzelsilbe 
vor  eine  vokalisch  anlautende  hebung  treten. 

Der  Vortrag  der  Otfridverse  lässt  synalöphe  eintreten  nach  fol- 
genden gesetzen: 


GERING,   ALTNORDISCH    V  233 

1.  Der  eudvokal  zweisilbiger  wurzelbetonter  würter  mit  langer 
Wurzelsilbe  wird  vor  vokaliscb  anlautender  hebung  elidiert. 

2.  Tritt  ein  einsilbiges  vokalisch  auslautendes  wort  an  zweiter 
stelle  der  Senkung  oder  des  auftakts  vor  eine  vokalisch  anlautende 
dritte  senkungs-  oder  auftaktssilbe,  so  hat  stets  synalöphe  statt. 

3.  Tritt  ein  zweisilbiges  vokalisch  auslautendes  wort  im  auftakt 
vor  eine  dritte  unbetonte  vokalisch  anlautende  silbe,  so  wird  stets  der 
endvokal  des  zweisilbigen  Wortes  elidiert. 

4.  Vokalisch  auslautende  dreisilbige  wurzelbetonte  wörter  ver- 
lieren ihren  endvokal  vor  einer  vokalisch  anlautenden  unbetonten  silbe. 

5.  Der  Vortrag  erstrebt  einsilbige  Senkung,  wenn  ein  vokalisch 
anlautendes  einsilbiges  wort  in  zweisilbiger  Senkung  hinter  vokalisch 
auslautender  hebung  erscheint :  schwach  anlautende  einsilbige  enkliticae 
(/>  ist  hno  ih  in)  werden  auf  die  Schwundstufe  herabgesetzt.  Pho- 
netisch gewichtigere  w^örter  gehen  mit  diphthongisch  auslautender 
hebung  kontraktionen  ein,  deren  jeweiliger  Charakter  von  dem  phone- 
tischen gewicht  der  zusammentreflfenden  sonanten  abhängt.  Hinter 
vokälisch  auslautender  hebung  verliert  das  prouomen  es  seinen  sonanten. 

6.  Der  endvokal  wurzelbetonter  zweisilbiger  wörter  fällt  vor 
vokalisch  anlautender  Senkung.  Nur  wenn  schwach  anlautende  enkliticae 
iz  imo  incoi  in  (=  inqn)  ist  ir-  in  (praep.)  folgen,  kann  die  synalöphe 
auch  an  diesen  eintreten,  wenn  der  endvokal  phonetisch  gewichtiger 
ist.  Finden  sich  beide  formen  der  synalöphe  nebeneinander  für  die- 
selben Wörter,  so  ist  der  endvokal  dadurch  als  irrationaler  vokal 
charakterisiert. 

7.  Eine  vokalisch  auslautende  zweite  oder  dritte  silbe  des  auf- 
takts oder  der  Senkung  verliert  ihren  sonanten  vor  vokalisch  an- 
lautender hebung. 

8.  Tritt  ein  vokalisch  auslautendes  einsilbiges  wort  im  auftakt 
oder  in  der  Senkung  vor  eine  zweite  vokalisch  anlautende  unbetonte 
silbe,  so  hat  stets  synalöphe  statt. 

KIEL.  ]{UDOLF   KAI'l'E. 


MISZELLE. 

Altnordisch  v. 
Meine  ausführuugen  im  13.  bände  der  Beiträge  (s.  202  ff.),  die  sonst,  soweit 
ich  sehe,  allgemeine  Zustimmung  gefunden  haben,  sind  neuerdings  von  Eugen  Mogk 
in  den  ludogerm.  forschungen  (26,  209  ff.)  angefochten  worden.  Obwohl  ich  nicht 
fürchte,  dass  seine  einwürfe  genauer  prüfende  leser  überzeugen  werden,  lialte  ich 
es  doch  für  geboten  —  damit  das  Sprichwort  Qui  taeet  consentire  videtur  nicht  auf 
mich,  anweuduug  finde.  —  in  den  nachstehenden  zeileu  kurz  darzulegen,  warum  ich 


234  GERING 

weit  davon  entfernt  bin,  die  ergebnisse  meines  Ideinen  vor  mehr  als  zwanzig  jähren 
geschriebenen  aufsatzes  als  gefährdet  zu  betrachten. 

Die  Statistik  hat  unzweifelhaft  auch  bei  philologischen  Untersuchungen  unter 
umständen  ihren  grossen  wert,  falsch  angewendet  führt  sie  aber  notwendigerweise 
zu  fchlschlüssen.  Wenn  Mogk  seinen  Unglauben  an  die  vokalische  Qualität  des  v 
in  den  älteren  altnordischen  denkmäleru  dadurch  begründet,  dass  die  fälle,  in  denen 
V  mit  vocal  alliteriert,  gegenüber  den  anderen,  wo  v  mit  v  gebunden  ist,  selten 
sind,  so  hat  er  nicht  mit  der  möglichkeit  gerechnet,  dass  in  der  zeit,  der  unsere 
handschriften  entstammen,  zahlreiche  verse  der  ersten  art,  in  denen  man  damals 
einen  korrekten  Stabreim  vermisste,  geändert  worden  sind,  einer  möglichkeit,  die 
meines  erachteus  durch  meinen  hinweis  auf  die  merkwürdigen  Varianten  der  Hug- 
svinnsmöl*  (s.  XII  meiner  ausgäbe),  die  g'ar  nicht  anders  erklärt  werden  können, 
als  realität  erwiesen  ist.  Dadurch  wird  es  auch  verständlich,  dass  in  den  skaldischen 
dichtungen,  wo  ein  Verstoss  gegen  die  strengen  kunstregeln  noch  unangenehmer 
empfunden  ward  als  in  der  volkstümlichen  poesie,  die  belege  für  die  alliteration 
von  V  mit  vokal  beinahe  ganz  fehlen ". 

Wären  die  von  mir  a.  a.  o.  gesammelten  verse  nicht  vorhanden,  so  wäre  da- 
durch über  den  ursprünglichen  Charakter  des  altu.  v  noch  nichts  erwiesen,  da  ein 
argumentum  ex  silentio  nicht  beweiskräftig  ist:  das  englische  w  ist  noch  heute, 
wie  in  den  tagen  könig  .EJfreds,  ein  halbvokal,  und  dennoch  suchen  wir  in  der 
stabreimenden  poesie  der  Angelsachsen  vergeblich  nach  einem  verse,  in  dem  «■  mit 
vokal  alliteriert.  In  der  altu.  dichtung  aber  gibt  es  solche  verse,  die  sich  nicht  aus  der 
weit  schaffen  lassen,  und  weil  sie  da  sind,  muss  das  v  in  der  zeit  ihrer  entstehung  noch 
die  vokalische  ausspräche  gehabt  haben.  Mogk  hat  freilich  nicht  übel  lust,  diese 
verse  als  alliterationslos  in  ansprach  zu  nehmen.  Er  zählt  in  der  von  ihm  aus  der  Edda 
zusammengestellten  liste  24  solcher  verse  ^,  von  denen  jedoch  die  4  aus  den  Här- 
bar^sljöj)  gestrichen  werden  müssen,  da  es  mindestens  möglich  ist,  dass  diese  zeilen 
als  prosa  gemeiut  sind,  ebenso  die  galdralag-zeile  Skm  28  ^,  die  an  die  vorhergehende 
langzeile  angereimt  ist,  und  Vkv  8  ^,  wo  offenbar  svd  und  sinnar  die  reimstäbe 
sein  sollen.     Dagegen  fehlen  die  folgenden*: 

H(iv  36 1  (=  87')  hii  es  betra    \    pött  lltit  se 

Vm  5  ^  at  hpllic  kann  kom    j     ok  dtti  Ims  fapir 

Vm  34  '  segpu  pat  et  dtta    |    aus  pik  fröjjan  kvepa 

1)  Dieses  gedieht  glaube  ich  nunmehr  doch  in  das  12.  Jahrhundert  setzen  zu 
müssen.  Dass  der  lateinische  Cato  schon  so  früh  in  Island  bekannt  war,  beweist 
ja  das  zitat  in  dem  1.  grammat.  traktate  der  Sn.  Edda  (ausg.  von  V.  Dahlerup  und 
Finnur  Jönsson  s.  34). 

2)  Zu  den  Beitr.  13,  208  angeführten  belegen  ist  hinzuzufügen  Gunnlaugr 
ormstunga  (Guunlaugs  saga  ed.  Mogk-,  s.  11'): 

truep)  honum  vart    \     hann's  illr  ok  svartr, 
und  Auör  (Laxd.  c.  35,  12) : 

vel  es  ek  veü  pat    \     vas'k  ein  of  Idten. 
Ein   weiteres   zeugnis    enthält   die   dröttkvsett-strophe    der   Karlevi-inschrift, 
denn  ich  zweifle  nicht,  dass  Wimmer,  der  antils  als  eine  verkürzte  oder  fehlerhafte 
Schreibung  für  uandils  erklärt  (De  danske  runemindesmserker  I,  CXXIV),  das  richtige 
getroffen  hat.     Die  namensform   Yndill  ist  sonst  nirgends  nachgewiesen. 

3)  HH  n  20^  ist  unrichtig  zitiert;  der  vers  lautet  nach  der  handschritt: 
vanntatta  vigi    \     vas  per  pat  skapat. 

4)  Offenbar  verstümmelte  verse  sind  nicht  berücksichtigt  und  die  Härbart)sljö{> 
gänzlich  ausser  betracht  gelassen. 


ALTNORDISCH   V  235 

Vm  38  ^  hvapan  NjQrpr  of  kom    \    mep  dsa  sunuin 

Skm  1  *  R/'stu  nü,  Skirnlr    \     ok  gakk  at  heipa 

Alv  11^  live  sä  himinn  heitir    \     erakeudi 

Hdl  49  -  svd  at  pü  eigi  kemz    \    d  braut  hepan 

Sg  49  '  pQgPiU  allir    \    hugp>u  at  rdpmm 

Akv  38 '  skcevapi  en  skirleita  \  veigar  peim  at  hera. 
Es  ergeben  sich  somit  27  verse  aus  einer  gesamtsumme  von  rund  6400,  d.  h. 
2,4  7o.  Diese  verse  sind  natürlich  sämtlich  verderbt  (auch  Höv  36 '),  wie  denn 
mehrere  von  ihnen  neben  der  reimlosigkeit  noch  irgend  ein  anderes  stigraa  der 
korruptel  au  sieh  tragen.  Zählt  man  die  verse,  in  denen  v  mit  vokal  alliteriert, 
hinzu  —  ich  will  nur  sechs  davon  als  absolut  sicher  gelten  lassen '  — ,  so  erhöht  sich 
die  zahl  auf  33,  von  der  sie  also  nahezu  '/s  (18  7«)  ausmachen.   Hier  ist  die  Statistik 

—  und  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  —  am  platze,  die  es  als  ausgeschlossen 
erscheinen  lässt,  dass  ein  so  hoher  Prozentsatz  von  zeilen  mit  dem  —  vermeintlichen 

—  gleichen  fehler  auf  das  konto  des  zufalls  gesetzt  werden  könnte.  Überdies  ist 
auch  der  urasta.nd  in  anschlag  zu  bringen,  dass  keiner  jener  sechs  verse  sonst  irgend 
einen  anlass  zur  Verdächtigung  bietet.  Der  schluss  dürfte  also  erlaubt  sein,  dass 
sie  fehlerlos  überliefert  sind  und  den  dichtem  und  hörern,  die  das  v  ohne  jede 
frage  noch  als  halbvokal  empfanden,  als  korrekt  gereimte  zeilen  gegolten  haben. 

Auf  den  Verfasser  des  ersten  grammatischen  traktats  (der  zweite  kann,  da 
er  schon  in  das  13.  Jahrhundert  fällt,  ausser  betracht  bleiben)  sollte  sich  Mogk  nicht 
berufen,  denn  die  Zusammenstellung  der  Wörter  austr,  earn,  eu;  eör,  eyrir  und  lu'ii 
beweist,  dass  ihm  a  vor  vokal  ebenso  als  vokal  galt  wie  a  und  e  (i),  und  wenn 
er  sich  über  die  qualität  des  u  nicht  näher  auslässt,  so  ist  die  einfache  erklärung 
die,  dass  die  ausspräche  dieses  lautes  stets  die  gleiche  war,  d.  h.  daß  zwar  earn 
statt  iarii  gesprochen  wurde,  niemals  aber  oln  statt  uin.  Noch  weniger  beweisend 
ist  die  bekannte  tatsache  (die  nicht  durch  umständliche  Zählungen  erhärtet  zu  werden 
brauchte),  dass  die  isländischen  Schreiber  v  und  u  gewöhnlich  unterscheiden.  Sie 
folgten  hierin  nur  der  angelsächsischen  tradition.  Auch  die  Angelsachsen  bezeich- 
neten das  unsilbische  u  durch  die  rune  P,  die  nach  ihrem  vorgange  bekanntlich 
auch  in  norwegischen  und  isländischen  handschriften  verwendet  wird,  das  silbische 
u  dagegen  durch  u  —  und  doch  hat  noch  niemand  den  schluss  daraus  zu  ziehen 
gewagt,  dass  in  weox,  loeord,  nnchlor  usw.  die  spirans  gesprochen  wurde. 

Im  anschlusse  hieran  sei  noch  gegen  eine  andere  behauptung  Mogks  einspruch 
erhoben.  Er  schliesst:  weil  die  Lokasenna  der  'isländischen  frührenaissance'  an- 
gehört, ist  anlautendes  vr  in  diesem  gedichte  unmöglich.  Mir  ist  es  unverständlich, 
wie  man  ein  sicheres  mittel,  ein  literarisches  denkmal  zeitlich  und  örtlich  zu  fixieren, 
so  leichten  herzens  preisgeben  kann.  Da  die  Verbindung  vreipan  vtga,  die  durch 
Fm  l'\  17-.  28^  Sd  27^  als  eine  feste  alliterierende  t'ormel  erwiesen  wird,  auch 
an  drei  stellen  (15^.  18*.  27*)  der  Lokasenna'niehr  als  wahrscheinlich  ist,  so  folgere 
ich,  was  mir  methodisch  richtiger  erscheint,  umgekehrt :  weil  der  dichter  anlautendes 
vr  vor  hellem  vokale  noch  sprach,  kann  das  lied  der  sogenannten  'isländischen  früh- 
renaissance' —  ich  bin  ein  feind  derartiger  prätentiöser  Schlagwörter,  weil  sie  falsche 
"Vorstellungen  erwecken  und  schiefe  vergleichungen  veranlassen  —  nicht  angehören. 

1)  Ls  2K  10'.  36 ^  hk  28-',  Q^r  II  20',  (Jd  15-. 

KIKL.  HTCO    GEUING. 


236  GERING 

LITERATUR. 

NEUERE  SCHRIFTEN  ZUR  RUNENKUNDE. 

IV  ^ 

1.  De  danske  ruuemindesmserker  uudersogte  og   tolkede   af  Ludv.  F.  A.  Wiiumer. 

Afbildiiiugerne  udforte  af  J.  Magnus  Petersen.  Undersogelserne  foretague  med 
understottelse  af  det  kgl.  uordiske  oldskriftselskab  og  ministeriet  for  kirke-  og 
undervisQiugsvsesenet;  udgivelsen  bekostet  af  Carlsbergfondet.  I,  1:  Forord. 
Almiudelig  indleduiug.  Kobenhavn,  Gyldeudalske  boghaudel  1907—1908.  19, 
CXCV  s.  gr.  4.  20  kr.  -  IV,  2:  TillsKg  og  rettelser.  Ordsamling.  (VI),  20 
(s.  215-234)  +  XCVn  s.     Kobenb.  1908.     15  kr.     (I-IV  kompl.  175  kr.). 

2.  Ell  iiidskrift  med  «Idre  runer  fra  Floksand  i  Nordhordlaud.     Av  Magnus  Olsen 

og  Haakon  Schetelig.     (Bergeus  museums  aarbog  1909  nr.  7.)     44  s. 

TryUerunerne    paa    et    vaevspjeld   fra  Lund   i   Skaane    af  Magnus   Olsen. 
(Cbristiania  Videnskabs-selskabs  forbandlinger  for  1908  ur.  7.)     26  s. 

3.  Kylfverstenen.     Eu  24-typig  runrad   af  Otto  Ton  Friesen  ocb  Hans  Hansson. 

[Antikvarisk  tidskrift  för  Sverige  18  nr.  2.]     Stockb.  1908.     25  s. 

1.  Mit  diesen  beiden  schnell  hintereinander  erschienenen  halbbäuden  hat  das 
monumentale  werk  seinen  würdigen  abscbluss  gefunden;  dass  sie  sich  durchaus  auf 
der  höhe  der  voraufgegaugeuen  halten,  braucht  kaum  ausdrücklich  liervorgehoben 
zu  werden. 

Der  erste  (I,  1)  enthält  neben  einer  kurzen  Vorgeschichte  der  im  jähre  1875 
auf  wünsch  des  Kgl.  nordiske  oldskrift-selskab  übernommenen  arbeit  und  einem 
bericht  über  methode  und  technik  der  Untersuchung,  welcher  jedes  eiuzelne  denk- 
mal  —  mit  einziger  ausnähme  des  Londoner  leichensteines  —  an  ort  und  stelle  von 
Wimmer  persönlich  unterzogeu  wurde,  während  zugleich  der  rühmlichst  bekannte 
künstler,  prof.  Magnus  Petersen,  seine  vortrefflichen  Zeichnungen  ausführte,  eine 
ausführliche,  in  13  kapitel  gegliederte  einleitung.  Das  erste  handelt  über  zweck 
und  bestimmung  der  runensteine,  über  ihre  äussere  gestalt,  lokalität  und 
Umgebung.  Wenn  wir  von  den  im  4.  bände  behandelten  leichensteinen  der 
christlichen  zeit  absehen,  sind  diese  steine  nicht  eigentlich  als  grabsteine,  sondern 
als  denk  st  eine  zu  liezeichnen,  da  sie  in  zahlreichen  fäUen  gar  nicht  auf  oder 
neben  der  ruhestätte  der  verstorbenen  errichtet  wurden  und  sich  öfter  geradezu 
selbst  als  kenotaphien  bezeichnen,  indem  die  inschriften  melden,  dass  der  tote  fern 
von  der  heimat  im  auslande,  auf  einer  heerfahrt,  im  kämpfe  oder  auf  der  see,  sein 
ende  gefunden  habe ;  es  kommt  daher  auch  vor,  dass  au  verschiedenen  orten  steine 
gesetzt  worden  sind,  die  das  andenken  desselben  mannes  feiern.  Gewöhnlich  sind 
allerdings  sowohl  die  verstorbenen  wie  die  errichter  der  denkmäler  in  der  gegend, 
wo  diese  aufgestellt  wurden,  heimisch  und  ansässig  gewesen,  aber  es  haben  zu- 
weilen auch  Dänen  in  der  fremde  und  ausländer  in  Dänemark  verwandte  oder 
freunde  durch  herrichtung  eines  erinnerungssteines  geehrt. 

Zu  diesen  denkmälern,  von  denen  das  grösste  (der  schonische  stein  von 
Lundagärd)  die  ansehnliche   höhe   von   3,82  m   erreicht,   während   das  kleinste  (der 


1)  Vgl.    Zeitschr.    XXVIII    (1896)    s.   236-245;    XXX    (1898)    s.   368-379; 
XXXVIIl  (1906)  s.  124-143. 


NEUERE    SCHRIFTEN    ZUR   RUNENKINDE  237 

Sjoriugstein  in  Jütland)  nur  86  cm  misst,  sind  in  der  regel  die  im  laude  zahlreich 
vorhandenen  erratischen  granitblöcke  verwendet  worden,  unter  denen  man  mit  ver- 
liebe solche  von  der  nach  oben  sich  verjüngenden  form  der  alten  bautasteine  aus- 
wählte ;  Sandstein  ist  fast  nur  auf  Boruholm  benutzt,  dessen  boden  dieses  leichter 
zu  bearbeitende  material  lieferte.  Künstliche  glättung  ist  nur  selten  vorgenommen 
worden,  doch  hat  man  natürlich  in  der  rege]  für  die  Inschrift  die  breitesten  und 
ebensten  flächen  ausgesucht.  Im  gegensatz  zu  den  späteren  leichensteinen,  die  man 
auf  das  grab  legte,  haben  die  eigentlichen  ninensteiue  aufrecht  gestanden,  indem 
das  untere,  breitere  ende  in  die  erde  eingegraben  ward,  daher  die  Inschrift  auch 
stets  ein  gutes  stück  oberhalb  des  fnsses  beginnt.  Eine  seltene,  aber  mehrmals 
sicher  bezeugte,  ausnähme  ist  es,  dass  die  steine  innerhalb  des  grabhügels  an- 
gebracht wurden;  in  der  regel  bevorzugte  man  einen  ort,  der  von  dem  allgemeinen 
verkehr  stark  berührt  wurde,  die  fjordküsten,  wasserläufe,  landstrassen  oder  die 
weithin  sichtbare  spitze  eines  hügels,  der  zuweilen,  aber  durchaus  nicht  immer, 
der  grabhügel  des  toten  war,  sei  es,  dass  man  diesen  (wie  in  Jsellinge)  frisch  auf- 
schüttete oder  ein  altes  hügelgrab  aus  der  stein-  oder  bronzezeit  benutzte.  Sehr 
häufig  ist  auch  der  denkstein  von  anderen  steinen  umgeben  worden,  meist  wohl 
in  der  elliptischen  form  einer  'schiffssetzung'  (skeid),  wodurch  ein  denkmal  (kumbl) 
von  oft  sehr  beträchtlichem  umfange  geschaffen  ward. 

Das  2.  kapitel  beschäftigt  sich  mit  der  äusseren  gestalt  der  Inschriften. 
Zu  diesen  ist  in  der  mehrzahl  der  fälle  nur  eine  (die  glatteste)  seite  des  steines 
benutzt  worden,  öfter  aber  auch  mehrere  (bis  zu  vier),  sowie  die  kanten.  Eine 
seltene  ausnähme  ist  es,  dass  die  Inschrift  von  der  Vorderseite  über  die  spitze  des 
Steines  nach  der  rückseite  hinüberführt.  Kegel  ist  es,  dass  die  Inschrift  unten 
beginnt  und  nach  oben  läuft;  das  umgekehrte,  sowie  die  wagerechte  richtung, 
ist  nur  durch  wenige  beispiele  bezeugt.  Besteht  die  Inschrift  aus  mehreren  zeilen, 
so  laufen  entweder  alle  von  unten  nach  oben,  oder  die  richtung  wechselt  (ßouaxpo- 
(pT]Sdv);  gewöhnlich  wird  links  angefangen,  doch  gibt  es  auch  Inschriften,  die 
rechts  oder  in  der  mitte  beginnen.  Meist,  aber  nicht  immer,  sind  die  zeilen  durch 
striche  voneinander  getrennt  oder  von  strichen  eingerahmt.  Auf  späteren  deiik- 
mälern  verläuft  die  Inschrift  oft  in  einem  diu'ch  zwei  striche  gebildeten  bände, 
das  —  meist  links  beginnend  —  an  der  kante  des  steines  entlaug  läuft;  wenn  das 
band  nicht  ausreichte,  ist  die  fortsetzung  auf  verschiedene  weise  angebracht,  zu- 
weilen in  einem  zweiten,  inneren,  mit  dem  äusseren  parallel  laufenden  bände.  Hier- 
aus entwickeln  sich  dann  die  jüngeren  Schlangenwindungen,  die  jedoch  in 
Dänemark  nur  auf  den  jüngsten  sclionischen  steinen  und  auf  Bornholm  zu  völliger 
ausbüdung  gelangt  sind  und  vermutlich  auf  schwedischen  einfluss  zurückgeführt 
werden  müssen.  Die  länge  der  runen  ist  sehr  verschieden  (0,039—0,366  m)  und 
wechselt  sogar  häufig  innerhalb  derselben  Inschrift;  die  eigennamen  sind  öfter 
durch  grössere  runen  hervorgehoben.  Die  einzelnen  Wörter  sind  gewöhnlich  durch 
trennungszeichen  von  einander  geschieden,  die  jedoch  auf  den  ältesten  denk- 
mälern  noch  zuweilen  fehlen.  Am  häufigsten  gebraucht  ist  der  doppclpunkt,  seltener 
der  einfache  und  dreifache;  öfter  sind  statt  der  punkte  auch  kleine  senkrechte 
striche  verwendet  worden.  Erst  in  christlicher  zeit  wird  ein  kleines  schräg  liegen- 
des (mitunter  auch  doppelt  gesetztes)  kreuz  als  trennungszeichen  ü1)lich,  neben  dem 
jedoch  (bisweilen  sogar  in  derselben  Inschrift)  auch  die  punkte  noch  benutzt  sind. 
Von  dem  modernen  gebrauche  weicht  (wie  in  den  handschriften)  die  worttrennung 
dadurch   ab,   dass   sehr   oft   die  glieder  eines  compositums  von  einander  geschieden 


2b8  OERINd 

■werden,  umgekehrt  aber  zwischen  i)rä[)osition  und  regiertes  nomen  kein  trennunirs- 
zeichen  gesetzt  ist. 

Im  3.  kapitel  geht  der  Verfasser  zur  besprechuug  der  runenformeu  über, 
woran  im  4.  kapitel  die  Untersuchung  über  den  lautwert  der  runenzeichen 
sich  anschliesst.  Da  die  hier  in  betracht  kommenden  fragen  bereits  in  dem  be- 
kannten buche  des  Verfassers  über  die  runenschrift  behandelt  sind  und  neues  kaum 
geboten  wird,  unterlasse  ich  es,  darüber  zu  referieren. 

Kapitel  5  erörtert  die  spräche  der  r  u  n  e  n  i  n  s  c  h  r  i  f  t  e  n.  Diese  unter- 
scheidet sich  in  der  älteren  zeit  (bis  c.  950)  nicht  wesentlich  von  der  sprachform 
der  älteren  altnordischen  gedichte  und  der  ältesten  isländischen  handschriften,  wenn 
sie  auch  in  einzelnen  fällen  altertümlicher  ist,  z.  b.  run.  Eröulfr  gegen  altisl.  Hrölfr; 
Godamundr  —  Goötnundr ;  sunu  (acc.  sg.);  modrgin  —  iiwögin:  kumhl  —  kiiml:  liga 
(got.  ligan)  ~  Uggja;  rceispi  —  reisti ;  die  formen  des  demonstrativprouomens  sdsi: 
die  Vergleichspartikel  pqn  (altisl.  an,  en);  (eft  als  präposition  u.  a.  Erst  mit  dem 
Schlüsse  des  10.  Jahrhunderts  beginnt  das  ostnordische  sich  deutlich  von  dem  west- 
nordischen zu  scheiden:  jenes  bewahrt  noch  lange  zeit  nebeneinander  die  beiden 
r-laute,  die  westnordisch  bereits  früh  zusammenfielen,  und  den  alten  diphthongen 
ni,  der  westnordisch  vor  dentalen  in  iö  übergeht,  bietet  öfter  d  an  stelle  des 
westn.  ü  (bö,  bru,  Glömr)  und  //  an  stelle  von  o  {b//r),  wandelt  e  (e)  zu  re  («), 
hat  den  zt-umlaut  des  a  in  der  regel  nur  dort  erhalten,  wo  der  umlautwirkende 
vokal  später  geschwunden  war  —  die  von  Wimmer  nicht  erklärten  ausnahmen 
(sautu,  faupur,  fojmr)  scheinen  auf  Schonen  und  Bornholm  beschränkt  zu  sein, 
so  dass  hier  eine  ostdänische  eigentümlichkeit  zu  statuieren  wäre  — ;  es  hat  ferner 
nur  geringe  spuren  des  ii^-iunlauts  aufzuweisen  und  anlautendes  h  vor  r  früher  ab- 
geworfen als  das  westnordische  \  während  die  organischen  formen  satti,  sattr  (gegen 
westn.  setti,  settr)  sogar  ins  neudänische  hinübergerettet  sind.  —  Von  abweichungen 
und  eigentümlichkeiten  auf  dem  gebiete  der  flexionslehre  notiert  Wimmer  die 
deklination  des  Wortes  drengr,  das  im  altdänischen  zur  Ja-klasse,  im  altwestnor- 
dischen  dagegen  zur  t-klasse  gehört,  das  fehlen  des  pronomens  enn,  inn  (altdänisch 
begegnet  nur  hinn),  die  analogiebildung  soe  neben  sd,  die  altertümlichen  formen 
des  zusammengesetzten  demonstrativprouomens  sdsi,  sü-si,  pai-si,  das  in  der  späteren 
zeit  auch  das  zweite  glied  flektiert,  und  die  erhaltung  des  nom.  sg.  m.  hwd,  der  ja 
bekanntlich,  wenn  auch  in  sehr  eingeschränkter  Verwendung,  im  neudän.  Iivo  fort- 
lebt. —  In  der  syntax  und  Wortstellung  sind  unterschiede  kaum  zu  bemerken, 
dagegen  enthält  der  Wortschatz  ein  paar  dem  ostnordischen  fremde  nomina 
{heim-J}egi,  kollr,  würing,  glamull).  Recht  bedeutend  ist  die  zahl  der  von  Wimmer 
verzeichneten  personennamen,  die  auf  westnordischem  gebiete  bisher  nicht 
nachgewiesen  sind  {Ödinkdrr,  Gormr,  VegStr,  Fradölfrnsw.);  doch  wird  seine  liste 
vermutlich  eine  einschränkung  erfahren,  sobald  vollständige  und  zuverlässige  Samm- 
lungen   des   gesamten   altskandinavischeu    namenmaterials   vorliegen   werden  -.     Be- 


1)  w  vor  anlautendem  r  ist  uur  in  ?-/'ta  und  den  zu  diesem  verbum  gehörigen 
ableitungen  verloren  gegangen,  wie  ich  vermute,  durch  den  eiufluss  des  sinnver- 
wandten rt'sta. 

2)  Nur  als  eine  vorläufige  abschlagszahlung  betrachte  ich  das  fleissige  buch 
von  E.  H.  Lind:  Norsk-isländska  dopnamn  ock  fingerade  namn  frän  medeltiden 
(Upps.  1905  ü.),  das  leider  in  der  sorgfältigen  registrierung  der  orthographischen 
nuaucen  sein  behagen  und  genügen  findet  und   daher  höchstens  den  dialektforscher 


NEUEiaC    SCHRIFTEN    ZUR   RUNENKUNDE  239 

fremdend  ist  s.  LXXVI  die  behauptung-,  dass  der  name  Hüdalfr  in  Norwegen  und 
Island  unbekannt  sei,  während  doch  bereits  bd.  II  s.  460  und  im  nameuregister  des 
IV.  bandes  (s.  XLIX)  die  bekannten  belege  aus  den  Härbarösljöö  und  der  Snorra 
Edda  angeführt  sind  und  an  der  letzten  stelle  auch  auf  norwegische  Ortsnamen 
hingewiesen  ist,  welche  die  existenz  des  personennamens  auch  für  Norwegen  be- 
weisen. Auch  der  name  Finnulfr  wird  mit  unrecht  für  Island  geleugnet,  da  in 
der  Hungrvaka  (c,  2,  16  u.  ö.)  ein  Guthormr  prestr  Finnölfson  bezeugt  ist, 
der  schwerlich  (wie  Lind  vermutet)  dänischer  nationalität  war. 

Im  6.  kapitel,  das  den  Inhalt  der  r  u  n  e  n  i  n  s  c  h  r  i  f  t  e  n  behandelt,  wird 
zunächst  festgestellt,  dass  die  später  beinahe  stereotype  formel:  "X  errichtete  diesen 
stein  (dieses  denkmal)  nach  (d.  h.  zum  andenken  an)  Z'  erst  allmählich  sich  durch- 
setzte, daher  in  der  älteren  zeit  verschiedene  andere,  kürzere  oder  längere,  formein 
nebeneinander  begegnen.  Abweichungen  von  der  fest  gewordenen  formel  sind  selten 
zu  finden,  so  z.  b.  die  ausdrückliche  angäbe,  dass  X  das  denkmal  durch  einen  andern 
herstellen  Hess.  Gewöhnlich  wird  aber  hinzugefügt,  in  welchen  verwandtschaftlichen 
oder  freundschaftlichen  beziehungen  der  errichter  des  denksteins  zu  dem  verstorbenen 
stand;  öfter  wird  auch  der  name  von  des  toten  vater  (sehr  selten  dagegen  der  der 
mutter)  angegeben.  Sehr  beliebt  ist  auch  die  beifügung  eines  kurzen,  den  dahin- 
geschiedenen preisenden  elogiums  (harda  gödan  pegn  bezw.  dreng  ist  das  üblichste). 
Nicht  selten  ist  auch  die  gesellschaftliche  Stellung  oder  der  beruf  der  durch  den 
denkstein  geehrten  person  mitgeteilt,  hin  und  wieder  auch  der  ort  oder  die  näheren 
umstände  des  todes.  Die  angaben  über  die  errichter  der  denkiaäler  sind  in  der 
regel  noch  sparsamer  und  lakonischer.  In  der  heideuzeit  ist  zuweilen  am  Schlüsse 
eine  ausdrückliche  warnung  vor  der  Zerstörung  oder  Schädigung  des  denkmals  hin- 
zugefügt oder  der  wünsch,  dass  'Thor  die  runen  weihen'  möge;  dies  ist  dann  in 
christlicher  zeit  durch  ein  häufig  bezeugtes  kurzes  gebet  für  das  heil  der  seele  er- 
setzt worden. 

Ein  zweiter  abschnitt  beschäftigt  sich  mit  den  in  den  Inschriften  vorkommen- 
den versen.  Keine  dänische  runeninschrift  ist  von  anfang  bis  zu  ende  in  metrischer 
form ;  es  sind  immer  nur  einzelne  sätze,  die  durch  Stabreim,  Wortstellung,  rhythmik 
verraten,  dass  poetische  fassung  beabsichtigt  war.  In  der  ansetzung  solcher  verse 
ist  Wimmer  lobenswerterweise  vorsichtiger  gewesen  als  andere,  mitunter  wohl  noch 
nicht  vorsichtig  genug,  wie  ich  z.  b.  in  der  Inschrift  des  grösseren  Steines  von 
Sender -Vissing  (I,  73  ff.)  die  dichterische  form  nicht  zu  erkennen  vermag.  Um- 
gekehrt möchte  ich  aber  in  ein  paar  fällen  gegen  Wimmer  verse  statuieren,  da 
ich  mich  nicht  davon  überzeugen  kann,  dass  ein  satz,  der  in  versform  beginnt, 
mit  gewöhnlicher  prosa  schliessen  oder  dass  ein  prosaischer  satz  in  die  metrische 
gestaltung  umschlagen  konnte.  Ich  glaube  daher  nach  wie  vor  (s.  Zeitschr.  30, 
372  fg.),  dass  die  Inschrift  des  Sjörup-steines  (durch  auslassung  eines  adverbiums) 
verstümmelt  ist;  meiner  Vermutung,  dass  hier  wie  auf  dem  ersten  steine  von  Hälle- 


und  grammatiker  befriedigen  kann,  nicht  aber  den  etymologen  und  noch  viel  weniger 
den  genealogen  und  historiker.  Ein  Wörterbuch  der  altnordischen  personennamen 
sollte  zugleich  eine  gedrängte  altnordische  biographie  darstellen  und  von  genea- 
logischen tafeln  begleitet  sein:  jede  dieser  tafeln  müsste  sämtliche  nanien  durch- 
numerieren, damit  in  den  einzelnen  artikeln  (jede  person  hätte  naturlich  einen  be- 
sonderen artikel  zu  beanspruchen)  darauf  verwiesen  werden  könnte. 


240  GERING 

stad  ein  zu  elireu  des  Asbji^ru  Tökason  verfasstes  gedieht  zitiert  wird,  ist  Wimmer 
ja  nunmehr  beigetreten.  Ebenso  beharre  ich  gegen  Wimmer,  der  nur  das  fornyr- 
öislag  und  den  mälahättr  auch  dem  ostnordischeu  vindizieren  will,  bei  der  annähme 
(.Zeitschr.  38,  131  fg.),  dass  in  dem  von  ihm  so  überaus  glücklich  ergänzten  und 
gedeuteten  Schlüsse  der  inschrlft  von  Sender -Vinge  der  helmingr  einer  Ijööahättr- 
strophe  erhalten  ist,  da  hierfür  nicht  nur  der  entschieden  sprichwörtliche  Charakter 
der  beiden  zeilen  spricht,  sondern  auch  die  form :  auf  eine  völlig  korrekte  langzeile 
A  +  B  folgt  eine  ebenso  korrekte  voUzeile  des  typus  AC  (Zeitschr.  34,  476),  die 
zwar  nicht  in  sich  selbst  alliteriert,  wohl  aber  an  die  vorausgehende  langzeile  an- 
gereimt ist,  indem  sie  dieselben  beiden  reimstäbe  enthält,  die  in  jener  die 
gekreuzte  alliteration  bilden.  Meine  hypothese  erscheint  mir  daher  entschieden 
wahrscheinlicher  als  die  annähme  einer  sententia  hybrida,  eines  aus  poesie  und 
prosa  gemischten  satzes,  für  dessen  möglichkeit  man  sich  nicht  etwa  auf  Brätes 
Runverser  berufen  soll,  die  zur  guten  hälfte  gar  keine  verse  sind,  und  ich  verstehe 
nicht,  warum  man  dänischerseits  sich  so  sehr  dagegen  sträubt,  dass  man  auch 
Dänemark  einen  bescheidenen  anteil  an  der  gnomischen  dichtung  des  nordens,  deren 
gefäss  der  Ijoöahättr  gewesen  ist,  zuweisen  will. 

In  einem  dritten  abschnitte  des  kapitels  wird  noch  die  frage:  Von  wem  und 
zu  wessen  gedächtnis  die  runensteine  errichtet  wurden ?  dahin  beantwortet, 
dass  in  der  regel  diese  wie  jene  mann  er  waren,  und  zwar  sind  die  fälle  am 
häufigsten,  dass  von  dem  söhne  (bezw.  von  mehreren  söhnen)  dem  vater  oder  von 
dem  bruder  (bezw.  von  mehreren  brüdern)  dem  bruder  (oder  mehreren  brüdern) 
der  denkstein  gesetzt  ward;  ziemlich  häufig  sind  auch  die  denkmäler  vertreten,  die 
kameraden  oder  freunde  einander  weihten,  seltener  schon  diejenigen,  die  der  treue 
diener  dem  herrn  oder  der  herr  dem  diener  stiftete.  Dass  frauen  aktiv  und  passiv 
so  wenig  beteiligt  sind,  entspricht  der  bescheidenen  rolle,  die  das  weih  des  nor- 
dischen altertums  im  öffentlichen  leben  spielte :  die  einzige  ehefrau,  deren  gedächtnis 
der  trauernde  witwer  durch  ein  monument  ehrte,  war  eine  königin,  f'yri  Danmar- 
karböt,  und  ebenfalls  nur  einmal  bezeugt  ist  die  rührende  anhänglichkeit  des  ver- 
lobten an  die  durch  den  tod  ihm  entrissene  braut  (auf  dem  steine  von  Rygbjaerg), 
während  die  dankbarkeit  der  tochter  gegen  die  mutter  auf  zwei  denkmälern  zum 
ausdruck  kommt;  sonst  wird  die  mutter  noch  ein  paarmal  entweder  allein  oder 
neben  dem  vater  oder  bruder  von  den  hinterbliebenen  erwähnt.  Wenn  die  frau 
handelnd  aus  ihrer  reserve  heraustrat,  um  den  namen  des  gatten  der  nachweit  zu 
überliefern,  gaben  gewiss  immer  besondere  umstände  die  veranlassung,  sei  es,  dass 
männliche  erben  nicht  vorhanden  waren  oder  die  söhne  das  alter  der  mündigkeit 
noch  nicht  erreicht  hatten.  —  Dass  ein  lebender  zu  seinem  eigenen  gedächtnis  einen 
stein  errichtete,  ist  nur  einmal  (auf  dem  läländischen  steine  von  Tillise)  ausdrück- 
lich bezeugt,  aber  auch  für  den  seeländischen  stein  von  Fjsenneslev  mit  Sicherheit 
anzunehmen;  in  Schweden  ist  die  zahl  dieser  fälle  häufiger.  —  Am  schluss  des 
kapitels  gedenkt  der  Verfasser  auch  noch  der  Steinmetz  en,  die  die  inschriften 
und  die  nicht  selten  diesen  beigefügten  bildlichen  darstellungen  einmeisselten:  ihre 
namen  haben  diese  leute,  die  in  der  späteren  zeit  sicherlich  ihre  kunst  handwerks- 
mässig  übten,  öfter,  und  bereits  auf  den  älteren  denkmälern,  der  nacliwelt  nicht 
vorenthalten. 

Von  den  oben  erwähnten  bildlichen  darstellungen  und  figuren,  zu 
denen  Winimer  im  7.  kapitel  übergeht,  sind  einzelne,  und  zwar  die  seltsamen,  noch 
unerklärten   runden  (schalenförmigen)  und  ovalen  (fusssohlenähnlicheu)  Vertiefungen 


NEUERE    SCHRIFTEN    ZUR   RUNENKUNDE  241 

älter  als  die  Inschriften,  da  sie  vermntlich  lange  vor  dem  beginne  der  eisenzeit  in 
die  später  zu  den  runendenkmälern  verwendeten  steine  eingehauen  wurden.  Gleich- 
zeitig mit  den  inschriften  sind  dagegen  aus  der  heidenzeit  verschiedene  religiöse 
symhole  (das  hakenkreuz,  der  Thorshammer  und  vielleicht  auch  die  noch  nicht  ge- 
deuteten drei  ineinander  verschlungenen  hörner  auf  dem  steine  von  Snoldelev;  an 
ihre  stelle  tritt  dann  nach  der  bekehrung  das  christliche  kreuz,  das  auf  dem  grossen, 
von  Harald  blauzahn  errichteten  steine  von  Jaellinge  sogar  durch  ein  vollständiges 
bild  des  gekreuzigten  Christus  ersetzt  ist.  Als  beiden  der  wikingerzeit  werden  eine 
beträchtliche  anzahl  der  auf  den  denksteinen  verewigten  männer  durch  die  meist 
rocht  roh  ausgeführten  schiffsbilder  bezeichnet;  eine  höher  entwickelte,  durch 
irische  und  angelsächsische  muster  beeinflusste  kunst  bezeugen  dagegen  die  reich- 
lich vertretenen  darstellungeu  phantastischer  tier gestalten,  die  Wimmer  nicht 
für  einen  lediglich  ornamentalen  schmuck  ansehen  möchte,  ohne  jedoch  eine  deutung 
zu  wagen.  Auch  ein  wunderlich  stilisierter  männerkopf  kommt  mehrfach  vor.  Auf 
dem  grösseren  steine  des  Hunnestad-monuments  in  Schonen  findet  sich  das  bild 
eines  behelmten,  mit  einer  Streitaxt  bewaffneten  kriegers,  das  vielleicht  den  Gunni 
h9nd  darstellen  soll,  den  vater  der  vier  brüder  Asbjgrn,  Tomi,  R(Mr  und  Leikfreör, 
von  denen  die  ersten  beiden  den  beiden  letztgenannten  jenen  stein  errichteten, 
während  der  kleinere  inschriftstein  von  AsbJ9rn  allein  dem  später  verstorbenen 
Tomi  gestiftet  ward:  vermutlich  hat  Gunni  wegen  der  gewaltigen  kraft,  mit  der 
sein  arm  die  waffe  schwang,  seinen  beinamen  erhalten.  Ein  dritter,  inschriftloser 
stein  desselben  monuments  zeigt  das  bild  eines  auf  einem  wolfe  reitenden  weibes, 
das  eine  schlänge  als  zäum  benutzt  und  in  der  rechten  band  statt  der  reitgerte 
ebenfalls  eine  schlänge  führt,  also  einer  zaubergewaltigen  riesln,  wie  sie  das  nor- 
dische altertum  nach  dem  Zeugnisse  der  Snorra  Edda  und  der  Helga  kviöa  Hjgrv. 
sich  vorstellte.  Zwei  weitere,  ebenfalls  nur  mit  bildern  geschmückte  steine  sind 
leider  verloren  und  nur  aus  den  sehr  mangelhaften  abbildungen  in  Worms  Monu- 
menta  und  Göranssons  Bautil  bekannt.  Wimmer  deutet  sie  nicht;  da  jedoch  auf 
dem  einen  stein  sicher  ein  geweihtragendes  tier,  also  —  trotz  des  langen,  aller 
Zoologie  hohnsprechenden  Schweifes  —  ein  hirsch  abgebildet  scheint  und  auf  dem 
andern  ohne  alle  frage  ein  eher,  so  wüsste  ich  nicht,  was  uns  hindern  könnte,  in 
diesen  beiden  tieren  den  Eikjjyrnir  und  S?ehrimnir  zu  erkennen.  Das  Hunne- 
stad-monument,  das  auf  dem  jüngeren  inschriftsteine  bereits  das  kreuz  trägt,  zeigt 
also  eine  für  das  übergangszeitalter  charakteristische  mischung  von  heidnischen  und 
christlichen  Vorstellungen :  Gunni  h^nd  und  seine  beiden  älteren  söhne  waren  viel- 
leicht noch  als  anhänger  des  asenglaubens  gestorben,  und  deswegen  brachte  man 
auf  dem  denkmale  darstellungeu  an,  die  an  die  freuden  von  Valh9ll  erinnerten. 

In  früheren  zeiten  hat  man  mehrmals  auf  steinen  runen  zu  erkennen  geglaubt, 
die  sich  nachher  bei  sorgfältigerer  Untersuchung  als  natürliche  ritzen  und  schrammen 
erwiesen,  die  das  eisen  der  pflugschar  oder  das  gletschereis  der  diluvialzeit  ver- 
ursacht hat.  Diese  fälle,  von  denen  Finn  Magnusens  deutung  der  sogenannten 
Euuamo-inschrift  in  Blekinge  der  bekannteste  ist,  behandelt  Wimmer  im  8.  kapitel 
und  gibt  als  beispiel  die  abbildung  des  Värst-steines  in  Jütland,  auf  dem  P.  G.  Thorsen 
spuren  von  buchstaben  hatte  finden  wollen.  Hieran  schliesst  sich  im  10.  kapitel  die 
besprechung  der  beiden  dänischen  runendenkm  äler  im  auslande,  von 
denen  die  Inschrift  des  Karlevi-steines  auf  Öland  die  interessantere  ist.  Diese  In- 
schrift war  zuletzt  von  Sven  Söderberg  herausgegeben  worden  (vgl.  meine  anzeige 
Zeitschr.  38,  141  fg.),   dessen  lesung  und  deutung  Wimmer  nur  in  ein  paar  minder 

ZEUrSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   PHILOLOGIE.      BD.  XLII.  16 


242  CKKING 

wesentlichen  punkten  berichtigt  hat'.  So  liest  er  in  zeile  7  der  dröttkviett-strophe 
'imtils'  als  Vaudils,  was  unbedingt  wahrscheinlicher  ist  als  Söderbergs  Yndils,  da 
diese  namensform  sonst  nirgends  vorkommt,  während  Vandill  in  einer  nafna{jula 
der  Sn.  Edda  (I,  548)  unter  den  siekonmiga  heiti  aufgeführt  wird;  wir  erhalten 
durch  diese  einleuchtende  besserung  zugleich  einen  neuen  beleg  für  die  neuerdings 
mit  unrecht  geleugnete  vokalische  Qualität  des  altnordischen  v  (s.  oben  s.  233  fg.).  In 
dem  prosaischen  teile  der  Inschrift,  den  Wimmer  wohl  mit  recht  an  die  spitze  setzen 
will,  glaubt  er  am  anfange  aus  den  an  dieser  stelle  stark  verwitterten  runen  eher 
stain.  sasi.  is.  satr  als  stain.  sa.  uas.  satt-  herauslesen  zu  sollen  und  erklärt  lipi  für 
den  nora.  sing,  des  bekannten  sw.  masc,  während  Söderberg  ein  sonst  unbezeugtes 
st.  n.  lipi  'gefolge'  ansetzen  wollte  (Wimmer  bezieht  das  wort  auf  den  mann,  der 
dem  toten  am  nächsten  stand  und  die  errichtung  des  deukmals  veranlasste).  Der 
durch  abbröckelung  verstümmelte  schluss  endlich,  den  Söderberg  nicht  zu  ergänzen 
gewagt  hatte,  lautete  nach  Wimmers  Vermutung:  en.  hqns.  lipi.  sati.  at.  u.  taus[.] 
aipj[ar.  mini],  d.  h.  en  hqns  liöi  satti  at  ey  dauös  heiflarminni  'sein  gefolgsmann 
aber  errichtete  an  der  insel  (d.  h.  auf  dem  ufer)  das  ehrendenkmal  des  toten'.  Diese 
ergänzung  ist  offenbar  glücklicher  als  die  früheren  versuche,  wenigstens  gebe  ich 
den  meinigen  ohne  bedauern  auf.  Der  Verfasser  der  dröttkvsett-strophe  ist  auch 
nach  Wimmers  meinung  ein  norwegischer  skalde  gewesen,  dagegen  schreibt  er 
den  prosaischen  teil  der  Inschrift  einem  dänischen  gefolgsmanne  des  Sibbi  zu, 
was  ein  paar  ostnordische  eigentümlichkeiten  (wie  satti  st.  setti)  zu  beweisen  scheinen: 
dieser  umstand  gibt  ihm  denn  auch  das  recht,  den  Karlevi-stein  als  ein  dänisches 
denkmal  in  ansprucli  zu  nehmen.  Mit  der  schlacht  auf  den  Fyrisvellir  bei  Upsala 
hat  dasselbe  übrigens  nach  Wimniers  urteil  nichts  zu  tun,  der  das  deukmal  reich- 
lich 20  jähre  später  ansetzt  (um  1000).  —  Das  zweite  ausserhalb  Dänemarks  er- 
richtete monument  ist  das  auf  dem  kirchhofe  der  Paulskirche  zu  London  gefundene 
bruchstück  eines  runensteines  aus  der  1.  hälfte  des  11.  Jahrhunderts,  auf  dem  leider 
nur  wenige  werte  erhalten  sind:  yina  :  let :  lekia  :  stin  :  pensi  :  auk  :  Tuki.  Der- 
selben zeit  gehört  der  schonische  stein  von  Valleberga  an,  dessen  Inschrift  die  mit- 
teilung  enthält,  dass  Mauni  und  Sweni,  zu  deren  gedächtnis  er  errichtet  wurde,  zu 
London  ihre  i-uhestätte  gefunden  haben.  Wimmer  hält  es  daher  für  möglich,  dass 
der  Londoner  stein  das  grab  dieser  beiden  männer  bedeckt  habe ;  bedenklich  ist 
jedoch  der  umstand,  dass  nur  ein  skelett  in  demselben  gefunden  wurde. 

Etwas  grösser  ist  die  zahl  der  fremden  runendenkmäler  auf  däni- 
schem bodeu,  mit  denen  das  10.  kapitel  sich  beschäftigt.  Von  diesen  ist  der 
zweite  stein  von  Gunderup  in  Jütland  (aus  der  2.  hälfte  des  10.  Jahrhunderts) 
das  älteste.  Die  kurze  Inschrift:  Anstain  sati  stain  pansi  abt  AsuV>  fapur  sin 
erweist  sich  durch  die  Verwendung  der  ruuenzeichen  'j,  Y  und  ',  sowie  durch  das 
zweimal  an  stelle  von  /  gebrauchte  h  als  schwedisch.  Etwa  derselben  zeit  wird 
der  jütische  stein  von  Lavrbjserg  angehören,  dessen  legende:  rulnausanstain  \  uili 
ein  noch  ungelöstes  rätsei  ist;  jedesfalls  aber  beweist  die  rune  Yt  welche  die  geltuug 
a  haben  muss,  dass  wir  es  nicht  mit  einem  echt  dänischen  denkmal  zu  tun  haben. 
Aus  der  1.  hälfte  des  11.  Jahrhunderts  stammt  der  stein  von  Hobro  in  Jütland,   der 


1)  Seine  ausführungen  über  den  Karlevi-stein  finden  sich  bereits  in  einem 
anhange  der  von  Sv.  Söderberg  begonnenen  und  von  Erik  Brate  vollendeten  aus- 
gäbe der  öländischen  runeninschrifteu  (Ölands  runiuskrifter,  Stockb.  1900 — 1906,  4) 
s.  136—139. 


NEUKRE    SClIRItTEX    ZUR    RUXENKL'XDE  243 

die  Inschrift  trägt:  Purin  rispi  stin  fmasi  aufti  Karl  hin  kiipqa  fElaka  sin  harßa 
hapqan  U-eJc  :  liemerkenswert  ist  in  dieser  die  dreimal  bezeugte  Verbindung  an  (:^'|') 
und  daneben  der  umstand,  dass  die  rune  ^  nicht  bloss  h,  sondern  zweimal  auch 
einen  e-laut  bezeichnet,  für  den  Wimmer  die  transskrii)tion  e  gewählt  hat.  Diese 
zweite  eigentümlichkeit  zeigt  auch  ein  w^estgötländischer  ruuenstein  von  As  socken, 
Ase  härad  (Torin,  Vestergötlands  runinskrifter  II,  nr.  42),  und  da  die  Inschriften 
der  beiden  steine  (bis  auf  das  epitheton  Mnn  göda^  das  auf  dem  As-steine  fehlt) 
identisch  sind,  so  hat  Wimmer  mit  seiner  Vermutung  unzweifelhaft  recht,  dass  beide 
auf  veranlassung  desselben  mannes,  des  Westgoten  i*6rir,  errichtet  sind,  der  eine 
in  seiner  eigenen  heiraat,  der  andere  in  der  heimat  seines  'kameraden'  Karl.  Eben- 
falls schwedischen  Ursprungs  ist  sodaun  der  im  jähre  1897  aus  den  fundamenten 
des  Schleswiger  doraes  hervorgezogene  stein,  der  bald  nach  seiner  entdeckung  von 
Wimmer  im  verein  mit  Eochus  v.  Liliencron  publiziert  ward  (Kiel  1898).  Die 
ergänzung  dieser,  nur  fragmentarisch  erhaltenen  Inschrift,  die  unter  sorgfältigster 
berechuuug  des  raumes,  der  für  die  zerstörten  niuen  zur  Verfügung  stand,  vor- 
genommen wurde,  macht  dem  Scharfsinne  des  herausgebers,  der  jetzt  bei  der  er- 
neuten behandlung  des  Stoffes  nur  ein  wort  zu  ändern  für  nötig  fand  (urustu  statt 
utfaru)  alle  ehre.     Hiernach  lautete  diese  Inschrift: 

[I'uki]  lit  r(a)i(s)a  stain  e[fi\ 

{ir  Half](t)an  Sul[ka  sun  felaga] 

[sin  CE  uarp  i\{a)upjr  [i)  [uriisUi\ 

[Saai'\)i  auh  Kup^muntr  pnr  r[istii\ 

[run'\{a)R  a  Unr/lanti  i  Skia  [h]uilis  Kr[istr\ 
[hialhi  ont  hans]. 
In  'Skia'  erblickt  Wimmer  nicht  mehr,  wie  in  der  Kieler  publikatiou,  die  Hebriden- 
insel  Skye,  die  man  schwerlich  als  'in  England'  belegen  bezeichnen  konnte,  sondern, 
einer  vernuitung  Konr.  Maurers  sich  anschliessend,  das  heutige  dorf  Skidby  in  East- 
Eidling  (grafschaft  York).  In  der  nähe  dieses  ortes  wurde  am  25.  September  1066 
die  Schlacht  von  Stamford- bridge  geschlagen,  in  der  kurz  vor  ihrem  untergange 
die  sonne  des  sieges  noch'  einmal  den  Angelsachsen  leuchtete  und  der  norwegische 
könig  Haraldr  haröräöi  den  tod  fand.  Dass  nordische  wikinger  in  den  dienst  aus- 
ländischer fürsten  traten,  ist  ja  oft  genug  vorgekommen,  und  es  ist  daher  keine 
unwahrscheinliche  annähme,  dass  in  demselben  kämpfe  auch  Halfdan  Sulkason  (auf 
norwegischer  oder  angelsächsischer  seite)  gefallen  ist.  Vermutlich  war  er  dänischer 
nationalität,  aber  der  Steinmetz,  der  die  runen  einhieb  (und  doch  wohl  auch  sein 
auftraggeber)  stammte,  wie  Wimmer  meint,  aus  einer  der  schwedischen  landschaften 
am  Mälarsee,  was  Wortwahl,  spracli-  und  runenformen  zu  beweisen  scheinen. 

Ein  gotländisches  denkmal  endlich  ist  der  taufstein  von  Akirkeby  auf 
Bornholm,  den  Wimmer  bereits  1887  in  einer  besonderen  schrift  (dem  ersten  Vor- 
läufer seines  grossen  ruuenwerkes)  in  mustergiltiger  weise  untersucht  und  erläutert 
hat  (vgl.  meine  ausführliche  anzeige  Zeitschr.  21,  487  ff".).  Er  konnte  sich  daher 
jetzt  damit  begnügen,  seine  resultate  in  kürzerer  fassung  zu  wiederliolcn  und  ein- 
zelne kleine  berichtigungen  einzuschalten,  die  er  zum  teil  den  besprcchungen  '  seiner 
älteren  arbeit  verdankt. 

1)  Die  existenz  eines  in  einer  Kopenhagener  zeitung  (Dagbladet)  erschienenen 
referats  von  F.  Dyrlund  ist  erst  jetzt  durch  Wimmers  bezugnahme  auf  dasselbe  zu 
meiner  kenntnis  gelangt. 

16* 


244  (;kkix(; 

Im  11.  kapitel  bespricht  AVimmer  die  mittel,  die  dem  forscher  zu  geböte 
stehen,  um  das  alter  der  runeninschriften  zu  bestimmen.  Die  sichersten 
anlialtspunkte  gewähren  natürlich  die  im  ersten  bände  vereinigten  'historischen' 
denkmäler,  da  diese  genau  datiert  werden  können  und  glücklicherweise  nahezu 
300  jähre  umspannen  (von  c.  940  bis  c.  1210).  Ein  weiteres  hilfsmittel  gewähren 
die  schriftlichen  oder  bildliche»  Zeugnisse  auf  den  runensteinen  für  ihre  errich- 
tung  in  heidnischer  oder  in  christlicher  zeit.  Wo  derartige  Zeugnisse  fehlen,  müssen 
die  sprach-  und  runenfonnen  über  die  zeitfrage  entscheiden:  zu  den  sprach- 
lichen kriterien  gehören  die  bewahrung  oder  aufgäbe  der  alten  diphthonge 
sowie  die  Unterscheidung  der  beiden  r-laute  (r  und  b)  und  der  beiden  a-laute 
(a  und  ff),  zu  den  paläographischen  die  Verwendung  der  punktierten  runen 
(seit  dem  letzten  viertel  des  10.  Jahrhunderts),  die  verschiedenen  formen  der  ??i-rune 
(in  der  älteren  zeit  <p,  seit  dem  beginne  des  11.  Jahrhunderts  ^),  die  nebenformen 
der  s-rune  h  H  (seit  der  zweiten  hälfte  des  10.  Jahrhunderts),  die  jüngeren  formen 
der  a-rune  H  und  der  n-nme  f*,  die  jüngeren  formen  der  «-rune,  die  schliesslich 
den  lautwert  o  erhält,  und  die  wechselnde  gestalt  der  trennungszeichen.  Mit  recht 
macht  jedoch  Wimmer  darauf  aufmerksam,  dass  der  ganze  Charakter  und  gesamt- 
eindruck  eines  deukmals  in  betracht  gezogen  werden  mnss,  und  dass,  um  eine  relativ 
sichere  Zeitbestimmung  zu  ermöglichen,  für  den  untersuchenden  eine  auf  autopsie 
begründete  beherrschung  des  gesamten  materials  unerlässlich  ist.  Trotz  alledem 
können  die  Schätzungen  nur  approximativen  wert  haben,  da  z.  b.  mit  der  möglicli- 
keit  gerechnet  werden  muss,  dass  ein  Steinmetz,  der  um  950  in  die  lehre  trat,  noch 
im  anfange  des  11.  Jahrhunderts  mit  der  ausführung  eines  denkmals  betraut  werden 
konnte,  aber  zu  konservativ  war,  um  sich  an  die  neumodischen  punktierten  runen 
zu  gewöhnen.  Daher  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  dass  selbst  der  tüchtigste  kenner 
um  ein  paar  Jahrzehnte  sich  irrt.  So  datiert  Wimmer  selber  jetzt  (I,  CXXXVII) 
den  stein  von  Yalleberga  und  den  gleichzeitigen  stein  vom  St.  Paulskirchhof  in 
London  um  1030,  Wiährend  er  früher  (in  band  III)  den  genannten  schouischen  stein 
hinter  den  steinen  von  Hyby,  Alstoi-p  und  Holmby  einordnete,  die  er  dort  geneigt 
war,  bis  zur  mitte  des  11.  Jahrhunderts  hinabzurücken;  auch  trägt  er  kein  bedenken, 
sich  jetzt  der  hypothese  von  Magnus  Olsen  (I)anske  studier  1906,  s.  37  fg.)  anzu- 
schliessen  und  den  Bornholmischen  stein  von  Nyker  mit  dem  dänischen  Wenden- 
kreuzzug des  Jahres  1147  in  Verbindung  zu  setzen,  obwohl  er  früher  c.  llbO  ('frühe- 
stens 1125,  wahrscheinlicher  aber  ein  paar  jähre  jünger')  als  terminus  ad  quem 
angenommen  hatte. 

Das  12.  kapitel  handelt  über  die  geographische  Verbreitung  der 
runendeukmäler.  Die  sitte,  denksteine  für  verstorbene  zu  errichten,  ist,  wie 
Wimmer  annimmt,  in  den  verschiedenen  gegeuden  des  landes  nicht  zu  allen  zelten 
gleichmässig  verbreitet  gewesen.  Obwohl  er  mit  recht  davor  warnt,  voreilige  Schlüsse 
zu  ziehen,  da  der  zufall  seine  band  im  spiele  gehabt  haben  kann,  so  dass  möglicher- 
weise in  einer  landschaft  eine  grössere  anzahl  von  steinen  durch  günstige  umstände 
erhalten  blieb,  während  anderwärts  durch  besonderes  missgeschick  eine  umfang- 
reichere Zerstörung  stattfand,  scheint  doch  im  9.  Jahrhundert  besonders  in  Seeland 
und  Fünen  der  brauch  in  blute  gewesen  zu  sein,  während  im  10.  Jahrhundert,  be- 
sonders von  960  an,  und  bis  tief  in  das  11.  Jahrhundert  hinein  Jütland  und 
Schonen  durch  die  bei  weitem  grösste  anzahl  von  denkmälern  repräsentiert  sind 
und  auf  Bornholra  erst  von  c,  10.30  ab  —  dafür  aber  desto  länger  (bis  ins  13.  Jahr- 
hundert) —  Steininschriften  sich  nachweisen  lassen.    Im  ganzen  ist  Jütland  durch  68 


NEUERE    SCHRIFTEN    ZUR    RUNENKUNDE  245 

Steine  vertreten  (während  der  umstrittene  boden  von  Schleswig  nur  5  aufweist),  von 
denen  die  mehrheit  den  östlichen,  von  jeher  besser  bevölkerten  teilen  der  halbinsel 
augehört,  Fünen  durch  8,  Seeland  durcli  10,  Lähiud  durch  6,  Falster  durch  1  (auf 
Mou  und  Langeland  ist  kein  einziger  zutage  gekommen),  Sclionen  durch  42  und 
Bornholm  durch  38 :  die  gesamtzahl  beträgt  somit  168. 

Das  letzte  (13.)  kapitel  unterrichtet  über  die  benennung  der  steine 
(die  häufiger  mit  dem  namen  des  kirchspiels,  dem  der  fundort  angehört,  als  mit 
dem  namen  des  letzteren  bezeichnet  sind)  und  über  ihren  gegenwärtigen  aufbewah- 
rungsplatz.  Nur  der  kleinere  teil  befindet  sich  noch  auf  der  ursprünglichen  statte 
seiner  errichtung  oder  in  der  nähe  derselben;  eine  grössere  anzahl  ist  in  kirchen 
oder  in  deren  unmittelbarer  Umgebung,  zum  teil  auch  auf  herrschaftlichen  land- 
sitzen  untergebracht  worden.  Mehrere  sind  auch  in  museen  übergeführt,  wo  sie  ja 
der  wissenschaftlichen  benutzuug  am  bequemsten  zugänglich  sind:  15  in  die  (übri- 
gens viel  zu  enge  und  dürftige  ^  'runenhalle'  des  nationalmuseums  in  Kopenhagen, 
6  nach  Arhus,  2  nach  Randers,  2  nach  Maribo,  7  nach  Lund  und  3  nach  Kiel. 

Pie  Schlusshälfte  des  IV.  bandes  eröffnen  mehrere  wichtige  nachtrage  zu  den 
früheren  bänden ;  erfreulicherweise  konnten  hier  auch  ein  paar  neu  entdeckte 
denkmäler  veröffentlicht  werden.  Das  interessanteste  von  diesen  ist  der  im  jähre 
1905  in  den  fundamenten  der  alten  klosterkirche  zu  Arhus  gefundene  prächtige 
runenstein   (Arhusstenen  V)  aus  dem  anfange  des  12.  Jahrhunderts  mit  der  Inschrift: 

[T]usti  X  auk  X  Hufi  x  auk  x  ßiB  x  Frebiurn  x 

rispu  X  still  x  pqnsi  x  iftiR  x  Asur  x 

Sahsa  x  filaka  x  sin  x  harpa  x  kupan  x 

trik  X  saii  x  tu  x  mana  x  mest  x  unipikR  x 

saR  X  ati  x  skib  x  mij)  x  Arnq  x 
die  in  mehrfacher  hinsieht  beachtenswert  und  merkwürdig  ist.  Eigentümlich 
nämlich  ist  die  auf  dänischen  ruuensteinen  sonst  nicht  begegnende  bezeichnung  Azur 
Saxa  statt  Azur  Saxasun  (sonst  ist,  wenn  das  wort  smi  fehlt,  der  vatername  im 
genetiv  vorangestellt:  Gorms  T6ki\\.'A.)\  bemerkenswert  ferner  die  fornyröislag- 
zeile  säR  dö  manna  \  mest  unidingr,  die  das  wort  unidingr  'ein  vollendeter  ehren- 
mann'  für  Dänemark  zum  erstenmal  belegt,  während  das  elogium  in  fast  ganz 
gleicher  form  auf  schwedischen  steinen  öfter  begegnet,  sowie  die  angäbe  des  schluss- 
satzes,  dass  der  verstorbene  in  gemeinschaft  mit  einem  andern  ein  schiff  besessen 
habe,  was  auch  auf  dem  zweiten  Stro -steine  (DE  III,  112)  und  durch  isländische 
quellen  mehrfach  bezeugt  ist  (zu  der  von  Wimmer  angeführten  stelle  der  Gunnlaugs 
saga  vgl.  ferner  Eyrbyggja  c.  22,  7  nebst  der  note).  Endlich  ist  es  ein  immer- 
hin seltener  fall,  dass  zwei  von  den  auf  diesem  steine  genannten  personen,  und  zwar 
die  beiden  männer  mit  den  nicht  gerade  iiäufigen  namen  Höfi  und  FreyhJQrn,  bereits 
bekannt  waren,  und  zwar  durch  die  Inschrift  des  etwas  jüngeren  steins  von  Alstorp 
in    Schonen    (DR   III,    154  ff.) :    Hals  :  auk  :  Freyhiurn  :  rispu  :  stina  :  pjesi  :  efÜR  : 


1)  'Prindsens  palais'  ist  überhaupt  der  denkbar  ungünstigste  aufbewahrungs- 
ort  für  so  reiche  und  kostbare  Sammlungen.  Keine  europäische  grossstadt  hat  durch 
wiederholte  feuersbrünste  so  schmerzliche  Verluste  an  wissenschaftlichem  matcrial 
erlitten  wie  Kopenhagen,  und  man  sollte  daher,  nachdem  endlich  die  schätze  der 
königlichen  bibliothek  ein  so  schönes,  würdiges  und  sicheres  heim  gefunden  haben, 
nun  auch  nicht  zögern,  den  nicht  minder  wertvollen  beständen  des  rauseuras  eine 
ähnliche  geräumige  und  vor  allem  gegen  brand  geschützte  statte  zu  bereiten. 


246  GEIUNG 

Hufa  :  ftlaga  :  sin.  Die  walirscheinlichkeit,  dass  diese  gleichnamigen  personen 
identisch  sind,  ist  nämlich  überaus  gross,  und  die  von  Wimmer  nur  als  möglich 
bezeichnete  Vermutung,  dass  Freybjyrn,  der  zusammen  mit  Höfi  und  Tösti  seinem 
kameraden  Azur  den  stein  von  Arhus  errichtete,  den  Höfi  überlebt  hat  und  diesem 
in  gemeinschaft  mit  einem  andern  genossen  den  stein  von  Alstorp  als  denkmal 
setzte,  hat  sicherlich  das  richtige  getroffen.  —  Neu  entdeckt  (im  jähre  1906)  ist 
ferner  der  stein  von  Stora  Harrie  in  Schonen  (aus  dem  ersten  viertel  des  11.  Jahr- 
hunderts) mit  der  kurzen  Inschrift:  Birla  :  satt  :  iftiit  :  Tuka  :  mak  :  sin  'Birla  (offen- 
bar ein  frauenname)  errichtete  [diesen  stein]  zum  andenken  an  ihren  verwandten 
(Stiefsohn?)  Töki',  in  der  die  auslassung  des  Objektes  (stiu)  auffallend,  aber  nicht 
beispiellos  ist.  —  Ebenfalls  noch  nicht  publiziert  war  die  inschrift  des  taufsteins  in 
der  kirche  von  Lilla  Harrie  in  •Schonen:  Marfen  :  mik  :  giar/jf,  sowie  das  frag- 
ment  eines  bunten  glasfensters  aus  der  kirche  von  Give  in  Jütland  (um  1300)  mit 
der  inschrift:  furöi{k),  die  Wimmer  nicht  deutet.^  —  Ergänzt  endlich  wird  die 
l)d.  ni,  159  ff.  publizierte  inschrift  des  schonischen  steines  von  Holmby  durch  den 
früher  (infolge  der  einmauerung  in  die  kirchenvvaud)  nicht  sichtbaren  anfang :  Suiii 
rispi.  Der  von  Wimmer  a.  a.  o.  ergänzte  schluss  (c/ööan  ßegn)  steht  nicht  auf  dem 
steine,  vielmehr  endet  die  inschrift  mit  sin.  Auch  das  auf  dem  denkmal  (von  dem 
natürlich  eine  neue  abbildung  gegeben  wird)  eingemeisselte  schiff,  dessen  vorder- 
und  hinterteil  in  tierköpfen  auslaufen,  ist  jetzt  vollständig  sichtbar  geworden. 

Den  grössten  teil  des  halbbandes  (s.  HI— LXXXII)  füllen  die  unentbehrlichen 
und  mit  peinlicher  Sorgfalt  bearbeiteten  lexikalischen  beigaben  (glossar  und 
namenregister).  Der  Wortschatz,  den  die  Inschriften  der  runeusteine  uns  liefern, 
ist  ja  begreiflicherweise  nicht  gross  (er  umfasst  nur  104  substautiva,  54  adjektiva, 
11  pronomina,  2  Zahlwörter,  60  verba,  24  adverbia,  11  präpositionen,  7  konjunk- 
tionen  und  2  präfixe,  also  in  summa  275  Wörter).  Dazu  kommen  292  eigenuamen 
(235  männliche  und  31  weibliche  personennamen,  21  Ortsnamen  und  5  völkernamen), 
die  zum  teil  noch  ungedeutet  sind  und  den  etymologen  wohl  noch  für  längere  zeit 
reichlichen  stoff  für  ihre  kombiuationen  liefern  werden  -.  In  den  beiden  Verzeich- 
nissen hat  übrigens  bereits  Wimmer  verschiedene  male  gelegenheit  gehabt,  früher 
ausgesprochene  meinungeu  zu  berichtigen  oder  eine  neue  erklärung  vorzuschlagen; 
mau  vgl.  z.  b.  s.  XXII  s.  v.  swdss,  wo  er  diesem  worte  nunmehr  mit  recht  die  be- 
deutung  des  gotischen  sires  vindiziert  (Zeitschr.  38,  131),  oder  s.  LX  s.  v.  Sasurr, 
wo  die  schon  von  Bugge  erwogene,  seltsamerweise  aber  wieder  aufgegebene  hypo- 
these,  dass  das  anlautende  s  in  den  eigenuamen  Sazwrr,  Sasgerör  und  Smstrlär  aus 
der  endung  des  vorangestellten  vaternamens  stamme,  die  «-losen  nebenformen  Azurr, 
Asgerör,  ^iEstridr  also  die  ursprünglichen  seien,  als  die  allein  mögliche  bezeichnet 
wird,  was  wohl  allgemeiner  Zustimmung  sicher  ist^ 

1)  An  die  lesung  fordl?]  i(esus)  k(ristr)  'adjuvet  J.  Chr.'  ist  kaum  zu  denken, 
denn  auf  einem  so  jungen  denkmal  müsste  mau  doch  statt  des  H    ein  ^  erwarten. 

2)  Überzeugend  gedeutet  ist  inzwischen  von  Evald  Liden  der  männliche 
eigenname  Sbarla  (d.  i.  Sp?erla  <  *  Sptieröla)  in  der  neuen,  vom  Svenska  litteratur- 
sällskapet  i  Finland  herausgegebenen  Zeitschrift:  Studier  i  nordisk  filologi  utg. 
genom  Hugo  Pipping  I,  Helsingfors  1910,  s.  1  ff. 

3)  Sollte  nicht  auch  der  alte  name  des  heutigen  dorfes  Spragelse  (zwischen 
Ringsted  und  Ntestved),  Sbnlklusu  in  gleicher  weise  als  *  s-Balks-losa  zu  erklären 
sein  ?  Die  sw.  form  Balki  ist  auf  westnordischem  gebiete  als  männlicher  eigen- 
name mehrfach  nachgewiesen  (Lind  sp.  109),  die  st.  Balkr  nur  als  beiname  {Gunnarr 


NEUERE    SCHKIFTEN    ZUK    KUNEXKUNDE  247 

Auch  in  den  angehängten  Till ieg  og  rettelser  (s. LXXXIII— XOII)  sind  zahl- 
reiche schätzenswerte  exkurse  und  nachtrage  zu  allen  vier  bänden  enthalten.  So 
ist  z.  b.  der  interessanten  Inschrift  des  Bornholmischen  Steines  von  Vester  Marie  VI 
noch  eine  volle  seite  gewidmet  (s.  XC— XCI).  Wimmer  erklärt  jetzt  das  trebinu 
dieser  Inschrift  nicht  mehr  als  den  genetiv  eines  weiblichen  eigeunamens,  sondern 
als  den  genetiv  des  appellativs  trce-hena  '(mühle)  mit  hölzerneu  füssen',  bleibt  aber 
im  übrigen  (mit  der  modifikation,  dass  Trcebenu  syni{ii)  die  'söhne  vom  Mühleuliofe' 
bezeichne),  bei  seiner  früheren  deutung.  Ich  beharre  demgegenüber  auf  meiner 
emendation  (Zeitschr.  38,  132;  40,  318),  die  von  der  Voraussetzung  ausgeht,  dass 
die  von  dem  Steinmetzen  nicht  verstandene  und  unrichtig  wiedergegebene  vorläge 
auf  ein  zu  ehren  des  toten  verfasstes  gedieht  anspielte,  wie  ein  gleiches  für  die 
Inschriften  von  Hällestad  und  Sjorup  anzunehmen  ist  (Zeitschr.  30,  371  ff.).  Diese 
emendation  erscheint  mir  weit  weniger  'voldsoni'  als  die  versuche,  den  überlieferten 
Wortlaut  zu  retten.  In  diesem  ist  der  nominativ  clrinr  kopr^  der  zu  dem  unmittelbar 
vorausgehenden  akkusativ  Alfar  brupur  sin  die  apposition  bilden  soll,  zum  min- 
desten auffallend  —  trotz  der  von  Magnus  Olsen  (Danske  studier,  1906,  s.  38)  aus  der 
Viglundar  saga  beigebrachten  parallele  (die  übrigens  in  literarischen  quellen 
zahlreiche  seitenstücke  hat:  s.  zur  Njäla  c.  13,  19)  — ;  geradezu  unmöglich  ist  aber 
der  Singular  s«eA- und  nicht  minder  unmöglich  die  plural form  syni  statt  syniir.  wenn 
Wimmer  sagt,  'at  indskriften  tilhorer  en  tid,  da -r  i  endeiserne  i  mange  tilfselde 
var  pä  veje  til  at  falde  bort'  (III,  308),  so  muss  ich  mich  gegen  Wimmer  auf 
Wimmer  selbst  berufen,  aus  dessen  Bornholmisclier  formeulehre  (in  J.  C.  S.  Espersens 
Bornholrask  ordbog,  Kbh.  1908)  s.  <  77  >  zu  ersehen  ist,  dass  gerade  in  diesem 
falle  die  mundart  der  insel  das  pluralische  -r  bis  auf  den  heutigen  tag  bewahrt 
hat.  Endlich  glaube  ich  auch  nicht  an  die  existenz  des  männlichen  eigennamens 
Skögi,  der  sonst  nirgends  nachgewiesen  ist  und,  soweit  ich  sehe,  auch  durch  keine 
analogie  gestützt  wird.  Diese  häufnng  von  Sonderbarkeiten  mutet  unserer  gläubig- 
keit  doch  allzuviel  zu,  während  durch  die  von  mir  vorgenommeneu  geringfügigen 
änderungen  eine  formell  und  inhaltlich  durchaus  korrekte  legende  gewonnen  wird. 
Im  allgemeinen  ist  natürlich,  wenn  es  sich  um  Inschriften  handelt,  eine  vorsichtige 
und  konservative  kritik  durchaus  am  platze,  und  meine  einwendungen  haben  selbst- 
verständlich nicht  den  zweck,  das  grosse  und  unsterbliche  verdienst  Wimmers,  der 
nicht  nur  der  forsch ung  eiu  unbedingt  zuverlässiges  material  geliefert,  soudern  auch 
die  meisten  Inschriften  richtig  gedeutet  und  chronologisch  fixiert  hat,  zu  schmälern. 
Möchte  man  doch  nun,  diesem  über  alles  lob  erhabenen  vorbilde  nacheifernd,  auch  in 
Schweden  die  band  ans  werk  legen,  wo  —  von  Öland  abgesehen  —  noch  so  gut 
wie  alles  zu  tun  ist,  da  die  Sammlungen  von  Dybeck,  Torin,  Wiede  und  anderen, 
die  in  unbegreiflicher  kurzsichtigkeit  noch  immer  George  Stephens  als  ihren  lehrer 
und  meister  verehrten,  auch  den  bescheidensten  ansprüchen  nicht  genügen  können. 
Dem  würdigen  Nestor  der  nordischen  philologen  aber  spreche  ich  zur  Vollendung 
seines  grossen  lebenswerkes  meine  aufrichtigsten  glückwünsche  aus:  möge  es  ihm 
vergönnt  sein,  auch  die  beiden  wissenschaftlichen  arbeiten,  die  er  schweren  herzens 
beiseite  legen  musste,  um  sich  ganz  der  ihm  übertragenen  riesenaufgabe  widmen  zu 
können,  noch  zu  einem  glücklichen  ende  zu  führen ! 


halky,  Hyndl.  22  M.     Vgl.  über   die   häufigen   Ortsnamen  auf  -lose  0.  Nielsen  in  den 
Bhindinger  til  oplysning  om  dansk  sprog  i  leldre  og  nyere  tid  II  (1890),  s.  27  ff. 


248  GEKINCl 

2.  Von  den  zahlreichen,  in  verschiedenen  Zeitschriften  zerstreuton  runo- 
logischen  abhaudlungen  Magnus  Olsens,  die  uns  die  sichere  gewähr  geben,  dass 
die  fortsetzung  der  grossen,  von  Sophus  Bugge  begonnenen  ausgäbe  der  sämt- 
lichen norwegischen  runendenkmäler  den  besten  bänden  anvertraut  ist,  greife  ich 
nur  die  beiden  heraus,  die  ihrer  kulturgeschichtlichen  bedeutung  wegen  von  all- 
gemeinerem Interesse  sind.  Die  erste  behandelt  die  iuschrift  eines  1864  in  der  urne 
eines  frauengrabes  aus  dem  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  gefundenen  knöchernen  schabe- 
messers,  das  nach  den  sachkundigen  erörterungen  Scheteligs,  der  einen  ausführlichen 
fundbericht  beisteuert,  dazu  gedient  hat,  die  fleischseite  einer  abgezogenen  tierhaut 
zu  reinigen.  Diese  Inschrift  enthält  nur  elf  von  rechts  nach  links  laufende,  durch 
keine  trennungszeichen  von  einander  geschiedene  runen,  von  denen  die  neunte  und 
zehnte  zu  einer  auch  sonst  begegnenden  ligatur  vereinigt  sind,  und  ergibt  die  lesung : 

linalaukaRa. 

Diese  gliedert  Olsen  in  die  drei  komplexe:  lina,  laukan,  a  und  erkennt  in 
in  dem  ersten  das  altn.  st.  n.  lln  'lein,  linnen,  leinwand',  in  dem  zweiten  das  altn. 
st.  m.  laukr  'lauch'  (beide  in  der  urnordischen  form  des  nominativs)  und  in  dem 
dritten  den  ersten  buchstaben  des  in  den  älteren  runeninscliriften  oft  begegnenden 
Wortes  alu,  das  den  die  Inschrift  tragenden  gegenständ  als  ein  Schutzmittel, 
ein  amulet  kennzeichnen  soll.  Zur  erklärung  verweist  er  auf  den  kürzlich  von 
Andr.  Heusler  (Zeitschr.  des  Vereins  f.  volksk.  13,  24  ff.)  ausführlich  behandelten,  in 
der  Flateyjarbök  überlieferten  Vglsa  ^ättr,  in  dem  von  der  abergläubischen  Ver- 
ehrung berichtet  wird,  die  im  nördlichen  Norwegen  zur  zeit  Olafs  des  heiligen  von 
einer  bauernfamilie  dem  in  lein  wand  eingewickelten  und  durch  lauch  vor  der 
Verwesung  geschützten  membrum  eines  hengstes  erwiesen  sein  soll,  wie  auch  ander- 
wärts ein  solcher  phallusdieust,  diu'ch  den  man  dauerndes  Wachstum  und  gedeihen 
des  viehstandes  sich  sichern  wollte,  bezeugt  ist.  Durch  eine  reihe  von  belegen  aus 
der  alten  und  neuen  literatur,  die  von  der  belesenheit  und  gelehrsamkeit  des  Ver- 
fassers ein  rühmliches  zeugnis  ablegen,  wird  ferner  festgestellt,  dass  die  leinpflanze 
vielfach  als  symbol  der  fruclitbarkeit  angesehen  wurde  und  der  lauch  neben  anderen 
liliazeen  als  ein  aphrodisiakon  galt.  Den  umstand,  dass  das  letzte  wort,  obwohl 
genügender  platz  vorhanden  war,  nicht  ausgeschrieben,  sondern  nur  durch  den  ersten 
buchstaben  angedeutet  ist,  sucht  Olsen  dadurch  zu  erklären,  dass  man  der  zehnzahl 
eine  besondere  bedeutung  beigemessen  zu  haben  scheint,  da  auch  in  anderen  Inschriften 
magischen  Inhalts  dieselbe  anzahl  von  runen  verwendet  ist,  und  hierauf  deutet  ja 
auch  die  Vereinigung  der  beiden  schlussrunen  des  wortes  ImikaE  zu  einem  einheit- 
lichen zeichen,  die  also  ebenfalls  vorgenommen  ward,  um  die  geheiligte  zahl  nicht 
zu  überschreiten.  Ich  halte  es  für  möglich,  dass  diese  scharfsinnige  deutuug  das 
richtige  getroffen  hat;  einleuchtender  aber  würde  sie  sein,  wenn  das  Instrument,  auf 
dem  die  runen  eingegraben  sind,  ein  zur  abtrennung  der  genitalien  geeignetes  Werk- 
zeug wäre:  hierzu  ist  jedoch  die  dünne  klinge  aus  knocheu  schwerlich  verwendbar 
gewesen. 

Magischen  zwecken  hat  auch,  wenn  seine  erklärung  (woran  ich  nicht  zweifle) 
richtig  ist,  die  zweite,  von  Magnus  Olsen  behandelte  inschrift  dienen  sollen,  die 
auf  einem  knöchernen  webetäfelchen  eingegraben  ist,  das  1906  zu  Lund  in  einem 
alten,  wahrscheinlich  dem  13.  Jahrhundert  angehörigen  frauengrabe  gefunden  wurde. 
Die  inschrift  läuft  an  den  vier  kanten  des  täfelchens  entlang  und  lautet  (die  erste, 
durch  einen  stern  bezeichnete  rune  der  dritten  kante  ist  zerstört) : 
skuaraii  ;  iki\mar  :  afa  :     *an  :  mn  :  krat  \  aallatti  : 


NEUERE    SCHRIFTEN   ZUR   RUNENKUNDE  249 

Aus  den  ruiien  der  ersten  drei  kanten  gewinnt  Olsen  die  lesung:  S[t]gvaraR- 
I(n)gimar  [h]afa  man  m[e]n-  grdt  ,Sigvgrs-Ingimar  soll  unheilvoller  kummer  wider- 
fahren', während  der  letzte  teil  der  Inschrift  seiner  m einung  nach  keine  wirklichen 
Wörter  enthält,  sondern  nur  aus  zeichen  besteht,  denen  man  eine  besonders  zauher- 
kräftige  Wirkung  zuschrieb.  S\i]gvaraR  ist  der  genetiv  des  frauenuamens  SigvQr, 
und  die  bezeichnung  StgvaraE-Ingimar  hat,  wie  Olsen  nachweist,  mehrfache  paral- 
lelen, wie  z.  b.  der  in  einem  J)ättr  der  Morkinskinna  und  im  Skäldatal  erwähnte 
isländische  dichter  l'örör,  der  in  Norwegen  Verwalter  der  reichen  witwe  Asa  (GuU-Asa") 
wurde  und  sie  nachher  heiratete,  infolgedessen  den  namen  Asu-f'örör  erhielt.  In 
einem  intimen  Verhältnisse  haben  vermutlich  auch  die  beiden  in  unserer  Inschrift 
genannten  peisonen  zueinander  gestanden,  und  ein  hierüber  erzürntes,  eifersüchtiges 
weib  hat  die  runen  in  das  täfeichen  eingeritzt,  um  dem  Ingimar  unheil  zu  weben. 
Die  Vorstellung  vom  spinnen  oder  weben  des  Unglücks  ist  bekanntlich  alt  und  war 
Aveit  verbreitet,  was  der  Verfasser  durch  eine  reihe  von  Zeugnissen  nacliweist. 

3.  Zu  den  drei  denkmälern,  die  das  gemeingermanische  runenfu|)ark  von  24 
zeichen  in  im  wesentlichen  gleicher  anordnung  —  jedoch  alle  unvollständig  —  über- 
liefern (der  Spange  von  Charnay,  dem  Themsemesser  des  Britischen  museums  und 
dem  brakteaten  von  Vadstena)  ist  kürzlich  durch  einen  glücklichen  fund  ein  viertes 
hinzugefügt  worden,  das  bereits  in  einer  trefflichen  schwedischen  publikatiou  vor- 
liegt, über  die  ich  wegen  der  Wichtigkeit  des  gegenständes  für  die  geschichte  der 
runenschrift  kurzen  bericht  erstatte. 

Die  dünne  kalksteinplatte,  auf  der  das  fuj)ark  eingeritzt  ist,  diente  nebst 
anderen  (gleichartigen,  aber  unbeschriebenen)  steinen,  die  sämtlich  lotrecht  standen, 
zur  einfassung  eines  grabes,  das  1903  zu  Kylfver  auf  Gotland  aufgedeckt  wurde 
und  nach  archäologischen  kriterieu  dem  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  angehört:  die  Inschrift 
würde  somit  als  das  älteste  schwedische  runendenkmal  anzuerkennen  sein.  Das 
aiphabet,  an  dessen  erster  und  achter  rune  die  beistriche  nicht  mehr  deutlich  er- 
kennbar sind  und  dessen  zwölfte  rune  sich  nicht  mehr  mit  Sicherheit  ihrer  form  nach 
feststellen  lässt,  hat  die  folgende  gestalt  (trennungszeichen,  die  auf  dem  brakteaten 
von  Vadstena   die    drei  gruppen  von  je  acht  zeichen  voneinander  sondern,  fehlen): 

rnMR<XF>H+i[c:)]ix>rAn^MMrciM5^f 

Auffallend  ist,  dass  drei  runen :  a  (nr.  4),  s  (nr.  16)  und  b  (ni-.  18)  nach  links  ge- 
wendet sind,  und  dass  die  p-rune  (nr.  13)  der  e-ruue  vorausgeht,  während  die  oben 
genannten  drei  denkmäler  (auch  handschriftliche  —  ags.  —  runenalphabete)  die  um- 
gekehrte rcihenfolge  zeigen  (in  der  anordnung  der  beiden  letzten  runen  schwanken 
die  bisher  bekannten  alphabete),  ferner  dass  die  7i'-rune  (nr.  15)  die  beistriche  unten 
ansetzt  und  abwärts  kehrt,  während  als  die  ältei'e  form  bisher  die  mit  oben  an- 
gesetzten und  aufwärts  gerichteten  beistrichen  (Y)  gegolten  hat  —  die  ursprüngliche 
form  )j^,  die  aus  einer  alten  form  des  griechischen  ^(T)  durch  brechung  der  beiden  wag- 
rechten linien  und  Verlängerung  des  hauptstabes  nach  oben  und  unten  hervorgegangen 
sein  wird,  ist  auf  der  Charnayspange  erhalten:  aus  iiir  sind  meines  erachtens  die  formen 
Y  und  /l^,  die  als  Vereinfachungen  sich  darstellen,  entstanden  — .  Die  p-rune 
(nr.  1:^)  stimmt  genau  mit  dem  entsprechenden  zeichen  des  Themsemessers  überein, 
während  die  handschriftlichen  ags.  alphabete  eine  etwas  abweichende  gestalt 
zeigen  ([:|)  und  der  brakteat  von  Vadstena,  der  die  runde  form  ß  zur  bezeichnung 
des  b  verwendet,  die  alte  p-rune  durch  das  eckige  zeichen  ^  ersetzt  hat.     Das  der 


250  .TÜKGENSKN    ÜBEIJ    WKIIHHAN,    KINDEKLIED    UND    KINDERSPIEL 

24.  ruuo  folj^ende  zeichen,  über  das  v.  Friesen  sich  nicht  äussert,  halte  ich  für  ein 
sieben(oder  acht-y)mal  wiederholtes  'f,  durch  das  vermutlich  der  schütz  des  gottes 
Tvr  angerufen  werden  sollte. '  —  Ausserdem  finden  sich  rechts  von  dem  fut)ark 
und  durch  einen  grösseren  Zwischenraum  von  diesen  getrennt  noch  die  runen 
^nriPlH    (oder  ^riMDHO)  doren  deutung  noch  nicht  versucht  ist. 

1)  Vgl.  Sigrdr.  G : 

Sigrimar  skalt  kunna,  ef  rill  sigr  hafa, 

ok  rlsta  d  hjalti  hjprs, 
sumar  ä  rettrimmn,  sumar  d  valbpstum, 
ok  nefna  tysvar  T ;/. 
KIEL.  KUGO    GERING. 


Kiuderlied    und    kind  erspiel    von   Karl  Wehrhau.     [Handbücher  für  Volks- 
kunde IV.]     Leipzig,  W.  Heims  1909.     VIII,  189  s.     2  m. 

Die  vorliegende  arbeit  will  'das  für  weitere  kreise  wissenswerteste  aus  dem 
anmutigen  gebiete  des  kinderlieds  und  kinderspiels  bringen'.  Sie  bespricht  in 
gedrängter  kürze,  alle  gattungen  des  kinderliedes  und  -Spieles.  Von  der  histo- 
rischen, mythologischen,  pädagogischen,  metrischen,  musikalischen  und  sprachlichen 
Seite  wird  an  dieses  gebiet  der  Volkskunde  herangetreten  und  so  dem  freunde  dieser 
Wissenschaft  eine  nicht  ungeschickte  einführung  geboten.  Der  Verfasser  bringt  keine 
selbständigen  forschungsergebnisse,  sondern  nur  eine  auswahl  dessen,  was  bisher  auf 
diesem  gebiete  gearbeitet  worden  ist.  Leider  spricht  er  sich  garnicht  über  die 
methode  der  kinderliedforschung  aus.  Dass  der  häufig  unverständliche  sinn  eines 
liedes,  die  dunklen  neubildungen  und  Überreste  nur  durch  saminluug  und  verglei- 
chung  der  Varianten  möglichst  vieler,  womöglich  aller  lieder  gedeutet  werden  kann, 
wird  von  ihm  mit  keinem  worte  erwähnt,  und  ist  doch  auch  für  weitere  kreise, 
auf  deren  Sammeltätigkeit  der  forscher  angewiesen  ist,  von  erheblicher  Wichtigkeit. 
Bedauerlich  ist  ferner,  dass  der  Verfasser  die  bedeutung  der  geographischen  Ver- 
breitung der  lieder  nicht  erkannt  hat.  Seine  ansieht,  dass  man  'von  jedem  reim 
ruhig  vermuten  darf,  dass  er  auch  irgendwo  anders  nicht  fremd  ist'  (s.  169),  muss 
ich,  in  dieser  allgemeinen  fassung,  entschieden  widersprechen;  ich  erinnere  nur  an 
die  rummelpott-,  todaustreibe-,  sommer-  und  Martinslieder,  deren  gebiet  genau  ab- 
gegrenzt ist.  Gerade  in  der  geographischen  Verbreitung  einzelner  liedergruppen 
liegen  die  bedeutsamsten  fingerzeige  für  die  ausdehnung  eines  kultes,  für  siede- 
lungsverhältnisse,  bevölkerungsverschiebungeu,  für  den  Wirkungskreis  historischer 
und  literarischer  erscheinungen  u.  a.  m.  Wenngleich  schon  zahlreiche  Sammlungen 
von  kinderliedern  vorliegen,  so  wird  die  wissenschaftliche  forschung  doch  erst  dann 
zu  befriedigenden  resultaten  gelangen,  wenn  die  Voraussetzung  für  ein  derartiges 
arbeiten  gegeben  ist,  d.  h.  die  mehrzahl,  womöglich  alle  lieder,  die  von  kindern 
gesungen  werden,  aufgezeichnet  und  systematisch  geordnet  sind.  Eine  solche  arbeit 
wird  allerdings  ohne  staatliche  Unterstützung  kaum  möglich  sein.  Der  Verfasser 
hat  ihr  vorgearbeitet  mit  einem  systematischen  und  einem  landschaftlich  geordneten 
literaturverzeichnis,  welches,  allerdings  nicht  lückenlos,  doch  das  reichhaltigste  dar- 
stellt was  für  dieses  gebiet  bisher  vorlag.    Dafür  sind  wir  ihm  zu  danke  verpflichtet. 

FLENSBURG.  ■  WILHELM   Ji'RGENSEN. 


liÖTZE   ÜBER   MOSER,    FRÜHXEUHOCHDEUTSC'HE    SCHRIFTDIALEKTE  251 

Virgril  Moser,  Historisch-grammatische  einführuug  iu  die  früh- 
neuhochdeutschen Schriftdialekte.  Halle  a.  d.  S.,  Waisenhaus  1909. 
XII,  266  s.     8  m. 

Karl  V.  Bahders  verdienstvolles  buch  'Grundlagen  des  uhd.  lautsystems'  ist 
seit  Jahren  vergriffen  und  sein  Verfasser  noch  auf  lange  so  völlig  durch  die  grosse 
iirbeit  am  Deutschen  Wörterbuch  beansprucht,  dass  eine  neue  aufläge  nicht  abzu- 
>ehen  ist.  So  ist  es  doppelt  erfreulicli,  dass  das  schwierige  und  wichtige  gebiet  von 
anderer  band  eine  bearbeitung  erfährt,  die,  was  v.  Kahder  und  andere  seither  er- 
arbeitet haben,  zu  einem  gesamtbild  zusammenstellt  und  die  reiche  einzelforschung 
der  letzten  Jahrzehnte  verwertet,  dabei  auch  wohl  mehr  auf  eigene  beobachtuugen 
und  Sammlungen  sich  stützt,  als  das  zurückhaltende  Vorwort  erkennen  lässt.  'Es  wird 
noch  viele  einzeluntersuchuugen  erfordern,  ehe  eine  geschichte  der  hegründung  der 
nhd.  Schriftsprache  versucht  werden  kann',  hatte  v.  Bahder  1889  geschrieben,  und 
das  wort  ist  lieute  noch  nicht  veraltet  —  nicht  als  abschliessende  geschichte  ist 
denn  auch  Mosers  buch  gemeint,  sondern  als  ein  grosses,  übersichtliches  fachwerk, 
in  das  sich  künftige  einzelforschung  eintragen  lässt,  das  kommenden  arbeitern 
auf  diesem  gebiete  den  blick  auf  das  ganze  richten  hilft  und  gerade  auch  in  seinen 
lücken  anregend  wirken  kann,  indem  es  dazu  auffordert,  sicli  um  solclie  dünne 
stellen  mit  besonderem  ernst  zu  bemühen.  Ich  verweise  hier  beispielsweise  auf  die 
bemerkungen  über  die  kanzleisprache  von  Worms  und  Spej'er  s.  40,  über  die  spätere 
entwickluug  der  Schriftsprache  in  Bern  s.  69,  die  kürzung  mhd.  längen  s.  117. 

Moser  scheidet  sein  buch  in  zwei  hauptabschnitte,  von  denen  der  erste,  histo- 
rische die  entwicklung  der  schriftdialekte  von  1350  bis  1650  durch  kanzlei  und 
literatur,  praxis  und  theorie  in  grossen  zügen  verfolgt,  der  zweite,  grammatische 
die  sprachlichen  erscheinungen  in  laut-  und  formenlehre,  Wortbildung  und  syntax 
darstellt.  Die  angehängten  bemerkungen  zum  Wortschatz  geben  nach  des  Verfassers 
eigener  absieht  nur  einige  allgemeinste  Charakteristika,  die  beigefügten  urkundlichen 
und  literarischen  textproben  können  auf  30  selten  reichtum  und  Vielseitigkeit  des 
deutschen  Schrifttums  jener  zeit  eben  nur  andeuten.  Es  wäre  gegenüber  dem 
tapfern  und  mühevollen  Verstoss,  den  Mosers  buch  beim  jetzigen  stand  der  forschung 
bedeutet,  unbillig,  es  hier  auf  einzelheiten  hin  durchzusprechen,  dagegen  soll  der 
versuch  gemacht  werden,  au  je  einem  punkte  seiner  hauptabschnitte  Mosers  ver- 
fahren zu  würdigen. 

Mosers  urteil  über  Luthers  Stellung  zur  Schriftsprache  läuft  darauf  hinaus, 
'dass  Luther  nicht  nur  nichts  absolut  neues  geschaffen  hat,  sondern  dass  seine 
Sprache  von  dem,  was  wir  heute  schlechthin  als  'neuhochdeutsche  Schriftsprache' 
bezeichnen,  viel  weiter  entfernt  ist,  als  dies  gewöhnlich  angenommen  wird'  (s.  50). 
In  dem  bestreben,  diese  these  durchzusetzen,  die  in  solcher  fassung  gewiss  eine 
beachtenswerte  Wahrheit  enthält,  geht  Moser  hie  und  da  entschieden  zu  weit,  und 
manches  in  seinen  urteilen,  das  zum  Widerspruch  herausfordert,  widerlegt  sich  schon 
aus  seinen  eigenen  angaben.  Wenn  nur  die  eine  äusserung  Luthers  bestehen  bliebe, 
er  habe  so  geschrieben,  'das  mich  beide  Ober-  und  Xiderländer  verstehen  mögen', 
80  hätte  er  ein  unvergleichliches  verdienst  um  die  einigung  der  nhd.  Schriftsprache. 
Dieses  bestreben  bei  Luther,  das  man  nicht  'unwillkürlich'  (s.  50)  nennen  darf, 
würde  ihn  über  seine  Zeitgenossen  hinausheben,  schon  wenn  es  erfolglos  gewesen 
wäre,  dass  er  aber  nachfolge  gefunden  hat,  wenn  auch  nicht  allgemein  und  sofort, 
bestätigen  Mosers   laut-  und  formenlehre   fast   iu  jedem  paragrapheu.     Dazu  ist  die 


252  «('n-zK 

grundsätzliche  aclitung  vor  der  Lutherspraclie  so  gut  bezeugt  wie  immer  eine  spracb- 
geschicbtlicbe  tatsacbe  des  16.  und  17.  Jahrhunderts,  und  mau  darf  diese  Zeugnisse 
nicht  beiseiteschieben,  weil  sie  'meist  von  parteiischen  gewährsmännern'  (s.  62) 
herrühren :  wo  soll  man  Zeugnisse  von  neutralen  beobachtern  hernehmen,  wenn  die 
ganze  deutsche  weit  in  freunde  und  feinde  Luthers  geteilt  war? 

Wie  sich  Mosers  buch  im  lichte  künftiger  einzelforschung  behaupten  wird, 
kann  durch  die  gunst  dos  zufalls  schon  jetzt  an  einem  beispiel  gezeigt  werden. 
t'ber  die  gutturaldiminution,  die  er  s.  220  auf  10  zeilen  behandelt,  erscheint  eben 
eine  Freiburger  doktorschrift  von  Hans  Gürtler,  die  er  noch  nicht  benutzen  konnte. 
Moser  teilt  seine  Übersicht  über  das  suffix  in  einen  absatz  über  seine  Verbreitung 
und  einen  zweiten  über  seine  verschiedenen  formen  —  eine  sachgemässe  einteilung, 
die  sich  zum  nutzen  des  Verständnisses  oft  in  dem  buche  widerholt.  Nicht  glücklich 
ist  in  unserm  falle  nur,  dass  er  hier  den  ersten  absatz  über  das  suffix  -ichin  handeln 
lässt,  da  doch  diese  form  nur  im  östlichsten  teile  des  md.  gebiets  gilt  und  schon 
seit  dem  14.  Jahrhundert  völlig  zurücktritt.  Gürtler  stellt  fest,  dass  das  sufiix 
seit  dem  10.  Jahrhundert  sporadisch,  seit  dem  14.  in  breiter  geltung  auftritt, 
und  dass  Hessen,  Sachsen  und  Schlesien  die  masse  der  belege  liefern.  Damit 
Averden  Mosers  angaben  'seit  dem  14.  Jahrhundert'  und  'in  allen  teilen  des 
gebiets'  nicht  berichtigt,  aber  doch  präzisiert.  Gürtler  zeigt  aber  auch,  dass  das 
suffix  für  eigennameu  viel  früher  und  in  breiterer  geltung  fest  ist  als  für 
andere  substantiva,  und  gewinnt  damit  einen  neuen  gesichtspunkt,  den  Moser 
noch  nicht  haben  konnte.  Dass  das  suffix  'weiterhin  in  der  zunähme  begriffen 
ist',  bestätigen  Gürtlers  Sammlungen  durchaus;  dass  es  bis  1650  etwa  gegen 
-lin  noch  weit  in  der  minderzahl  bleibt,  ist  im  allgemeinen  richtig,  dabei  gibt  es 
aber  doch  autoren,  die  dem  (f)chen  den  Vorzug  geben,  wie  Eothe  in  seiner  1421 
vollendeten  Thüringischen  chronik.  Die  weitere  angäbe,  dass  Luther  -ichen  nur  in 
seinen  ( familien- ibrief en  verwende,  wird  haltbar  nur  durch  die  eiuschränkung  'öfters', 
die  iu  der  notiz  bei  Moser  s.  48  fehlt.  Im  übrigen  zeigen  schon  die  artikel  heil- 
gichen,  kaninchen,  kröncheu,  pfinnchen  im  Dwb.,  sowie  bapsteselclien,  bierichen, 
canonichen,  catönichen,  engelchen,  faulbettchen  bei  Dietz,  dass  er  das  suffix  auch 
in  seinen  tischreden,  polemischen  Schriften,  predigten  und  in  der  bibelübersetzung 
nicht  verschmäht.  Dass  -chin  bei  Alber  recht  wenig  im  gebrauch  ist,  bestätigt  sich 
dagegen  durchaus:  Gürtler  hat  nur  20  belege  bei  ihm  gefunden. 

Mit  grossem  sprung  geht  Moser  von  Luther  und  Alber  sogleich  zu  den 
schlesischen  dichtem  über.  Gürtler  ermöglicht  uns  hier  einzufügen,  dass  Fischart 
22  -chen  neben  vereinzelten  -ken,  ßullenhagen  (nennt  ihn  Moser  absichtlich  stets 
Rollhagen,  oder  ist's  ein  lapsus  wie  bei  dem  stets  so  geschriebenen  Zarnke  und  bei 
Fromann  62,  32,  Koldwey  76,  33?)  9,  Ambrosius  Pape  16,  Martin  Einckart  in 
seinen  volkstümlichen  Schriften  sehr  viele  -chen  bietet  und  dass,  während  sich  gram- 
matiker,  lexikographen  und  Sprachgesellschaften  ablehnend  verhalten,  das  suffix 
im  Volkslied  früh  herrscht.  Die  bemerkung  'etwas  häufiger  M'ird  es  unter  den 
Schlesiern'  lässt  sich  jetzt  bestimmter  fassen:  -cheii  ist  die  regelmässige  und  fast 
ausschliessliche  form  der  diminution  bei  Opitz,  Logau,  Gryphius,  auch  Fleming; 
das  gleiche  gilt  von  herzog  Heinrich  Julius  und  den  Königsberger  dichtem,  namentlich 
Simon  Dach.  Dass  Schottel  das  suffix  fast  nicht  gelten  lassen  will,  bleibt  bestehen: 
nur  in  drei  redensarten,  die  er  nicht  gut  anders  widergeben  konnte,  lässt  er  es 
stehen. 


ÜBER   JIOSEK,   FRÜHNEUHOCHDEUTSCHE    SCHRIFTDIALEKTE  253 

In  Mosers  Übersicht  der  formen  des  suffixes  können  wir  jetzt  statt  der  drei 
autornamen,  die  er  nennt,  die  landschaften  einsetzen :  -ichin  gilt  wäe  bei  Opitz  im 
ganzen  osten  des  md.  gebiets,  in  Schlesien  und  zum  teil  in  Meissen,  -chin  wie  bei 
Alber  im  ganzen  westen,  besonders  in  Hessen,  -icJien  im  Obersächsischen  und  Ost- 
thüringischen, wie  es  bei  Luther  die  gangbare  form  ist,  -igen  in  manchen  seiner 
tischreden  scheint  nur  auf  rechnung  des  Termittiers  Mathesius  zu  kommen.  Endlich 
-gen,  nicht  erst  seit  dem  17.  Jahrhundert  so  geschrieben,  ist  am  Mittelrhein  zu  hause, 
rückt  seit  dem  15.  Jahrhundert  nach  osten  vor  und  drängt,  sich  in  kanzlei-  und 
Schriftsprache  (Kinckart,  Olearius,  Stoppe,  Finckelthaus,  Zinkgräf,  Moscherosch)  so 
stark  ein,  dass  man  sagen  darf:  das  suffix  hat  in  dieser  form  seinen  endgültigen 
einzug  in  die  Schriftsprache  gehalten. 

Nicht  für  alle  einzelfragen  werden  wir  so  gründliche  Untersuchungen  be- 
kommen, wie  jetzt  von  Gürtler  über  die  gutturaldiuiinution,  und  nicht  jede  einzel- 
schrift  wird  das  bei  Moser  gegebene  gesamtbild  so  sauber  präzisieren  können.  Um 
so  mehr  dürfen  wir  es  zum  guten  zeichen  nehmen,  wenn  sein  passus  unserer  mikro- 
skopischen betrachtung  so  gut  standhält  und  den  eindruck  übersichtlicher  Zu- 
sammenfassung wenigstens  des  hauptmaterials  bewahrt,  soweit  sich  das  so  knapp 
überhaupt  darstellen  liess.  Denn  das  ist  freilich  eine  gefahr  bei  Mosers  verfahren, 
dass  die  mitteilangen  über  einzelheiten  in  ihrer  nötigen  kürze  gar  zu  inhaltarm 
werden,  wie  denn  beispielsweise  der  letzte  paragraph  seines  grammatischen  teils: 
'Anakoluthe  sind  während  des  16.  Jahrhunderts  häufig.  Sie  finden  sich  hei  Luther 
nicht  selten,  besonders  beliebt  sind  sie  bei  Fischart'  keinen  leser  ernsthaft  fördern 
kaim.  Eine  andere  Schwierigkeit  ist  die,  dass  jeder  seiner  hauptabschnitte  zum 
völligen  Verständnis  den  andern  voraussetzt,  dass  das  buch  also  erst  beim  zweiten 
lesen  wirklich  fruchtbar  wird.  Das  wird  zu  bedenken  sein,  namentlich  wenn  man 
das  buch  aufängeru  empfiehlt,  für  die  es  nach  der  absieht  des  Verfassers  zuerst 
bestimmt  ist.  Etwas  blutleer  dürfte  diesen  der  erste,  historische  teil  mit  seinem 
verzieht  auf  beispiele  in  jedem  falle  vorkommen,  denn  hier  hat  auch,  wer  sich 
schon  längere  zeit  in  frühnhd.  texten  bewegt,  mühe,  sich  jede  angäbe  Mosers  an 
passenden  belegen  lebendig  zu  machen.  Gerade  der  anfänger  wäre  wohl  auch 
dankbar,  wenn  ihm  die  wichtige  einzelliteratur  vollständiger  genannt  würde,  als  bei 
Moser  geschieht,  etwa  zu  s.  66  Baeseckes  einleitung  zum  neudruck  von  Fischarts 
Glückhaftem  schiff;  zu  s.  101  §  26  v.  Bahders  artikel  W  im  Dwb.  XIII  11;  zu 
140  anm.  der  artikel  Reuter  in  Kluges  Etymologischem  Wörterbuch ;  zu  s.  162  Ernst 
Reuters  Freiburger  doktorschrift  von  1906  Neuhochdeutsche  beitrage  zur  west- 
germanischen konsonantengeminatiou ;  zu  s.  212  §200  Bohnenberger  Beitr.  22,  209; 
zu  gesein  215,  24  die  mhd.  regel  z.  b.  bei  Paul  §  309,  die  nach  sämtlichen  be- 
legen des  Dwb.  unter  gesein  frühnhd.  noch  gilt,  dazu  etwa  Luther,  "N^'eim.  ausg. 
30  II  147,  9  mit  nachtrag;  zu  216,  5  gewest  —  gesein  auf  H.  Fischer,  Atlas  zur  geo- 
graphie  der  schwäbischen  mundart,  karte  2J. 

]\Ian  versteht,  dass  der  Verfasser  bei  der  korrektur  auf  wichtigeres  hat  achten 
müssen  als  auf  die  kleinen  druckfehler,  sonst  wären  39,  28  ethymologisch ;  63,  19 
gemminate  ;  113,  4  virgil  statt  virgel;  128,  33  passatim  statt  passim;  196,  31  scliir 
statt  schrir  nicht  stehen  geblieben ;  der  gebrauch  von  zahlreich  statt  oft  oder  häufig 
25,  21.  90,  1.  93,  30.  97,  21  wäre  revidiert  worden.  Sachlich  etwas  tiefer  gehen 
die  folgenden  änderungsvorschläge :  19,  28  lies  reichskanzlei  statt  rcichsgewalt ; 
37,  1  im  Unterelsässischen  statt  im  Elsässischen ;  43,  34  barfüsscr  sciiulmeister 
Kolruss  statt  barfüssermönch  und  Schulmeister;  46,  27  umlaut  statt  es;  53,  12  ober- 


254  MEYEK    ÜltEK    ÜKAEGEH,    TIF.    MUN'DT    UND   DAS   JUNGE    DEUTSCHLAND 

doutsclien  muudarteu  statt  mundarten;  115,  29  silbengrenze  statt  silbenakzent; 
172,  7  mittelbaren  auslaut  statt  inlauteudeu  auslaut;  215,  6  kontaminationsform 
statt  koinpositionsform. 

FI!EinT-l!(!    I.  1!K,  ALFKED    GÖTZE. 


Otto  Draeger,  Theodor  ]\I  u  n  d  t  und  seine  b  e  z  i  e  h  u  n  g  e  u  zum  Jungen 
Deutschland.  Harburg,  Elwert  1909  [Beiträge  zur  deutschen  literaturwissen- 
schaft,  herausgegeben  von  Ernst  Elster,  nr.  10].  179  s.  4  ni. 
Der  Verfasser  bemerkt  mit  recht,  dass  die  literaturgeschichte  den  'kritiker 
des  Jungen  Deutschland'  bisher  ungebührlich  vernachlässigt  hat.  Seine  schrift  hat 
besonderen  wert  durch  die  mitteilung  ungedruckter  briefe  Hundts,  worunter  (s.  165) 
ein  sehr  merkwürdiger  und  sehr  unerfreulicher  an  den  geheirarat  Tzschoppe.  Und 
von  dem  'verleger  des  Jungen  Deutschland',  Lövventhal  (dem  einzigen  Juden  der 
'jüdischen  schriftstellergruppe')  erhalten  wir  (s.  149.  162)  Urkunden,  die  die  gleichen 
prädikate  verdienen.  Ferner  werden  zwei  wichtige  momente  in  der  geschichte  dieser 
schule  urkundlich  näher  beleuchtet:  die  inhibieruug  von  Hundts  habilitatiou  und 
vor  allem  die  geschichte  des  berüchtigten  'Herodischeu  Iteschlusses'  wider  das 
Junge  Deutschland.  Stücke  eines  briefwechsels  zwischen  den  fürsteu  Metternich 
und  Wittgenstein,  auch  an  sich  sehr  interessant,  beweisen  gegen  Geiger,  dass  das 
traurige  verdienst  der  initiative  doch  Österreich  zukommt  und  nicht  Preussen.  — 
Hübsch  sind  auch  die  geheimberichte  (s.  157)  und  die  zensurakten  des  widerwärtig- 
sten der  Zensoren,  des  geh.  hofrats  John,  leider  Goethischen  angedenkens  (s.  85. 
94.  101.  107).  Der  minister  v.  Rochow,  der  verantwortliche  adoptivvater  des  wortes 
^  vom  'beschränkten  untertauenverstand',  kommt  viel  besser  fort.  Aber  die  uns  so 
seltsam  anmutende  auffassung,  dass  die  herren  minister  die  schriftsteiler  zu  erziehen 
und  zu  'bessern'  haben  (vgl.  z.  b.  s.  162),  teilt  er  natürlich  durchaus. 

Weniger  ergiebig  als  in  biographischer  hinsieht  ist  die  schrift  in  literatur- 
historischer —  was  freilich  für  die  '.Fung-Deutschlandforschnng'  fast  allgemein  gilt, 
seit  Houben  ihre  führung  übernommen  hat.  Der  abschnitt  über  Hundts  'Psychologie' 
gibt  nur  das  allgemeinste :  kein  naturgefühl,  interesse  an  genieinbegriffeu ;  nur  etwa 
die  religiöse  Stellung  wird  (s.  140)  genauer  beleuchtet.  Aus  Hundts  Verhältnis  zu 
Goethe  (s.  154),  Heine  (s.  156),  Börne  (s.  159)  werden  keine  ästhetischen  folgerungen 
gezogen,  die  ahhängigkeit  von  Tieck  (s.  34),  Hippel,  J.  Paul  (s.  6B)  nicht  ins  einzelne 
verfolgt.  Die  analysen  der  werke  sind  nicht  übel  geraten,  ermangeln  aber  der 
hinweise  auf  weitere  zusammenhänge.  Dagegen  werden  für  schlagworte  und  titel 
wie  'bewegung'  (s.  39)  und  'Zodiacus'  (s.  32  anm.j  hübsche  nachweise  gegeben. 
I'^brigens  wird  die  bezeichnung  'Junges  Deutschland'  selbst  auf  dem  titel  in  anfecht- 
barer weise  verwandt:  kann  einer  in  'beziehungen'  zu  dem  stehen,  wovon  er  einen 
integrierenden  bestandteil  bildet? 

BERLIN.  RICHARD    M.  MEYER. 


OLSEN   ÜBEK   BLEY,   EIGLASTUBIEX  255 

A.  Bley,  Eiglastudien.     Geut,   van   Goethem  &  cie.  1909.     X,  253  s.     13  frcs. 

Es  war  mir  sehr  erfreulich,  aus  Bleys  buche  zu  ersehen,  dass  wir  über  die 
Verfasserschaft  der  Egilssaga  einig  sind,  und  zwar  um  so  mehr,  als  er  unabhängig 
von  mir  zu  demselben  resultat  wde  ich  gekommen  ist  und  zu  den  von  mir  hervor- 
gehol)euen  gründen  für  die  hypothese,  dass  Snorri  Sturluson  der  autor  der  saga  sei, 
sehr  beachtenswerte  neue  hinzugefügt  hat.  Seine  abhandlung  ist  klar  und  bündig 
geschrieben,  liest  sich  sehr  angenehm,  wirft  auf  viele  fragen  neues  licht  und  wirkt 
überhaupt  sehr  anregend. 

Dennoch  kann  ich  Bley  in  bezug  auf  viele  einzelheiten  nicht  beistimmen. 
Zum  beispiel  glaube  ich  zwar,  dass  er  mit  recht  gegen  den  allzu  einseitigen  Stand- 
punkt Maurers  und  Finnur  Jönssons  in  der  Hildiriöfrage  einspruch  erhebt.  Aber  er 
selbst  geht  doch  auch  zu  weit,  wenn  er  behauptet,  dass  das  ganze  recht  auf  der 
Seite  der  Hildiriösöhne  sei.  Meines  erachtens  hat  der  Verfasser  von  anfang  an  die 
rechtsfrage  absichtlich  als  diskutabel  hingestellt.  Das  "wort  lausabrullaup  (und  noch 
entschiedener  lausangarhrullaup  ß)  bezeichnet  doch  unzweifelhaft  ein  bruUaup, 
das  nicht  in  den  festen,  vom  gesetze  vorgeschriebenen  rechtsformen  abgeschlossen 
wird.  Von  dem  Standpunkt  der  erben  BJ9rg6lfs  ist  es  eine  'lose  Verbindung'. 
Skyndibrullaup  (K)  bedeutet  im  neuisländiscben  ganz  dasselbe.  Aber  wenn  man 
auf  das  letzte  glied  des  Wortes  nachdruck  legt,  ist  es  doch  —  vom  Standpunkte 
der  Hildririösöhne  —  ein  brullaup.  Der  ei/r-ir  galls  wird  nicht  ausdrücklich  als 
mundr  l)ezeichnet,  höchstens  —  durch  'ket/ptf  —  als  solcher  angedeutet.  Von  dem 
Standpunkte  der  einen  partei  konnte  die  Zahlung  als  hvilutollr  (vgl.  bolstrverd 
Arinbjkv.  6  und  meine  erklärung  im  Arkiv  f.  n.  fil.  19,  120),  von  demjenigen  der 
anderen  als  mundr  gelten.  Dieselbe  Zweideutigkeit  zeigt  sich  darin,  dass  einer- 
seits die  besteigung  des  gemeinsamen  bettes  erwähnt  wird,  andererseits  von  vor- 
hergehenden festar,  von  zeugen  an  dem  brullaup  und  von  der  öffentlichkeit  der 
bettbesteigung  ('/  Ijösi')  keine  rede  ist.  Die  absieht  des  Verfassers  war  offenbar, 
beiden  parteien,  wenn  nicht  hinreichende,  so  doch  wenigstens  plausible  gründe 
für  ihre  behauptungen  und  psychologische  raotive  für  ihre  haudlungen  zu  geben. 
Darin  zeigt  sich  eben  seine  meisterschaft,  dass  er  sich  in  die  denkweise  der 
handelnden  personen  möglichst  hineinlebt.  Die  ähnlichkeit  der  rechtsgründe  Onunds 
und  Pörölfs  erklärt  sich  einfach  aus  der  ähnlichkeit  der  Situationen  ('Eu  lignende 
Situation  skaber  en  lignende  fremstillingsform  med  lignende  udmaling  af  enkelt- 
heder',  s.  Arboger  f.  nord.  oldk.  og  bist.  1904,  s.  222  mit  den  dort  und  im  Skiruir 
1906,  s.  366 — 867  angeführten  belegen). 

Ich  bin  kein  anhänger  des  köhlerglaubens  an  die  absolute  historische  Zu- 
verlässigkeit der  isländischen  geschlechtssaga.  Trotzdem  finde  ich  Bleys  auffassung 
der  Egilssaga  allzu  einseitig  ästhetisch,  und  besonders  glaube  ich,  dass  er  die  be- 
deutung  der  mündlichen  tradition  für  die  entstehungsgeschichte  der  saga  nioht 
hinreichend  gewürdigt  hat. 

Er  l)etrachtet  I*örölfr  Kveldülfsson  als  eine  fiktive  persönlichkeit  und  den 
konflikt  zwischen  Kveldülfs  geschlechte  und  Haraldr  bärfagri  als  vom  Verfasser  er- 
dichtet. Damit  gerät  er  selbst  in  konflikt  mit  der  ältesten,  von  der  Melabök  ver- 
tretenen Landnämatradition,  die  sowohl  den  durch  Har^aldr  angestifteten  totschlag 
Pörölfs  als  auch  die  räche  Grims  und  somit  den  konflikt  mit  dem  könige  kennt. 

Bley  hat  mit  recht  auf  einige  Widersprüche  zwischen  Egils  authentischen  ge- 
dichten  und  der  saga  aufmerksam  gemacht.    Aber  er  hat  den  gegenständ  nicht  er- 


256  ()L,SEN   ÜBEU   lU.EY,   EKiLA.STUDIEN 

schöpft.  Bezüglich  der  vorhänge  in  York  möchte  ich  auf  eine  ältere  abhandlung 
von  mir  im  Timarit  hins  isl.  bökmentafjelags  (1897j  hinweisen.  Den  Widerspruch, 
der  hier  zwisclien  der  saga  und  den  gedichten  hervortritt,  kann  ich  mir  nur  durch 
die  annähme  erklären,  dass  der  Verfasser,  der  doch  die  gedichte  sehr  wohl  kannte 
und  verstand,  sich  ihnen  gegenüber  auf  den  Standpunkt  der  ihm  vorliegenden  münd- 
lichen tradition  gestellt  habe.  Dies  ist  einer  von  den  gründen,  weshalb  ich  glaube, 
dass  die  saga  nicht  in  Snorris  reiferen  jähren  geschrieben,  sondern  — -  von  einigen 
unerheblichen  späteren  Zusätzen  abgesehen  -—  schon  vor  ca.  1207  auf  Borg  voll- 
endet ist.  Snorri  war  damals  noch  nicht  von  der  historischen  bedeutuug  der  gleich- 
zeitigen gedichte  so  überzeugt  wie  später,  als  er  die  Hkr.  schrieb.  Dass  die  Egils- 
saga  älter  als  die  Hkr.  ist,  lässt  sich  durch  mehrere  gründe  erhärten. 

Überhaupt  sind  in  der  isländischen  saga  Wahrheit  und  dichtung  so  innerlich 
miteinander  verflochten,  dass  es  sehr  schwierig  und  in  den  meisten  fällen  ganz 
unmöglich  ist,  die  grenzen  zwischen  beiden  zu  ziehen.  Dass  der  Verfasser  der 
Egilssaga  in  der  ausmalung  von  einzelheiten  eine  bedeutende  Selbsttätigkeit  ent- 
wickelt hat,  das  unterliegt  meines  erachteus  keinem  zweifei  und  ist  auch  von  Bley 
zur  evidenz  erwiesen.  Dass  er  einzelne  züge,  z.  b.  die  erweiterung  von  Skalla- 
Grims  landiuim,  hinzugedichtet  hat,  scheint  mir  wenigstens  nicht  unwahrscheinlich. 
Besonders  verdächtig  —  auch  in  betracht  der  Yorker  Vorgänge  —  ist  die  tötuug 
des  sonst  nicht  erwähnten  königssohues  E9gnvaldr  Eiriksson.  Aber  im  ganzen  war 
der  Verfasser  doch  durch  die  mündliche  tradition,  aus  der  er  schöpfte,  gebunden, 
und  dass  diese  in  der  umgegend  von  Borg  sehr  reich  war,  beweisen  z.  b.  die  zahl- 
reichen, der  Landnäma  ursprünglich  fremden,  lokalsagen  aus  dieser  gegend,  womit 
der  Verfasser  die  landnämsgeschichte  Skalla-Grims  ausgeschmückt  hat.  Von  modernem 
Standpunkte  aus  kann  man  wohl  dem  Verfasser  verschiedene  Versündigungen  gegen 
ästhetische  gesetze  zur  last  legen.  Aber  dies  wurde  wahrscheinlich  von  seinem 
Publikum  nicht  in  diesem  masse  empfunden.  Und  die  meisten  von  diesen  Verstössen 
sind  wohl  durch  die  dem  Verfasser  vorliegende  mündliche  tradition  veranlasst. 

Warum  hat  der  Verfasser  den  abschnitt  über  I^orölfr  und  überhaupt  über  den 
konflikt  zwischen  seinem  eigenen  und  dem  königlichen  geschlechte  in  die  Hkr.  nicht 
aufgenommen?  Zum  teil  wohl  aus  dem  von  G.  Storm  hervorgehobenen  gründe 
(Eiglastudien  s.  150),  hauptsächlich  aber  ohne  zweifei  aus  persönlichen  gründen.  Der 
bericht  der  saga  über  diesen  konflikt  ist  von  einem  starken  republikanischen  geiste 
getragen,  der  sehr  wohl  zu  Snorris  jüngeren  jähren  passt,  der  aber  den  norwegischen 
machthabern  in  den  zwanziger  und  dreissiger  jähren  des  13.  Jahrhunderts,  nachdem 
sie  ihre  äugen  auf  die  annexion  Islands  gelenkt  hatten,  missliebig  sein  nuisste.  Die 
Heimskringla  ist  aber  zweifellos  mit  rücksicht  auf  eben  diese  raachthaber  geschrieben 
und  wohl  auch  in  erster  reihe  auf  sie  berechnet  und  für  sie  bestimmt.  Es  begreift 
sich  leicht,  dass  Snorri  sich  scheute,  die  Opposition  seiner  ahnen  gegen  die  ahnen 
Häkons  (und  Skülis)  in  dem  neuen  werke  in  einem  so  grellen  lichte  hervortreten 
zu  lassen,  und  lieber  das  ganze  übersprang,  besonders  nachdem  er  selbst  ein  lendr 
madr  des  königs  und  gewissermassen  sein  geschäftsträger  auf  Island  geworden  war. 

KEVK.JAVJK.  BJÖltX    M.  (U.SKN. 


EHRISMANN    ÜBER   WILHELM,   LEGEXDEX    IND   LEGENDÄRE  257 

Friedrich  Willielin,  Deutsche  legenden  und  legendäre,  texte  und  Unter- 
suchungen zu  ihrer  geschichte  im  mittelalter.  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs'sche 
buchhandlung  1907.     XVI,  234  +  57*  Seiten.     8  m. 

Wilhelms  Untersuchungen  sind  sehr  zu  begrüssen,  da  sie  über  ein  bis  jetzt 
wenig  und  auch  dann  vielfach  nur  mangelhaft  bearbeitetes  gebiet,  das  der  heiligen- 
geschichten,  sich  erstrecken  und  dazu  mit  fleiss  und  strenger  methode  geführt  sind. 
Es  ist  die  entwicklung  der  Thomaslegeude,  die  hier  speziell  zur  darstellung  gelangt, 
eine  der  ältesten  und  wichtigsten,  die  das  leben  und  wirken  eines  apostels  enthält, 
der  weite  teile  der  heidenschaft  für  den  christlichen  giaubeu  gewonnen  haben  soll. 
Ein  grosses,  meist  nur  in  handschriften  überliefertes  material  war  zu  bewältigen 
und  in  geordnete  historische  folge  zu  bringen. 

Das  einleitende  kapitel  ist  'der  entwicklung  der  Thomaslegende  im  okzident' 
von  ihrem  Ursprung  in  der  griechischen  literatur  an  durch  die  lateinischen  be- 
arbeitungen  hindui'ch  bis  zum  späteren  mittelalter  gewidmet.  Darauf  folgen  die  deut- 
schen Übertragungen :  die  im  mhd.  Passional  (Hahn  s.  244—260)  und  in  dem  auf  dem 
Passional  beruhenden  prosaischen  Legendär  Cgm.  361  ('Münchener  apostelbuch'),  einer 
gereimten  legende  des  Cgm.  16  (geschrieben  1284  in  Wetterauer  mundart),  und  vier 
weitere  prosabearbeitungen :  eine  aus  der  elsässischen  Übersetzung  der  Legenda  aurea 
(vielleicht  erste  hälfte  des  14.  Jahrhunderts),  die  aus  Hermanns  von  Fritzlar  Heiligen- 
leben (Pfeiffer  s.  23—26),  eine  aus  der  grossen  Sammlung  'Der  heiligen  leben'  und  eine 
aus  dem  Cgm.  257,  einem  im  kloster  Bebenhausen  im  15.  Jahrhundert  geschriebenen 
legendär  (Bebenhausener  legendär).  In  den  daran  sich  schliessenden  textabdrücken 
sind  die  meisten  der  obigen  stücke,  soweit  sie  bis  jetzt  nicht  gedruckt  sind,  ver- 
öffentlicht, das  dem  prosaischen  Heiligenleben  entnommene  in  kritischer  bearbeitung 
unter  benutzung  von  fünf  handschriften. 

Verschiedene  dieser  fassungeu  sind  von  W.  erst  ans  Licht  gezogen  worden 
und  durch  ihre  Veröffentlichung  ist  es  nun  möglich,  sich  von  den  Wandlungen  dieser 
literaturgattung  ein  deutliches  bild  zu  machen.  Das  Passional,  mit  seinen  zierlichen 
Versen  und  seiner  gewählten  spräche  noch  der  guten  mittelhochdeutschen  erzählungs- 
kunst  angehörend,  Hermanns  von  Fritzlar  aus  erzählenden  und  spekulativen  teilen 
bestehende  legendenpredigten  als  beispiel  für  die  anforderungen ,  die  die  mystik 
an  die  behandlung  religiöser  stoffe  stellte,  dann  die  ungelenke  reimerei  des  Cgm.  16, 
die  schlichte  und  doch  meist  fliessende  darstellung  der  prosabearbeitungen  —  es 
spiegelt  sich  in  diesen  verschiedenartigen  behandlungen  desselben  gegenstands  ein 
stück  bildungsgeschichte  des  späteren  deutschen  mittelalters  ab. 

Bei  der  Untersuchung  der  einzelnen  Versionen  ist  W.  sorgfältig  auf  die  quellen- 
fragen eingegangen  und  hat  dadurch  wertvolle  beitrage  zur  kenntnis  auch  solcher 
werke  geliefert,  die  schon  lange  .der  literaturgeschichte  angehören,  so  vor  allem 
für  das  mhd.  Passional,  für  Hermann  von  Fritzlar,  für  das  prosaische  Leben  der 
heiligen.  Letzteres,  die  bekannte  grosse,  in  winter-  und  sommerteil  zerfallende 
Sammlung,  nennt  W.  Wenzelpassional,  und  zwar  deshalb,  weil  in  ihm  die  legende 
vom  heil.  Wenzel  aufgenommen  ist,  woraus  er  schliesst,  dass  dieses  legendär  zur 
zeit  des  deutschen  königs  Wenzel  verfertigt  worden  sei,  dessen  Schutzpatron  der 
heilige  gleichen  namens  war.  Daraus  ergibt  sich  zugleich  die  abfassungszeit :  es 
ist  zusammengestellt  zwischen  1391  und  1400,  und  zwar  in  Nürnberg.  Die  hypo- 
these  wird  dadurch  gestützt,  dass  in  dem  Hicronymusleben  jener  Sammlung,  wie 
W.  nachweist,  das  werk  Johanns  von  Neuraarkt  benutzt  ist.  Wie  gross  der  einfluss 
ZEITSCHRIFT   F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  17 


258  NEUE   ERSC'HEINUXOEX 

der  durch  Karl  IV.  und  seinen  kauzler  in  Böhmen  hervorgerufenen  literatur  auf 
Nürnberg  gewesen  ist  (s.  213),  wird  allerdings  noch  weiterer  forschung  bedürfen. 
Durch  ein  sorgfältiges  register  hat  W.  die  benutzung  seines  wertvollen  buches 
sehr  erleichtert.  —  Was  den  persönlichen  ton  betrifft,  so  wäre  es  schöner,  wenn 
der  Verfasser  die  Objektivität,  die  er  den  dingen  entgegenzubringen  bestrebt  ist, 
auch  auf  seine  mitmenschen,  ausdehnen  würde. 

HEIDELBERG.  G.    KHIUS.MAXX. 


NEUE  ERSCHEINUNGEN. 

(Die  redaktion  ist  bemüht,  für  alle  zur  besprechung  geeigneten  werke  aus  dem  gebiete  der  german. 

Philologie  sachkundige  referenten  zu  gewinnen,  übernimmt  jedoch  keine  Verpflichtung,   unverlangt 

eingesendete    bücher    zu    rezensieren.     Eine    zurücklieferung    der    rezensions-exem- 

plare   an   die   herren   Verleger   findet   unter   keinen  umständen  statt.) 

Bälmisch.   Alfred,    Die    deutscheu    personennanieu.     [Aus    uatur    und    geistesweit 

nr.  296.]     Leipzig,  Teubner  1910.     VIII,  140  s.     Geb.  1,25  ni. 
'Bonaventura'.  —  Schultz,  Franz,    Der   Verfasser  der  nachtwachen  von  Bona- 
ventura.    Untersuchungen    zur    deutschen    roraautik.     Berlin,    Weidmann    1909. 

VIII,  332  s.     8  m. 
Buchmauu,  Rudolf,  Helden  und  mächte  des  romantischen  kunstinärchens.    Beiträge 

zu   einer   motiv-   und   stilparallele.     [Untersuchungen   zur  neueren   sprach-  und 

lit.gesch..   herausg.  von    0.  F.  Walzel,   n.  f.    VI.]     Leipzig.   H.  Haessel  1910. 

XVL  236  s.     4,60  m. 
Edda  Saemuudar.  —  Ussiug,   Henrik,    Om  det  indbjrdes  forhold  mellem  helte- 

kvadene  i  .Eldre  Edda.    [Kopenh.  dissert.]    Kobenh.,  G.  E.  C.  Gad  1910.    176  s. 
Erzählungen,    fabeln   und   lelirgedichte.    Kleinere    mittelhochdeutsche.     IL     Die 

Heidelberger   liaudschrift  cod.  Pal.  germ.  341,    herausg.    von    Gustav   Eosen- 

hagen.     [Deutsche   texte   des    mittelalters.     XVIL]     Berlin,   Weidmann   1909. 

XLI,  251  s.  und  2  taft\     10,60  m. 
Fouque.  —  Kämmerer,   Max,   Fouques   Held  des  nordeus  und  seine  Stellung  in 

der    deutscheu    literatur.     [Rostocker    dissert.]     Frankfurt   a.  M.    und    Berlin, 

M.  Diesterweg  1910.     136  s.     2  m. 
Frauck,  Jobannes,   Mittelniederländische   grammatik   mit   lesestücken  und  glossar. 

2.  neubearb.  aufläge.     Leipzig,  Tauchnitz  1910.     XII,  295  s.     Geb.  10  m. 
Fritzscb,  Robert,  Der  deutsche  satzbau  in  schule  und  Wissenschaft.    Eine  kritische 

Studie.     Leipzig  und  Berlin,  Teubner  1910.     flV),  65  s.     1,20  m. 
(xallee,  Jobau  Hendrik,  Altsächsische  grammatik.    2.  völlig  umgearbeitete  aufläge, 

eingeleitet    uud    mit    rcgistern   versehen    von    Johannes   Lochner.     Halle, 

Xiemeyer  1910.     XI,  352  s.     6  m. 
Grillparzer.    —    Williamson,    Edward    .John,    Grillparzers    attitude    toward 

romanticism.     [Dissert.]     Chicago  1910.     (VI),  76  s.     54  cts. 
(irlmnie,  Hubert,   Plattdeutsche  mundarten.     Leipzig,  Göschen  1910.    166  s.    Geb. 

0,80  m. 
Hebbel.   —   Ziucke.    Paul,    Die    entsteliungsgeschichte    von    Fr.  Hebbels    Maria 

Magdalena.      [Prager    deutsche    Studien.     XVL]      Prag,    Carl   Bellmann    1910. 

(VIII),  100  s. 


NEUE   ERSCHEINUNGEN  259 

Hermanusson,  Halldör,  Bibliography  of  the  sagas  of  the  kings  of  Norway  and 
related  sagas  and  tales.  [Islandica.  An  annual  relating  to  Iceland  an  the 
Fiskc  Icelandic  collection  in  Cornell  University  library  ed.  by  George  W.  Harris, 
m.]     Ithaca,  New  York  1910.     (VIII),  75  s.     1  doli. 

Jacobsen,  Jens  Peter.  —  Joknff,  Ernst,  J.  P.  J.s  lebensgeschichte  und  werke. 
Leipzig,  Verlag  für  literatur,  kuust  und  musik   1910.     67  s.     1,20  m. 

Koeppel,  Emil,  Deutsche  Strömungen  in  der  englischen  literatur.  Akad.  rede. 
Strassburg,  Heitz  1910.     26  s.     1  m. 

Lasch,  Agrathe,  Geschichte  der  schrifti^prache  in  Berlin  bis  zur  mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts.    Dortmund,  Euhfus  1910.     350  s.     12  m. 

Leopold,  Max,  Zur  behandlung  des  artikels  ver-  im  Deutschen  Wörterbuch.  Progr. 
des  städt.  evang.  gymn.  zu  St.  Elisabet  in  Breslau  1910.     16  s.     4, 

Lilie,  Die,  eine  mittelfränkische  dichtung  in  reimprosa  und  andere  geistliche  ge- 
dichte  aus  der  Wiesbadener  handschrift,  herausg.  von  Paul  Wüst.  [Deutsche 
texte  des  mittelalters.  XV.]  Berlin,  Weidmann  1909.  XXX,  91  s.  und  1  taf. 
4,60  m. 

Loewe,  Richard,  Deutsches  Wörterbuch.  Leipzig,  Göschen  1910.  177  s.  Geb. 
0,80  m. 

Luther.  —  Curts,  Paul,  Luther's  variations  in  sentence  arraugemeut  from  the 
modern  literary  usage.  [Dissert.  der  Yale  University.]  New  Haven  1910. 
XI,  63  s. 

Martin  von  Cochem.  —  Stahl,  Hans,  P.  Martin  von  Cochem  und  das  'Leben 
Christi'.  Ein  beitrag  zur  gesch.  der  religiösen  volksliteratur.  [Beitr.  z.  lit. 
gesch.  u.  kulturgesch.  des  Rheinlandes,  herausg.  von  J.  Götzen.  H.]  Bonn, 
P.  Hanstein  1909.     VIII,  200  s.     4,50  m. 

Nibelungensage.  —  Polak,  Leon,  Untersuchungen  über  die  Sigfridsagen.  Ber- 
liner dissert.     1910.     146  s. 

Notker.  —  Hoffmann,  Paul,  Die  mischprosa  Notkers  des  deutschen.  [Palaestra 
LVIIL]     Berlin,  Mayer  &  Müller  1910.     VI,  222  s.     6,50  m. 

Panzer,  Frledr.,  Studien  zur  germanischeu  sagengeschichte.  I.  Beowulf.  München, 
Oskar  Beck  1910.     X,  409  s. 

Reinaert.  —  Van  den  vos  Reynaerde.  Nach  einer  handschrift  des  15.  Jahrhunderts 
im  besitze  des  fürsten  Salm-Eeifferscheidt  auf  Dyck  herausg.  von  Hermann 
Degering.     Münster,  Coppenrath  1910.     XXII,  110  s.  und  1  taf.     3  m. 

Römverja  saga  (AM.  595,  4")  hrg.  von  Rudolf  Meissner.  [Palaestra  LXXXVIII.] 
Berlin,  Mayer  &  Müller  1910.     IV,  329  s.     14  m. 

Schmolck,  Benjamin.  —  Nicolai,  Rud. ,  Benjamin  Schmolck,  sein  leben,  seine 
werke  und  bibliographie.  [Beiheft  zum  Correspondenzblatt  des  Vereins  für 
gesch.  der  evangel.  kirche  Schlesiens.     XI,  2.]     Liegnitz  1909.     128  s. 

Schubart.  —  Nestriepke,  S.,  Schubart  als  dichter.  Ein  beitrag  zur  kenntnis 
Christ.  Friedr.  Dan.  Schubarts.  Pössneck,  Bruno  Feigenspan  1910.  (IV),  239  s. 
5  m. 

Sej-frid.  -  Bern  ii  oft,  Elisabeth,  Das  lied  vom  hörnenen  Sigfrid.  Vor- 
geschichte der  druckredaktiou  des  16.  Jahrhunderts.  [Rostocker  dissertation.] 
Rostock  1910.     128  s. 

Steinhausen,  dJeorg,  Germanische  kultur  in  der  urzeit.  2.  aufl.  [Aus  natur  und 
geistesvvelt  nr.  75.]     Leipzig,  Teubner  1910.     (IV),  136  s.     Geb.  1,25  m. 


260  NEUE    EKSOHEININGEN    —   NACHRICHTEN 

Studier  i  nordisk  filologi  utgifna  genoin  Hugo  Pipping.  Första  bandet.  [Skrifter 
utg.  av  Svenska  litteratursällskapet  i  Finland.  XCII.]  Helsingfors  1910.  (VI), 
52  +  24  +  183  s. 

Inhalt:    E.  Li  den,    Äldre   nordiska   tillnamn.  —  H.  Pipping,    Fornsvensk 
lagspräk.    I.  —  E.  Saxeu.  Fiiiländska  vattendragsnamn. 

Ulrich  von  Zaziklioven.  —  Beywl,  Cleophas,  ßeimwörterbuch  zu  Ulrichs 
Lauzelet.     [Prager  deutsche  Studien.    XV.]     Prag,  C.  Bellmann  1909.    VI,  91  s. 

Vetsch,  Jakob,  Die  laute  der  Appenzeller  mundarten.  [Beiträge  zur  schweizer- 
deutschen grammatik  .  .  .  herausg.  von  Alb.  B  a  c  h  m  a  n  n.  I.]  Frauenfeld, 
Huber  &  co.  1910.     VIII,  255  s.  und  4  beilagen.     2,40  m. 

Waltlier  yon  der  Vogelweide.  —  Schönbach,  Anton  E.,  W.  v.  d.  V.,  ein 
dichterleben.  3.  aufl.  [Geisteshelden,  begründet  von  A.  Bettelheim.  L] 
Berlin,  Ernst  Hofmann  &  co,  1910.     YLII,  233  s.  und  2  abbild.     2,40  m. 

Wipf,  Elisa,  Die  mundart  von  Visperterminen  im  Wallis.  [Beiträge  zur  schweizer- 
deutschen gramm.    II.]     Frauenfeld,  Huber  &  co.  1910.     IX,  199  s,     1,60  m. 

Witkop,  Phil.,  Die  neuere  deutsche  lyrik.  Erster  band.  Von  Friedrich  von  Spee 
bis  Hölderlin.     Leipzig  und  Berlin,  Teubner  1910.     (11),  366  s.     5  m. 

Wolfram  von  Eschenbach.  —  Golther,  W.,  Die  Gralsage  bei  Wolfram  von 
Eschenbach.     [Akad.  rede.]     Eostock  1910.     24  s. 

Wright,  Joseph,  Grammar  of  the  Gothic  language  and  the  "gospel  of  St.  Marc, 
selections  from  the  other  gospels  and  the  second  epistle  to  Timothy  with 
notes  and  glossary.     Oxford,  Clarendon  press  1910.     X,  366  s.     Geb.  5  sh. 

TVulflla.  —  Das  gotisch-lateinische  bibelfragment  der  universitäts-bibliothek  zu 
Giessen  von  Paul  Glaue  und  Karl  Helm.  Giesseu,  Alfred  Töpelmann  1910. 
(II),  38  s.     1,50  m. 


NACHRICHTEN. 


Der  ausserordentliche  professor  dr.  Paul  Pietsch  in  Greifswald,  der  seit 
1896  von  seinen  amtspflichten  entbunden  war,  um  an  der  kritischen  gesamtausgabe 
der  werke  Luthers  mitzuarbeiten,  hat  seine  lehrtätigkeit  wieder  aufgenommen.  Zu- 
gleich ist  ihm  der  charakter  als  geh.  regieruugsrat  verliehen  worden. 

Professor  dr.  Erich  Schmidt  in  Berlin  wurde  von  der  Ungarischen  akademie 
der  Wissenschaften  in  Budapest  zum  auswärtigen  mitgliede  gewählt.  Zu  ehren- 
mitgliedern  ernannte  das  Islenzka  bokmentafelag  in  Eeykjavik  die  Professoren 
dr.  Hugo  Gering  in  Kiel  und  dr.  Eugen  Mogk  in  Leipzig. 

Für  germanische  philologie  habilitierten  sich:  in  Freiburg  i.  Br.  dr.  Hans 
Schulz  und  in  Strassburg  dr.  F  r  i  e  d  r.  E  a  n  k  e. 


^6.' 


DAS  TOTENTANZPROBLEM. 

Wilhelm  Seelmann  (Die  totentänze  des  Mittelalters,  Niederdeut- 
sches Jahrbuch  XVII)  war  der  erste,  der  das  Totentauzproblem,  los- 
gelöst Yon  allgemeinen  kulturgeschichtlichen  liypothesen  und  scharf 
formuliert,  in  den  mittelgrund  stellte  und  es  mit  den  mittein  der  philo- 
logischen forschung  zu  lösen  versuchte.  Was  vor  ihm  für  den  ver- 
gleich der  texte  geschehen  war,  war  über  unbrauchbare  ansätze  nicht 
hinausgekommen.  Die  anregungen,  die  in  seiner  arbeit  liegen,  sind 
so  stark,  dass  sie  ihre  grosse  bedeutung  behalten  wird,  auch  wenn 
sie  in  ihren  hauptresultaten  nicht  den  glauben  gefunden  hat,  den  sie 
beanspruchte. 

Die  hypothese  vom  Totentanzdrama,  das  Seelmann  auf  text- 
kritischem Avege  erschlossen  zu  haben  glaubte,  darf  heute  als  erledigt 
angesehen  werden.  So  bestechend  die  beweisführung  erschien,  die 
den  Zusammenhang  des  lübisch-revalschen  (niederdeutschen)  textes  mit 
der  spanischen  Danca  general  de  la  muerte  und  der  Pariser  Dause 
macabre  nachwies  und  als  quelle  für  alle  totentänze  ein  altfranzösisches 
Totentanzdrama  postulierte,  das  fundament  erwies  sich  doch  als  zu 
schwach,  den  bau  zu  tragen.  Die  geringen  formalen  und  textlichen 
parallelen,  die  Seelmann  nicht  nur  zum  nachweis  des  Verwandtschafts- 
verhältnisses, sondern  auch  als  wichtige  bausteine  für  seine  hypothese 
vom  Ursprung  der  totentänze  benutzte,  lenkten  den  blick  vielmehr  auf 
die  grossen  inneren  gegensätze,  die  zwischen  den  texten  bestehen  und 
die  Seelmann  fast  ganz  übersehen  hatte.  Und  von  hier  aus  zeigte  es 
sich  zunächst,  dass  das  bild,  das  sich  Seelmann  von  dem  ursprüng- 
lichsten totentänze  gemacht  hatte,  falsch  war.  Nicht  das  drama  vom 
tod,  der  die  einzelnen  Vertreter  der  menschlichen  stände  zum  tanz  auf- 
fordert, ist  die  ursprünglichste  form  der  totentänze,  sondern  der  reigen 
der  toten,  die  die  lebenden  in  ihren  reigen  hineinziehen.  Ich  habe 
an  anderer  stelle  (Ursprung  der  totentänze  [Halle  1907],  s.  30  ff.) 
gezeigt,  dass  der  vierzeilige  oberdeutsche  totentanztext  am  klarsten 
diese    anschauung    beibehalten    hat,    die    auch    in    den    andern   texten 

ZEITSCHRIFT   F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  IS 


262  FEHSK 

noch  nicht  völlig'  verwischt  ist  und  in  den  reig-enbildern  der  franzö- 
sischen und  niederdeutschen  totentänze  dargestellt  erscheint.  Es  lag 
daher  nahe,  in  dem  oberdeutschen  text,  der  allein  das  ursprüngliche 
motiv  rein  bewahrt  hat,  den  ältesten  erhaltenen  totentanztext  über- 
haupt zu  sehen,  um  so  mehr,  da  er  seinem  ganzen  wesen  nach  nicht 
ein  abkömmling  der  französisch-niederdeutschen  gruppe  sein  kann. 

Aber  meine  in  dieser  Zeitschrift  (40,  67  ff.)  veröffentlichte  Unter- 
suchung über  das  handschriftenverhältnis  des  vierzeiligen  oberdeutschen 
totentanztextes  endete  mit  einem  resultat,  das  den  schluss,  die  ent- 
stehung  der  totentänze  in  Oberdeutschland  zu  suchen,  wieder  in  frage 
stellt.  Es  ergab  sich,  dass  die  Heidelberger  handschrift  Cod.  pal.  314, 
bl.  79 -'-80''  von  den  haudschriften  und  blockbüchern  des  oberdeutschen 
totentanzes  den  ursprünglichsten  text  bietet.  Diese  handschrift  enthält 
nur  die  den  menschen  des  grossen  reigens  untergelegten  Strophen. 
Die  Strophen  der  toten  fehlen.  Dafür  enthält  diese  handschrift  aber 
eine  lateinische  fassung  des  textes,  und  es  stellte  sich  bei  dem  ver- 
gleich mit  dem  deutschen  text  heraus,  dass  die  lateinische  fassung-  die 
ältere  ist.  Diese  braucht  nun  natürlich  nicht  auf  deutschem  boden 
entstanden  zu  sein.  Offenbar  entstammt  dieser  lateinische  totentanz 
der  geistlichen  literatur  des  mittelalters,  die  auf  internationalem  boden 
steht.  Und  nunmehr  verlangt  die  frage  nach  dem  Verhältnis  dieses 
textes  zu  der  französisch-spanisch-niederdeutschen  gruppe  gebieterisch 
ihre  beantwortung.  Andere  totentanztexte  als  diese  vier  kommen  für 
die  frage  nach  dem  Ursprung  der  totentänze  nicht  in  betracht.  Von 
der  spanisch-französisch-niederdeutschen  gruppe  könnte  nur  die  Dause 
macabre  den  anspruch  erheben,  der  ursprünglichste  totentanz  zu  sein. 
Die  Danga  general  de  la  muerte  bezeichnet  sich  selbst  als  transladaclon, 
und  in  Lübeck  wird  wohl  niemand  den  ursprungsort  des  totentanzes 
suchen,  auch  wenn  im  texte  nicht  sprachliche  spuren  nach  den  Nieder- 
landen hinwiesen,  die  zum  mindesten  einen  flämischen  maier  vermuten 
lassen.  Die  Pariser  Danse  macabre  (1424)  ist  bisher  als  ältester  toten- 
tanz in  Frankreich  festgestellt  worden.  Künstle  ^  sucht  dieses  resultat 
dadurch  in  zweifei  zu  setzen,  dass  er  für  den  totentanz  in  Kermaria 
(Cotes  du  Nord)  ein  höheres  alter  als  für  den  in  Paris  forderte.  Doch 
wenn  Künstle  in  der  naiven  und  schlichten  darstellung  das  zeichen 
einer   früheren   zeit   sieht,   erkennt  Male-  darin  die  kennzeichen  einer 


1)  Karl  Künstle,   Die  legeude  der  drei  lebenden  und  der  drei  toten  und  der 
totentauz,  Freiburg  i.  B.  1908,  s.  68  f. 

2)  E.  Male,  Revue  des  deux  raondes  1906,  s.  667. 


DAS   TOTEXTAXZPROBLEM  263 

ungeschickten  künstlerhand  \  Das  hindert  ihn  nicht,  au  der  von  Dufour'- 
gegebenen  datierung  1450-60  festzuhalten.  Dies  ist  um  so  wichtiger, 
als  er  sein  urteil  vor  dem  gemälde  selbst  sich  gebildet  hat  und  es 
durch  einzelheiten  der  kostümierung  bestätigt  findet.  Die  spuren,  die 
von  dem  text  in  Kermaria  noch  erhalten  sind,  zeigen,  dass  dieser  mit 
dem  der  Danse  macabre  identisch  war.  Nur  die  zahl  der  paare  ist 
nicht  die  gleiche.  Selbst  wenn  Künstle  mit  seiner  datierung  dieses 
totentanzes  (vor  1400)  recht  haben  sollte,  so  würde  dies  also  für  den 
textvergleich  von  untergeordneter  bedeutung  sein. 

Der  lübisch-revalsche  text  (Seelmann  a.  a.  o.  s.  68  ff.)  und  der 
spanische  text  (zuletzt  abgedruckt  von  Appel  in  den  Beiti'ägen  zur 
romanischen  und  englischen  philologie,  dem  X.  deutschen  neuphilo- 
logentage  überreicht,  Breslau  1902)  gehören  nach  form  und  Inhalt 
näher  zusammen.  Beide  texte  weisen  achtzeilige,  ganz  eigenartig  ver- 
knüpfte Strophen  auf.  Eine  Strophe  spricht  der  mensch,  der  gerade 
den  tanz  antritt.  Seinen  gefühlsäusserungen  antwortet  in  den  ersten 
sieben  zeilen  der  nächsten  Strophe  der  tod,  um  sich  in  der  achten 
zeile  derselben  Strophe  an  seineu  nächsten  partner  zu  w^enden.  Dieser 
eigenartigen  form  entspricht  es,  wenn  in  beiden  texten  über  den 
Charakter  der  gestalten  (oder  richtiger:  der  gestalt),  die  die  einzelnen 
menschen  zum  tanze  abrufen,  kein  zw^eifel  bestehen  kann.  Es  sind 
nicht  die  toten,  die  die  Vertreter  der  menschlichen  stände  in  ihren 
reigen  ziehen,  sondern  es  ist  der  tod,  der  einen  nach  dem  andern 
zum  tanze  auffordert.  Zum  spanischen  texte  gehört  kein  bild,  aber 
in  Lübeck  und  Reval  widerspricht  das  reigenbild  mit  den  vielen  toten- 
gestalten  durchaus  der  anschauung,  die  dem  text  mit  seinem  einen 
tode  zugrunde  liegt.  Eine  weitere  Übereinstimmung  zwischen  der 
Danga  general  de  la  muerte  und  dem  lübisch-revalschen  text,  etwa  in 
einzelheiten  des  Wortlauts  oder  auch  nur  in  der  auswahl  der  persouen, 
lässt  sich  nicht  konstatieren.  In  seltsamer  weise  stellt  sich  nun  der 
französische  text  zwischen  den  spanischen  und  den  niederdeutschen. 
Mit  dem  spanischen  hat  er  bis  auf  eine  abw^eichung  die  kunstvoll 
gebaute  strophenform  gemein,  während  die  niederdeutsche  strophe 
paarweise  gereimt  ist.  Dafür  beginnt  der  niederdeutsche  text  mit 
dem  gleichen  verse  wie  die  Danse  macabre:  Och  redelike  creatuer  — 
0  crcatiire   raisonable.     Dies   ist   aber   auch   wieder   die  einzige  über- 


1)  Er  nennt   den    totentanz  von  Kermaria  'une  oeuvre  rustique,  oü  abondent 
les  maladresses'. 

2)  La  cimetiere  des  SS.  Inuocents  et  le  quartier  des  luilles,  Paris  1878. 

18* 


264  FEHS  10 

einstinmumg  im  Wortlaut.  Der  französische  text  unterscheidet  sich 
von  den  beiden  andern  am  auffälligsten  dadurch,  dass  der  dialog 
einen  anderen  Charakter  erhalten  hat.  Die  regelmässige  Verkettung 
der  Strophenpaare,  die  dadurch  zustande  kommt,  dass  der  tod  in  den 
sieben  ersten  versen  seiner  strophe  antwortet  und  in  der  achten  sich 
weiter  wendet,  fehlt  hier.  Im  französischen  texte  enthält  die  ganze 
erste  strophe  die  aufforderung  des  todes,  die  ganze  zweite  die  ant- 
wort  des  menschen.  Sehen  wir  von  jenem  stereotypen  achten  verse 
des  todes  im  spanischen  und  niederdeutschen  texte  ab,  dann  hat  sich 
hier  also  die  reihenfolge  geändert.  Aber  dennoch  findet  sich  an  drei 
stellen  des  französischen  textes  eine  ähnliche  Verknüpfung  der  strophen- 
paare  wie  im  spanischen  und  niederdeutschen  text,  nur  dass  sie  hier 
durch  ein  rückwärtsgreifen  des  todes  erzielt  wird.  Es  ist  dies  der 
fall  beim  kaufmann,  beim  arbeiter  (bauer)  und  beim  kleriker. 

1. 

Le  mort. 
Marchant  regardez  par  deca. 
Pluseurs  pays  avez  cercliie 
A  pie,  a  clieval,  de  pieca 
Vous  nen  seres  plus  empeschie. 
Vecy  vostre  dernier  marchie 
II  couvient  que  par  cy  passez 
De  tout  soing  seres  depechie 
Tel  coQToite  qui  a  assez. 

Le  marcliaut. 
Jay  este  amont  et  aval 
Pour  marchander  ou  ie  povoye 
Par  long  teraps  a  pie,  a  clieval, 
Mais  maiDtenant  pers  toute  ioye. 
De  tout  mou  povoir  acqueroye 
Or  aye  ie  assez,  mort  me  contraint. 
Bon  fait  aller  moyeune  voye, 
Qui  trop  embrasse  peu  estraint. 

Le  mort. 
Alez  marchant  sans  plus  rester. 
Ne  faites  ja  cy  resistence. 
Vous  ny  povez  rien  conquester. 

(zum  kartäuser:) 
Vous  aussi  homme  dastiiieuce  etc. 

2. 
Le  mort. 
Laboureur  qui  en  soing  et  painne 
Avez  vescu  tout  vostre  temps. 


DAS    TOTEXTANZPROBLEM  265 

Morir  fault,  cest  chose  certaiune, 
RecuUer  uy  vault  ue  contens. 
De  mort  deves  estre  contens, 
Car  de  grant  soussy  vous  delivre. 
Approchez  vous,  ie  vous  attens : 
Folz  est  qui  cuide  tousiours  vivre. 

Le  laboureur. 
La  mort  ay  souhaite  souvent, 
Mais  volentier  ie  la  fuisse. 
Jamasse  niieulx  feist  pluye  ou  vent 
Estre  es  vignes  ou  ie  fouisse 
Encore  plus  grant  plaisir  y  prisse, 
Car  ie  pers  de  peur  tout  propos. 
Or  nest-il  qui  de  ce  pas  ysse : 
Au  raonde  ua  point  de  repos. 

Le  mort. 
Faictes  voye,  vous  avez  tort 
Laboureur. 

(zum  frauziskaner :) 
Apres  cordelier  etc. 

3. 

Le  mort. 
Cuidez-vous  de  mort  eschapper 
Clerc  esperdu,  pour  reculler 
II  u  sen  fault  ia  defripper. 
Tel  cuide  souvent  hault  aller 
Quon  voit  a  cop  tost  ravaller. 
Prenez  en  gre,  alons  ensemble 
Car  rien  ny  vault  le  rebeller: 
Dieu  punit  tout  quant  bon  luy  semble. 

Le  Clerc. 
Fault  il  qun  ieusne  clerc  servant 
Qui  eu  Service  prent  plesir 
Pour  cuider  venir  en  avant 
Meure  si  tort,  cest  desplesir. 
Je  suis  quitte  de  plus  choisir 
Aultre  estat,  il  fault  quainsi  danse : 
La  mort  ma  pris  a  son  loisir. 
Moult  remaint  de  ce  que  fol  pense. 

Le  mort. 
Clerc  point  ne  fault  faire  refus. 
De  dancer,  faictes  vous  valoir. 
Vous  nestez  pas  seul,  levez  sus 
Pour  tant  moins  vos  en  doit  chaloir.  fzum  oremiten :) 
Venez  apres,  cest  mon  voloir, 
Homiue  uourrv  en  hermitage  etc. 


266  VEHSE 

l)jis  g-lciche  /Airückgreifen  findet  sich  beim  eremiten,  nur  dass 
es  hier  wahrscheinlich  durch  das  gcmäkle  bedingt  ist,  das  den  reigen 
mit  einer  totengestalt  beginnen  und  schliessen  lässt,  so  dass  eine 
überzählig-  ist. 

Der  schluss  liegt  nahe,  dass  auch  in  diesem  texte  wie  in  dem 
spanischen  und  niederdeutschen  im  gegensatz  zu  den  vielen  toten- 
gestalten  des  gemäldes  durch  jenes  auffällige  zurückgreifen  die  ein- 
heit  des  todes  sich  erweist.  Aber  so  einlach  wie  dort  lässt  sich  dieser 
schluss  hier  nicht  ziehen.  Freilich  wenn  Kupka  ^  die  bezeichnung  le 
mort  in  den  Überschriften  der  ausgäbe  von  Marchaut  aus  dem  jähre 
1486  und  eine  reihe  von  fällen,  in  denen  in  den  Strophen  der  toten- 
gestalten  vom  tode  in  der  dritten  person  gesprochen  wird,  als  hin- 
reichenden beweis  dafür  ansieht,  dass  nicht  der  tod,  sondern  die  toten 
hier  sprechen,  so  zeigt  dies  nur,  dass  die  Schwierigkeit  dieser  frage 
gar  nicht  erkannt  ist'^.  Denn  wenn  Marehant  die  Überschrift  le  mort 
hat,  so  sagt  dies  für  die  auffassung  des  textes  gar  nichts,  denn  es 
ist  nicht  nachgewiesen  und  nicht  einmal  wahrscheinlich,  dass  das 
gemälde  derartige  Überschriften  gehabt  hat.  Mit  demselben  rechte 
könnte  Kupka  behaupten,  der  oberdeutsche  totentanztext  sei  ein  tanz 
des  todes,  nicht  der  toten,  denn  die  Überschrift  lautet  hier  in  den 
handschriften :  der  tod.  Die  fälle  aber,  in  denen  die  totengestalten 
vom  tode  in  der  dritten  person  sprechen,  sind  doch  nur  dann  beweis- 
kräftig, wenn  die  möglichkeit  ausgeschlossen  erscheint,  dass  der  tod 
von  sich  selbst  in  der  dritten  person  spricht,  um  den  eindruck  einer 
würdevoll  gehobenen  Sprechweise  zu  erzielen.  Wenn  die  totengestalt 
zum  erzbischof  sagt:  Nest  |w.s  tousiours  la  mort  empres  tont  komme? 
so  kann  man  daraus  noch  nicht  den  schluss  ziehen:  hier  kann  nicht 
der  tod,  hier  kann  nur  ein  toter  reden.  Derartige  beispiele  lassen 
sich  allerdings  viele  vorbringen.  Aber  ebenso  häufig  sind  die  andern 
beispiele,  aus  denen  man  das  entgegengesetze  folgern  muss. 

Le  mort  (zum  kaiser). 
Jeumainne  tout,  cest  ma  maoiere, 
Les  filz  Adam  fault  tous  morir. 


1)  P.  Kupka,  Zur  geuesis  der  mittelalterliclien  totentäuze,  s.  28. 

2)  Wenn  Kupka  ferner  hier  als  beweis  eine  stelle  zitiert,  die  nur  in  der 
zweiten  erweiterten  ausgäbe  von  Marehant  vorkommt,  so  ist  mir  dies  unverständlich. 
Ein  solches  zitat  kann  doch  nur  für  die  auffassung  zeugen,  die  der  Verfasser  der 
erweiterungen  gehabt  hat,  nicht  aber  für  die  auschauung,  die  der  alten  Danse  ma- 
cabre  zugrunde  liegt. 


DAS    TOTENTANZPIIOBLE.M  267 

Lerapereur. 
Je  ne  scay  devant  qui  iapelle 
De  la  mort,  quaiisi  ine  demaiune. 

Jenes  'cest  iiu/  maniere  passt  doch  nur  auf  den  tod,  und  der 
kaiser  sagt  es  imanfeclitbar,  wer  ihn  denn  wegführe.  Im  oberdeut- 
schen text  ist  die  totengestalt  als  toter  klarer  umrissen.  Zwar  lautet 
hier  gerade  die  Überschrift  'der  tod'.  Aber  wenn  hier  die  totengestalt 
zum  kaufmanu  sagt: 

Der  tod  nimt  weder  miet  noch  gaben. 
Tanzt  mir  nach,  er  wil  euch  haben. 

(Zeitschr.  40,  88.) 

so  ergibt  sich  daraus  unzweifelhaft,  dass  es  nicht  der  tod  ist,  der 
hier  redet,  ganz  abgesehen  davon,  dass  der  text  wiederholt  in  mannig- 
fachen bezeichnungen  von  den  toten  spricht  (vgl.  Ursprung  der  toteu- 
tänze,  s.  13  ff.).  In  dem  französischen  texte  findet  sich  nur  an  einer 
einzigen  stelle  le  mort,  nämlich  in  den  Worten  des  acteur,  mit  dessen 
predigt  der  text  beginnt  v.  12tf. 

L  e  mort  le  vive  fait  avancer. 
Tu  vois  les  plus  grans  commencer. 
Car  il  n'est  nul  que  mort  ne  fiere. 

Die  stelle  ist  charakteristisch,  wxil  gleich  darauf  wieder  die  Personi- 
fikation tod  eingeführt  wird.  Derselbe  Wortlaut  wie  in  dem  ersten 
verse  kehrt  in  der  sti-ophe  des  Wucherers  wieder: 

Je  vais  morir,  la  mort  m'avance. 
Auch  hier  ist  der  tod  für  den  toten  eingetreten. 

Dennoch  lässt  sich  von  der  Pariser  Danse  macabre  nicht  ohne 
weiteres  sagen,  dass  in  ihr  ein  tanz  des  todes,  nicht  ein  tanz  der 
toten  gegeben  ist.  Jedenfalls  kommt  an  einzelnen  stellen  eine  andere 
anschauung  deutlich  zum  durchbrach.     Der  sergent  sagt: 

Moy  qui  suis  royal  offlcier. 
Comme  m'ose  la  mort  f rapper? 
Je  foisoys  mon  office  hier 
Et  eile  me  vient  huy  happer. 
Je  ne  scay  quel  part  eschapper. 
Je  suis  pris  de  ca  et  de  la. 

Der  letzte  vers  zeigt,  dass  dem  textdichter  ein  reigenbild  vorschwebt. 
Dieser  reigen  kann  aber  nur  durch  tote  gebildet  sein.  Diese  stelle 
steht  in  auffälligem  widersprach  mit  dem  dazugehörigen  bilde,  denn 
der  sergent  steht  am  schluss  einer  jedesmal  zwei  paare  umspannenden 
arkade,  ist  also  niclit   von    links  und  rechts  ergriffen.     Sodann  steht 


268  FEIISE 

sie  im  widerspriu-h  mit  der  einheit  der  persoii  des  todes,  wie  sie  durch 
das  oben  darg-eleg-te  zurückgreifen  der  totengestalteu  gegeben  war. 

Eine  entscheidung  ist  nicht  möglich.  Es  ergibt  sich  nur  das 
eine,  dass  dem  textdichter  der  Pariser  Danse  macabre  eine  klare  an- 
schauung  von  dem  Charakter  seiner  totengestallt  gefehlt  hat.  Sie 
schillert  zwischen  dem  personifizierten  tode  und  den  toten.  Auch  wenn 
es  durch  unsere  Untersuchung  sich  nicht  anderweitig  erwiese,  könnten 
wir  schon  hieraus  den  schluss  ziehen,  dass  der  text  der  Pariser  Dansc 
macabre  nicht  der  ausgangspunkt,  sondern  ein  durchgangspunkt  in 
der  entwicklung  des  totentanzmotivs  ist. 

Noch  schärfer  springt  ein  anderer  unterschied  zwischen  dem 
spanischen  und  dem  niederdeutschen  text  einerseits  und  dem  franzö- 
sischen andererseits  in  die  äugen .  "Während  die  beiden  ersteren  näm- 
lich wirkliche  dialoge  sind,  ist  der  letztere  aus  anreden  der  toten- 
g-estalten und  aus  monologen  der  menschen  zusammengesetzt.  Während 
dort  die  menschen  den  tod  vielfach  anreden  und  ihn  um  Schonung 
bitten,  findet  sich  hier  nur  eine  einzige  apostrophe,  und  diese  ist  in 
einer  form  gehalten,  die  sie  auch  in  jedem  monolog  am  platze  er- 
scheinen lässt.     Der  bourgois  sagt: 

Grand  mal  ine  fait  si  tost  laissier 
Eentes,  inaisons,  cens,  norritnre. 
Mais  pouvres,  riches  abaissier 
Tu  faiz,  mort  teile  est  ta  uature. 
Sage  n'est  pas  la  creature 
D'amer  trop  les  biens  qui  demeureut 
Au.  monde  et  sont  siens  de  droitiu-e. 
Ceulx  qui  plus  ont  plus  enviz  meurent. 

In  allen  übrigen  Strophen,  die  den  menschen  in  den  mund  gelegt 
sind,  reden  diese  vom  tode  in  der  dritten  person.  Nirgends  findet 
sich  eine  bitte  an  den  tod.  Der  mannigtach  variierte  inhalt  jener 
Strophen  ist  im  gründe  immer  der  nämliche:  das  bewusstsein  der 
nähe  des  todes,  das  unabänderliche  des  herben  Schicksals,  von  dem 
es  keine  rettung  gibt,  die  reue  ob  des  im  leben  versäumten.  Dass 
die  Strophen  der  menschen  keinen  dialogischen  Charakter  tragen,  ist 
um  so  auffälliger,  als  im  französischen  text  ja  im  gespräch  der  toten- 
gestalt  die  anrede,  dem  menschen  die  antwort  zugewiesen  ist.  Im 
spanischen  und  niederdeutschen  texte  ist  es  (von  dem  verse  des  todes 
abgesehen,  der  die  kurze  aufforderung  enthält)  umgekehrt.  Hier  ant- 
wortet der  tod,  und  infolgedessen  w^äre  hier  ein  monologischer  Charakter 
der  Strophen  der  menschen  leicht  erklärlich.  Dennoch  ist  gerade  hier 
der  text  durchaus  dialogisch. 


DAS    TOTEXTANZPROI?LE:.r 


269 


Es  frag-t  sich  nun,  wie  die  Verwandtschaft  und  wie  die  innere 
Verschiedenheit  der  drei  texte  sich  erklärt. 

Da  der  niederdeutsche  und  spanische  text  unmöglich  direkte 
beziehungen  zueinander  haben,  wie  sich  schon  ohne  weiteres  aus  dem 
Verzeichnis  der  personen  des  reigens  ergibt,  so  müssen  wir  eine  ge- 
meinsame quelle  postulieren,  welche  die  eigentümliche  äussere  form 
gehabt  hat,  die  wir  an  den  beiden  texten  durchgeführt  und  im  fran- 
zösischen text  in  drei  fällen  angedeutet  fanden.  Dass  diese  quelle 
ein  französischer  text  gewesen  ist,  liegt  sehr  nahe.  Damit  ist  noch 
nicht  ausgemacht,  dass  dieser  text  der  'urtext'  aller  totentänze  gewesen 
ist.  Jedesfalls  aber  hat  er  erst  einmal  alle  die  merkmale  aufgewiesen, 
die  in  den  drei  achtzeiligen  texten  sich  finden.  Dies  ist  freilich  wenig 
mehr  als  die  äussere  form.  Aber  ausserdem  dürfen  wir  für  diesen 
text  auch  die  merkmale  in  ansprach  nehmen,  die  zwei  von  den  drei 
totentänzen  gemeinsam  haben  und  die  sich  nicht  anderweitig  ohne 
mühe  motivieren  lassen.  Das  ist  einmal  die  einleitung,  die  in  der 
Dause  macabre  dem  'acteur',  im  niederdeutschen  text  dem  prediger 
zugew^iesen  ist,  und  die  schon  in  dem  quelltext  den  anfang  0  ereatnre 
raisonable  gehabt  haben  muss.  Das  ist  sodann  die  reihenfolge  der 
personen,  die  zwar  im  französischen  und  spanischen  text  nicht  iden- 
tisch ist,  aber  doch  noch  in  den  ersten  gruppen  erkennen  lässt,  wie 
ungefähr  die  paare  in  dem  quelltext  gruppiert  waren.  Dass  nur  die 
ersten  gruppen  für  diesen  vergleich  in  frage  kommen,  erklärt  sich  aus 
der  wachsenden  freiheit,  mit  der  der  bearbeiter  seiner  vorläge  gegen- 
übertritt. Ausserdem  ist  eine  einschiebung  gegen  ende  hin  leichter 
als  am  anfang,  da  alle  totentänze  eine  gewisse  rangordnung  einhalten. 
Stellen  wdr  die  ersten  zwölf  glieder  des  französischen,  spanischen, 
niederdeutschen  und  lateinischen  tcxtes  (Cod.  palatiuus)  nebeneinander: 


franz. 

1.  pape 

2.  cinpereur 

3.  Cardinal 

4.  roi 

5.  patriarche 

6.  conestable 

7.  archeveque 

8.  Chevalier 

9.  eveque 

10.  esquier 

11.  abbe 

12.  baillif 


span. 

1.  padre  Santo 

2.  emperador 

3.  cardenal 

4.  rey 

5.  patriarca 

6.  duque 

7.  argobispo 

8.  condestable 

9.  opispo 

10.  Caballero 

11.  abad 

12.  escudero 


niederd. 

1.  papst 

2.  kaiser 

3.  kaiserin 

4.  kardinal 

5.  könig- 

6.  bischof 

7.  herzog 

8.  abt 

9.  ritter 

10.  kartäuser 

11.  edclmann 

12.  doniherr 


lat. 

1.  papa 

2.  cesar 

3.  caesarissa 

4.  rex 

5.  cardinalis 

6.  Patriarch a 

7.  archiepiscopus 

8.  dux 

9.  episcopus 

10.  conies 

11.  abbas 

12.  miles 


270  FEHSE 

Der  spanische  und  französisclie  text  haben  bis  gegen  ende  streng- 
durcligeführten  Wechsel  zwischen  geistlichem  und  weltlichem  stand;  im 
lübisch-revalschcn  text  wird  dieser  Wechsel  schon  in  der  mitte  unter- 
brochen, im  lateinischen  ist  er  gar  nicht  beabsichtigt.  In  den  ersten 
beiden  texten  zeigt  sich  ausserdem  bis  paar  11  bzw.  12  genaue  Über- 
einstimmung in  der  reihenfolge,  die  nur  durch  die  einfügnng  des  Duque 
in  die  weltliche  reihe  vom  spanischen  text  gestört  wird.  Auffallend 
ist  ferner,  dass  in  diesen  beiden  texten  nur  männliche  gestalten  er- 
scheinen^, während  die  beiden  anderen  gleich  hinter  dem  kaiser  die 
kaiserin  einfügen  und  auch  sonst  das  weibliche  geschlecht  in  ihren 
rahmen  ziehen.  Da  der  niederdeutsche  text  auch  im  vergleich  mit 
allen  andern  totentänzen  in  der  auswahl  der  personen  grosse  Selb- 
ständigkeit zeigt,  so  ist  die  reihenfolge  der  ersten  11  glieder  des 
reigens,  wie  sie  im  französischen  und  spanischen  text  erscheint,  höchst 
wahrscheinlich  auch  für  den  qiielltext  in  anspruch  zu  nehmen  und 
damit  auch  der  konsequente  Wechsel  zwischen  geistlichen  und  welt- 
lichen personen. 

Dann  verlangt  aber  die  frage,  wie  die  auffällige  einführung  der 
kaiserin  im  niederdeutschen  text  sich  erklärt,  ihre  beantwortung.  Dass 
er  an  dieser  stelle  mit  dem  lateinischen  text  übereinstimmt,  kann  kein 
Zufall  sein.  Seelmann  hatte  angenommen,  dass  der  lateinische  text 
eine  Übersetzung  des  oberdeutschen  sei,  und  diesen  hatte  er  für  eine 
ableitung  aus  dem  französischen  urtext  erklärt  (Seelmann  a.  a.  o.  s.  30). 
Aus  unserer  Untersuchung  des  oberdeutschen  textes  hatte  sich  die  halt- 
losigkeit  dieser  ansieht  ergeben.  Es  waren  zwei  stellen  aus  dem  nieder- 
deutschen text,  die  an  den  oberdeutschen  gemahnen  und  so  Seelmauus 
Vermutung  stützten :  die  eingangsformel  Och  redelike  creature  (0  diser 
ivelt  Weisheit  hind)  und  die  beiden  verse  des  kindes: 

0  dot,  wo  schall  ik  dat  vorstan, 

Ik  schal  dansen  unde  kan  nicht  gän  -  ? 

Wir  hatten  (Zeitschr.  40,  75)  gesehen,   dass  die    eingangsformel  0  vos 
üiventes   huius  mundi  sopientes  durchaus  original  im  lateinischen  texte 

1)  Von  den  'dos  Doncellas',  die  im  spanischen  text  der  tod  vor  dem  eigent- 
lichen reigen  zitiert,  ist  hier  abzusehen.  Der  tod  redet  sie  nicht  an,  sondern  spricht 
von  ihnen  in  der  dritten  person ;  auch  sind  ihnen  keine  autwortstrophen  zugewiesen. 
Sie  sind  sicher  zutat  des  dichters,  der  ja  auch  sonst  so  frei  mit  seiner  vorläge  um- 
gesprungen ist,  dass  die  bezeichnung  'trasladagion',  die  sein  gedieht  führt,  nur  in 
sehr  übertragener  bedeutung  zn  verstehen  ist. 

2)  Oberdeutscher  text:  Wie  wiltu  mich  also  vertan? 

Musb  ich  tanzen  und  kau  nit  gau? 


DAS    TOTENTANZPROBLEJI  271 

ist.  Sie  kann  also  für  Seelmanns  Vermutung  nicht  als  stütze  dienen. 
Ebenso  kann  die  Übereinstimmung  des  einen  verses  aus  den  Strophen 
des  kindes  nicht  das  beweisen,  was  Seelmann  will.  Im  französischen 
text  ist  nicht  einmal  eine  inhaltliche  entsprechung  dieses  verses  vor- 
banden, und  der  spanische  text  hat  keine  Strophe  für  das  kind.  Nun 
sind  die  oben  zitierten  verse  auf  eigentümliche  weise  uns  überliefert 
worden.  Das  Lübecker  bild  in  der  Marienkirche  ist  ursprünglich  auf 
holztafeln  gemalt  gewesen.  Es  stammt  aus  dem  jähre  1463,  Im 
jähre  1701  ist  dann  das  gemälde  von  dem  maier  Anton  Wortmann, 
wie  man  aus  der  tracht  der  gestalten  und  aus  dem  vergleich  mit  dem 
Revaler  bilde  schliessen  muss,  ziemlich  getreu  auf  leinwand  übertragen 
worden.  Bei  dieser  gelegenheit  wurden  die  alten  niederdeutschen  verse, 
die  unter  den  figuren  standen,  durch  neue  hochdeutsche  ersetzt.  Was 
von  dem  alten  text  zu  jener  zeit  noch  erhalten  war,  wurde  von  dem 
damaligen  pastor  der  Marienkirche  Jakob  Melle  abgeschrieben  und  ist 
in  seiner  handschriftlichen  'Ausführlichen  beschreibung  von  Lübeck' 
erhalten.  Die  oben  angeführten  verse  des  kindes  sind  in  dieser  nieder- 
schrift  aber  nicht  wiedergegeben.  Sie  wurden  in  dem  handschriftlichen 
werke  Melles  'Lubeca  religiosa'  von  einem  seiner  nachkommen  auf- 
gezeichnet. (Vgl.  Der  totentanz  in  der  Marienkirche  zu  Lübeck.  Nach 
einer  Zeichnung  von  C.  J.  Milde  mit  erläuterndem  text  von  W.  Mantels, 
Lübeck  1866,  s.  9.)  Diese  art  der  Überlieferung  hat  schon  früher  die 
Vermutung  hervorgerufen,  dass  diese  beiden  verse  nicht  zu  dem  von 
Melle  kopierten  text  gehört  haben,  sondern  die  letzten  spuren  eines 
älteren  vierzeiligen  textes  sind,  der  im  jähre  1463  durch  jenen  anderen 
achtzeiligen  niederdeutschen  verdrängt  wurde  (vgl.  Mantels  a.  a.  o.). 
Jener  ältere  text  wäre  dann  eine  niederdeutsche  version  des  vierzeiligen 
oberdeutschen  textes  zu  24  paaren  gewesen.  Diese  Vermutung  wird 
nun  dadurch  unterstützt,  dass  sich  die  auffälligen  abweichungen  vom 
französischen  und  spanischen  text  aus  dem  oberdeutschen  bei  dieser 
annähme  sehr  einfach  motivieren.  Die  einführung  der  weiblichen  ge- 
stalten, namentlich  die  der  kaiserin,  erklärte  sich  dann  sehr  einfach 
daraus,  dass  sie  vorhanden  war,  als  der  aus  Frankreich  direkt  oder 
indirekt  importierte  text  einer  durchgreifenden  erneuerung  des  toten- 
tanzes  in  der  Marienkirche  zugrunde  gelegt  wurde.  T'nd  vielleicht  ist 
dann  damit  auch  eine  erklärung  gefunden  für  die  beschränkung  des 
lübischen  gemäldes  auf  24  paare.  Durch  den  oberdeutschen  text  war 
dieser  rahmen  angegeben  worden,  und  er  wurde  1463  beibehalten. 
Die  geschichte  der  totentänze  lehrt  ja,  dass  bei  fortschreitender  cnt- 
wicklung   der   rahmen    des    bildes    sich    eher    erweitert   als   verengert. 


272  FEHSE 

Jede  verkürz  Ulli;'   des   rci^ens   bei   einer  nachahmiing  ist  infolgedessen 
auffüllig. 

Nach  diesen  erörterung-en  kann  der  niederdeutsche  text  also 
getrost  bei  der  bestinirauug  der  personenauswahl  und  -anordnung  für 
den  französischen  quelltext  ausgeschieden  werden.  Wir  dürfen  an- 
nehmen, dass  dieser  text  wie  die  Danse  macabre  und  die  Danca 
geueral  nur  männliche  Vertreter  und  einen  regelmässigen  Wechsel  von 
geistlichen  und  weltlichen  gliedern  des  reigens  aufgewiesen  hat. 

Es  bleibt  uns  als  letzte  frage  die,  die  für  uns  die  grösste  be- 
deutung  hat:  hat  der  quelltext  der  drei  achtzeiligen  totentänze  aus- 
gesprochen dialogischen  Charakter  gehabt?  Oder  haben  die  Strophen 
der  menschen  in  ihm  wie  in  der  Danse  macabre  monologische  form 
getragen  ? 

Es  liegt  auf  der  band,  dass  der  vollständig  durchgeführte  dialog 
von  grösserer  dichterischer  freiheit  zeugt.  Er  bringt  grössere  lebendig- 
keit  in  den  text  und  lässt  infolgedessen  die  dargestellte  Situation  an- 
schaulicher werden.  Als  grad  der  eutwicklung  bedeutet  der  aus- 
gesprochene dialog  also  eine  höhere  stufe.  Es  ist  infolgedessen  kein 
wunder,  wenn  in  dem  dichterisch  freiesten  der  drei  achtzeiligen  toten- 
tänze, im  spanischen,  der  dialogische  charakter  am  schärfsten  aus- 
geprägt ist.  Er  ist  in  diesem  text  sogar  noch  dadurch  weiter  aus- 
gebildet, dass  die  sterbenden  menschen  nicht  nur  den  tod,  sondern 
mitunter  auch  andere  mitmenschen  anreden  und  anrufen.  So  ruft  der 
könig  seine  vasallen  zu  hilfe,  der  knappe  sagt  den  damen,  denen  sein 
dienst  galt,  lebewohl.  Durch  diese  Weiterentwicklung  der  form  wird 
freilich  der  rahmen  des  totentanzes  in  derselben  weise  durchbrochen 
wie  durch  Holbeins  bilder:  aus  dem  tanz  der  toten  werden  bilder 
des  todes. 

Wäre  der  dialog  das  ursprüngliche  gewesen,  dann  würde  es 
schwer  erklärlich  sein,  wie  in  den  späteren  uachahmungen  die  halb- 
monologische form  zur  durchführuhg  gelangt  wäre.  Der  absichtliche 
verzieht  auf  eine  künstlerisch  höher  stehende,  freiere  behandlung  würde 
sich  schwerlich  motivieren  lassen.  Es  muss  also  die  form  der  Danse 
macabre,  in  der  die  menschen  den  tod  nicht  anreden,  sondern  ihren 
gefühlen  in  gestalt  eines  monologs  ausdruck  verleihen,  die  ursprüng- 
liche und  darum  auch  im  quelltext  vorhandene  gewesen  sein.  Bestärkt 
werden  wir  darin  durch  die  gleiche  entwicklung,  die  wir  im  ober- 
deutschen texte  nachweisen  kJhinen.  Der  text  zu  24  paaren,  wie  ihn 
uns  die  blockbücher  und  handschriften  bieten,  ist  nicht  dialogisch. 
Die    menschen    antworten    dem    tod    nicht    und    reden    ihn    nicht    an, 


DAS    TOTEXTAXZPROBLEM  273 

sondern  änssern  sich  im  selbstg-espräch.  In  den  15  zusatzstrophen, 
die  diesen  text  in  Klein-Basel  (Klingental)  erweiterten,  haben  wir 
jedoch  den  dialog',  wenn  er  auch  nicht  überall  streng-  durchgeführt 
ist.  Das  ist  er  ja  auch  im  spanischen  und  niederdeutschen  texte 
nicht.  Vielfach  scheint  der  ursprüngliche  charakter  noch  durch.  So 
spricht  im  niederdeutschen  text  die  kaiserin  erst  im  Selbstgespräch 
vom  tode  in  der  dritten  person,  um  in  dem  letzten  verse  ihrer  Strophe 
den  tod  anzureden : 

Ick  wet,  my  inent  de  doet! 

Was  ick  ny  vorvert  so  grot ! 

Ik  meude,  he  si  nicht  al  bi  sinne, 

Bin  ick  doch  junck  und  ok  eine  keiserinue. 

Ik  uiende,  ik  hedde  rele  macht, 

Up  em  hebbe  ik  ny  gedacht, 

Ofte  dat  gement  dede  tegen  mi. 

Och,  lat  mi  noch  leuen,  des  bidde  ik  di ! 

Wenn  wir  nun  den  monologischen  charakter  in  den  Strophen  der 
menschen  für  den  quelltext  in  ansprach  nehmen,  so  übersehen  wir 
dabei  nicht,  dass  uns  die  aufgäbe  bleibt,  diese  auffällige  eigenart  be- 
friedigend zu  motivieren.  Fassen  wir  unsere  resultate  zusammen,  so 
ergab  sich  für  die  Danse  macabre,  die  Danca  general  de  la  muerte 
und  den  lübisch-revalscheu  text  ein  quelltext,  der  die  charakteristische 
äussere  form  des  spanischen  und  niederdeutschen  totentanzes  wahr- 
scheinlich mit  der  reinibindung  des  französischen  besass.  Dieser  text 
begann  mit  einer  predigtartigen  einleitung,  deren  erster  vers  0  crea- 
iure  misonable  lautete,  und  zeigte  die  Vertreter  der  menschen  in  einem 
regelmässigen  Wechsel  von  geistlichen  und  weltlichen  gestalten.  Weib- 
liche glieder  fehlten  in  ihm  ganz.  Dieser  text  war  kein  eigentlicher 
dialog.  Er  bestand  aus  anreden  des  todes  und  monologischen  äusse- 
riingen  der  menschen.  In  diesem  text  schillerte  sodann  die  totengestalt 
wahrscheinlich  in  derselben  weise  zwischen  tod  und  totem  wie  in  der 
Danse  macabre.  Von  den  drei  achtzeiligen  totentänzen  hat  nur  der 
inhaltlich  freieste,  der  spanische,  die  Personifikation  tod  in  aller  konse- 
quenz  durchgeführt.    Im  niederdeutschen  text  sagt  der  papst  zum  tod: 

AI  was  ik  hoch  geresen  in  State 
Unde  ik  altohant  moet  werden 
Gelik  als  du  een  slim  der  erden  V 

Der  dichter  denkt  hier  also  an  einen  toten,  indem  er  vom  tod  spricht. 
Und  ganz  ähnlieh   ist   eine   stelle   in   der  Danse  macabre.     Die  toten- 


274  FEIISE 

g-cstalt  des  kaisers  ist  mit  einer  hacke,  einem  spaten  und  einem  leiclien- 
tuch  auf  dem  l)ilde  dargestellt.     Der  kaiser  sagt  nun : 

Armer  me  fault  de  pic,  de  pelle 

et  d'uu  linseul,  ce  m'est  graut  paiuue. 

Es  soll  durch  diesen  Wortlaut  ausgedrückt  werden,  dass  der  kaiser 
der  totengestalt  gleich  wird.  Darum  scheint  hier  nicht  an  den  tod, 
sondern  an  einen  toten  gedacht  zu  sein. 

Bemerkenswert  an  allen  drei  achtzeiligen  texten,  und  also  auch 
wohl  an  dem  quelltext,  ist  die  tatsache,  dass  in  ihnen  die  konkrete 
anschauung  vom  reigen  der  toten  fast  vollständig  verblichen  ist.  Die 
abstrakte  idee  hat  sie  vollständig  überwuchert. 

Neben  diesen  quelltext,  den  Seelmann  (s.  5if.,  s.  11  ff.)  als  pro- 
totyp  aller  totentänze  und  zugleich  als  das  von  ihm  erschlossene 
totentanzdrama  ansah,  stellt  sich  nun  als  einziger  rivale  der  lateinische 
text  Codex  palatinus  314,  bl.  79-80. 

Der  auffälligste  unterschied  zwischen  beiden  ist  das  fehlen  der 
in  allen  andern  texten  den  totengestalten  in  den  mund  gelegten  Stro- 
phen im  lateinischen  texte.  Es  fehlt  hier  ferner  die  schematische  ein- 
teilung  der  menschen  in  geistliche  und  laien.  Dafür  sind  unter  den 
24  personen,  die  den  reigen  bilden,  auch  einige  weiblichen  geschlechts 
(caesarissa,  nobilissa,  monialisj  mater).  Im  auffälligsten  gegensatz  zu 
den  achtzeiligen  texten  ist  im  lateinischen  text  sodann  die  anschauung 
vom  tanz  der  toten  scharf  und  unzweideutig  zum  ausdruck  gebracht. 
Zwar  schillert  der  charakter  der  totengestalt  au  einigen  stellen  auch 
hier.  Man  könnte  meinen,  wenn  der  arzt  sagt:  'Mihi  mors  contraria 
iurat'f  so  sei  damit  die  totengestalt  gemeint,  die  ihn  auf  dem  bilde 
zum  tanze  zieht.  Aber  es  ist  doch  bier  zu  beachten,  dass  im  latei- 
nischen text  der  gedanke  an  einen  dialog  zwischen  tod  und  menschen 
vollständig  ausgeschaltet  ist  und  infolgedessen  die  tatsache,  dass  der 
mensch  in  der  dritten  person  vom  tode  redet,  noch  viel  weniger  auf- 
fällig ist  als  in  irgendeinem  andern  text.  Jeder  zweifei  aber,  wer 
mit  der  totengestalt  gemeint  sein  soll,  der  tod  oder  die  toten,  wird 
durch  die  folgenden  stellen  beseitigt. 

Papa: 
Frivole  uuuc  dueor  ad  mortem,  vane  reluctor. 

Cardmalis : 
Mortis  p  r  0 1  e  r  V  a  m  uunc  stringor  adire  c  a  t  e  r  v  a  ra . 

Patriarclia : 
Et  mortis  dirae  cogor  consortes  adire. 


DAS   TOTENTANZI'ROBLEM  275 

Arcliiepiscopus : 
Metropolitauus  uunc  sum  cum  vauis  vanus. 

Dux: 
Sed  iiuüc  ut  adeam  cogor  cum  morte  choream. 

Episcopus : 
Heu  nunc  distorti  praesumunt  me  dare  morti. 

Comes: 
Morte  nunc  perii  corisantibus  associatus. 

Miles : 
Contra  iura  mea  ducor  in  ista  Chorea. 

So  klar  wie  hier  ist  in  Iveinem  andern  totentanztexte  die  anschauung 
vom  reig-en  der  toten  ausgesprochen.  Und  dies  ist  um  so  bedeutungs- 
voller, je  kürzer  und  einfacher  der  text  im  vergleich  zu  den  andern  ist. 

Es  lässt  sich  leicht  zeigen,  dass  alle  diese  merkmale,  die  den 
lateinischen  text  von  den  übrigen  absondern,  für  die  Originalität  jenes 
sprechen.  Wäre  er  eine  nachahmung  des  von  Seelmann  erschlossenen 
*urtextes',  so  dürfte  es  grosse  mühe  machen,  die  auslassung  der  Stro- 
phen der  toten  einigermassen  einleuchtend  zu  motiviren.  umgekehrt 
erklärt  sich  die  hinzufügung  der  Strophen  für  die  toten  zu  dem  ur- 
sprünglich monologischen  text  ohne  weiteres,  und  der  in  Basel  er- 
weiterte oberdeutsche  text  selbst  ist  ja  ein  sicheres  dokument  für 
diese  entwicklung.  Ausserdem  erklärt  sich  uns  aber  dadurch  auf 
überraschende  weise  die  seltsame  tatsache,  dass  die  Strophen  der 
menschen  in  der  Danse  macabre  ebenso  monologisch  gefärbt  sind  wie 
im  oberdeutschen  text.  Hier  wie  dort  erklärt  sich  dies  daraus,  dass 
die  Strophen  der  toten  erst  später  hinzugefügt  sind.  Das  heisst  natür- 
lich nicht,  dass  der  französische  quelltext  keine  totenstrophen  gehabt 
hat;  aber  indem  er  einen  text  nachahmte,  der  nur  aus  Strophen  der 
menschen  bestand,  gab  er  auch  unwillkürlich  den  naturgemäss  mono- 
logischen Charakter  dieser  Strophen  wieder. 

Ursprünglicher  ist  ferner  die  freie,  ungezwungene  auswahl  der 
personen  im  lateinischen  text,  der,  wie  oft  hervorgehoben,  in  seinen 
24  personen  die  menschlichen  gegensätze  hoch  und  niedrig,  reich  und 
arm,  alt  und  jung  hinreichend  erschöi)fend  zum  ausdruck  bringt  und 
der  auch  das  weibliche  geschlecht  nicht  übergeht.  Die  hier  gegebene 
auswahl  seheint  der  dem  toteutanze  zugrunde  liegenden  dichterischen 
anschauung  m.ehr  zu  entsprechen  als  der  gezwungene,  schematisierende 
Wechsel  von  geistlich  und  weltlich. 

Dass  endlich  die  anschauung   vom   tanze   der   toten,   wie  sie  im 


276  iKiisE 

lateinischen  texte  klar  zum  ausdruck  gelangt,  ursprünglicher  ist  als 
die  abstrakte  todesidee  der  achtzeiligen  texte,  bedarf  keines  beweise«. 
Dadurch,  dass  die  form  eine  breitere  wurde,  wurde  neuer  Inhalt  nötig, 
und  die  moralisierenden  gedanken,  mit  denen  sich  die  Strophen  füllten, 
Hessen  das  hauptmotiv  verblassen.  Der  Inhalt  wurde  immer  abstrakter, 
und  w^ahrscheinlich  ganz  unmerklich  für  die  nachahmer  trat  an  die 
stelle  der  toten  die  abstraktion  tod.  In  den  Baseler  zusatzstrophen 
des  oberdeutschen  textes  habe  ich  (Urspr.  d.  totent.  s.  47)  die  gleiche 
entwicklung  nachgewiesen . 

Es  bleibt  uns  noch  eins  von  den  beweisstücken  zur  erledigung, 
mit  denen  Seelmanu  (s.  30)  seine  behauptung  stützte,  dass  der  ober- 
deutsche text  eine  nachahmung  des  französischen  sei.  Es  ist  dies  die 
merkwürdige  Übereinstimmung  des  oberdeutschen  textes  mit  dem  fran- 
zösischen und  niederdeutschen  in  der  ersten  zeile  der  einleitung. 

franz. :  0  creature  raysonahle. 

uiederd. :  Och  redelike  ereatuer. 

oberd.:  0  diser  tcelt  iveisheit  kint. 

lat. :  0  vos  viventes  hiiius  mundi  sapientes. 

Ich  habe  schon  früher  die  ansieht  Seelmanns  zurückgewiesen,  dass 
die  oberdeutsche  version  eine  ungelenke  Übersetzung  des  französischen 
ausdrucks  sei  (Urspr.  d.  totent.  s.  28  f.).  Dadurch,  dass  sich  uns  nun 
der  lateinische  text  als  grundtext  des  oberdeutschen  ergab,  erklärt  sich 
der  ungelenke  ausdruck  0  diser  weif,  iveisheit  k/'nt  ohne  weiteres.  Ich 
habe  aber  ferner  gezeigt,  dass  der  lateinische  ausdruck  0  ros  viventes 
huius  mundi  sapientes  biblischen  Ursprungs  (1.  Korinth.  1,  20)  und  also 
durchaus  original  im  lateinischen  texte  ist  (vgl.  Zeitschr.  40,  75  anni.). 
Wenn  also  überhaupt  ein  schluss  aus  dieser  textparallele  gezogen 
Averden  darf,  dann  kann  es  nur  der  sein,  dass  die  französische  version 
0  creature  raysonahle,  die  wir  ja  oben  auch  für  den  quelltext  der 
drei  achtzeiligen  texte  in  anspruch  genommen  hatten,  im  vergleich  zur 
lateinischen  sekundär  ist. 

Wir  stehen  damit  vor  dem  resultat,  dass  der  latei- 
nische text  der  älteste  und  ursprünglichste  totentanz 
überhaupt  ist,  dass  alle  totentänze  direkt  oder  indirekt 
auf  ihn  zurückgehen  müssen.  Durch  dieses  resultat,  das  einem 
lateinischen  gedieht,  das  nur  aus  Strophen  der  menschen  besteht,  die 
Priorität  unter  den  totentanztexten  verleiht,  wird  nunmehr  ein  anderes 
lateinisches  gedieht  des  späten  mittelalters  in  neue  beleuchtung  gerückt. 
Douce    (Dance  of  Death,   London  1833,  s.  24)   hat   zuerst   auf  ein   in 


DAS    TOTEXTANZPRCBLEM  277 

zwei  lateinischen  bandschriften  ^  des  14.  Jahrhunderts  unter  echten  und 
apokryphen  gedichten  Walter  Mapes  überliefertes  dichtwerk  hingewiesen, 
das  sich  Lamentatio  et  deploratio  pro  mo)ie  et  concilimn  de  vivendo 
deo  betitelt.  Neuerdings  glaubte  es  E.  Male  (Revue  des  deux  mondes 
1906,  s.  653)  neu  entdeckt  zu  haben,  indem  er  es  in  einer  handschrift 
der  Bibliotheque  Mazarine  (nr.  900,  fol.  93)  nachwies.  Ausserdem  findet 
sich  das  gedieht  in  einer  Erfurter  handschrift  ^  überliefert.  Dieses  ge- 
dieht ist  deshalb  von  hoher  bedeutung,  weil  es  eine  grosse  Verwandt- 
schaft mit  den  totentänzen  aufweist  und  sicher  älter  ist  als  diese. 

Ich  gebe  das  gedieht  hier  nach  der  Erfurter  handschrift,  die 
schon  Schuni  (a.  a.  o.),  leider  nicht  ganz  zuverlässig,  abdruckte,  und 
füge  die  lesarten  des  bei  Douce  (a.  a.  o.)  gegebenen  Stückes  hinzu. 

Dum  mortem  cogito  crescit  mihi  causa  doloris, 

Jam  cunctis  horis  mors  venit  ecce  cito. 
Pauperis  et  regis  communis  lex  moriendi, 

Dat  causam  flendi  si  bene  scripta  legis. 
5  Gustato  pomo  nuUus  transit  siue  morte. 

Heu!  inisera  sorte  labitur  omnis  homo. 


Vado  mori,  papa,  qui  iussu  regna  subegi. 

Mors  mihi  regna  tulit  —  eccine  vado  mori. 
Vado  mori,  rex  sum,  quid  honor,  quid  gloria  regni? 
10        Est  via  mors  hominis  regia,  vado  mori. 
Vado  mori,  presul,  cleri  populique  lucerna, 

Qui  fueram  validus,  laugueo,  vado  mori. 
Vado  mori,  miles,  victor  certamine  belli, 

Mortem  uon  didici  vincere,  vado  mori. 
15  Vado  mori,  munachus,  mundi  moriturus  amori, 

Ut  moriatur  amor  hie  mihi,  vado  mori. 
Vado  mori,  1  e  g  i  s  t  a  fui  defensor  egenis 

Causidicus,  causas  resero,  vado  mori. 
Vado  mori  logicus,  aliis  concludere  novi, 
20        Conclusit  breviter  mors  mihi,  vado  mori. 

Vado  mori,  medicus,  medicamine  uon  redimendus, 

Quidquid  agat  medici  potio,  vado  mori. 
Vado  mori,  sapiens,  micbi  nil  prudeutia  prodest, 

Me  reddit  fatuum  mors  fera,  vado  mori. 
25  Vado  mori  dives,  ad  quid  mihi  copia  rerum, 

Dum  mortem  nequeat  pellere,  vado  mori. 


1)  Ms.  Bibl.  reg.  8  B  VI.  und  Lansd.  MS  397. 

2)  Vgl.  W.  Schum,    Beschreibendes    Verzeichnis    der    amplonianischen    haud- 
Bchriftensammlung  zu  Erfurt,  s.  41. 

ZEITSCHRIFT   F.   DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.  XLH.  19 


27&  FEHSI-: 

Vado  mori  cultor,  collegi  farris  acervos, 
Quos  ego  pro  vili  computo,  vado  inori. 
Vado  mori,  pauper,  quem  pauper  Christus  amavit, 
30  Hunc  sequar  evitans  omnia,  vado  mori. 

V.  1.    Douce:  Cum...    meditor   nescit   mihi   causa   doloris.  —  Die   lesart  von  Erf. 

wird  durch  cogito  —  cito  bestätigt. 
V.  2.    Douce:  nam.     Schum:  veniet. 
V.  4.    Douce:  leges  —  vgl.  den  reim  regts  —  legis. 
V.  5.    Hs. :  pamo.     Schum:  pane.     Douce:  pomo  —  vgl.   den   reim   liomo  —  pomo. 

Douce :  miss us  transit. 
V.  6.    Douce:  missa  sorte. 
V.  7.    Hs. :  regni  subegi. 

\.  8.    Hs.:  mors  in  regno.     Schum:  eccine  fehlt. 
Y.  9.    Douce:  quod  honor,  quod  gloria  verum. 
V.  19.  Hs. :  Iny cus. 
V.  25.  26.  Ms.  Mazar. :    Vado  mori,  dives,  aurum  nee  copia  rerum  Nulluni  respec- 

tum  dat  michi,   vado   mori  —   vgl.  F.  Neri,   II  trionfo   della   morte  etc.   in 

Studi  medievali  III,  p.  75  anm. 

Die  ähnlichkeit  dieses  V^ado  mori  mit  dem  lateinischen  texte  der 
liandscbrift  H^  des  oberdeutschen  totentanztextes  liegt  auf  der  haud. 
Beide  gedichte  führen  uns  eine  abgestufte  reihe  von  Vertretern  der 
menschlichen  stände  vor,  die  in  kurzen  monologen  dem  bittern  ge- 
danken  ausdruck  verleihen,  dass  es  zum  sterben  geht.  Diesem  Yado 
mori  fehlt  nur  das  eigentliche  totentanzmotiv,  und  es  wäre  seinem 
Charakter  nach  identisch  mit  dem  totentanztext,  der  sich  uns  als  der 
älteste  ergab.  Diese  Übereinstimmung  kann  keine  zufällige  sein.  Der 
gedanke,  das  Vado  mori  verdanke  seinen  Ursprung  den  toteutäuzen, 
wäre,  auch  abgesehen  von  der  Überlieferung  der  verse,  absurd,  denn 
das  Vado  mori  hätte  dann  aus  den  totentänzen  ein  nebensächliches 
abstraktes  motiv  entnommen  und  das  anziehendste  und  fruchtbarste 
motiv  ganz  beiseite  gelassen.  Der  entgegengesetzte  schluss  liegt  viel 
näher:  das  Vado  mori  wird  durch  heranziehung  der  volksauschauuug 
vom  totentanze  zum  totentanztext.  Damit  wird  in  überraschender 
weise  die  entwicklungslinie,  die  wir  nach  rückwärts  verfolgt  haben, 
zum  abschluss  gebracht. 

Das  Vado  mori  weist  aber  auch  eine  andere  hypothese  zur 
lösung  des  totentanzproblems  als  überflüssig  und  darum  als  haltlos 
zurück.  Künstle  ^  wiederholte  mit  neuen  beweisgründen  den  schon 
vor  ihm  gemachten  versuch,  den  totentanz  aus  der  legende  von  den 
drei  lebenden  und  den  drei  toten  abzuleiten.     Da  in  der  legende  von 

1)  A.  a.  0.  s.  98  ff. 


DAS   TOTENTANZPROBLEJI  279 

einem  tanz  nicht  die  rede  ist,  musste  er  für  dieses  motiv  sieh  auf  die 
Volksanschauung  vom  tanze  der  toten  berufen.  Es  blieb  ihm  für  die 
herleitung'  des  toteutanzes  aus  der  legende  nunmehr  nur  noch  die  ab- 
stufung  der  menschlichen  stände  übrig.  Diese  soll  nach  ihm  in  der 
weise  entstanden  sein,  dass  die  drei  lebenden  in  der  legende  nach 
ihren  lebensstellungen  von  der  bildenden  kunst  variiert  wurden.  Als 
urkundliche  Zeugnisse  dafür  weist  er  eine  reihe  von  darstellungen  der 
legende  nach.  Aber  im  vergleich  zu  der  zahl  der  darstellungen  der 
legende  überhaupt  sind  die  bilder,  auf  denen  die  drei  lebenden  nach 
ihren  lebensstellungen  variiert  werden,  viel  zu  selten,  als  dass  darauf 
eine  so  folgenschwere  hypothese  gebaut  werden  könnte.  Und  wahr- 
scheinlich wird  sich  durch  die  forschuug,  die  sich  neuerdings  der 
legende  zugewandt  hat,  dieses  Verhältnis  noch  mehr  zu  Ungunsten  von 
Künstles  hypothese  verschieben.  Ausserdem  erörtert  Künstle  mit  keinem 
wort  die  möglichkeit,  ob  sich  die  von  ihm  hervorgehobenen  eigentüm- 
lichkeiten  in  der  darstellung  der  legende  nicht  einfach  durch  beein- 
flussung  von  selten  der  totentänze  erklärt.  Wichtiger  aber  als  all  diese 
einwände  ist  für  unsere  frage  die  tatsache,  dass  Künstle  selbst  seiner 
hypothese  den  boden  entzieht.  Nach  ihm  findet  sich  die  erste  voll- 
ständige Überlieferung  der  legende  am  schluss  jener  Walter  Mapes  zu- 
geschriebeneu Lamentatio  et  deploratio  pro  morte,  unseres  Vado  mori 
(Künstle  s.  30  f.).  Worauf  diese  behauptung  beruht^  weiss  ich  nicht. 
Douce  (Dance  of  Death  s.  24),  der  dieses  gedieht  zuerst  erwähnt,  das 
er  in  den  beiden  obengenannten  englischen  handschriften  fand,  weiss 
nichts  davon,  dass  die  legende  den  schluss  des  gedichtes  bildet.  Wahr- 
scheinlich liegt  hier  ein  missverständnis  vor.  Wie  dem  nun  sei,  mag 
die  legende  den  schluss  des  Vado  mori  gebildet  haben  oder  nicht, 
jedenfalls  wirft  dieses  lateinische  gedieht  den  kern  von  Künstles  be- 
weisführung  über  den  häufen.  Denn  offenbar  erscheint  es  höchst 
zwecklos,  ein  resultat  mühsam  durch  den  nachweis  einer  umständ- 
lichen entwickluug  aus  der  legende  zu  erklären,  das  bei  dem  ersten 
auftauchen  der  legende  im  abendland  schon  fertig  vorlag.  In  dem 
Vado  mori  haben  wir  ja  die  abstufung  der  menschlichen  stände  schon, 
die  Künstle  aus  der  bildlichen  darstellung  der  legende  entwickeln  will. 
Für  das  tanzmotiv  bietet  seine  hypothese  keine  erklärung,  für  die 
entwicklung  der  reihe  der  menschen  im  totentanz  ist  sie  überflüssig. 
Damit  aber  fällt  sie  in  sich  selbst  zusammen.  Die  legende  von  den 
drei  lebenden  und  den  drei  toten  scheidet  also  für  die  frage  nach 
der  entstehung  der  totentänze  aus. 

Auch  das  Vado  mori  hat  eine  geschieh te,  die  durch  Jahrhunderte 

19* 


260  l'KHSE 

geht.  Wahrselieinlich  dem  15.  jahrlmiulert  g-ehört  die  französische 
Version  ;ui,  die  in  einer  Pariser  haiidsehrift  (Bibl.  nat.  7595)  entlialten 
ist,  in  der  sich  auch  die  legende  von  den  drei  lebenden  und  den  drei 
toten  tindet.  Sie  trägt  den  titel  'Mireueur  du  monde'  und  besteht  aus 
45  sechszeiligen  Strophen,  die  mit  den  worten  'Je  vais  morir  beginnen 
und  schliessen.     Der  anfang  lautet: 

Je  Tois  morir:  venes  avant, 
Tant  eil  qui  ore  estes  vivant: 
Jeunes  et  vielz,  febles  et  fort, 
Nous  sommes  tuit  jugiez  a  luort. 
Bien  povons  dire  saus  mentir, 
Chascun  de  nous:  Je  vois  morir ^ 

Kastner  (a.  a.  o.)  zitiert  unter  dem  gleichen  titel  (Miroir  de  niort) 
zwei  gedichte  von  Alain  Chartier  und  de  la  Marche  (15.  Jahrhundert). 
Leider  gibt  er  keine  genaueren  notizen  darüber.  Es  ist  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  diese  gedichte  gleichfalls  bearbeitungen  des  Yado 
mori  sind. 

Es  ist  bekannt,  dass  der  totentanz  im  15.  Jahrhundert  vielfach 
in  die  gesang-  und  gebetbücher  (heures)  eindringt.  Gegen  ende  de» 
15.  Jahrhunderts  erschien  in  Paris  ein  solches  buch,  das  zwei  toten- 
tänze  enthält:  Las  horas  de  nuestra  senora  con  muchos  otros  oficios 
y  oraciones,  Paris  1495.  Der  erste  totentanz  entspricht  der  Danse 
macabre  des  hommes  et  des  femmes;  der  zweite  bietet  keinen  eigent- 
lichen tanz,  sondern  bilder,  in  denen  der  tod  mit  einer  gruppe  von 
personen  dargestellt  ist.  Die  lateinischen  Unterschriften  zeigen  deut- 
lich die  beeinflussung  durch  das  Yado  mori. 

Nr.  5.     Vado  mori,  dives  auro  vel  copia  rerum. 

Nr.  6.     NuUum  respectum  dat  michi,  vado  mori-. 

Nr.  19.     (Kind  in  der  wiege :)  Aaa  vado  mori,  nil  valet  ipsa  iuveutus. 

Nr.  24.     (Eremit:)  Forte  dies  hec  ultima,  vado  mori. 

Melchior  Goldast,  der  die  französische  Danse  macabre  ins  latei- 
nische übersetzt  hat  (Chorea  ab  eximio  macabro  enthalten  in  der 
kompilation:  Speculum  omnium  datuum  orbis  terrarum  auctore  Rode- 
rico  episcopo  Zamorensi,  Hannovriae  1613)  stellt  vor  jedes  strophen- 
paar  ein  distichon,  das  mit  Vado  mori  beginnt  und  schliesst. 

1)  Vgl.  Les  danses  des  morts;  dissertations  et  recherches  historiques,  pbilo- 
sophiques,  litteraires  et  musicales  etc.  par  Georges  Kastner,  Paris  1852,  s.  21. 

2)  Nr.  5  und  6  gehörten  ursprünglich  zu  einem  distichon  zusammen.  Siehe 
oben  die  Variante  zu  v.  25.  26  des  Vado  mori.  Durch  die  hier  gegebene  änderuug 
ist  der  hexameter  zerstört  worden. 


DAS    TOTEXTAXZPr.OIiLEM  281 

Am  umfassendsten  ist  das  Vado  mori  bearbeitet  worden  von 
Anton  Steinhauer:  Vado  mori,  sive  via  omnis  carnis,  morte  dnce. 
Mortalibiis  in  processione  mortuorum,  monstrata  authore  Antonio 
Steinbavero  Argentoratis  typis  Melcbioris  Pauscbing-erii  1731.  Der 
Verfasser  hat  sich  die  möglichste  Vollständigkeit  zum  ziel  gesetzt,  und 
für  all  die  unzählig  vielen  kleinen  und  grossen  Variationen  der 
menschlichen  stände  variiert  er  sein  kärgliches  thema. 

Diese  kompilatorische  Zusammenstellung  macht  keinen  ansprach 
auf  Vollständigkeit.  Im  gegenteil,  ich  bin  der  Überzeugung,  dass  sich 
im  laufe  der  zeit  noch  manche  handschrift  des  ursprünglichen  Vado 
mori  auffinden  lässt  und  noch  zahlreichere  bearbeitungen  nachgewiesen 
werden.  Aber  aus  dem  vorliegenden  schon  zeigt  sich  deutlich,  dass 
das  motiv  des  Vado  mori  eine  weite  Verbreitung  neben  den  toten- 
tänzen  erlangte  und  mit  den  totentänzen  in  Wechselwirkung  stand. 

Wann  und  wo  die  anschauung  vom  reigen  der  toten  in  den  im 
Vado  mori  vorgezeichneten  rahmen  eingetreten  ist,  bleibt  eine  oifene 
frage.  Möglich  ist  es,  dass  Künstle  recht  hat,  wenn  er  das  totentanz- 
motiv  aus  dem  Orient  gekommen  sein  lässt.  Dafür  könnte  sprechen, 
dass  auch  die  beiden  andern  gedickte,  die  ähnliche  themen  behandeln, 
das  gespräch  zwischen  seele  und  leichnam  (Visio  Fulberti)  und  die 
legende  von  den  drei  lebenden  und  den  drei  toten,  orientalischen 
Ursprungs  sind.  Die  einleuchtendste  von  all  den  vielen  erklärungen, 
die  der  französische  ausdruck  Danse  macabre  gefunden  hat:  =  arab. 
tanz-d-maquabiri  (kirchhofsspiel)  weist  zudem  nach  derselben  richtung. 
Notwendig  ist  indes  die  herleitung  aus  dem  morgenland  nicht.  Die 
Verbindung  der  anschauung  vom  tanz  der  toten  mit  der  im  Vado  mori 
gegebenen  aufzählung  der  menschlichen  stände  konnte  sich  überall 
vollziehen,  wo  diese  anschauung  im  volke  vorhanden  w^ar.  Und  dass 
sie  auch  ausserhalb  der  literarischen  und  kunstgeschichtlichen  tradition 
der  totentänze  im  abendlande  vorhanden  Avar,  haben  wir  gezeigt. 

Wir  haben  uns  bisher  bei  der  aufdeckung  der  fäden,  die  sich 
zwischen  den  einzelnen  totentänzen  ziehen,  in  A^oller  absieht  auf  die 
texte  beschränkt.  Wenn  Künstle  (s.  94)  meint,  der  natürlichere  weg 
bei  der  erklärung  des  totentanzproblems  sei  der,  der  von  der  bild- 
lichen darstellung  ausgehe,  so  erscheint  uns  dies  reichlich  theo- 
retisch gedacht.  Tatsache  bleibt  doch,  dass  die  entwicklung  der  toten- 
tänze in  den  texten  deutlichere  spuren  hinterlassen  hat  als  auf  den 
bildern.  Ausserdem  bilden  die  texte  eine  ziemlich  lückenlose  ent- 
wicklungsreihe,  während  in  der  reihe  der  bilder  die  wichtigsten  selbst 
noch  Problem  sind,     (lewiss  bieten  die  totentänze  der  kunstgeschichte 


282  FEHSB 

noch  anfgrtl)en  i;emig-.  Aber  niemand  wird  sie  olme  die  engste  fühlnng 
mit  der  philologischen  forschung  lösen  wollen,  nnd  dann  wird,  wie 
A\ir  jetzt  sehen,  das  resultat  jener  noch  ausstehenden  einzelunter- 
suchungen  auch  nur  die  ergebnisse  der  textkritik  stützen;  denn  wir 
sehen  keinen  punkt,  wo  die  bildlichen  darstellungen  mit  dem  ent- 
vvicklungsgang,  der  sich  uns  ergeben  hat,  im  Widerspruch  stehen. 

Zu  beachten  ist  freilich,  dass  die  bildliche  darstellung  den  text 
von  anfang-  an  begleitet.  Auch  im  lateinischen  text  findet  sich  eine 
notiz,  die  auf  einen  Codex  albus  verweist,  der  die  dazugehörigen 
bilder  enthält.  Leider  ist  uns  dieser  Codex,  der  uns  vielleicht  den 
Zusammenhang  der  bilder  des  Heidelberger  blockl)uches  (Codex  palatin. 
nr.  438,  bl.  129" — 142-')  mit  den  Baseler  bildern  erklären  würde,  nicht 
erhalten  geblieben. 

So  bleibt  als  ältestes  totentanzbild  das  zu  dem  französischen 
text  gehörige,  das  im  jähre  1424  an  die  wände  der  beinhäuser  des 
kirchhofs  des  innocents  in  Paris  gemalt  wurde.  Solange  die  kunst- 
geschichte  uns  nicht  die  von  Künstle  (s.  83  anm.)  angeregte  neue 
Untersuchung  des  totentanzes  von  Kermaria  gibt,  müssen  wir  das 
Pariser  bild  für  das  älteste  in  Frankreich  halten.  Dieses  bild  freilich 
ist  nur  noch  in  der  kopie,  die  uns  der  druck  von  Guyot  Marchant 
(1485)  bietet,  vorhanden.  Zum  glück  sind  uns  von  dem  text  noch 
handschriftliche  kopien  erhalten,  die  vom  druck  unabhängig  sind  und 
uns,  wenigstens  soweit  es  den  text  anlangt,  zeigen,  dass  der  druck 
seine  vorläge  treu  wiedergibt.  Für  das  bild  ist  das  nicht  ohne  Aveiteres 
festzustellen,  aber  es  zeigt  sich  doch,  dass  in  Marchants  reproduktion 
an  vielen  punkten  bild  und  text  übereinstimmt,  so  dass  tief  eingreifende 
abweichungen  von  dem  Pariser  freskogemälde  schwerlich  anzunehmen 
sind.  Wir  haben  freilich  oben  (s.  30)  einen  vers  des  sergent  zitiert, 
der  im  Widerspruch  zu  dem  bilde  steht.  Es  heisst  dort:  Je  suis  pris 
de  ca  et  de  la.  Das  bild  aber  in  Marchants  ausgäbe  lässt  den  sergent 
nicht  zwischen  zwei  totengestalten  erscheinen.  Er  ist  also  nur  von 
einer  seite  aus  ergriffen.  Doch  dieser  Widerspruch  zwischen  text  und 
bild  erklärt  sich  sehr  eintach  daraus,  dass  die  von  Marchant  heraus- 
gegebene reproduktion  eine  andere  einteilung  des  reigens  aufweist 
als  das  urbild.  Der  druck  zerlegt  den  ganzen  reigeu  (einleitnng  und 
schluss  mit  eingerechnet)  in  17  arkaden,  die  links  und  rechts  von 
zwei  Säulen  begrenzt  werden.  Jede  arkade  enthält  (mit  einigen  leicht 
erklärlichen  ausnahmen)  4  achtzeilige  Strophen  mit  den  dazugehörigen 
bildern,  Dass  dies  nicht  die  alte  einteilung  des  gemäldes  an  den 
beinhänsern    des  innocents  war,   geht  aus  einer  alten  handschriftlichen 


DAS    TOTENTANZPROBLEM  283 

([uelle  hervor:  L'epitaphier  de  Paris  (Collection  Clerarabaiüt  cabinet 
des  nianuscrits,  fonds  frangais  iir.  8220).  Hier  wird  arkade  für 
arkade  der  zustand  der  beinhäiiser  des  kirchhofs  beschrieben.  Bei 
der  17.  arkade  heisst  es: 

'Icy  commence  la  Dause  luacabre  qui  dure  dix  a  read  es  desquelles 
il  y  a  six  huitains,  doiit  le  premier  cy-apres;  les  quatre  dernieres  ar- 
cades  an  ont  huit:  0  creature  raysonuable'  etc.  (.Vgl.  Valentin  Diu our,  La  danse 
raacabre  des  SS.  Innocents  de  Paris  d'apres  l'edition  de  1484  precedee  d'nne  etude 
sur  le  cimetiere,  le  charnier  et  la  fresque  peinte  en  1425,  Paris  1874,  s.  65  f.). 

Danach  wird  die  eiuteilung-  des  reigens  ursprünglich  folgende 
gewesen  sein: 

1.  arkade:  acteur,  pape.  —  2.  arkade:  empereur,  cardinal,  roi.  —  3.  ar- 
kade: patriarche,  conuetable,  archeveque.  —  4.  arkade:  Chevalier,  eveque,  ecuyer.  — 
5.  arkade:  abbe,  bailli,  maitre.  —  6.  arkade:  bourgeois,  chanoine,  marcbant.  — 
7.  arkade:  chartreux,  sergeut,  moiue,  usxirier  (pauvre  homme).  —  8.  arkade: 
m^decin,  amoureux,  avocat,  menestrel.  —  9.  arkade:  eure,  laboureur,  cordelier, 
enfaut.  —  10.  arkade:  clerc,  ermite,  roi  mort,  un  maitre. 

Nach  dieser  einteilung  ist  der  sergent  also  ursprünglich  von  zwei 
totengestalten  eingeschlossen  gewesen,  und  der  text  'Je  suis  pris  de 
ca  et  de  la'  stimmte  danach  mit  dem  bilde  überein. 

Noch  durch  eine  andere  stelle  wird  diese  einteilung  bestätigt. 
Bei  Marchaut  sind  die  gestalten,  die  in  einer  arkade  untergebracht 
sind,  zu  einem  reigen  miteinander  verbunden.  Da  infolgedessen  nur 
die  toten,  die  am  aufang  einer  arkade  stehen,  einen  arm  frei  haben, 
führen  nur  diese  ein  charakterisierendes  Werkzeug  (hacke,  spaten, 
sarg,  pfeil).  In  der  zweiten  arkade  des  druckes  (papst  und  kaiser) 
ist  diese  anordnung  jedoch  unterbrochen.  Die  beiden  paare  stehen 
unverbunden  nebeneinander.  Der  tote  des  kaisers  hat  die  linke  band 
nicht  frei,  um  den  papst  zu  ergreifen.  Er  trägt  nämlich  spaten  und 
hacke  im  arm.  Wahrscheinlich  hätte  der  druck  ohne  bedenken  diese 
Werkzeuge  fortgelassen,  wenn  sie  nicht  durch  den  text  verlangt  würden 
{Armer  nie  fault  de  pic,  de  pelle).  Auf  dem  freskogemälde  leitete 
jedoch  der  kaiser  die  zweite  arkade  ein,  und  dort  hatte  der  tote  also 
seinen  arm  frei. 

Seelmann  hat  an  dem  bilde  des  Wucherers  gezeigt,  dass  der  text 
der  Danse  macabre  erst  zur  erläuterung  des  gemäldes  hinzugesetzt  sei 
(»Seelmann  s.  22).  Um  den  Charakter  des  Wucherers  verständlich  zu 
machen,  hatte  der  maier  diesem  einen  armen  mann  zur  seite  gestellt, 
der  von  dem  Wucherer  geld  empfängt.  Der  text  gibt  nun  auch  diesem 
armen  mann  eine  Strophe.     Wäre  der  text  das  primäre,    so  wäre  dies 


284  FFJISK 

uiivcrstäiidlii'li.  Auch  die  oben  mit  dem  bilde  in  vergleich  gesetzten 
textstellen  lassen  diesen  schluss  als  richtig  erscheinen.  Es  geht  daraus 
also  hervor,  was  schon  Seelmann  in  das  richtige  licht  setzte,  dass  im 
jähr  1424  der  quelltext  der  drei  achtzeiligen  totentänze  für  die  Unter- 
schriften des  Pariser  gemäldes  bearl)eitet  oder  doch  benutzt  wurde. 
Der  gedanke,  der  diese  bearbeitung  geleitet  hat,  war  der,  dass  jede 
vom  maier  dargestellte  gestalt  eine  Strophe  des  textes  zugewiesen  er- 
halten sollte.  Damit  tiel  die  eigenartige  form,  die  der  quelltext  besass. 
Dieser  quelltext  nun  ist  sicherlich  nicht  als  begleittext  zu  einem  bilde 
geschrieben  worden.  Dem  widerspricht  die  form  (kurze  anrede  des 
todes,  Selbstgespräch  des  menschen,  erwiderung  des  todes)  und  die 
länge  der  Strophen.  Dieser  quelltext  war  dasselbe,  was  der  si)anische 
totentanz  sein  will:  ein  moralisches  gedieht,  das  selbständigen  daseius- 
wert  besass.  Der  begleittext  zu  einem  totentanzgemälde  hatte  den 
hauptzweck,  dem  besehauer  des  bildes  den  stand  der  dargestellten 
personen  anzugeben.  Im  übrigen  sprach  das  bild  für  sich  allein.  Ein 
kurzer  vers  genügte  diesem  zweck  vollkommen.  Auch  Strophen  der 
toten  waren  dazu  nicht  nötig.  Diese  einfache  und  zweckentsprechende 
form  des  begleittextes  ist  im  lateinischen  totentänze  gegeben.  Jede 
Strophe  enthält  die  Standesbezeichnung  des  betreftenden  menschen  und 
dazu  den  kurzen  gedanken :  ich  muss  sterben.  Dieser  gedanke  er- 
scheint meist  unter  dem  bilde  des  totenreigens.  Alles  moralisierende 
beiwerk  fehlt  gänzlich.  Es  war  nur  da  am  platze,  avo  das  bild  fehlte, 
eben  als  ersatz  für  die  ernste  lehre,  die  das  bild  in  die  seelen  prägte. 

So  weit  uns  also  auch  der  lateinische  text  hinaufgeführt  hat, 
zuletzt  gibt  er  die  priorität  doch  an  das  totentanzbild  ab.  Aber  die 
frage,  ob  text  oder  bild  das  ältere  ist,  hat  jetzt  nicht  mehr  die  ent- 
scheidende bedeutung,  die  sie  für  Seelmanns  Untersuchungen  haben 
musste,  weil  dieser  sich  mit  dem  widersprach  zwischen  seinem 
'dramentexte'  mit  dem  einen  tode  und  dem  reigeubilde  mit  den  vielen 
toden  abfinden  musste  (Seelmann  s.  12 ;  Ursprung  der  totentänze 
s.  8  f.).  Denn  das  bild,  das  wir  aus  dem  lateinischen  text  gewinnen, 
ist  das  gleiche,  das  der  maier  uns  vor  die  äugen  stellt:  der  reigen 
der  toten. 

Wo  dieses  gemälde,  unter  dessen  figuren  die  lateinischen  verse 
standen,  seine  statte  hatte,  wird  vielleicht  für  immer  geheimnis  bleiben. 
Dass  die  erklärenden  Unterschriften  in  lateinischer  spräche  abgefasst 
waren,  lässt  auf  ein  kloster  schliessen.  Vielleicht  fand  sich  in  der 
bibliothek  dieses  klosters  eine  abschrift  des  Vado  mori,  und  dies  gab 
den  ersten  anstoss  zu  bild  und  text. 


DAS    T0TEXTAXZPROBLE>[  285 

Wir  fassen  noch  einmal  kurz  zusammen,  was  sich  uns  schritt 
für  schritt  als  entwicklung-sgang-  der  totentänze  ergab. 

1.  In  handschriften  des  14.  Jahrhunderts  existiert  ein  lateinisches 
gedieht,  das  den  Vertretern  der  einzelnen  menschlichen  stände  je  ein 
distichon  in  den  mund  legt,  das  mit  'cado  mon  beginnt  und  schliesst 
und  den  gedanken  des  todes  je  nach  dem  stände  des  betreffenden 
menschen  variiert. 

2.  Der  lateinische  totentanztext  (Codex  palatiuus  314)  behandelt 
unter  verzieht  auf  die  stereotype  form  (vado  man)  in  g-anz  ähnlicher 
weise  das  gleiche  thema.  Wie  im  Vado  mori  sind  die  einzelnen  Stro- 
phen monologische  gefühlsäusserungen  der  menschen.  Das  sterben 
wird  hier  unter  dem  bilde  dargestellt,  dass  die  toten  die  lebenden  in 
ihren  reigen  hineinziehen.  Dieser  text  hat  von  anfang  an  keine  selb- 
ständige bedeutung  gehabt,  er  ist  begleittext  zu  einem  totentanzbilde 
gewesen. 

3.  Angeregt  durch  dieses  oder  ein  davon  abgeleitetes  totentanz- 
bild  und  beeinflusst  durch  diesen  lateinischen  oder  einen  ihm  ähn- 
lichen text,  ist  ende  des  14.  oder  anfang-  des  15.  Jahrhunderts  ein 
moralisierendes  gedieht  vom  totentanz  entstanden,  das  ursprünglich 
nicht  in  irgendeinem  Zusammenhang  mit  einem  bilde  gedacht  war. 
Dieses  fi-anzösische  gedieht  fügte  den  Strophen  der  menschen  Strophen 
des  todes  zu  ^  Trotzdem  behielten  die  Strophen  der  menschen  den 
ursprünglichen  monologischen  Charakter.  In  diesem  gedieht  ist  ferner, 
wie  die  eigenartige  form  erweist,  aus  der  Vielheit  der  toten  die  ein- 
heit  des  todes  geworden.  Hier  findet  sich  ferner  der  in  g-rösster  breite 
ausgeführte,  mannigfach  variierte  gedanke,  dass  der  tod  der  sünde 
sold  ist. 

4.  Dieses  französische  gedieht  hat  drei  schösslinge  gezeitigt:  die 
Danse  macabre,  die  spanische  DauQa  general  de  la  muerte,  den  lübisch- 
revalschen  text.  Von  diesen  dreien  blieb  der  spanische  text  wie  seine 
vorläge  ohne  Verbindung  mit  einem  totentanzbilde.  Für  das  Pariser 
bild  wurde  die  ältere  vorläge  zu  einem  begleittext  umgearbeitet,  und 
dabei  verschwand  bis  auf  drei  restspuren  die  ursprüngliche  äussere 
form,  es  l)lieb  aber  der  alte  monologisciie  Charakter  der  Strophen  der 
menschen  gewahrt.  Der  spanische  und  niederdeutsche  text  bewahren 
getreu  die  äussere  form,  entwickeln  die  innere  form  aber  weiter  zum 
reinen    dialog.     Die    benutzung    eines    älteren    gedichtes,    das    infolge 


1)  Möglicli  ist  natürlich    auch,    dass    ein   Zwischenglied    des   lateinischen  und 
dieses  textes  die  Strophen  des  todes  resp.  der  toten  eing-eführt  hat. 


286  FEHSE,    DAS   TOTENTANZIMIOBLEAI 

seines  niornlisiereiulen  Zweckes  die  toten  durch  den  tod  ersetzt,  als 
beg-leittext  eines  totcntanzreigens  hat  in  Paris  und  in  Lübeck  zur 
tolg-e,  dass  zwischen  text  und  bild  ein  Widerspruch  entsteht. 

5.  Der  lateinische  text  findet  mit  dem  dazugehörigen,  in 
einzelne  paare  aufgelösten  bilde  handschriftliche  Verbreitung. 
Gegen  anfang  des  15.  Jahrhunderts  etwa  wird  er  in  vierzeiligc  deutsche 
Strophen  übersetzt.  Diese  Übersetzung  wird  später  durch  vierzeilige 
Strophen  der  toten  erweitert.  Diese  Strophen  der  toten  sind  aus  der- 
selben anschauung  heraus  geboren  w^ie  der  totentanzreigen.  Der  ober- 
deutsche text  spiegelt  also  die  ursprüngliche  gestalt  des  totentanzes 
getreu  wieder,  wlihrend  die  dazugehörigen  bilder,  weil  sie  infolge 
der  handschriftlichen  Verbreitung  in  paare  zerlegt  sind,  nicht  mehr  die 
toten,  sondern  den  tod  zu  zeigen  scheinen.  Bilder  und  text  fanden 
weitere  Verbreitung  als  holzschnittzyklus  im  Heidelberger  blockbuch, 
das  wahrscheinlich  die  in  der  lateinischen  handschrift  H^  erwähnten, 
leider  verloren  gegangenen  bilder  benutzt  hat.  Die  gleichen  bilder 
haben  dann  durch  irgendein  mittelglied  nach  Basel  hingewirkt  und 
die  indirekte  vorläge  für  das  Klingentaler  bild  abgegeben.  Auch  hier 
wurde  der  reigen,  w^ie  die  bilderhandschriften  und  blockbücher  ihn 
boten,  in  einzelneu  paaren  dargestellt.  Der  rahmen  wurde  hier  durch 
15  neue  paare  erweitert.  Der  text,  der  zu  diesen  15  paaren  neu 
gedichtet  wurde,  hat  die  alte  anschauung  vom  reigen  der  toten  ver- 
loren, er  führt  statt  der  toten  den  tod  ein. 

Während  die  ähnlichkeit  der  bilder  des  Heidelberger  block- 
buches  H  ^  mit  den  Baseler  bildern  die  annähme  einer  ganz  bestimmten 
tradition  bedingt,  ist  das  Münchener  blockbuch  (Codex  xylogr.  monac. 
nr.  39),  wie  schon  Götte  (Holbeins  Totentanz  und  seine  Vorgänger) 
gezeigt  hat,  eine  nachträgliche  Illustration  des  textes  \  die  ausserhalb 
des  Zusammenhangs  steht,  der  sich  zwischen  dem  Heidelberger  block- 
buch und  den  Baseler  bildern  zeigt. 

1)  Ein  schlagender  beweis  dafür  ist  das  bild,  das  zum  strophenpaar  des 
ritters  gehört: 

Her  ritter,  ir  seid  angesehribeu 

Dar  ir  ritterschaft  nii  müst  treiben 

Mit  dem  tod  und  seinen  knechten  usw. 
Der   tote   hält   auf  der  illustration    dem    ritter    ein    blatt   vor,    auf   dem   er   'ange- 
schrieben' ist. 

BURG   BEI   ÄIAGDEBURG.  WILHELM   FEHSE. 


GRABE!?,   HEINKICH   VON   DEM   TURLIN    UND   DIE   SPRACHFORM    SEINER   KRONE         287 

HEINRICH  YOX  DEM  TÜRLiN  UND  DIE  SPRACHFORM 

SEINER  KRÖNE. 

(Schluß.) 

C.  M  h  d.  ei  <  -age,  -^9^,  -ede '. 

In  Heinrichs  v.  Turlin  munclart  hat  es  neben  den  formen  saget,  jaget,  klaget, 
maget  auch  kontrahierte  auf  -eit  gegeben,  welche  nach  Zwierzina  bei  bayr.-österr. 
dichtem  gegenüber  den  ei  <  e^e-bindungen  in  überwiegender  mehrzahl  btehen. 

In  den  md.  mundarten  ist  der  aus  der  kontraktion  von  -aget  resultierende 
diphthong  ei  nicht  gleich  dem  alten  ei.  Bei  den  bayr.-österr.  dichtem  kommen  im 
Verhältnis  zu  seit,  geseit  u.  a.  die  binduugeu  leit,  geleit  viel  seltener  vor;  eget  hat 
hier  seine  besondere  entwicklung. 

Zu  diesem  resultate  Zwierzinas  stimmt  auch  die  Untersuchung  der  reime  der 
Krone.  Ich  zähle  130  seit,  seist,  geseit  <  -aget,  welche  zu  altem  -eit  usw.  gebunden 
sind:  161.  261.  917.  1022.  1540.  2012.  2598.  2942.  3802.  3986.  4036.  4126.  4335. 
4456.  4526.  4725.  4852.  4896.  4943.  5039.  5221.  5254.  5693.  6189.  6966.  7315. 
7826.  7912.  7949.  8154.  8410.  8508.  8763.  8953.  9799,  9863.  10105.  10  262.  10  348. 
10686.  10790.  10811.  11036.  11511.  11743.  11812.  11858.  12311.  12466.  12738. 
13079.  13  745.  13  898.  14  639.  15261.  15,362.  16137.  16342.  16776.  16836,  16997. 
17  4.56.  17  557.  17  563.  17  605.  17821.  17  856.  18119.  18233.  18  705,  19190.  19  295. 

19  568.  19  979.  20  083.  20  170.  20597.  20882.  21171.  21200.  21291.  21336.  21656. 
21706.  21742.  21805.  21835.  21864.  21959.  22  039.  22  238.  22  309.  22  569.  22  688. 
23190.  23  405.  23504.  23618.  23  992.  24823.  25  268.  25450.  25  734.  25980.  26  622. 
26  656.  26  819.  26  976.  27  261.  27296.  27  483.  27  512.  27630.  27  798.  27  824.  27976. 

28  474.  28  591.  28  667.  28  721.  29  044.  29  205.  29401.  29  448.  29  476.  29563.  29  578. 

29  615.  29  701.  29  778.  29  817. 

Wichtig  ist,  daß  Heinrich  zwischen  er  seit,  du  seist,  ir  seit  (<  saget  usf.) 
im  praes.  ebensowenig  einen  unterschied  kennt  wie  zwischen  dem  nach  seiner  art 
apokopierten  ind.  und  conj.  praeteriti.  Das  part.  praet.  der  weiter  unten  ange- 
führten verba  zählt  durchweg  zu  den  kontraktionsformen.  Ausserdem  findet  sich 
nieit  <  maget  19 mal:  7638.  7718.  8611.  8702.  9773.  12  427.  13  836.  16  260.  18  798. 

20  365.  20  420.  20  595,  21230.  21680.  21752.  22  993.  25  043.  25688.  28696,  welche 
auf  altes  -eit  gereimt  sind  und  55  meide{n)  als  form  für  die  casus  obliqui  des  sing, 
und  den  ganzen  plur.  Bei  Heinrich  geht  meide  auf  mägede,  nicht  auf  megede 
zurück.  1936.  3137.  6105.  6984.  7134.  7844.  8417.  8525.  9013.  9295.  9604.  9680. 
10  915.  11525.  12  680.  13.524.  13671.  13696.  13  769.  14  261.  14  754.  16735.  17  038. 
17  127.  17  381.  17  853.  17  946.  18013.  18  713.  18  941.  19  005.  19043.  19102.  19  449. 
20  869.  20  599.  20  776.  20996.  21783.  21927.  22194.  23125.  23  770,  24  256.  24727. 
25016.  25  113.  25572.  25  961,  28414.  28422.  29357.  29411.  29611.  29672. 

Zu  seit  (<  saget)  steht  bei  Heinrich  auch  jeit. 

jeit  (<  Jaget)  reimt  21  mal  auf  altes  -eit:  2036.  2081.  2256.  2417.  3872.  9964. 
11753.  12488.  14198.  14266.  15  243.  15565.  16231.  16777.  18474.  21587.  22628. 
23  275.  23  364,  25  426.  25  522;  12  mal  kleit  <  klaget  :  -eit  :  463.  1868,  11477.  13981. 

1)  Vgl.  s.  1.54.   162.  170. 


288  «RAP.KR 

16  944.  20  071.  20  852.  21279.  21 4G8.  21837.  25  425.  28  698;  sechsmal  verzeit 
(<  versaget)  auf  -eit  :  4397.  6565.  21337.  21494.  22  041.  28  950. 

Dazu  kommen  dann  noch  die  26  reime,  wo  Jeit,  verseif,  meit,  kJeit,  geseit  zu- 
einander gebunden  sind:  6904.  7065.  7699.  9523.  9692.  9593.  9827.  12  612.  13  556. 
14142.  14  089.  15  390.  15985.  16  503.  16465.  16155.  16  516.  17309.  18  844.  18893. 

18  859.  19  163.  19  474.  21  098.  23  041.  27  748. 

Ebenso  wird  hchdt  (<  behaget)  und  verdeü  (<  verdagct)  zu  seit  (<  saget) 
gebunden:  27  912  und  5360.  25  557. 

Diesen  kontrahierten  formen  steht  vielleicht  gar  kein  (ge)saget,  hejaget, 
maget  usw.  gegenüber,  da  die  bindungen  von  versagt,  magt,  gesaget,  klaget,  be- 
haget, taget,  jaget  untereinander  ebensogut  ei-  als  ^^-formen  vorstellen  können.  Denn 
es  findet  sich  darunter  auch  nicht  ein  beispiel,  für  das  bei  Heinrich  nicht  zugleich 
kontraktion  feststünde :  2225.  2388.  3573.  3S76.  4518.  4799.  7143.  7867.  8393.  8903. 
9661.  10  245.  10  385.  11244.  13  214.  13  657.  14  933.  16  084.  16  276.  16  574.    17  069. 

17  487.  17  614.  17  742.  17  891.  17  995.  18  615.  18  959.  19178.  19  413.  19  453.  20  458. 
20  627.  21304.  21542.  21792.  21950.  22  216.  22454.  22  836.  22  904.  23035.  23  213. 
23  302.  23  382.  23  994.  24693.  24796.  25061.  25124.  25  221.  25  232.  25612.  25585. 
25  631.  26  656.  25  818.  26  090.  26966.  27284.  27  833.  28  083.  28  603.  28678.  28  938. 
29  390.  29  729.  29  784. 

Dieser  grossen  zahl  von  -eit  <  -o^ei-reimen  stehen  auf  der  anderen  seite 
nur  27  leit  <  leget,  reit  <  regete  und  gepfleit  <  gepfleget  gegenüber:  191.  519.  1100. 
3407.    6801.    6929.    7116.    7746.   8436.  11308.  12603.  13925.  14303.  14919.  19203. 

19  806.  20  236.  26  390.  23  263.  23441.  24  330.  25  941.  28860.  29  311  und  29  978. 
leit  <  legete  :  reit  (praet.)  1816 ;  geleit  <  geleget  :  gereit  <  geredet  3204. 

freit  wird  dreimal  zu  altem  -eit,  zweimal  zu  ^jfleif  <  pfleget  (1753.  1136, 
also  nur  ganz  zu  anfang  des  gedichtes)  gebunden,  steht  daher  nicht  wie  das  oben 
erwähnte  jeit  <  jaget   zu   saget,    sondern    zu  leget.     Sonst  reimt  es  noch  auf  bereit 

<  beredet  4344;    auf   altes   -eit:  1314.  15  914.  24  276;    und  nur  einmal  auf  verkleit 

<  verklaget  18  749. 

Ein  teit  <  tagef(e)  findet  sich  in  der  Krone  13138  zu  leit  <  legete  gebunden; 
daher  ist  die  konjektur  Ehrismanus  für  4013:  ald  das  es  schiere  feite  sehr  gut  an- 
nehmbar. Trotzdem  möchte  ich  mit  Singer  mich  näher  an  die  hs.  halten  und  lesen: 
ald  das  er  schiere  reite. 

Das  subst.  gejeide  reimt  4 mal  auf  altes  -eide.  Wie  meide  geht  es  daher  auf 
gejägede  zurück:  6528.  18  69C.  22  698.  24162.  Zwierzina  weist  nach,  dass  die  eut- 
wicklung  von  altem  agi  über  äyi  zu  ei  etwas  spezifisch  österreichisches  ist. 

Zu  den  auffallenden  bindungen  gehören  die  16  reime  (den  bereits  zitierten 
V.  13 138  mitgezählt)  von  eit  <  cget  :  eit  <  aget :  8054  gepfleit  <  -eget  (part.)  :  meit 

<  maget:  212-10  :  seit   <  saget;   dazu    tritt   der    schön    erwähnte   v.  18  749;    geleit 

<  -leget  :  seit  <  saget  10  607 ;  :  seit  :  r/chheit  (hier  zugleich  mit  altem  -eit  ver- 
bunden!) 22  201;  ;  bejeit  <  bejaget  20  314;  bejeit  <  bejagete  :  Sicherheit  (wieder  mit 
altem  eil)  18,526;  :  meit  <  maget  18  660;  20  689;  :  geseit  <  gesaget  24  664;  :  seit  < 
sagete  24  996;  :  verseif  <  versaget  23  671;  :  verseif  <  verzagete  14498;  ferner  iveit 

<  wegete  :  leit  <  legete  665  und  geleit  <  -eget  :  gepfleit  <  -eget  22  123 ;  doch  kann 
es  sich  in  den  beiden  letzten  beispielen  auch  um  ^-formen  handeln. 

Damit,  dass  reime  vorhanden  sind,  die  -eit  <  -aget  mit  -eit  <  -eget  und  beide 
kontraktionen  mit  altem  -eit  vereinen,  ist  noch  nicht  bewiesen,  dass  die  laute  in 
Heinrichs   spräche   ganz   gleichstanden.     Sie   können   in   einzelnen  werten,    wie   es 


HEINRICH   VON    DEM   TURLlN   UND   DIE    SPKACHFORM    SEINER   KRÖNE  289 

sich  bei  ei  und  /  zeigt,  auf  dem  wege  der  ausgleichung  gewesen  sein,  aber  durcli- 
geführt  war  dieser  prozess  noch  nicht:  das  beweist  das  Verhältnis  der  cit  <  aget- 
reirae  zu  den  eit  <  c^ie^-reimeu  (welches  beiläufig  so  wie  7:1  steht)  bis  zur  evidenz. 

ei  <  ege  gieng  bei  Heinrich  wie  bei  den  übrigen  Österreichern  seine  eigenen 
wege.  Dass  die  kontraktion  nicht  obligatorisch  war ,  erhellt  aus  den  ^-formen  :  13  122 
legest  :  mögest  und  17  399  ir  pfleget  .-  ir  l^gei.  Diese  verschwindend  kleine  zahl  von 
-ege  kann  nicht  auffallen,  da  die  binduugen  -egest,  -cget  in  der  Krone  überhaupt 
fehlen  und  die  2.  pers.  sing,  sowie  die  2.  pers.  plur.  im  reime  bei  allen  dichtem  zu 
den  seltensten  bindungen  gehören.  Aber  auch  diese  zwei  fälle  sprechen  es  deutlich 
aus,  dass  in  Heinrichs  v.  T.  spräche  die  kontraktioneu  aus  -(ge  und  -age  i-äge)  ver- 
schieden behandelt  wurden.     Das  ergebnis  ist  also  folgendes: 

In  der  Krone  treten  die  bindungen  von  -ei  <  cge  zu  ei  <  age  oder  zu  altem 
rahd.  ei  so  auffällig  zurück,  dass  man  annehmen  muss,  die  ei  <  f^/e-formen  seien 
der  mundart  des  dichters  nicht  geläufig  gewesen,  in  den  wenigen  kontrahierten 
-f,9f-formen  aber  lägen  sogen,  'literarische  reime'  vor.  Nochmals  betone  ich,  dass 
-af/L-forraen  neben  den  -e«-formen  gänzlich  zu  fehlen  scheinen  ^ 

Ahnlich  wie  ei  <  ege  verhält  sich  der  diphthong  ei,  welcher  aus  der  kon- 
traktion von  -ede  entstanden  ist. 

Es  reimt  eit  <  ecZei;  altem  eit  in  folgenden  versen :  ^22  gereit  {<  geredet} 
geivonheit,-  :  bereit  (adj.)  4574;  :  behendeJceit  7466;  :  reif  (praet.  riten)  18  779;  praet. 
reit  (<  redete)  :  törperheit  11  786. 

eit  •<:  edet  wirdzu  eit  <  eget  gebunden  in  folgenden  reimen:  reit :  ireit  5; 
bereit  :  treit  4344 ;  gereit  :  gtleit  3203. 

eit  <  edet  :  eit  -^a g et  erscheint  in  der  apokopierten  form  reit  :  jeit  14560. 

Dazu  treten  noch  folgende  reime,  welche  von  Zwierzina  (Zfda.  42,  366)  über- 
sehen worden  sind.  In  die  erste  gruppe  gehören:  16  622  Sicherheit  :  leit  (adj.)  :  gereit, 
in  die  zweite  1815  gereit  :  leit,  in  die  dritte  10214:  gej-eit  :  seit ;  8^67  :  meit  und 
endlich  6058  reit  :  jeit. 

Wieder  ergibt  sich  also,  dass  ei  <  ege  seine  gesonderten  wege  geht,  denn 
das  aus  -(ge  resultierende  ei  reimt  nur  viermal  mit  ei  <  ede,  während  es  anderer- 
seits sechsmal  zu  altem  ei  und  dreimal  zu  ei  <  age  gebunden  wird.  Es  fällt  auf,. 
wie  gesetzmässig  und   genau  Heinrich  v.  T.   reimt,   wenn   wir   erwägen,    dass   die 

1)  Ein  blick  auf  die  lautverhältnisse  der  heutigen  kärntkschen  mundart 
bestätigt  die  Vermutung  über  die  verhältnismässig  grosse  anzahl  der  reime  von 
eit  <.  eget  :  eit  <  aget  oder  altem  -eit.  In  einzelnen  mundarten  muss  die  ausspräche 
des  aus  -fge  kontrahierten  ei  dem  ei  <  age  einerseits  und  dem  mhd.  ei  andererseits 
nicht  sehr  ferngestanden  haben,  wie  die  wenigen  erhalteneu  kontraktionsformeu  der 
heutigen  südkärntischen  dialekte  beweisen:  das  ei  in  mhd.  getreide,  gejeidc,  eide 
<^  egede,  nageber  fällt  mundartlich  in  eins  mit  der  ausspräche  des  mhd.  diphthonges 
ei:  beide  werden  als  hohe  ä  gesprochen:  fräd,  giäd,  ädn,  näin:  In  den  nördlichen 
dialckten  ist  aber  der  unterschied  zwischen  trnad,  gipad  und  ädn  noch  lieute  deut- 
lich erkennbar. 

Aus  den  gegenwärtigen  verbalfornien  lässt  sich  weder  für  die  ei  -  age-  noch 
fiir  die  ei  <  e//e-gruppe  ein  urteil  über  die  voraufliegenden  Verhältnisse  bilden,  da 
die  kontrahierten  formen  der  liicrhergehöri;;eu  verba  nicht  mehr  gesprochen  werden. 
Denn  schon  zu  mhd.  zeit  giengen  die  ,9-formen  neben  den  e«-formcn  her  und  ver- 
drängten diese  im  laufe  der  zeit  infolge  des  systemzwanges.  .Jedcsfalls  aber  geht 
aus  der  behandlung,  welche  der  aus  age,  resp.  cge  resultierende  diphthong  in  der 
Krone  erfährt,  das  eine  mit  Sicherheit  hervor,  dass  Heinrich  v.  d.  Turlin  in  die 
bayr.-österr.  gruppe  von  Fischers  tabelle  einzureihen  ist. 


■290  GRABER 

summe  der  biudungen  ei  <;  ede  mit  ei  <  age  und  ei  -;  ede  mit  altem  ei  zur  auzahl 
der  binduugen  ei  <  ede  :  ei  <  f^e  sich  verhält  wie  9:4;  gleichviel  beträgt  die 
summe  der  biudungen  von  ei  <  ede  mit  ei  <  af/e  +  ei  <  prfe  mit  altem  ei  im 
Verhältnis  zu  den  reimen  ei  <  ede  :  ei  <  f^e,  nämlich  32:16,  das  heisst: 

Der  aus  der  kontraktion  von  ede  entstandene  diphthoug  ei  unterscheidet  s^ich 
in  der  ausspräche   von   dem  laute  ei  <  ege  genau  in  gleichem  masse,   als  dieses  ei 

<  ege  vom  alten  diphthong  ei  verschieden  war.  Umgekehrt  ist  die  differenz  der 
laute  ei  und  ei  <  ede  viel  geringer  als  der  unterschied  von  el  <  ege  und  altem  ei. 
Zieht  man  nun  noch  die  ergebnisse  der  Untersuchung  über  die  kontraktion  von 
age  >  ei  in  betracht,  so  zeigt  sich,  dass  der  laut  ei  <  age  dem  alten  ei  bei  weitem 
näher  kommt  als  ei  <  ege.  In  der  mitte  zwischen  ei  <  age  und  ei  liegt  aber 
noch  ei  <  ede. 

Auch  bei  dieser  lautgruppe  fehlt  die  möglichkeit,  aus  der  heutigen  mundart 
irgendeine  Schlussfolgerung  auf  den  lautwert  des  ei  <  ede  in  früheren  spracli- 
zuständen  zu  versuchen,  da  der  dialekt  die  kontraktionsformen  verloren  hat.  Xur 
im  Lesachtal  spricht  man  noch  seit  für  sagt^. 

Die  nun  folgende  reimgruppe  führt  uns  aufs  gebiet  der  verschiedenen  i- 
biudungen. 

In  der  Krone  wird  nämlich  dreimal  I  :  ei  gebunden,  und  zwar:  saniit  :  geleit 

<  geleget  2831;  zit  -.geleit  <  geleget  25.566  und  arzenl  :  ensirei  8840. 

An  diesen  reimen  fällt  sofort  auf.  dass  zweimal  nur  ei  >  ege,  nicht  aber 
altes  ei  oder  gar  ei  >  age  zu  i  gebunden  wird.  Demnach  steht  zwar  fest,  dass  in 
Heinrichs  dialekt  ?  bereits  diphthongiert  wurde,  der  neue  laut  ei  aber  dem  alten 
so  unähnlich  war,  dass  sie  nicht  unter  einem  reimbande  stehen  konnten,  während 
ei  <  ege  über  äge  dem  diphthongierten  /  doch  wenigstens  nahekam. 

Gehen  doch  bis  in  die  jetzige  kärntische  mundart  hinein  die  wege  beider 
laute  meist  auseinander-. 

Wohl  aber  geht  altes  ei  mit  ei  <  ege  in  der  mundart  dieselben  wege:  beide 
erscheinen  als  hohes  a  :  lad  leid  und  träd  getreide,  wähi-end  mhd.  i  davon  gesondert 
steht  und  als  wi  erscheint. 

Für  Krone  8840  schlägt  Zwierzina  ärzetei  vor.  Dieses  eie,  ie  wird  nicht 
diphthongiert,  sondern  hier  hat  man  es  mit  Wucherbildungen  zu  tun  (Zfda.  44,  382j. 

Zwierzina  verbietet  ferner,  die  bindungeu  von  ei :  ■/  als  keunzeichen  bayr.- 
österr.  provenienz  anzusprechen. 

Wie  schon  Warnatsch  erwähnt,  gehören  1137  treit  :  pfleif,  1754  2)fleit  :  trat 
und  25  942  zageheit  :  leit  nicht  dazu.  Denn  erstens  gebraucht  Heinrich  v.  d.  Turlia 
'pflegen''  auch  als  schwaches  verbum,  wie  das  part.  gepfleit  <  -eget  wiederholt  beweist 


1)  Im  anschluss  an  die  ez-reime  sei  auch  erwähnt,  dass  Heinrich  zu  scheiden 
ein  unorganisch  gebildetes  schiden,  scheit,  schiden.  geschiden  kennt,  welches  sonst 
bei  keinem  dichter  belegbar  ist :  24  827  schcit  :  reit. 

2)  So  werden  die  aus  mhd.  ei  entstandenen  hohen  a  in  lud  glatt,  Jtälig  heilig, 
rän  rain,  anhöhe,  fdst  feist,  jjrät  breit,  läfu,  äg»  =  Itädn  beide  usw.  ganz  anders 
gesprochen  als  der  aus  mhd.  i  entstandene  diphthong  cei  in  tseeit  zeit,  pueii  biene, 
rwidn  zu  rideti  die  Windung.  Daneben  finden  sich  beiderseits  abweichungen :  neben 
spceil,  tsceil,  pfceil  spricht  man  auch  späl  usw.,  neben  drsceider  seither,  später,  ütneit 
streit  und  drceifms  auch  noch  die  älteren  formen  drsldr,  stnt,  drifuas,  rncmsn 
rcibeisen;  ebenso  statt  des  zu  erwartenden,  sonst  regelmässig  eintretenden  a  ein  cei 
in  geeist  geist,  ft(ei^  fleisch,  rcein  rein. 


HEINRICH   VON   DEM   TURLlN    UND   DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRONE  291 

(8054.  8437.  21  240.  22  124),  und  dauii  lässt  sich  aus  der  Kroue  kein  einziges  pflit 
<  pfliget  im  reime  nachweisen. 

In  klingendem  reim  i  :  ei  zu  binden,  gestattet  die  spräche  Heinrichs  noch 
nicht  so  durchgehends.  Nur  ein  reim  scheint  dafür  zu  sprechen:  Scholl  druckt 
27  394  Als  er  iif  von  der  Uten  Den  herc  loolte  sUgen,  Von  ietwederm  sigen  .  .  . 
Vernarn  er  vil  micheln  schal.  Ehrisraann  schlägt  vor,  seigen  'tälchen,  durch  welches 
das  wasser  abfliesst,  schlueht'  für  s^gen  zu  setzen.  Und  in  der  tat  passt  kein  anderes 
wort  wie  dieses  an  die  stelle.  Dazu  ündet  sich  im  heutigen  kärntischen  das  ent- 
sprechende sägn  oder  säg  'Wasserscheide,  bergrücken'.  Die  bedeutung  'bergrücken' 
nehme  ich  für  das  wort  auch  an  der  bezeichneten  stelle  der  Krone  in  anspruch. 
Mit  sigen,  welches  Lexer  II,  917  belegt,  'das  sinken',  ist  hier  nichts  anzufangen, 
obschon  das  verb.  sigen  'sinken,  niedersteigen'  3mal  im  reime  steht :  1425.  6039. 
26  203. 

D.  Die  (■ -laute. 

1.  Bindungen  von  i:t  werden  in  der  Krone  ausnahmslos  gemieden.  Bei 
Eeissenberger  (s.  20)  stehen  folgende  reime:  hüneghi  :  in  1297.  11220.  11480; 
kiinigin  :  hin  2102.  10  998.  11  634.  24  512.  Heinrich  reimt  aber  künigin  immer  nur 
auf-/«  (Vgl.  751.  2102.  4837.  12  401.  13  754.  18  755.  22  214.22  296.22  931.29  772.). 

Auch  die  zwei  femininbildungen  auf  -in  oder  -in :  vriundin  und  wirtin  werden 
konstaut  mit  kürze  gebunden:  16  271.  12  017.  13  661.  6940.  7338.  Wirnt  v.  Graven- 
berc  und  Hartmann  reimen  das  fem.-sufiSx  auf  kürze  und  auf  länge.  Doch  zieht 
jener  -in  vor,  während  Hartmann  -inne  bevorzugt  wie  Heinrich  von  Turlin,  bei 
dem  ich  abweichend  von  Zwierzina  25  femininbildungen  auf  -inne  zähle: 

moerinne  :  tiocrginne  1602;  vriundinne  :  minne  1909.  9087.  10  804.  13  704. 
24098.  24185.  24  214;  :  dar  inne  9198;  -.sinne  23  914;  ivirtinne  :  minne  6757; 
gotinne  :  minne  14  990.  23  227.  24  518;  :  inne  28  406;  gottinnen  :  sinnen  22198; 
välantinne  :  kinne  9375;  :  inne  9466;  kilniginne  :  sinne  2386.  10  391.  11628;  -.ge- 
winne 4997.  5393.  12  353;   -.minne  20  388. 

Heinrichs  geläufigere  formen  sind  also,  gerade  entgegengesetzt  der  behauptung 
Zwierzinas,  die  auf  -inne. 

AVas  in  Scholls  text  sonst  noch  zu  den  bindungen  i :  i  zu  zählen  wäre,  ist 
durch  glückliche  konjekturen  als  beseitigt  anzusehen.  Warnatsch  vermutet  4547 
wizzct  fimperat.)  ;  vlizet  (2.  pers.  plur.)  mit  recht  statt  des  2.  reimwortes  ein  ur- 
sprüngliches vUzzet  ^  Ebenso  ist  mit  Haupt  13  522  wissen  :  enh/zen  (inf.)  der  zweite 
vers  so  zu  lesen:  E  du  noch  sist  enbizzen;  nicht  nur,  weil  dadurch  der  ungenaue 
reim  eliminiert  wird,  sondern  der  sinn  der  stelle  es  erfordert.  12  716  durch  solher 
rede  sit  :  hochzit  kann  nicht  bestehen  gegen  die  konjektur  von  AVaraatsch:  Er 
sprach:  sit  (weil)  ir  her  komen,  vrouwe,  durch  solhe  rede  s/t.  Die  Verbindung  von 
sit  mit  einem  abstraktum  läge  Heinrich  v.  T.  gar  nicht  so  fern  (183  in  tagende  sit: 
419  heiles  sit;  891  gUcher  ivirde  ganzer  sit;  6229  mit  vröuden  siten ;  20  038.  20  489 
vröuden  siti^^),  wenn  sich  nur  die  bindung  -ii :  -U  aus  der  Krone  sonst  belegen  liesse. 

Für  die  sogenannte  'dehnung'  des  i  führt  Weinhold,  B.  gr.,  §  51  aus  der 
Krone  den  vers  28  395  an:  hi  (praep.-adv.)  ;  liin.    Der  ausdruck  'dehnung  des  /' 

1)  Bezüglich  des  Zeitenwechsels  vom  haupt-  zum  ncbensatz  init  sioie  vgl.  z.  b. 
10  874,  wo  auch  im  hauptsatze  das  praes.  und  im  konzessivsatze  mit  swie  das 
praet.  steht! 


2f»2  GRAUER 

ist  unhaltbar,  da  die  belegstellen  deutlich  ergeben,  dass  Heinrich  in  nur  auf  -ia 
und  nicht  ein  einziges  mal  auf  -ia  reimt:  in  :  hin  862.  5762.  9494.  13  302.  20  585. 
26  721.  27  142.  28  826.  29  804;  :  geivin  6643.  25  220;  :  imgewin  5797;  :  unsin  11  692; 
:  seh  in  (couj.  praet.)  11795;  :  bin  1673.  4492;  :  sin  1121  \  küui/jin  :  dar  in  3366 
und  12  377. 

Im  gebrauche  der  kurzen  form  zeigt  sich  Heinrich  als  uachahmer  Hartmanns, 
während  Wolfram  nur  in  sagt,  Wirnt  aber  die  formen  beider  dichter  verraisclit. 

Desgleichen  sprach  unser  dichter  den  dat.  drin  nur  kurz,  weil  er  ihn  nur 
auf -/«reimt:  3287.  3599.  4310.  5344.  26  099.  27  234.  28  245.  28  446.29  298.29  7.55. 
Wieder  folgt  er  im  gebrauche  von  drin  seinem  vorbilde  Hartmanu,  aber  auch  Wirnt, 
während  Wolfram  drin  sagt. 

Warnatsch  behauptet,  dass  Heinrich  v.  T.  in  der  Krone  i  :  i  nur  vor  aus- 
lautendem   n   reime:    4888    Sgardin    (nach  V)  :  in  und  givin;  Flarsenstphin  :  hin 

17  894;  :  sin  17  943;  :  hin  18  609,  obwohl  der  dichter  sonst  in  und  -in  streng  aus- 
einanderhalte. Allein  die  reime  von  -in  zu  den  endsilben  fremder  eigennamen  be- 
weisen noch  immer  nicht  die  dehnung  des  /,  da  Heinrich  die  ersteren  als  anceps 
behandelt. 

Noch  in  zwei  fällen  wäre  man  durch  Scholls  text  versucht,  eine  solche 
'dehnung'  des  kurzen  i  anzunehmen:  6056  und  27  062.  Besieht  mau  aber  die  erste 
stelle  genau  und  erwägt,  dass  von  vers  6035  an  bis  6070  jede  zeile  zwei  gegeu- 
sätze  enthält,  so  ergibt  sich  von  selbst  der  richtige  Wortlaut  für  6057 :  ez  vcrtreit 
undt  richet  'es  (das  glück)  lässt  etwas  nachsichtig  hingehen  und  bestraft  es  doch 
wieder'. 

Dass  endlich  27  063  hin  :  sin  nur  eine  falsche  konjektur  Scholls  vorliegt,  hat 
bereits  Zwierzina  betont. 

Von  adjektivableitungen  auf  -l7ch  mit  kürze  verzeichnet  Zwierzina  3  reime: 
hillich  :  ich  :  t:ich  5062.  10  756;  ferner  lobelich  :  ich  2356.  Dazu  finde  ich  noch 
4966  billich  :  mich. 

Nie  gebraucht  Heinrich  v.  T.  gelich,  sondern  reimt  gelich  immer  auf  länge. 
gelichie)  {näj.)  :  lich{e)  (corpus)  99.    14  380.    16  526.    20  080;    :  riche    15  686.    17  728. 

18  618.  18  668.  29  385;  acc.  glichen  :  riehen  (inf.)  21582.  Daher  beweisen  sämtliche 
bindungen  von  -lieh  mit  gdich  auch  für  jene  die  länge  des  i  —  es  sind  deren  14. 
Ferner  erhellt,  dass  das  adj.  gelich  und  das  suffix  -lieh  getrennte  wege  gehen, 
wenngleich  die  -Itch  gegen  die  -lieh  fast  verschwinden.  Die  adjectiva  auf  -lieh 
werden  ausser  in  den  oben  angeführten  reimen  sonst  konstant  zu  länge  gebunden. 
Man  kann  also  behai;pten: 

In  der  Krone  herrschen  die  -lieh  gegenüber  den  kurzen  -lieh  vor.  Die 
adverbia  auf  -lieh,  -liehe,  -liehen  bieten  eine  grössere  mannigfaltigkeit  als  die 
adjectiva.  Heinrich  bildet  drei  adverbialformen:  gelich  mit  apokopiertem  e  reimt 
auf  rieh  1884.  4352 ;  :  Heinrich  10  444.  Aus  den  beiden  ersten  reimen  steht  die 
länge  für  das  adv.  gelieh  fest.  Um  so  mehr  muss  die  namensform  Heinrich  auf- 
fallen.    Der  name  reimt  bei  Hartmanu  nie  anders  als  auf  kürze. 

Demnach  darf  man  auch  den  indifferenten  reim  Friderieh  :  Uolrich  2443 
mit  länge  schreiben. 

4mal  wird  das  adv.  auf  adjektivableitungen  gereimt:  gelich  :  kiimberlieh  4917; 
:  iegesUeh  5141;  :  eislich  9331 ;  ;  rilich  18  341;  das  ad\.j(eirUeh  :  iegelich  (adj.)  5479. 

Die  zweite  adverbialform  hat  das  e  erhalten:  geliche  :  iegliche  25  388;  eivic- 
liche  :  himelriehc  (dat.;  30  037;  :  riclie  (pl.J  4445.     Die   übrigen    adverbia  auf -Z/c/Js 


HEINRICH   VON   DEM   TURLIN   UND   DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRÖNE  293 

sind:  sicherlkhe  :  riche  2708;  :  besiviche  (conj.)  4731;  gezogenUche  :  heteliche  5032; 
hoveUche  :  r/che  6016. 

Endlich  gebraucht  der  dichter  noch  adverbia  auf  -liehen :  icirtlichen  :  riehen 
7333.  8745 ;  büterl/ehen  :  strichen  14  027 ;  rilichen  :  geliehen  (inf.)  22  196 ;  nffen- 
Itchen  :  riehen  22  910.  25  650;  :  strichen  24: 127 ;  spotlichen  :  sliehen  (inf.)  25  057; 
garlichen  :  riehen  27  329. 

Aus  der  betrachtung  der  reime  geht  hervor,  dass  Heinrich  v.  T.  i  immer  nur 
zu  einem  /-laut  derselben  quantität  stellt.  Das  bedeutet  aber  für  seine  spräche  die 
Unterscheidung  zweier  qualitäten,  die  voneinander  so  stark  abwichen,  dass  ihre  Ver- 
einigung unter  einem  reimbaud  ausgeschlossen  war.  Denn  da  der  dichter  wohl  aUe 
übrigen  vokale  in  ihren  ungleichen  quantitäten  reimt,  beweist  diese  durchgehende 
Scheidung,  dass  die  qualität  der  ungleichen  /  und  i  der  entscheidende  gruud  war, 
warum  er  diese  biudungen  mied,  und  dass  die  beiden  nicht  zusammengefallen  waren  *, 

2.  Bindungen  von  i  :  ie. 

Die  reime  i  :  ie  sind  dialektischem  einflusse  zuzuschreiben.  Heinrich  reimt 
nämlich  altes  echtes  ie  mit  sogenanntem  'gebrochenem  ;'.  Bei  ihm  tritt  die  ent- 
wicklung  von  /  zu  ie  nicht  nur  vor  r  und  h,  sondern  Imal  auch  vor  ng  ein, 
d.  h.  der  dichter  nahm  aus  seinem  heimatlichen  dialekt  die  diphthongierten  formen 
auf:  24  800  bringet  :  vienget;  vor  r  reimt  i  auf  ie  in  folgenden  versen:  girde  :  oierde 
18  522;  :  gezierde  3157.  26  393.  Am  häufigsten  vor  h:  lieht  :  siht  1512;  :  geschiht 
2018.  14  730;  :  niht  93.  3339.  7456.  7890.  8254.  9196.  9.556.  9991.  10196.  16  053. 
18  345  muss  abweichend  von  Scholl  ein  poie,  rieh  imde  lieht  gelesen  werden,  weil 


1)  Auch  die  Verhältnisse  in  der  kärntner  mundart  ergeben,  dass  ein  reim 
von  i  :  i  von  jeher  in  dieser  spräche  unmöglich  war.  Denn  mhd.  i  bleibt  in  seiner 
qualität  erhalten,  nur  die  quantität  wird  ausser  vor  r  geändert:  f'ulrn  elitblättern, 
abblättern,  m\i(\.  videm :  plbmaii  beben,  mhd.  bibenen ;  ic'nla  sträng  aus  zweigen, 
mhd.  Wide;  tsic'isl  gabelffjrmiger  ast,  mhd.  zwisel.  gliidn  gähnen,  keuchen,  mhd. 
ginen.  sinrsle  lämpchen,  zu  scherbe.  slUs,  mhd.  sliz,  spalte,  Öffnung,  u'ispln,  mhd. 
iL'ispeln  flüstern. 

Dagegen  wird  mhd.  i  durchwegs  durch  cei  wiedergegeben  und  erscheint  nur 
in  einigen  alten  formen  noch  gewahrt:  frceithöf,  mhd.  vrithöf.  tsceihn  zeihen,  fcei- 
fcltr  Schmetterling,  mhd.  vivalter.  h(eint-hint  heute  abends,  heute.  Iceitn,  mhd.  Ute 
leite,  hhneistn,  mhü.  kristen  stöhnen;  spceil,  mhd.  spil  s-plitter;  nur  drsldr,  mhd. 
darsider  seither,  später,  strit  streit,  drifuds  dreifuss,  r'nowisn  reibeisen,  rlbtsceit 
'reibzeit',  strichzeit  der  fische,  kommen  neben  den  diphthongierten  Wörtern  noch  vor. 

Die  entwicklung  von  i  zu  wi  war  folgende :  die  erste  stufe  gibt  mhd.  /  wieder : 
wind,  nid  neid;  bllsdk  fleissig,  ts/ha  gefänguis,  mhd.  J^iche  ma.  khieixn.  r'tbala 
reiben,  uilse  fegefeuer,  mhd.  irlze  u.  v.  a. 

In  der  zweiten  stufe  war  die  diphthongierung  eingetreten,  und  zwar  mit 
einem  ziemlich  geschlossenen  laut  öi  bezw.  o :  röitr,  ma.  rteitr  sieb,  tsubözh  draht 
=  zugeisen,     tsöla  keil  u.  a. 

In  der  dritten  stufe  endlich  wurde  dieser  laut  geöffnet,  und  es  entstand  unser 
ai:  licHldsn  geizig,  m&.  g(eit?s.  bciisatQ  'weissen',  übertünchen,  hlüitn  knapp,  ma. 
gheim,  mhd.  gelinie. 

Aus  den  reimen  /  ;  ei  des  vorigen  kapitels  und  dem  soeben  behandellen  voll- 
ständigen fehlen  von  bindungen  wie  /  :  i  kann  nunmehr  leicht  festgestellt  werden, 
dass  Heinrichs  spräche  bereits  die  erste  der  angegebenen  stufen  überschritten  liatte. 
Nur  so  erklärt  es  sich,  warum  er  langes  i  mit  kurzem  /  niclit  binden  konnte;  jenes 
hatte  eben  schon  einen  anderen  lautwert  als  dieses,  und  eine  derartige  bindung  wäre 
überhaupt  kein  reim  mehr  gewesen.  Ganz  dieselbe  erscheiuung  weist  auch  der  von 
Waruatsch  untersuchte  'Mantel'  auf. 

ZEITSCHRIFT   ?•   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  20 


294  GRABER 

nur  lieht  und  nicht  liht  als  epithetou  von  galt  gelten  kann;  weiter  stehen  Jielit : 
nilä  22  069.  2B  357.  28  980.  29  284;  ;  ieht  878.  15  753.  Dass  der  dichter  niht  und 
iht  als  literarische  formen  kannte,  beweisen,  wenn  man  von  den  13  unmassgeblichcn 
binduugen  \on  niht :  iht  absieht,  114  reimbänder,  in  denen  niht  hezw.  iht  mit  altem 
-iht  zusammengestellt  werden  (geschiht  [subst.],  ungeschiht,  viht,  enwiht,  er  siht, 
es  geschiht,  missegeschiht,  bwsewiht,  pfliht,  giht  u.  ä.).  Die  grosse  zahl  der  reime, 
in  denen  iht  und  ni/ä  gesichert  erscheinen,  spricht  laut  dafür,  dass  Heinrich  selbst 
die  diphthongierten  formen  icht  und  nicht  als  ausnahmen  betrachtete,  welclie  er 
seinem  dialekte  zuliebe  in  die  Krone  aufnahm. 

3.  ?  aus  kontraktion  von  ige  oder  ibe  entstanden. 

In  der  Krone  reimt  6raal  er  liget  :  gesiget  2414.  5878.  7329.  8104.  11  394. 
16  772  ;  und  Imal  ir  liget  :  gesiget  15  602. 

Diesen  7  ^r-formen  stehen  14  aus  altem  -igi  kontrahierte  /-formen  gegenüber, 
die  aber,  in  merkwürdigem  gegeusatze  zu  den  kontraktionsformen  age,  ege  >  ei,  nur 
für  die  3.  pers.  sing,  des  praesens  gebraucht  werden  {ir  lU  weist  die  Krone  nicht 
auf):  er  lit  <  liget  :  zit  18  955.  29  935;  :  ir  s/t  20  306;  :  s/t  und  strit  26  957;  :  dis- 
sft  26  675 ;  :  strit  :  zU  25  726. 

er  IH  :  er  gU  <  gihet  7234.  7995.  24  015.  28  109;  :  git :  samU  8794;  :  gtt  : 
strit  17  228.  23  111.  26  464.  Die  kontrahierten  formen  überwiegen.  Von  geben 
kommt  ausschliesslich  er  git  zur  anwenduug:  er  git  :  str/t  107.  174.  3794.  5875. 
6142.  13073;  ;  str/t  :  nit  7180.  22  449;  ;  //•  sH  :  strit  12  289.  20  870;  :  nit  2544.  25  798; 
;  zU  276.  318.  5934.  11210.  12  633.  25  642;  :  (V  sit  2795.  4531;  :  stt  (adv.)  428. 

er  pflit  fehlt  vollständig,  obschon  der  verse,  deren  reim  den  typus  -it  auf- 
weist, mehr  als  80  sind,  während  typus  -iget  ausser  den  oben  genannten  keine 
anderen  Vertreter  enthält.  Die  tatsache  erregt  unsere  aufmerksamkeit.  Heinrich 
sagte  daher  er  pfliget  und  reimt  es  zu  gesiget  18.  177.  454.  4909.  11723;  vers 
26  636  er  p)ßig^t  :  liget  und  18  759  :  gesiget  :  geliget  sind  als  ^-formen  anzusprechen. 

In  dieser  differenzierung  von  pfliget  und  lit  dürfen  wir  vielleicht  eher  ein 
kennzeichen  des  dialektes  Heinrichs  als  literarische  beeinflussung  durch  Hartmann 
erblicken.  Denn  noch  heute  bestehen  in  einzelnen  kärntischen  dialekten  die  kon- 
trahierten formen  er  leit,  geit  =  liegt,  gibt,  während  solche  von  piflög)}  fehlen,  wie 
auch  schon  Heinrich  dieses  verbum  nur  als  schwaches  verbum  kennt. 

E.  Die  o-laute  und  deren  umlaut. 

1.  Bindungen  von  ö  :  6. 

Wie  a,  so  hat  auch  o  vor  manchen  konsonanten  'dehnung'  erfahren.  Nament- 
lich hat  r  in  diesem  sinne  auf  vorangehendes  o  gewirkt.  In  der  Krone  steht  ge- 
dehntes 0  vor  r  llmal:  vor  :  tör  2227.  2.576;  :  mör  14  396.  19123.  27  598;  :  mör 
und  enbor  5577;  enbor  :  mör  6997;  gehört  :  kort  (nach  hs.  V)  1575;  z?störte  :  parte 
7672 ;  hört  :  gehört  (praet.)  20  384 ;  hört  :  dort  26  703 ;  uwt :  gehört  29  227 ;  aber 
auch  vor  t:  6927  surköt  :  gebot;  :  spot  7727.  kleinöt  und  surköt  werden  konstant 
zu  länge  gebunden,  können  daher  sicher  als  längen  angesprochen  w^crden :  kleinöt : 
bot  24  804;  tot  (suhst.)  :  sot  (praet.)  11563;  16  922  not  :  spot  muss  nunmehr  ge- 
strichen werden,  da  Singer  den  text  sehr  sinngemäss  hergestellt  und  den  'unreinen' 
reim  eliminiert  hat.  Danach  lautet  die  stelle  16  922  ff. :  Und  gesiveic  manic  süeze 
not.  Von  kurzwile  reiner  spot  Gelae  und  äventiiire  sage.  Ane  allen  tröst  jämers 
klage  usw. 


HEINRICH   A'OX   DEM   TURLIN   UND    DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRONE  295 

Noch  weniger  gehört  die  gleichfalls  von  Reissenberger  hierherbezogene  stelle 

19  273  hierher.  In  der  richtigen  erkenutnis.  dass  es  sich  in  P,  welches  eintost 
bringt,  um  einen  Schreibfehler  handelt,  konjiziert  Singer  endöst  (part.  perf.)  von 
doesen  <  dösjan  'zerstreuen,  zerstören';  also  lautet  19  275:  Sele  und  lip  würden 
endöst. 

Auch  371  wol :  Karidöl  zählt  nicht  zu  den  unreinen  reimen,  wie  es  nach 
SchoUs  text  scheinen  könnte.  Denn  Heinrich  gestattet  sich  für  einen  und  den- 
selben namen  meist  verschiedene  reimformen.  Karidol  mit  kurzem  o  ist  llmal 
belegt:  5322.  5459.  9637.  10117.  12  345.  13  571.  21813.  22  502.  23  281.  27  752. 
29  750  ohne  reimband,  29  873. 

Weil  der  typus  -ol  reichliche  Vertreter  besitzt,  war  diese  reimmöglichkeit 
die  bequemere.  Karidöl  :  hol  (quäle)  11  506  repräsentiert  auch  allein  den  reim- 
typus  -öl. 

Vor  n:    Utpandragön  wird  immer  nur  zu  -ön  gebunden:    361.  1009.  18  747. 

20  391. 

Vor  s :  Typus  -os  besitzt  nur  2  reime,  und  selbst  diese  werden  von  eigen- 
namen  getragen:  595  Orgoillos  :  li  ros:  2313  Quarcos  :  Uudos.  Es  ist  daher  nur 
eine  Verlegenheitsauskunft,  wenn  der  dichter  293  Atropos  :  kos  reimt,  und  man  hat 
zu  lesen:  Ätropös. 

Die  binduugen  von  ö  :  ö  vor  r,  n  und  t,  wie  sie  sich  in  der  Krone  finden, 
beweisen,  dass  Heinrich  v.  T.  die  alte  kürze  des  o  nicht  gewahrt  hat.  Vor  /■, 
r  4-  cons.  (und  n)  liegt,  wie  die  heutige  mundart  beweist,  auch  eine  Verschiebung 
der  qualitäteu  vor.  In  dieser  Stellung  erhält  nämlich  sowohl  ö  als  auch  ö  einen 
««-ähnlichen  klang:  tcurt  wort,  durt  dort,  fürt  fort,  urt  ort,  surgv  sorgen;  ämurl 
ein  kleiner  amor;  muri,  dim.  zu  mhd.  mör  ein  kleiner  mehr;  khür,  mhd.  kor  chor 
in  der  kirche ;  um  obren ;  rür  röhr  u.  v.  a.  Auf  diese  weise  fielen  dem  dichter  ö 
und  ö  sprachlich  zusammen:  wir  haben  also  für  ö  :  ö  wie  für  ci  :  ä  nicht  'unreine' 
tindung  zweier  verschiedenen  laute  anzusetzen,  sondern  mundartUcheu  zusammenfall. 

ö  und  ö  vor  t  werden  im  dialekt  als  offenes  ö  gesprochen:  iät  tod,  khröt, 
mhd.  krote,  lötr,  mhd.  loter :  spötn  —  spotten,  rot  —  röt,  not  —  not  (subst.  und 
adj.).  In  einzelnen  nördlichen  kärntner  mundarten,  wie  in  der  von  Pemegg,  wird 
mhd.  ö  vor  t  als  ()a,  o  vor  t  als  geschlossenes  ö,  mhd.  ö  vor  ;■  als  p  gesprochen. 
Die  beiden  laute  fallen  dort  also  vollständig  auseinander,  und  Heinrich  v.  T.  kann 
80  nicht  gesprochen  haben. 

Die  reime  von  ö  :  ö  vor  t  sind  also  auf  dehnung  des  o  zurückzuführen  und 
haben  im  dialekte  des  dichters  ihren  Ursprung  ^  Immerhin  hält  er  mit  derartigen 
mundartlichen  formen  ziu'ück.  Denn  die  4  reime  'Ot :  -öt  verschwinden  unter  der 
menge  von  reimraöglichkeiteu,  welche  dem  dichter  zur  Verfügung  gestanden  hätten; 
ist  doch  typus  -ot  40mal,  typus  -öt  an  ISOmal  belegbar. 

2.  Widerstand  gegen  den  umlaut  des  ö  und  o. 
Der  dialekt  äussert  gegen   den  umlaut   von  ö  ziemlich   starken  widerstand. 
Die   Heidelberger    hs.   hat   auch   dort,   wo  V   umgelautete  formen   bietet,   die  um- 


1)  Zur  betonung  des  mundartlichen,  und  wie  sich  vielleicht  genauer  sagen 
lässt.  kärutisch-numdartlichen  Charakters  dieser  reime  o  :  ö  sei  erwähnt,  dass  gerade 
im  kärntischen  die  starke  neigung  vorherrscht,  alle  geschärften  silben  zu  dehnen: 
i  sül  ich  soll,  söjjf  schöpf,  ksötn  gesotten,  rös  ross,  rökx  rock,  wohn  woche  u.  v.  a. 

20* 


296  GRABER 

lautlosen,   selten   die   schriftmässigen,  ein   beweis   dafür,   dass  sie  diese  formen  aus 
ihrer  vorläge  entnommen  hat. 

a)  Vor  n:  Das  adj.  schoen{e)  in  unumgelauteter  form  steht:  \or  1620  schone: 
Iröne:  :  löne  8481.  13  530;  :  kröne  12  614.  14  745.  hone  für  hosne  (subst.)  steht 
im  reim  auf  kröne  10  351.  Noch  öfter  unterbleibt  der  umlaut  beim  subst.  sehane  : 
schöne  :  löne  1371.  7740.  8219;  :  kröne  8285;  :  kröne  :  löne  20  998;  ;  döne  (subst.) 
15  878;  :  paviltöne  8219.  Das  adv.  erscheint  auch  in  der  Krone  regelmässig  ohne 
umlaut. 

ß)  Vor  r:  betören  (inf.)  .-  ören  (dat.  pl.)  16162.  Daher  hören  (inf.)  ;  betören 
(inf.)  25  297  und  stört  :  hört  (praes.)  1492 ;  das  part.  betört  :  erhört  (praet.)  10  803 ; 
daher  4025  ervröret  (part.)  :  höret  (conj.  praet.). 

Das  part.  praet.  dieser  verba  bildet  Heinrich  nur  unumgelautet :  29  648 
zestört  :  erhört:  29  227  ivort  :  ungehört.  Auch  vom  conj.  praet.  nimmt  er  lieber  die 
umlautlose  form:  27  669  gehört  (conj.)  ;  zestört  (part.).  28  816  zestörte  (conj.)  :  hörte 
(conj.);  im  versinnern  3485  u.  ö.  Unumgelautete  formen  dürfen  auch  für  1575 
beansprucht  werden :  P  hat  gelioert :  kört,  V  gehört  :  chort.  Dass  P  hier  im  un- 
rechte ist,  erhellt  aus  den  heutigen  Verhältnissen:  mhd.  os  wird  heute  als  ea  oder  e 
gesprochen,  mhd.  ö  aber  erscheint  im  kärntischen  als  kurzes  oder  langes  ö.  Quali- 
tativ verschiedene  laute  aber  können  aufeinander  nicht  gereimt  haben.  Bei  Hein- 
rich V.  T.  findet  sich  denn  auch  kein  fall  von  ce  :  ö-bindungen. 

Y)  Vor  t:  ungenöt  (attributives  adject.)  reimt  7164  auf  bot  (praet.).  Hierher 
gehört  auch  13  279:  töten  (eicc.)  :  röten  (inf.)  'sich  röten'  und  der  unumgelautete 
dat.  kleinöte  :  röte  (pl.)  18  600. 

S)  Vor  s:  Von  unumgelauteten  formen  sind  belegt  der  inf.  bösen  :  kosen 
1835  und  nach  P  auch  23  644  zelösen  (mf .):  bösen  (adj.)  [urk.  böse].  Wie  von 
hoeren  lautet  in  Heinrichs  dialekt  auch  der  conj.  praet.  des  verbums  loesen  nicht 
um:  löste  (conj.)  :  ^ros/c  (dat.)  9246.  11136.  24  871;  erlöst  {con].)  :  tröst  (acc.) 
12  623.  Das  part.  bildet  der  dichter  wieder  auf  o ;  erlöst  :  tröst  5635,  5725.  9663. 
10  098.  11286.  13  626.  19  309.  21028.  19  274.  26  889.  28  061.  29  483.  29  526.  29  728. 
Überhaupt  lässt  sich  die  regel  aufstellen,  dass  in  der  Krone  bei  sämtlichen  schwachen 
/a/i-verben  im  part.  praet.  der  umlaut  unterbleibt  ^ 

e)  Vor  z :    Krone  25  039  wintgestöze  :  gröze  (adv.). 

Q  0  widersteht  dem  umlaute  im  conj.  praet.  von  mugen  und  tagen:  2735 
enmohten  (conj.)  :  gevohten;  :  gevlohten  14  040.  mähten  (ind..)  :  tohten  (conj.)  11928. 
Diese  unumgelauteten   formen   sind   als  die  älteren  und  als  dialektische  anzusehen. 

3.  Reime  zwischen  u-  und  o -lauten. 
sl)  QU  für  u. 

Das  verbum  der  II.  cl.  bliuwen  lautet  bei  Heinrich  im  plur.  des  praeter. 
blotmen  statt  des  zu  erwartenden  bluwen;  777  matzomcen  :  blouiven  (3.  plur.  praet.) 

1)  Aus  dem  jetzigen  Sprachstande  Kärntens  lässt  sich  diese  eigenart  des 
dialektes  im  widerstände  gegen  den  umlaut  des  o  nicht  mehr  erklären,  wohl  aber 
kommt  derselbe  zug  in  der  urkundlichen  spräche  Kärntens  sehr  stark  zur  geltung 
(auch  die  spräche  des  Welschen  Gastes  weist  ihn  auf). 

Im  kärntischen  ist  mhd.  (r  zu  ea  oder  e  geworden.  Auch  die  annähme  wäre 
irrig,  dass  zu  Heinrichs  zeit  im  kärntischen  ce  und  ö  der  ausspräche  nach  zusamnieu- 
gefallen  wären.  Dem  widerspricht  die  augenscheinliche  dift'erenzierung  der  beiden 
laute  in  der  mundart :  altes  ö  in  starktonigen  silben  erscheint  wieder  als  ö  oder  pa. 


HEINRICH   VOX   DEM   TURUN   UXD    DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRÖNE  297 

;  schomven  bietet.  P  die  lesart  matzüiven  :  hlüwen  und  darauf  noch  eiu  gesondertes 
reimpaar  schouweii  :  vromcen.  V  hat  maziven  :  plawen  :  schoiven,  und  schon 
Scholl  bemerkt  in  den  Varianten,  dass  diese  hs.  die  nur  in  P  überlieferte  zeile 
780  'mit  recht'  weglässt.  Für  diese  annähme  spricht  ausserdem  der  umstand, 
dass  man  mit  beibehaltung  der  lesart  in  P  den  notwendigen  dreireim  empfindlich 
vermissen  würde.  Aus  diesem  gründe  hat  auch  Singer  dieselbe  änderung  vor- 
geschlagen. 

b)  ou  für  ü. 

Diese  biudungen  zählen  zu  den  häufigsten  sogenannten  unreinen  reimen  der 
Krone  und  stehen  in  klingendem  und  stumpfem  reim:  6036  rou  :  gelou:  wahr- 
scheinlich auch  19  658  rüch  :  gelüch;  8660  zouher  :  süher ;  11622  trübe  :  loube, • 
üftlouf  7676.  9063.  18  887.  25  099;  :  kouf  8764.  20  054.  23  875.  24  216;  :  trouf 
27  149;  :  slouf  12  374;  zoumtt  :  rümet  :  versümet  835;  gerümet  :  versümet  :  getroumet 
23  466;  küme  :  troume  3725;  :  sfalboume  6791;  :  zoiime  12  396.  19  939.  20  050; 
:  toume  12  522;  troume  :  pflüme  12  222.  sevenboum  :  rüm  :  ßiim  12  812;  flürn  :  zoum 
14  435.     rouvi  :  soum  8366  setzt  Reissenberger  fälschlich  hierher. 

Bemerkt  sei  noch,  dass  Heinrich  gemäss  seiner  mundart  nur  die  formen 
boiiwen,  tromcen  und  gebromren  kennt:  bouioen  :  vrouwen  7813;  :  verhomcen  Tpart.) 
8799;  gebouiven  (part.)  :  vrouiven  :  schouiven  13  720;  erbouwen  fpart.)  :  vroinven  1419. 
11  523.  23  030.  28  409.  29  182 ;  :  juncvromcen  13  041.  20  461.  26  392.  29  363 ;  ;  schou- 
wen  14  643 ;  :  erbouwen  (part.)  26  203.  bouivet  :  schouwet  1311  [vgl.  das  ui'k.  ge- 
poioen!];  getrouwe  :  vrouwe  1916]  :  juncvrouwe  13  771.  21184.  getrouiven  :  vroutoen 
2731.  3468.  3521.  4743.  10  856.  12  361.  21780.  23  913.  24  238.  28  936.  vrouwen  : 
getrouiven  :  schouwen  12  435.  26  012;  getrouiven  :  juncvrouwen  734S>.  21633;  :  er- 
houioen  (part.)  6132.     schouwen  :  gebrouwen  (part.)    1704.     bauten  :  getrouten   2450. 

Die  entwicklung  von  ü  zu  ou  begann  im  12.  Jahrhundert  und  war  über  das 
ganze  bayr.-österr.  Sprachgebiet  gleichmässig  verteilt,  weshalb  ich  es  für  überflüssig 
erachte,  beispiele  aus  dem  dialekte  anzuführen.  Beide  laute  fielen  in  Heinrichs  spräche 
vor  b,  f,  m,  ch  und  w  zusammen.  Ob  dieser  einem  o  +  u  entsprach,  lässt  sich  nicht  fest- 
stellen. Dass  schon  im  18.  Jahrhundert  die  monophthongierung  des  o«<  stattgefunden 
habe,  wie  sie  sich  heute  festgesetzt  hat  (lab  laub,  läfn  laufen,  khäfen  kaufen,  dpch- 
träf  dachtraufe;  päm  bäum,  rämdn  räumen,  pnpän  anbauen  u.  a.),  müsste  erst  be- 
wiesen werden. 

c)  ou  :  uo  findet  sich  in  der  Krone  niemals,  daher  muss  19  634  bescliuof  als 
textverderbnis  angesehen  werden.  Auch  die  Sinnlosigkeit  dieses  Wortes  au  der  be- 
sagten stelle  bestätigt  diese  Vermutung.  Wohl  aus  dieser  erwägung  hat  Singer 
besouf  =  tränkte,  zu  besüfen  (stv.)  vorgeschlagen  und  damit  wahrscheinlich  den 
richtigen  Wortlaut  hergestellt.  9139  ist  bei  Reissenberger  zu  streichen ;  seine  an- 
gaben sind  unvollständig. 

d)  tu  :  öu.     Dem   heimischen    Sprachgebrauch   entstammen   die  beiden  reime : 
4776   Hute  :  Jiiute  :  vröute:    27  169    ;  lantUuten  :  vröuten.     Das    alte    iu   hatte 

den  lautwert  von  nhd.  eu  angenommen,  so  dass  es  auf  öu  reimen  konnte. 

F.  Die  «(-laute  und  deren  u  m  1  a  u  t. 
1.  ü  :  u. 

Als  einzig  feststehender   beleg   kann   nur  4437  verzeichnet  werden,     schulde 

(dat.)  :  vülde  (part.) ;    V  hat  volde,    P  nuild.     Aus    der   konil)iiiation    beider  lesarten 


298  GRABER 

rekonstruierte  Ehrismann  vülde  und  gab  damit  eine  geistreiche  konjektur,  die  dem 
sinn  der  stelle  vollkommen  entspricht.  Zu  einer  zeit,  da  altes  ü  noch  nicht  diphthon- 
giert war,  konnte  es  bei  einem  dichter  wie  Heinrich  v.  T.,  der  in  solchem  masse 
wie  kein  anderer  mhd.  epiker  ungleiche  quautitäten  bindet,  sehr  wohl  auf  ä  reimen. 
Überdies  findet  sich  für  vtilde  <  vülecle  <  vültnde  heute  die  ma.  form  fauht,  welche 
der  mhd.  genau  entspricht.  Das  dim.  heisst  faubldt.  Ersteres  bedeutet  'in  fäulnis 
begriffen,  faulend',  letzteres  'nach  fäulnis  riechend,  schmeckend'. 

Die  übrigen  reime  von  ti  :  u,  welche  SchoUs  text  bietet,  betreffen  französische 
namen:  6406  li  ptluz  :  üs ;  12  882  sun  {filius)  :  Ansgün  (denn  so  ist  mit  heran- 
ziehung  von  7009,  wo  von  demselben  lokal  die  rede  ist,  zu  lesen) ;  endlich  17  598 
Britun  :  Sempite  Brün.  Da  aber  Heinrich  v.  T.  bei  fremden  eigennamen  schwankt, 
lässt  sich  der   dialektische   Charakter   solcher  reime  nicht  mit  Sicherheit  feststellen. 

Die  reime  von  Artus  :  us  können  deshalb  nichts  anderes  erweisen,  als  dass 
der  dichter  in  der  ersten  hälfte  seines  werkes  die  form  AHus  reimte,  nicht  aber, 
dass  hier  bindungen  ungleicher  quantität  vorliegen.  Man  hat  die  verse  1637.  3254. 
3495.  4486.  5732  und  10  830  nur  aus  der  irrtümlichen  auffassung  Scholls  heraus  für 
dialektische  reime  gehalten. 

2.  II  :  uo  und  ü  :  üe. 

Bindungen  von  u  :  uo  finden  wir  auf  bayr.-östeiT.  Sprachgebiet  seit  dem 
12.  Jahrhundert  sehr  häufig.  In  der  Krone  stehen  55  derartige  reime:  nuo  :  zuo 
255.  8086.  16  447.  20  172.  20  084.  22  633.  23  021.  24  382.  24  811.  25  174.  25  882. 
26  493.  27  370.  27  620.  27  910.  28  249.  29  424;  :  vrm  25  750.  22  246;  :  tuo  3867. 
6965.  12  363.  [Nicht  dazu  gehört  12  415  (von  Weinhold  angeführt),  denn  dort  muss 
es  heissen  huoben  :  schuoben  (praet.  von  schaben).]  u  :  uo  steht  ausserdem  14  819 
wistuom  :  drum  /  :  vrum  11;  drutn  und  vrum  19  175.  vrum  :  ruom  :  drum  214; 
:  ruom  2676.  5117.  12  029.  16  787;  :  erzentuom  7560;  :  siecht uom  8275.  8552; 
;  Tichtuom  :  ruom  22  397 ;  ;  r/chtuom  24  802.  28  960.  Dazu  kommen  noch  die  bin- 
dungen mit  eigennamen :  Sgoidamür  :  swuor  8483 ;  :  vuor  7924.  13  088.  13  563. 
13  725.  22  205.  23  773.  Rohur  :  vuor  17  473 ;  Eigrün  :  tuen  9941 ;  sun  :  tuoii  5028. 
21605.  stuont  :  unkuiit  8021;  :  munt  :  hunt  25  092.  vuor  :  Tcur  26  237;  vuort : 
antwuri  :  ruort  27  280;  :  vurt  4261.  9140.  18  077.  18  242.  20187;  :  spurt  18  602; 
:  enburt  (praet.)  16  375;  :  antwurt  11223;  :  gurt  4617;  :  gegmicurt  4002;  hurten: 
zevuorten  18  381.     [Vgl.  urk.  würden  (ind.),  gegenwuort  u.v.a.] 

Nach  dei  Überlieferung  ist  auch  26  440  hierherzuzähleu.  P  bietet  zefuort : 
spurt.  Nun  sind  aber  umlautlose  conj.  praet.  dieser  klasse  von  sw.  verben  sonst 
bei  Heinrich  nicht  belegbar.  Die  stelle  26  439  f.  heisst:  Und  liez  ir  niht  ze  gäch 
Sin,  daz  siz  niht  zevuorte  Und  einz  daz  ander  spurte.  Die  beiden  formen  können 
also  auch  ind.  sein,  denn  der  daz  —  satz  braucht  nicht  unbedingt  als  abhängiger 
konjunktivsatz  betrachtet  zu  werden. 

Aus  dem  reimmaterial  ergibt  sich,  dass  in  Heinrichs  dialekt  auslautendes  ü, 
dann  u  vor  m,  n  und  r  als  uo  gesprochen  wurde.  Der  umlaut  hinderte  die  diph- 
thongierung  nicht:  il  :  üe  reimt  vor  r, 

2067  tür  :  vüer  (conj.  praet.)  :  gevüer;  :  vür  (praep.)  :  gevüer  (subst.)  3474. 
16  537.  18  201.  23  831.  28  313;  :  erster  (conj.)  10  362.  verlür  (conj.)  :  gevüer  (subst.) 
;  kür  (coni.)  7583. 

ä  :  üe  reimt  aber  auch  vor  g :  vlüge  (pl.)  :  büege  (subst.  plur.)  ;  züge  (stf.) 
1000,  was  bei  Scholl  nicht  ersichtlich  wird,  und  24  177  büege  (pl.)  :  lüge  (conj.). 


HEINRICH   VON    DEM   TURLIN   UND   DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRONE  299 

3.  Der  u  m  1  a  u  t  des  ic,  ü  und  uo. 

a)  Umlaut  des  u. 

Um  der  frage,  wo  Heinrich  «,  wo  ü  gebrauchte,  auf  den  gruud  zu  kommen, 
ist  es  notwendig,  sämtliche  belegstellen  anzuführen.  Bei  dem  schwanken  der  hand- 
schriften  und  der  Unsicherheit  der  textgestalt  kann  eine  entscheidung  nur  aus  den 
reimen  gefällt  werden. 

Von  den  reimen  auf  -uge-  ist  der  einzige  beleg  für  u  18  629  vlugen  (ind.) 
zugen  (ind.);  dagegen  sind  formen  mit  ü  häufiger:  vlüge  (conj.)  :  ^%e  (pl.)  7189 
vlüge  (-pl.)  :  lüge  (conj.)  18  176;  :  bezi'ige  (couj.)  18  423;  vlüge  (pl.)  :  ftwe^e  (pl.) 
Züge  (subst.  sing.)  K 

muge  :  Züge  (conj.)  36;  ;  lüge  (conj.)  10  875;  :  züge  (pl.)  16  618;  mügen  (conj.) 
:  Zügen  (subst.)  18  992;  zugen  (subst.)  :  ^»^en  (conj.)  6416;  betrüge  (conj.)  ;  Zwr/e 
(conj.)  26  244;  erzüge  (conj.)  11785. 

Darans  ergibt  sich,  dass  Heinrich  den  conj.  praeteriti  der  starken  verba  der 
II.  kl.  und  den  conj.  praesentis  von  toitc  und  vtac  mit  umlaut  gebrauchte". 

Typus  -u7it. 

u  steht  1219  zuJif  (acc.)  :  Lanplmhi ;  4561  :  viderbniJd;  8717  :  vruht  (dat.); 
25  048  :  vruht  (nom.);  25  939  :  vruht  (acc);  1686  vluht  (&cc.)  :  unzuht  (dat.);  2782 
:  zuht  (dat.);  vluht  (nom.)  :  ztiht  (nom.)  6316.  3373  hovezuht  (acc.)  :  tvider-b ruht ; 
7172  zuht  (dat.)  ;  vruht  (nom.);  11  762  unzuht  (acc.)  ;  vruJit  (acc).  17  979  :  vruht 
(dat.) ;  nach  ausweis  dieser  bindungen  sind  daher  umlautlos  19  379  unzuht  (dat.)  : 
vruht  (dat.) ;  10  983  suht  (dat.)  ;  zuht  (dat. ;  Scholl  druckt  sühte).  ü  bleibt  wahr- 
scheinlich in  10  726  zühten  (lA.)  :  vlühten  (pl.)^. 

Typus  -ühse. 

Die  reimmöglichkeit  ist  hier  zu  gering,  als  dass  man  sich  entscheiden  könnte : 
3326  vühse  (plur.)  :  lüJise. 

Typus  -ucke-. 

2441  brücke  :  rucke  (V  hat  nach  Haupts  Liedern  und  büchleiu  XV  brvke  : 
ruke.  P  belegt  wenigstens  ein  u:  ruch).  Für  4602  bietet  V  druchen  :  stitchen, 
P  nur  drucken,  so  dass  wir  auch  hier  drucken  (inf.)  ;  stucken  (dat.)  ansetzen  dürfen. 
6829  überliefert  V  brukke.  P  setzt  ü  in  beiden  reimworten.  Für  6880  gibt  Scholl 
die  lesart  nicht  an. 

u  ist  ferner  anzunehmen  für  denselben  reim  in  15  616.  20  894.  27  496,  28  926 
und  27  240  brücke  :  berücke  (adv.),  wo  Scholl  keine  Varianten  verzeichnet.  Ursprüng- 
liches u  für  ü  13  685  rucken  (subst.)  :  brücken  ist  noch  aus  P  zu  erkennen,  welches 


1)  Bemerkenswert  ist,  dass  züge  (stf.)  bisher  in  den  wbb.  nur  bei  dem  stei- 
rischen  reimchronisten  Ottokar  belegt  ist. 

2)  Für  u  vor  g  gibt  es  urkundliclie  belege,  mag  (conj.)  und  müg  u.  a. ;  sie 
widersprechen  nicht  der  Übung  Heinrichs.  In  seiner  mundart  kann  der  dichter  um- 
lautlose formen  gekannt  und  sie  in  der  dichtung  gemieden  haben,  weil  sie  gegen- 
über der  spräche  anderer  dichter  einen  allzustarken  dialektischen  beigeschmack 
besassen. 

3)  Ein  vergleich  mit  der  heutigen  mundart  wird  dadurch  erschwert,  dass  der 
sing,  der  jetzt  noch  vorkommenden  fem.  »-stamme  ohne  umlaut,  der  pl.  bei  den 
meisten  mit  umlaut  gebildet  wird:  suxt  —  sixt,  fruxt  —  frixt,  tsuxt  einförmig  im 
ganzen  sing.  usw. 


300  GRABE K 

rucken  :  brücke  überliefert.  Der  umlaut  unterbleibt  auch  im  conj.  des  swv.  lücken: 
19  844  lucke  :  bogenrucke  (adj.) ;  desgleichen  7484  vlucken  (inf.)  :  stucken  (subst. 
pl.) ;  V  hat  fluchen.  8450  erdrucket  (part.)  :  enzucket  (part.).  In  der  hs.  V  steht 
erdrücket  :  ensucJiet,  aus  P  verzeichnet  Scholl  nur  entzücket. 

Sichere  «-formen  sind  auch  erdrucket  (part.)  .-  rucket  ( praet.)  27  060,  obgleich 
die  einzige  hs.  P  umgelautete  formen  überliefert;  denn  Heinrich  von  dem  Turliu 
bildet  das  praet.  der  swv.  I.  kl.  immer  ohne  umlaut. 

6349  ducken  (pl.)  :  erkucken  (inf.).  Y  schreibt  tüclien  :  chüchen,  was  das 
richtige  trifft  (vgl.  Weinhold,  B.  gr.,  §  30,  aum.)- 

Zwischen  ü  und  u  schwanken  tücke  :  geläcke  712.  2934.  20  511.  [urk.  kärn- 
tisch rugge,  rukke,  geluk,  pruke  u.  V.  a.] 

Ähnlich  wie  im  typus -wäsö  liegen  die  dinge  bei  -usse:  7600  vancnüsse  (dat.) 
;  küsse  (verb.).  Möglicherweise  lautete  im  kärntischen  letzteres  küssen  (vgl.  das 
windische  lehnwort  kusntä  'küssen').  Zum  ersten  reimwort  bleibt  zu  bemerken,  dass 
der  sing,  der  starken  fem.  heute  des  umlautes  und  der  endung  entbehrt:  finstrnus, 
hintnms,  p'itrnus,  irgrnus  usw. 

Typus  -ust. 

u  steht  fest  in  folgenden  reimen:  23  727  hrust :  äkust  (dat.);  vlust  (acc.) : 
äkusi  (dat.)  24  724;  verlast  {nom.)  :  äkust  (dat.)  ;  ö/'M*i  (acc.)  27  051;  brüst  {diCC.)  : 
gelust  (praet.  ind.)  10  660.  vlust  (nom.)  ;  äkust  (nom.)  1743.  kuste  (ind.)  ;  gelüste 
(ind.)  11  610;  gelust  (praet.)  :  äkust  (acc.)  19  438.  kuste  (ind.)  ;  gelüste  (ind.)  24  622. 
hrust  (acc.)  .•  gelust  (nom.)  20  226 ;  gelust  (dat.)  :  hrust  (acc.)  26  583 ;  daher  auch 
sicher  u  in  5391  gevruste  (dat.)  .-  vluste  (dat.).  Endlich  sind  ohne  umlaut  21  967 
kusten  (ind.)  ;  brüsten  (dat.  plur.) ;  daraus  lässt  sich  u  auch  für  9385  erschliessen : 
brüsten  (dat.)  ;  berusten  (inf.).  V  bietet  überdies  noch  brüsten  :  herusten.  Heinrich 
lautet  die  abstrakten  femiuina  und  die  sw.  verba  nicht  um ;  die  fem.  bleiben  im 
sing,  zugleich  flexionslos  (vgl.  Junk,  Reimgebrauch  Eudolfs  v.  Ems,  s.  465)  \  Auch 
Hartmann  braucht  stets  die  umlautlosen  formen ;  Gottfrieds  reimgebrauch  ist  der- 
selbe, während  Wolfram  nur  die  umgelauteten  formen  kennt. 

Tj'pus  -utze. 

12  076  antlütze  :  nütze. 

Im  typus  -uzze-  weisen  4  reime  sicheres  u  auf:  24 125  rluzzen  (ind.)  : 
schuzzen  (ind.);  26  454  sluzzen  (ind.)  :  g uz zen  (ind.);  2204  guzzet  (inä.)  :  genuzzet 
(ind.);  aber  auch  ein  conj.  praet.  wird  auf  feststehendes  u  gereimt:  24  596  nuzze 
(conj.)  :  schuzze  (dat.  sg.).  Demnach  muss  folgender  neutraler  reim  ohne  umlaut 
bezeichnet  werden:  2262  heguzze  (couj.)  :  rerdruzze  (conj.);  endlich  muss  mau  8504 
lesen:  verdruzze  :  entsluzze  (V  bietet  verdrnz  :  entsluz,  P  virdrüzze  :  entslüzze)-. 

Für  den  reimtypus  -ulte  lassen  sich  nur  aus  der  ersten  hälfte  des  gedichtes 
belege  beibringen :  8358  gulten  (ind.)  ;  vuUen  (ind.).  In  den  übrigen  fällen  druckt 
Scholl  u  und  ü,  V  überliefert  die  j<-forraen.  Danach  sind  diese  in  den  text  auf- 
zunehmen.    3550  schulte  (conj.)  :  g ulte  (conj.);  12  089.  6812^. 


1)  Im   kärntischen   gebraucht   man   den   sing,  der  jetzt  noch  vorkommenden 
fem.  /-Stämme  einförmig  ohne  umlaut.    Der  plur.  wird  bei  den  meisten  umgelautet. 

2)  Auch  diese  formeu  haben  in  der  mundart  ihren  Ursprung. 

3)  Ähnliche  koujunktive  sind  im  jetzigen  kärutischeu   ausgestorben,   dagegen 


HEINRICH   VON   DEM   TURLIN   UND   DIE    SPRACHFORM   SEINER   KR(3nE  301 

Typus  -urnen  repräsentiert  sich  wieder  nur  mit  einem  reime,  6493  gevrunien 
:  sich  trumen;  u  lässt  sich  nicht  anzweifeln. 

Von  den  reimen  auf  -unde-  sind  sicher  ohne  umlaut  immer  folgende  reim- 
wörter:  künde  (m&. -^rsi^t.)  :  stunde  226.  5621.  7245.  7620.  11098.  14  221.  17  605. 
21  861.  25  056.  26  108.  27  066.  27  335.  28  000.  28  599.  28  701 ;  ;  gründe  2127.  27  606; 
:  munde  (sing.)  2663.  3165.  6124.  8651.  17  106.  24  666;  :  gunde  (subst.)  4269.  5826. 
16  107.  21910.  27  271.  29  820;  -.hegunde  (ind.)  6854.  6396.  6804.  7785.  11314. 
12  081.  12  203.  12  934.  19  011;  :  gunde  (mä.)  %12%.  6962.  12  131.  13  731.  24  065. 
29  693;  :  gunde  :  stunde  6369;  :  hunde  (sing.)  9161;  :  schünde  (ind.  praet.)  :  iai'eZ- 
runde  13  971;  :  beg unde  :  stunde  14  320.  26  793;  :  gründe  (dat.)  14  448;  :  schünde 
(ind.  praet.)  16  555 ;  ;  stunde  :  munde  (sing.)  19  676 ;  :  gunde  (suhst.)  :  wunde  (subst.) 

27  182 ;  :  enhunde  (ind.)  22  805.  stunde  :  begunde  (ind.)  377.  4950.  18  560.  20  968. 
21361.  26  096.  25  338.  27  758;  :  munde  1141.  2248.  8147.  9858.  16  902.  23  927; 
:  gunde  (ind.)  1275.  3080.  19  976;  :  unde  {!):  munde  (sing.)  1993;  :  gunde  (subst.) 
8425 ;  :  tcunde  9960.  20  446.  27  147  ;  :  enzunde  (ind.  praet.)  13  701.  18  512 ;  ;  gründe 
14  505 ;  :  gunde  (subst.)  :  schünde  (ind.)  18  738 ;  ;  tavelrunde  19  375 ;  ;  gunde  (subst.) 
;  tavelrunde  22  563;  gunde  (subst.)  :  begunde  (ind.)  2667;  :  tavelrunde  12  485.  22  301. 
29  801;  :  Urkunde  (!)  16  661;  :  enzunde  (ind.)  26  469.  gunde  (ind.)  ;  tavelrunde  8996; 
pfalenzrunde  :  tavelrunde  1889;  ;  munde  1932.  enzunde  :  schünde  (ind.  praet.)  8568; 
;  hegunde  (ind.)  14  099.  16  201 ;  :  munde  15  113 ;  begunde  (ind.)  ;  munde  (sing.)  11  272. 
16  948;  -.Urkunde  (sing.)  16  610.  Urkunde  :  stunde  (subst.)  22  849.  munde  (sing.) 
;  enhunde  (ind.)  23  646. 

Reime  auf  -unden  mit  unzweifelhaftem  u  sind: 

kunden  (ind.)  :  hunden  3306.  6523;  :  begunden  (ind.)  8003.  18  032.  22  399; 
:  wunden   (subst.)    8478.    11963;    :  vunden   (part.l    21519.    25  634;    :  wunden    (ind.) 

28  296.  :  gebunden  :  erwunden  (ind.)  26132;  :  verswunden  (part.)  26  807;  :  vunden 
(ind.)  27  203 ;  ;  stunden  (subst.)  27  682 ;  vunden  (part.)  ;  stunden  (subst.)  187.  432 ; 
:  unkunden  1115;  :  gebunden  21402.  22  151.  22  429;  :  gesunden  (acc.)  21886. 
:  künden  (adj.)  1163.  1631.  19  390.  21824;  :  wunden  (acc.)  :  kunden  (dat.)  22  006. 
:  stunden  (dat.)  22  730.  26  692;  :  gewunden  12  070;  :  verstunden  (ind.)  13  647. 
:  wunden  (suhst.)  :  gebunden  (part.)  24  047;  :  ivunden  (T^art.)  :  gesunden  (acc.)  8162; 
;  wunden  (subst.)  4767 ;  ervunden  (ind.)  :  gesunden  (acc.)  ;  stunden  20  798.  vunden 
(inä.)  :  kunden  (inf. !)  4705;  :  unkunden  11805;  :  wunden  (acc.)  11484.  :  tc unden 
:  gesunden  6418 ;  :  gebunden  29  685.  29  714 ;  ervunden  (part.)  :  hunden  18  689 ; 
:  verswunden  (ind.)  21463;  :  Urkunden  13  823;  hevunden  (ymxt.)  :  wunden  (acc): 
gebunden  (part.)  13  899. 

begunden  (ind.)  :  kunden  (dat.)  1426;  ;  unkunden  3218;  ;  versicunden  16158; 
;  wunden  (ind.)  19  045;  ;  stunden  (dat.)  23  330.  25  282;  unkunden  :  tavelrunden  841; 
kunden  (dat.)  ;  stunden  (dat.)  28  250.  ivunden  (subst.)  ;  überwunden  (part.)  6546 ; 
'.überwunden  (nur  in  D)  13  4651».  13  744;  -.gebunden  6730.  8839.  12  331.  14133. 
19  360.  19  527;  :  unden  (dat.  i±)  9447.  11921;  :  swunden  (ind.)  10  Oßli ;  :  rerslungen 
(part.)  13  610;  :  gesunden  (acc.)  18  878;  :  verswunden  (ind.)  28  056.  gebunden: 
wunden  (inf.)  11028;  :  gewunden  (part.)  6885.  14  766.  19  911.  28  086;  ohne  reim- 
band 19  945 ;  unden  (adv.)  14  366.  28  715 ;  cnpf unden  (part.)  ;  verswunden  9374 
(Ind.);    :  schunden  (ind.)    15  480.     zünden  (ind.)  :  g unden  (subst.)    10  643;   gesunden 

in  urk.  und  älteren  Volksdichtungen  erhalten.  Zu  geltn  lautet  der  conj.  praet.  goltat 
(durch  analogiebildung  aus  dem  part.  perf.  entstanden),  seltener  gtdt9t  und  nur  frgult. 


302  GRABKU 

(acc.)  :  giwunden  12  810;  :  übenvunden  {^art.)  16  699.  gewunden  {^&r\j.)  :  stunden 
(dat.)  17  164. 

Auf  gleiche  weise  bindet  Heinrich  die  betreffenden  koujunktive  praeteriti,  und 
zwar  nicht  nur  der  praeteritopraesentia  (wie  etwa  Gottfried  und  Wolfram),  sondern 
auch  der  starken  verba.  Die  belege  dafür  lauten:  künde  (ind.)  ;  tcunde  (conj.)  3034; 
künde  (conj.)  :  gunde  (lud.)  :  stunde  (dat.)  6369.  Mit  enklise  gebildet:  kimder  (conj.) 
;  besunder.  Alle  reime  des  typus  -under  anzuführen  wäre  zwecklos  (vgl.  ind.  kunder 
:  under  4675,  10  218 ;  ;  besunder  20  983). 

künde  (conj.)  ;  munde  (sing.)  11  670;  künde  (ind.)  .•  enpfunde  (conj.)  :  munde 
7668;  :  vunde  (conj.)  7935;  künde  (conj.)  :  beg  und  e  (ind.)  :  stunde  19  503:  -.stunde 
(dat.)  24  258 ;  :  gunde  (subst.)  25  739.  27  779.  29  598. 

gunde  (conj.)  ;  munde  5347 ;  :  stunde  6929.  erbunde  (conj.)  :  munde  :  Urkunde 
4097;  begunde  (conj.)  :  stunde  25  754;  vunde  (conj.)  :  beg und i  (ind.)  28  818.  Sicher 
sind  «-formen  ferner: 

runden  (part.)  :  gunden  (conj.)  20416.  sunden  (peccare)  :  stunden  (subst.) 
24  491;  unknnde  (^Ay)  :  künde  (ind.)  :  gunde  (ind.)  25  910. 

Typus  -undtt  wird  nur  durch  einen  reim  vertreten,  4212  ervundet  (ind.): 
kündet  (1.  pers.  sing.  conj.  praet.  zu  künden). 

Sicherlich  hat  daher  Heinrich  auch  enzunden  :  geschunden  (inf.)  11  711  und 
verkünden  (inf.)  ;  unden  (subst.)  24  119  gesprochen. 

Dass  er  die  schwachen  ./n^-verba  auch  im  praesens  umlautlos  sprach,  erweisen 
24  491  und  4705.  4212.  Ebenso  sind  die  unumgelauteten  formen  der  substantivischen 
jo-stämme  (unde)  im  sing,  und  plur.  erwiesen  (1993.  9447.  11 921).  Das  gleiche 
gilt  für  die  fem.  «-stamme  (urkunde  4097.  13  823.  16  661.  15  610.  22  849). 

Demnach  werden  umlautlose  formen  auch  in  folgenden  neutralen  fällen 
angesetzt :  es  reimen  substantiva  mit  dem  für  Heinrichs  spräche  feststehenden  u  auf 
konjunktive  praeteriti  starker  verba: 

ervunde  (conj.)  ;  Urkunde  :  bestuonde  (conj.)  2108.  Hier  liegt  ausserdem  die 
in  der  Krone   nicht   ungewöhnliche   bindung  von  u  :  uo  vor;   ;  Urkunde  3546.  4850. 

u  steht  ausserdem  fest  für  folgende  binduugen :  künde  (subst.)  ;  sunde  (subst.) 
4931;  -.munde  (plur.)  26  449;  :  runde  (conj.)  5645;  runde  :  unde  (subst.)  17  345; 
künde  (mhst.)  :  ervunde  Xconj.)  228.  11791b.  26  381;  :  urkunde  22  609.  23  986. 
In  folgenden  reimen  werden  koujunktive  praeteriti  der  praeteritopraesentia  mit 
Substantiven  gebunden : 

gunde  (conj.)  ;  künde  (subst.)  4085;  :  urkunde  21  175;  künde  (conj.)  ;  urkunde 
28  524. 

Ty^ns -undet  ist  durch  2  reime  vertreten:  4175  kündet  (conj.  praet.j  :  gundet 
und  6182  erzundet  (part.)  :  schundet  (praes.). 

Zuletzt  folgen  die  bindungen  von  konjunktiven  praeteriti  starker  verba  zu 
solchen  der  praeteritopraesentia:  1911  underb un de  :  künde;  3347  vunde  :  tvunde; 
4249.  14  423.  14  645  ;  künde,  ebenso  19  096.  21811;  :  künde  :  bunde  12  605;  ;  bunde 
10  292.  25  824 ;  künde  :  gunde  17  307.  27  648.  begunde  :  enpfunde  28  129.  vunden 
:  gunden  18  299. 

Heinrich  v.  Turlin  scheint  dem  sprachgebrauche  Hartmanns  zu  folgen,  der 
die  unumgelauteten  conj.  vunde  usw.  und  künde  gebraucht,  während  Gottfried  und 
Wolfram  nur  den  umlautlosen  conj.  der  praet.  praes.,  nicht  aber  der  starken  verba 
kennen.  Um  das  resultat  übersichtlich  zusammenzufassen,  gebe  ich  die  zahlen: 
In  der  Krone  stehen  21  gunde  (subst.),   6  urkunde,  3  unde  (subst.),   2  künden  (nun- 


HEINRICH   VON   DEM   TURLIN    UND   DIE    SPRACHFORM   SEINER   KRONE  303 

tiare),  1  sunden  (peccare),  8  umlautlose  couj.  praeteriti  von  kan,  gan  und  erbau, 
5  iileiche  formeu  starker  verba. 

Sichere  rt-binduugen  fehlen  gänzlich.  Denn  auch  1121  beweist  nicht  sicher 
den  umlaut  für  apgründe  (pl.)  ;  künde  (subst.),  da  gerade  für  künde  es  an  einem 
beweis  durch  einen  sicheren  ü-reim  mangelt,  nrkutide  aber  immer  auf  u  reimt.  Es 
reimen,  wo  es  sich  um  eventuelle  »-formen  handelt,  immer  nur  neutrale  formen 
aufeinander.  Nach  Zwierzina  und  Kraus  wäre  dies  ein  zeichen  dafür,  dass  der 
dichter  seine  mundartlichen  umlautlosen  formen  dem  leser  oder  hörer  nicht  auf- 
drängen woUte.  Er  selbst  sprach  ii  statt  ü  vor  n  +  d  in  femininen  ^  undjo-stämmen 
der  substantiva,  im  plural  der  maskulinen  u-  und  (der  damit  zusammengefallenen) 
t-stämme,  ferner  im  praesens  der  schwachen  Jau-verba  und  im  konjunktiv  praeteriti 
der  starken  verba  sowie  praeteritopraesentia. 

Einen  anhält  scheinen  mir  noch  die  hss.,  insbesondere  P,  zu  geben.  Hier 
steht  entweder  wenigstens  eine  w-form  im  reime,  oder  es  finden  sich  die  fraglichen 
formen  mit  o  geschrieben,  vielfach  beide  reime  in  unumgelauteter  form  (selbst  wo 
V  il  schreibt).  Für  die  beuiteilung  von  P  ergibt  sich  also,  dass  sie  in  manchen 
punkten  doch  nicht  so  unzuverlässig  ist,  als  sie  gemeinhin  angesehen  wird.  Bei 
einer  neuen  ausgäbe  müssen  die  u-tormen  durchgeführt  werden. 

Es  reimen  conj.  praet.  starker  verba,  denen  bei  anderen  dichtem  umlaut  zu- 
kommt, auf  formen  mit  ic: 

1831  Zunge  :  (jelunge  (conj.);  :  misselunge  (conj.)  24117;  gelunge  (conj.): 
zerunge  (subst.)  17  606;  misselunge  (conj.)  ;  sicheruiige  3878;  temperunge  :  verdränge 
(conj.)  8549;  gerunge  :  sunge  (conj.)  10  461  ^ 

Typus  -unft. 

Für  die  drei  vorhandenen  reime  wird  nach  analogie  der  vorhergehenden 
substantiva  wohl  auch  tc  angenommen  werden  dürfen,  obgleich  man  aus  den  reimen 
selbst  nicht  zu  einem  sicheren  resultate  gelangt:  8^19  vunfte  :  kunfte  (dat.).  10  090 
sigenunft  (dat.)  :  kunft  (gen.) ;  dagegen  steht  20  948  sigenunft  (acc.)  :  zuokurtft  (acc.) 
als  w-reim  fest. 

Typus  -unke. 

Im  vergleiche  zu  anderen  dichtem  könnte  der  durch  den  reim  auf  den  dat. 
sing,  fr  unke  gesicherte  umlautlose  conj.  praes.  vom  swv.  dunke  1414  auffallen. 
Nach  all  dem  obigen  aber  ist  auch  diese  form  für  Heinrich  v.  T.  nichts  ausser- 
gewöhnliches. 

Reimtypus  unne{n)  oder  ünnt{n). 

Die  beispiele  für  sicheres  u  sind  folgende :  12  808  sunne  :  hrunne.  (subst.) ; 
2202  hrnnnen  :  sunnen;  denn  so  ist  wohl  zu  lesen,  da  sunne  bei  Heinrich  in  der 
dekliuation  keine  ausnahmestellung  einnimmt.  Die  form  hrunnen  für  den  nom.  ist 
aber  zu  erschliessen  aus  dem  acc.  hrunnen  :  sunnen  12  051.  26  705).  5861  hegunnen 
(part.;  :  gewunnen  (part.) ;  :  versunnen  (ind.)  7547 ;  verbrunnen  ipart. )  :  entrunnen 
9018;  geicunnen  (-part.)  :  enirumitn   11117;    :  verbrunnen  (part.)  15  210;   gewunnen 

l)  Vergleichen  wir  die  resultate  mit  dem  heutigen  Sprachstande  Kärntens, 
80  ergeben  sich  für  den  widerstand  des  kurzen  u  gegen  umlaut  vor  n  +  d  nur  noch 
geringe  belege. 

Die  conj.  praet.  der  starken  verba  (mit  nd)  sind  nicht  sehr  geläufig;  in  der 
überwiegenden   zahl   werden   diese  präteritalkonjunktive   umschrieben   {i  tat  pintn). 


304  GRABER 

(in6..)  :  versunne»  (iiid.)  11984;  :  errunnen  (part.)  12  412;  :  runiien  (ind.)  17  147; 
versunnen  (-psLi-t)  :  errunnen  12  169;  :  brunnen  26  810;  endlicli  hegunnet  (ind.): 
gewännet  16  069. 

Einmal  wird  auch  der  conj.  praet.  eines  starken  verbums  auf  sicheres  u  ge- 
bunden, was  bei  Hartmann  nie  vorkommen  könnte;  dieser  hiutete  die  hierhergehörigen 
conj.  wie  Wolfram  und  Gottfried  um;  damit  steht  also  Heinrich  ganz  selbständig 
da:  6645  brunne  (s\i})st.)  :  getvunne  (conj.)  :  versunne  (conj.).  Auch  die  praeterito- 
praesentia  erscheinen  im  infinitiv  und  indikativ  des  praesens  durch  den  reim  als 
umlautlos  gesichert : 

gunnen  (\üf.)  :  bägunnen  (part.)  1640;  :  geivunnen  (-psiVt.)  :  versunnen  23  371; 
:  gewannen  {-j^Mt.)  :  erkunnen  (inf.)  21057;  :  gewannen  (]}Art)  :  enbunnen  30  000; 
gunnen  (mä.)  :  gewunnen  (part.)  11685;  hunnen  (vnA..)  :  versunnen  (part.)  6166; 
brunnen  (ind.)  :  erbunnen  (ind.)  27  431;  geivunnen  (part.)  :  bannen  (inf.)  1385; 
gewannen  (part.)  ;  kannen  (ind.)  7209. 

Demnach  sind  als  «-formen  anzusprechen  die  neutralen  reime :  hunne  (conj.) ; 
gunne  (ind.)  25257  ;  kannen  (conj.)  :  gunnen  (inf.)  24  164;  kunnen  (inf.)  .-gunnen  2713. 

Reime  mit  feststehendem  u  sind  ferner:  16  161  sunne  (subst.)  :  dünne  (adj.) 
und  3384  begannen  (part.)  :  dünnen.  Daraus  ergibt  sich  mit  gewissheit  u  auch 
für  folgende  neutrale  fälle:  danne  :  wanne  S2Qb.  14  279;  :  brunne  (con].)  15  123; 
:  kunne  (conj.)  2512;  unmne  :  brunne  15  745;  :  ver gunne  (conj.)  12  677;  :  verbanne 
(conj.)  26  408  und  endlich  auch  3945  gunne:  kunne  (subst.).  Es  ist  gar  nicht  so 
ausgemacht,  dass  gunne  hier  konj.  funktion  hat;  die  stelle  lautet  mit  Singers  Inter- 
punktion 3943  ff. :  Ich  bringe  es  daran  ( Wil  ich  iutver  genäde  hdn,  Däz  ich  iu 
leben  gunne)  lach  und  iawer  kunne,  Swas  ir  des  bekennet,  Das  ir  mir  das  nennet. 

Typus  -an,<it. 

Sicheres  u  zeigen  die  reime :  10  633  kunst  (dat.)  :  urbunst  (nom.) ;  25  185 
;  ganst  (nom.) ;  26  549  :  gunst  (acc.) ;  27  603  :  runst  (nom.).  Daher  kann  u  auch 
angesetzt  werden  für  7388  kunst  (dat.)  ;  urbunst  (dat.)  und  23  271  :  ga^ist  (dat.). 
Wie  schon  erwähnt,  bietet  das  kärntische  für  unterbleiben  des  Umlaufes  an  fem. 
^■-stämmen  keine  belege,  da  der  ganze  sing,  einförmig  ohne,  der  plui'.  mit  umlaut 
gebildet  wird:  prunst  —  prinst,  khunst  —  khinst. 

Typus  -ur-. 

Mehrere  anzeichen  scheinen  auch  hier  darauf  hinzuweisen,  Heinrich  habe  in 
einzelnen  fällen  die  unumgelauteten  formen  gesprochen.  Für  das  subst.  kur  (dat.) 
beweist  die  umlautlosigkeit  der  reim  auf  vaor  (ind.)  26  238. 

In- allen  übrigen  fällen  stellt  er  den  reim  in  schwebe:  2995  vür  :  kür  (couj.); 

V  vaor,  P  kuoi-;  4379.  16  582  kilr  (conj.)  :  verliir  (conj.);  6219.  10  672.  14195. 
14  420  :  verlür  (conj.).  Für  6219  schreibt  P  verlöre  (o  steht  öfter  für  u):  tür 
12  761,  P  türe,  13  006.  13  234,  P  türe;  17  678.  17  959.  18  890.  20  900.  21009. 
21  979.  25  301.  25  376.  26  329.  26  658.  28  821.  29  342 ;  ;  spar  (conj.)  23  484,  P  spuor, 
23  885,  28  732.  28  735  ist  gleichfalls  vür  :  spür  zu  schreiben;  P  bietet  wie  23  484 
spuor;  :  tür  :  kür  (dat.)  29  695;  :  tür :  verlür  15  821,  P  thüre;  verlür  (conj.)  :  kür 
(conj.)  7947.     P  verluore  :  erkaore,  V  erchur;  29  070;  ;  tür  7217.    P  verlüre  :  türe, 

Y  flar:  15  958;  dialektische  binduagen  sind  tür  :  vüer  (conj.)  :  gevüer  (subst.)  2067, 
P  cuor  :  gefuor;  vür  :  gevür  (subst.)  3474.  16  637.  P  gefür;  18  201  V  für.-gefür: 
23  831;    :  vüer    (conj.)    10  362,    V  erfüre,   Y  ervür;    .-gevüer    (mhsX.)  :  vüer   (conj.) 


HEINRICH   VON   DEM   TURLlN    UND   DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRÖNE  305- 

28  313,  P  gefuor  :  für;  verlilr  :  gevüer  (?,\\}o?,t.)  :  kür  (conj.j  7583,  P  verliere  :  un- 
gefäre  :  küre,  V  verlur.     24  017  spürn  :  tinhürn. 

Aus  den  mangelhaften  angaben  Scholls  lässt  sich  doch  so  viel  erkennen,  dass 
die  handschriften  stark  zwischen  ü  und  u  schwanken.  Hätte  ihre  vorläge  einheit- 
lich M  gehabt,  so  wäre  dieses  gewiss  auch  von  den  abschreibern  so  wiedergegeben 
worden.  Ich  meine  also,  der  archetypus  besass  unumgelautete  formen,  welche  der 
muudart  des  dichters  entstammten.  Auch  der  einwand,  Heinrich  hätte,  wenn  dies 
wirklich  der  fall  war,  die  zweifelhaften  forme:;  doch  öfter  als  das  einzige  mal  auf 
sicheres  u  gereimt,  ist  nicht  unwiderleglich.  Wir  haben  eben  in  anderen  reim- 
typen wiederholt  bemerkt,  dass  der  dichter  auch  dann,  wenn  er  verhältnismässig 
viele  formen,  die  bei  anderen  dichtem  umgelautet  werden,  auf  feststehendes  u 
reimt,  doch  auch  ebenso  viele  und  meist  mehr  indifferente  reime  daneben  bringt. 
Der  grund  für  dieses  verhalten  lag  in  dem  bestreben,  durch  dialektische  eigen- 
tümlichkeiten  dem  publikum  nicht  aufzufallen. 

Meine  annähme  erfährt  durch  urkundlich  belegte  kärntische  formen  wesent- 
liche Unterstützung. 

Über  die  namens  form  des  dichters  derKrone  sind  wir  durch  Scholls- 
lesarten  aus  den  hss.  schlecht  unterrichtet.  245  verzeichnet  er  aus  V  tuerlein  :  sm. 
10  442  türleiii  :  min.  Die  Schreibung  des  namens  in  P  erfahren  wir  überhaupt 
nicht.  Angaben  fehlen  auch  für  3047. 

Es  ist  meines  erachtens  duixhaus  nicht  nebensächlich,  dass  Heinrich  selbst 
sich  im  akrostichon,  Krone  182—216,  das  prädikat  'von  dem  Turlin'  und  nicht  'von 
dem  Türlin'  beüegt. 

Zieht  man  noch  die  Schreibweise  der  oben  s.  157  ff.  angeführten  ui'kunden  in 
betracht,  so  besteht  kein  zweifei  mehr,  dass  unser  dichter  auch  seinen  namen  in 
unumgelauteter  form  sprach,  wie  es  im  dialekte  üblich  war  ^ 

Typus  -urde. 

Das  schwanken  der  handschriften  zwischen  u  und  ü  spricht  weder  für  noch 
gegen  das  ansetzen  von  u  in  den  zweifelhaften  reimen.  899  wurde  (couj.)  .•  bürde 
(subst.),  Y  ivurde,  F  würJ.  2100Vwürd:purd;  V  nicht  verzeichnet.  Q^IY  bürde,. 
P  bürden.  10  629  V  wurde  :  bürde,  P  würd  :  bürd.  12  090  V  icurde,  P  würd  :  bürd; 
14  971  hat  P  wieder  umlaut,  V  nicht.  Da  tcurde  hier  conj.  ist,  hätte  Scholl  mit 
gleichem  recht  auch  alle  übrigen  fälle  ohne  umlaut  drucken  sollen.  Sind  schon 
hier  die  lesarten  mangelhaft  angegeben,  so  fehlen  sie  ganz  für  5283.  6688.  21  299. 
22  958.  23  399.  29  644  und  30  029  aus  der  unechten  nachrede. 

Obschon  in  diesem  typus  die  umlautfähigen  u  von  Heinrich  selbst  nie  auf 
eichergestelltes  u  gereimt  werden,  können  wir  auch  hier  annehmen,  dass  in  des 
dichters  spräche  der  umlaut   unterblieben   sei;   durch   die   Stellung  im  reim  war  es 


1)  Für  sämtliche  beispiele  bei  Heinrich  die  heutigen  formen  aufzufinden,  wird 
nie  möglich  sein.  Dazu  reicht  der  Wortschatz  des  kärntischen  nicht  mehr  aus;  viele 
Vokabeln  sind  im  laufe  der  Jahrhunderte  ungebräuchlich  geworden  und  in  Ver- 
gessenheit geraten;  der  rest  aber  musste  sich  die  beeinflussung  durch  die  immer 
weiter  um  sich  greifende  spräche  der  'gebildeten'  gefallen  lassen.  Immerhin  gcnüi^t 
68  für  den  beweis,  dass  Heinrich  die  kärntische  mundart  in  seinem  gedichte  durch- 
blicken lässt,  für  jede  wichtigere  gruppe  wenigstens  spureu  im  heutigen  dialekt 
noch  vorzufinden. 


306  (IRAIJKK 

dein  leser  immer   müglicli,   die  ihm   etwa   ungeläufige,   nicht  umgelautete  form  im 
reime  durch  die  umgelautete  zu  ersetzen  (vgl.  Paul,  anm.  zu  Greg.  503). 

In  kärntischen  Urkunden  bildet  das  verhum  der  3.  klasse  loern  =  werden  den 
conj.  praet.  ohne  unilaut:  wurd.  Heinrichs  form  bürde  für  bürde  entspricht  genau 
urk.  gebärde,  purd. 

Typus  -urfe. 

10  446  venvurfe  (conj.)  :  dürfe  (conj.).  V  hat  vencurf :  darf :  aus  P  ver- 
zeichnet Scholl  nur  bedilrffe. 

Typus  -urge-. 

3066  icürge II  :  bürgen  (subst.) ;  kärntisch  urk.  ^jwr^er. 

Typus  -urret. 

Die  neutralen  reime  10  699  bewurret  (conj.)  :  geturr et  (conj.)  und  26  923  ver- 
unn-ret  (conj.)  ;  geturret  (conj.)  erklären  sich  daraus,  dass  Heinrich  wie  immer 
dialektische  biudungen,  die  einem  auderssprechenden  leser  oder  zuhörer  wider- 
wärtig sein  könnten,  nur  untereinander  zu  reimen  liebt.  Aus  den  lesarten  scheint 
hervorzugehen,  dass  in  den  vorlagen  der  hss.  umgelautete  formen  nicht  gestanden 
haben.  Im  ersteren  falle  verzeichnet  Scholl  aus  P  venverret,  aus  V  bewerret,  im 
zweiten  aus  P  verwerret.  Diese  Schreibung  beweist,  dass  jedenfalls  nicht  ü  über- 
liefert war. 

Typus  -urste-. 

1804  viirsten  (acc.)  :  erdnrsten:  kärntisch  urk.  fursten  (pL),  gefursten  (pt.), 
dursten. 

Typus  -arte-. 

u  steht  fest  für  27  279  anticurt  (acc.)  :  zevuort  (praet.).  4261  rurte  (dat.)  : 
vuorte  (praet.).  20  186  vurt  (dat.)  :  vuort  (praet.) ;  18  243  vuort  (praet.)  ;  ^-urt  (acc), 
9139.  18  078;  4001  vuorte  (inä.)  :  gegemviirte  (dat.);  :  antivurte  (acc.)  11228.  Dem- 
nach dürfen  als  it-reime  angesehen  werden  die  neutralen  bindungen:  10  237  vuorte 
(conj.)  :  antwurte  (dat.).  Man  wird  hier  vuorte  um  so  sicherer  auffassen  können, 
als  auch  V  und  P  auf  fehlen  des  umlautes  hinweisen.  P  hat  fürte  :  antworte  : 
T  fuort :  antworte.  Ein  völlig  sicherer  beweis  für  aniivürte  ist  dieser  reim  nicht. 
Die  stelle  lautet :  10  236  ff. :  Ich  vrägte ,  iver  im  het  gegeben  Diu  ors ,  diu  er 
vuorte  (vüerte).  Er  tvas  zer  antivurte  {antwurte)  usw.  4157  antwurt  (dat.)  :  spurt 
(3.  pers.  sing,  praes.).  Die  lesart  von  P  lautet  bei  Scholl  antwort.  Nun  setzt  aber 
diese  hs.  für  u  öfter  o  (vgl.  Reissenberger,  Zur  Krone  s.  4).  Kärntisch  (»ittvurt 
einförmig  in  allen  casus. 

Aus  den  letzten  reimen  ergibt  sich  also,  dass  Heinrich  die  hierhergehörigen 
fem.  f-stämme  in  den  casus  obliquis  nicht  umlautet.  Nur  bei  Wolfram  stehen  diese 
umlautentbehrenden  formen  noch  auf  sicheres  u  gereimt.  Hartmann  und  Gottfried 
schwanken  zwischen  u  und  ü. 

b)  Der  u  m  1  a  u  t  des  ü. 

Reime  auf  sicheres  iu  sind:  Hute  (honiines)  :  bediute  (conj.)  7106.  29  438. 
Unten  :  bed inten  (inf.)  26373;  :  triuten  (inf.)  17746.  geriutet  (3.  sing.)  :  diutet. 
Hingegen  kommen  keine  belege  vor  für  das  unterbleiben   des  umlautes.    Die  liand- 


HKINRICH   VON    DEJI   TUKLix    UND    DIE    SPKACHFORM    SEINER   KUuNE  307 

achriften  bestätigen  die  diphthongierung.  Daher  ist  in  folgenden  bindungen,  wo 
Scholl  ü  druckt,  iu  zu  setzen:  7990  liate  (stf.  sonitus)  :  hediute  (couj.).  V  Uuie  : 
bedeute,  P  li'ite  :  betüte.  10  929  Uuten  :  triuten,  V  Unten,  uüd  16  883 ;  endlich  iu 
dem  conj.  praet.  bediate  :  h'titc  13  622,  P  betaute  :  laute. 

Nicht  so  gesichert  steht  in  vor  tv.  Der  Inf.  rimven  erscheint  in  den  verseu: 
1350.  3905.  7138.  11185.  15  588.  16  266.  17  260.  20  647.  26  069.  27  939  zu  iriuwen 
gebunden;  :  entriuwen  :  nimven  (Inf.)  4655;  :  bliuioeii  26  015.  :  vertriuwen  10  872, 
P  vertyiiwen  :  ruwen.  Das  praes.  riuwet :  ernitiwet  (part.)  17  306;  :  veruntriuivet 
(part.)  25  215.  ernimcet  (part.)  ;  veruntriuwet  28  027.  Da  trüwen  nirgends  durch 
einen  reim  erwiesen  ist,  wird  25  203  gelesen  werden  müssen :  getrouivcn  find. )  : 
erhouwen  (part.). 

Dagegen  muss  ü  geschrieben  werden  in  13  277  gi-uwen  :  rmven,  da  für  griuiceii 
in  den  wbb.  sich  kein  beleg  findet;  dazu  bringt  P  grawen  :  krawen,  woraus  eher 
noch  ein  grouwen  :  krouwen  erschlossen  werden  könnte.  Ferner  ist  nach  ausweis 
dieser  stelle  auch  3823  zu  ändern  in  rüwen  (inf.)  ;  hüwen  (dat.  sing.)  'nachteule'; 
V  roiven  :  howen  (P  führt  Scholl  nicht  an).  18  116  reimt  der  acc.  pl.  goltgrüs  auf 
üz.  Da  das  wort  auch  iu  die  f  deklinatiou  übergegangen  ist,  würde  man  im  plur. 
Umlaut  erwarten. 

Widerstand  gegen  den  umlaut  des  ü  lässt  sich  sonach  nur  vor  w  und  Imal 
vor  z  feststellen.  Mit  diesem  ergebnis  stimmen  auch  die  Verhältnisse  der  inundart 
Kärntens.  Die  Scheidung  beider  laute  (ü  und  iu)  zeigt  sich  nocli  deutlich,  ist  aber 
schon  im  begriife,  verwischt  zu  werden  ^ 

c)Umlautdeswo. 

Typus  -uoh-. 

uo  statt  üe  wird  nach  V  zu  setzen  sein  im  rückumlautenden  praet.  473  uobte 
:  betruobie.  P  bedruebte,  und  23  867.  Dagegen  bleibt  im  text  üe  im  praesens  dieser 
verba,  da  kein  einziger  beleg  für  sicherstehendes  uo  vorhanden  ist.  Heben  :  be- 
trilfbeu  24  272.  25  610.  üebet  (ind.)  :  betriiebet  (part.)  1326;  :  t Hiebet  (md.)  A902. 
Auch  die  gegenwärtige  mundart  hat  überall  umlaut: 

triaic  —  iriiebe,  tridbm  —  trüebe)i,  einidbm  —  Heben  usw. 

Typus  -uog-. 

Nicht  umgelautet  sind  folgende  beispiele:  4479  uiigevuoge  {a.d\.)  :  genuoge 
(plur.);  gevuogen  (eLdl)  :  truogen  (praet.)  9738.  27  015.  29  278.  :  sluogen  20  709; 
:  sluogen  :  truogen  18  543.  Nie  werden  zu  sicherem  uo  gebunden  die  conj.  praet. 
slüegc  :  trüege  4245.  11967.  14  054.  20  166.  slüegen  :  irüegen  4481.  trüegen  (conj.): 
rüegen  (inf.)  23  522.  Aus  diesen  bindungen  ergibt  sich  auch  für  das  adj.  gevüege 
üe  statt  des  dial.  uo. 

gevüege  :  trüege  (conj.)  289.  1197.  29  348;  :  gevüege  4723.  12186.  24107; 
:  ttcüege  914;    :  nüege  8215;    :  vürbüege  7766;    :  vürgebüege  19  913;    :  hüege  14  862. 

1)  Mhd.  iu  wird  heute  vor  w  und  r  nicht  umgelautet  und  als  oi  gesprochen: 
kiuwen  —  khoiudn,  bliuweu  —  ploinsn,  triuwe  —  tröi,  riuwen  —  kJiroinan,  tiure  — 
töir,  kiure  —  höir.  Daneben  besitzen  schon  die  der  stadtsprache  entlehnten  formen 
geltung:  tceir,  haeir,  troei  usf. 

Es  tritt  aber  umlaut  ein  vor  t  (wie  bei  Heinrich!).  Mhd.  iu  wird  zu  (fi: 
liute  —  losit,  diuten  —  dositn,  diuisch  —  tceitsch,  kriuter  —  kliroeitr  usw. 


308  GRABER  ^Hj 

:  slüege  3874;    trüege  :  slüege  :  Janfrüege  15  258;    ungefüege  :  sliiege  12  030.     slüege 
:  Janfrütge  15  289. 

Durch  diese  bindungen  ist  kaum  der  beweis  erbracht,  dass  Heinrich  v.  T.  die 
uinlautlose  form  des  adj.  geimoge  aus  seinem  dialekt  im  gedichte  verwendet'. 

Typus  -aof-, 

uo  muss  gesetzt  werden  in  7108  ruoftnt  :  wuofent  (V  rueffent  :  wueffent. 
P  licffent  :  wiefent);  in  den  inff.  9211  riiofen  :  wuofen.  Hier  gibt  Scholl  die  les- 
arten  nicht  an;  11237  V  rueffen,  P  ruoffm  ixud  endlich  16  886,  wofür  bei  Scholl 
wieder  die  Variationen  der  hss.  fehlen. 

Heute  spricht  mau  ruofn  neben  ri^fn  'rufen'. 

Typus  -U01C-.  f 

Sicheres    uo   haben   26  736   muowen  (inf.)  :  ruowen.     Daher   nehmen   wir   die  | 

berechtigung,   auch   in   folgenden   reimen   uo  anzunehmen :   3277  nmoiven  :  vruotven  \ 

(inf.),  V  bietet  hier  muogen  :  frven,  P  frven.     7525  geruowet  :  gevruotcet  -.  i 

Typus  -uor-. 

uo  wird  vor  r  nicht  umgelautet :  20  704  ruoren  (inf.)  :  viioren  (praet.).  Den- 
noch besitzt  dieser  vereinzelte  reim  zu  wenig  beweiskraft,  als  dass  man  bei  einer 
neuausgabe  der  Krone  uo  statt  üe  vor  r  allgemein  durchführen  dürfte.  Für  uns 
genügt  es,  festzustellen,  dass  Heinrichs  dialekt  diese  umlautentbehrenden  formen 
kannte.  Wahrscheinlich  hat  er  sie  auch  in  den  neutralen  reimen  gesprochen,  die 
er  in  dem  für  ein  grösseres   publikum   bestimmten  werke  deshalb  in  schwebe  Hess: 

rueren  :  vüeren  1455.  9866  Y  fuerii,  10  718  V  vnern  :  rueni.  11680.  15  356. 
19  013.  25  084.  26  316.  Auch  die  conj.  praet.  der  starken  verba  (YI.  kl.)  werden 
immer  nur  zueinander  gebunden:  vüere  :  sicüere  5113.  Y  gesicüer.  9762  F  fuor  : 
sivuor.  11063  V  ervür.  16  094.  16  634  P  füre.  18  918.  22  773.  29  574.  Da»  i 
part.  herüeret  :  gevüeret  28  401  P  gerürt  :  gefürt.  Beide  hss.  stimmen  4064  in  der 
vokalisation  überein:  gevücre  (dat.)  :  r//p;e  (conj.)  'P  fuor,  Y  gefuore  :  vuore.  Die 
stelle  4062  ff.  ist  mit  Singer  zu  interpungieren :  Gdles  was  an  der  rede  karc  Und 
icarp  nach  gevüere;  Das  im  nü  widerväere  Guot  wider  guot,  des  gert  er,  Sit  guot 
guoies  ist  gewer.  Er  usw.  9151  P  fuore  :  wuore,  doch  soll  vüere  (conj.)  :  wüere 
(pl.  von  wuor)  stehen  bleiben  (vgl.  auch  den  umlaut  im  plur.  von  gluot  10  331). 
Ebenso  20  291,   wo   die  Varianten  bei  Scholl  fehlen:    vüere  (ind.)  :  wüere  (stf.  sing.). 

Ganz  sichere  beweise  für  das  unterbleiben  des  umlautes  von  uo  im  conj. 
praet.  der  VI.  kl.  liegen  nicht  vor. 

Mundartlich  ist  mhd.  uo  vor  r  zu  l  geworden:  rlrn  —  rüeren;  flrn  —  vüe- 
ren usw.  Die  conj.  praet.  werden  nicht  mehr  abgelautet:  fprH  zu  fprn  =  mhd. 
vorn:  subst.  wüere  (wuore)  mundartlich  iclra  u.  a. 


1)  In  der  heutigen  spräche  Kärntens  gibt  es  keine  uo  vor  g :  kßag,  unJcß9g  usw. 
Selbst  die  beiden  allein  noch  erhaltenen  starken  praeteritalformen  sliagat  von  s/figi) 
und  tridgat  von  trfigu  sind  schon  umgelautet. 

2)  In  der  heutigen  mundart  ist  der  umlaut  im  allgemeinen  schon  durch- 
gedrungen: riawe  =■  rüeivec,  {pd)tn(andn  =  muowen.  Doch  zeigen  sich  noch  spuren 
von  altem  uo  in  hemt  lign  i  mi  fdfrudt  'ich  bin  heute  zu  früh  gekommen',  und  im 
windischen  lehnwort  müdja  mühe. 


HEINRICH   VON   DEM   TURLIN   UND   DIE    SPRACHFORM   SEINER   KRuNE  309 

Typus   -UOZ-. 

uo  statt  üe  haben  die  reime  23  739  ;  suoze  (adj.)  ;  gruoze  (dat.) ;  :  vuoze 
26  456.  Andere  reime,  die  den  widerstand  gegen  umlaut  des  uo  vor  z  beweisen 
würden,  finde  ich  nicht.  Daher  müssen  die  sw.  Jaji-verba  mit  langem  wurzel- 
vokal und  einfachem  kousonauten  im  ind.  und  conj.  des  praesens  sowie  das 
praeteritopraesens  müezen  umgelautet  in  den  text  genommen  werden:  1841  müezen 
(iad.)  :  büesen  (Inf.);  müeze  (conj.)  :  siiese  (subst.  und  adj.)  4555.  19  569.  24  594; 
:  siieze  :  grtteze  (plur.)  17  212 ;  süeze  (subst.)  .•  grilese  (ind.)  28  183.  mutzen  (ind.)  : 
süezen  (adj.)  17  294;  :  vüezen  26  644;  vüezen  :  biiezen  11170;  :  gesüezen  19  768. 
süeze  [diA].)  :  grüeze  (plur.)  130.  13  894;  :  vüeze  9412.  vüezen  :  grüezen  {-^hiv.)  6458; 
.•  süezen  (adj.)  15  775  '. 

Aus  der  angestellten  Untersuchung  ergeben  sich  nachstehende  tatsachen : 
Heinrichs  dialekt  weist  sehr  starken  widerstand  gegen  den  umlaut  des  u  auf.  Uni- 
lautfähige  u  reimen  in  der  Krone  auf  solche,  denen  der  umlaut  nicht  zukommt, 
vor  jm,  nft,  nd,  ng,  nk,  nst ;  vor  cl;  dann  teilweise  vor  einfachem  auslautenden  r, 
weiter  vor  rd  und  rt,  st  und  zz.  Unumgelautetes  ü  begegnet  vor  r,  g,  w  und  z. 
Im  grossen  und  ganzen  zeigte  es  sich,  dass  die  nicht  umgelaiiteten  formen  im 
dialekte  Heinrichs  wohl  begründet  waren,  da  einige  lauterscheinungen  seiner 
spräche,  wie  sie  durch  die  reime  festgelegt  sind,  mit  der  heutigen  mundart  und  der 
spräche  der  Urkunden  grosse  Übereinstimmungen  aufweisen.  Die  annähme  ist  daher 
nicht  allzukühn,  Heinrich  habe  den  kärtner  dialekt  gesprochen  und  in  ilim  sein 
gedieht  geschrieben. 

Es  gelingt  dem  dichter  nur  schwer,  von  mundartlichen  formen  loszukommen 
und  in  all  der  mühe  lässt  sich  sein  streben  nach  jener  literatursprache,  die  auch  ihm 
als  ideal  vorgeschwebt  haben  muss,  noch  deutlich  erkennen. 

II.  Konsonanten. 

Im  konsonantismus  weist  die  spräche  der  Krone  mit  den  lautgesetzeu  der  kärnt- 
ner  mundart  ebensoviel  oder  noch   mehr  Übereinstimmungen  auf  als  im  vokalismus. 

A.  Lippenlaute. 

1.  Reime  von  h  :  v  und  b  :  lo. 

In  den  reimen  der  Krone  werden  manchmal  b  und  v  vertauscht,  d.  h.  die 
Verschiebung  des  germ.  bh  war  im  kärntischen  nicht  zum  verschlusslaut  b  gelangt, 
sondern  der  reibelaut  hatte  sich  zu  bilabialem  v  entwickelt. 

2'dO'i  fabele  :  runttavele;  29  231  schachzabel  :  tavel.  12  471  heben  (inf.) :  neven. 
Ausserhalb  des  reimes  stehen  17  775  ein  vrabeler  hneht.    26  468  vrabd". 


1)  Zum  Schlüsse  dieses  kapitels  sei  noch  erwälmt,  dass  das  stf.  der  ?-dekl. 
gluot,  welches  früher  zur  w-dekl.  gehörte,  im  plur.  umlaut  annimmt:  10  331  glätte 
:  hüete  (conj.)  .•  geivüefe  (conj.). 

Bemerkenswert  bleibt  endlich  auch,  dass  der  conj.  des  praesens  von  tiioii  bei 
Heinrich  nie  tüeje,  sondern  immer  nur  ttw  lautet.  So  reimt  er  8542.  7199.  17  930: 
zuo;  4863.  964i :  vruo  (adv.) ;  7301.  18  910:  zuo  :  vruo.  Dialektisch  zu  nuo  3866. 
6964.  12  362. 

2)  Am    besten   spiegelt   sich    der   frühere   sprachzustand    des   kärntischen   in 

ZEITSCHEIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  21 


310  GRABER 

2mal  setzt  Heinrich  v.  T.  w  für  h :  2049  salbet :  valwet  und  26  027  salben 
(iuf.)  :  valwen  (für  das  subst.  salben  (dat.)  ist  b  gesichert  durch  die  reime :  halben 
6732  und  12  538).  Diesen  Wechsel  weist  bereits  die  urk.  Schreibung  mancher  Wörter : 
gegenbuH  für  gegemourt;  gebis  für  gewis  u.  a.  Auch  v  steht  in  urk.  häufig  für  b: 
gewerve,  aver  u.  ä.  K 

Es  liegt  kein  grund  vor,  b  für  w  in  den  reimen  der  Krone  varbe  :  begarbe 
anzunehmen,  wie  es  Reissenberger  will;  begarbe  ist  bei  keinem  dichter  belegbar, 
zudem  hat  auch  P  21  132  farwen  :  begarbe,  wenn  auch  in  zwei  anderen  von  Scholl 
mit  Varianten  versehenen  versen  nur  die  ft-formen  stehen. 

2.  Germ,  p  ./. 

Germ,  p  erscheint  im  adj.  scharf  immer  nur  als  /  (kein  scharpf),  scharf 
reimt  wie  bei  Wolfram  nur  auf  warf  und  bedarf:  9395.  12  162.  13  498. 
13  597.  14  916.  17  255.  20  835.  20  9271 


a)  Im  auslaute :  10  528  hosen  (acc.)  ;  rosemie)  (acc.  sg.)  flecken,  vreissam  : 
geican  15  575.  vreissam  erscheint  festgelegt  durch  6  reime  auf  -am;  dazu  4367 
an  :  alsam :  mediam  :  an  6668. 

b)  Vor  t.  geschämt  :  genant :  samt  3898  (V  genant,  P  gemant) ;  :  schämt 
4132;  ;  beidensamt  16  562  (P  beiden  sampt)^. 

B.  Zahnlaute. 

1.  a)  t  :  d. 

10  498  strite  :  Galam/de  (P  stryde,  V  calamit) ;  14  629  geliden  :  riien  ver- 
schwindet aus  der  reihe  der  ungenauen  reime,  da  D  folgende  lesart  enthält:  Daz 
er  niht  moht  erliden,  Ob  er  sich  umbe  rtden  Wolt  ab  der  stat  iender,  Wan  er 
enmoht  sich  niender  Gerüeren,  loan  als  er  saz.  Das  wort  sich  umb  rtden  findet 
sich  sonst  nur  bei  Konrad  v.  Megenberg  (=  'sich  umdrehen')  ^. 

b)  Abfall  des  t  im  auslaut. 

1812  ir  täte  (praet.)  ;  sj^aie  (adv.) ;  :  rate  (subst.)  17  265;  ir  möhte  :  töhte 
(3.  pers.  sg.)  21531.  Man  könnte  mit  apokope  und  synkope  auch  lesen:  möht : 
tüht,  nur  scheint  mir  dagegen  zu  sprechen  P  mähten  :  dohte. 

urkundlichen  formen,  wie  z.  b.  berublich  =  beruflich,  und  in  alten  lehnwörtern  des 
windischen.  Hier  erscheint  germ.  /  in  der  regel  als  b  auch  dort,  wo  die  mundart 
schon  /  hat:  blrtax  =  fürtuch,  schürze,  bllsäk  fleissig.  bdhdta  (<  *bolgatf)  folgen. 
isebr  käfer.  trlbos  (ma.  drlfuds)  dreifuss.  pulbr  —  jmlfr.  tabiia  schreibtafel,  sibra 
(mhd.  schiver)  splitter,  glasscheibe. 

1)  Noch  heute  spricht  man  in-  und  auslautendes  b  als  tc :  säw  schaub,  kh^Itv 
—  khölwr  kalb,  irw  erbe,  hiriv9st  herbst,  möswurg  Moosburg,  ivöwr  weher.  Die- 
selbe entwicklung  hat  b  in  fremdwörtern  durchgemacht:  looste  Sebastian,  wäbm 
(wind,  bäbci)  alte  frau.  tlwats,  wind,  tlbdtse  Tiebitsch  (ortsname).  wäicdU  Bai'bara, 
wendl  Benedikt  u.  a. 

2)  In  der  kärutuer  mundart  sQrf,  dagegen  harpfn  noch  mit  pf. 

3)  Vgl.  kärntisch:  khrüsngelt  spende  des  taufpaten  (mhd.  kresem  chrisam). 
g^dn  —  gadem  schrank,  getreidekasten.  gtn  athem,  f<jdn  faden;  pan  =  bei  dem; 
aber  auch  inlautend  in  haupttonigen  silben:  gränan,  er  grünt  sd  grämen,  er  grämt 
sich;  gegrünt  gegrämt,  grän  kummer,  gram  u.  v.  a. 

4)  In  der  mundart  erweicht  sich  t  inlautend  zu  d  besonders  gern  nach  langen 
vokalen  oder  diphthongen :   da  sgnkx  fceidr  die  St.  Veiter  (bürger) ;  fteidl  (dem.  zu 


HEINRICH   VON    DEM   TURlIn    UND    DIE    SPRAf!HFORM    SEINER    KRÖNE  311 

Für  13  414  vil:wil  (2.  pers.  siug.)  :  spil  braucht  nicht  ahfall  des  t  auge- 
nommen  zu  werdend 

cl  d  für  t  nach  liquiden. 

a)  Nach  /. 

Ahd.  t,  westgerm.  d  erscheint  nach  l  in  Heinrichs  spräche  als  d  und  f.  Reime 
der  o-reihe  mit  sicherem  d  sind  nur  ivalde  :  holde  5mal,  Imal  halden  (iuf.)  :  halden 
(dat.  sing.).  Dagegen  dat.  cfetvalte  :  valte  (praet.)  3mal ;  haltest  :  alten  (inf.)  13  849 ; 
:  stalten  (praet.)  20  224;  :  v alten  (praet.)  26  148.  Sonst  reimen  nur  noch  geivalte 
(dat.)  ;  tvalte  (ind.),  halfen,  walten  :  gevalten  (part.)  in  10  belegen. 

gezelde  reimt  Smal  auf  velde  (dat.)  815.  18  728.  22  255,  jedoch  gelten,  schelten 
und  selten  nur  unter  sich. 

4942  müie  (subst.)  :  erhilte  (praet.) ;  29  229  muten  (adj.)  .•  spilten  (praet.).  Da- 
neben milde  (subst.  und  adj.)  auf  bilde  (pl.),  loilde,  gevilde  und  schilde,  für  welches 
d  feststeht,  7mal  gereimt.  Dazu  gehört  auch  13  373,  obschon  Scholl  t  druckt. 
schilde(n)  reimt  15mal  auf  bilde,  gevilde,  ivilde ;  sonst  stehen  im  gleichen  typus 
nur  noch  21  reime  von  gevilde,  bilde,  icilde  untereinander.  Über  hielten,  wielten, 
vielten  lässt  sich  keine  entscheidung  treffen,  weil  sie  nur  zueinander  gebunden 
werden  (6mal). 

Für  solde,  tvolde  (praet.  ind.  und  couj.)  steht  d  durch  (31):  Micholde  (dat.), 
Isolde,  solde  (dat.),  golde  (dat.),  holde  (plur.) ;  vergolten  :  malten  3037.  6507.  12  020 ; 
daher  6426  vergolten  :  ivolten  (praet.),  :  gescholten  17  836.  22  761 ;  desgleichen  8615, 
engolten  (i^art.)  :  gescholten  17  899;  :  wollen  17  244-. 

Der  reim  dulden  (inf.)  ;  schulden  (zu  schelten)  beweist  d  für  dieses  praet. 
17  851.  Daraus  erschliesst  man  d  für  8358  gülden  (praet.)  ;  schulden  (praet.)  und 
6812.  3550.  12  089  schulde  (conj.  praet.)  ;  vergulde  (conj.).  Die  übrigen  16  reime 
von  hulde(n)  (snhst.) :  schulde(n)  (s\i\)St^  :  Überguide  (aäj.)  kommeri  nicht  in  betracht. 

ß)  Nach  n. 

Nirgends  hat  Heinrich  den  leser  im  zweifei  gelassen,  wie  er  zu  lesen  habe. 
Er  reimt  23  satide  (ind.  und  conj.  praet.)  auf  lande,  ande  (praep.-adv.),  rande  (subst.), 
Schande,  sande  (subst.),  bände  (subst.),  dagegen  nie  auf  -ante.  Daher  ist  auch  10  232 
sande  ;  bekunde  (praet.),  15  285  ;  brande  (praet.)  und  23  374  ;  swande  (praet.)  zu 
lesen.  17mal  kehrt  wände  (ind.  und  conj.  praet.)  wieder.  Derselben  regel  sind  da- 
her auch  folgende  reime  unterzustellen  (wo  SchoU  t  druckt):  9157  wände  :  Jeande; 
wanden  :  randen  (praet.)  19  197.  Das  praet.  wände,  welches  8316  auf  lande  reimt, 
hat  dort  auffallenderweise  die  intransitive  bedeutung  'wandte  sich'.  Das  praet. 
kande   stellt    14mal   im    reime   aber   nie    auf  sichere   ^-formen,   weshalb   es  auch  in 


Veit)  =  schlechtes  tascheuinesser.     Im  Lesachtal:  mujda  mutter,  fpda  vater,  2)röd9 
bretter,  plöda  blätter  usw. 

1)  Vereinzelt  finden  sich  noch  jetzt  in  der  niundart  formen,  bei  denen  aus- 
lautendes /  abgefallen  ist:  mgrkx  markt  (auf  dem  Wechsel  zwischen  scliriftsprache 
und  dialekt beruht  auch  der  brauch  ungebildeter  leute,  Steiermarkt  mit  t  zu  schreiben); 
pluo,  plur.  2)1119  <  blaot  blute;  grts  arzt,  is  er  ist;  gmp  (<  *ambt),  er  Jirp  färbt; 
pringg  bringt ;  SQnhx  sankt  usw. ;  rwinfrös  reinfrost,  pfantsl  (mhd.  pfunselte)  pfann- 
kuchen ;  QdlprQx  hausname  'Adelbrecht'  u.  v.  a. 

2)  d  hat  man  ferner  zu  setzen:  5148  wolde  :  holde  (praet.);  :  kohle  11155. 
kolden  :  wolden  19  068.  In  der  schwebe  bleiben  die  52  übrigen  bindungen  von 
solde  :  wolde. 

21* 


312  GRABER 

foli,'eiideii  beispielen  mit  d  gelesen  werden  muss :  2823  ;  mnnile,  29  397 ;  :  nande 
6015.  18  638.  16  524.  17  642.  21053.  29  262  und  :  rande  (praet.)  11276.  5mal 
reimt  nande,  dazu  zählt  dann  auch  16  274  nanden  :  mandea;  je  5mal  reimen 
sicande  (sivcndeii)  und  rande  und  Imal  brande  [brennen)  auf  sichere  rf- formen. 
Daraus  ergibt  sich  d  auch  für  15  172  brande  :  sivande.  /-formen  fehlen  in  diesem 
typus  gänzlich  \ 

13  752  voJenden  <  *volenttm  (praet.)  :  senden  (P  volendten!).  Für  die  praet.- 
formen  iveinie,  bescheinte,  meinte,  leinte,  die  9mal  zueinander  gebunden  werden,  lässt 
sich  d  auch  mit  hilfe  der  hss.  nicht  festlegen.  SchoU  verzeichnet  nur  für  1 1  756 
V  weint  :  bescheint,  P  bescheinte. 

Bemerkenswert  sind  je  8  praeterita  schunde(n),  zunde(n),  welche  gesichert 
werden  durch  reime  auf  gunde{n)  (subst.),  tavelrunde,  künde  (praet.),  stunde,  be- 
g linde,  munde  usw. 

Y)  Nach  ;•. 

Nie  gebraucht  Heinrich  v.  T.  d-formen  im  praet.  kerte,  erte,  merte,  lerte.  Es 
finden  sich  in  der  Krone  16  derartige  reimpaare.  Warnatsch  führt  aus  dem  'Mantel' 
vers  225  an :  bekerden  :  werden  und  daneben  aus  der  'Krone'  17  646  kerde  :  erde  : 
erde.  Doch  beruht  dieses  zitat  auf  einem  Irrtum.  Das  reimpaar  17  546  lautet  kerte- 
:  erte,  dasjenige  von  17  548  erde  :  icerde". 

Im  allgemeinen  bietet  t  :  d  noch  keine  gewähr  für  den  kämtischen  Charakter 
der  spräche  der  Krone. 

2.  Abfall  des  s. 

11127  geben  :  des  lebens ;  19  131  scharsachs  :  brach  (praet.);  :  ungern  ach 
6796.  Vermutlich  auch  vil  :  spils  22  701;  denn  gen.  muss  nach /^j^a^/en  wohl  an- 
genommen werden.  Die  form  scharsach  findet  sich  auch  noch  bei  Gottfrid,  Bert- 
hold V.  Eegensb.  und  bei  den  bayr.-österr.  (Mchtern  Ulrich  v.  Lichtenstein,  Heinr.. 
V.  Neustadt,  im  Sigenot  und  in  Seifrids  Alexandreis  ^. 

1)  Dem  reimgebrauch  im  gedichte  'Der  Mantel',  welches  vermutlich  ebenfalls 
Heinrich  v.  d.  Turlin  zum  Verfasser  hat,  entspricht  es,  dass  auch  in  der  Krone  8213 
und  23  505  mandel  :  icandel  reimt.     Die  Storni  kennt  der  dichter  nicht. 

2)  nd  erscheint  kämt,  in  frtsandhi  verunstalten  (zu  schände),  sindl  schale, 
rinde  (stadtspr.  sm<Z).  Igndrds  ländlich.  jjs<e«f/f  beständig,  standet  stünde  (dagegen 
stantrle  Ständchen),  aniddum  'umundum'  (städtisch:  umjtmn).  frswendr  Ver- 
schwender (dagegen  swentr  roder),     sindr  sünder,  sindin  sündigen. 

Sonst  nt:  grante  verdriesslich,  Ighntr  lachend,  saalentH  mit  schwach  ent- 
wickeltem hinterteil.   hant'e  bitter,  hintle  hündchen,    montl  mantel,  tsuntr  zunder  usw. 

Wie  Heinrichs  spräche  so  schwankt  auch  die  heutige  muudart  noch  im  ge- 
brauche von  d  und  t  (<  germ.  p)  nach  l  und  r :  sald'e  schuldig  und  sultn  schulden ; 
feit,  feltle  feld,  wildrn  wildern  und  iviltusn  'sich  roh,  ausgelassen  benehmen'. 

t  vor  r  .•  fakher  t  e  ivelt  verkehrte  weit,  gepirte  gebürtig,  fahirtn  verhärten. 
p-trweis  'orterweis'  =  hie  und  da.     hamkhertr  heimgekehrter. 

d  nach  r;  gepirda  (gleich  wie  gepirte),  wirdn  würden,  purdn  aufbürden. 
'Höfisch'  sind  pirtn,  gtvortn,  ertn,  ortnmig  usw. 

3)  Abfall  des  ä  im  gen.  von  subst.  lässt  sich  an  lebenden  formen  der  mund- 
art  nicht  mehr  nachweisen.  Doch  kann  dieser  lautvorgang  für  eine  frühere  sprach- 
epoche ermittelt  werden  aus  zahlreichen  noch  ungedruckten  volksdramen  und  -liedern 
wie  auch  aus  kärntischen  Ortsnamen,  bei  denen  die  gen.  enduug  geschwunden  ist: 
fridlax  Friedlach  (urk.  Vrideloseiche  oft  belegt),  plsldprf  Pischeldorf  (urk.  Pischol- 
fesdorf).    pjJsofpjerg   Bischofsberg  u.  a.  m.     Ferner    entbehren    die    ursprünglichen 


HEINRICH   VON   DEM   TURLIN   UND   DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRONE  313 

3.  s  :  s  und  ss  :  z s. 

1223  liegt  in  SchoUs  text  ein  druckfehler  vor,  es  soll  heissen  üz :  grüs  (körn). 
niht  umbe  den  grüz  ist  in  der  Krone   beliebte   Umschreibung   des  begriffes  'nichts'. 

Lnnders  :  unkundez  (comp,  neutr.)  548;  18  117  griezen  (dat.  pl.)  ;  vliesen. 
Pfeiffer  (Freie  forschung  s.  120)  schlägt  vor:  dar  umbe  ich  nicht  verlieze  (conj. 
praet.)  das  ich  der  namen  niht  enseit.  P  selbst  scheint  durch  die  doppelung  sz 
in  verlieszen  auf  eine  vorgenommene  änderung  hinzuweisen.  Aber  ein  sicheres  bei- 
spiel  für  bindung  von  s  :  z  bildet  dieser  reim  nicht. 

ivirs  :  mirz  24  423;  saz  :  was  26  579;  rossen  :  mervlozzen  982  ^ 

4.  Abfall  des  n. 

18  039  ividerrede  (subst.)  .•  streben  (inf.).  2202  brunne  (nom.)  .•  sunnen  (dat.), 
P  hronn  :  sonn,  V  sonne.  Der  acc.  sunne  steht  fest  durch  den  reim  auf  den  nom. 
^unne  12  809.     brunnen  (dat.)  .•  gewänne  6645 '-'. 

21 533  zuo  vehten  :  eime  knehte.  25  710  muss  mit  Ehrismanu  gebessert 
•werden:  Und  obe  iiich  hete  holden  Gansguoter  von  Micholde.  Dass  der  dat. 
Micholde  lautet,  beweisen  die  reime  auf  golde  und  wolde  20  129  und  auf  wolde 
13  033.  Auch  dafür  gibt  es  einen  beleg,  dass  Heinrich  v.  Turlin  das  praed.  adj. 
in  beziehung  zu  einem  objects-acc.  setzt  und  mit  diesem  in  formelle  Übereinstim- 
mung bringt :  26  085  Des  müesten  si  in  holden  Haben  .  .  . 

n  fällt  am  wortende  weg:  2982  Virgiule  (dat.)  :  hiulen  (inf.);  20  986  sin 
(inf.)  .•  undervie  gehört  wahrscheinlich  nicht  hierher,  sondern  es  liegt  textverderbnis 
vor,  der  Singer  beizukommen  trachtet,  indem  er  vorschlägt:  desirdre  moht  es  auch 
wol  sie. 

Im  inf.  fällt  n  weg:  15  174  geheize  (acc.)  :  smelzen.  In  den  unechten  verseu 
des  schi'eiberanhangs  30  021  ee  erkennen  :  eteswenne  (P  erkennen  :  ettwenne).  24  249 
vdhen  :  si  sint  iuch  niht  versmähe  (adj.)  s.  Lexer  III,  235.  Im  acc.  sg.  nam  <  namen 
:  vernam  8374;  .•  lobesam  10  438 ;  .■  benam  16  520;  .•  gezam  :  vernam  21  590 ;  .■  alsam 

starken  persönlichen  subst.  heute  jeglicher  flexion  im  gen.:  s  hansl  des  hans,  s  nisl, 
s  drakslr  u.  a.  Die  endung  -s  wurde  endlich  fallen  gelassen  in  adverbialen  Ver- 
bindungen, wo  ursprünglich  zwei  flektierte  genetive  nebeneinander  standen:  mästn- 
täl  meistenteils,  änstäl,  greastntäl  eines-,  grösstenteils,  hnlbmtul  'halbenteils',  zur 
hälfte;  hceintikstrig  heutiges  tages,  heutzutage. 

1)  In  der  kärntner  mundart  erscheinen  s  und  z  sowohl  im  in-  als  auslaut  als 
stimmlose  lenes:  vgl.  gidsn,  vridsn,  häsn  (heizen),  frlidsn,  griasn,  gratis  grausen, 
grgas  gross ;  ebenso  flösn  =  vlozsen  iron.  für  bände  oder  füsse,  rösr  rösser  u.  a. 
Dass  die  beiden  5-laute  aber  in  einer  früheren  sprachperiode  verschieden  waren, 
geht  mit  Sicherheit  aus  ihrer  verschiedenen  Lautung  in  deutschen  Ichnwörtern  des 
windischen  hervor.  Hier  vertritt  deutsches  z  durchweg  ä.- ^JwsÄa  busse,  /a-Ma.s- gruss, 
pösrnisd  besser,  füsl  =  ma.  fäsl  fässchen.  Mhd.  .s  dagegen  wird  ^wiedergegeben 
durch  z:  zihata  sinnen,  zmax  (mhd.  smac)  geschmack;  mza  weise,  huaz  glas,  farouz 
pfarrhaus  usf.  oder  durch  s:  hulsnö  gewiss,  mesä  messe,  kustä  küssen,  sj)  und  st 
als  .sp  und  st:  spei  spiel,  fernst  dunst. 

Diese  Verhältnisse  ergeben  für  das  deutsche  s  und  z  verschiedene  artikuhi- 
tionen.  Das  alte  s  muss  .s-ähnlich  gewesen  sein,  während  z  wie  das  s  unserer 
heutigen  mundart  mehr  coronal  gebildet  wurde.  In  kärntner  Urkunden  wird  erst 
seit   dem   ausgang   des    14.  Jahrhunderts  ss  oder  s  für   mhd.  zz  oder  z  geschrieben. 

2)  Infolge  frühzeitigen  wegfallens  der  endung  -en  ist  nebst  anderen  auch 
das  subst.  (ursprünglich  «-stamm)  pniii  'brunnen'  in  der  mundart  in  die  starke 
deklination  übergetreten. 


314  GRABER 

25  858.    schat  (acc.)  <  schaten  :  stat  8318.  25  323.    schat  (dat.)  :  stat  11634;  :  pfat 
19  348.     Im  dat.  plur.  vriundinne  :  minne  1909  \ 

5.  11  n  :  n  d. 

27  431  brunnen  (3.  pers.  pl.)  ;  erwimden  (praet.) ;  erivinden  'ablassen  vou  etwas^ 
aufhören'.  Nur  durch  Ehrismanns  konjektur  wird  die  möglichkeit  geboten,  aus  der 
stelle  27  432  f.  den  richtigen  sinn  herauszubekommen:  Unde  doch  encunden  Sienie 
von  dein  muote  -. 

6.  Id  :  II. 

Wahrscheinlich  liegt  12  608  ein  fehler  in  der  hs.  vor  und  dieser  an- 
scheinend dialektische  reim  hat  fortzubleiben ;  es  muss  heissen  statt  ze  vilde  :  wil- 
len —  ze,  Villen  :  willen  'auf  den  dörfern' ;  villen  begegnet  auch  2119.  22  170. 

C.  Gaumenlaute. 

1.  gg  :  ck. 

15  675  legge  :  ecke.  Niemals  wird  inlautendes  kk  im  kärntischen  zu  g  oder 
gg,  wohl  aber  zu  kh:  Igklm  (ahd.  laccJia)  lache;  kröklin  krachen  machen,  mhd. 
krecken;  nokhdle  klösschen,  srikhn  bersten,  mhd.  seh  riehen :  lukhH  durchlöchert. 

Auf  der  anderen  seite  wird  g  (westgerm.  gg)  inlautend  durch  k  (bezw.  kk) 
in  anderen  kärntner  mundarten  wohl  auch  durch  aspii'iertes  kh  vertreten:  ökkn 
neben  ögn  Qgg&.  rekkln  neben  regln  quaken,  plaudern,  lökkn,  daneben  löggn  reihe, 
aufgeschichtetes  holz,     rakkrn  sich  abplagen  (iterat.  zu  regen),    glogge  glocke. 

Dieser  Wechsel  tritt  auch  nacli  cons.  ein:  glinggern  baumeln  u.  a.  murkhn 
girren,  rceinkhdle  in  schmalz  gebackenes  brötchen,  slankhlspui  'geriebener  bursche'. 

2.  k  :  eh. 

Heinrich  v.  T.  bindet  im  in-  und  auslaute  k  zu  eh.  Die  beispiele  für  In- 
laut sind:  linUrachen  :  kinnebacken  12  788;  eiteräraeken  :  kinnebacken  13  645; 
backen  :  drachen  13  406 ;    drache  :  gesmacke  13  497 ;   ;  kimiebacke  26  648 ;    für   a  u  s- 

1)  Sch^vund  des  n  lässt  sich  auch  im  heutigen  kärntischen  auf  ziemlich  breitem 
fehle  nachweisen;  es  ist  abgefallen  in  allen  mit  dem  dem.-sufiix  -Ihi  gebikleteu  zu- 
sammensetzuugen :  isaunkhiniugle  zaunkönig,  sternle  sternlein,  pUdml'e  blümlein, 
wplgrU  kosename  für  'mädchen',  (wplgv  einen  runden  gegenständ  wälzen),  stanle 
steinchen  usf.  (im  plur.  dieser  subst.  tritt  n  wieder  zum  Vorschein :  dö  sfernlan  die 
sternlein  usw.). 

n  fiel  ferner  ab  in  fürwörtern  vor  konsonant.  Anlaut  des  folgenden  wortes: 
m(ei  JJU9  mein  liebhaber,  scei  khint  sein  kind,  ä  pröt  ein  brett ;  kha  träm  kein 
ti'aum.  Desgleichen  hat  das  attribut.  adj.  nach  präpositionen  das  auslautende  n 
verloren :  mit  plgase  fii>sii  mit  blossen  füssen ;  j)«»!  mere  f/rtn  an  mehreren  stellen ; 
fgr  einige  stuntn  vor  einigen  stunden  usw.  Dann  ist  n  geschwunden  bei  der  un- 
flektierten form  im  neutr.  einiger  adjectiva,  die  in  pausa  auf«  auslauten,  und  zwar 
nur  in  Verbindung  mit  subst.,  die  konsonantisch  anlauten :  ä  khla  pisdl'e  ein  kleines 
bisschen;  ä  sea  dirndlc  ein  schönes  mädchen  usw.  und  in  adj.,  die  mit  dem  suffix 
-in  gebildet  sind:  .sivceina  fleis  'schweinernes'  fleisch,  häwra  prgt  'habernes'  brot  u.  a. 

In  einzelnen  kärntner  mundarten  (Gurk-,  Glan-  und  Lesachtal)  gebraucht  man 
sogar  noch  intinitive  auf-« ;  spriuga,  siuga,  räfa  springen,  singen,  raufen  u.  a.,  doch 
sind  diese  formen  im  absterben  begriffen  (vgl.  Lexer,  Kämt,  wb.,  spalte  149).  Zahl- 
reiche wichtige  belege  solcher  inf.  finden  sich  in  ungedruckten  volksschauspielen 
und  -liedern. 

2)  Im  Lesachtal  hört  man  noch  heute  formen  ßmidn  finden,  drfinndn  erfinden, 
Kunne  =  Kunigunde.     Im  Glan-  und  Gurktal:    dgs   wilnrt  w.'c  das   wundert   mich. 


HEINRICH   VOX   DEM   TURLlN   UND    DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRONE  315 

laut:  1232  beicac  :  l-yaeh  (V  ditz  vngeluckes  chrach,  P  slag).  5946  mac  :  krach 
(P  trag) ;  toarch  :  harc  80 ;  iverc  :  verch  12  089 ;  neic  (praet.)  .-  seic  :  gesiveich  6548 
(zur  Sicherung  der  form  gesiveich  beachte  man  die  reime  3554.  8678.  8860.  9451. 
9919.  28  320!).  Wahrscheinlich  dünkt  mir  auch  Singers  konjektur  für  28  663: 
neic  :  gesiveich  :  seic.  Es  heisst  nämlich  hier  formelhaft :  er  gie  unde  gesiveich  'er 
gieng  und  verschwand'. 

Dagegen  möchte  ich  28  432  nicht  unter  die  'unreinen  bindungeu'  stellen. 
Der  passus  lautet,  wenn  wir  anders  als  Scholl  und  Singer  interpungieren,  28  432  ff. : 
Wan  d'rre  vrouiven  dehein  Dühte  ivider  sie  zeniht{e)  Kleider,  schöne,  geschiht; 
Mit  den  er  vil  gerne  gie.  Im  ersten  satze  sind  Kleider,  sc/iöne  und  geschiht  die 
gen.  der  Ursache,  abhängig  von  dühte:  'was  kleider,  Schönheit  und  schickliches 
gebahren  anbelangt,  verschwanden  die  anderen  frauen  vor  ihnen  ganz'  {schöne 
kommt  als  unumgelautetes  subst.  auch  im  reim  vor)^ 

3.  ch  am  Worten d e. 

hö  (adv.).-ivö  1423.  4163.  23  717.  22  947;  :  drö  3749.  4567  2. 

D.  Lautwech  sei. 

1.  Wechsel  z  w  i  s  c  li  e  n  c  h  und  g. 

Krone  6630  gesivichen  (part.)  .■  trsigen ;  von  sivichen  ist  das  part.  mit  ch 
belogt  11297:  erblichen;  der  conj.  praet.  gesiviche :  stiche  13  226.  20  231.  9313 
gesivichen  (part.)  ;  erivigen  (part.)  .•  ligen.  11  947  entswichen  :  sigen  (praet.  von 
sihen) :  gcdigen  (part.).  ch  ist  für  den  infin.  gesichert :  12  825  entswichen  :  st?'tchen, 
3330  geswichen  :  entwichen;  vgl.  6042  gesivichet :  richet.  Daher  muss  auch  8585 
gesivichen  :  stgen  gelesen  werden.  Der  inf.  hesivichen  lässt  sich  1768  nachweisen; 
das   praes.  heswichet :  gtrichet   (part.)    4877;    der    conj.  hesiviche :  sicherUche   4732. 

2.  W e  eil  s  e  1  zwischen  g  und  h. 
22  131  digen  (=  diJten)  :  gesigen  ^. 

3.  l-  wechselt  mit  h. 

Es  reimt  das  part.  und  apokop.  praet.  (be)daht  {decken)  26mal  auf  naht, 
mäht,  aht{c)  (subst.  und  praet.),  betrahte,  praet.  vaht,  slaht  usw.  smaht  (praet. 
von  smecken)  :  mäht  9361 ;  ;  mäht :  daht  {decken)  28  725.    Durch  diese  beiden  reime 

1)  Aus  dem  heutigen  sprachstaude  Kärntens  ergibt  sich,  dass  sämtliche  bin- 
dungeu von  k  :  ch  zu  fassen  sind  als  .r-reime:  urk.  stoch  i'nde  stein,  mach  =  mac, 
werch  u.  ä.     ksviQhn  <  gesmac,  plöx  block. 

Germ,  rk  und  rh  erscheinen  sowohl  urk.,  als  auch  dial.  als  rch  im  in-  und 
auslaut;  urk.:  Vreiberh,  püreh,  march  u.v.a.;  dial.:  mQvh  mark  (kuochen),  werx 
werk,  werg,  iverxtgg  Werktag,  pirxe  birke  u.  a. 

2)  Auslautendes  x  ist  in  vielen  fäUen  geschwunden:  7  ich,  ml  mich,  dl,  si, 
89  dich,  sich,  glcei  sogleich,  ä  auch,  h^a  oder  he  <  '^heach,  hcch  höher,  -lieh  in 
liddrU  lüderlich,  grausla  grauslich;  koll.-suft'.  -aclt:  stauda,  röna  ■^:  ronach.  sio 
neben  smx  schuhe,     hpa  oder  Ifjax  lohe. 

3)  Diese  art  des  gramniat.  wechseis  hat  sich  bis  lieute  in  den  kärutuer  muud- 
arten  erhalten.  Zwischenvokalisches  h  oder  x  wird  zu  g:  i  säg.U  =  sa'he :  ksegv  — 
geschehen,  ksägdt  —  gesclia'he,  kseg»  gesehen.  In  der  stadtsprache  ist  die  form 
des  part.  auf  das  praes.  übertragen  worden:  slg  i  <  *sich  ich  <  sihe  ich;  feiner 
tritt  Wechsel  ein  in  tsiihn  —  conj.  praet.  tsügdt,  getsögn.  susgdlan  (pl.)  'schühlein' 
<  schuochclin  u.  a. 


316  GRÄBER 

wird  h  sichergestellt  für  7322  smahte  :  dahtc  und  26  419  uud  für  das  ])?ivi.  gestraht 
{strecken)  11 631.  26  707  uud  praet.  rahten  (recken)  14  683.  Weiter  aber  ergibt 
sich  ht  für  blaht(e)  978.  16  860.  26  126  (auch  wo  Scholl  et  di'uckt:  16  812.  19  743. 
23  703.  24  477).     Diese   form  hinwiederum  stützt  das  part.  bestaht  (stecken)  14  447. 

14  254  gestakt  (part.)  .•  daht  (decken)  wird  durch  D  bestätigt.  Daher  ist  ht 
auch  zu  setzen  14  844  uud  15  812. 

Endlich  sichert  das  praet.  daht  die  form  unerschraht  7121  (part.),  5601  un- 
erschraht :  verdaht  (praet.). 

4.  Wechsel  zwischen  ^^^  uud  r. 

26  879  genären  (praet.)  .•  ■zürfre«,  es  tritt  aber  s  für  r  ein  in  12  534  genäsen: 
mdsen  (subst.)  'narben'. 

III.  Doppelformeu. 

Wo  Heinrich  v.  Turliu  doppelformeu  zur  Verfügung  stehen,  hält  er  sich  fast 
immer  au  Hartmann  und  wählt  dessen  formen.  Er  wird  nicht  in  dem  grade  herr 
über  die  spräche,  dass  er  die  dialektischen  formen  gänzlich  zu  unterdrücken  im 
Stande  wäre ;  uud  so  bleibt  es  immer  ein  leichtes,  die  mundartlichen  nebeuformeu 
in  den  reimen  ausfindig  zu  machen,   auch    dort,   wo  sie  der  dichter  vermeiden  will. 

Darüber  aber  kann  man  sich  bei  einem  dichter  wie  Heinrich,  der  ein  un- 
hebautes  feld  pflügt,  wahrlich  nicht  verwundern.  Leider  war  es  nicht  möglich,  aus 
der  heutigen  mundart  in  allen  fällen  belege  für  die  eiue  oder  andere  form  anzu- 
führen: teils  sind  sie  hier  ausgestorben,  teils  mir  nicht  zugänglich  gewesen. 

1.  bede  oder  beide. 

Beide  formen  stehen  im  reime.  2230  beden  :  Leden  (dat.),  also  ganz  zu  an- 
fang  des  werkes  in  der  bindung  zu  einem  gr.  fremdwort,  welches  iu  den  übrigen 
teilen  der  Krone  uicht  zur  Verfügung  stehen  konnte. 

Für  beide  zähle  ich  64  reime  (auf  meide,  gejeide,  bescheide(n),  kleider,  heide, 
leide,  ireide  usw.) '. 

2.  bin  (apis)  :  hin  17  807. 

Mau  würde  bei  Heinrich  eher  die  form  ble  oder  bin  erwarten,  welche  als 
Vorstufe  zu  dem  heute  in  Kärnten  grösstenteils  üblichen  worte  ^pceis  oder  pmia' 
anzusetzen  ist.     Daneben  aber  kennt  man  auch  dö  p'in  und  pl.  pJndn. 

3.  P r  ä t e r i t a  1  f  0 r m e n  von  hä  n  und  hab e n. 

Zwierzina  sagt  darüber:  'das  praet.  von  hdn  muss  für  die  Verwendung 
schwankender  und  dialektisch  unsicherer  formen  im  reime  einen  prüfstein  geben, 
denn  bei  keinem  wort  wechselt  der  sprach-  und  reimgebrauch  so  wie  bei  diesem'. 
Dies  bestätigt  sich  auch  bei  Heinrich  v.  Turliu. 

Die  vorzugsweise  österreichische  form  het,  welche  Wolfram  und  Hartmanu 
meiden,  reimt  in  der  Krone:  het  und  stet  313.  7500.  18  640.  22  291.  29  386.  29  677; 
:  Dahilet  7380;  :  get  22  291.  19  816.  16  309.  8120.  Wahrscheinlich  ist  auch  20  822 
het :  erget  statt  der  r?-formen  anzusetzen ;  hierher  zählen  ferner  1091  het  :  ToUt 
und  15  721  .-  magnet. 

1)  Auch  im  heutigen  kärntischen  sind  noch  beide  formen  zu  hören :  2)eade 
entspricht   dem   mhd.  bede   (e  wurde   vor   d  regelrecht  zu  fo) ;  jj«c?e  <  mhd.  beide 


HKINRICH    VOX    DEM    TURÜK    UND    DIE    «PRACHFORM    SEINER    KRt'jNE  317 

Es  rnuss  auffalleu,  dass  im  ganzen  werke  keiii  einziger  reim  vou  Icct  oder 
hi'te  zu  sl^te  u.  dgl.,  welclies  unter  den  f-reimen  einen  grossen  räum  einnimmt,  und 
nur  Imal  (6853  .•  st<;te  [dat.jj  zu  finden  ist.  Daraus  ist  mit  voller  siclierlieit  zu 
schliessen,  dass  diese  form  Heinrichs  dialekt  fremd  war. 

Wo  er  sieh  des  hete  bedient,  reimt  er  es  immer  auf  e:  hüte  :  clarete  Krone 
1195;  :  Lunete  1346;  :  bete  2820;  :  bete  und  tete  3086;  :  geivete  27  781.  :  claret 
1301.  1449.  1680.  1897.  2503.  18  276;  ;  Giwanet  5646;  :  Lanzelet  12  876.  :  La  ade- 
let 15  653;  :  Seimeret  18  880;  :  bet  26  055;  :  tet  14786. 

Heinrich  meidet  sichtlich  alle  reime  auf  die  conj.  form  Mete  oder  hiet,  welche 
sonst  bei  innerösterreichischen  dichtem  gerne  verwendet  wird  ^  Das  mag  sich  aus 
dem  bestreben  erklären,  grobdialektische  formen  im  reime  zu  unterdrücken.  Der 
einzige  beleg  für  diesen  conj.  ist  3548,  Jiiete  :  verriete  und  der  kann  dem  dichter 
folglich  nur  entschlüpft  sein.  Die  offenbare  absieht,  hiet  und  hiete  im  reim  zu 
meiden,  fällt  um  so  mehr  auf,  als  ihm  ja  reichlich  reimmöglichkeiten  dafür  zur 
Verfügung  stehen :  bieten,  miete,  gertet(e),  schiet,  diet  u.  v.  a. 

Für  häte  und  häten  gibt  es  in  der  Krone  nur  2  beispiele:  13  867  hdten : 
beraten ;  :  taten  25  892.     An  reimmöglichkeiten  hätte  es  auch  hier  nicht  gefehlt. 

Während  Hartmann  im  reime  hdte  gebraucht,  folgt  Heinrich  hier  Wolframs 
beispiel,  dessen  heimat  er  näher  stand.  Wolfram  kannte  zwar  het  und  hete  im 
sing.,  hatea  im  plur.,  hcete  im  ind.  und  conj.  aus  seiner  mundart,  reimte  sie  aber 
nie.  Ebenso  sucht  Heinrich  v.  Turlin  dem  gebrauch  von  hwte  (conj.)  im  reime  aus- 
zuweichen. In  den  ersten  7000  versen  der  Krone  fehlt  die  form  gänzlich.  7038 
lesen  wir  hcete :  rcete :  tmte;  dann  nach  einer  pause  von  mehr  als  4000  versen 
2  fälle:  11494  tiete :  hwte  und  11780  hwte :  rcete  und  endlich  wieder  nach  fast 
4000  versen  14  864  ;  vederwcete.  hiete  und  hceten  sind  vorzugsweise  Hartmanns 
reimformen.  Dass  der  dichter  diese  absichtlich  vermied,  geht  aus  der  grossen  zalil 
von  reimmöglichkeiten  hervor,  welche  dafür  zur  Verfügung  stehen. 

Das  ergebnis  ist  also  folgendes:  Heinrich  v.T.  kennt  als  ind.-  und  conj.- 
formen  des  praet.  von  hdn  und  haben:  het,  het,  hiet,  hüte  und  hctte,  gebraucht  im 
reime  aber  nur  het  und  A^Y  regelmässig,  während  er  die  übrigen  formen  mied,  weil 
sie  einem  ausserhalb  des  kärntisch-bayrischen  dialektes  stehenden  damals  anstössig 
klingen  mochten. 

4.  gdn  —  gen  und  .'^ichi  —  sten. 

Der  iuf.  g  d  n  erscheint  im  reim  .•  hchi  13  076.  14  809.  17  927 ;  .•  getihi  12  776. 
18  815.  27  239;  :  vertcln  28  003;  .•  Christidn  16  942;  .•  remi«  (part.)  19  398;  :  vertan 
21608.  25  044.  25  296.  gdn  :  tan  12  753;  :  an  12  137.  13  008;  ;  «ta?»  27  793.  20  681. 
:  dan  28  437.  Daneben  die  indifferenten  biudungen :  gän  :  stein  10  989.  17  398. 
2808.  15  424 :  besiän  :  län  ;  :  stdn  25  708 ;  missegiln  :  siän  29  067. 

Von  a-formen  kommen  nur  noch  vor :  die  3.  pers.  sing,  indic.  gcH  :  hat  20  395 
•riU  10  770;   :  wät  B953;   :  tat :  rctt  1589;   :  hat :  erldt  24  447;   :  hcH  20  248;  :  rät  : 
hat  6081.  15  271;    vergCit :  rät :  stdt  24  862.     zergät :  hat  7312.  400.  96;    begät :  lät 
9632;  missegdt :  lät  6564;  gät :  stät :  lät  10  151 ;  .•  stät  14  486.  21  129;  ergät :  bestä 
1168;  :  stät  28  555. 

Die  3.  pers.  plur.  cjdni  :  bestänt  25  261. 

Die  1.  pers.  sing.  conj.  begd  :  Id  24  968. 

1)  Vgl.  oberkärntisch  hist  (conj.  praet.). 


318  GRÄBER 

Die  3.  pers.  sing.  couj.  ergu  :  da  12  022. 

Das  part.  praet.  weist  nur  -ä  auf:  (jegän  :  stän  (inf.)  7378;  :  getan  17  123. 
29  352.  25  489;  .-getan  und  stän  20  263;  :  stän  12  996.  gegän  :  an  12  158.  21003; 
.•  man  13  143.  20  594.  ergän  (part.)  ;  hän  (inf.)  10  891.  16  531 ;  ;  getan  12  868. 
27  468;  :  län  22  276;  :  an  18  289.  18  622.  ?1  219.  24  427.  24  675.  24  852;  :  an  und 
län  27  567 ;  .•  geioan  21  457. 

Das  part.  (ge)gangen  ist  das  gewöiiülichere :  gegangen  :  empfangen  1213. 
9572.  13  691.  15  227.  17  380.  28  459;  :  gevangen  8119.  9540.  16  852;  :  langen  9187; 
.-bevangen  12  397.  20  966.  23  002;  :  vervangen  14  784;  :  belangen  17  715;  gangen: 
bevangen  18  754.  29  274;  .-langen  29  340.  begangen  :  gevangen  3093.  23  553;  :  ge- 
hangen 19  810;  ergangen  :  gevangen  893.  3307.  3850.  4806.  5156.  5637.  7029.  9768. 
9947.  12  453.  18  558.  29  780;  .-vervangen  1969;  .-bevangen  9052.  20  737;  11612; 
:  belangen  13  031;  :  langen  16  373.  zergangen  :  gevangen  7617.  26135.  11528. 
25  574;  übergangen  :  bevangen  6880.  14  340;  :  enpfangen  7605;  :  gevangen  21848; 
:  undervangen  22  158;  .-belangen  28  624.  missegangen  :  enpfangen  5506;  :  gtvangen 
29  021.  29  060. 

Der  inf.  gen  reimt  :  zwen  4280.  6134.  6938.  12  037.  17  874.  24179.  29  260; 
:n-en(we)  12  387;  ergen  :  zwen  3894.  4852.  19195.  29  100;  .•  ^H-e«  .- */en  6139.  7439. 
18  561.  26  283.     übergen  :  zwen  15  466. 

Indifferente  biudungen  sind  wieder:  gen  :  besten  6242.  16  600.  24  647;  :  gesten 
15  215.  19  840;  ':  sten  18  886;  :  versten  28  828;  gegen  :  gesten  26  781;  ergen  :  besten 
2608.  3244.  6207.  7536.  16  362.  25  785;  .-gesten  7855;  :  understen  28  540.  misse- 
gen  :  besten  5964.  13  203.  undergen  :  sten  3719.  begen  :  sten  1683;  :  besten  5S73. 
vergen  :  besten  4507;  .-gesten  6624.     zergen  :  sten  15  916;  .-gesten  25  452. 

Ferner  sind  e-formen  die  3.  pers.  sing-,  praes.  ind. :  g et :  stet :  Met  24  252; 
:het.-siet  22  293.  311;  :  het  16  310.  16  817;  g  et :  stet  32  (P)  3440.  6046.  7296. 
2021.  25  476.  25  784. 

Die  2.  pers.  plur.  des  imperat.:  get!  :  het  8121.  Die  3.  pers.  plur.  praes. 
indic.  ist  nur  auf  Stent  gereimt:  1161.  19144.  23  742.  7104. 

Von  der  3.  pers.  sing.  conj.  praes.  sind  die  e-formen  in  der  überwiegenden 
mehrheit:  ge  :  e  (adv.)  3508.  6362.  13  315.  24  008;  :  se  (dat.)  und  me  24  522;  :  erge 
.- e  3139.  3914.  9647.  13113.  14832.  20  678;  .-beste  10  582;  :  tve  5881;  zerge :  me 
22  779;  :  e  13838. 

Der  inf.  stdn  ist  belegt  :  cappelän  8704;  ;  län  11388.  14273;  :  getdn  17  878. 
23511;  -.hdn  21958;  :  man  120.  21040.  27  717.  28829;  :  dan  1636.  7837.  21397. 
-.an  12  872.  14907.  16  356:  :  an  :  ran  14495;  began  22  678.  27  806;  :  hän  24339; 
bestän  :  tvän  9729;  ;  gestän  12  481;  ;  verlän  20498;  ;  hän  17982;  ;  län  :  hdn  22844; 
:  an  1528.  29  474;  :  man  9628.  21907;  v  er  stän  :  getan  26635;  :  tan  13  961;  :  an 
25  846;  :  gestän  :  began  9926;  ;  mderstdn  :  getan  25  927. 

Die  3.  pers.  sing.  ind.  .•  stät :  hat  240.  1106.  8063  usf.  in  44  reimen.  Endlich 
gibt  es  a-formen  ftlr  die  1.  pers.  sing.  ind.  praes.  verstän  :  man  17  689.  1.  pers. 
plur.  praes.  gestän  :  hdn  17  613  und  2mal  für  die  2.  pers.  pl.  praes.  bestät :  lät  12  317; 
verstät :  hat  23  219.  Die  e-formen  sind  auch  von  sten  viel  seltener  belegbar. 
Der  in^n.  sten  :  zwen  2469.  2989.  9677.  4204.  10602.  15  773.  16184.  20  589.  20879. 
21442.  23103.  23531.  29153.  Endlich  nur  noch  die  3.  pers.  sing,  praes.  stet: 
claret   2483:   :  het  7500.   18  641.  29386.  29  678,   und   die   1.  und   3.  pers.  sing,  des 


HEINRICH   VON   DEM   TURLlN   UND    DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRÖNE  31^ 

ronj.  praes.  sie :  e  (adv.)  23  953 ;  wie  27  914 ;  gesie  :  e  (adv.)  7239 ;  beste :  e  (adv.)  21  661. 
23185;  versie:  e  24  710. 

Die  Verhältnisse  liegen  also  folgcndermassen :  Heinrich  gebraucht  ydn  und 
stän  146mal  (das  part.  ffcgdn  [23]  mitgezählt),  gen  und  sten  nur  69rQal;  die  f?-formen 
überwiegen  ums  doppelte.  Hat  Heinrich  aber  gdn,  siäii,  gut  und  stdt  ge- 
sprochen, welche  der  bayr.-österr.  mundart  erst  durch  entlehnung  aus  dem  west- 
deutschen zugeführt  worden  sind,  so  braucht  man  noch  nicht  zuzugeben,  dass  der 
dichter  sie  in  anlehnung  an  Hartmann,  der  ausschliesslich  die  ri-formen  reimte, 
verwendete ;  sie  werden  nämlich  auch  in  kärntischen  Urkunden  des  13.  und  14.  jahr- 
liuuderts  häufig  gebraucht.  Für  die  1.  und  3.  pers.  sing.  conj.  bevorzugt  er  die 
e-foruien.  Im  ganzen  gleicht  er,  was  diese  verba  anbelangt,  Hartmann,  unter- 
scheidet sich  wesentlich  von  Wolfram,  der  gen  und  sien  sprach  und  nur  vereinzelt 
die  d-formen  verwendete. 

5.  weste,  loiste  —  ivesse,  ?r is z  e. 

Von  den  präteriatalformen  gebraucht  Heinrich  nur  iv^ste  im  reim.  Es  findet 
sich  14mal:  5828.  3125.  8501.  10188.  12747.  16178.  15263.  17  221.  17  947.  20771. 
22809.  28  384.  12277.  21816. 

Niemals  reimt  er  (etwa  wie  Wirnt  v.  Gravenberc)  wesse,  obwohl  ihm  die 
UQöglichkeit  dazu  geboten  wäre;  denn  j^^^sse,  messe,  esse  (subst.)  könnten  zu  einem 
reime  doch  verleiten.  Aber  selbst  wenn  die  form  in  seinem  dialekte  vorhanden 
gewesen  wäre,  hätte  er  es  wohl  nicht  gewagt,  von  seinem  vorbilde  Hartmann  abzu- 
weichen (dieser  reimt  ausschliesslich  weste).  Die  «-formen:  ivisse  und  wiste,  welche 
bei  Gottfrid  vorherrschen,  waren  Heinrich  gar  nicht  geläufig,  sonst  hätte  er  sie  auf 
miste,  Ustt{n),  vriste(n),  krist{e),  histe{n),  ametiste{ii)  reimen  müssen,  zumal  dieser 
reimtypus  durch  annähernd  100  reimpaare  vertreten  ist.  Dem  praet.  entsprechend 
lautet  das  partic.  in  den  zwei  reimen,  wo  es  verwendet  wird,  gewgst  (P  gewisst) 
3671.  16690. 

6.  k d m  —  k d in en,  ko in  —  ko ni e n. 

Heinrichs  iufinitiv-form  war  koinen,  wie  sie  auch  bei  Hartmann  ausschliesslich 
zur  Verwendung  gelangte.  Hätte  Heinrich  nach  seiner  mundart  gereimt,  so  müsste 
sich  auch  quemen  belegen  lassen,  da  die  heutige  form  khöiiidii  {kliemdn)  darauf 
zurückzuführen  ist. 

Dagegen  trifft  er  in  der  nachahmung  Hartmanus  mit  seinem  eigenen  Sprach- 
gebrauch zusammen,  wenn  er  im  praet.  kam  und  kämen  (nie  hom,  kämen  und  kövi, 
kd'men)  sagt.  Denn  der  niundärtl.  conj.  praet.  kJiäm9t  setzt  ein  k(eme  voraus  und 
diese  form  gehört  wieder  zu  kam. 

Wir  finden  kam  im  reime  2090.  3075.  3362.  5780.  7001.  7443.  8030.  8876. 
9497.  9913.  10131.  10921.  12662.  12871.  12975.  13330.  15851.  16754.  17670. 
18  692.  18904.  18994.  19  371.  20092.  20  621.  20840.  22504.  24620.  24731.  26117. 
26764.  27  601.  27  700.  28125.  29666  und  12837,  den  plnr.  kämen  566.  620.  5146. 
5884.  9881.  12  078.  13935.  14413.  14  770.  18042.  22  799.  26  833.  27  429.  28  283. 
kämet:  nämctU^Q;  der  conj.  lautet  kceme{n)  3298.  15  984.  18923.  21206.  28344. 
28  868.     Das  part.  lautet  immer  homen. 

Es  zeigt  sicli  also  (?),  dass  der  dichter  den  inf.  praes.  aus  Hartmann  geholt  hat, 
das  praet.  aber  nach  seiner  mundart  beibehielt,  schon  weil  sie  in  dieser  form  mit 
Hartmanns  spräche  übereinstimmte. 


320  GRABER 

7.  he(jan  :  heg un  de. 

hegan  steht  im  reime  13mal  (zur  praep.  an,  zum  subst.  an,  man,  adv.  dan, 
praet.  gewan)  und  9mal  zu  hän  üuf.),  getan  (part.),  Idn  (inf.  und  part.),  stän,  praep. 
dn{e),  im  gauzeu  also  22mal  gebunden. 

begunde  (nie  hegonde)  reimt  39mal  auf  kunde(n)  (subst.  und  praet.),  ver- 
siounden,  wunden  (subst.  uud  praet.),  besonders  gern  auf  Ständern)  (subst.),  vunden 
(praet.),  munde,  Urkunde,  gundc  (subst.  uud  praet.)  und  enzunde. 

Auch  Wolfram  uud  Hartmauu  befolgen  im  gebrauche  dieser  doppelformen 
keine  feste  regel.  Was  aber  nicht  von  diesen  als  'literar.  reim'  entlehnt  sein  kann, 
ist  die  auffallende  2.  pers.  plur.  ind.  praet.  begunnet :  gewunnet  16069.  Dieser  plur. 
zu  began  muss  wohl  aus  Heinrichs  eigenem  dialekte  stammen.  Das  part.  begunnen 
kann  nur  aus  den  ersten  8000  versen  der  Krone  nachgewiesen  werden,  und  zwar 
reimt  es  .•  gunnen  (inf.)  1639 ;  .-  gewunnen  (part.)  5861 ;  ;  versimnen  (praet.)  7547. 

Aus  dem  starken  überwiegen  der  sw.  praeteritalform  geht  hervor,  dass  began 
gewiss  nicht  Heinrichs  form  war,  sondern  dass  er  unter  dem  banne  des  vielbewuu- 
derten  Hartmann  neben  der  einheimischen  auch  die  fremde  form  verwendete. 

8.  läsen  —  Idn ;  li ez  —  li c. 

Die  kurzen  nebenformen  (nach  dem  muster  von  gän,  stau)  werden  im  reime 
häufiger  gebracht  als  die  vollen,  und  zwar  für  die  1.  pers.  sing.  ind.  praes.,  die 
sonst  nur  selten  belegt  ist,  ich  lä,  llmal  :  er{lä)  :  da  7297.  16662.  22  565.  25  013. 
28462.  28  581.  29  910;  :  loä  22  242.  23  435;  ;  sd  :  da  25  549.  26177;  ht  (conj.) 
;  begä  24  968.  Für  die  2.  pers.  ind.  {du  last)  in  5  reimen  .-  hd.it  10  377.  13 159. 
13585.  17236.  26630.  Für  die  3.  pers.  (er  Idt)  :  gdt,  hat,  stät,  rät,  tat.  unvlät 
in  11,  für  die  2.  pers.  plur.  ind.  (/r  lät)  in  7  reimen;  für  die  2.  pers.  plur.  des 
imperat.  verldt !  in  1  reim  .-  rät,  8000.  Sonst  steht  nur  noch  der  inf.  {Idn)  in  35,  das 
part.  (län,  geldn)  in  13  reimen. 

Auch  aus  diesen  formen  gewinnt  man  die  Überzeugung,  dass  Heinrichs  r? -formen 
gän  und  stän  in  seinem  dialekte  heimisch  waren.  Denn  nur  so  konnten  sich  ana- 
logische formen  des  verbums  läzeti  herausbilden.  Die  2silbige  form  läzen  wird  gegen- 
über einsilbigen  (län)  immer  nur  in  prägnanter  bedeutuug  gebraucht,  während  letztere 
die  funktionen  eines  hilfsverbs  übernommen  hat  (wie  bei  Hartmann). 

Die  2silbigen  formen  gelten  für  das  ganze  praesens :  ich  läze  (ind.)  3641. 
16802.  19899.  23256.  27  378.  29097;  ich,  er  Uze  (conj.)  6213.  11373.  24314;  ir 
läzet  (ind.)  26  046.     läzen  (inf.)  ist  26mal,  part.  {ge)lazen  23mal  gereimt. 

Überwiegen  also  im  praesens  die  einfachen  formen,  so  liegen  die  dinge  gerade 
umgekehrt  im  praeter.,  wenngleich  hier  das  Zahlenverhältnis  bei  weitem  nicht  so 
grosse  differenzen  zeigt.  Heinrich  sagt  liez  uud  lie  annähernd  gleicli  oft;  lies 
überwiegt  nur  um  8  reime  (lie  gebraucht  er  nämlich  47mal,  während  liez  55mal 
zu  finden  ist). 

9.  vähen,  van,  enpfdn  —  vienc,  vie,  en^ifie. 

Heinrich  kennt  kein  van,  enpfäii  im  praes.,  wohl  aber  gebraucht  er  einmal 
das  part.  praet.  vervän  :  ergän  (inf.)  19  399.  Der  inf.  praes.  heisst  ausschliesslich 
vähen  und  enpfähen.  Beide  stehen  33mal  im  reime  auf  nähen  (adv.),  versmähen, 
ersähen,  verjähen,  gähen ;  ausserdem  findet  sich  einmal  die  3.  pers.  sing.  ind.  praes. 
cnpfähet  19613,  und  3mal  die  2.  pers.  pl.  enpfdhet  3174.  7604.  19  533;  vähet  4418. 
Die  3.  pers.  sing.  conj.  praes.  lautet  gevähe  1015. 


HEINRICH   VON   DEM   TURLlN    UND    DIE    SPRACHFORM    SEINER   KRONE  321 

Im  praet.  stehen  vie,  enpfie  neben  vienc  und  enpfienc.  vie  reimt  34mal  auf 
gk,  knie,  hie,  verlit  usw.,  enpfie  steht  7mal  iin  reime.  Dagegen  stehen  aber  50  vienc 
und  13  enpfienc. 

Das  part.  heisst  mit  einer  einzigen  ausnähme  ge-,  hevangen  und  enpfangen.. 
Jenes  findet  sich  im  reime  51mal,  dieses  nur  12mal. 

10.  Farticipia  der  sio.  v  c  rha  auf  —  (nden. 

-pidet  :  -ant  gebraucht  Heinrich  in  verschiedener  weise.  So  findet  sich  neben 
2mal  sicher  belegtem  {vol-,  ver)endet  23024  und  25  658  kein  einziges  geant,  wie- 
wohl dieser  typus  einen  ausserordentlich  breiten  platz  ausfüllt,  -ant  muss  also  seiner 
heimatlichen  mundart  fremd  gewesen  sein. 

Desgleichen  findet  sich  nur  geschendet  im  reim  ;  ernendet  (praet.)  2564,  dem 
kein  geschant  zur  seite  steht.  Aber  bei  den  folgenden  verben  lassen  sich  doppel- 
formen konstatieren. 

Auf  versivendet  29  553  folgt  verswant  :  laut  29  652.  Das  Verhältnis  ist  hier 
noch  ein  symmetrisches,  1:1.  Die  differenz  wird  aber  grösser  bei  senden.  Sichere 
e-formen  sind  nur  {ge-,  be)sendet  1019  und  24844,  und  die  beiden  im  reime  auf 
gleiche  part.  stehenden  12819  und  18  642.  Die  bei  Scholl  als  -ant-iormen  gedruckten 
gesendet  22  884  und  27  816  müssen  in  schwebe  bleiben,  obschon  in  der  gleichen 
ausgäbe  die  neutralen  reime  gewendet:  ernendet  11080;  :  gesendet  :  gelendet  19  311, 
;  volendet  27  309  und  unerwendet   ohne  reimband  28  236  als  2silbige  formen  stehen, 

gesant  hat  über  die  längeren  formen  das  übergewicht.  Es  reimt  25mal,  und. 
zwar   :lanl  UAS.   5491.    6.562.    5701.    7903.    20  887.    22  491.    23  769.    24  867.  27  750. 

28  601 ;  :  hant  561.  1958.  8122.  23  606.  24897.  25670;  ;  er-,  gemant  (part.  und  praet.). 
7799.  9248.  9981.  24  728;  ivigant  11.577;  :  hekant  1011;  :  Gant  505;  :  Gornomant 
3308.    Das  Verhältnis  der  formen  auf  -endet  zu  denen  auf  -ant  beträgt  schon  6 :  25.. 

Es  wird  nahezu  gleich  bei  dem  part.  von  tvenden.  Zu  7  {ge-,  er)wendet 
treten  noch  2  hinzu  :  21270  und  10115.  geivant  ist  in  bedeutender  überzahl  :  er-, 
geivant  :  hant  1708.  2123.  6999.  14368.  16353.  18026.  20148.20377.23  095.24  679. 
26050.   26098.   28508;  ;  Za«i  4614.    18671.    21789.    27316.    27538.    27632.   29175. 

29  499;  ;  vant  194.  29  851 ;  :  enpfant  6406.  18386.  ;  erkant  (praet.)  22.35;  ;  hant  22349; 
•.genant  19  368;  -.hekant  237.  1681.  4089.  10  832.  11790g.  18  596.24  247,  es  ergibt 
sich  also  das  Verhältnis  9  :  37. 

11.  sit  :  sider. 

Der  gebrauch  dieser  partikel  lässt  deutlich  erkennen,  wie  der  dichter  in  ein- 
zelnen, man  möchte  sagen,  unwichtigen  dingen  sich  von  Hartmann  führen  lässt. 

In  der  Krone  wird  für  reimzwecke  ausschliesslich  sU  verwendet  :  428  ;  git. 
lUO-.m  (subst.);  :  strit  4966.  22  018.  22  637.  23862.  26  986;  :  nU  8256.  15  288; 
:  zit  6462.  20  941.  29  874.  Dieses  nur  12malige  auftreten  des  wortes  im  reime 
muss  entschieden  auffallen,  da  es  erstens  eines  der  häufigsten  formwörter  bei  den 
höfischen  epikern  ist  und  überdies  eine  menge  von  bindungen  auf  -U  zur  Verfügung 
standen. 

Es  bedarf  aber  ebenso  der  aufklärung,  warum  Heinrich  sicli  des  gebrauchs 
von  sider  so  konsequent  enthalten  hat,  wie  sonst  kaum  bei  anderen  doppelformen. 
sider  war  eben  Wolframs  form  und  ist  die  fast  allein  geltende  im  kärntischen 
dialekt.  Heute  lautet  das  wort  {dr)sidr,  wogegen  man  nur  selten  s(eit,  drswit  <  sit 
hört.    Man  wende  nicht  ein,  für  sider  seien  die  reinnnöglichkeiten  viel  beschränkter 


322  (ii'wVr.ER 

gewesen:  bindet  tloeli  Hciurich  iu  23  reiinpaareu  nider  :  toider  : glider  :  lider  : gevider. 
sit  ist  eben  die  von  Hartmann  ausschliesslich  gebrauchte  form ;  allerdings  bleibt  es 
eine  wunderliche  inkonsequenz  Heinrichs,  wenn  man  die  zahlreichen  grobdialek- 
tischcn  merkmale  seiner  spräche  mit  der  diktion  Hartmauns  vergleicht. 

Nun  erklärt  es  sich  auch,  warum  s/t  doch  verhältnismässig  selten  im  reime 
steht.  Seine  eigene  form  wollte  er  nicht  anwenden,  die  fremde  aber  lag  ihm  doch 
nicht  80  im  munde,  dass  er  versucht  gewesen  wäre,  sie  häufiger  zu  bevorzugen. 

12.  Zwierzina  betont,  dass  der  dat.  plur.  des  pers.  pron.  der  2.  pers.  im  reim 
bei  jedem  dichter  untersucht  werden  müsse;  denn  es  sei  gar  nicht  so  ausgemacht, 
dass  die  Scheidung  von  iu  und  iuch  in  der  ersten  hälfte  des  13.  Jahrhunderts 
noch  allgemein  w^ar. 

In  der  Krone  steht  der  dat.  iu  :  umbe  diu  4147.  4791.  7824.  23  490;  :  driii  4522. 

IV.  Der  Wortschatz. 

Eine  anzahl  von  Wörtern  weisen  auf  das  innerösterrichisch-kämtische  Sprach- 
gebiet hin.  Bei  ihrer  behandlung  konnte  ich  mich  im  wesentlichen  an  das  fast 
erschöpfende  Verzeichnis  bei  Reissenberger  halten,  nur  wurde  dieses  um  einige 
Wörter  vermehrt.  Da  sich  auch  die  belegstellen  daselbst  vorfinden,  glaubte  ich  den 
hinweis  nur  dort  anbringen  zu  sollen,  wo  er  bei  Reissenberger  fehlt.  Ich  gieng 
darauf  aus,  die  spuren,  welche  auf  die  kärntische  herkanft  des  gedichtes  schliessen 
lassen,   durch   belege   aus  den  heutigen  kärntner  muudarten  möglichst  aufzudecken. 

agenhuof  (adj.)  19852  mit  dem  hufspalt  behaftet  (eine  pferdekrankheit). 
Dazu  gehört  kärntisch  pgn  'splitter,  Stachel,  spreu  vom  gebrochenen  hanf  oder 
flachs'.  Aber  Heinrichs  form  ist  genau  auch  erhalten  in  dem  missverstandenen 
obvh  U9f9t:  dies  wii'd  von  einem  pferde  gesagt,  dessen  huf  gespalten  ist  (Gurktal. 
Fehlt  bei  Lexer,  K.  Wb.  und  Schmeller). 

agleistervar  (adj.)  gefleckt  wie  eine  elster;  w.  e.  elster  aussehend  24754. 
27996.  Dazu  gehört  kärntisch  pgbstr  elster  (Tiffen,  Feldkirchen,  Pernegg)  und 
Qghstrfarwe  wie  eine  elster  gefärbt,  bunt  (Strassburg,  Gurktal). 

{sich)  helüchen  (stv.)  eiuschliessen  12073.  19462.  19  706.  22  053.  27  641; 
kärntisch  si  'pelaux))  (auch  lu'kundlich)  1.  sich  erholen,  sich  gütlich  tun,  ursprünglich 
sich  eiuschliessen,  sich  von  der  arbeit  zurückziehen;  2.  betrügen;  3.  sich  ein- 
schleichen und  stehlen,  heimlich  nehmen  (Mittel-  und  Oberkärnten;  vgl.  Lexer  173). 

berthel  (adj.)  9556.  12948  glänzend,  licht. 

Kärntisch  de  perxtl  lichtschein,  den  ein  spiegel  wirft,  wenn  die  sonne  hinein- 
scheint (Lesachtal;  vgl.  Lexer  21). 

berücke  (adv.)  <  bi  rücke  hinten,  hinterher  27241. 

Kärntisch  berükx  oder  berüks  hinter;  h.  fyln  nach  rückwärts  fallen;  in  Zu- 
sammensetzungen hat  das  wort  auch  die  bedeutung  'heimtückisch'  (Gurktal). 

bit  (stf.)  10 125  =  Verzug,  in  der  Krone  öfter.  Bisher  kannte  man  das  wort 
nur  als  stn.  aus  Bonerius  und  dem  'Mönchlein'.  Kärntisch  da  plt  (?)  das  warten,  der 
aufschub,  die  Verlängerung,  das  borgen;  s'  hgt  ivol  plt  es  hat  ja  keine  eile;  af  plt 
nenidn  auf  borg.  Auch  p>eitn,  warten,  harren,  auf  borg  geben,  leihen  gehört  hierher 
(im  ganzen  westlichen  Kärnten). 

bogenrucke  (adj.)  mit  gekrümmtem  rücken  19  845  (pferdeki-ankheit). 
Kärntisch  pögm-ukhdt  =  khrceitskrump  mit  derselben  bedeutung  (Gurktal;  vgl. 
Schmeller  I,  217). 


HEINRICH    VOX    DEM   TURLiX    UND   DIE    SPRACHFORM    SEINER    KRONE  323 

beere  (stf.)  9410.  25678  höhe,  erhebung,  erstreckung.  Dazu  kärntisch  ^jör 
der  erhöhte  teil  der  tenue  (Nockgegend) ;  po"r  der  erhobene  platz  in  der  kirche, 
emporkirche ;  di  po"rlnhm  vorhof  der  kü-che  (Lesachtal ;  Lexer  36.) 

bräme  17111.  2-4  690  (rubus,  vepres)  bildlich  niht  ein  bräme  gar  nichts. 
Erhalten  im  kärntischen  promiigl  m.  narae  eines  waldes  im  Gailtal ;  pt-gmlim  die 
birkhenue ;  jjrpmitse  geliöft,  wald  (Mittelkärnten ;  Lexer  88. j 

bi'(  chstcezec  (adj.)  19  845  bauchstossend  (fehlerhafte  gangart  des  pferdes). 
Das  wort  müsste  heute  pauxSteasat  lauten,  doch  ist  es  mir  nicht  bekannt. 

dar chv allen  19 767  zerfallen,  mit  dem  hochton  auf  der  2.  silbe.  Kärntisch 
durxf'gln  oder  drfpln :  a  ärfglm  stol  ein  zerfallener  stall  (Gurk-,  Glan-,  Gailtal, 
Oberk.). 

durchrihen  (stv.)  in  reihen  diu'chziehen,  aneinanderreihen  29  220.  Dazu 
kärntisch  rlxl  die  egge,  weil  darauf  die  zacken  in  reihen  geordnet  sind ;  in  jlgks 
r'ixlii  den  flachs  durch  die  kämme  ziehen,  dass  er  in  reihen  daliegt  (ob.  Drautal, 
Mittelkärnten,  Lesachtal). 

(ukel  (stm.)  ein  obd.  und  ud.  weitverbreitetes  wort:  fusskuöchel  15  485. 
Kärntisch  e>jJM,  auch  in  e^glpo^^ge  eUenbogen  (Gailtal;  Lexer  84.) 

en  tri  den  (stv.),  D  sich  umbe  riden  winden,  drehen,  wenden  14  630  und 

sich  ent riden  sich  loswinden  24892.  27  300  u.  ö.  kärntisch  r'idn  (schwach 
flektiert)  drehen,  wenden,  in  Unordnung  bringen,  zerrütten;  riddx  (collect.)  das 
abgedroschene,  zerrüttete  stroh.  Dazu  gehört  ferner  reidn  (f.)  krümmung,  wendung 
beim  gehen  und  fahren;  a  reidn  mgxn  einen  grossen  umweg  macheu;  af  dr  reidn 
scein  auf  dem  rückweg  sein  (Lölling) ;  reidn  drehen,  wenden,  umkehren  (allgem. 
kärntisch ;  Lexer  208,  206). 

Die  form  entriden  flndet  sich  ausser  in  der  Krone  nur  noch  bei  Heinrich 
V.  ]\Ielk  'Von  des  todes  gehügede\ 

sich  erboln  (swv.)  sich  aufwerfen,  erheben  19  647. 

Kärntisch  p<^lnan  oder  palnan  sich  erheben;  in  der  Jägersprache  ;  dr  hirs 
PqU  se,  wenn  er  sich  gegen  die  verfolgenden  hunde  stellt  (Nockgegend) ;  si  pöln 
sich  aufwerfen,  anschwellen  (von  wunden),  di  pöln  Aie  ^ch^fiele.  dicke  haut  (Gaütal ; 
Lexer  .35). 

err ecken  (swv.)  ganz  aussprechen,  zu  ende  erzählen,  ergründen  13016. 
16  975.  25232. 

Dazu  kärntisch  rekkln  und  regln  plaudern,  schwatzen,  viel  reden,  gross- 
sprechen  und  rixln  wiehern  (von  pferden).  (Osaiachersee,  Feldkirchner  gegend, 
Oborkärnten;  Lexer  206.) 

ervlöuwen  (swv.)  ausspülen,  auswaschen  6793. 

Kärntisch  {aus)jleaicrn,  {aus)pleawrn  oder  -fleicrn  auswaschen,  ausschwemmen 
(Schmeller  I,  783.J  Mit  konsonantenwechsel  fleadrn  und  fl(>drn  mit  wasser  plätschern, 
damit  den  boden  beuässeu;  flfidr  wasser,  worin  gewaschen  wird  (Gurk-  und  Glantal, 
Nockgegend,  Lesachtal). 

ertveben  (stv.)  durchweben,  ganz  zu  ende  weben  7725.  10514. 

Kärntisch  drwöbm  ganz  durchwehen,  eine  webearbeit  vollenden  (Gurktal,  n.  vom 
Wörtherseej. 

värslac  (stm.)  hinterlistiger  schlag  27136. 


324  GRAUER 

Dazu  kärntisch /rfr/^,  liintrfurig  verkehrt,  hinterlistig;  ^/j7r«  jeinandeu  reizen, 
in  gefahr  bringen  (Drau-  und  Lesachtal,  MöUtal). 

d  az  V  ()•  {:  n-fr),  P  das  vare  fahrgelegenheit  zu  wasser,  fähre,  kahu  17 341. 
15  378.  17  348. 

das  far  die  fälire,  ort  der  überfalirt  bei  Schnieller  I,  737.  In  den  iiihd. 
Wörterbüchern  fehlt  das  wort  und  noch  bei  Grimin  3,  1247  steht  zu  lesen,  dass  im 
nihd.  kein  ver  {=  fähre)  belegt  sei. 

vermeinen  (swv.)  4149  verwünschen,  verfluchen.  Sonst  noch  belegt  aus  der 
Kaiserchronik,  dem  Rolandslied  und  Hug  v.  Langensteins  'Martina', 

Kärntisch  äa  frmändn  bezaubern ;  s  frmdnte  (entstanden  aus  dem  part.  perf.) 
eine  krankheit,  welche  neugeborene  kälber  (aber  auch  kinder)  befällt,  wenn  sie 
durch  den  jbösen  blick'  eines  menschen  verwünscht  werden  (Lexer  189). 

vi ur  wilde  (adj.)  26  726. 

Kärntisch  fairioilt  oder  fmirtsQrne  sehr  wild,  sehr  aufgebracht,  sehr  zornig. 
Besonders  von  wildgewordenen  rossen  gebraucht  ((Iberkärnten,  Tiffen). 

gaudUi  (stf!),  auch  daz  (jaudm.  3308.  3389.  3413.  3721.  4247.  10215.  12156. 
12635.  Die  hunde  werden  gegen  die  gaud/n  gezogen.  Sie  kann  in  flammen  stehen. 
Der  gesang  durch  tönt  sie,  dass  sie  davon  erklingt.  Die  königin  sitzt  darin  und 
wärmt  sich.  Die  Artushelden  reiten  in  die  gaudin  und  lauern  dort  auf  Gasozein, 
der  ansprüche  auf  Ginover  erhebt.  Es  kommen  leute  in  die  gaud/n  geritten :  'gein 
der  gaudin  üf  einem  salK 

Was  an  der  Verwendung  des  wortes  auffallen  muss,  ist,  dass  die  im  Wörter- 
buch stehende  und  bei  Reissenberger  nachgeschriebene  bedeutuug  'freude,  freuden- 
gelage'  nirgends  passt.  Man  hat  sich  unter  gaud/n  immer  eine  örtlichkeit 
vorzustellen,  sei  es  nun  ein  vollkommen  abgeschlossener  räum  oder  ein  platz  im 
freien.  Dazu  passt  das  altfranzösische  gaudine  'gehölz,  wald',  welches  mit  gaudium 
nichts  zu  tun  hat.  Von  dieser  Urbedeutung  ausgehend  wird  man  das  wort  dann 
verwendet  haben  im  sinne:  saal  mit  holz  ausgetäfelt  oder  hölzerner  saal  und  weiter 
vielleicht  für  einen  abgesteckten  platz,  z.  b.  'burghof  überhaupt.  Die  ursprüngliche 
bedeutung  'wald'  blieb  daneben  bestehen. 

gaz  hän  satt  sein,  vollgegessen  sein  13  629.  14  344.  14803.  27  804.  28  876. 
Dazu  kärntisch  gatsn  ätzen,  füttern;  gats9x  speise,  ätzung;  gats  die  speise,  der 
frass  der  jungen  vögel :  dr  fögl  hpt  nö  di  gats  wird  noch  von  den  alten  gefüttert; 
aasgatsn  ausschelten,  vorwürfe  machen  (in  Oberkäruten  allg.,  Tiffen,  Feldkirchen, 
St.  Veit;  Lexer  110,  11). 

gelanc  (stm.)  gelenk,  das  gebogene,  biegung,  kräuselung  (vom  haar) 
9845.  19  686. 

Kärntiscli  glonhx,  in  älteren  liedern  und  dramen  Glauk,  Gelank. 

gelest  (adj.)  glänzend,  schimmernd  4660.  19  635. 

Dazu  kärntisch  gipst  <  gelast  <  gelest  mit  derselben  bedeutung  (Nockgegend) ; 
gleist  schimmernd,  glänzend  (Gailtal).  Man  sagt  auch:  frglgst  hersaumn  feucht- 
glänzenden augcs. 

g enicsam  (adj.)  hinkend  (i)ferdekrauk]ieit). 

Kärntisch  khniksgm  heisst  ein  pferd,  das  arbeitsunfähig,  hinkend,  an  den 
füssen  schwach  ist  (Gurktal,  Glantal;  fehlt  bei  Lexer  und  Schmeller). 

geraten  (stv.)  entbehren,  entraten  19  077. 

Kärntisch  khrptn,  grptn  entbehren,  sich  enthalten  (allg.  kärntisch). 

g  espranc  (stn.)  hautkraukheit  der  pferde  19854. 


HEINRICH   VON   DEM   TURLlX   UND   DIE    SPRACHFORM    STEINER   KRÖNE  325 

Kärntisch  kspravg  und  ksprev(jl  hautwurm  der  pferde;  infolge  der  begleit- 
erscheiuungen  auch  'rotzkrankheit'  genannt  (Gurktal,  Nockgegend).  In  den  Wbb. 
nicht  belegt,    gsprenglt  buntfarbig,  fleckig  (Tiffen). 

g  es  pur  (stn.)  spur,  fussspur  28  733. 

Kärntisch  kspür  fussspur,  anzeichen;  in  der  Jägersprache  häufig.  Man  sagt 
auch:   gfjr  kha  gspür  davon  ist  keine  rede,  das  ist  weitentfernt. 

gestin  (stf.)  fremde,  weiblicher  gast  1632. 

Kärntisch  göstiii  eine  (arme)  frau,  die  bei  fremden  leuten  einquartiert  ist 
aber  zu  anderen  auf  tagewerk  geht;  einwohnerin,  die  weder  haus  noch  grundstück 
besitzt,  auch  einlegerin ;  wind,  guost,  guosija.  Dieselbe  bedeutung  besitzen  ^^f7(^^w<m 
und  göstireihJe  (Allg.). 

getarnen  verhüllen,  behüten  23587. 

Käi'ntisch  gdtgrndn  verhüten,  behüten  (Nockgegend). 

getöl  (stn.)  tolles  wesen  17  452. 

Kärntisch  getöl  mit  derselben  bedeutung  (Mittel-  und  Oberkärnten). 

gewi'te  (swm.)  der  mit  einem  andern  zusammengejochte,  genösse,  ein  gleicher. 
27  781  u.  ö.  Kärntisch  gwöt  das  joch,  welches  mit  riemen  an  den  hörnern  der  zu«-- 
oehsen  befestigt  ist;  wötn  einjochen,  zusammeuriemeu  (Lexer  256). 

giel  (stm.)  maul,  rächen,  schluud  7511.  9465.  13269. 

Kärntisch  dr  gial  kehle,  Schlund  (Lesachtal);  rotwelsch  di  gial  mund,  raaul 
(Lexer  114). 

giten  (swv.)  gierig,  habgierig  sein  24 580. 

Kärntisch  gceitn  oder  gceitnsii  geizig,  habgierig  sein ;  gieit  (subst.)  geiz,  ueid, 
habsucht;  gieitas  und  gceüikx  geizig,  knauserisch,  aber  auch  in  mildem  sinne 
'sparsam'  (Westkärnten  vom  Wörthersee  an). 

glunkern  (swv.)  baumelu,  schlenkern  18  242. 

Kärntisch  kJdut/khrn,  khle»klirn  mit  den  füsseu  baumeln  (Pernegg);  ^3s 
khlunkhrt  di  glokhn''  die  glocke  schlägt  an.     (Schmeller  I,  1335.) 

(golt)grüz  2023,  15  728.  18116  goldkorn. 

Dazu  kärntisch  grceisl  <  *griusel  etwas  geringfügiges,  ein  wenig. 

gneishi  oder  griashi  in  kleineu  körneru  hageln  oder  schneien,  sich  zu  körnern 
gestalten  (Lesachtal,  Gailtal  Lexer  123). 

grant  (stm.)  trog  22118. 

Kärntisch  grgnt,  dim.  grantl  ein  länglicher  schrank  zur  aufbewahrung  des 
getreides,  getreidetrog,  getreidekasten  (Oberkärnten),  schrank  überhaupt.    (Lexer  121.) 

grüwen  (13  277)  grausen  empfinden,  sich  grausen. 

Kärntisch   kraunsn  mit  derselben  bedeutung  (Tiffen  —  Feldkirchner  gegend). 

hol  er  (P)  stm.  hollunder,  ein  blasinstrument  22104. 

Kärntisch  ho1rj)fceipl->n  pfeifen,  Avelche  man  im  frühjahr  aus  weiden  und 
erlen  (nie  aus  hollunder)  macht,  wenn  die  bäume  in  saft  schiesseu.  höh-  oder  holdr 
hollunder,   flieder,   holrpjr  hollunderbeere  (Lesachtal,  Oberk.,  Nockgegend). 

kletven  (swv.)  grasen,  gras  schneiden,  weiden  24253. 

Dazu  kärntiscli  khleaiva,  khleawdx  ein  dorf  bei  Liesing,  in  der  amtssprache 
kleewas  gescM'ieben,  in  einer  Urkunde  von  1.548  die  klehser,  im  17.  Jahrhundert 
ZEITSCHRIFT   F.   DEUTSCHE   PHILOLOGIE.     BD.  XLH.  22 


326  GKABEK 

khlebass,  khlebixs;  übersetzbar  etwa  mit  'Weidciiau',  dorf  in  einer  wieseureichen 
gegend. 

kr  a  geh  ein  (stn.)  lialsknochen  19  701. 

Dazu  kärntisch  hhiygt)  hals,  nackeu,  schluud ;  pbkhragJn  den  hals  abdrehen, 
umbringen  (allgem.  kärntisch). 

Crinale  haarschmuck  667.  732,  lulat.  Crinale,  ornamentum.  Nur  aus  der  Krone 
bekannt.     (Vgl.  Lexer  160.) 

hör  de  (swf.)  schnür,  seil  (mlat.  cor^a)  1737. 

[Dazu  vielleicht  kärntisch  ggrl  <  *gordl.  Hier  wurde  vielleicht  das  d  assi- 
miliert, g^rl  bedeutet  eine  aufgewickelte  schnür,  aufgewickeltes  seil  und  dgl.  c  er- 
scheint im  anlaut  als  g  auch  in  garling  <  karren.] 

leitsn  aar  (stf.)  leitseil  14  507. 

Kärntisch  Igatsnur  zügel,  seil,  au  welchem  das  vieh  geführt  wird  (Nock- 
gegend). 

lezltcli  (adj.)  ermattend,  mit  schwindender  kraft  =  mzY  Ze£:Z;''c7te»i  i<?2'<en  28 090. 

Vgl.  kärut.  lots  schlecht,  krank,  schwächlich  (Oberkäruten,  Drautal);  läsla 
oder  läsh,  z.  h.  di  sud  sceint  son  läsla  die  schuhe  sind  nicht  mehr  zu  brauchen, 
'ganz  heruntergekommen,  schlecht' ;  auch  von  einem  sterbenden  gebraucht  (Gurktal). 

Itt  (stn.  m.)  Obstwein  1941.  1950.  7332. 

Kärntisch  Iceit  obstwein.  most  (Lesachtal,  Peruegg).  Besonders  in  Zusammen- 
setzungen :  Iceitgöh  oder  Iwiggam  ein  'baueruwirt' ;  z.  b.  Iceitguh  ts  guntsnperg, 
Iwlggam  ts  plsivög,  l.  ts  tSQmrsperg  usw.  Im  Gailtal  heisst  Iceitgöh  auch  noch  vater, 
hausvater,  hauswirt.    (Vgl.  Lexer  177.) 

Itte  (swf.)  bergabhaug,  halde,  hügel  19  897.  27392. 

Kärntisch  dö  Iceitn,  loiiti  wiese  oder  ackerfeld  auf  einem  bergabhang,  steile 
wiese  oder  alpe,  hügel,  abhang  (allgem.  kärntisch).     Im  Drautal  loitn. 

mtle  (stf.)  ein  brettspiel  642. 

Im  heutigen  kärntischen  sagt  man  m/l  fprn  und  nül  isidgi),  was  in  den  wbb. 
fälschlich  zu  mühle  in  beziehung  gebracht  wird'. 

misseg eschiht  (stf.)  unglücklich  auslaufende  begebeuheit.  missgeschick 
28182.  23  659.  26  058. 


1)  Auf  einem  brette  mit  nebenstehender  Zeichnung 
stellen  die  zwei  Spieler  abwechselnd  je  einen  stein  an 
einem  beliebigen  Schnittpunkte  der  verschiedenen  Knien 
auf.  Gelingt  es  einem,  drei  steine  in  eine  linie  zu  be- 
kommen, so  darf  er  dem  gegner  einen  stein  nehmen ; 
eine  solche  reihe  von  drei  steinen  heisst  eine  mile  (wjZ). 
Sobald  jeder  seine  neun  steine  augebracht  hat,  geht  das 
eigentliche  spiel  erst  an.  Gezogen  darf  immer  nur  zwischen 
zwei  einander  benachbarten  Schnittpunkten  werden.  Mit 
jedem  Zustandekommen  einer  mile  verliert  der  gegner 
einen  stein.  Wer  zuerst  alle  bis  auf  zwei  verliert,  bat 
auch  das  spiel  verloren.  Hat  man  nur  mehr  drei  steine,  so  darf  man  'springen', 
d.  h.  die  steine  auf  beliebige  Schnittpunkte  setzen,  ohne  im  zug  der. Knien  bleiben 
zu  müssen. 


HEINRICH   VON   DEJI   TURLix   UND   DIE    .SPRACHFORM    SEINER   KRONE  327 

Kärntisch  imsksi.ct,  durch  volksetyinoloi;ie  mistgsixt,  schlimme,  böse  geschichte, 
Unglück-  oder  nachteilbringendes  ereignis. 

in  oie  (stf.)  möve  10035  als  Wappentier  18144.  18460  (der  wasservogel  larus). 

In  Kärnten  kann  man  von  bauern  noch  hören :  is  a  moia  aufJcflögn,  ein 
wasservogel  an  bächen  und  teichen.  Das  wort  steht  sonst  nur  noch  bei  bruder 
Wernher  als  moyn. 

plmehen  schnell  atmen,  schluchzen  11530. 

Kärntisch:  schnell  atem  holen,  keuchen —jj/«exn  oder  JJ/'ne7^3isJ^,  anfangen  zu 
weinen ;  nom.  ag.  pfnexix,  pfnexdtsdx  (in  ganz  Kärnten  Lexer  25). 

rahe  (8wf.  stange  1496). 

Kärntisch  dim.  i-älil  stange ;  rähl  oder  rpggl  ästige  stange  zum  aufhängen 
von  klee,  getreide  usw.  (Pernegg,  Gailtal  Lexer  203.) 

r^cke  (swm.)  erprobter  held.     In  der  Krone  sehr  liäufig. 

Kärntisch  so"  a  rölcx  her !  so  ein  starker  mensch,  so  ein  gewaltiger  mann ! 
(Schmeller  II,  44.) 

rciselaode r  (stn.)  lockspeise,  lockmittel  11  054. 

Die  ursprüngliche  bedeutung  von  luoder  hat  sich  im  kärntischen  luodr  noch 
erhalten :  die  Überbleibsel  vom  leichnam  eines  tieres,  aas  (Tiffen). 

runztn  (stn.)  kleines  pferd  19605.  19947.  19983.  20026.  20066.  20197. 

Altfranz,  roncin.  Kärntisch  a  roiitsn  kleines  pferd,  dann  überhaupt  etwas 
kleines,  schmächtiges  (Gurktal). 

schiel  (stm.)  4600.  11908.  5529.  6789.  9750  Splitter, 

Kärntisch  si9l,  sblv  grosser  Splitter,  der  sich  von  einem  holze  losschält  oder 
davon  abgehauen  wird.  In  dieser  bedeutung  nur  kärntisch.  Sonst  bayrisch:  schölle, 
klumpe.  Dazu  gehört  aucli  kärntisch  selftr  splitter  (beide  im  Feldkirchner  gebiet, 
Mittelkärnten,  Lesachtal  Lexer  217). 

Sicherung c  (stf.)  832.  3879.  5178  (und  öfter)  sicherstellung,  versprechen 
der  Untertänigkeit. 

Kärntisch  dQ  muds  mr  a  sixrung  iKjhm  sicherstellung,  gewisses  versprechen, 
Vorsichtsmassregel,  Versicherung  (Treffen,  Gurktal);  sixrung  beisst  auch  der  bestand- 
teil  des  gewehrs,  welcher  das  losgehen  verhindert  (Klagenfurt,  Ferlach). 

sott  noch  8791  tuch,  welches  flüssigkeit  aufsaugt,  durch  das  man  siedende 
flüssigkeit  giesst. 

Kärntisch  sQcittidxle  tuch,  welches  die  mädchen  unter  dem  mieder  am  busen 
tragen,  ursprünglich  schweisstuch  (Nock.);  fehlt  in  den  Wbb. 

Spänen  (swv.)  12130  reizen,  antreiben,  abwendig  machen. 

Kärntisch  spendn  der  mutterbrust  entwöhnen,  abgewöhnen ;  jemand  von  etwas 
abziehen,  entfremden;  phspendn.  Die  ursprüngliche  bedeutung  '■laetare''  anlocken, 
an  die  brüst  ziehen  lässt  sich  noch  erkennen  im  kompositum  dr  spanawin  k;>merad 
(mit  ahd.  wi7ii  freund,  geliebter)  und  di  spanmvin  freundschaft,  kameradschaft 
(Oberkärnten,  Drautal  Lexer  236). 

stalboum  (stm.)  waldbaum,  unbehauener  bäum  5532.  6790.  26  713. 

Kärntisch  siplpämr  die  grossen  lärchenbäurae,  welche  das  ganze  obere  gebäude 
tragen,  roh  zubehauener  waldstamm  (Sirnitz,  Gailtal) ;  bäum,  der  vom  boden  bis 
zum   giebel   ragt  und   das   dach   trägt   (Nockgegend) ;    der   bäum,    welcher   an   der 

22* 


328  (JKABEK 

krippe   zwischen   zwei  pferde  gelegt  wird,   damit   sie   sich  beim  ausschlagen  nicht 
treft'en  (Klagen furter  Umgebung). 

siv(nden  (swv.)  schwinden  machen  23375.  24172.  24174.  24452.  24684. 
24  602. 

Kärntisch  swentn  {an  wqU)  einen  wald  ausliacken  oder  von  einem  bäum  die 
äste  abschlagen,  siventr  der  reuter,  der  einen  wald  ausrodet  (CTailt.),  .m'enfn  ver- 
brauchen, zugrunde  richten,  vernichten,  verderben  (Strassburg,  Tiffen,  Villach). 
swentU/>g  ein  mistling,  swentliQfr  name.     (Lexer  229.) 

toum  (stm.)  dunst,  rauch  6682.  9321.  12167.  12  522.  14913  u.  ö. 

Kärntisch  lüm  dunst,  qualm,  rauchige  luft;  temig  (adj.)  rauchig,  schwül; 
tämnudl  '.Drautal)  dampfnudel ;  täimn  oder  fe;«a;t  ausdünsten,  fig.  gi'ossmütig,  hoch- 
mütig sein,  prahlen.  Davon  auch  tämis  (adj.)  betäubt,  närrisch,  unsinnig,  schwindlig, 
irrsinnig  (sämtliche  in  Mittelkärnten,  Lesachtal  Lexer  51). 

ühervar  (stn.)  20  495.  21319  platz,  wo  man  überfährt,  mittel  zum  übersetzen 
eines  flusses. 

Kärntisch  ibrff/r  brücke  über  einen  fluss  (Gurktal).  Überfuhr  (Drautal).  fpr 
das  fahren  (Gaital). 

üb  er  seh  ü  r  e  (swm .)  26  638. 

Dazu  kärntisch  sau^r,  mwr  hagelwetter. 

übertiure  stf.  überhoher  wert  3195. 

Als  subst.  zwar  nicht  erhalten,  wohl  aber  Ibrtoior  (adj.l  allzu  teuer. 

undertwäle  (stf.)  29050  auf  enthalt,  Verzögerung  und 

entu-ellen  (swv.)  aufhalten,  zurückhalten,  warten  trans.  und  intr.  3321. 
6659.  24703.    Dazu  gehören: 

^     Kärntisch  a  jjäxle  ticgln   ein   bächlein   abstellen,   ableiten   durch   einen  quer- 
damm  (Nockgegend). 

unerlö stliaft  unlösl)ar  8466  (nach  V)  P  unlezlichen.  Da  unlcezltche  und 
tmhezidfche  bisher  nur  auf  md.  gebiete  bekannt  war,  ist  es  von  Interesse  zu  wissen, 
dass  im  kärntischen  dies  wort  vorkommt: 

undrläsi{g)  unerlässlich,  unbedingt  notwendig,  iindrleasla  =  7iit  tsdti  drlensn 
nicht  aufzulösen,  unlösbar.  Diese  belege  aus  der  mundart  sprechen  für  die  lesart 
von  P. 

unhelfes am  (adj.)  9613. 

Kärntisch  (un)hilfsQtn  wird  von  einer  medizin  gebraucht,  die  (nicht)  wirkt: 
hüfsQm^bdhilfU  hilfreich  tätig  (Gurktal,  Nockgegend). 

unk  und  er  (stn.)  untier  19629.  28704.  28708. 

Kärntisch  khuntr  ■widriges,  böswilliges  tier,  böser  mensch,  schlimmes  kiud : 
du  khuntr  du!  Im  MöUtal  heisst  der  igel  khuntr.  Im  Drautal  khuntr  oder 
verstärkt  un khuntr  der  wolf.  Dasselbe  wort  bedeutet  im  Pustertal  'werre'' 
Gryllotalpa  vulgaris ;  im  MöUtal  auch  s  khuntr  —  vieh,  hornvieh,  daher  khuntr- 
pud  hirtenknabe.  In  Mittelkärnten :  unkhundr  untier,  gespenst,  auch  als  Schreck- 
gespenst für  schlimme  kinder:  irgri,  hidts  kimp  dps  unkhundr!     (Lexer  169.) 

unlasterbcere  (adj.)  nicht  schimpf  bringend,  d.  i.  ehrend,  ehrenvoll  25  356. 

Dazu  kärntisch  IgstrpQr  scheltenswert,  jemand,  der  unrechtes  vollbringt,  Igstr 
schände,  schimpf,  leastrn  und  löstrn  jemanden  schmähen  (Oberkärnten,  Gurk-  und 
Glantal  virl.  Lexer  173). 


HEINRICH   VOX   DEJI   TURLIN   UND   DIE    SPRACHFORM   SEINER   KRONE  329 

unvuoc  (adj.)  unpassend,  unschicklich  27812. 

Kärntisch  ttnfujg  unrecht,  unpassend,  unschicklich,  unfuag  Csubst.)  pnrixtn 
oder  tneihm,  a  u»kfi,igs  tgan  ungehöriges  Iteuehmen,  Unschicklichkeit,  a  unhfidgr 
lakhl  ungeschickter,  widerspenstiger  mensch. 

unioendic  (adj.)  unabwendbar  24  071.  25  795.  27540.  27  856. 

Kärntisch  umoendi  1.  von  einem  Stoffe,  der  sich  nicht  wenden  lässt.  2.  dgs 
steat  unwendi  föst  das  ist  unausbleiblich,  nicht  zu  ändern  (Mittelkärnteu,  nördlich 
Tom  Wörthersee). 

IV (eleu  (stn.)  das  fächeln  6354.  6685  und 

wäle  (stf.)  fächer  14  370.  14368.  14374.  14  375  zu  ahd.  trden  wehen,  /«-formen 
finden  sich  noch  im  kärntischen :  dr  toähl  der  fächer,  dann  überhaupt  etwas,  womit 
man  fächelt,  das  man  schwenkt,  flg.  winhvrthl  ein  grosstuer,  ivähln  fächeln,  wind 
maclien  (Gurktal). 

ivarhel  (adj.)  beweglich  26452. 

Dazu  kärntisch  iverhl  die  rolle  (Gurktal),  sumverbl  'Elitropiwn\  im  volks- 
munde  auch  'nachtfräulein'  genannt:  blume,  die  bei  Sonnenuntergang  die  blütcn- 
kelche  öffnet,  bei  -aufgang  schliesst  (Gailtal,  Wörthersee  vgl.  Lexer  255). 

wen  (stf.)  leerheit,  runzelhaftigkeit  der  haut  9417.  Zu  mhd.  wan  'leer',  das 
sich  in  der  Krone  nicht  findet;  got.  ivans. 

Kärntisch  wön  mit  übertragener  bedeutung:  bug,  Vertiefung  in  einer  blech- 
pfanne  oder  einem  kessel,  ursprünglich  'stelle,  wo  die  regelmässige  linie  unter- 
brochen wird'  (Pernegg,  Tiffen). 

ivercgadem   (stn.)   arbeitsgemach,   arbeitshaus  7080.  10  361.  21991.  25  729. 

Kärntisch  gpdn,  dim.  gädnle  1.  speise-,  Vorratskammer  des  hauses  oder 
eigenes  nebengebäude  zur  auf bewahrung  des  getreides.  2.  Stockwerk  eines  hauses ; 
tverxgpdn  arbeitsstube  (Tiffen,  Gurktal,  Lesachtal  Lexer  105). 

s  10 i seil  ein  (swv.),  ^  zwischel  mac/ien,  zweifach  machen  445,  übertr.  trimve 
zivischein  die  treue  brechen. 

Kärntisch  se  tswisln  oder  tswisln  sich  auseiuanderteilen  oder  spalten.  Dazu 
tswisl  ein  in  zwei  teile  gespaltener  ast,  tswlsht  (adj.)  zweifach  gespalten,  tswisl 
auch  'zacke  einer  heugabel'  (Treffen,  Pernegg,  Lesachtal  vgl.  Lexer  268). 

V.  der  schreiberanliaug. 

Wackernagel  hat  zuerst  in  seiner  literaturgeschichte  die  Vermutung  aus- 
gesprochen, dass  die  letzten  40  verse  der  Krone  (30  001—30041),  wie  sie  in  der 
handschrift  P  überliefert  sind,  von  einem  abschreiber,  nicht  aber  von  Heinrich 
von  Turliu  selbst  herrührten.  Auch  von  der  Hagen  beanspruchte  für  diesen  teil 
einen  anderen  autor  als  Heinrich. 

Aus  sprachlichen  und  inhaltlichen  gründen  lässt  sich  nun  der  beweis  erbringen, 
dass  der  schluss  des  gedichtes  in  P  tatsächlich  zusatz  eines  fremden  ist. 

30026  ff.  heisst  es:  Ouch  hin  ich  armer  hie  Vil  tief  üf  stne  gnade.  Sin 
hilfe  mich  entlade  miner  sorgen  bürde.  Diese  bettele!  wendet  sich  an  ''des  buoches 
herre\  den  besitzer  des  buches,  das  der  Schreiber  soeben  in  abschrift  vollendet  hat. 
Würden  diese  worte  wirklich  von  Heinrich  selbst  stammen,  so  müsste  man  sich 
arg  verwundern,  wie  der  allenthalben  so  selbstbewusste  und  ritterlich-vornehme 
mann   nun   auf   einmal  sich  zum  bettler  erniedrigt  und  mit  '■ich  armer^  bezeichnet. 


330         GRABEK,   HEINRICH   VON    1)E>[   TUKLIN    UND   DIE    SPRACHFORM   SEINER   KRUNE 

Nach  dem  ton  des  ganzen  werkes  zu  scliliessen,  kann  man  dem  dichter  ein  der- 
artiges benehmen  nicht  zutrauen. 

Um  ein  abhängigkeitsverhältnis  zu  seinem  lehensherrn  oder  göuner  auszu- 
drücken, hätte  Heinrich  v.  T.  einen  ganz  anderen  weg  eingeschlagen.  Vermutlich 
wäre  er  in  der  darstelluug  seiner  persönlichen  beziehungen  zu  edelleuten  dem  von 
ihm  angebeteten  und  vielfach  nachgeahmten  Hartmann  von  Aue  gefolgt  und  hätte 
wie  dieser  am  eingange  des  'armen  Heinrich'  schon  zu  anfang  der  'Krone'  sein 
eigenes  geschick  in  die  erzählung  verflochten;  oder  hätte  es  ein  mann  von  der 
Sorte  des  obenerwähnten  bittstellers  über  sich  bringen  können,  so  oft  und  viel  vom 
'glück'  und  seiner  wankelhaftigkeit  zu  sprechen,  wie  es  Heinrich  in  der  Krone 
getan,  und  dabei  sich  selbst  gänzlich  zu  vergessen? 

Den  'Armen  Heinrich'  hat  unser  dichter  sicherlich  gekannt.  In  starker  an- 
lehnung  an  A.  H,  vers  1  und  Iwein  21  reimt  er  Krone  222  ff. :  Als  er  es  getihtet 
Ze  Karlingen  geschriben  las,  Wan  er  so  geleret  was,  Das  er  die  spräche  künde. 
Gerade  hier  musste  es  ihn  drängen,  persönliche  Schicksale  zu  erwähnen,  falls  er 
überhaupt  die  absieht  dazu  besass.  Aber  noch  an  etwa  sieben  anderen  stellen  der 
Krone  lässt  sich  an  nachahmung  der  eingangsverse  des  'Armen  Heinrich'  denken,, 
ohne  dass  wir  nur  einmal   über  Heinr.  v.  Turlin  selbst  etwas  erfahren. 

Ein  weiteres  argument  für  die  unechtheit  des  Schlusses  geben  die  reime 
30027  gnade  :  entlade  und  30003  gnaden  :  entladen.  Dehnung  des  kurzen  a  vor 
d  findet  sich  sonst  in  der  Krone  nirgends,  obschon  gerade  das  wort  gnade  dazu 
oft  eingeladen  hätte. 

Aus  dem  anhaug  selbst  erfahren  wir  zur  bestätigung  unserer  ansieht,  dass 
dessen  Verfasser  ein  Schreiber  war.  Schon  Haupt  und  Pfeiffer  haben  30010  als 
verderbt  bezeichnet  und  emendiert:  Des  uninschet  uns  der  loolgemuot  Heinrich  der 
schrihcer e,  wozu  der  folgende  reim  Der  ungern  des  verheere  herausfordert. 

Dazu  kommt,  dass  Heinrich  an  mehreren  stellen  des  werkes  sich  als  den 
dichter  bezeichnet,  doch  niemals  mit  dem  prädikat  «'o?^c;««o^.  Schon  deshalb  können 
wir  uns  die  beiden  nicht  als  identisch  denken.  Die  stärkste  stütze  hierfür  liegt 
aber  in  30016  ff.:  Wan  er  {der  wolgemuot  Heinrtch)  das  buoch  geschriben  Jiäf, 
Als  ez  der  edele  selb  e  schiiof.  Diese  stelle  spricht  es  ganz  deutlich  aus,  dass 
der  Verfasser  der  letzten  zeilen  nicht  die  Krone  gedichtet,  sondern  nur  abgeschrieben 
hat.  Bezieht  sich  die  bezeichnuug  der  edcle  nicht  auf  den  auftraggeber  des  Schreibers, 
sondern  auf  Heinr.  v.  T.,  so  gilt  sie  wohl  nur  seinen  charaktereigeuschaften,  die 
dem  Schreiber  aus  der  Krone  lebendig  wurden,  und  könnte  als  beweis  für  die  ritter- 
liche abkunft  des  dichters  schon  deshalb  nicht  gelten,  weil  die  handschrift  P  mehr 
als  zwei  Jahrhunderte  nach  der  abfassung  der  Krone  hergestellt  wurde. 

Die  textverderbnis  und  das  aus  Zerstreutheit  wiederholte  wort  Wolgemuot  in 
vers  30011  statt  schribcere  scheinen  mir  den  schluss  nahezulegen,  dass  die  in  P 
vorliegende  abschrift  der  Krone  im  günstigsten  falle  bereits  die  zweite  kopie  des 
gedichtes  darstellt;  denn  dass  die  schreiberverse  bereits  in  P''  der  vorläge  von  P 
standen,  liegt  wohl  auf  der  band, 

Px  wurde  von  dem  Schreiber  Wolgemuot  Heinrich  im  auftrage  eines  höheren, 
in  dessen  dienst  er  stand,  gegen  entgelt  hergestellt;  P  dagegen  rührt  von  einem 
uns  gänzlich  unbekannten  manne  des  15.  Jahrhunderts  her. 

Alle  diese  argumenta  in  Verbindung  mit  dem  'derberen  ton',  der  in  diesen 
schreiberzeilen  herrscht,  beweisen,  dass  hier  fremder  znsatz  vorliegt.  Mag  man 
Heinrich   von  T.  immerliin   einen   rohen  und   ungeschickten   dichter  nennen,   wenn 


HOLTHAUSEN,   ZWEI   ALTENGLISCHE   RUJsENINSCHRIFTEX  331 

auch  über  sein  kompositionsvermögen  von  nun  an  durch  Singer  (ADB)  ein  günsti- 
geres urtei]  sich  bahn  brechen  wird:  die  geschmacklosigkeit  und  sittliche  rohheit 
der  verse  30  032  :  'Mhi  wtp  von  ahtzec  jäm,  Die  tvil  got  ze  lange  sparn\  darf 
man  ihm  nimmermehr  zutrauen.    Das  ist  nichts  anderes  als  ein  plumper  schreiberwitz. 

Und  das  passte  zu  den  zarteren  und  von  allem  minnegeist  durchwehten 
verse  29989  ff.!  Wie  hätte  auch  ein  dichter  —  denn  diesen  namen  verdient  Hein- 
rich V.  T.  trotz  aller  offenkundigen  mängel  der  'Krone'  — ,  wie  hätte  ein  mann, 
der  von  ritterlicher  gesinnung  völlig  durchdrungen  ist  und  im  frauenlob  sowie  im 
preise  der  edlen  und  reinen  miniie  immer  echte  gefühlstöue  anschlägt,  der  die  schöne 
apostrophe  an  die  lothes  sileze  gedichtet  hat  (28 133  ff.),  sich  in  derart  geschmacklose 
äusserungen  verirren  können?  Die  widmung  an  die  frauen  bildete  einen  hübschen 
abschluss,  bei  dem  die  letzten  zeilen  des  Parcival  vorgeschwebt  haben  können. 
Es  ist  ferner  eine  schwierige  sache,  anzunehmen,  dass  der  dichter,  nachdem  er 
30000  verse  hindurch  seine  erzähluug  in  abschnitte  geteilt,  die  mit  drei  durch 
einen  reim  gebundenen  zeilen  scliliesseu,  das  ganze  gedieht  mit  einem  reimpaare 
geendigt  habe. 

So  vereinigen  sich  alle  anzeichen  zu  dem  Schlüsse:  der  Schreiber,  welcher 
seinem  80jährigen  weihe  einen  baldigen  tod  wünscht,  und  der  manu,  welcher  im 
verlauf  des  gedichtes  an  mehreren  stellen  in  zartester  weise  von  einem  liebesver- 
hältnis  zu  jener  dame  spricht,  der  zuliebe  er  arbeitete,  und  die  ihn  zur  dichtuug 
begeisterte  — ,  diese  beiden  können  unmöglich  identisch  sein.  Jener  war  gewerbs- 
mässiger abschreiber,  der  für  einen  edelmann  das  gedieht  kopierte,  dieser  aber  ist 
Heinricli  von  dem  Turlin,  der  dichter  der  'Krone'. 

klactEnfurt.  g.  graber. 


MISZELLEN. 

Zwei  altcuglische  ruueuiusclirifteu. 

1.  Die  beinlamelle  des  Bri  t.  mus  eum  s. 
Im   41.   bände   dieser    Zeitschrift    behandelt   von    Grienberger   s.  428  ff.   eine 
schon    bei    H.  Stephens,    The    old-northern   runic   monumeuts   IV,    47  ff",  mitgeteilte 
Inschrift,  die  lautet: 

15  in  15  20  24 

d.  i.  transkribiert:  gadgecnapauahaddapipiswrat.  Stephens  deutete  dies  p.  49  so: 
god  gccnäp  ärce  Hadda,  [n  Jns  wrät  und  übersetzte  es:  'God  knoweth  (showeth) 
are  (favor)  to  Hadda,  the  (who)  this  wrote'.  Mit  recht  weist  v.  Gr.  jedoch  darauf 
hin,- dass  die  Inschrift  am  anfang  gad,  ([.  i.  gftd,  nicht  god  bietet,  und  dass  offenbar 
aua,  nicht  arx  zu  lesen  ist.  Wenn  er  nun  aber  gecnäp  als  subst.  —  uhd.  hechnäd 
erklärt,  die  vier  folgenden  runen  in  äu  äh  'immer  hat'  zerlegt  und  in  pi  die  kon- 
junktion  /jg  'daher,  deswegen'  sieht,  so  kann  ich  ihm  hier  nicht  folgen.  Vielmehr 
glaube  ich,  dass  der  sonst  sehr  phantastische  Stephens  das  richtige  erkannt  hat, 
wenn  er  gecnäp  als  verbalform  und  Hadda  als  cigennamen  fasste,  denn  eine  nord- 


332  HOLTIIAT'SKN,    ZWEI    ALTEXdMSCIIE    RUNENINSCHRIFTEN 

liumbrische  form  gcciutp  für  gecnwwj)  ist  ja  belegt,  uebeu  der  geciiüjj  aualogische 
aufgäbe  des  umlauts  zeigt;  aua  ist  offenbar  =:äwa  'immer'  (ein  äw  gibt  es  nicht) 
und  pi  die  ältere  form  der  relativpartikel  pe.  Da  aber  das  präfix  gi-  schon  als  ge- 
erscheint,  ist  vielleicht  pi  nur  ein  fehler  für  pe,  veranlasst  durch  das  folgende  pns. 
Ich  transkribiere  und  übersetze  den  satz:  gäd  gccnäp  äiia  Hadda,  pi  pis  ivrät 
—  'maugel  kennt  immer  Hatto,  der  dies  schrieb'. 

2.  Die  Inschrift  des  Braunschvv^eiger  reliquiars. 

Auf  dem  boden  eines  aus  walrosszahn  gefertigten  reliquienschreins,  der  sich 
früher  in  Gandersheim  befand,  seit  1816  aber  im  museuni  zu  Braunschweig  auf- 
bewahrt wird,  liest  man  au  den  vier  rändern  zweimal  die  deutliche  runeninschrift : 

NF^rj^if^riTnRit+MMiwMsrRi^rii+Mri 

1  5  10  ir.  20  25  30 

d.  i.  lueligcelicauritnepiisighirceliinmti,  wobei  J*  als  eine  andere  wiedergäbe  des  i 
gefasst  ist.  Hinter  dem  letzten  fl  stehen  einige  häkcheu,  die  wohl  als  Verzierung 
oder  raumfüUuug  angesehen  werden  dürfen.  Stephens,  der  das  denkmal  in  vol.  I, 
378  ff.  zuerst  abgebildet  und  in  seiner  bekannten  weise  erklärt  hat,  trennte  die 
inschrift  ah:  urit  ne/ni  sighyor  celt,  in  mungpcelyo  gceliea^  was  heissen  sollte:  'wrote 
(carved-this)  Nethii  for-the-sig-herra  (victory-lord,  most-noble)  .Eli,  in  Muugpislyo 
(Montpellier)  of-Gaule'  =  'Nethii  carved  this  for  the  most  noble  .Eli  in  Montpellier 
of  Gaule'.  Die  spräche  sollte  nach  ihm  nordhumbrisch,  die  zeit  c.  620—50  sein! 
Nethii  hielt  er  für  irisch,  .Eli  für  den  heil.  Eligius,  bischof  von  Noyon  und  Tournay. 

Diese  wüste  Interpretation  scheint  lauge  alle  forscher  von  dem  denkmal  ab- 
geschreckt zu  haben,  denn  erst  S.  Bugge  nahm  sich  desselben  in  seinem  werke 
Norges  indskrifter  med  de  seldre  ruuer  I,  119  wieder  an  und  gab  eine  neue,  bessere 
lesung  und  deutung.  Er  liest:  lutlig  lelie  auritne  J)ii  sig  liine  liinviu,  luid  übersetzt 
dies:  'sancta  Eliae  hoc  (titulo)  inscripta  aspice  huius  membra';  Eliae  sollte  der 
genitiv  von  ae.  i/%,  dem  heutigen  Ely  [sprich:  ili]  sein,  wozu  hirce  'eins'  gehören 
würde;  pAi  deutete  er  als  pi7~vfs.  pp,  sig  als  den  imperativ  von  seon  'sehen',  liinmu 
endlich  setzte  er  =  ae.  Z?>«;/ 'glieder'.  Trotz  des  ungeheueren  fortschritts,  den  diese 
deutung  gegenüber  dem  versuch  von  Stephens  bedeutet,  bietet  doch  auch  sie  uoch 
manches  recht  bedenkliche,  ja  unmögliche.  Abgesehen  vom  rein  grammatischen 
(cslieiür  anglisch  elie,  uritne  für  uritene,  liinmu  für  limu,  sig  für  seoh  oder  seh)  ist 
die  wunderliche  Wortstellung  schon  geeignet,  unser  höchstes  misstrauen  zu  erwecken! 

Es  w^ar  dämm  dankenswert,  dass  v.  Gr.  a.  a.  o.  s.  431  ff.  einen  neuen  deutungs- 
versuch  unternahm.  Er  fasst  pH  als  dialektische  form  für  peow  (in  Wirklichkeit 
heisst  die  form  aber  pieotve  oder  peoicu !),  worunter  er  die  Jungfrau  Maria  als  ancilla 
domini  versteht,  erklärt  sig  —  s7  '■seV  (imperativ!)  und  liinmu  als  ableitung  von 
leoma  'glänz,  licht'  (grundform  Hiumi).  Die  inschrift  soll  dann  bedeuten:  'sancta 
Eliae  ascripta  virgo  sis  eins  lumen'  =  'heilige,  der  aalinsel  zugeschriebene  Jungfrau, 
sei  ihre  leuchte!' 

Aher  auch  diese  deutung  leidet  an  schweren  mangeln  und  kann  deshalb  nicht 
befriedigen.  Von  seinen  vorschlagen  ist  mir  bloss  die  erkläruug  von  sig  =  s'i  annehm- 
bar, das  aber  natürlich  nur  der  optativ,  nicht  der  imperativ  sein  kann;  das  merk- 
würdige auritne  lässt  auch  er  unerklärt.  Ich  wage  deshalb  einen  neuen  versuch, 
die  rätselhafte  inschrift  zu  deuten. 

Zunächst  ist   hMig   als   nordhumbrische   nebenform   von   hrdig  'heilig'  sicher 


FREDEKKINCt,    zu    GOETHES    FAUST  333 

richtig  erklärt;  das  folgende  (elie  fasse  ich  als  fehler  für  <elice  'gesetzlich'  (vgl. 
hagustadaE~hagustaJ(taji  auf  dem  steine  von  Strand  oder  Kjolevigi;  in  auritne 
und  liinmii  nehme  ich  dieselhen  huchstabenverstelluiigen  an,  die  auch  sonst  in  runen- 
iuschriften  vorkommen  (vgl.  den  =  ntd  oder  end  auf  dem  Clermonter  runeukästchen 
oder  oidjm-  für  wolpu-  auf  der  Torsbjerger  zwinge).  Gemeint  sind  gewiss  auriien 
—  äioriten  'ge-,  be-schrieben'  und  ///»«»i  =  Z^num 'leintüchern'.  Die  deutung  Bugges 
von  pii  als  pi,  J^y  (offenbar  beeiotlusst  durch  liwy  <  luvt)  ist  nicht  zu  beanstanden, 
und  es  kommt  nur  noch  darauf  au,  zu  bestimmen,  wo  die  inschrift  beginnt.  Ich 
möchte  in  (??/[c](?  den  anfang  sehen  und  konstruiere:  a-licc  ünriten,  Jni  sig  liir<e 
liinum  hielig,  wobei. ein  P)is  scrhi  is  in  gedanken  zu  ergänzen  ist.  Entsprechend 
übersetze  ich:  '(dieser  schrein  ist)  gesetzlich  beschrieben,  darum  sei  (er)  ihren  lein- 
tüchern  heilig!'  Wegen  der  auslassung  des  pronominalen  Subjekts  (hit)  im  zweiten 
Satze  verweise  ich  auf  die  bekannte  abhaudlung  Pogatschers  im  23.  bände  der  Anglia, 
s.  261  ff.  In  dem  reliquiar  befand  sich  nach  v.  Gr.  s.  436  'ein  stück  vom  hemde  der 
heil.  Jungfrau  und  ein  stück  von  ihrem  kleide'.  Merkwürdig  bleibt  immerhin,  dass 
die  frühere  trägeriu  so  unbestimmt -durch  den  gen.  hiro'  bezeichnet  wird! 

KIEL.  F.  HOLTHAUSEX. 


Zu  (joethes  FaKst. 


344  Doch  ihr,  die  echten  göttersöhne, 

Erfreut  euch  der  lebendig  reichen  schöne ! 
Das  werdende,  das  ewig  wirkt  und  lebt, 
Umfass'  euch  mit  der  liebe  holden  schranken.  — 
Der  ausdruck  'umfass'  euch  mit  der  liebe  holden  schranken'  bedarf  wohl  der 
erklärung,  denn  er  ist  oft  missverstauden  worden :  die  engel,  vor  allen  die  drei 
erzengel  (siehe  die  einleitenden  Strophen  des  prologs)  sollen  willig  und  freudig  sich 
der  betrachtung  des  werdenden  hingeben  und  darin  aufgehen,  wie  der  liebende  in 
dem  bereiche  seiner  liebe,  in  dem  'zauberkreise'  der  geliebten  sein  volles  genüge 
findet.  Vgl.  7444  Nun  ist  mein  sinn,  mein  wesen  streng  umfangen  (Faust  nach 
Helenas  erscheinen) ;  Elegie  (in  der  trilogie  der  leidenschaft),  10.  Strophe :  Ins  herz, 
das  fest  wie  zinnenhohe  mauer  sich  ihr  bewahrt  und  sie  in  sich  bewahrt  —  sich 
freier  fühlt  in  so  geliebten  schranken  — ;  Weltseele,  letzte  strophe:  Und 
bald  erlischt  ein  unbegrenztes  streben  im  sei' gen  wechselblick;  an  Schiller,  6.  april 
1801 :  Die  dichtkunst  verlangt  im  Subjekt,  das  sie  ausül)en  soll,  eine  gewisse  gut- 
mütige, ins  reale  verliebte  beschränktheit,  hinter  welcher  das  absolute 
verborgen  liegt. 

554  Ja,  eure  reden,  die  so  blinkend  sind. 

In  denen  ihr  der  menschheit  Schnitzel  kräuselt  — . 
'Der  menschheit'  ist  hier  gewiss  nicht  (mit  Minor,  Petsch  u.  a.)  als  dativ, 
sondern  als  genetiv  zu  fassen;  aber  die  bedeutung  des  wortes  selbst  ist  nicht  die 
heute  übliche  kollektivische,  konkrete,  denn  es  hat  hier  keinen  sinn,  an  abschnitzel 
der  menschen,  der  ganzen  menschheit  zu  denken.  Vielmehr  ist  'menschheit'  von 
Goethe  in  dem  damals  geläufigen  sinn  von  menschentum  gebraucht,  wie  z.  b.  1804 
Der  menschheit  kröne  zu  erringen,  auch  wohl  4408  Der  menschheit  ganzer  jammer 


334  FUKDKRKING 

fas^st  micli  an  (siehe  Erich  Schmidt  zu  der  stelle)  und  6272  Das  scluiuderu  ist  der 
menschbeit  bestes  teil  (vgl.  Schiller,  Ideal  und  leben :  in  der  menschheit  trauriger 
blosse,  und  an  vielen  stellen  der  Philosophischen  Schriften).  Erst  so  scheint  der 
ganze  ausdnick  in  v.  555,  der  doch  manchem  sonderbar  erschienen  ist,  seine  völlige 
befriedigende  erklärung  zu  erhalten. 

1646  Ich  bin  dein  geselle 

Und,  mach'  ich  dir's  recht, 
Bin  ich  dein  dienei",  bin  dein  knecht! 
'Mach'  ich  dir's  recht'  wird  wohl  meistens  in  dem  sinn  verstanden :  wenn 
ich  dich  zufriedenstelle  (durch  meine  leistungen) ;  dann  wäre  aber  der  nachsatz 
unverständlich.  Die  worte  bedeuten  einfach:  wenn  ich  es  dir  damit  recht  mache, 
wenn  es  dir  recht  ist,  dass  ich  dein  diener  oder  knecht  bin  und  nicht  dein  geselle, 
so  trete  ich  in  deinen  dienst. 

4715  So  bleibe  denn  die  sonne  mir  im  rücken! 

Der  wassersturz,  das  felsenriff  durchbrausend, 
Ihn  schall'  ich  an  mit  wachsendem  entzücken. 
Von  Sturz  zu  stürzen  wälzt  er  jetzt  in  tausend. 
Dann  abertausend  strömen  sich  ergiessend, 
Hoch  in  die  lüfte  schäum  an  schäume  sausend. 
Allein  wie  herrlich,  diesem  stürm  erspriessend. 
Wölbt  sich  des  bunten  bogens  Wechseldauer, 
Bald  rein  gezeichnet,  bald  in  luft  zerfliessend, 
Umher  verbreitend  duftig  kühle  schauer. 
4725  Der  spiegelt  ab  das  menschliche  bestreben. 
Ihm  sinne  nach  und  du  begreifst  genauer: 
Am  farbigen  abglanz  haben  wir  das  leben. 
Die    letzten   verse   werden   gewöhnlich   gedeutet   nach   äusserungen    Goethes 
wie  in  der  Pandora  vom  menschengeschlecht,  'bestimmt  erleuchtetes  zu  sehen,  nicht 
das    licht',    oder    in    dem   'versuch   einer   Avitterungslehre' :    Das    wahre,   mit  dem 
göttlichen   identisch,   lässt   sich   niemals   von   uns   direkt  erkennen,   wir  schauen  es 
nur  im  abglanz,  im  beispiel,  symbol,  in  einzelnen  und  verwandten  erscheinungen  — . 
Aber   zu   einer   solchen   deutung    stimmt    der   Wortlaut  unseres   textes   nicht:    der 
regenbogen   spiegelt   das   menschliche   bestreben   ab,   genauer:   an   ihm   als  dem 
farbigen    abglanz    der    sonne    (nicht   am   regenbogen   als   solchem)    haben    wir   das 
(menschliche)   leben.     In   ihm  haben  wir  also  ein  gleichnis  des  menschlichen  lebens 
lind  strebens  in  seinem  Verhältnis  zum  göttlichen:  wie  der  regenbogen  ein  abglanz 
des   Sonnenlichtes  ist,   so   ist  auch  unser  streben  ein  abglanz,   eine  oifenbarung  des 
göttlichen   lebens.     Und  für   diesen   gedanken   hätten  wir  eine  parallele  in  einer 
äusserung    des    dichters    in    dem    theatervorspiel   vom    19.  September  1807 :   'So   im 
kleinen  ewig  wie  im  grossen  wirkt  natur,  wirkt  menschengeist,  und  beide  sind  nur 
abglanz  jenes  lulichts  droben,   das  unsichtbar  alle  weit  erleuchtet'.    Vgl.  auch  das 
zahme  Xenion:  'War' nicht  das  äuge  sonnenhaft,  die  sonne  könnt'  es  nie  erblicken; 
lag'  nicht   in   uns    des   gottes   eigne   kraft,   wie   könnt'  uns  göttliches  entzücken?', 
und   aus  dem  'Proömion'  (2.):   'Ihm  ziemt's,  die  weit  im  Innern  zu  bewegen,  natur 
in    sich,   sich   in   natur  zu   hegen,  so  dass,   was  in  ihm  lebt  und  webt  und  ist,   nie 
seine   kraft,   nie   seinen   geist  vermisst'.  —  Übrigens   ersehen  wir  aus  dieser  stelle 
des    Faust    (auch    nach    der    gewöhnlichen    erklärung)    und    ebenso    aus    dem    ent- 


zu   GOETHES   FAUST  335 

sprecliendeu  Paral.  63  (anfang:  Er  wacht  aiaf,  fühlt  sich  gestärkt,  verschwunden 
alle  Yorliergehenfle  ahhäugigkeit  von  Sinnlichkeit  und  leidenschaft.  Der  geist,  ge- 
reinigt und  frisch,  nach  dem  höchsten  strehend),  dass  Faust  sich  schon  jetzt  'dem 
ideellen  genähert'  hat  und  nicht  erst  durch  den  besuch  der  mütter.  — 

5677  Seht,  wie  die  grimmen  ungestalten, 
Bewegt  im  rasch  gewonnenen  räum, 
Das  doppelflügelpaar  entfalten. 

Es  scheint  nicht  überflüssig  zu  sein,  darauf  hinzuweisen,  dass  'bewegt  im 
rasch  gewonnenen  räum'  nicht,  wie  man  zunächst  annehmen  möchte,  eine  appositiou 
zu  dem  vorausgehenden  Subjekt  'die  grimmen  ungestalten'  ist,  sondern  zu  dem  nach- 
folgenden Objekt  'das  doppelflügelpaar'.  Die  drachen  selbst  haben  ja  schon  lange 
halt  gemacht  (5520  ff.).  Vgl.  9510 :  Und  sie  beschützen  um  die  wette,  ringsum  von 
wellen  augehüpft,  nichtinsel  dich. 

Nymphen  im  chor  (sie  umschliessen  den  grossen  Pan). 

5872  Auch  kommt  er  an !  — 

Das  all  der  weit 

Wird  vorgestellt 

Im  grossen  Pan. 

Ihr  heitersten,  umgebet  ihn, 

Im  gaukeltanz  umschwebet  ihn; 

Denn  weil  er  ernst  und  gut  dabei, 

So  will  er,  dass  man  fröhlich  sei. 
5880  Auch  unterm  blauen  wölbedach 

Verhielt  er  sich  beständig  wach, 

Doch  rieseln  ihm  die  bäche  zu, 

Und  lüftleiu  wiegen  ihn  mild  in  ruh'  usw. 

Obgleich  in  v.  5881  die  ausgaben  wie  die  handschrift  den  Indikativ  'verhielt' 
bieten,  kann  doch  kein  zweifei  sein,  dass  der  dichter  hier  den  konjunktiv  'verhielt" 
gemeint  hat:  auch  würde  sich  der  grosse  Pan  unter  dem  blauen  wölbedach  beständig- 
wach  verhalten,  wenn  die  bäche  ihm  nicht  zurieselten  und  lüftlein  ihn  nicht  mild 
in  ruh'  wiegten.  Und  mir  eben,  wenn  er  aus  solch  einem  schlaf  erwacht,  erregt 
der  sonst  gute  und  fröhlichkeit  liebende  gott  durch  den  gewaltigen  schall  seiner 
stimme  (panischen)  schrecken.  Der  apostroph  ist  iu  der  handschrift  weggelassen 
(wie  nach  Ericli  Schmidt  auch  sonst  oft;  siehe  in  der  Weimarer  ausgäbe  bd.  15,  2 
zu  4943  und  5388)  und  auch  in  den  ersten  drucken  nicht  nachgetragen.  Ebenso 
lesen  wir  z.  b.  in  v.  4830  gieng',  in  H  aber  und  in  den  ersten  ausgaben  von  1828 
bis  29  gieng.  Umgekehrt  scheint  5388  der  Indikativ  begieng,  der  in  den  hand- 
schriften  steht,  richtig  zu  sein,  nicht  der  apostrophierte  konjunktiv  begieng',  den 
schon  die  erste  ausgäbe  bietet:  wie  er  es  begieng  (und  geuoss,  5385),  so  muss  er 
es   auch   büssen  (vgl.  5386).     Siehe  auch  Morris,  Goethestudien  II,  263  (2.  aufläge). 

6249  Du  spriclit  als  erster  aller  mystagogen. 
Die  treue  neophyten  je  betrogen. 
Nur  umgekehrt.     Du  sendest  mich  ins  leere, 
Damit  ich  dort  so  kunst  als  kraft  vermehre ; 
Behandelst  mich,  dass  ich,  wie  jene  katze, 
Dir  die  kastanien  aus  den  gluten  kratze. 


336  rUEDERKING 

Nur  immer  ziil     Wir  wollen  es  ergründen. 
In  deinem  nichts  hoff  ich  das  all  zu  finden. 

Zur  erläuteruui;-  der  behauptung  Fausts,  dass  Mephistopheles  ihn  umgekehrt 
wie  die  mystagogen  betrügen  wolle,  dient  nur  der  erste  satz  'Du  sendest  mich  ins 
leere,  damit  ich  dort  so  kunst  als  kraft  yerniehre',  und  zwar  ist  hier  der  hinzu- 
gefügte nebensatz  nur  scheinbar  ein  flnalsatz ;  denn  es  ist  nicht  Mephistos  absieht, 
Fausts  kraft  und  kunst  zu  vermehren :  es  ist  dies  eine  folge,  die  Faust  von  seinem 
gange  zu  den  müttern  für  sich  erwartet.  Der  zweite  satz  'Behandelst  mich'  (usw.) 
knüpft  wieder  an  die  erste  behauptung  'Du  sprichst  als  erster  aller  mystagogen' 
(usw.)  an  und  fügt  etwas  neues  hinzu,  und  der  sinn  dieser  worte  scheint  der  zu 
sein:  Du  redest  so,  als  handelte  es  sich  nur  darum,  dass  ich  statt  deiner  die  kas- 
tanien  aus  dem  feuer  hole ;  ich  hoffe  aber  bei  den  müttern  mehr  als  nur  das  'idol' 
der  Helena  zu  finden.  — 

6473  Zum  weihrauchsdampf  was  duftet  so  gemischt, 
Das  mir  das  herz  zum  innigsten  erfi'ischt? 

Die  worte  des  ersten  satzes  sind  ungewöhnlich  gestellt,  denn  die  natürliche 
folge  wäre:  was  duftet  so,  zum  weihrauchsdampf  gemischt?  Das  ergäbe  auch  einen 
richtigen  vers ;  doch  wären  dann  die  beiden  zueinander  in  beziehung  stehenden 
prouomina  'was'  und  'das'  zu  weit  von  einander  getrennt.  Vgl.  z.  b.  2927  f.  An 
einer  wohlgeweihten  statte  zum  ewig  kühlen  ruhebette. 

7152     Wer  sind  die  vögel,  in  den  ästen 
Des  pappelstromes  hingewiegt? 

Ursprünglich  hat  Goethe  'in  den  ästen  des  Peneusstromes'  geschrieben  und 
dann  in  der  haupthandschrift  den  fehlerhaften  rhythmus  gebessert  durch  die  änderung 
'des  pappelstromes'.  Dieser  ausdruck  erschien  jedoch  den  ersten  herausgebern  des 
Faust  unverständlich  oder  allzu  kühn,  und  sie  setzten  dafür  'der  sti'omespappeln'. 
Die  handschriftliche  lesart  ist  mit  recht  wiederhergestellt,  der  pappelstrom  ist  aber 
nicht  ein  von  päppeln  umgebener  ström,  sondern  eine  dichte  oder  dicht  erscheinende 
reihe  wogender  päppeln.  Der  aus  Goethes  gedieht  ,Die  glücklichen  gatten'  angeführte 
ausdrack  pappelbäche  (die  das  neu  gebaute  haus  umschlingen)  bezeichnet  dagegen 
wirkliche  bäche  (zwei  arme  eines  geteilten  baches),  die  den  wohnsitz  umfliessen 
und  von  päppeln  umstanden  sind,  hinter  denen  das  haus  freundlich  herausschaut. 
Vgl.  noch  im  ersten  bände  der  Jubiläumsausgabe  von  der  Hellens  anmerkung  zu 
V.  65  desselben  gedichtes  (waffeuwogen,  blinkender  waffenfluss)  und  im  Faust  7207 
(Wolltest  du  zu  unsern  gauen  dich  ans  grüne  meer  verfügen),  7010  (von  grauer 
zelten  woge)  und  9204  (der  herdeu  woge). 

7172  Das  sind  die  säubern  neuigkeiten. 
Wo  aus  der  kehle,  von  den  saiten 
Ein  ton  sich  um  den  andern  flieht. 
Das  trällern  ist  bei  mir  verloren : 
Es  krabbelt  wohl  mir  um  die  obren. 
Allein  zum  lierzeu  dringt  es  nicht. 

Unter  den  säubern  (musikalischen)  neuigkeiten  sind  nicht  die  gleitenden  und 
klingenden  reime  der  romantiker  zu  verstehen,  sondern,  wie  das  'trällern'  in  v.  7175 
beweist,  italienisclier  koloraturgesang  und  -spiel  mit  langen  trillern  und  dergleichen. 


zu    G0ETHE8   FAUST  337 

7953  Auf  meiuein  Harz  der  harzig-e  dunst 

Hat  was  vom  pech,  und  das  hat  meine  gunst; 
Zunächst  der  schwefel  .  .  .  Hier  bei  diesen  Griechen 
Ist  von  dergleichen  kaum  die  spur  zu  riechen. 

'Zunächst  der  schwefel'  hat  man  nicht  recht  erklären  können  und  deshalb 
den  text  etwas  voreilig  geändert  in  'das  hat  meine  gunst  zunächst  dem  schwefel'. 
'Zunächst'  wird  aber  von  Goethe  auch  anders  gebraucht  als  heute,  nämlich  auch 
zur  hezeichnung  der  nächsten  zeit  und  folge,  also  gleich  nächstens,  demnächst, 
nächstdem,  sodann;  z.  b.  im  Faust  1419  Und  wir  besprechen  das  zunächst  (=  näch- 
stens), 8252  Doch  war'  er  gern  zunächst  verköi'perlicht  (=  recht  bald),  11042  So 
könnt'  ich  wohl  zunächst  das  ganze  reich  verschreiben  (=  bald) ;  besonders  aber  iu 
dem  aufsatz  Die  skelette  der  uagetiere  (1824)  in  der  zweiten  hälfte  die  stelle: 
Daher  der  sammeltrieb  und  zunächst  gar  manche  handlung,  die  einer  überlegten 
kunstfertigkeit  ganz  ähnlich  sehen  möchte  (=  nächstdem,  sodann).  Vgl.  auch  Pur- 
kinje in  Goethes  aufsatz  Über  das  sehen  in  subjektiver  hiusicht  (1820):  zunächst 
diesem  Hesse  sich  behaupten;  und  Lessiug  im  LaokoonlV:  Nichts  nötigt  hieruächst 
(=  ferner,  sodann)  den   dichter  —  ^ 

8852  Durch  Kastor  und  durch  Pollux  aber  bald  befreit, 
Umworben  standst  du  ausgesuchter  heldenschar. 

Erich  Schmidt  verbindet  'Umworben'  mit  'ausgesuchter  heldenschar',  wie  8117 
(Jahrtausenden  so  schrecklich  als  gekannt)  'gekannt'  mit  dem  dativ  verbunden  ist; 
jedoch  ist  hier  die  Verbindung  vermittelt  durch  das  vorausgehende  'schrecklich', 
und  auch  das  participium  'gekannt'  selbst  lässt  sich  leichter  als  andere  passivparti- 
cipia  mit  dem  dativ  verbinden  (vgl.  bekannt,  cognitus,  notus) ;  ähnlich  6218  Göt- 
tinneu, ungekannt  euch  sterblichen;  ferner  im  Paral.  173,  1.  und  2.:  allen  doch 
begehrt.  An  unserer  stelle  aber  liegt  es  wohl  näher,  den  dativ  mit  'standst  du'  zu 
verbinden  (wegen  der  Wortstellung).  Goethe  hat  selbst  zwischen  diesen  beiden  Ver- 
bindungen geschwankt  und  in  einem  seiner  handschriftlichen  entwürfe  'Standst  du 
umworben  von  ausgesuchter  heldenschar'  geändert  iu  'Umworben  standst  du  aus- 
gesuchter heldenschar'  und  also  'umworben'  von  dem  nicht  mehr  zugehörigen  dativ 
abgerückt ;  in  einem  andern  aber  versuchte  er  'standst  du'  durch  'vor'  mit  dem  dativ 
'heldenschar'  zu  verbinden.  In  der  haupthandschrift  jedoch  Hess  er  den  blossen 
dativ  stehen  trotz  der  sprachlichen  härte.  Vgl.  10961  'Mit  stolz  in  tiefster  brüst,, 
mit  demut  an  gebärde  stehu  fürsten  dir  gebeugt',  wo  eine  handschrift  ursprünglich 
ebenfalls  'Vor  dir  gebeugt'  hatte  (im  anfang  des  verses,  worauf  dann  wohl  'stehu 
fürsten'  folgen  sollte). 

9346  Schwach  ist,  was  der  herr  befiehlt. 
Tut's  der  diener,  es  ist  gespielt: 
Herrscht  doch  über  gut  und  blut 
Dieser  Schönheit  Übermut. 

Nicht  sowohl  der  befehl  des  herrn  als  vielmehr  die  gewalt  der  Schönheit 
Helenas,    der  neuen  herrin,   nötigt  den  diener  zu  den  dienstleistungen,   die  er  gern 

1)  Nachträglich  finde  ich  in  dem  neuen  Faustkommentar  von  Karl  Alt  die 
kurze  bemerkung  zu  v.  7956:  zunächst  —  nächstdem  ohne  begründung  oder  quellen- 
anffabc. 


338  rKKDKKRixr; 

uud  leicht,  wie  spielend,  vollzieht.  —  Zu  'dieser  sehiiaheit  üherinut'  möclite  ich  lieber 
auf  den  Spruch  hinweisen,  den  Goethe  in  der  dritten  abteilung'  seiner  Maximen  und 
reflexionen  anführt  (nr.  362  bei  Max  Hecker):  Vis  superba  forraae.  Ein  schönes 
wort  von  Johannes  Secuudus  (und  bald  danach :  Schönheit  und  geist  muss  man 
entfernen,  wenn  man  nicht  ihr  kuecht  Averdcn  will).  Der  Übermut  der  Schönheit 
liegt  eben  darin,  dass  sie  eine  solche  gewalt  und  herrschaft  über  andere  ausübt. 

984:3  Welche  dies  land  gebar 
Aus  gefahr  in  gefahr, 
Frei,  unbegrenzten  muts, 
Verschwendrisch  eignen  bluts 
Den  nicht  zu  dämpfenden 
Heiligen  sinn 
Alle  den  kämpfenden 
Bring'  es  gewinn ! 

Hier  ist  die  Interpunktion  der  haudschrifteu  und  der  ersten  ausgaben  beson- 
ders mangelhaft';  denn  es  fehlt  jedes  zeichen  nach 'muts' und  nach  'sinn',  während 
nach  'bluts'  ein  punkt  steht.  Dass  nuu  nach  'muts'  ein  komma  nötig  ist,  wird 
niemand  bezweifeln;  ebensowenig,  dass  nach  'sinn'  mindestens  ein  komma  stehen 
muss,  gleichviel,  wie  man  den  text  lesen  uud  deuten  mag.  Aber  schwierig  ist  die 
Interpunktion  nach  'bluts'  und  die  erklärung  des  akkusativs  'Den  —  sinn'  und  über- 
haupt die  beziehung  der  sätze  und  Satzteile  in  der  ganzen  stelle.  Die  Überlieferung 
mit  'Den  —  sinn'  ergibt  keinen  sinn ;  was  Riemer  dafür  eingesetzt  hat  'Mit  nicht 
zu  dämpfendem  heiligem  sinn'  ist  formell  unmöglich  und  ganz  unwahrscheinlich. 
Sicher  aber  scheint  die  beziehung  des  relativsatzes  (nebst  seinen  beifügungen)  zu 
'alle  den  kämpfenden'  zu  sein.  Diese  beziehung  würde  jedoch  gestört  durch  einen 
andern,  vorgeschobenen  dativ  singularis  'Dem  —  sinn',  den  Erich  Schmidt  in  den 
text  gesetzt  hat.  Ich  wage  die  Vermutung,  dass  'Den'  aus  'Im'  entstellt  ist,  obgleich 
'Den'  auch  in  Goethes  eigenhändigem  eutwurf  dieser  verse  in  H  -  zu  stehen  scheint. 
AVie  die  Verderbnis  eingetreten  ist,  lässt  sich  wohl  vermuten,  aber  nicht  leicht  ent- 
scheiden ^ ;  doch  wird  der  text  durch  diese,  immerhin  leichte  änderung  wenigstens 
lesbar.  Nach  'bluts'  wäre  dann  gar  kein  zeichen  oder  ein  komma  zu  setzen  und 
dieses  mittelstück  als  eng  zusammengehörig  anzusehen:  die  in  ihrem  nicht  zu 
dämpfenden  heiligen  sinn  ihr  eigenes  blut  verschwenden. 

11243  Dort  wollt'  ich,  weit  umher  zu  schauen, 
Von  ast  zu  ast  gerüste  bauen. 
Dem  blick  eröffnen  weite  bahn. 
Zu  sehn,  was  alles  ich  getan, 


1)  Vgl.  auch  z.  b.  6287  gestaltung,  Umgestaltung,  des  ewigen  sinnes  ewige 
Unterhaltung.  Umschwebt  von  bildern  aller  kreatur,  sie  sehn  dich  nicht,  denn  Schemen 
sehn  sie  nur.  Überliefert  ist  ein  komma  nach  'Unterhaltung'  und  ein  punkt  nach 
'kreatur'.     Siehe  noch  unten  s.  339  ff. 

2)  Nur  eins  will  ich  andeuten:  jene  eigenhändige  uiederschrift  der  verse  in 
H  -  braucht  nicht  der  allererste  eutwurf  derselben  zu  sein.  Bei  einer,  auch  eigen- 
händigeji,  spätem  abschrift  aber  konnte  sich  leicht  ein  versehen  einschleichen. 
Und  in  der  tat  finden  sich  auch  sonst  in  Goethes  eigenen  manuskripteu  sonderbare 
versehen,  z.  b.  9601  schmerz  geschrei  für  scherzgeschrei,  9660  sonnen  dui'chstrah- 
lenden  äther  für  sonnedurchstrahlten  äther,  uud  anderes  mehr. 


zu    GOETHES   FAUST  339 

Zu  überscbaim  mit  einem  blick 
Des  menscbengeistes  meisterstück, 
Betätigend  mit  klugem  sinn 
Der  Völker  breiten  wobngcwinn. 

Die  letzten  verse  bedürfen  wobl  einer  erklärung  (vgl.  den  kommentar  von 
Witkowski) :  Faust  will  von  dem  lugiusland  überschauen,  was  er  schon  geleistet 
hat,  während  er  noch  weiter  bemüht  ist,  mit  klugem  sinn  zu  betätigen,  d.  h.  durch 
taten  zu  erweisen,  dass  viel  land  für  ansiedluugeu  gewonnen  ist,  wie  er  ja  auch 
hald  darangeht,  das  neulaud  noch  mehr  auszunutzen  (siehe  11 501  ff.  11 539  ff.  und 
11 559  ff.).  Goethe  hat  das  wort  'betätigen'  gern  gebraucht,  siehe  die  deutschen 
Wörterbücher  und  z.  b.  noch  den  brief  an  Zelter  vom  11.  okt.  1826  (nach  der  mitte): 
Man  sollte  sich  beizeiten  sagen,  dass  alles  zu  vermeiden  rätlich  ist,  was  man  sich 
nicht  im  genuss  aneignen  oder  produktiv,  sich  selbst  und  andern  zur  freude,  be- 
tätigen kann  (d.  h.  tätig  verwerten),  und  danach  könnte  man  Fausts  werte  auch 
so  erklären :  den  gewinn  an  bewohnbarem  land  tätig  verwertend.  Das  participium 
ist  übrigens  nicht  den  iuflnitiven  'zu  sehn'  und  'zu  überschaun'  untergeordnet,  son- 
dern dem  ganzen  satze  beigefügt. 

11  685  Misstöne  hör'  ich,  garstiges  geklimper. 

Von  oben  kommt's  mit  uuwillkommnem  tag; 
Es  ist  das  bübisch-mädchenhafte  gestümper, 
Wie  frömmelnder  geschmack  sich's  lieben  mag. 
Ihr  wisst,  wie  wir  in  tief  verruchten  stunden 
Vernichtung  sannen  menschlichem  geschlecht; 
Das  schändlichste,  was  wir  erfunden, 
Ist  ihrer  andacht  eben  recht. 

Hier  sind  die  kommentare  ganz  unzulänglich.  Der  gesang  der  uugeschlech- 
tigen  *  engel,  die  deshalb  mann  und  weib  zu  verführen  vermögen  (11  781  f.),  erinnert 
den  teufel  an  das  bübisch-mädchenhafte  gestümper  von  kastraten,  das  einer 
verkehrten  frömmigkeit  gefällt,  und  was  die  teufel  ersonnen  haben,  um  das  mensch- 
liche geschlecht  seiner  Vernichtung  durch  aussterben  entgegenzuführeu,  verwertet 
diese  art  von  frommen  bei  ihrer  kirchlichen  andacht.  Eine  solche  ertindung  der 
teufel  entspricht  durchaus  der  tendenz,  zu  der  Mephistopheles  im  ersten  gespräch 
mit  Faust  sich  bekennt  (1388  ff.,  1357  f.  und  1364  ff.). 

Zuletzt  möchte  ich  noch  einige  stellen  besprechen,  deren  Verständnis  erst 
durch  eine  änderuug  der  Interpunktion  gewonnen  oder  gesichert  wird.  Goethe 
selbst  war  in  der  Zeichensetzung  nachlässig,  ungleichmässig  und  eigenartig,  und  seine 
philologischen  korrekteren  haben  daran  nicht  viel  gebessert.  Nun  ist  es  allerdings 
durchaus  berechtigt,  dass  die  Weimarer  ausgäbe  die  ursprüngliche  Interpunktion 
möglichst  genau  festzuhalten  sucht;  doch  nicht  nur  unnötig,  sondern  nachteilig  für 
das  Verständnis  eines  weitereu  leserkreises  ist  es,  wenn  auch  andere  ausgaben,  wie 
die  Jubiläumsausgabe  oder  die  von  Witkowski  kommentierte,  unserer  heutigen, 
genaueren  Zeichensetzung  nur  wenig  sich  anbequemen,  während  sie  die  jetzige 
rechtschreibuug,   die   doch   mehr  nur  dem  äuge  des  lesers  eine  erleichterung  bietet, 

1)  Später  erscheinen  sie  ihm  mehr  als  buben  (11763,  11767  und  11794). 


340  KHEDKUICING  1 

vöUii,'-  aiigeiiouniKMi  haben.  Ich  mehic  zunächst  fälle  von  dieser  art:  1696  Kannst 
du  micli  mit  iienuss  betrügen;  das  sei  für  mich  der  letzte  tag!  Hier  sind  Vorder- 
satz und  nachsatz  durch  ein  Semikolon  getrennt  und  so  auch  sonst  oft.  Ferner  4644 
Grosse  lichter,  kleine  funken  glitzern  nah  und  glänzen  fern;  glitzern  hier  im  see 
sich  spiegelnd,  glänzen  droben  klarer  nacht.  Nach  'fern'  ein  Semikolon,  obwohl  der 
folgende  satz  anaphorisch  mit  demselben  verbum  beginnt  und  dasselbe  subjekt  hat. 
Noch  auffälliger  ist  der  punkt  in  v.  6243  Du  sähst  doch  etwas.  Sähst  wohl  in 
der  grüne  gestillter  meere  streichende  delphine;  sähst  wölken  ziehen,  sonne,  moud 
und  Sterne.  Andererseits  fehlt  sehr  oft  jedes  verdeutlichende  Satzzeichen,  meist 
ein  komma,  wo  der  satzbau  und  sinn  es  erfordern,  während  es  in  genau  ent- 
sprechenden fällen  sogar  von  Goethe  selbst  gesetzt  ist.  Z.  b.  9180  Würdig,  o  würdig, 
dreifach  würdig  sei  gesegnet  ein  solcher  empfang!  (Nach  dem  dritten  'würdig' 
muss  ein  komma  stehn,  weil  es  nicht  adverbial  ist,  sondern  eine  appositive  bestim- 
mung  des  Subjekts).  9482  Wer  die  schönste  für  sich  begehrt,  tüchtig  vor  allen 
dingen  seh'  er  nach  waffen  weise  sich  um.  (Ein  komma  nach  'dingen'  aus  dem- 
selben gründe:  der  sei  vor  allem  selbst  tüchtig,  dann  aber  sehe  er  sich  auch  weise 
nach  waffengenossen  um.)  9491  Unsern  fürsten  lob'  ich  drum,  schätz'  ihn  höher 
vor  andern,  wie  er  so  tapfer  klug  sich  verband,  dass  die  starken  gehorchend  stehn 
('so  tapfer'  müsste  zwischen  kommata  stehn:  der  so  tapfer  ist;  'klug'  dagegen  ist 
adverb,  wie  in  der  ersten  strophe  'weise';  siehe  oben).  9651  Kräftig  und  zierlich 
aber  zieht  schon  der  schalk  die  geschmeidigen,  doch  elastischen  glieder  listig  heraus. 
(Ein  komma  nach  'aber'!  Auch  hier  sind  eine  appositive  und  eine  adverbiale 
bestimmuug  —  'listig'  —  vereinigt  \)  9802  Deinem  gleich  ist  unser  wille  nicht  so 
leicht  hinweggerafft.  (Ein  komma  nach  'gleich'!)  Die  richtige  Interpunktion  bietet 
in  ganz  ähnlichen  fällen  der  dichter  selbst,  z.  b.  7375  Dann  Orpheus,  zart  und 
immer  still  bedächtig,  schlug  er  die  leier  allen  übermächtig.  (Deutlicher  noch, 
wenn  nach  'Orpheus'  ein  kolon  gesetzt  wird;  denn  'zart  und  immer  still  bedächtig' 
ist  eine  apposition  für  das  folgende  'er'.)  9603  Nackt,  ein  geuius  ohne  flügel,  faunen- 
artig ohne  tierheit,  springt  er  auf  den  festen  bodeu;  und  sogar  7425  Wie  war  sie 
reizend!  jung,  des  alten  lust!  (d.  h.  in  ihrer  Jugendblüte  des  alten  lust).  Und  so 
noch  vieles  andere,  z.  b.  9691  Lass  der  sonne  glänz  verschwinden,  wenn  es  in  der 
seele  tagt,  wir  im  eignen  herzen  finden,  was  die  ganze  weit  versagt.  (Damit  man 
gleich  beim  ersten  lesen  erkenne,  wie  die  sätze  zu  sondern  und  zu  verbinden  sind, 
sollte   nach  der  ersten  zeile  stärker  interpunktiert  werden,   etwa  mit  einem  kolon.) 

Doch  sind  dies  immerhin  stellen,  deren  sinn  nicht  zweifelhaft  sein  kann, 
wenn  mancher  auch  einen  augenblick  stutzen  mag,  vorausgesetzt,  dass  er  nicht  eben 
gedankenlos  darüberhin  liest.  Aber  bedenklicher  sind  andere  fälle,  in  denen  das 
Verständnis  des  lesers,  das  doch,  besonders  im  zweiteu  teile  des  Faust,  noch  mit 
ganz  andern,  sachlichen  und  gedanklichen,  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen  hat,  durch  eine  mangelhafte  Interpunktion  erschwert  oder  geradezu  irre- 
geführt werden  kann;  ja  manchmal  muss  der  sinn  der  stelle  wohl  erst  überhaupt 
neu  gewonnen  und  festgestellt  werden.  Hier  einige  beispiele,  nach  der  reihenfolge 
der  verse  geordnet. 


1)  Noch  auffälliger  ist  die  zusammendrängung  der  bestimmungen  in  v.  9645  ff. 
Ursprünglich  hiess  es :  Diesen  zierlich  kräftig  geborenen  kaum  faltet  — . 


zu    GOETHES   FAUST  341 

338  Von  allen  geistern,  die  verneinen, 

Ist  mir  der  sehalk  am  wenigsten  znr  last. 

Des  menschen  tätigkeit  kann  allzu  leicht  erschlaffen, 

Er  liebt  sich  bald  die  unbedingte  ruh' ; 

Prüm  geh'  ich  gern  ihm  den  gesellen  zu, 

Der  reizt  und  wirkt  und  muss  als  teufel  schaffen. 

Der  letzte  vers  wird  wohl  gewöhnlich  als  relativsatz  gefasst,  im  anschluss 
an  'den  gesellen'  und  der  Interpunktion  entsprechend.  Und  doch  ist  der  maugel 
der  Inversion  sehr  hart  ^^nd  diese  Wortstellung  (statt :  und  als  teufel  schaffen  muss), 
obwohl  bei  Goethe,  auch  im  Faust,  nicht  ganz  unerhört,  doch  hier  fast  unerträg- 
lich. Auch  sollte  man  dann  nicht  'den',  sondern  'einen  gesellen'  erwarten.  Aber 
wenn  wir  annehmen,  dass  der  dichter  hier  nur  ungenau  interpungiert  habe,  und 
nach  'zu'  ein  kolon  oder  Semikolon  setzen,  so  haben  wir  in  dem  verse  einen  regel- 
rechten hauptsatz,  und  'den  gesellen'  (=  den  gefährten  3243)  bedarf  keiner 
ergänzung,  weil  es  demonstrativ  ist.  Vgl.  z.  b.  3470  Dass  ich  dich  in  der  gesell- 
schaft  seh',  3475  Als  des  menschen  widrig  gesiebt  (etwas  anders  3241  Du  gabst 
zu  dieser  wonne  —  mir  den  gefährten,  den  ich  schon  nicht  mehr  entbehren  kann). 
Es  scheint  mir,  dass  diese  Sätze,  die  der  herr  nicht  mehr  zu  Mephistopheles  spricht, 
bei  solcher  auffassung  und  Interpunktion  auch  in  der  deklamation  gewinnen  und 
natürlicher,  ausdrucksvoller  und  energischer  klingen. 

1799  Und  euch,  mit  warmen  jugendtrieben. 
Nach  einem  plane,  zu  verlieben. 

Das  komma  nach  'plane'  ist  sinnwidrig,  mag  man  auch  die  kommata,  die  die 
adverbiale  bestimmung  'mit  warmen  jugendtrieben'  einschliessen,  gelten  lassen. 

3408  Ach  dürft'  ich  fassen 
Und  halten  ihn, 
Und  küssen  ihn. 
So  wie  ich  wollt'. 
An  seinen  küssen 
Vergehen  sollt' ! 

Der  bloss  empfindende  und  geuiessende  leser  wird  bei  diesem  leidenschaft- 
lichen lyrischen  erguss  nicht  nach  dem  genaueren  sinn  und  nach  der  interpunktion 
fragen.  Aber  manchem  philologen  wäre  das  Verständnis  erleichtert  worden,  wenn 
hier  das  ausrufungszeichen  von  anfang  an  nicht  am  schluss,  sondern  nach  3411  (So 
wie  ich  wollt')  gestanden  hätte.  Man  wäre  dann  schwerlich  auf  den  einfall  ge- 
kommen, dass  der  letzte  satz  bedeute :  sollte  ich  auch  an  seinen  küssen  vergehen ; 
und  auch  einen  aufschrei  des  Verlangens  hätte  man  dann  nicht  darin  gefunden 
('sollt"  als  Wunschform).  Es  ist  zu  dem  vorausgehenden  Wunschsätze  der  nacli- 
satz,  in  dem  die  folge,  statt  mit  'würde',  mit  'sollte'  bezeichnet  ist,  weil  Gret- 
cheiis  wille  daran  beteiligt  wäre. 

4634  AVenn  sich  lau  die  lüfte  füllen 
Um  den  grünumschräukten  plan. 
Süsse  dufte,  ncbelhülleu 
Senkt  die  dämmerung  heran. 
Lispelt  leise  süssen  frieden, 

ZEITSCHRIFT   F.    DEUTSCHE   rilll.OLOCaE.     BD.  XLII.  23 


342  FKEDEKKIXG 

Wiegt  das  herz  in  kiiidesruli ; 
Und  den  äugen  dieses  müden 
Schliesst  des  tages  pforte  zu. 

Nach  dieser  Interpunktion  müssen  wir  annehmen,  dass  'lispelt'  und  'wiegt' 
und  'schliesst'  imperativformen  der  zweiten  person  pluralis  sind  und  dass  also  die 
elfen  sich  gegenseitig  auffordern.  Nun  werden  die  elfeu  allerdings  von  Ariel  ge- 
mahnt, an  Faust  ihre  schönste  pflicht  zu  erfüllen  (4621  ff.),  wie  sie  später  von  ihm 
gewarnt  werden  (4666  ff.) ;  in  ihren  eigenen  versen  aber  würden  sie  nur  in  dieser 
ersten  Strophe  einander  anreden.  Dies  scheint  mir  dem  stil  und  Charakter  dieses 
gesanges  zu  widersprechen,  in  dessen  ersten  Strophen  die  wechselnden  erscheinungen 
des  abends  und  der  nacht  als  solche,  in  ihrem  eigenen,  natürlichen  ablauf  und  wirken, 
geschildert  zu  sein  scheinen.  Wenn  wir  den  puukt  am  ende  des  vierten  verses 
nach  unserem  brauch  in  ein  komma  ändern,  so  bleibt  'dämmeruug'  das  Subjekt  von 
'lispelt',  'wiegt'  und  'schliesst'  (letzteres  intransitiv,  wie  z.  b.  in  der  szenischen 
bemerkung  am  schluss  des  prologs  im  himmel:  Der  himmel  schliesst).  So  ergibt 
sich  eine  folge  reiner  naturbilder  ohne  eine  störende  Unterbrechung;  die  elfen  aber 
vollziehen  die  befehle  ihres  ineisters  eben  dadurch,  dass  sie  diese  verse  singen,  in 
denen  sie  zugleich  die  fortschreitende  beruhigung  und  genesung  Fausts  teils  fest- 
stellen (4640  f.),  teils  durch  die  unmittelbare  anrede  des  schlafenden  und  erwachenden 
befördern  (3.  und  4.  strophe).  Mit  der  überlieferten  Interpunktion  vgl.  die  der  oben 
angeführten  stellen  4645,  6243  und  auch  noch  9517,  wo  wir  wenigstens  in  der 
Sophienausgabe  lesen :  Das  land  — ,  das  früh  au  ihr  hinaufgeblickt.  Als,  mit  Eurotas 
Schilfgeflüster,  sie  leuchtend  aus  der  schale  brach. 

Gärtnerinnen.  Euren  beifall  zu  gewinnen. 

Schmückten  wir  uns  diese  nacht, 
5090  Junge  Florentiuerinnen 

Folgten  deutscheu  hofes  pracht; 
Tragen  wir  in  braunen  locken 
Mancher  heitern  blume  zier; 
Seideufäden,  seidenflocken 
Spieleu  ihre  rolle  hier. 

Da  die  jungen  Florentinerinneu  eben  die  gärtnerinnen  sind,  so  scheint  es 
angemessener,  v.  5090  als  apposition  zu  fassen  und  nach  'Florentinerinnen'  ein 
komma  zu  setzen,  als  einen  Wechsel  des  Subjekts  anzunehmen  mitten  zwischen 
einem  vorausgehenden  und  einem  folgenden  'wir'.  In  v.  5092  ist  dann  die  Inversion 
entweder  ebenso  zu  erklären  wie  die  in  v.  5089  (dann  sollten  wir  aber  nach  'pracht' 
nur  ein  komma  setzen),  oder  wir  haben  hier  eine  uns  nicht  geläufige,  al)er  bei 
Goethe  nicht  ganz  seltene  nachstellung  des  Subjekts.  Siehe  Erich  Schmidt  in  der 
Jubiläumsausgabe  zu  4643  und  Knauth,  Goethes  spräche  und  stil  im  alter,  s.  136  ff., 
und  z.  b.  8235  Ergiess'  ich  gleich  des  lichtes  menge,  9794,  9823,  11563,  und  vgl. 
5383  ff.,  wo  der  zweite  hauptsatz  an  sich  auch  zweiter  nachsatz  (mit  der  gewöhn- 
lichen Inversion)  sein  könnte. 

8206  Wir  sind  gewohnt, 
Wo  es  auch  thront, 
In  sonn'  und  mond 
Hinzubeten;  es  lohnt. 


zu    GOETHES   FAUST  343 

Da  'in  sonn'  und  mond'  eine  nähere  bestinimuug  des  vorausg-eheuden  relativ- 
satzes  ist  (also:  sonn-  und  mondgötter)  und  nicht  in  den  hauptsatz  'wir  sind  ge- 
wohnt —  hinzubeten'  gehört,  so  muss  dieser  zusatz  zwischen  kommata  eingeschlossen 
werden.  Inhaltlich  entspricht  dieser  strophe  der  sirenen  die  frühere  in  v.  8190  ff. 
Dort  raten  sie,  alle  gijttlichen  gnaden  zu  ehren  und  von  allen  göttern  eine  Schädigung 
zw  fürchten  (8192  'Elirt  ihr'  ist  natürlich  ein  imperativ  mit  hinzufügung  und  uach- 
stellung  des  Subjekts,  wie  z.  b.  8022,  8303  und  sonst). 

9827  Magst  nicht  in  berg  und  wald 
Friedlich  verweilen, 
Suchen  wir  alsobald 
Reben  in  zeileu, 
Reben  am  hügelrand, 
Feigen  und  apfelgold. 
Ach  in  dem  holden  land 
Bleibe  du  hold! 

Die  handschriften  und  die  ältesten  ausgaben  haben  nach  'verweilen'  ein  komma ; 
Erich  Schmidt  jedoch  findet  es  'sinnwidrig'  in  dem  'frage'-,  nicht  bedingungssatz  und 
hat  dafür  ein  fragezeichen,  sogar  in  die  Weimarer  ausgäbe,  gesetzt,  ebenso  Wit- 
kowski.  Da  aber  Euphorion  schon  in  v.  9811  if.  erklärt  hat,  dass  er  in  berg  und 
wald  nicht  friedlich  verweilen  mag,  und  da  man  reben  in  zeilen  und  feigen  und 
apfelgold  auch  nicht  in  berg  und  wald  suchen  darf,  so  kann  kein  zweifei  bestehen, 
dass  die  ursprüngliche  Interpunktion  richtig  ist.  —  Beiläufig  erwähne  ich,  dass  Goethe 
und  auch  die  Sophienausgabe  9831  f.  intei-pungiereu :  Reben  am  hügelrand;  feigen 
und  apfelgold,  und  füge  die  —  vielleicht  nicht  ganz  überflüssige  —  bemerkuug  hinzu, 
dass  am  ende  dieser  verse  'hold'  nicht  prädikativ,  sondern  adverbial  gebrau clit  ist: 
sei  so  hold  und  bleibe  in  dem  holden  lande! 

10  005  Schwestern!    Wir,  bewegtem  sinnes,  eilen  mit  den  bächen  weiter; 
Denn  es  reizen  jener  ferne  reich  geschmückte  hügelzüge. 
Immer  abwärts,  immer  tiefer,  wässern  wir,  mäandrisch  wallend, 
Jetzt  die  wiese,  dann  die  matten,  gleich  den  garten  um  das  haus. 
Auch   hier  ist   das   überlieferte   komma  beizubehalten  nach  'tiefer'  (nämlich: 
eilend  —  siehe  10  006  — ,  nicht  adverbiale  bestimmung  für  'wässern'). 
10 166  Kaskadensturz,  durch  fels  zu  fels  gepaart. 
Was  soll  das  bedeuten?     'Gepaart'  kann  hier  unmöglich  eine  apposition  für 
^Kaskadensturz'   sein ;   vielmehr  bezeichnet   es   die   doppelheit   der  felsen,    und   die 
kaskaden   stürzen   hindurch  durch  (zwischen)  zwei  getrennt  neben  (gegenüber)  ein- 
ander stehende  (gepaarte)  felsen  oder  felswände,  ähnUch  einem  Wasserfall  im  gebirge. 
Wenn   hier   also   ein   komma  überhaupt  nötig  wäre,   so  müsste  es  nach  dem  ersten 
'fels'  stehen.    Für  die  bedeutung  von  'dui'ch'  vgl.  z.  b.  7378  Das  Iieil'ge  schiff  durch 
klipp  und  Strand  gebracht;  auch  4716  Der  wassersturz,  das  felseuriff  durchbrausend. 
11  292  Ich  blick'  in  die  ferne 
Ich  seh'  in  der  näh' 
Den  mond  und  die  Sterne 
Den  wald  und  das  reh. 
Nach  'näh"  ist   doch   wohl   ein  komma  vergessen.     Das  blicken  in  die  ferne 
und   das   sehen   in   der  nähe  ist  beides  zuerst  ganz  allgemein  ausgesprochen,   dann 

23* 


344  CUUSE,    ZUM    'HKXNO'    J)ES   HAXS    SACHS 

folgen  als  beispiele  für  das  eine  wie  das  andere  einzelne  gegenstände,  paarweise 
zusammengestellt.  Bei  der  gewöhnlichen  interpunktion  würde  dagegen  das  sehen 
in  der  nähe  (in  der  nächsten  Umgebung)  vier  ohjekte  erhalten,  und  zwar  nicht  nur 
nahe,  sondern  auch  sehr  entfernte. 

11874  Ist  um  mich  her  ein  wildes  brausen, 
Als. wogte  wald  und  felsengrund, 
Und  doch  stürzt,  liebevoll  im  sausen, 
Die  wasserfülle  sich  zum  Schlund, 
Berufen  gleich  das  tal  zu  wässern; 
Der  blitz,  der  flammend  niederschlug, 
Die  atmosphäre  zu  verbessern. 
Die  gift  und  dunst  im  buseu  trug, 
Sind  liebesboten,  sie  verkünden. 
Was  ewig  schaffend  uns  umwallt. 

So  wird  gewöhnlich  iuterpungiert;  die  AVeimarer  ausgäbe  hat  nach  'trug'  ein 
Semikolon  (und  nach  'verbessern'  und  'verkünden'  kein  komma),  vermutlich  nach 
den  baudschriften  und  ersten  drucken.  Der  gegensatz  zu  dem  wilden  brausen  kann 
aber  nicht  darin  allein  liegen,  dass  die  wasserfülle  sich  in  den  Schlund  stürzt. 
Deshalb  müssen  wir  entweder  'liebevoll'  (in  liebevoller  absieht,  trotz  des  sausens,, 
da  sie  berufen  ist  — )  oder  'berufen'  (mit  dem  beruf,  zu  dem  zweck)  in  den  haupt- 
satz  selbst  hineinstellen,  ohne  trennung  durch  ein  komma.  Jedenfalls  ist  die  stelle 
so  zu  erklären,  auch  wenn  wü-  die  Interpunktion  nicht  ändern.  Weit  auffälliger 
jedoch  ist  das  komma  in  v.  11881,  denn  so  müsste  'Der  blitz'  das  grammatische 
Subjekt  von  'Sind  liebesboten'  werden,  mögen  wir  nebenbei  auch  noch  an  'Die  wasser- 
fülle' denken.  Das  überlieferte  Semikolon  nach  'trug'  darf  nicht  geändert  werden. 
'Sind  liebesboten'  (d.  h.  es  sind  liebesboten,  wie  z.  b.  12  015  Sind  büsserinnen  und 
sonst  öfter)  hat  dann  beide,  die  wasserfülle  und  den  blitz,  als  subjekt,  und  die  vor- 
ausgehende äusserung  über  den  blitz  ist,  wenn  auch  formell  unvollständig,  dock 
nicht  ganz  zusammenhanglos,  wenn  wir  nur  den  infinitiv  'zu  verbessern'  nicht  ein- 
fach als  eine  finale  ergänzung  von  'niederschlug'  ansehen  (um  die  atmosphäre  zu 
verbessern),  sondern  wie  den  vorausgehenden  Infinitiv  'zu  wässern'  ebenfalls  mit 
'berufen'  verbinden:  —  die  wasserfülle,  berufen  gleich  das  tal  zu  wässern,  ebeiiso 
der  blitz  die  atmosphäre  zu  verbessern. 

WORMS.  ARTHUR   FREDERKING. 


Zum  *Heniio'  des  Hans  Sachs. 

Die  komödie  ist  bekanntlich  eine  bearbeitung  der  'Progymuasmata  Scenica' 
des  Johann  Reuchlin.  Der  bauernknecht  Dromo  hat  den  Schneider  Danista  um 
ein  stück  tuch  betrogen  und  wird  von  ihm  gescholten: 

0  j)rohe  vir  Dromo,  Non  inde  sie  evaseris,  trilittere!    270. 

Wir  haben  es  hier  mit  einem  humanistenscherz  zu  tun:  'trilittere'  ist  eine 
bildung  Reuchlins  und  nur  dem  verständlich,  der  weiss,  dass  damit  auf  Plautus, 
Aulularia  IV  4,6  angespielt  wird;  dort  wird  ein  dieb  als  Hrium  Utterarum  Jiomo' 
bezeichnet.     Reuchlin    selbst  hat  sich  veranlasst  gesehen,  in  seinem  kurzen,  nur  in 


HAUFFEX   ÜBER    HINZE    UXD   BEIXERT,    MOSCHEROSCH  346 

einer  handschrift  erhaltenen  kommentar  zu  den  'Progyninasmata'  zur  erläuterimg' 
auf  die  Plautusstelle  zu  verweisen: 

trilittere  i.  e.fur.  Plautus: 
tri  um  litterar  u  m  homo 
(Holstein,  Johann  Reuchlius  komödieu  s.  104  zu  v.  270,) 

Der  Schlettstadter  humauist  Jakob  Spiegel  übernahm  in  seine,  Tübingen  1512 
gedruckte,  kommentierte  ausgäbe  der  Trogymuasmata'  ausser  anderem  material  des 
Üeuchlinscheu  kommentars  auch  diese  glosse,  in  folgender  form :  'tri  um  litt  er  a  r  u  m 
homo,  far  sei  licet.  Jioc  enim  nomen  continet  tres  litteras\ 

H.  Sachs  hat  'trilittere'  nicht  nur  richtig  verstanden,  so  wie  es  von  Reuchlin 
gemeint  war,  er  hat  es  auch  glücklich  nachzubilden  vermocht,  mit  Worten,  die  ganz 
auffällig  an  die  lateinische  glossierung  anklingen : 

138,  19  0,  o,  du  f rummer  Unecht  Dromo ! 

Ein  mens  eil  drei/ er  huchstab  en  scharff! 
Ein  dieb  ich  nit  wol  sagen  darf  f. 
Du  bist  mir  noch  nit  ubern  graben. 

Da  es  wenig  w^ahrscheinlich  ist,  dass  der  handschriftliche  kommentar  Reuch- 
lins  H.  Sachs  zugänglich  gewesen  sein  sollte,  so  lässt  sich  diese  fast  wörtliche 
Übereinstimmung  seiner  Übersetzung  mit  der  erkläruug  Reuchlins  nur  durch  die 
Vermittlung  des  Spiegeischen  kommentars  begreifen.  Da  der  'Henno'  vom  9.  Januar  1531 
datiert  ist,  so  steht  auch  zeitlich  der  benutzung  dieses  hilfsmittels,  sei  es  in  der 
■ersten  aufläge  von  1512  oder  in  der  zweiten  von  1619,  nichts  entgegen. 

Für  die  frage,  wie  H.  Sachs  bei  der  Verwendung  lateinischer  quellen  ver- 
fahren ist,  insbesondere  für  die  noch  immer  nicht  endgültig  entschiedene  frage 
nach  seinen  lateinkeuntuissen,  darf  die  eventuelle  benutzung  ähnlicher  hilfsmittel 
nicht  übersehen  w^ erden. 

KIEL.  PAUL    CRUSE. 


LITERATÜß. 

W.  Hinze,  Moscherosch  und  seine  deutschen  Vorbilder  in  der  Sa- 
tire. Eine  quelleustudie  (Rostocker  dissertation.)  Rostock,  C.  Hinstorff  1903. 
144  s. 
Joh.  Beinert,  Deutsche  quellen  und  Vorbilder  zu  H.  31.  M o s  c h e r o s c  h  s 
Gesichten  Philanders  von  Sittewald  (Freiburger  dissertation).  Frei- 
burg i.  Br.,  C.  A.  Wagner  1904.     64  s. 

Mit  einem  exkurs  über  Fischart  und  Moscherosch. 
Aus  anregungen  Erich  Schmidts  (Zfda.  23,  76),  Franz  Munckers  (All- 
gemeine deutsche  biographie  22,  356)  und  Ernst  Martins  (Jahrbuch  der  gesell- 
schaft  für  lothringische  geschichte  3,  9  f.)  sind  rasch  hintereinander  zwei  disser- 
tatiouen  über  die  deutschen  Vorbilder  von  Moscheroschs  'Gesichten'  erwachsen. 
Diese  literarischen  Vorläufer  sind  zum  grössten  teile  Elsässer  (auch  insbesondere 
Strassburger)   und   zumeist   Satiriker.     Ilir   einfluss  auf  Moscherosch  ist  yanz  natür- 


346  HAUFFEX 

lieh,  denn  dieser  weilte  zu  verseliiedenen  zeiten  jahrelang  in  Strasshurg-,  liat  da 
die  wichtigsten  eindrücke  der  knaben-  und  Studienzeit  empfangen  und  stand  später 
auch  in  der  ferne  zu  Strassburgs  gelehrten  in  regen  beziehungen,  und  andererseits 
ist  sein  episch-didaktisches  hauptwerk  ausgesprochen  satirisch  und  so  auch  in  der 
geistesart  seineu  Avichtigsten  Vorbildern  verwandt,  besonders  auch  den  elsässischen 
Satirikern  am  eingang  des  16.  Jahrhunderts,  welche  in  Strasshurg  lange  in  leben- 
digem angedeuken  geblieben  waren. 

Ich  möchte  hier  noch  kurz  einiges  über  Moscheroschs  beziehungen  zu  Strass- 
hurg nach  neueren  arbeiten,  besonders  nach  der  sehr  ergebnisreichen  Münchener 
dissertatiou  von  Ludwig  Pariser,  'Beiträge  zu  einer  biographie  von  Moscherosch' 
(1891),  zusammenstellen.  In  Wilstätt,  nahe  bei  Strasshurg,  doch  rechts  vom  Eheiu, 
wurde  Moscherosch  geboren.  N'atus  ü,Wilstatn  in  episcojKitii  Argentinensi 
7.  Martii  1601  (Selbstbiographie,  mitgeteilt  von  G.  Witkowski  in  dieser  Zeit- 
schrift 21,  185).  Der  frühreife  knabe  kam  bald  aus  seinem  geburtsorte  in  die 
reichsstadt,  wo  er  das  protestantische  gj^mnasium  und  ungefähr  von  1620  an  die 
juristische  fakultät  daselbst  besuchte.  Im  jähre  1622  unter  dem  dekanate  des 
geschichtsprofessors  und  uuiversitätsbibliothekars  dr.  Joachim  Clutenius  wird  er 
magister,  im  jähre  1624  in  Genf  doktor  der  rechte.  Nach  einem  längeren  aufent- 
halt  in  Paris  kehrt  er  in  die  heimat  zurück,  wo  er  zunächst  1626  erzieher  wird 
und  sich  1630  mit  seinem  glücklichen  mitbewerber  Samuel  Gloner  vergeblich  um 
die  lehrkanzel  der  poesie  an  der  Strassburger  Universität  bewirbt.  Er  wird  in  dem 
gleichen  jähre  amtmann  in  Kriechingen  bei  Metz,  1636  in  Finstingen  a.  d.  Saar, 
wo  er  bis  1642  verbleibt.  In  beiden  orten,  unweit  von  Strasshurg,  steht  er  in 
regem  brieflichen  verkehre  mit  den  lehrern  und  freunden  aus  der  akademischen 
zeit,  besonders  mit  dem  professor  der  poesie  Johann  M.  Schneuber.  Sie  berichten 
ihm  über  ihre  arbeiten,  beurteilen  einander  ihre  neueren  werke  und  dichten  sich 
gegenseitig  lateinisch  an.  Schneuber  gehört  mit  mehreren  freunden  Moscheroschs 
dem  von  J.  Rumpier  1633  gegründeten  Sprachverein,  der  'Aufrichtigen  tannen- 
gesellschaft',  an,  vielleicht  auch  Moscherosch  selbst,  der  sich  1635  kurze  zeit  in 
Strasshurg  bei  seinem  bruder,  einem  Wundarzt,  aufhält  (vgl.  G.  Voigt,  Die 
dichter  der  Aufrichtigen  tannengesellschaft.  Jahresbericht  des  gymnasiums  Groß- 
Lichterfelde  1899).  Seine  gründliche  wissenschaftlich-theologische  bildung  und 
seine  aufrichtige  innerliche  frömmigkeit  verdankt  er  ebenfalls  der  zeit  seiner  Studien 
in  Strasshurg.  Die  Insomnis  cura  parentum  (1643)  widmet  er  seinem  ehemaligen 
lehrer,  dem  professor  und  Präsidenten  des  Strassburger  kirchenkonvents  dr.  Johannes 
Schmidt.  Er  sagt  selbst  in  der  vorrede  dazu,  das  alles,  was  in  dieser  schrift  'recht 
und  gut'  ist,  den  Vorlesungen  und  predigten  seines  gönners  entnommen  sei.  Nach 
Parisers  Untersuchungen  haben  besonders  Sclimidts  predigtsammlung  'Geistlicher 
schulbrunnen',  aber  auch  Schriften  der  älteren  Strassburger  pädagogen  Jakob  Wimphe- 
ling  und  Paul  Fagius  die  Cura  beeinflusst.  Von  den  gi-eueln  der  kriegswirren  als 
amtmann  schwer  bedroht,  flieht  Moscherosch  mit  seiner  familie  nach  Finstingen  und 
findet  1642  eine  sichere  Zufluchtsstätte  in  dem  stark  befestigten  Strassbm-g,  wo  er 
sich  auch  in  dem  gleichen  jähre  das  bürgerrecht  erwirbt.  Hier  versieht  er  von 
1646—1656  das  amt  eines  fiskals  oder  frevelvogts,  d.  h.  polizeidirektors  (Martin 
a.  a.  0.  s.  5).  In  Strasshurg  bei  Joh.  Phil.  Mülbe  und  später  bei  Josias  Stadel 
erscheinen  neben  der  Insomnis  cura  von  1642  an  bis  1677  die  'echten'  ausgaben 
der  'Gesichte'.  Hier  hat  er  eine  reihe  von  älteren  werken  zur  elsässischen  ge- 
schichte,  so  Wimphelings  Germania  (1648  in  deutscher,  1649  in  lateinischer  fassung), 


ÜBER   HINZE    UND   BEINERT,   MOSCHEROSCII  347 

herausgegeben.  Hier  schliesst  er  1656  seine  literarische  tätigkeit  mit  dem  'Aus- 
geübten Wörterbuch'  Technologie  allemande  et  franraise  ab.  So  muss  man  ihn 
unbedingt  den  Strassburger  Schriftstellern  zurechnen.  In  den  letzten  13  jähren 
seines  lebens,  ferne  von  Strassburg  in  verantwortungsvollen  hohen  Stellungen  bei 
verschiedenen  landesherren  dienend,  hat  er  sich  nur  wenig  literarisch  beschäftigen 
können  und  kein  weiteres  werk  mehr  veröffentlicht. 

Die  französische  Übersetzung  von  Quevedos  '■Los  Suenos\  die  Visions  par 
le  Sieur  de  la  Geneste  (Caen  1633)  benützt  Moscherosch  für  den  ersten  teil  der 
'Wunderlichen  und  warhafftigen  gesiebte  Philanders  von  Sittewald'.  Die  sieben 
gesiebte  entsprechen  den  sieben  träumen  der  vorläge.  Moscherosch  aber  erweitert 
deren  ausführungen  sehr,  schiebt  umfängliche,  sachlich  neue  abschnitte  und  nutz- 
anwenduugen  ein.  Besonders  das  2.,  3.,  4.  und  6.  gesiebt  entfernen  sich  weit  von 
der  vorläge.  In  den  späteren  ausgaben  werden  diese  einschübe  noch  erweitert  und 
vermehrt  (vgl.  Job.  Wirth,  Verhältnis  der  ausgaben  der  gesiebte  zueinander  und 
zur  quelle.  Dissertation.  Erlangen  1887).  Die  sechs  gesiebte  des  zweiten  teils 
(1643)  und  das  1650  hinzukommende  7.  gesiebt  'Reformation'  sind  ganz  unabhängig 
von  Quevedo-Geneste. 

Für  diese  erweiterungen  im  ersten  teil  und  für  die  gesiebte  des  zweiten  teiles 
hat  Moscherosch  eine  reihe  deutscher  dichtungen  und  schrifteu,  deren  Verfasser  er  nur 
zum  teil  nennt,  und  zwar  auch  in  freier  weise,  verwertet.  Hinze  und  Beinert  zeigen 
nun  in  den  genannten  dissertationen  die  art  und  den  umfang  dieser  beeinflussungen. 
Sie  gehen  hierbei  verschiedene  wege,  und  ihre  ergebnisse  ergänzen  sich.  Da  Hinzes 
dissertation  bereits  erschienen  war,  ehe  Beinert  seine  eben  fertiggestellte  studie 
veröffentlichte,  konnte  dieser,  zum  teil  mit  benützung  Hinzes,  aber  mit  eingehen- 
deren Untersuchungen  und  reichereu  ergebuisseu,  zu  einem  gewissen  abschluss  der 
übernommenen  aufgäbe  gelangen. 

Hinze  behandelt  wesentlich  jene  Vorbilder  des  16.  und  des  beginnenden 
17.  Jahrhunderts,  auf  welche  bereits  Gervinus  (Geschichte  der  deutschen  dich- 
tnng^  3,  469)  hingewiesen  hat,  also  Braut,  Murner,  Scheit,  Fischart,  Ringwaldt, 
Spangenberg,  Aventin,  Weckherlin,  und  er  fügt  noch  Geiler  und  Sommer  hinzu, 
auf  die  wieder  Muncker  bereits  aufmerksam  gemacht  hat.  Hinze  geht  so  vor,  dass 
er  jede  quelle  von  Moscherosch  einzeln  in  ihrer  einwirkung  auf  die  gesiebte  be- 
handelt. Besonders  eingehend  legt  er  den  starken  einfluss  von  Ringwaldts  'Lauterer 
Wahrheit'  dar.  Er  vergleicht  die  Übereinstimmungen  im  allgemeinen  und  die  ver- 
schiedenen motive  und  anschauungen  mit  nebeneinanderstellung  der  einander  ähn- 
licheren ausführungen.  Am  Schlüsse  seiner  dissertation  fasst  H.  nochmals  in  kurzem 
die  gesamtergebuisse  seiner  vergleichungen  zusammen.  Er  zeigt  zunächst,  dass 
Moscherosch  in  der  äusseren  form  natürlicherweise  nur  wenig  von  seinen  Vorgängern 
übernimmt,  weil  er  ja  meist  verse  in  prosa  umsetzt  und  durchaus  im  Wortlaut  ab- 
weicht, dass  er  sich  ihnen  aber  in  der  inneren  ausdeutung  der  verschiedenen  vor- 
geführten laster  enger  anschliesst.  Ferner  ergibt  sich;  dass  Moscherosch  seinen 
vorlagen  selten  längere  absätze  entnimmt,  dass  er  oft  kurze  andeutungen  zu  ge- 
schichten,  vergleichen  und  breiteren  ausführungen  erweitert,  den  ausdruck  belebt 
und  steigert,  die  reiheufolge  der  gedanken  und  motive  abändert,  allgemeine  aus- 
sprüche  auf  ein  engeres  gebiet  bezieht,  so  auf  bestinunte  stände,  Soldaten,  Studenten 
oder  auf  die  Franzosen,  dass  er  für  ironisches  lob  eines  lasters  offenen  tadel  oder 
einfache  beschreibung  setzt  und  dass  er  im  ganzen  die  zum  teil  viel  älteren  Vor- 
bilder dem  geiste,  dem  geschmack  und  dem  ausdruck  seiner  zeit  anpasst. 


348  HAUFFEN 

Beiuert  bat  aber  bereits  nacbg-ewieseii,  dass  Hinze  durch  die  benützuug  der 
kürzeren  ausgaben  der  Gesiebte  (1642  und  1643),  sowie  durch  eine  unsicberlieit  in 
der  wähl  der  belege  manche  verseben  begangen  und  namentlich  den  einfluss 
Fiscbarts,  Geilers,  Aventins  und  vor  allem  Brants,  dem  Moscherosch  erst  für 
die  ausgäbe  von  1650,  und  zwar  nach  der  Camerländerischen  bearbeitung  des 
Narrenschiffes  1546,  das  meiste  entnommen  bat,  nur  ungenügend  berücksichtigt. 
Beinert  geht  im  gegensatz  zu  Hinze  die  einzelnen  gesiebte  der  reibe  nach  durch, 
wobei  er  auch  im  ersten  teil  die  abhängigkeit  von  der  französischen  vorläge  betrachtet, 
und  untersucht  eingehend  die  einwirkungeu  der  deutschen  Vorbilder  auf  die  ein- 
scbübe  und  auf  die  selbständigen  gesiebte.  Am  schluss  stellt  er  den  anteil  der 
einzelnen  Vorgänger  knapp  zusammen.  Beinert  berichtigt  und  ergänzt  die  aus- 
fiihrungen  Hinzes  und  vergleicht  darüber  hinaus  eine  reibe  neu  gefundener  quellen 
mit  den  gesiebten,  und  zwar  zwei  geistliche  Schriften :  'Das  hellisch  Sodoma'  (1629) 
und  'Vom  jüngsten  geriebt'  (1638)  von  Job.  Mattbaeus  Meifart,  ferner  das  Tburnier- 
büchlein  (1532)  von  Georg  Rüxner,  die  Hoffartspredigt  (1586)  von  Lukas  Oslander, 
den  Kleiderteufel  (1687)  von  Job.  Strauß  und  neben  nachweisen  von  zitaten  noch 
Martin  Luthers  'Vom  kriegs-  und  soldateustande'  (1527),  das  au  vielen  stellen  des 
Gesiebtes  'Soldatenleben"  seitenlang  verwertet  wird.  Mit  diesem  nacbweis  ist  die 
meinung  Parisers  widerlegt,  der  einen  unmittelbaren  einfluss  Luthers  auf  Mosche- 
rosch verneint. 

Da  Moscherosch  so  viele  deutsche  Satiriker  benutzt,  fällt  es  auf,  dass  er  in 
seinen  gesiebten,  wo  er  so  oft  Veranlassung  gehabt  hätte,  auf  die  satirische  be- 
trachtung  der  Unsitten  aller  stände  bei  Hans  Sachs  einzugehen,  keine  bekanntschaft 
mit  dessen  dichtungeu  aufweist.  Um  so  auffälliger,  als  sein  Zeitgenosse  Grimmeis- 
hausen ein  genauer  kenner  der  dichtungen  von  Haus  Sachs  ist,  motive  und  stoffe 
daraus  verwertet  und  seinen  gewährsmann  oftmals  nennt  (Vgl.  F  e  r  d.  E  i  c  b  1  e  r, 
Das  nachlebep  des  Hans  Sachs,  1904,  s.  93—97). 


Es  erübrigt  mir  noch,  die  beziehungen  zwischen  Fiscbart  und  Moscherosch 
zu  beleuchten. 

Von  vornherein  könnte  man  annehmen,  dass  Fischart,  besonders  mit  seiner 
.  Gescbichtklitterung,  auf  Moscherosch,  und  zwar  besonders  auf  dessen  Gesiebte,  nach- 
drücklich eingewirkt  habe.  Denn  beide  Persönlichkeiten,  sowie  deren  bauptwerke 
sind  in  mehr  als  einer  richtung  wesensverwandt.  Wir  wollen  dies  näher  betrachten, 
um  zu  erfahren,  ob  diese  annähme  berechtigt  ist.  Erich  Schmidt  (a.  a.  o.  76) 
und  M  u  n  c  k  e  r  (a.  a.  o.  366)  drücken  sich  darüber  sehr  vorsichtig  aus :  'Von 
Fischart  hat  er  (Moscherosch)  nur  einzelnes  an  bäufungen  und  wortverrenkungen 
u.  dgl.'  —  'Fischarts  sprachschöpferisches  und  spracbzerstörendes  walten  verführte 
ihn  seltener  zur  nacbabmuug  als  die  anderen  Elsässer  schüler  des  gewaltigen 
meisters.'  Hinze  (71  f.)  bringt  eine  längere  liste  von  Fischart  und  Moscherosch 
gemeinsamen  ausdrücken.  Das  beweist  aber  nichts,  weil  sich  dieser  Wortschatz  bei 
den  meisten  alemannischen  Schriftstellern  jener  Jahrhunderte  vorfindet.  Nur  die 
beiden  gemeinsamen  wortspielenden  etymologien  (Hinze  s.  72),  wie  'Dockthor',  'Ab- 
decker' für  apotheker,  'hexecution',  'maulhenkolisch',  'pfotengramm',  'brachdickanten' 
und  andere  (vgl.  Hauffen,  Fiscbarts  Werke  2,  XVIII  und  'bexzeptieren'  Eulenspiegel 
Keimenweiß  vers  12149)  kann  man  als  beweise  einer  nacbwirkuni;-  ansehen. 

Ich    füge   noch    einige  beispiele   zur  Wortbildung,    zum  stil  und  zum  versbau 


ÜBER   HINZE    UND    BEIXERT,    JIOSCHEROSCH  349 

an,  wo  Moscheroscli  ganz  so  vorgeht  wie  Fischart.  (Ich  zitiere  nach  der  mir  ge- 
hörigen ausgäbe  der  gesiebte  I  1650,  11  1666).  Längere  scherzhafte  oder  willkür- 
liche andeutungen  eines  wertes,  auch  mit  heranziebung  antiker  und  moderner 
sprachen,  sowie  des  hebräischen,  z.  b.  Wortspiele:  buhlen  (I  103),  schuster  und  Schuh- 
macher (11  5213),  Vogesen  (II  769);  'tag  vnd  nacht  in...  fatzerey  zubrachten, 
schwarmfest  vnd  faßnacht  hielten,  .  .  .  dahero  die  faßnacht  als  fassaacht  oder  fatz- 
uacht  ihren  vrsprung  und  namen  bekommen'  (II  3,  vgl.  Geschichtklitterung  7 
8.  71  3);  metze  von  amazoue  (II  271).  Lange  anhäufungen  von  synonymen  Wörtern 
und  Zusammensetzungen:  infinitive  im  genitiv  (11  23),  verba  mit  der  präposition 
durch  (n  20  f.),  participia  auf  -iret  (I  60),  imperfekta  auf  -irte  (I  486),  substantiva 
mit  dem  grundwort  Bärtel  (II  76),  schimpfliche  attribute  für  ein  böses  weib  (II  318. 
vgl.  Geschichtklitterung  s.  110)  ein  umfängliches  Wörterverzeichnis  der  feldsprache 
(II  633-655),  teufelsnamen  mit  erklärungen  (I  658  f.),  namen  von  forsten  des  alter- 
tums  (1 497),  in  einer  parodie  der  Marienlitauei  beschimpfungen  einer  haushofmeisteriu 
(1650  f.),  rufsätze  (I  419  f.),  synonyme  redensarten  (1450  f.);  sprüche  in  reimpaaren 
von  deutschen  und  fremden  stammen,  die  mau  ohne  bestimmte  eigenschaften  'auff 
Erden  nicht  bald  wird  sehn' ;  'Schlesier,  der  nicht  tranck  Waitzenbier  |  Ein  Schweitzer, 
der  nicht  gern  ißt  Milch  usw.'  (II  456  f.),  Unterschriften  von  komischen  namen  und 
berufen  in  reimen:  'Meister  Curtle,  Zäpffelschläckers ;  Meister  Jobstle,  Schaalen- 
leckers'  u.  a.  (II  538  und  ebenso  578  f.).  —  Kreuzfiguren :  'in  meiner  lieblichen 
thorheit  vnd  thorheitlichen  Lieblichkeit,  in  meiner  inbrünstigen  zuneygung  vnd 
zuneiglichen  Inbrünstigkeit'  (193).  —  Maccaronische  verse:  'führst  Mistlinum  auff 
Waglinum  auß'  (I  95),  ein  gedieht  in  hexametern  'Fahrimus  in  SchUttis,  cum  Thal- 
rihtia  atque  Ducatis  usw.  (I  697).  (Beide  erscheinungen  häufig  in  Fischarts  Trunken- 
litanei.) —  Reimprosa:  I  59,  80;  11  14,  u.  a.  auch  bei  laugen  anhäufungen  123,  49; 
n  20  u.  a.  —  Übertragung  antiker  verssprüche  in  selbständiger,  meist  verbreiten- 
der art  und  mit  ganz  frei  gebauten  verschieden  langen  versen  und  verschiedener 
reimstellung,  auch  mit  freiem  Wechsel  von  hebung  uud  Senkung  (I  76.  144.  147. 
183.  187.  189.  192/4.  201  f.  217.  233.  291.  427.  550  usw.),  nach  dem  französischen 
(I  649,  n  41),  italienischen  (II  42)  usw.  Komischer  doppelreim :  'misch  gemäsch' 
I  'wüste  wasch'  (11  1'25). 

Beinert  versucht  auch  stoffliche  abhängigkeit  von  Fischart  bei  den  Gesichten 
nachzuweisen.  Gewiss  haben  einzelne  verse  des  Jesuiterhütleins  die  scherzhafte 
beschreibung  der  hörnerartigen  kopftracht  elsässischer  frauen  beeinflusst  (Beinert 
45  f.),  doch  seinen  ausführungeu  über  das  'Pflaster  wider  das  Podagi-am'  (49—53) 
kann  ich  nicht  beistimmen.  Ich  habe  (Euphorion  7,  699—702)  nachgewiesen,  dass 
dei-  dem  5.  gesiebte  eingefügte  abschnitt  'Bedenken  wider  das  Podagram'  (II  458—506) 
eine  freie,  erweiternde  Verdeutschung  der  Apologia  sea  Podagras  laus  von  Wili- 
bald  Pirckheimer  ist.  Da  Moscherosch  dieses  kleine  kunstwerk,  eine  Verteidigungs- 
rede des  angeklagten  podagra,  in  einen  tröstlichen  ratschlag  für  podagristen  um- 
wandelt, niusste  er  schon  viele  einzelheiten  an  seiner  vorläge  ändern  und  streichen. 
Ausserdem  hat  er  eine  menge  von  zitaten,  beispielen  und  abschweifungen  eingefügt. 
Durch  gegenüberstellungeu  der  drei  in  betracht  kommenden  texte  habe  ich  ferner 
gezeigt,  dass  Moscherosch  nicht  Fischarts  bearbeitung  der  Apologie  benützt  hat. 
Beinert  verweist  auf  meine  Studie,  will  aber  darüber  hinaus  noch  einflüsse  der 
auch  von  Fischart  verwerteten  De  podngrae  laudibus  oratio  von  Joh.  Carnarius 
nnd  des  podagramischen  trostbüchleins  von  Fischart  selbst  auf  das  'Bedcnckcn'  und 
auch    auf  das  5.  gesiebt  feststellen.      Eine  beuinflussung  von  Carnarius  ist  möglich, 


'650  HAUI'l'EX 

(locli  nicht  erweislich,  weil  die  drei  hitcinischen  verssprüche,  die  sicli  bei  Caniarius 
und  Moscherosch  finden,  aucli  in  anderen  neulateinischen  podagra-eukomien  wieder- 
kehren. Dass  aber  Moscherosch  diese  scliriften  gekannt  hat,  ergibt  sich  daraus, 
dass  er  neben  seiner  vorläge  für  das  bedenken,  Diapirckeimerion  (442),  auch  die  in 
der  bekannten  Sammlung  von  Kaspar  Dornavius'  Amphitheatrum  . .  .  Iioc  est  Encomia 
(1611)  erseliieneuen  podagralobschriften  (465),  sowie  Lukians  Trago}iodagra  und 
G.  B.  Pontanus  Triionphus  Podagrae  erwälint,  denen  er  (452)  grössere  zitate  ent- 
nimmt. Von  Carnarius  und  dem  Trostbüchleiu  dagegen  ist  nicht  die  rede.  Bezeichnend 
ist  ferner,  dass  Moscherosch,  der,  dem  allgemeinen  brauch  der  deutschen  schrift- 
steiler des  16.  und  17.  Jahrhunderts  folgend,  antike  verszitate  in  deutsche  reime 
umsetzt,  völlig  von  Fischarts  Verdeutschungen  derselben  sprüche  im  Trostbüchlein 
abweicht. 

Sehen  wir  uns  nun  die  'geringfügigen  reminiszenzen'  an,  die  Beinert  für  die 
anlehnung  Moscheroschs  an  Fischart  heranzieht.  Zunächst  die  beschreibung  des 
podagrischen  (445),  die  'getreu  das  in  Worten  umgesetzte  titelbUd  zum  Trostbüchlein' 
sein  soll.  Das  wenige,  das  in  der  Schilderung  und  dem  bilde  übereinstimmt,  ist 
typisch,  wie  das  'ehrbare  reputierlichc  ansehen',  die  unten  dicken  beine  und  die 
gekrümmten  flnger.  Die  einzelheiteu  aber  sind  alle  verschieden.  Der  podagrische 
im  bilde  geht  nicht  'durch  den  Hof,  sondern  durch  sein  zimmer  —  hinter  ihm 
stehen  sorgeustuhl  und  bett  — ,  drum  braucht  er  sich  auch  nicht  vor  den  'Steinen' 
zu  fürchten.  Seine  Stiefel  sind  nicht  'zerschnitten  und  zerhackt  und  gar  leise  zu- 
geschnüi't',  sondern  ganze,  mit  pelz  gefütterte  röhrenstiefel.  Er  geht  nicht  'au 
einem  stecken',  sondern  gestützt  auf  zwei  krücken.  Er  schreit  nicht,  soiidern  hat 
die  lippen  fest  geschlossen.  Er  hat  nicht  'ein  beltzin  Brustduch  vorm  Magen', 
sondern  einen  pelzkragen  um  die  schultern  und  einen  laugen  mantel  an.  Schliess- 
lich stehen  neben  ihm  nur  auf  dem  bilde  Bacchus  mit  einem  grossen  glas  wein  und 
Venus  mit  kissen. 

Ferner  ist  es  gar  nicht  auffällig,  dass  Fischart  (Werke,  Hauffen  3,  83  f.)  und 
Moscherosch  (476  f.)  an  der  gleichen  stelle  je  einen  reimspruch  einfügen,  weil  sie  ja 
bei  ihrer  bearbeitung  der-  apologie  das  gleiche  an  sehr  vielen  stellen  tun.  Und 
dass  diese  sprüche  einander  im  stoff  verwandt  sind,  erklärt  sich  aus  dem  Zusammen- 
hang mit  dem  vorhergehenden,  und  wenn  beide  nach  dem  zitat  mit  ganz  ähnlichen 
Worten  fortfahren,  so  ist  es  eine  ziemlich  genaue  Übertragung  der  gemeinsamen 
vorläge:  quid  enim  divitihus  Ulis  delieathis?  usw.  "Weiter  zählt  Moscherosch  (505) 
alle  griechischen  beiden  als  opfer  der  gicht  auf,  die  auch  Pirckheimer  an  der 
gleichen  stelle  nennt,  erwähnt  aber  allein  bald  danach  Erasmus  Eoterodamus,  der, 
an  der  gicht  leidend,  seine  trefflichsten  Sachen  geschrieben  habe.  Beinert  (52)  meint 
nun,  dass  umfängliche  ausführuugen  in  Fischarts  Trostbüchlein  (37—39),  wo  nach 
Carnaiius  mehrere  gichtleidende  griechische  beiden  (darunter  auch  andere  als  bei 
Pirckheimer)  genannt  werden,  auch  deshalb  auf  Moscherosch  eingewirkt  haben 
müssten,  weil  vor  diesen  ausführungen  —  nebenbei  bemerkt  in  ganz  anderem  zu- 
sammenhange —  auch  Erasmus  Roterodamus  erwähnt  wird.  Schliesslich  kann  es 
auch  nicht  als  einwirkung  gedeutet  werden,  wenn  Fischart  (78)  und  Moscherosch 
(470)  nach  Pirckheimer  in  aufzählungen  von  ständen,  die  voneinander  im  Wortlaut 
abweichen,  beide  'Bischof  und  Bader'  anwenden.  Denn  diese  stabreimende  Zusammen- 
stellung ist  in  früh  neuhochdeutscher  zeit  allgemein  üblich. 

Finden  sich  uber  nicht  sonst  in  den  gesiebten  nachweisbare  einilüsse  von 
Fischalts  werken  oder  hinweise  darauf? 


ÜBER   HIXZE   UXD   BEIXERT,   MOSCHEROSCH 


351 


In  einem  längeren  abschnitt  über  Eulenspiegel  (I  217  f.)  heisst  es :  'ist  der 
nicht  ein  grosser  narr  und  Eulenspiegel,  der  die  gute  zeit  verschertzet  und  indeß 
meynet,  er  begehe  Doctors  arbeit,  wann  er  glossen  und  Kotas,  Lehr  und  Trost  über 
und  auß  dem  Eulenspiegel  schreibet?  wan  er  den  Enlenspiegel  in  Keyraen  und 
Gesang  stellet?'  Diese  anspielung  kann  meiner  ansieht  nur  auf  Fiscliarts  'Eulen- 
spiegel Eeimenweiß'  gedeutet  werden,  wo  die  vorrede,  prolog  und  epilog  die  glossen 
und  die  moralischen  nutzanwendungeu  am  schluss  der  meisten  kapitel  die,  Notas 
darstellen.  Alle  ziehen  'Lehr  und  Trost'  aus  dem  Volksbuch.  'In  Gesang'  hat 
Fischart  allerdings  den  Eulenspiegel  nicht  'gestellet',  aber  am  beginn  seiner  vorrede 
erwartet  Fischart,  nachdem  das  Volksbuch  schon  'in  mancherley  weiß  außgangen', 
dass  es  auch  'etwan  mit  der  weil  Gesangsweiß'  vorgebracht  werde  (Hauffen  2,  11). 
Auf  die  zwei  lateinischen  versbearbeitungen  von  Job.  Nemius  (1558)  und  Aegid. 
Periander  (1567)  können  Moscheroschs  angaben  nicht  bezogen  werden. 

In  dem  gesicht  '^  la  mode  Kehrauß'  ereifert  sich  der  dichter  gegen  die 
Unsitte,  deutschen  kindern  fremdsprachige  taufnamen  zu  geben.  Beinert  (33)  ver- 
weist auf  Aventins  Chronica,  woher  Moscherosch  die  meisten  altdeutschen  namen 
und  die  etymologie  von  'Adelhoff'  genommen  hat.  Das  ist  richtig.  Doch  zu  den 
allgemeinen  nationalen  erörterungen,  die  wichtiger  sind  als  die  auswahl  der  namen, 
ist  Moscherosch  bestimmt  von  Fischart  angeregt  worden,  dessen  aussprüche  (Ge- 
schiclitklitteruug,  kap.  10)  er  in  anderer  reiheufolge,  auch  zum  teil  mit  anderen 
Worten,  doch  wiederholt  in  genauem  anschluss  wiedergibt. 


Fischart  161-163. 

'Witzel  .  .  .  meynt,  man  soll  die  Kin- 
der all  Latinisch  auf  ein  us  vnd  sus 
nennen  ...  Ja  auff  Welsch.  .  .  . 

Der  gut  Herr  acht  seinen  Griechischen 
Bauernnamen  hoch  vnd  veracht  seinen 
Teutschen  ererbten  Namen. 

Was  darf  man  sich  nach  den  Juden 
nennen,  die  sich  doch  nit  nach  vns 
nennen.  . .  . 

Icli  glaube,  man  meint  vnsere  Vor- 
fahren haben  stäti3  geschlaffen  vnd  nit 
eben  mit  so  grossem  bedacht  gewußt 
jreu  lieben  Kindern  Namen  zugeben,  als 
die  Griechen  vnd  Latiner.  Wir  haben 
jetz  das  frey  Regiment,  was  dörffen  wir 
vns  nach  den  Sclavischen  Römern  nennen, 
die  Herren  nach  den  Knechten? 

.  .  .  solt  ich  bei  Mannlichen  Leuten 
nicht  angenehmer  werden,  wann  ich  ein 
solchen  .  .  .  Namen  bette,  der  von  gethön 
vnnd  hall  den  Leuten  außzusprecheu  ein 
lust  gibt,  als  Eisenbart.  .  .  . 

Welclieii  wolt  es  nicht  gefallen,  wann 
einer  heißt  Gottliebe  .  .  .  wie  können  sie 


Moscherosch  I  69-71. 

•Warumb  dann  so  du  ein  Geborner 
Teutscher  bist,  hastu  nicht  auch  einen 
Teutschen  Namen?  Wass  soll  dir  ein 
Griechischer  vnd  Hebreischer  Name  im 
Teutschland?  .  .  .  warumb  hastu  dann  ein 
Wälschen  Namen? 


Was  habt  ihr  vermeynte  Teutsche 
dan  für  Trew  in  ewren  Hertzen  gegen 
ewrem  Vatterland?  wan  ihr  bedächtet, 
wie  durch  die  Römische  Tyrannen  in- 
sonderheit den  Caesar  vnd  durch  die 
Wälsche  Vntrew  alles  in  Zerrüttung 
kommen,  daß  ihr  gleichwohl  ihre  Namen 
zugebrauchen  noch  gelüsten  lasset? 

.  .  .  haben  dann  die  Teutsche  Namen 
nicht  lust  vnd  zierde  gnug  euch  zu 
nennen?  Ewere  Tugenden  vnd  Thaten 
an  tag  zugeben?  Ist  euch  dan  das 
liebe  Teutsche  so  gar  erleydet?  dass 
Ihr  Erniau  .  .  .  Wolrat  vnd  andere  Liebe 
Schönklingende  Teutsche  Namen  nur 
über  Achsel  ansehet  vnd  verlachet? 


362  IIAUKFEX 

dann  so  gTcll  inii  Oven  vniid  viiangenem  Muß    encli    dann    in    evveren   Bocks- 

seiu?  Oliren  das  Grichische  Philander,  Philip- 

.  ,  .  tluit   es  jhm   so  wol  inu  seinen       pus  .  .  .  vnd  andere  besser  lauten?  .  .  . 

Priscianischeii  ^^'itzoren,    wann  man  die  Oder   seinen  Angebornen  Teutsclien 

Susnamen    so    schön  veraoroelet,  verjör-       Xach-Xamen    mit    wälsche;:    Nälitz  .  .  . 

gelot,  verjoelet  vnnd  verliuudstutzet. . . .  znülierzuckeru.  Einzubeitzen  vnd  Einzu- 
Sollen  diese  gemartete  Wörter  einen       saltzen  .  .  .  Schämet  jhr  euch  dann  ewerer 

angenem   machen,    da    sie    doch    keiner      seihest   vnd  ewrer  redlichen  Vorfahren? 

verstellt.  .  .  .'  Schäme  dich  .  .  .  daß  du  einen  Auß- 

ländischen  Namen,  vnd  den  du  vielleicht 
selbst  weder  verstehest  noch  weissest, 
seist  einem  verständlichen  behauten 
Teutschen  Namen  vorziehen.' 

Auch  in  der  Patientia  (nach  der  haudschrift  herausgegeben  von  Pariser; 
Munckers  Forschungen  zur  neueren  deutsclieu  literaturgeschichte  I  2,  1897)  finden 
sich  ähnliche  ausführuugen  (68—70):  'Warumb  die  Teutsche  nicht  vnserer  eigenen 
spräche  Namen  gebrauchen,  sondern  vil  mehr  von  den  Griechen,  bald  von  Lateinern, 
bald  von  den  Hebräern.  .  .  .'  Danu  folgt  eine  liste  'teutscher'  frauennamen,  wie 
sie  damals  in  Strassburg  noch  üblich  waren.  Hier,  wie  in  der  Insomnis  cum 
(cap.  10)  kündigt  er  ein  'Teutsches  Namenbuch'  an,  das  uie  erschienen  ist. 

Auch  Grimmeishausen  hat  in  seiner  schrift  'Pralerey  vnd  Gepräng  mit  dem 
Teutschen  Michel'  1673  caput  VH  in  den  drei  letzten  abschnitten,  den  brauch 
deutsche  kinder  mit  fremden,  namentlich  hebräischen  nanien  zu  taufen,  gerügt. 
Doch  ist  hier  keine  beeinflussung  von  Fischart  oder  Moscherosch  ersichtlich. 

Beinert  (43  f.)  meint,  dass  Fischarts  Ehezuchtbüchlein  Moscherosch  'zu  dem 
Gedanken  einer  Abhandlung  über  die  Frauen  verholten'  habe.  Das  ist  wahrschein- 
lich. Die  Vorrede  zu  dem  gesiebte  'Weiber-Lob',  welche  bestimmt  die  eigene 
meinung  des  Verfassers  ausspricht,  wendet  sich  scharf  gegen  die  frauenverächter, 
findet,  dass  das  gute  au  ihnen  das  böse  'vmb  viel  mehr  übertreffe',  dass  edle  weiber 
Men  Männern  mit  Gehorsam,  Fleiss,  Zierlichkeit  vnd  Freundlichen  Geberden  bevor 
gehen'  und  schliesst  mit  dem  schönen  aussprach :  'Glückseelig  ist  der  Mann,  welcher 
bekombt,  was  er  liebet!  Aber  ein  Weiser  Mann,  liebet  was  er  bekombt.'  Das  ist 
ganz  im  geiste  Fischarts  gehalten. 

Im  gesiebte  selbst  stehen  sich  zwei  parteien  gegenüber.  Haus  Tluirnmeyer 
(Job.  Turmair-Aventinus)  und  Freymund  verspotten  und  beschimpfen  die  weiber 
mit  Sprichwörtern,  liedern  und  beispielen;  Weibhold  und  Philauder  erwidern  aber 
mit  weiberfreundlichen  aussprüchen  und  beispielen  bewuudern-^werter  treue.  Robertus 
Expertus  fällt  zum  Schlüsse  das  salomonische  urteil,  dass  keine  partei  recht  habe: 
^Dann  es  wären  eben  so  viel  böse  Männer,  als  böse  Weiber,  eben  so  viel  gute 
Weiber,  als  gute  Männer'. 

In  Fischarts  Ehezuchtbüchlein  und  im  ehekapitel  der  Geschichtklitteruug 
stimmt  —  abgesehen  von  der  Verwandtschaft  der  auffassuug  und  des  Stoffes  —  noch 
einzelnes  mit  dem  Weiberlob  überein.  Im  mittelstück  des  Ehezuchtbüchleius  werden 
die  weiber-  und  ehefeindlichen  Sprichwörter  und  aussprüche  klassischer  autoren 
von  Fischart  bekämpft  und  widerlegt  (3,  207  ff.,  267  ff.) ;  im  ehekapitel  beispiele 
von  treuen  gattinueu  (s.  102 ;  107)  und  von  buhlerischen  weibern  (s.  89  f.)  in 
langen  listen  aufgezählt.    Doch   sind  die   Sprüche  und  beispiele  hier  andere  als  bei 


J 


ÜBEK    HINZE   UND    BEINERT,   MOSCHEROSCH  353 

Moscherosch ;  ausserdem  werden  im  Weiberlob  diese  beispiele  zu  breiten  erzäh-  ■ 
hingen  ausgedelmt,  während  sie  Fisch^rt  nur  mit  wenigen  worten  andeutet. 
Ferner  preist  und  empfiehlt  Fischart  in  beiden  Schriften  die  ehe,  was  im  Weiberlob 
nicht  der  fall  ist,  im  gegenteil  wird  hier  gegen  den  schluss  an  einem  streitenden 
und  lästerlich  schimpfenden  ehepaar  ein  abschreckendes  bild  vorgeführt.  Beeinflussung 
Fischarts  im  einzelnen  auf  dieses  gesiebt  kann  nicht  erwiesen  werden.  Eine  an- 
regung  im  ganzen  aber  muss  doch  angenommen  werden. 

In  einem  näheren  Verhältnis  stehen  Fischarts  Trunkeulitanei  und  die  kneip- 
szenen  in  dem  gesiebt  'Hanß  hienüber,  Ganß  herüber'  (II  200,  209,  213-223,  230-233). 
Obwohl  die  ausführung  der  trinkgelage  bei  beiden  Schriftstellern  sehr  verschieden 
ist,  so  ergeben  sich  doch,  ausser  einer  allgemeinen  ähnlichkeit,  auch  Übereinstim- 
mungen in  einzelheiten.  Beide  schildern  Studentenkneipen.  Bei  Fischart  ist  von 
dem  riesenkönig  Grandgousier  und  seinen  zum  Schlachtfest  eingeladenen  genossen 
nicht  mehr  die  rede,  sondern  er  gibt  auf  grund  des  kurzen  ö.  kapitels  von  Rabelais 
ein  umfängliches  lebensvolles  bild  akademischen  trink-  und  singkomments  jener 
zeit,  und  zwar  nicht  auf  einer  wiese,  wie  bei  Eabelais,  sondern  in  einem  Wirtshaus» 
wie  bei  Moscherosch.  In  dem  genannten  gesiebt  finden  wir  folgende  Situation:  ,ein 
alter  verlägener  Academicus',  verbummelter  Student  und  tüchtiger  zechbruder  Lälius 
geht  mit  etlichen  jungen  'Purschen'  in  eine  herberge.  Auf  drei  tischen  wird  das 
mahl  aufgetragen.  Eechts  für  die  schweizerischen,  links  für  die  französischen 
Studenten,  in  der  mitte  für  Philander,  Robertus  und  Thurmeyer.  Lälius  geht  von 
einem  tisch  zum  andern,  trinkt  allen  zu  und  mischt  lateinische  Sätze  in  seine  deut- 
schen reden.  (Ein  gast  in  der  Trunkenlitanei  macht  es  ähnlich  124,  126,  134  f., 
142  f.,  150  f.,  153  f.)  Lälius  schlägt  vor,  'die  Dische  zusammenzustossen  und  in 
eine  Zech  zu  stehen"  (213).  (Vgl.  Trunkeulitanei  'die  Tisch  aneinander  trag'  151),  aber 
die  drei  mäßigen  am  mittleren  tisch  widerraten  es.  Was  bei  Fischart  anschaulich 
dargestellt  wird,  fasst  Philander  in  wenige  zeilen  zusammen:  'In  den  hitzigen, 
rasenden  jungen  .Jahren  haben  die  versoffenen  Purschen  so  viel  Reguln,  so  viel 
Caeremonien,  so  viel  Spiel  vnd  Gesänge,  die  alle  zum  trincken  erdacht  vnd  dahin 
gehen,  wie  man  truncken  werden  möge'  (213).  Dann  werden  trinklieder  gesungen, 
auch  mit  lateinischen  versen  (vgl.  Tl.  135  f.).  In  diesen  liedern  werden  Sprichwörter 
und  redensarteu,  die  den  wein  feiern,  vorgebracht,  z.  b.  'Dann  wer  sich  schewt  ein 
Rausch  zu  hau,  Der  ...  ist  gewiss  kein  Biederman'  (220),  (Tl.  'Wer  sich  nicht  voll- 
sauffen  darff,  hat  entweder  ein  böß  stuck  gethan  oder  wills  begehu'  151).  'Wenn 
sich  zwen  vmb  die  haut  geschlagen,  |  So  ziehen  sie  hin  zu  dem  Wein,  |  Thun  ihre 
sach  allda  vertragen'  (220).  (Tl.  Zwei  rauf  er  vertragen  sich  beim  'Richtwein'  141.) 
Robertus  bringt  aber  ganz  andere  Sprüche  vor:  'Wein  ein,  Witz  aus.'  'Allzeit  voll 
macht  endlich  doli'.  Er  beschwert  sich  über  die  nötigung  zum  zutrinken  und  dass, 
wer  'nicht  mit  hetscht',  als  'Schelm,  Vnflat,  Esel'  beschimpft  wird.  Den  drei 
massigen  wird  'vnder  dem  getöß'  allmählich  schwül  (221—223).  (Tl.  Ein  moralist 
erhebt  auch  ab  und  zu  seine  warnende  stimme:  'Wir  zu  vnscrer  vnschuldigeu  zeit 
Trincken  nur  zu  vil  on  Durst'  124.  Und  den  zu  früh  weggehenden  wird  zuge- 
rufen: 'Hieher  jhr  vnfläter,  es  soll  noch  diesen  ständlingen  gelten'  148).  Mars, 
Venus,  und  Bacchus  werden  in  einem  athem  genannt  (214  und  Tl.  131).  Lälius 
fordert  fürs  zutrinken  'ein  grosses  Glaß  von  drey  schoppen,  welches  er  jhm  biß  oben 
einscheucken  ließe'  (212).  (Tl.  150  f.)  Philaiuler  sieht  sich  nach  dem  ende  das 
bild  der  Verwüstung  an :  'Aber  ich  fände  sie  schlaffend  darinnen.  Einen  mit  der 
Nase   auff   dem   Ermel,    deu    andern    zu   rück    auff  dem  Banck  klebend,  den  Lälius 


354  HAUFFEX 

aber  langen  wegs  anff  dem  boden.  .  .  Schüssel,  Deller,  Messer,  die  Hüte  vnd  Mäntel, 
eines  hie,  das  ander  da  im  Saal,  vor  den  Fenstern,  auif  dem  Boden,  die  Fenster  zer- 
schmissen. . .  (dem  Einen)  die  Augen  waren  erstorben  als  eines  gestochenen  Kalbs;  der 
Bart  vnd  das  Maul  hieng  voller  Brocken,  dass  einem  eckelt,  wan  ers  ansähe;  vast  ein 
Ohme  Wein  floß  vff  dem  boden  vmb  den  Tisch  .  .  .'  (231  f.).  (Tl.  'Er  sinckt  schon 
auff  die  Banck,  ...  im  getümmel  als  zerspalten;  Nun  zuck  den  Banck;  Xun  wirff 
den  Stul;  .  .  .  den  Tisch  vmb;  Gläser  all  zerbrochen  .  .  .  seht,  wie  der  kugelt  dort 
im  Sehleim  und  hat  die  uoten  noch  im  hart',  147  'vnd  die  den  Wein  verschütten 
werden,  lecken  jr  teil  von  der  Erden'  150.  'Seh  wie  Dir  die  Stieraugen  spannen- 
weit vor  dem  Kopif  ligen'  151). 

In  dem  gleichen  gesiebt  findet  sich  eine  grabschrift  auf  einen  franzosen,  der 
'so  lang  (er)  auff  Erden  gelebet  .  .  .  deß  Wassers  gehasset'  und  nur  wein  getrunken 
und  in  wein  gekochte  speisen  gegessen  habe.  Schwer  krank  trinkt  er  ein  volles  glas 
Wasser  aus  und  gibt  danach  den  geist  auf  (238—240),  Das  erinnert  an  Eousards 
grabsclirift  auf  Eabelais,  die  Fischart  verdeutscht  hat  (Gesichtklitteruug  8  f.).  Hier 
heisst  es  von  Rabelais,  'trinckeu  war  sein  leben'  und  'sein  Gurgel  starck  den  Wein 
anzog',  dass  aber  der  tod  ihm  einen  krug  wassers  gereicht  habe.  Die  letzten  drei 
verse  des  sechszeiligen  grabspi-uches  bei  Moscherosch  lauten :  'War  a  gaatar  prassar 
I  Starb  doch  letzt  am  Wassar  [  Ist  io  immar  schadt'.  Dieses  altertümliche  ar  für  er 
konnte  Moscherosch  der  in  einem  grabe  gefundenen  rätselhaften  Weissagung  (Ge- 
schichtklitterung 43  ff.)  entnommen  haben. 

Das  wären  also  einige  einzelbeziehungen  zwischen  diesen  beiden  bedeuten- 
den werken.  Auch  im  grossen  und  ganzen  haben  sie  viel  gemeinsames,  ohne  dass 
daraus  eine  abhäugigkeit  erwiesen  werden  könnte.  Fischart  wie  Moscherosch 
hat  eine  romanische  quelle  frei  bearbeitet  in  niclit  ganz  gleicher,  docli  ähnlicher 
weise.  Beide  fügen  noch  der  vorläge,  neben  umfänglichen  einschüben  in  die  über- 
setzten kapitel,  selbständige  kapitel  hinzu,  so  Fischart  die  erste  von-ede,  das  ehe- 
kapitel  und  die  von  Eabelais  nur  wenig  abhängigen  kap.  3,  4  und  8,  Moscherosch 
die  sieben  gesiebte  des  zweiten  teils.  Beide  verwerten  für  ihre  zusätze  und  selb- 
ständige kapitel  zahlreiche  heimische  quellen  (vgl.  Hauff  en,  Xeue  Fischartstudien 
263—289  und  die  oben  besprochenen  dissertationen).  Beide  erklären  in  der  vorrede, 
dass  sie  durch  scherz  belehren  wollen  und  ihre  werke  sind  im  kern  satiien  mit 
moralisierender  tendenz.  Alle  stände  und  Unsitten  der  zeit  werden  beleuchtet  vom 
Standpunkt  eines  wahrhaften  ethischen  und  nationalen  gefühls  heraus.  Beide  zeigen 
sich  bewandert  in  der  antiken,  der  iieueren  und  auch  der  deutschen  volkstümlichen 
literatur.  Obschon  auf  fremder  grundlage  aufgebaut,  weisen  beide  uns  l)ilder  aus 
dem  deutschen  sittenleben  jenes  Jahrhunderts  vor,  welche,  soweit  sie  auf  selbst- 
geschautem  beruhen,  uns  heute  noch  in  voller  frische  vor  äugen  treten. 

'Aber  im  guten  wie  im  schlimmen  erinnert  Moscherosch  daran,  dass  er  nicht 
nur  aus  demselbeu  südwestlichen  landeswinkel  wie  Fischart  stammt,  sondern  auch 
unmittelbar  durch  die  schule  des  älteren  Satirikers  gegangen  ist'  (M,  Koch, 
Geschichte  der  deutschen  Literatur  II,  Die  neuere  zeit  s.  46),  Die  Schattenseiten 
beider  werke,  wie  der  literatur  beider  Jahrhunderte  überhaupt,  sind  die  ermüdende 
Weitschweifigkeit  und  die  arge  formlosigkeit.  Dieses  Übermaß  von  beispielen, 
dieser  wüst  von  zitaten,  Avelche  von  beiden  meist  ungenau  oder  mit  willkürlichen 
änderungen  wiedergegeben  werden,  diese  zwecklose  anhäiifung  von  sj'uonymen, 
dieses  ewige  abschweifen,  bei  dem  man  immer  wieder  den  zusammeuliang  aus  dem 
.äuge  verliert!     In   alledem  ist  Moscherosch   noch  viel  massvoller,  doch  schreibt  er 


ÜBER   HINZE    UND    BEINERT,    MOSCHEROSCH  355 

oft  sehr  trocken  und  eutbehrt  des  ülierschäuineudcn  humors  seines  vorg-ängers. 
Beide  werke  zeigen  im  ganzen  etwas  ungieichmässiges,  eine  unausgeglicliene 
mischung  volkstümlicher  und  gelehrter  elemente,  keine  spur  von  einer  kunstvollen 
einheit  und  abrundung. 

Noch  einige  werte  über  die  Insomnis  cura  parentum  (abdruck  der  1.  ausgäbe 
1643  von  L.  Pariser;  Braunes  neudrucke  108/9),  soweit  Fischart  hiebei  etwa  in 
betracht  kommt.  In  seiner  dissertation  (a.  a.  o.  39)  meint  Pariser,  Moscherosch  sei 
Fiscliarts  'Anmanung  zu  christlicher  kinderzucht'  bekannt  gewesen,  weil  deren 
pädagogische  anweisungen  im  wesentlichen  in  diesem  'Vermächnuss'  wiederkehren. 
Nur  in  den  kapiteln  20—24  könnten  diese  beziehungen  gefunden  werden,  wo 
Moscherosch  seine  söhne  und  töchter  belehrt,  wie  sie  dereinst  ihre  kinder  erziehen 
sollen.  Die  Übereinstimmung  zwischen  beiden  lehren  liegt  aber  nur  darin,  dass 
hier  wie  dort  die  eitern  ermalmt  werden,  die  kinder  vernünftig,  ernst,  liebevoll 
und  im  christlichen  geiste  zu  erziehen,  sie  vor  bösen  beispielen,  vor  der  ärgernis 
der  weit  zu  warnen.  Beide  schliessen  mit  der  bitte :  Gott,  der  die  kinder  liebt, 
möge  ihnen  den  weg  zum  himmel  weisen.  Die  durchführung  aber  ist  ganz  ver- 
schieden; wörtliche  anklänge  fehlen  durchaus.  Man  könnte  also  höchstens  eine 
anregung  annehmen. 

Meusebach  (Fischartstudien,  hg.  von  Wendeler  s.  319)  hat  sich  folgende 
stelle  aus  der  Insomnis  cura  notiert  (neudruck  s.  79  f.) :  'Kauffet  das  schöne  buch 
der  Biblischen  Figuren,  vndenzu  mit  Teutschen  artigen  Eeymen  außgelegt'. 
Es  ist  aber  sicher,  dass  damit  nicht  die  ausgäbe  von  Tobias  Stimmer  mit  Fischarts 
Eeimen  gemeint  ist,  wie  Meusebach  vermutet.  Weder  in  bild  noch  wort  finden  wir 
hier  die  in  Moscheroschs  kurzer  andeutuug  des  Inhalts  erwähnte  hcirat  des  Tobias, 
den  reichen  mann  und  den  armen  Lazarus,  Diua,  die  Jungfrau  Maria.  Ferner  hat 
die  genannte  ausgäbe  den  titel:  'Neue  künstliche  figuren  Biblischer  historien', 
während  drei  andere  Sammlungen  von  bildern  und  reimen  in  dieser  zeit  'Biblische 
figuren'  betitelt  sind  (vgl.  Neue  Fischartstudien  s.  180  f.). 

Neben  den  vielen  gemeinsamen  eigenschaften  ihrer  Schriften,  besonders  der 
grossen  romane,  haben  auch  die  persönlichkeiten  Fischarts  und  Moscheroschs  mehrere 
gemeinsame  züge.  Beide  sind  gelehrte  Juristen  und  polyhistoren,  doch  trotz  ihrer 
gründlichen  und  vielseitigen  gelehrsamkeit  wenden  sie  sich  mit  warmem  anteil  den 
breiten  schichten  und  der  Volksdichtung  zu.  Beide  preisen  die  ehe  und  leliren  eine 
vernünftige  erziehung  der  kinder.  Beide  sind  erfüllt  von  innerer  evangelischer 
frömmigkeit  und  dichter  geistlicher  lieder.  Freilich  blieb  Moscherosch  sein  leben 
lang  ausgesprochener  Lutheraner,  ohne  den  Calvinismus  zu  unterschätzen  {Insomnis 
cura  s.  119  f.),  während  Fischart  in  späteren  jähren  sich  immermehr  dem  Galvinis- 
mus  zuneigt.  Wenn  dieser  zum  unterschied  von  Moscherosch  mehrere  konfessionell- 
polemische dichtungen  verfasst  und  calvinistische  Streitschriften  bearbeitet  hat,  so 
lag  das  an  dem  geiste  der  kampferfüllten  gegenreformatiou.  Beide  lieben  aufs 
innigste  ihre  engere  heimat  Strassburg  (vgl.  Neue  Fischartstudien  s.  176  f.  Ge- 
siclite  II  18.  817.  818,  wo  ein  loblied  auf  Strassbui'g  von  Joh.  Freinsheim  wieder- 
gegeben und  als  'herrlicher  gesaug'  gepriesen  wird  Insomnis  cura  1'23),  sowie  das 
deutsche  volk  und  die  deutsche  spräche  (vgl.  die  obigen  ausführungen  über  deutsche 
namen ;  vorrede  zum  Ehezuchtbüchlein  s.  122 ;  Geschichtklitterung  53  u.  a. ;  Ge- 
sichte 13.  212.  498  f.;  II  35.  60.  92-103.  126.  191-199). 

Moscherosch  nennt  nirgends  Fischarts  namen  oder  eines  seiner  Pseudonyme, 
er  erwähnt,  abgesehen  vom  Eulenspiegel,  keine  seiner  Schriften,  und  doch  muss  er, 


356         Simon  üreij  kiedek,  dkk  sogenannte  st.  geokgenek  predicek 

Avie  oben  gezeigt  wurde,  einige  seiner  scliriften,  besonders  sein  hauptwerk  gekannt 
haben.  Jedesfalls  hat  er  sich  aber  mit  Fischarts  Schriften  nur  flüchtig  beschäftigt, 
sonst  hätte  bei  der  Verwandtschaft  ihrer  naturen  und  ihres  schriftstellerischen 
Wirkens  der  einfluss  deutlicher  zutage  treten  müssen. 

l'K^Ul.  ADOLF   HAUFFEN. 


Der  sogenannte  St.  Georg ener  j) rediger  aus  der  Freiburger  und  der 
Karlsruher  handschrift  herausgegeben  von  Karl  Riedev.  Mit  2  tafeln  in  licht- 
druck  [=  Deutsche  texte  des  mittelalters,  herausgegeben  von  der  Kgl.  preuss. 
akademie  der  Wissenschaften.  Bd.  10].  Berlin,  Weidmann  1908.  XXIV,  382  s. 
15  m. 

Der  St.  Georgener  prediger,  der  bisher  nur  auszugsweise  bekannt  war,  er- 
fährt in  der  vorliegenden  publikatiou  einen  vollständigen  abdruck  nach  der  Frei- 
burger hs.  nr.  464,  der  einzigen  hs.,  in  der  uns  die  predigten  (es  sind  deren  im 
ganzen  86)  vollständig  überliefert  sind.  Für  die  ur,  36—71  ist  auch  die  Karlsruher 
hs.  St.  Georg  36,  die  älteste  uns  bekannte  hs.,  herangezogen  worden.  Da  sie  mit 
nr.  71  abbricht,  trat  an  ihre  stelle  die  Züricher  hs.  c.  76/290,  auf  die  ebenso  wie 
auf  die  Wiener  hs.  2702  auch  schon  vorher  gelegentlich  zurückgegriffen  wurde.  Die 
lesarten  der  Strassburger  hs.  810  b,  auf  die  Eieder  erst  beim  abschluss  des  druckes 
aufmerksam  wiu'de,  werden  im  anhang  mitgeteilt. 

S.  XI  ff.  stellt  Rieder  das  handschriftliche  material  zusammen.  Zu  der  Strass- 
burger hs.  vgl.  jetzt  Pahncke,  Kleine  beitrage  zur  Eckhartphilologie,  s.  5  ff.  (beilage 
zum  34.  Jahresbericht  des  gymnasiums  zu  Neuhaldenslebeu,  1909).  Die  predigt- 
sammlung,  die  in  erster  linie  die  Verhältnisse  klösterlichen  lebens  berücksichtigt, 
trägt  einen  durchaus  einheitlichen  Charakter  und  geht  zweifellos  auf  einen  Ver- 
fasser zurück,  der  vor  1300  gepredigt  hat.  Der  Verfasser  ist,  wie  Eieder  s.  XXI  f. 
und  in  den  anmerkuugen  zum  text  überzeugend  nachweist,  kein  geringerer  als 
Berthold  von  Eegensburg.  Die  gründe,  die  für  Berthold  sprechen,  mögen  in  ihren 
hauptpunkten  hier  kurz  wiedergegeben  werden.  Die  ersten  vier  predigten  —  schon 
Wackeruagel  hatte  nr.  1—3  mit  Berthold  iu  Verbindung  gebracht  —  gehen  sicher 
auf  ihn  zurück,  das  beweist  ihre  Übereinstimmung  mit  den  deutschen  und  den  latei- 
nischen predigten,  die  wir  auf  Berthold  zurückführen  können.  Ebenso  deckt  sich 
predigt  24  mit  einem  stück,  das  kürzlich  Schönbach  mit  recht  als  Bertholdisclies 
gut  in  ansprach  genommen  hat.  Nr.  75  ferner  findet  zwar  nicht  dem  Wortlaut,  wohl 
aber  dem  inhalte  nach  in  den  'Sermones  ad  religiöses'  seine  entsprechung.  Auf 
Berthold  weisen  endlich  die  kurzen  skizzen,  die  sich  in  der  grossen  Heidelberger 
Bertholdhandschrift  Cod.  pal.  germ.  24  finden,  in  der  vorliegenden  predigtsaramlung 
dagegen  ausführlicher  wiederkehren. 

GOtTINGEN.  OTTO    SIMON. 


EHRISMANN   ÜBER   BRILL,   DIE    SCHULE   NEIDHARTS  b57 

Richard    Brill,    Die    Schule  Neidharts.      Eine    Stiluntersuchung.     Palaestra 
XXXYII.     Berlin,  Mayer  &  Müller  1908.     VIII,  251  s.  8».  7,50  ni. 

In  klarer  Übersicht  gibt  der  Verfasser  eine  geschichte  der  Neidhartnach- 
dichtuugen,  die  sich  über  die  drei  letzten  Jahrhunderte  des  mittelalters  erstreckt. 
Der  Überlieferung  entsprechend  gliedert  sie  sich  in  drei  stufen:  die  pergament- 
iiundschriften  enthalten  die  frühesten  änderungen,  zusätze  und  unechten  töne,  die 
zumeist  noch  ins  13.  Jahrhundert  fallen ;  in  den  papierhandschriften  ist  die  reich 
ausgedehnte  Neidhartlitei-atur  von  ca.  1350—1450  niedergelegt;  eine  Sammlung  vor- 
hergehender leistungen  bildet  der  dnick  'Neithart  Fuchs'  vom  letzten  drittel  des 
15.  Jahrhunderts.  Der  literarischen  und  kulturgeschichtlichen  seite  des  themas  ist 
der  Verfasser  in  gleicher  weise  gerecht  geworden.  Wir  verfolgen  das  fortschreitende 
sinken  der  bildung  in  der  vergi'öberung  der  einzelnen  ausdrücke  und  des  gesamten 
Stils,  in  der  auffassung  vou  dem  beruf  des  dichters  und  dem  zweck  der  kunst. 

Über  die  trutzstropheu  der  bauern  handelt  der  Verfasser  s.  38—44  und 
schliesst  sich  mit  recht  den  grundlegenden  ausführungen  R.  M.  Meyers  an  (Eeihen- 
folge  der  lieder  Neidharts  von  Reuenthal  s.  136  ff.),  wonach  Neidharts  ausfälle  gegen 
die  bauern  literarische  Weiterbildungen  der  volkstümlichen,  unter  umständen  zum 
tanze  gesungene  spottliedchen  sind ;  Kögel  hat  dann  in  seiner  Literaturgeschichte 
an  verschiedenen  stellen  das  thema  vou  den  spottliedern,  ebenfalls  wie  R.  M.  Meyer, 
im  althochdeutschen  und  altnordischen  verfolgt.  Im  gründe  gehen  die  spottstrophen 
aus  einem  verhängnisvollen  charakterzug  der  Germanen  hervor,  der  kampflust.  Das 
starke  individualitätsgefühl,  der  stolz,  mann  gegen  mann  sich  zu  bewähren,  trieb 
sie  nicht  nur  zu  krafttaten  im  kriege,  sondern  auch  dazu,  proben  der  redegewandtheit 
im  Wortgefecht  an  den  tag  zu  legen.  So  gehörte  das  streiten  überhaupt  zur  ge- 
•  selligen  Unterhaltung;  wechselgespräch  war  die  würze  im  männerverkehr  bei  gast- 
luahl  und  trinkgelage,  und  leicht  entwickelte  sich  daraus  eine  gereizte  Stimmung, 
die  zum  kämpf  auf  leben  und  tod  führen  konnte.  Die  beispiele  für  solche  Streit- 
gespräche sind  zahlreich.  Ich  verweise  hier  nur  auf  die  begebenheit  zwischen 
Alboin  und  dem  Gepidenkünig  Turisind,  die  Paulus  Diaconus  erzählt  (Hist.  Langob. 
I,  24)  und  auf  die  höhnuug  Beowulfs  durch  Hunferd  (vgl.  zu  dieser  Jantzen,  Gesch. 
d.  deutschen  Streitgedichts  s.  29),  Beow.  499  ff.  {onband  headurüne  501).  Zu 
der  gattung  der  streitreden  gehören  auch  die  herausforderungen  zum  Zweikampf. 
Der  Inhalt  ist  oft  so  angeordnet,  dass  er  in  einer  spitze  gipfelt,  das  ist  das  Schlag- 
wort (vgl.  Beitr.  32,  287  ff.).  Dieses  ist  z.  b.  auch  der  fall  in  dem  gespräch  bei 
Paulus  Diaconus:  auf  die  reizung  des  sohnes  Turisinds  fetilae  sunt  equne  quas 
similatis  antwortet  der  Langobarde  experiri  quam  valide  istce  quas  equas  nominas 
prwvalant.  Und  so  ist  es  auch  oft  in  den  trutzstropheu  der  bauern  gegen  Neidhart: 
hi  shiem  reiden  häre  44,  23  =  trutzstrophe  149,  9,  iveihelruote  50,  3  =  tr.  158,  21, 
sine  stelzen  da  hestrlchen  62,  11  =  tr.  180,  8  f.  das  er  heMricTien  wil  mir  die  stelzen, 
<ui  den  fudenol  65,  12  =  tr.  184,  3  üf  den  vudenol,  ein  würze  74,  17  =  tr.  198,  G, 
hid)e  und  rngelin  86,  7.  8  =  ti*".  217,  1.  2.  9,  hwrin  vingerlta  96,  35.  38  =  tr.  231,  7. 
So  ist  auch  Reinniars  ausdruck  daz  ist  in  mat  159,  9  aufgenommen  durch  Walther 
deist  mates  buoz  111,  31,  und  desgleichen  Reinmars  ein  küssen  mac  versteln  159,  38 
und  da  heb  i'z  üf  160,  4  von  Walther  mit  steine  —  küssen  .  .  .  geicinnen  111,  35  f. 
und  habe  imz  da  111,  39  (Wilmanns,  Walther  s.  375-378) ;  vgl.  auch  Gotfrids  des 
liastn  geselle  4636  gegen  Wolframs  bild  vom  verscheuchten  hasen  Parz.  19  f. 

HEIDELBERG.  (1.  EIIRISMANN. 

ZEITSCIIKIFT   F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  24 


358  iciiiMsxAxx 

Eiail  Dickhoir,  Das  zweigliedrige  wurt  -  asyudctou  iu  der  älteren 
deutschen  spräche.  Palaestra  XLV,  Berlin,  Mayer  &  Müller  1906.  244  s. 
8».  7  m. 
Der  Verfasser  hat  mit  seiner  reichhaltigen  und  wohl  durchdachten  arheit 
ehre  eingelegt.  Das  thema,  dessen  grundzüge  Roethe  zuerst  aufgestellt  und  für 
ein  bestimmtes  gebiet  abschliessend  behandelt  hat  (Reinmar  s.  317—323),  ist  von 
ihm  auf  den  ganzen  geschichtlichen  verlauf  vom  althochdeutschen  bis  aufs  neu- 
hochdeutsche ausgedehnt  worden.  Es  ist  demnach  in  folgende  kapitel  geteilt: 
I.  Die  althochdeutsche  zeit  s.  9—54,  II.  Die  Übergangszeit  s.  55—80,  HI.  Die 
mittelhochdeutsche  blütezeit  s.  81—137,  IV.  Das  aufiösungszeitalter  s.  139  bis 
167,  V.  Die  frühueuhochdeutsche  zeit  s.  169—216,  VI.  Ausblick  in  das  neu- 
hochdeutsche s.  217—239.  Innerhalb  der  einzelnen  Zeiträume  gliedern  sich  die 
erscheinungen  nach  den  Wortarten:  A  das  substantivische  asyndeton,  B  das  ad- 
jektivische asyndeton,  C  das  adverbiale  asyndeton,  D  das  verbale  asyndeton,  wozu 
im  mittelhochdeutschen  noch  das  partizipiale,  im  frühneuhochdeutschen  das  numeral- 
asyndetou  hinzutritt.  Man  verfolgt  in  der  literarischen  Überlieferung  das  schritt- 
weise zunehmen  des  substantivischen  asyndetons  vom  althochdeutschen  bis  zum 
17.  Jahrhundert,  wo  der  rückschlag  eintritt,  das  aufkommen  und  schnelle  ausbreiten 
des  adjektivischen  im  mittelhochdeutschen,  den  raschen  abfall  des  im  althochdeutschen 
sehr  geläufigen  verbalen  wort-asyndetons  zugunsten  des  verbalen  satz-asyndetous. 
Dickhoff  ist  über  eine  bloss  historische  auffassung  hinausgegangen  und  sucht 
überall  die  erscheinungen  in  ihrer  psychologischen  entstehung  zu  erfassen.  Die 
inneren  veranlassungen  zur  bildung  der  asyndetischen  form  können,  so  möchte  ich 
auf  grund  seiner  Untersuchungen  zusammenfassen,  in  der  hauptsache  von  zweierlei 
art  sein:  das  begründende  moment  kann  in  der  logischen  auffassung  des  Verhält- 
nisses der  beiden  asyndetisch  komponierten  begriffe  liegen  oder  in  der  absieht,  einen 
stärkeren  affekt  zum  ausdruck  zu  bringen.  Wesentlich  die  erste  art  ist  in  diesem 
Buche  vertreten,  die  zweite,  unter  welche  die  auf  rhetorische  Wirkung  abzielenden 
zweigliedrigen  asyndeta  fallen,  wird  gegebenenfalls  berührt.  Das  logische  Ver- 
hältnis zwischen  den  beiden  begriffen  ist  nach  Dickhoff  die  'koraponierung  dua- 
listischer begriffe  im  sinne  einer  höheren  einheit'. 

Den  inneren  bewegungen,  die  den  grund  zu  dieser  sprachliclien  erscheinung 
des  zweigliedrigen  wort-asyndetons  bilden,  ist  der  Verfasser  mit  verständnisvollem 
eiuempfinden  nachgegangen.  Aber  da  bei  manchen  dieser  fragen  das  exakte  be- 
obachtungsmaterial  nicht  ausreicht  und  darum  dem  Sprachgefühl  eine  wichtige  rolle 
in  ihrer  entscheidung  zusteht,  so  ist  leicht  gelegenheit  für  andere  auffassung 
gegeben. 

Als  grundgedanken  für  die  erklärung  des  zweigliedrigen  wort-asyndetons  stellt 
also  der  Verfasser  die  Zusammenfassung  der  beiden  begriffe  unter  eine  höhere  ein- 
heit auf.  Aber  streng  ist  diese  definition  nicht  durchzuführen.  Für  die  althoch- 
deutschen asyndetischen  paare  von  personennamen  wie  üacce  Gundüa  cum 
filiis  suis  (s.  18,  hier  vermisst  man  einen  hinweis  auf  J.  Grimm,  Kl.  sehr.  7,  78) 
bemerkt  D.  mit  recht,  dass  trotzdem  ein  zusaramenschluss  in  der  Verwandtschaft 
bezeichnet  werde,  doch  der  individuelle  Charakter  der  komponenten  betont  bleibe 
(s.  96).  Ich  möchte  weiter  gehen.  Das  moment  der  Zusammengehörigkeit,  der 
innern  einheit  scheint  mir  hier  überhaupt  nicht  durch  die  asyndetische  form  aus- 
gedrückt sein   zu   sollen,   sondern  umgekehrt:   die   beiden   persouen   sind  lediglich 


ÜBER   DICKHOFF,   DAS   ZWEIGLIEDRIGE   WORT-ASYNDETOX  359 

individualisiert;  sie  stehen  nebeneinander  als  g-leichberechtigte  glieder,  und  zwar 
bei  einem  rechtsgeschäft.  Denn  der  mann  konnte  in  fränkischer  zeit  über  den 
grundbesitz  nur  unter  mitwirkung  der  frau  verfügen ;  das  rechtsgeschäft  wird  nicht 
aufgefasst  als  die  handhing  zweier  in  einer  höhereu  einheit,  das  wäre  hier  der 
familie,  verbundenen  personeu,  sondern  jede  war  Vertreter  ihres  eigenen  Vermögens- 
anteils und  vollbrachte  vor  gericht  einen  eigenen  rechtsakt.  Auch  der  singular 
■des  prädikats  wie  dedit  .  .  .  Wolflmrt  et  Ansbolt  mansmn  unum  (s.  21)  ist 
für  die  einheit  nicht  beweiskräftig,  weil  bei  zwei  Substantiven  noch  im  raittelhoch- 
dentschen  der  singular  stehen  kann,  ohne  dass  damit  ein  besonders  enger  zusammen- 
schluss  bezeichnet  werden  soll  (vgl.  Schachinger,  Die  kongruenz  in  der  mhd.  spräche, 
s.  88).  So  steht  auch  der  singular  sageta  vor  den  Unterschriften  der  zeugen  in 
der  zweiten  Würzburger  markbeschreibung  MSD.  LXIV,  wo  doch  die  aussage  eines 
jeden  einzelnen  gemeint  ist.  Vorher  heisst  es  so  sagant  .  .  .  unte  quedent, 
mit  dem  plural,  wo  alle  wissenden  leute  zusammengefasst  waren;  am  Schlüsse  der 
besprechung  bei  der  zeugenaufnahme  sagt  es  jeder  einzelne  und  beglaubigt  es  ein- 
zeln durch  seine  Unterschrift.  Ebenso  steht  der  singular  in  dem  zweiten  Merse- 
burger Zauberspruch,  auf  den  D.  s.  19  verweist.  Auch  hier  bedeutet  der  singular 
und  damit  das  asyndeton  (anders  Kauffmann,  Beitr.  15,  207—210)  den  jedesmal 
•einzelnen  akt:  jede  der  walküren  der  reihe  nach  raunt  die  Zauberformel.  So  also 
ist  auch  die  mittelhochdeutsche  Inkongruenz  ursprünglich  aufzufassen,  z.  b.  Nib. 
386,  1  Mit  im  kom  dö  Dancwart  und  ouch  Hagene,  ursprünglich  so  viel  wie 
Dankwart  kam  und  Hagen  kam,  Nib.  489,  4  Günther  und  Hagne  dar  umbe  lachen 
began  Günther  lachte  und  Hagen  lachte.  Und  nicht  anders  wird  auch  nomine 
Siklfrit  Uotni  s.  19  aufzufassen  sein. 

Sehr  beachtenswert  ist  das  ergebnis,  dass  das  substantivische  asyndeton  in 
der  streng  höfischen  Epik  —  Hartmann,  Gotfrid,  Konrad  v.  Würzburg  —  gemieden 
wird  (s.  87),  dass  es  also  einen  volkstümlichen  anstrich  hat.  Die  fälle  bei  Wolfram 
<s.  97  f.)  verdienten  eine  einzelbehandlung.  Zunächst  gehören  einige  fälle  streng- 
genommen nicht  unter  das  zweigliedrige  asyndeton,  da  sie  in  längeren  aufzählungen 
stehen  wie  Parz.  12,  16.  206,  3.  267,  10.  278,  10.  668,  5,  Willeh.  185,  1.  Bei  an- 
dern ist  die  höhere  einheit,  unter  der  sie  stehen,  noch  beigefügt;  damit  ist  aber 
syntaktisch  schon  eine  dreigliederung  gegeben,  die  gedankenreihe  ist  schon  weiter 
.ausgefülirt,  z.  b.  juncfrouwen,  kamercere,  swaz  der  da  bt  ir  wcere,  die  lie  si  nläfen 
über  al  Parz.  192,  21  f.,  riter,  sarjande,  diu  gröze  mahinande  Parz.  646,  29  f. ; 
ferner  Parz.  816,  18,  Willeh.  116,  24  f.  186,  16  f.  225,  29  f.  Auch  unter  andern  ge- 
sichtspuukten  lassen  sich  gruppeu  bilden:  Parz. '646,  29.  662,  10.  663,  11.  667.  30 
gehören  insofern  enger  zusammen,  als  sie  alle  in  das  XIII.  buch  fallen;  begrifflich 
stehen  sich  nahe  die  rtter  sarjande  Farz.  646,  29,  Willeh.  116,  25.  186,  16.  226,  30, 
sarjnnde,  rittr  Parz.  816,  18,  sarjande,  garzüne  Parz.  668,  5,  turkopel,  sarjande 
Willeh.  185,  1 ;  vil  banier,  niwe  schilte  Parz.  222,  20,  herherge,  bnniere  Parz.  662,  10, 
manc  banier,  wol  gemdltiu  sper  Willeh.  330,  17.  Auf  diese  stellen  passt  die  deu- 
tung,  die  D.  dem  asyndeton  gibt,  gewiss:  sie  stehen  unter  einer  höheren  einheit, 
dienen  nur,  um  ein  ganzes  sinnfälliger  und  lebendiger  hervorzuheben ;  hier  'erscheint 
ein  kollektivum  begrifflich  gespalten'  (S.  96).  Sic  fallen  unter  die  technische  be- 
nennung,  welche  lateinische  Stilistik  für  das  asyndeton  hat:  dissohäio,  dissolutum. 
Aber  anders  emfundeu  sind  wieder  die  aneinaiiderreihungen  rnbbine,  calcidone  tvärn 
da  ze  sivachem  löne  Parz.  735,  21,  sahnen,  lampriden  hat  er  doch  liltzel  veile  Parz. 
491,  16,  samit,  härminer  vedern  man  da  vil  lützel  an  im  sikt  Parz.  144,  28.     Hier 

24* 


360  KiiinsMAXX 

■wird  erzählt,  dass  etwas  nicht  da  war,  dessen  dasein  man  hätte  voraussetzen  können. 
Das  ist  ironie.  Damit  liegt  aber  auf  diesen  begriffen,  die  schon  an  sich  einen 
starken  interessewert  haben,  noch  ein  besonderer  nachdruck,  durch  die  unvermittelte 
nebeneinanderstellung  wird  jedes  wort  für  sich  stärker  gehoben.  Beim  Vortrag 
sind  diese,  und  wohl  alle  asyndeta  Wolframs,  in  akzentuierung  und  tonfall  in  einer 
entsprechenden  weise  deklamiert  worden,  die  sie  etwa  von  den  mit  und  gebildeten 
formein  lanterschied.  Es  konnte  zwischen  beiden  gliedern  ein  kleiner  zeitraum 
beim  Vortrag  freigelassen  und  das  zweite  wort  mit  einem  stärkeren  ansatz  neu 
intoniert  worden  sein,  stärker  als  in  der  mehr  gleichmässig  weitergleitenden  Sprech- 
weise der  mit  copula  versehenen  zwillingsformeln.  Betrachtet  man  so  die  asyndeta 
Wolframs  im  einzelnen,  so  bekommt  man  den  eindruck,  dass  er  sie  nicht  aufs 
geratewohl  anbrachte,  sondern  als  bestimmte  ausdrucksformen  erkannte.  Man 
könnte  sagen,  er  hat  sie  mit  dem  ohr  gebildet.  Der  unterschied  zwischen  künst- 
lerischer und  rein  mechanischer  Verwendung  dieses  sprachlichen  gebrauches  wird 
deutlich,  wenn  man  mit  Wolframs  stellen  andere  von  D.  zitierte  vergleicht,  wie 
z.  b.  die  in  Eeinbots  H.  Georg. 

Wiederum  andern  ui'sprungs  sind  asyndeta  wie  anger,  heide  (J.  v.  Warte,  3ISH. 
I,  67  a),  hluomen,  loup,  diu  leide  Neifen  7,  18.  Hier  schwebt  ebenfalls  nicht  die 
Vorstellung  von  einer  höheren  einheit  vor,  sondern  es  sind  wohl  blosse  aufzählungen, 
abgekürzte  reihen,  eingeschränkt  aus  mehrgliedrigen  aufzählungen,  wie  sie  im 
minnesang  so  häufig  sind,  z.  b.  umlt  heid  anger  vogel  singen  Xeifen  8,  23,  loup  gras 
hluomen  vogellin  heide  Neifen  9,  29.  —  Bei  der  nichtsetzung  des  bindeworts  kann 
auch  manchmal  der  rhythmus  von  einfluss  gewesen  sein. 

Den  grössteu  anteil  an  der  ausbildung  des  asyndetons,  besonders  im  späteren 
mittelhochdeutschen  seit  der  zweiten  hälfte  des  13.  Jahrhunderts,  hat  die  didaktische 
poesie,  hauptsächlich  die  spi-uchdichtung.  Das  mehrgliedrige  asyndetou  ist  so  recht 
eine  eigenheit  des  lehrhaften  stils  (vgl.  Eoethe,  Reinmar  s.  317  ff.).  Und  das  liegt 
in  der  natur  dieser  dichtungsgattung.  Sie  hat  es  mit  begriffen  zu  tun  und  mit  der 
anordnung  derselben  in  kategorien,  mit  fugenden,  die  scharenweise  empfohlen, 
und  noch  mehr  mit  lästern,  die  ebenso  scharenweise  gebrandmarkt  werden.  Die 
ältesten  asyndetischen  reihen  liefern  die  beichtformulare.  Die  Wirkung  wird  nicht 
erzielt  durch  eindringende  auseinandersetzung  der  einzelnen  begriffe,  sondern  durch 
häufung  derselben.  Die  masse  muss  es  machen.  Das  gibt  die  registerhafte  auf- 
zählung.  Mit  der  wachsenden  bedeutung  der  didaktischen  dichtung  ist  auch  das 
asyndeton  zu  einer  geläufigen  stilistischen  form  geworden,  und  war  man  daran  ge- 
wöhnt bei  der  Zusammenstellung  mehrerer  Wörter,  so  empfand  man  es  auch  bei 
nur  zweien  nicht  mehr  als  aussergewöhnlich. 

Die  entwicklung  des  zweigliedrigen  asyndetons  scheint  mir  —  und  hier  weiche 
ich  von  dem  Verfasser  wiederum  etwas  ab  —  folgende  zu  sein :  Ahd.,  auch  in  der 
Umgangssprache,  stärker  im  gebrauch,  wird  es  im  mittelhochdeutschen  in  der  höfischen 
literatur  zurückgedrängt  (die  französische  zweigliedrigkeit  mit  et  wird  geradezu 
mode,  z.  b.  bei  Gotfrid  und  Konrad);  es  lebt  in  der  gesprochenen  spräche  weiter, 
da  es  der  naturgemässe  ausdruck  für  gewisse  lebhaftere  denkmomente  ist,  und  wird 
darum  von  denjenigen  Schriftstellern,  die  die  Volkssprache  nicht  ganz  verschmähen, 
beibehalten.  Durch  den  einfluss  des  lehrhaften  tons  wird  es  im  späteren  mittel- 
hochdeutschen zur  stilistischen  manier. 

Es  ist  zu  wünschen,  dass  die  fleissige  und  wohl  durchdachte  abhandlung.  die 


ÜBER   SOKOLOWSKY,    MINNESANG   —   PRIEST,   EBERNAND  361 

•das  thema  iu  grossen  zügen  entwickelt,  anregung  gebe  zu  sonderuntersuchungen 
über  einzelne  teile  des  gebietes,  vor  allem  über  die  späteren  perioden  der  deutschen 
Jiteratur. 

HEIDELBERG.  G.   EHRISMANN. 


Dr.  Rudolf  Sokoloivsky,  Der  altdeutsche  minnesang  im  Zeitalter  der 
deutschen  klassiker  und  romantike r.  Dortmund,  Fr.  Wilh.  Ruhfus. 
1906.  IV,  169  S.  8». 
Franz  Schultz  hat  in  einem  im  anschluss  an  das  erscheinen  von  Soko- 
lowskys  Buche  abgefassten  artikel  iu  der  D.  lit.-zeitung  1907,  2949—58  die  ziele 
vorgezeichnet,  welche  eine  darstellung  von  dem  wiedererwachen  des  minnesangs 
im  18.  und  19.  Jahrhundert  sich  stecken  muss,  und  zugleich  darauf  hingewiesen,  wes- 
halb die  geistigen  bewegungen,  welche  jener  erscheinung  zugrunde  lagen,  hier 
nicht  genügend  herausgearbeitet  werden  konnten :  es  beruht  dies  hauptsächlich  auf 
der  anläge  des  werkes,  die  von  vornherein  hierfür  nicht  geeignet  ist.  Der  Ver- 
fasser behandelt  das  thema  unter  zwei  gesichtspunkten :  I.  Die  wissenschaftlichen 
bemühungen  um  die  auferweckung  des  altdeutschen  minnesangs  während  der  jähre 
1773—1838,  und  II.  Der  altdeutsche  minnesang  in  der  deutschen  dichtung  der 
jähre  1780—1845.  Es  sind  also,  wie  er  selbst  im  vorwort  andeutet,  eigentlich  zwei 
verschiedene  abhandlungen,  die  erste  ein  beitrag  zur  geschichte  der  germanischen 
Philologie,  die  zweite  ein  solcher  zur  geschichte  der  deutschen  dichtung  im  Zeitalter 
der  deutschen  klassiker  und  romautiker.  Das  aber  hat  den  nachteil,  dass  nun  die 
«rscheinung  in  ihrer  gesamtwirkung  innerhalb  des  geistigen  lebens  nicht  zur 
geltung  kommen  kann,  denn  die  bedingungen,  aus  denen  heraus  das  Interesse  für 
den  minnesang,  jenen  intimsten  ausdruck  mittelalterlicher  romautik,  hervorgeht, 
treten  nicht  klar  zutage :  das  kräftige  einsetzen  in  der  richtung  aufs  geistige,  das 
wachsen  des  bildungstriebes  in  verschiedenen  äusseruugeu,  iu  dem  erstarken  des 
wissenschaftlichen  sinnes,  der  erweiterung  und  Vertiefung  der  fähigkeit  poetisch  zu 
empfinden,  dem  erwachen  der  liebe  zur  nationalen  Vergangenheit;  und  ferner,  dass 
in  ein  und  derselben  Individualität  die  wissenschaftliche  und  die  künstlerische 
funktiou,  der  den  stolf  beobachtende  verstand  und  die  denselben  zu  einem  poetischen 
«rzcugnis  formende  phantasie,  getrennt  sind.  Aber  die  abhandlung  bleibt  trotzdem 
wertvoll,  weil  der  Verfasser,  ein  vorzüglicher  kenner  seines  arbeitsgebiets,  nicht  nur 
«in  sehr  reichhaltiges  material  gesammelt,  sondern  auch  die  innere  Veranlagung  bei 
den  einzelnen  Persönlichkeiten,  inwieweit  dieselbe  für  die  aufnähme  des  minnesangs 
günstig  oder  ungünstig  beschaffen  war,  vielfach  treffend  erörtert  hat. 

HEIDELBERG.  G.   EHRISMANN. 


Cleo.  M.  Priest,  Ebemand  von  Erfurt:  Zu  seinem  leben  und  wirken.  IX, 
102  s.  8".  Jena,  Anton  Kämpfe  1907  (promotionsschrift). 
Der  Verfasser,  der  sich  schon  durch  die  mitteilung  über  die  wiederauffiudung 
der  einzigen  Ebernand-handschrift  (Beitr.  29,  368)  sowie  durch  Untersuchungen  über 
den  text  des  gedichtes  (Princeton  Univers.  bull.  XV,  1,  1—24  und  Journal  of  engl, 
and  germ.  philol.,  vol.  V,  nr.  4,  505  tf.)  vorteilhaft  in  die  Wissenschaft  eingeführt  hat, 
gibt  in  dieser  arbeit  weitere  gehaltreiche  beitrage  zur  kenntnis  des  Erfurter  dichters 


362  EHKISMANX 

und  seines  Werkes.  Das  urkundliche  material  Avird  vermehrt:  achtmal  findet  sich 
der  name  Ebernand  in  Erfurt  zwischen  1192—1227.  In  einem  'Ebernand  junior' 
oder  'juvenis'  (belebt  1212  und  1217)  glaubt  Priest  den  Verfasser  erkennen  zu  dürfen. 
Er  war  'buraensis'  in  Erfurt  und  muss  einem  angesehenen  geschlechte  angehört 
haben.  Der  dichter  wäre  also  bürgerlichen  Standes  gewesen  und  P.  sucht  darum 
die  gründe,  die  für  einen  geistlichen  als  Verfasser  sprechen  und  die  von  Bechstein 
und  Bech  dafür  aufgeführt  worden  sind,  zu  entki'äften.  Aber  die  ui'kundlichen  be- 
lege sind  meines  erachtens  doch  nicht  ausgiebig  genug,  dass  man  mit  einiger 
Sicherheit  die  person  unseres  dichters  aus  ihnen  erschliessen  könnte.  AVar  der  name 
Ebernand  auch  selten,  so  ist  doch  nicht  ausgeschlossen,  dass  ihn  noch  andere  ge- 
tragen haben  als  gerade  die  uns  in  den  zufällig  erhaltenen  Schriftstücken  erwähnten 
personen.  Für-  die  zweite  hälfte  des  13.  Jahrhunderts  ist  denn  dann  überhaupt  schon 
nach  dem  Verfasser  selbst  eine  grössere  Verbreitung  des  namens  anzunehmen. 

Dass  Ebernand  geistlicher  war,  haben  Bechstein  und  Bech  allerdings  nicht 
sicher  bewiesen,  aber  dafür,  dass  er  bürger  gewesen,  ist  bis  jetzt  überhaupt  kein 
stichhaltiger  grund  geltend  gemacht  worden.  Solange  dies  nicht  geschehen  ist, 
wird  man  einen  mann,  der  mit  solchem  eifer  für  das  mönchtum  eintritt,  ja,  der  es 
sich  zur  aufgäbe  setzt,  geradezu  für  dasselbe  Propaganda  zu  machen,  der  literarisch 
gebildet  genug  ist,  um  in  so  wohlgeordneter  spräche  und  so  wohlgeregelten  versen 
zu  dichten,  doch  eher  für  einen  geistlichen  halten. 

Denn  wenn  der  dichter  auch  keine  besonderen  kenntnisse  aufweist  noch  mit 
hohem  schwung  begabt  erscheint,  so  setzt  doch  die  beherrschung  der  spräche 
eine  stärkere  Schulung  voraus.  Eingang  und  schluss,  also  teile,  die  nicht  unter 
dem  einfluss  der  lateinischen  vorläge  stehen,  sind  mit  floskeln  in  auffallenden  reimen 
ausgeschmückt:  got  mac  tcol  mins  herzen  vaz  mit  srme  gaste  erfüllten  16,  daz 
ist  ir  edeln  gebetes  livi  (:rim)  48,  nocJi  teil  ich  stricken  einen  knoten: 
danket  hruoder  Meimboten  4517,  von  den  cgiptschen  mucken,  von  ir  vil 
bösen  zucken  4723,  ez  hat  vil  manegen  starken  drück  (:üch)  4749. 

Der  eigentliche  titel  des  gedichtes  ist,  worauf  P.  mit  recht  nachdrücklich 
aufmerksam  macht,  Kaiser  und  Kaiserinn  (s.  40  f.).  Des  weiteren  sei  noch  die 
datierung  der  handschrift  hervorgehoben  (zweites  viertel  des  15.  Jahrhunderts, 
s.  41—43)  und  verwiesen  auf  die  reichhaltigen  textbesserungen  (s.  43—53).  —  Den 
zweiten  teil  der  abhandlung  (s.  64—102)  bilden  Untersuchungen  über  'andere  deutsche 
dichtungen  desselben  Stoffes',  besonders  über  die  schon  von  Steinmeyer,  Z.  f.  d.  a. 
16,  474—476  beigezogene  prosaauflösung  der  Erlanger  hs.  und  des  sommerteils  der 
Heiligen  leben  sowie  über  des  Xonosius  'Legend  vnd  leben  kej-ser  Heinrichs'  (Bam- 
berg 1511). 

HEIDELBERG.  G.  EHRISMAXX. 


Max   Leopold,   Die   vorsilbe  ver-   und   ihre   geschieht e.     Germanistische. 

abhaudlungen,  begründet  von  Karl  Weinhold,  herausgegeben  von  Friedrich 

Vogt.     27.  heft.    Breslau,  M.  u.  H.  Marcus  1907.    VIII,  284  -f-  2  s.     10  m. 

Untersuchungen  über  die  Vorsilben  gehören  zu  den  schwierigsten  kapiteln  der 

wortgeschichte,  weil  die  bedeutungen  jener  bestandteile  so  wandelbar  und  die  formen 

so   vielgestaltig   sind.     Zumal   ist   dieses  bei  dem  präfix  ver-  der  fall,    das  im  laufe 

der  entwicklung  die  mannigfachsten  funktionen  übernommen  hat. 


ÜBER   LEOPOLD,   DIE   VORSILBE   VER-  363 

Die  vorliegende  abhandlimg  enthält  die  geschichte  der  vorsilbe  ver-  vom 
gotischen  bis  aufs  neuhochdeutsche  mit  beiziehung-  des  niederdeutschen,  friesischen, 
englischen  und  nordischen.  Hervorzuheben  ist  besonders  die  starke  berück- 
sichtigung  des  früheren  neuhochdeutschen  sowie  der  lebenden  mundarten  und  beruf- 
sprachen. Durch  diese  ausdehnung  des  Stoffgebietes  und  durch  genaues  eingehen 
auf  die  einzelnen  erscheinungeu  liat  der  Verfasser  gewiss  einen  dankenswerten  bei- 
trag  zur  deutscheu  Wortforschung  geliefert.  Aber  die  Untersuchung  leidet  an  einer 
empfindlichen  schwäche :  die  erörterungen  über  die  bedeutungsübergänge  von  v  e  r  - 
sind  vielfach  unrichtig  aufgefasst;  damit  ist  die  gruppierung  der  typen  fehlerhaft 
geraten  und  überhaupt  die  geschichtliche  entwicklung  verzeichnet.  Zu  seinem 
schaden  ist  der  Verfasser  der  darstellung  von  Wilmanns  (D.  gramm.,  II.  abt., 
s.  157—166),  die  er  zum  vorbilde  genommen  hat  (s.  54),  doch  nicht  genau  genug 
gefolgt,  und  sehr  viel  hat  er  verloren  dadurch,  dass  er  den  artikel  '■oer-  in  Pauls 
Deutschem  Wörterbuch  unberücksichtigt  gelassen.  So  legt  er  z.  b.  seiner  einteilung 
die  drei  gotischen  präfixe  faar-,  fair-  und  fra-  zugrunde,  während  Wilmanns  und 
Paul  nur  von  faur-  und  fra-  ausgehen  (Wilmanns  zieht  fair  nur  mit  reserve  bei, 
§  127,  s.  163).  Auf  fair-  legen  sie  aus  guten  gründen  wenig  gewicht,  denn  schon 
im  gotischen  ist  seine  bedeutung  unsicher;  für  den  sinn  von  'ringsumher',  den 
ihm  der  Verfasser  zuschreibt  (s.  13.  163),  kann  einzig  nur  fainveitjan  als  beweis 
beansprucht  werden.  Dass  ausser  faur-  und  fra-  in  dem  deutschen  ver-  noch  eine 
andere  präfixstufe  mit  unterläuft,  ist  allerdings  wahrscheinlich  (Wilmanns  hat  des- 
halb in  §§  127—129,  s.  168—166  noch  sondergruppen  angefügt),  aber  das  gotische 
und  althochdeutsche  überlieferte  Sprachmaterial  gewährt  dafür  keinen  sicheren 
Stützpunkt. 

Eine  weitere  Schwierigkeit  schafft  der  Verfasser  dadurch,  dass  er  got.  faur 
als  zwei  getrennte  Wörter  auffasst :  faur  I  bezeichne  die  richtung,  faur  U  die  ruhe 
(s.  9) :  aber  das  gotische  kennt  eine  solche  bedeutungstrennung  nicht  und  in  der 
erklärung  der  deutschen  komposita  werden  dadurch  zusammengehörende  erscheinungeu 
auseinandergerissen. 

Noch  grössere  Verwirrung  aber  ist  dadurch  eingetreten,  dass  der  Verfasser 
trotz  der  Zugrundelegung  der  typen  faur-,  fair-  und  fra-  doch  nicht  den  ur- 
sprünglichen sinn  (faur-  =  vor,  für,  über  etwas  hinaus,  vorbei,  fra-  =  weg ;  beide 
zugleich  als  fesultatsbezeichnungen)  folgerichtig  zum  ausgang  nimmt.  Er  legt 
nämlich  oft,  wenn  ein  und  dasselbe  wort  verschiedene  bedeutung  hat,  den  grund 
dieses  Unterschieds  nicht  in  das  präfix,  sondern  in  das  schon  zusammengesetzte 
verbum  selbst.  Hat  z.  b.  ein  wort  zugleich  einen  günstigen  und  einen  gehässigen 
sinn,  so  sei  diese  Verschiedenheit  nicht  in  der  ursprünglichen  bedeutung  des  präfixes 
enthalten,  sondern  sie  sei  aus  der  Verwendung  des  wertes  im  Satzzusammenhang 
entstanden.  So  kann  z.  b.  ein  'versprechen''  'frei  herausreden'  {ver-  =  faur-  l)  'im 
gefüge  des  satzes  je  nach  dem  inhaltlichen  Zusammenhang  freundlichen  oder  ge- 
hässigen sinn  annehmen,  kann  z;um  befürworten  oder  verleumden  werden'  (s.  113, 
8.  auch  s.  58).  Damit  ist  aber  ein  ganz  anderes  prinzip  in  die  erklärung  herein- 
gekommen, durch  welches  jene  einteilung  auf  grund  der  gotischen  präfixe  stark 
durchbrochen  wird.  Abgesehen  aber  davon:  in  solchem  umfange  ist  ein  eintiuss 
der  Sprechsituation  auf  den  bedeutimgswandel  undenkbar.  Würde  er  wirklich  in 
diesem  masse,  wie  er  hier  schon  allein  bei  der  vorsilbe  ver-  vorausgesetzt  ist, 
überhaupt  im  sprachlichen  leben  herrschen,  dann  würde  alle  Sicherheit  in  der  gegen- 
seitigen  Verständigung   der   redenden    aufliören.      Bei   dem  obigen   beispiel   erklärt 


3G4  KAUFFMANN 

sich  die  beileutuno'sverscliicilenheit  ja  aber  auch  leicht  genug  schon  aus  dem  sinn 
der  Vorsilbe :  gegenüber  dem  faar-  in  'befürworten',  das  zu  der  grossen  gruppe  mit 
dem  begriffe  'die  stelle  vertreten,  eintreten  für,  sorgen  für'  gehört,  steht  in  'ver- 
leumden' das  verneinende  bezw.  verschlechternde  ./>«-.  Ebenso  ist  es  z.  b.  in  ver- 
legen s.  82—86,  versehen  s.  58—63 :  den  bedeutungswandel  dieser  drei  Wörter  erklärt 
Wilmanns  restlos  aus  den  beiden  typen /aw;-- und /;•«-:  versprechen  ^-prohihev^  reuun- 
tiare  und  defendere,  loqui  pro  unter  fawr-  §  125,  2  bezw.  §  125,  3,  s.  159,  dagegen 
=  sich  versprechen  unter /ra-  §  126,  6  s.  163;  verlegen  =  operire,  verhindern  §  125,  3, 
s.  159  (2mal)  unter  faur-,  aber  =  an  einen  unrechten  ort  legen  §  126,  6.  s.  162 
unter  fra- :  versehen  =  prospicere,  vorsorgend  bedenken  §  125,  3,  s.  159  unter 
fanr-,  =  respicere  §  126,  3,  s.  160,  =  versehen  für,  fälschlich  halten  für  §  126,  6, 
s.  163  unter  fra-  (=  sich  versehen,  etwas  erwarten  §  127,  s.  164,  unter  ver-  in  un- 
bestimmterer bedeutung). 

Lehrreich  wäre  auch  eine  Zusammenstellung  der  althochdeutschen  rer-kom- 
posita  in  sich  (der  Verfasser  hat  sie  in  die  entwicklungsreihe  des  ahd.  —  mhd.  — 
uhd.  eingestellt  und  nuter  den  einzelnen  Wörtern  untergebracht).  Es  würde  dann 
ersichtlich  sein,  wie  ursprünglich,  worauf  Paul  aufmerksam  gemacht  hat,  die  kom- 
posita  mit  fra-  jene  mit  faur-  weit  überwiegen.  So  haben  z.  b.  Tatian  (/or-,  /itv-), 
Otfrid  {fir-)^  Williram  {ver-)  fast  nur  Zusammensetzungen  mit  dem  begriffe  des 
verneinens  bezw.  verschlechterns  und  mit  resultativem  sinne,  nur  ganz  wenige,  die 
unbedingt  auf  faur-  zurückzuführen  wären.  Für  die  letztere  bezeichnung  dienen 
die  trennbaren  Zusammensetzungen  mit  fora,  furi  und  fram. 

Trotz  der  ausstellungen  möchte  ich  die  abhandluug  doch  als  eine  tüchtige 
und  verdienstvolle  leistung  anerkennen. 

HEIDELBERG.  G.   EHRISMANX. 


Paul  Habermann,   Die  Metrik   der  kleineren  althochdeutschen  Reim- 
gedichte.    VIII,  194  s.     Halle  a.  S.,  M.  Niemeyer,  1909. 

Obwohl  Klopstock  als  neutöner  dem  deutschen  vers  seine  musikalische  aus- 
drucksform  verliehen  und  die  verswirkung  nicht  bloss  auf  den  rhythmus,  sondern 
auch  auf  die  melodie  eingestellt  hatte,  *  ist  die  deutsche  verstheorie  an  der  latenten 
musik  der  deutschen  dichtersprache  wie  an  etwas  unwirklichem  vorübergegangen. 
Eduard  Sievers  gebührt  das  grosse  verdienst,  die  Sprachmelodie  deutscher 
dichtung  der  forschung  zugänglich  gemacht  zu  haben.  Er  forderte,  dass  nicht  bloss 
der  rhythmische,  sondern  auch  der  melodische  Charakter  des  einzelnen  dichter- 
werkes  untersucht  und  beschrieben  werde.  Das  bedeutet  nichts  geringeres  als  eine 
vollständige  um-  und  neugestaltung  der  metrischen  theorien,  an  der  die  phonetische 
einsieht  in  die  schallformen  der  rede  in  erster  linie  beteiligt  ist.  Nach  dem  Vor- 
gang von  Sievers  hat  namentlich  F.  Saran  die  neue  bahn  betreten  und  eine  pho- 
netische analyse  der  schallformen  dichterischer  rede  nach  ihren  musikalischen 
qualitäten  in  angriff  genommen.  Dem  beispiel ,  das  ihnen  ihre  lehrer  gegeben 
haben,  folgten  die  schüler,  und  so  hat  zunächst  G.  Eberhardt  die  metrik  des  Anno- 
liedes  nach    den   neuen    anforderungen    behandelt,  -    auf   ihn    folgte   Sarans   schüler 

1)  Vgl.  K.  Burdach  in  der  Deutschen  ruudschau  142  (1910),  236  ff. 

2)  Beitr.  34,  1  ff. 


ÜBER   HABERMAXX,    MI:tRIK  365 

Habermann  mit  seiner  Studie  über  die  kleineren  (endreimenden)  althochdeutschen 
gedichte. 

Es  ist  eigentlicli  zu  verwundern,  dass  man  die  unserem  rhythmischen  und 
musikalischen  empfinden  ferner  stehenden  altdeutschen  dichtungen  zuerst  in  angriff 
genommen  hat,  um  die  neue  arbeitshypothese  zu  erproben.  Es  hätte  näher  gelegen, 
mit  einem  so  ausgeprägt  musikalischen  dichter  wie  Klopstock  zu  beginnen  und  das 
melos  seiner  freien  rhythmen  festzustellen.  Aber  wir  können  den  gang  der  dinge 
nicht  ändern  und  nicht  auflialten  uud  wollen  hoffen,  dass  sich  bald  eine  gut  vor- 
bereitete wissenschaftliche  kraft  finde,  die  sich  der  musikalischen  ausdrucksformen 
der  Klopstockschen  verse  bemächtige.  Als  interessante  experimente  begrüssen  wir 
vorerst  auch  die  bisherigen  Veröffentlichungen. 

Ihre  ergebnisse  sind  zwar  noch  einigermassen  unbestimmt,  reichen  aber  völlig 
aus,  um  die  zulässigkeit  einer  musikalischen  Interpretation  selbst  des  sprödesten 
Stoffes  darzutuu.  Von  der  grundthese  Sarans,  alle  deutschen  metra  gingen  auf  be- 
wegungslieder  zurück,  ihr  mutterboden  sei  die  orchestische  singmusik  der  Germanen 
und  erst,  nachdem  die  orchestische  melodie  verschwunden,  seien  die  sprechmetra 
unserer  poesie  mit  der  ihr  eigenen  Sprachmelodie  entstanden,  versprechen  wir  uns 
für  die  einzelforschung  keinen  gewinn,  sie  hat  auch  in  den  Untersuchungen  von 
Eberhardt  und  Habermann  keine  aufdringliehe  rolle  gespielt.  Aber  was  Saran  den 
'monodisclien  konzertvortrag'  unserer  altdeutschen  dichtungen  nennt,  scheint  bereits 
für  seine  nachfolger  die  selbstverständliche  Voraussetzung  zu  bilden.  Engelhardt 
definiert  die  verse  des  Annoliedes  so :  das  gedieht  liegt  ziemlich  tief,  seine  verse 
müssen  mit  ziemlich  grosser  klangfülle  und  mittlerer  Weichheit  gelesen  werden, 
die  klangfarbe  ist  im  sinne  der  tiefen  klarinette  (Beitr.  34,  34).  Im  gleichen  dialekt 
spricht  Habermann.  Für  das  Ludwigslied  ist  die  Stimmlage  ziemlich  hoch,  für  eine 
tenorstimme  bietet  es  keine  Schwierigkeit,  die  klangfarbe  ist  gemischt:  einerseits 
etwas  schmetternd  und  kalt,  metallisch  fest  und  von  einer  ziemlich  gleichmässigen, 
gewissen  gepressten  härte,  doch  fehlt  auch  eine  beimischung  von  wärme  und  dunkle 
fäi'bung  nicht;  instrumental  kann  sie  als  mischung  von  klarinetten-  und  trompeten- 
ton bezeichnet  werden  (s.  13 1.  Die  klangfarbe  des  Petrusliedes  ist  weicher  uud 
dunkler  als  die  des  Ludwigsliedes,  die  stimme  klingt  mehr  im  sinne  der  klarinette 
(erheblich  weniger  metallisch  als  beim  Ludwigsliede),  dabei  kräftig  und  voll  (s.  30  f.). 
Die  schallform  des  gedichtes  'Christus  und  die  Samariterin'  ist  von  auffällig  hellem, 
kaltem,  palatalem  klang,  die  stimme  klingt  im  sinne  der  hohen  klarinette,  dabei 
ist  die  allgemeine  Stimmlage  des  gedichtes  sehr  hoch  (s.  38).  Die  nachdichtung  des 
138.  psalmes  erinnert  mit  ihrer  klangfarbe  etwa  an  die  mittlere  läge  der  flöte,  die 
stimme  klingt  weich  und  etwas  hohl,  dabei  ein  wenig  dunkel  (s.  54  f.).  Bei  dem 
Vortrag  von  De  Heinrico   klingt   die    stimme    sehr  hell   und   kalt  mit   einer  etwas 

grellen,   schmetternden   färbung,   etwa    im   sinne    der  trompete 'der  dichter 

trompetet  mit  aller  kraft,  die  allgemeine  Stimmlage  des  liedes  ist  das  hohe  register 
meines  Stimmumfanges'  (s.  71).  Die  klangfarbe  des  Memento  mori  ist  im  allge- 
meinen der  des  Ludwigsliedes  ähnlich,  nur  klingt  die  stimme  weniger  hell,  das 
knarrende  beigeräusch,  das  beim  Ludwigslied  zu  bemerken  ist,  ist  hier  gering; 
die  stimme  hat  einen  harten,  ein  wenig  trompetenartigen,  fast  gellenden  klang,  der 
aber  immerhin  der  wärme  nicht  entbehrt;  die  vorderreihen  zeigen  einen  etwas 
weicheren  und  wärmeren,  mehr  klarinettenartigen  sprachklang  als  die  hinterreihen, 
die  ihrerseits  mehr  den  klangcharakter  der  trompete  hören  lassen  (s.  88).  Solch 
temperamentvollen    metapheru    gegenüber    möchten    wir    doch    empfehlen,    bei    der 


366  STOLZKXliURG 

lüiebternou  und  saclilichen  ausdrucksvveise  von  Sievers  zu  beharren.  Wir  hätten 
es  lieber  gesehen,  wenn  der  Verfasser  seine  vortragsgesten  ausgiebiger  beschrieben 
hätte  und  begrüssen  es,  dass  er  den  anfang  damit  gemacht  hat,  seine  rurapflialtung 
zu  beobachten  imd  darüber  nach  dem  system  von  Eutz  zu  berichten  (vgl.  z.  b.  s.  14  f.  55). 
Dankenswert  sind  auch  die  von  dem  Verfasser  aufgezeichneten  melodischen  kurven 
und  seine  angaben  über  die  von  ihm  eingehaltenen  Intervalle.  Doch  haftet  auch 
ihnen  an,  dass  sie,  solange  sie  nur  durch  eine  einzige  (eingeschulte)  Versuchsperson 
gewährleistet  bleiben,  der  überzeugenden  kraft  entbehren.  Auf  s.  97,  99,  101  hat 
der  Verfasser  selbst  die  erforderlichen  ein  schränkungen  seiner  resultate  angedeutet 
und  vor  ihrer  allgemeingültigkeit  gewarnt. 

Für  die  rhythmik  der  von  ihm  untersuchten  verse  ist  der  Verfasser  zu  neuen 
resultaten  nicht  gelangt  (vgl.  die  Statistik  s.  102  ff.).  Interessant  waren  mir  einige 
textkritische  ergebnisse;  insbesondere  die  erkenntnis,  dass  füi'  die  texte  der  ge- 
nannten ahd.  denkmäler  von  reduzierten  endsilbenvokalen  in  weit  grösserem  um- 
fang gebrauch  gemacht  werden  müsse,  als  die  beschreibende  ahd.  grammatik  zu 
fordern  pflegt.  In  diesem  stück  ist  Habermann  mit  Kappe  (Zeitschr.  41,  137  ff.) 
zusammengetroffen. 

KEEL.  FRIEDRICH   KAUFFJrANX. 


Die  gotische  bibel,  herausgegeben  von  Wilhelm  8treitberg.  Erster  teil: 
Der  gotische  text  und  seine  griechische  vorläge  mit  einleitung,  lesarten  und 
quellennach weisen  sowie  den  kleinen  denkmälern  als  anhang.  [Germanische 
bibliothek,  herausgegeben  von  W.  Streitberg".  Zweite  abteilung.  Unter- 
suchungen und  texte.  III,  1.].  Heidelberg,  Carl  Winters  universitätsbuch- 
handlung,  1908.     484  s. 

Seit  langem  wurde  eine  neue  ausgäbe  der  gotischen  bibel  erwartet,  denn 
diejenige  von  Bernhardt  aus  dem  jähre  1875  genügte  in  keiner  weise  mehr.  Be- 
sonders der  von  Bernhardt  gebotene  griechische  paralleltext  war  seit  den  Unter- 
suchungen Kauffmanns  (Zeitschr.  29,  30,  31)  gänzlich  veraltet;  aber  auch  der 
gotische  text,  auf  Uppströms  lesung  beruhend,  bedurfte  dringend  einer  neuen 
kollatiouierung.  So  ist  die  neuausgabe  von  Streitberg  auf  das  freudigste  zu  be- 
grüssen. Allerdings  ist,  um  dies  vorwegzunehmen,  der  codex  argenteus  keiner 
neuen  durchsieht  unterzogen  worden  und  damit  leider  ein  teil  der  aufgäbe  ungelöst 
geblieben.  Sehr  bedeutsam  sind  dagegen  die  Verbesserungen  des  textes,  welche 
auf  den  forschungen  des  herrn  direktors  Wilhelm  Braun  in  Mailand  benihen.  Eine 
ausführliche  begründung  der  neuen  lesarten  der  ambrosianischen  hss.  wird  von  ihm 
selber  an  anderer  stelle  gegeben  werden. 

Der  griechische  text  ist  nicht  ganz  so  einfach  ausgefallen,  wie  man  nach 
Kauffmanns  arbeiten  hätte  erwarten  sollen.  Vielmehr  ist  das  handschriftensystem 
V.  Sodens  zugrunde  gelegt  worden,  nach  dessen  Ansicht  Wulfilas  vorläge  ein  K*-text 
ist,  in  den  I*-lesarten  eingedrungen  sind.  Der  von  Streitberg  gegebene  griechische 
text  bietet  durchweg  die  K"-lesarten  und  verzeichnet  die  abweichungeu  der  Itala  (mit 
den  zugehörigen  gr.  hss.),  wenn  sie  zum  gut.  text  stimmen,  im  apparat.  Bisweilen, 
wenn  z.  b.  Clirysostonuis  auch  die  abweichende  lesart  hat,  ist  diese,  die  also  mit 
dem    got.  stimmt,   in    den  text  gesetzt  und  die  K*-lesart  in  den  apparat.     Ob  dies 


ÜBER    STREITBERG,   DIE    GOTISCHE   BIBEL  367 

eine  glückliche  uud  eudgültige  lösuDg  des  problems  ist,  wage  ich  nicht  zu  ent- 
scheiden. Jedenfalls  iat  der  fortschritt  gegen  Bernhardt  ausserordentlich,  wenn 
auch  auf  manche  Variante  wohl  hätte  verzichtet  und  damit  der  apparat  noch  ein- 
facher hätte  gestaltet  werden  können. 

Der  apparat  zum  got.  text  ist  bedeutend  knapper  als  der  Bernhardts;  er 
konnte  es  sein,  weil  vieles  von  dem,  was  wir  bei  Bernhardt  finden,  z.  b.  syntaktische 
bemerkuugen,  in  Screitbergs  Got.  Elementarbuch  behandelt  wird. 

Eine  der  wichtigsten  ergebnisse  der  neuen  ausgäbe  ist  offenbar  in  den 
schlussworteu  der  einleitung  (s. XLVI)  zusammengefasst,  die  daraufhinweisen,  'dass 
beinahe  alle  abweichungen  des  got.  textes  vom  Wortlaut  der  gr.  vorläge,  die  nicht 
auf  Interpolationen  nach  der  lat.  bibel  beruhen,  auf  änderungen  nach  parallel- 
stellen zurückzuführen  sind'.  Diese  tatsache  ist  um  so  bedeutungsvoller,  als  der 
herausgeber  nicht  mehr,  wie  Bernhardt  es  noch  in  weitem  umfange  getan,  den 
Codex  Brixianus  f  zur  erklärung  zahlreicher  abweichungen  heranziehen  konnte. 
Hier  drohte  eine  lücke  in  der  erklärung  des  textes  zu  entstehen,  die  den  über- 
triebenen Vorstellungen  von  der  Selbständigkeit  des  Übersetzers  neue  nahrung  ge- 
geben hätte.  Im  Lukasevangeliura  z.  b.  sind  es  allein  24  stellen,  wo  Bernhardt 
auf  f  als  erklärung  hinweist,  während  Streitberg  eine  parallelstelle  (am  häufigsten 
aus  dem  Mt.)  oder  eine  benachbarte  stelle  zur  deckung  anführt.  Darunter  sind 
z.  b.  so  auffällige  zusätze  wie  Lk.  IX  43  qa])  Paitrus:  frauja,  duhve  weis  ni  mahtedun 
usdreiban  i)amma?  i{)  Jesus  qa|):  {)ata  kuni  ui  usgaggij)  nibai  in  bidom  jah  in 
fastubnja,  der  unter  benutzung  der  parallelstellen  Mt.  17,  19  f.  und  Mk.  9,  29  zu- 
stande gekommen  ist.  Oder  Lk.  V  20  du  })amma  U8lij)in  (Mt.  9,  6.  Mk.  2,  6) ;  Lk.  V  33 
siponjos  (Mt.9,  14.  Mk.  2,  18)  Lk.  VI  20  ahmin  (Mt.  5,  3).  Lk.  XIX  22  jah  lata  (Mt.25, 
26)  u.  a.  Die  parallelstellen  sind  aber  auch  als  erklärung  wichtig,  wo  Bernhardt 
nur  andere  handschriften  (meist  it.vg.)  heranzieht.  Obwohl  sich  natürlich  nicht  mit 
Sicherheit  feststellen  lässt,  ob  die  parallelstelle  nicht  zunächst  in  den  gr.  oder  lat. 
hss.  wirksam  geworden  ist  und  dann  durch  sie  auch  auf  den  got.  text  gewirkt  hat, 
so  ist  es  doch,  nachdem  einmal  eine  solche  textkritische  bearbeitung  der  got.  bibel 
feststeht,  in  vielen  fällen  das  natürliche,  sich  unmittelbar  auf  die  parallelstelle  und 
nicht  auf  irgendeine  häufig  ganz  vereinzelt  stehende  hs.  zu  beziehen.  So  ist  z.  b. 
Lk.  XVI,  18  Änö  dvSpög  im  got.  ausgelassen.  Bernhardt  führt  zur  erklärung  nur  D 
an,  während  wir  bei  Streitberg  die  parallelstelle  Mt.  5,32  augezogen  finden,  wo 
diese  werte  auch  im  gr.  fehlen.  In  einer  dritten  gruppe  von  fällen  endlich  hatte 
Bernhardt  sich  einfach  damit  begnügt,  die  abweichung  zu  verzeichnen,  oder  irgend- 
einen andern,  häufig  gezwungenen  erklärungs versuch  gemacht,  während  die  parallel- 
stelle das  rätsei  auf  die  einfachste  weise  löst.  Auch  solche  fälle  finden  sich  in 
grosser  zahl  (im  Lukasevg.  z.  b.  26).  Den  auffallenden  plural  in  Lk.  VIII  4  gaqu- 
manaim  jjan  hiuhmam  auvidvxos  Se  ox^ou  erklärt  z.  b.  Streitberg  durch  den  hinweis 
auf  Mt.  13,  2.  Lk.  XVI 20  namins  hairtans  öw[iOLzi  wird  durch  Lk.  19,  2  verständ- 
lich u.  a.  Diese  stellen,  die  sich  in  den  andern  evangelien  in  ähnlicher  zahl  finden, 
geben  uns  ein  bild  von  der  ausgedehnten  kritischen  Überarbeitung,  die  die  got. 
bibel  erfahren  hat,  und  sind  ein  neuer  beweis  dafür,  wie  vorsichtig  mau  bei  der 
feststellung  von  abweichungen  des  Goten  von  seiner  vorläge  verfahren  muss. 

HAMBURG.  HANS   STOLZENBURG. 


368  KAHLE 

Br  on  11  u-Nj  älss  aga  (Njäla),  her.  v.  Fiiinur  Jöusson  (Altnordische  saga- 
liib  Hot  hole,  her.  v.  Gustav  Cederscliiöld,  Hugo  Geriug  und  Euareu  Mos^k. 
IB).  Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer,  1908.  XLXI  u.  452  s.  8  \  in.  12. 
Dass  die  sagabibliothek  jetzt  auch  die  umfangsreichste,  künstlerisch  hervor- 
ragende, kiilturhistoriseh  und  rechtsgeschichtlich  bedeutsame  Njäla  in  ihre  Sammlung 
aufgenommen  hat,  ist  mit  freuden  zu  begrüssen.  Bisher  war  diese  saga  verhältnis- 
mässig schwer  zugänglich.  Ist  auch  immer  noch  der  preis  ein  hoher,  so  wird  doch 
jetzt  weiteren  kreisen  die  anschaffung  möglich.  Wenn  ein  kenner  des  isländischen 
Schrift-  und  altertums  wie  Finuur  Jönsson  sich  der  schwierigen  aufgäbe  unterzieht, 
diese  saga  neu  herauszugehen,  darf  man  das  beste  erwarten.  Die  hauptarbeit  be- 
züglich der  handschriften  hatte  ja  freilich  Konräci  Gislason  in  seiner  grossen  zwei- 
händigen ausgäbe  bereits  geleistet.  Für  die  beliebtheit  der  saga  zeugt  die  überaus 
grosse  menge  dieser,  und  man  hat  sich  verschiedentlich  bemüht,  deren  gegenseitiges 
Verhältnis  zu  bestimmen,  ohne  dass  es  gelungen  wäre,  sichere  Ordnung  in  den  Wirr- 
warr zu  bringen.  Einigerraassen  fest  steht  nur,  dass  alle  auf  eine  gruudhandschrift 
zurückgehen.  Zwei  Codices,  der  alten  k.  Sammlung  zu  Kopenhagen  angehörig, 
nr.  2868,  4°  (G)  und  2870,  4"  (J),  scheinen  gegenüber  den  andern  in  manchen 
fällen  die  bessere  lesart  zu  haben,  sind  aber  so  lückenhaft,  dass  F.  J.  mit  recht 
davon  abgesehen  hat,  sie  seiner  ausgäbe  zugrunde  zu  legen.  Es  kommt  noch  hinzu, 
dass  in  diesen  handschriften  der  text  vielfach  nach  der  Landnäma  umgearbeitet 
worden  ist.  Daher  hat  F.  J.  gewiss  recht  getan,  wenn  er,  ebenso  wie  Konräö 
Gislason,  cod.  AM  468,  4"  zugrunde  legte,  eine  fast  vollständige  handschrift,  mit 
zwei  kleineren  lücken,  deren  eine  noch  dazu  nach  einer  papierhandschrift  ergänzt 
werden  kann.  Wo  G.  und  J.  die  bessere  lesart  zu  haben  schienen,  ist  sie  in  den 
text  aufgenommen  worden.  Obwohl  nun,  wie  schon  bemerkt,  K.  G.  die  gleiche 
handschrift  wie  F.  J.  zugrunde  gelegt  hat,  weicht  sein  text  doch  bedeutend  von  dem 
F.  J.s  ab.  K.  G.  suchte  den  ursprünglichen  grundtext  herzustellen  und  nahm  zu 
diesem  zweck  eine  menge  lesarteu  aus  den  verschiedensten  handschriften  auf.  F.  J. 
verzichtet  mit  recht  auf  dies  vergebliche  bemühen.  Sein  vorgehen  hat  aber  noch 
einen  grossen  vorteil:  der  text  wird  von  einer  grossen  anzahl  von  Strophen,  die 
aus  verschiedenen  gründen  für  unecht  anzusehen  sind,  entlastet,  denn  sie  finden 
sich  nicht  in  F,  sondern  meistens  nur  in  B  und  E.  K.  G.  hatte  alle  diese  in  den 
text  aufgenommen;  sie  umschreiben  aber  in  der  regel  nur  das  im  text  gesagte, 
daher  haben  sie  auch  inhaltlich  kein  Interesse.  Deshalb  hat  F.  J.  auch  darauf 
verzichtet,  sie  in  einem  anhang  mitzuteilen,  und  man  vermisst  sie  in  der  tat 
nicht  weiter. 

Ich  versuche  nun,  in  kürze  die  ansieht  des  herausgebers  über  die  entstehung 
der  saga  so,  wie  sie  vorliegt,  wiederzugeben,  wobei  ich  aber  bemerke,  dass  es  nicht 
immer  ganz  leicht  ist,  zu  verstehen,  was  gemeint  ist.  A.  U.  Bääth  in  seinen  'Studier 
öfver  kompositionen  i  uägra  isländska  ättsagor'  (Lund  1885),  die  mir  hier  leider 
nicht  zugänglich  sind,  hatte  geäussert:  'der  Verfasser  habe  seinen  stoff  in  solchem 
masse  beherrscht,  dass,  während  er  die  erste  zeile  niederschrieb,  sein  blick  sozu- 
sagen bereits  auf  die  letzte  zeile  geheftet  war'.  Für  vollständig  berechtigt  hält 
nun  F.  J.  dieses  urteil  nicht,  da  man  auf  verschiedene  eigentümliche  Unebenheiten 
stosse,  auch  nicht  alle  episoden  organisch  notwendige  teüe  des  ganzen  seien.  Doch 
enthalte  das  urteil  ein  gut  teil  Wahrheit.  F.  J.  ist  nun  der  meinung,  dass  der 
historische  Zusammenhang  der  saga  offenbar  nicht  einem  ersten  Verfasser  an- 
gehöre, sondern  einem  be  arbeit  er.     Die  saga  beruhe  in  der  vorliegenden  fassung 


ÜBER   JÖNSSON,   BREXNU-NJAL.SSAfiA  369- 

auf  eiuer  durchgreifenden  Umformung  und  kontamination  des  Stoffes,  anderer  art, 
als  sie  es  in  den  ältesten  sagas  aus  der  zeit  von  1150—1200  zu  sein  pflegt.  Hierher 
gehöre  z.  b.  der  abschnitt  über  die  Christianisierung  der  insel.  der  an  stelle  einer 
ursprünglichen  kurzen  notiz  über  den  übertritt  Njäls  zum  neuen  glauben  getreten 
sei.  Ferner  die  Schilderung  der  Brjänsschlacht.  Der  Kristni|)ättr  seinerseits 
(kap.  100— 105j  stehe  innerhalb  einer  Interpolation,  in  der  die  ermordung  eines 
unehelichen  sohnes  des  Njäl  und  die  dafür  genommene  räche  erzählt  wird  (kap.  98, 
99,  106).  Ausser  anderem,  unbedeutenderem,  wie  z.  b.  dass  personen  ohne  weiteres, 
eingeführt  werden,  oder  dass  ein  und  dieselbe  person  an  erster  stelle  einfach  ge- 
nannt, später  aber  durch  anführung  des  geschlechtsregisters  charakterisiert  wird, 
ist  die  hereinarbeitung  einer  Gunnarssaga  anzunehmen.  F.  J.  kommt  zu  dem  schluss, 
dass  eine  besondere  Njälssaga  existiert  habe,  die  die  gewöhnliche  klassische  gestalt 
gehabt  habe ;  aus  ihr  stammen  die  kap.  107  ff.  bis  zum  schluss.  Wie  der  erste 
teil  gestaltet  war,  lässt  sich  im  einzelnen  schwer  sagen.  Die  feindschaft  zwischen 
Hallgerö  und  Bergjjöra  wird  besser  in  die  Gunnars-  als  in  die  Njälssaga  gehören. 
Seine  auffassung  vom  Verhältnis  dieser  beiden  sagas  hat  F.  J.  geändert.  Früher 
meinte  er,  eine  ältere  Gunnarssaga  sei  mit  der  älteren  und  ursprünglichen  von  Njäl 
verschmolzen  worden.  Wegen  der  abweichenden  mitteilungen  der  landnäma  über 
Gunnar,  die,  v.'enn  auch  nicht  sicher,  so  doch  wahrscheinlich  einer  Gunnarssaga 
entstammen,  meint  er  jetzt,  dass  diese  nicht  in  die  Njälssaga  aufgenommen  worden 
sein  kann,  sondern  dass  die  Gunnar  betreffenden  partien  ein  fabrikat  nachklassischer 
zeit  seien,  frühestens  um  die  mitte  des  13.  Jahrhunderts  entstanden.  Der  ver- 
schmelzer  ist  wahrscheinlich  auch  der  Verfasser  dieser  Gunnarssaga  gewesen,  die 
auf  alten,  verblichenen  erinnerungen,  verderbter  tradition  beruht.  Er  hat  auch  die 
alte  Njälssaga  umgestaltet.  Diese  so  entstandene  saga  ist  nun  noch  einem  zweiten 
uraarbeiter  in  die  bände  gefallen,  dem  die  kap.  98,  99,  lOG,  vielleicht  auch  noch 
einiges  andere  zuzuweisen  sind.  Noch  wieder  ein  anderer  fügte  die  Jugendgeschichte 
der  Hallgerö  und  die  erzähluug  von  der  Christianisierung  der  insel  hinzu.  In  ihrer 
gegenwärtigen  gestalt  geht  die  saga  nicht  über  das  letzte  viertel  des  13.  jahr- 
huüderts  zurück.  Sie  ist  verfasst  in  der  landschaft,  in  der  sie  spielt,  was  aus  der 
genauen  keantnis  der  örtlichkeit  und  der  alten  tradition  geschlossen  wird.  Das 
gleiche  gilt  vom  Verfasser  der  Gunnarssaga;  doch  hat  die  Njälssaga  ihre  endgültige 
g/3stalt  in  den  landschaften  um  den  BreiöifJQrö  erhalten,  wo  das  geschlecht  der 
Ilallgevö  zu  hause  war.  Hierfür  spricht  auch,  dass  die  meisten  handschriften  aus 
atiii  Westlande  stammen. 

Gegen  diese  auffassung  F.  J.s  von  der  entstehuug  der  saga  wird  sich  nun 
aber  doch  einiges  einwenden  lassen.  Darin,  dass  in  die  Njälssaga  eine  Gunnarssaga 
hineingearbeitet  ist,  wird  man  ihm  zustimmen;  das  ist  ja  wohl  auch  die  allgemeine 
annähme.  Dass  nun  aber  F.  J.s  letzter  bearbeiter  auch  der  Verfasser  dieser  Gunnars- 
saga, dieses  'fabrikats',  gewesen  sei,  scheint  mir  durchaus  unglaubwürdig  zu  sein. 
Schablonenhafte  Schilderungen  von  auslandsreisen  und  der  dort  erlebten  abenteuer 
finden  wir  auch  in  klassischen  sagas,  ohne  dass  wir  in  jedem  fall  genötigt  sind, 
das  als  Interpolation  oder  späteres  machwerk  anzusehen.  Auch  auf  etwaige  ana- 
chronismen  und  chronologische  fehler  legt  F.  J.  viel  zu  viel  gewicht.  Er  neigt  viel 
zu  sehr  zu  der  ansieht  hin,  dass  jede  klassische  saga  ein  werk  aus  einem  guss,, 
ohne  Widerspruch,  ohne  chronologische  fehler  sei.  Man  braucht  gar  nicht  bei  jedem 
Widerspruch  innerhalb  einer  saga  das  werk  eines  späteren,  bösen  bearbeiters  oder 
interpolators    zu    suchen.      Solche    Widersprüche    passieren    auch    nidderiien  sclirift- 


•370  KAHLE 

stelleru ;  warum  sollte  es  uicht  bei  den  alten  der  fall  sein  ?  Wenn  eine  episode, 
wie  der  Kristnii)ättr,  zu  ausführlich  erscheint,  wenn  sie  sich  nicht  mit  dem  strengen 
auf  bau  der  saga  vereinen  lässt,  muss  sie  deshalb  später  eingefügt  sein  ?  Gibt's 
nicht  auch  eine  lust,  zu  fabulieren?  Njäl  wird  Christ;  nun  gut,  warum  sollte  da 
nicht  den  Verfasser  die  lust  anwandeln,  etwas  ausführlicher  von  der  Christianisierung 
der  Insel  zu  erzählen?  Warum  sollte  nicht  schon  der  Verfasser  ein  stück  einer 
quelle,  die  hiervon  handelte,  eingefügt  haben?  Solche  benutzung  von  quellen  ist 
ja  nichts  ungewöhnliches.  Nach  F.  J.  hat  dies  stück  keine  direkte  berührung  mit 
der  Kr.  Diese  darstellung  beruhe  auf  mündlicher  tradition,  zu  der  die  verse  als 
fester  bestandteil  gehörten,  nach  seiner  Literaturhist.  2,  581  der  gemeinsamen  quelle 
auch  der  Kristnisaga.  Nach  Brenner,  Über  die  Kristnisaga,  s.  114  f.  steht  die  dar- 
stellung der  Njäla 'der  Aris  sehr  nahe;  aber  Ari  habe  diese  nicht  benützt,  wenigstens 
keine  schriftliche,  eine  gemeinsame  schriftliche  quelle  sei  nicht  vorauszusetzen. 
Nur  an  einer  stelle  habe  die  Nj.äla  einen  anklang  an  die  Kr.,  ohne  dass  Ari  über- 
einstimme. Diese  letzte  angäbe  aber  ist  offenbar  nicht  richtig,  wie  mir  überhaupt 
das  Verhältnis  dieser  drei  darstellungeu  einer  erneuten  prüfung  zu  bedürfen  scheint. 
Ich  verweise  nur  auf  folgende  Übereinstimmungen  zwischen  Nj.  und  Kr. 

Nj.  101,  7  peir  ligföu  allir  verit  knstnir  langfeögr:  Kr.  8,  1  peir  vdru  allir 
skirMr  langfedgar. 

Nj.  101,10  en  kann  hljöp  af  hestinuin  ok  komz  upp  d  hakkann:  en  hatin 
hljöp  af  baki  ok  stöö  d  bakkanum  [heill] '. 

Nj.  104  en  pd  vard  Oldfr  konungr  svd  reidr,  at  kann  let  taka  alla  Islenzka 
menn  ok  setja  i  myrkvastofu.  .  .  .  Kr.  11, 10  ßd  vard  konungr  svd  reidr,  at  kann 
let  taka  viarga  Islenzka  menn  ok  setja  i  jdrn.  .  .  . 

Die  letzten  beiden  stellen  sind  deshalb  charakteristisch,  weil  in  ihnen  beiden 
davon  die  rede  ist,  dass  der  könig  die  Isländer  gefangensetzen  liess,  während  bei 
Ari  an  der  entsprechenden  stelle.  Ib.  7, 4,  nur  von  Verstümmlung  und  tötung  die 
rede  ist.  Diese  Übereinstimmungen  scheinen  doch  auf  eine  gemeinsame  schriftliche 
quelle  hinzuweisen.  Wie  deren  Verhältnis  zu  Ari  war,  müsste  noch  bestimmt  werden, 
und  solcher  schriftlichen  quellen  wird  der,  mag  man  ihn  nun  Verfasser  oder  be- 
arbeiter  nennen,  also  derjenige,  der  der  Njälssaga  die  gestalt  gegeben  hat,  in  der 
sie  uns  jetzt  vorliegt,  noch  mehrere  gehabt  haben.  Damit  komme  ich  zu  dem 
gleichen  resultat  wie  Heusler  in  seiner  anzeige  DL.  1909,  sp.  735:  es  werden  die 
Gunnarssaga,  die  von  F.  J.  genannte  ältere  Njälssaga  gewesen  sein,  vielleicht  auch 
schon  die  Brjänssaga,  aus  der  er  die  beschreibung  der  schlacht  von  Clontarf  ge- 
nommen hat.  Diesem  mann  wird  man  dann  auch  die  ausführliche  Schilderung  der 
prozesse,  sowohl  in  der  Gunnarssaga  wie  in  der  eigentlichen  Njäla,  zusprechen 
dürfen. 

Zur  aufhellung  dieser  prozesse  selbst  hat  F.  J.  bereits  früher  wichtiges  bei- 
getragen, besonders  in  seiner  abhandlung  'Om  Njäla'  (Aarb.  f.  nord.  oldk.  og  bist. 
1904,  s.  89ff.),  und  ich  glaube,  dass  sein  Standpunkt,  dass  ein  geschriebenes  gesetz- 
buch   diesen   Schilderungen  nicht  zugrunde  liegt,   der  richtige  ist,  dass  die  Grägäs 


1)  [Im  ausländ  diese  korrektur  lesend  ist  es  mir  im  augenblick  nicht 
möglich,  die  stelle  der  Kr.,  die  im  manuskript  versehentlich  fehlt,  zu  bestimmen. 
Korrekturnote.l 


ÜBER   J('»X>SSOX,    BKENXU-XJALSSAGA  371 

nicht  als  absolut  riclitiger  massstab  gelten  darf,  sondern  dass  man  vielfach  ältere 
rechtszustände  und  rcchtsbestimmungen  annehmen  muss. 

Dankbar  wird  man  für  die  Zeittafel  sein. 

Es  mögen  nun  noch  ein  paar  einzelheiten  folgen.  Zu  dem  beinanien  glgja 
des  Mgrö,  I,  1,  hätte  vielleicht  auf  Hortense  Panum  ('De  folkelige  strengeinstru- 
menter  i  Norden'  in  'Aarsberetning  for  1905  fra  Foreningen  til  norke  Fortidsmindes- 
mserkers  Bevaring',  s.  134  ff.)  hingewiesen  werden  können. 

Der  beinarae  buna,  I,  5,  hätte  eine  beraerkung  verdient,  da  die  bedeutung 
ungewiss  ist  und  verschiedene  erkJärungeu  vorliegen  (Möbius'  Glossar,  das  doch 
als  Wörterbuch  für  die  sagabibliothek  gedacht  ist,  aber  nur  eine  'scaturigo'  angibt, 
vgl.  Gering,  Anm.  zu  Eyrb.  I,  1  und  Finnur  Jönsson,  'Tilnavne  i  den  oldislandske 
Oldlitteratur',  s.  222  f.).  Zu  der  szene,  in  der  Hrüt  von  den  diebsaugen  der  kleinen 
Hallgerö  spricht,  bildet  die  in  der  Sturla  1,  367  (ed.  Kulund),  erzählte  eine  gewisse 
parallele :  Porvald  Gizuarson  stellt  dem  Sighvat  Sturluson  seine  kinder  vor ;  von 
den  einen  sagt  er,  dass  es  wenige  gäbe,  die  tüchtiger  seien,  bei  einem  aber  der 
zweiten  gruppe  schweigt  er  und  sieht  lange  auf  ihn  hin  und  sagt  schliesslich : 
'nicht  gefallen  mir  die  gerunzelten  brauen'.  Die  deuten  nämlich  auf  eine  tückische 
gemütsart.  In  der  anm.  zu  II,  12,  in  der  darüber  gesprochen  wird,  wo  in  Island 
die  hochzeit  gefeiert  zu  werden  pflegte,  ob  im  hause  der  eitern  der  braut  oder  in 
dem  des  bräutigams,  hätte  vielleicht  meine  abhandluug  'Der  ort  der  hochzeit  zur 
sagazeit  auf  Island',  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  volksk.  11,  40  ff.,  erwähnt  werden  können, 
in  dem  ich  eine  Statistik  aus  den  sagas  dariiber  aufgestellt  habe.  Zu  töti,  III,  1. 
das  bei  Möbius  fehlt,  hätte  eine  bemerkung  gehört.  Freilich  weiss  man  nichts  ge- 
naueres über  das  wort  (vgl.  F.  J.  Tilnavne,  s.  208).  Ebenso  hätten  die  beinamen  söti 
s.  179  -,  elda  s.  181  ^*,  Viga-  (Hrappr)  s.  193  ^,  sneplll  s.  275  -",  hrimUl  s.  275  -  er- 
klärt werden  können,  man  vgl.  über  sie  F.  J.  a.  a.  o.  Des  öfteren  finden  sich  in 
den  anmerkungeu  hinweise  auf  andere  Schriften,  auch  andere  bände  der  sagabibliothek, 
ohne  dass  angegeben  wird,  was  dort  steht.  Das  scheint  mir  nicht  ganz  richtig  zu 
sein.  Die  bände  der  sagabibliothek  kommen  doch  vielfach  in  die  bände  von  lernenden, 
die  nicht  alle  bände  besitzen,  geschweige  denn  in  der  läge  sind,  entlegenere  buch  er 
oder  abhandlungen  einzusehen.  Denen  ist  also  mit  blossen  hinweisen  wenig  ge- 
holfen. Solche  finden  sich  z.  b.  zu  s.  11  ",  --,  s.  64  ^".  Zu  s.  24  '  hätte  sniUnhrok, 
der  in  der  Sturlubök  der  Landn.  vorkommende  andere  beiname  der  Hallgerö  eine 
«rklärung  verdient.  F.  J.  übersetzt,  Tilnavne  s.  239,  'eine,  deren  hose  sich  gewendet 
hat  (umgekehrt  ist).  Man  weiss  nicht  recht,  was  man  damit  anfangen  soll.  Viel- 
leicht hilft  ein  anderer  beiname  zum  richtigen  Verständnis.  Sturl.  1, 185  (ed.  Kälund) 
wird  ein  Rüuölfr  snüinhn'mi  genannt,  der  seinen  beinamen  davon  erhalten  hatte, 
dass  er  ein  geschenk,  das  er  einem  mann  gegeben,  zurückgenommen  und  dessen 
gegner  verehrt  hatte.  Wörtlich  bedeutet  der  name  'mit  gedrehten  augenbrauen', 
80  F.  J.,  Tiln.,  s.  199;  der  sinn  muss  aber  doch  wohl  ,wankelmütig'  sein.  Vielleicht, 
dass  solche  augenbrauen  das  anzeichen  solcher  Sinnesart  waren,  vgl.  das  oben  gesagte 
über  die  auf  tückische  gemütsart  deutenden  gerunzelten  brauen,  wie  man  ja  in 
zusammengewachsenen  augenbrauen  auch  etwas  unheimliches  sieht,  das  auf  hexerei 
deutet.  Es  könnte  nun  auch  hrüni  ableitung  von  hrün  'ein  kleidungsstück,  teil 
t-'ines  kleides',  Fritzn.,  Ordb.  1,199a  sein;  snüa  am  wird  vom  umdrehen  der  kleider 
gebraucht,  Fritzn.  3,  466  a  (vgl.  Norges  gamle  love  5,594b).  'Einer,  der  sein  klcid 
umdreht'  könnte  ganz  gut  für  die  Situation  passen ;  es  würde  etwa  den  sinn  des 
dän.  'vendekaabe'  haben,  womit  es  schon  Rygh  übersetzt  hatte.    Ist  diese  ableitung 


372  KA1I1.I-:    ÜBER   .I(')NSS()N,    HHENNU-N.TALSSAGA 

die  richtiiiT,  (hmii  dürfte  auch  vielleiclit  sninnhrük  ähnliches  bedeuten,  was  ja  ganz 
gut  zum  Charakter  der  Hallgerö  stimmen  würde. 

Zu  s.  27  -■'  hätte  die  genauere  hedeutung  von  siikk  angegeben  werden  müssen, 
da  das  wort  bei  Möbius  fehlt.  Dass  bei  diesem  nicht  vorkommende  Wörter  nicht 
erklärt  werden,  kommt  noch  öfter  vor.  XIII,  16  eic)i  sTcal  tinn  eidr  alla  verda  will 
F.  J.  mit  'keine  regel  ohne  ausnähme'  übersetzen ;  mir  scheint  der  sinn  eher  zu 
sein:  'das  gleiche  trifft  nicht  alle'.  Zu  skarhand  vgl.  jetzt  Gebhardt,  Ark.  f.  nord. 
fil.  25,  84  ff.  Die  anm,  zu  s.  75  '^  'ganz  wie  hier  treten  die  königinnen  in  den  Atla- 
mäl  68'  auf,  verstehe  ich  nicht.  In  den  Atlamäl  treten  die  königinnen,  Brynhild 
und  Guörün,  überhaupt  nicht  zusammen  auf.  Den  zank  zwischen  Hallgerö  und 
BergJ^öra  in  c.  35  könnte  man  allenfalls  dem  berühmten  zank  der  königinnen  ver- 
gleichen; der  ist  aber  in  einem  Eddalied  überluiupt  nicht  erhalten,  sondern  nur  in 
der  Vglsungasaga.  Zu  grid  s.  86 '-'  hätte  bemerkt  werden  können,  dass  das  wort 
hier  und  noch  öfter  falsch  angewendet  worden  ist  (vgl.  Lehmann-Schnorr  v.  Carols- 
feld  'Die  Njälssaga  usw.'  s.  20).  Der  verweis  auf  Laxd.  c.  34,  8  zu  kinnhestr,  s.  109  '°, 
nützt  wenig,  da  das  wort  dort  gar  nicht  erklärt  wird.  Falk-Torp,  Norwegisch- 
dänisches etymologisches  Wörterbuch ,  erinnern  an  foli  'fohlen'  als  scherzhafte 
Umschreibung  desselben  begriffes  und  vermuten,  dass  die  ohrfeige  mit  dem  aus- 
schlagen eines  pferdes  verglichen  wird.  Zur  auslassung  des  verbums  vera  in  der 
konstruktion  pv!  at  tnir  skal  ek  per  l  rddum  c.  49,  3  vgl.  jetzt  Neckel,  Zfdph. 
40, 475.  In  der  Njäla  begegnet  diese  konstruktion  noch  c.  58,  18 :  at  ßü  myndir 
göör  af  hestinum,  und  c.  131,  18:  at  ck  skal  irür  Kara  i  plhiin  »r/öw«?.  Ob  die  er- 
klärung  des  beinameus  harnakarl,  s.  125  **,  nämlich  er  sei  daher  gekommen,  dass 
es  sitte  der  AVikinger  gewesen  sei,  kinder  in  die  luft  zu  werfen  und  mit  den  Speer- 
spitzen aufzufangen,  und  Olvir  habe  dies  verboten,  wirklich  die  einzig  richtige  ist, 
erscheint  mir  doch  zweifelhaft.  Ist  das  grausame  spiel  in  der  tat  so  oft  ausgeübt 
Avorden,  dass  es  als  stehende  sitte  der  Wikinger  angesehen  werden  darf,  und  hat 
nicht  die  nachrede  der  feinde  oder  entstellung  späterer  christlicher  zeit  mit  dazu 
beigetragen,  die  Wikinger  in  diesen  üblen  ruf  zu  bringen?  Jedenfalls  glaube  ich 
nicht,  dass  mau  die  von  Fritzner,  Ordb.  1,115  a  ausgesprochene  meinung,  dass 
Olvir  seinen  beinamen  wegen  kinderreichtums  erhalten  habe,  wie  z.  b.  Barna-Kiall- 
akr,  so  kurzerhand  abweisen  darf  (vgl.  noch  Boer,  Anm.  z.  Grettiss.  c.  3, 4  und 
A.  Bugge,  Vikingerne  2.  saml.  s.  76).  Zu  der  konstruktion  in  dem  satz:  Gunnarr 
var  i  rauöam  kyrtli  ok  hestastaf  mikinn  l  henäi  vgl.  Nygaard,  Xorr.  syntax,  s.  31a. 
Die  anmerkung  zu  s.  155-":  '■dorn  wird  hier  nach  dem  volkstümlichen  gebrauche 
angewendet;  darin  ist  nichts  auffälliges',  ist  so  nicht  verständlich.  Sie  bezieht  sieh 
auf  die  ausführung  Lehmann-Schnorr  s.  22,  dass  domr  hier  inkorrekt  verwendet  sei, 
indem  es  sonst  nur  die  wirklichen  gerichte,  nie  Schiedsgerichte  bezeichne.  Solche 
hinweise  auf  die  erwähnte  schrift  vermisst  man  auch  sonst  noch,  z.  b.  in  der  auin. 
zu  8.  283  •""",  zu  dömendr.  In  der  str.  6  "  liat  aj-gr  eine  weitere  bedeutung  als  ,feige" ; 
es  heisst  vielmehr  'unmännlich,  weibisch,  Zauberkünste  treibend'  und  zielt  auf  die 
langen  priesterlichen  gewänder  (vgl.  meine  bemerkung  zur  gleichen  stroplie.  Kr.  str.  4). 
Dass  Eyjölf  B9lverksson,  anm.  zu  s.  254  ^  c.  138,  2,  der  zweite  grosse  rechtsgelehrte 
genannt  wird,  ist  eiu  versehen ;  es  steht  dort  pridi.  Str.  14  ^  haughlipar,  verdruckt 
für  baufjahl/par.     In  str.  15  -  ist  d  lande  doch  wohl  gleich  d  Islande. 

Dass  übrigens  die  anmerkungen  eine  reiche  fülle  von  erklärungen  bieten, 
uns  ausblicke  nach  allen  seifen  gestatten,  ist  wohl  überflüssig,  besonders  hervor- 
zuheben.    Eiu    nachtrag    handelt    über   die    alte   geldwährung   und  geldberechnung. 


WUNDERLICH   ÜBER   WILMANNS,   DEUTSCHE    GRAMTMATIK  373 

Darauf,  dass  es  mit  der  von  F.  J.  zugrunde  gelegten  Grägässtelle  nicht  zum  besten 
steht,  hat  schon  Heusler  in  seiner  oben  erwähnten  anzeige  hingewiesen.  Zu  der 
schwierigen  frage  vgl.  man  jetzt  Valtyi"  Guömundsson  'Solvkursen  ved  är  1000'  in 
Nord.  Tidsk.  f.  Filologi,  8.  r.,  7.  bd.,  s.  55  ff. '. 

1 )  [Vgl.  ferner  Neckel,  Zfda.  52,  44.     Korrekturnote.] 

HEIDELBERG.  K.    KAHLE. 


Deutsche  grammatik  (gotisch,  alt-,  mittel-  und  neuhochdeutsch)  von  W.  Wil« 
mauüs.  3.  abteilung:  flexion.  Erste  und  zweite  aufläge.  Strassburg, 
K.  J.  Trübner.  8».  1.  hälfte:  verbum.  1906.  X,  s.  1—315.  6  m.  2.  hälfte: 
nomen  und  pronomen.     1909.     VIII,  s.  317 — 772.     9  m. 

Mit  seiner  darstellung  der  flexion  hat  der  Verfasser  die  erste  formenlehre 
grossen  stils  gegeben,  die  den  anregungen  von  J.  Eies  folgt  und  an  die  geschicht- 
liche erklärung  der  verbal-  und  nominalformen  unmittelbar  auch  die  Untersuchung 
ihres  gebrauches  knüpft.  An  die  formenlehre  schliesst  sich  also  ein  teil  der  bis- 
herigen Syntax  an,  und  so  werden  zwei  gebiete  vereinigt,  die  auf  nachbarliches  zu- 
sammenrücken noch  wenig  vorbereitet  sind.  Bei  einem  darsteiler  von  den  an- 
sprüchen,  wie  sie  der  Verfasser  gegen  sich  selbst  erhebt,  eine  ungewöhnliche  aufgäbe, 
die  es  allein  schon  erklärt,  wenn  die  neue  abteilung  'später,  als  gewünscht  und 
gehofft',  auf  ihre  Vorgängerinnen  folgt  (vgl.  zu  dieser  Zeitschr.  27,  132  f.,  33,  529  f.). 
Auf  die  Vorzüge  oder  nachteile  der  neuerung  hier  schon  einz^igehen,  empfiehlt 
sich  um  so  weniger,  als  der  Verfasser  selbst  erst  bei  der  späteren  darstellung  der 
Syntax  glaubt,  die  Vorzüge  ins  volle  licht  rücken  zu  können.  Hier  im  zusammen- 
hange mit  der  formenlehre  erscheint  die  gebrauchslehre  als  etwas  fremdartiges,  ohne 
die  berührungspunkte  auch  nur  an  den  stellen  auszunützen,  wo  schon  die  bisherige 
Syntax  gewohnt  wai",  die  tatsachen  der  formenlehre  heranzuziehen.  Allerdings  wäre 
es  wenig  angezeigt  gewesen,  bei  den  vokalendungen  schon  die  Wirkungen  zur  geltung 
zu  bringen,  die  der  verfall  dieser  enduugen  auf  die  modusverhältuisse  ausübt,  inso- 
fern er  die  unterschiede  zwischen  Indikativ  und  konjunktiv  (opt.)  verwischt  (vgl. 
§  106,  8.  207).  Auch  bei  der  flexion  der  adjektiva  war  wohl  keine  gelegenheit,  die 
syntaktischen  grundlagen  hervortreten  zu  lassen,  auf  die  schon  Jakob  Grimm 
in  der  einleitung  zum  IV.  bände  der  Grammatik  hinweist:  'eine  der  vorstechen dsten 
eigenheiten  unserer  formenlehre,  den  unterschied  starker  und  schwacher  deklinationen 
tut  uns  erst  die  syntax  in  seiner  Wichtigkeit  dar'  s.  VI.  Der  verf.  holt  dies  später 
nach  (s.  437):  'in  der  allmählichen,  von  dem  syntaktischen  wert  der  worte  abhängigen 
ausbildung  der  adjektivflexion  sehe  ich  den  grund  für  ihre  mannigfaltigkeit'. 

Wohl  aber  hätte  bei  den  passivformen  schon  die  formenlehi'C  anlass  geboten, 
den  Zusammenhang  mit  der  syntax  herzustellen.  In  §  4  (s.  8)  wird  mitgeteilt, 
dass  die  'eigentümlichen  endungen  des  medio-passivs  in  den  germanischen  sprachen 
früh  untergegangen  sind';  dabei  fehlt  jeder  hinweis  auf  die  zusammengesetzten 
formen,  die  ihrerseits  in  der  gebrauchslehre  (§§  73  ff.,  s.  135  ff.)  zum  worte  kommen, 
ohne  die  frage  hervorzurufen,  ob  und  wie  weit  sie  zur  Verdrängung  der  alten 
endungen   beigetragen   haben.     Und  wenn  dann  an  seinem  orte  (§  150,  s.  302)  der 

ZEITSOHIITFT    F.    DEUTSCHE   PIIILOLOfilK.      Bü.  XLH.  25 


f\7l  WUNDERLICH 

gebrauch  der  passivforraen  zur  darstellung  kommt,  so  mangelt  diese  des  geschiclit- 
lichen  hiutergrundes,  und  diesem  mangel  helfen  auch  Verweisungen  nicht  mehr  ab. 
Sonst  ist  an  der  ausmalung  des  geschichtlichen  hintergrundes  wahrhaftig 
nicht  Sfespart  worden.  Gerade  hier  bewährt  sich  die  kunst  der  verauschaulichuug, 
die  den  Verfasser  auch  innerhalb  der  verwickelten  fragen  auszeichnet.  Die  tragweite 
der  gesicherten  ergebnisse  der  forschung  voll  ausnützend,  vermag  er  die  Verbindungs- 
linie von  den  deutschen  oder  den  germanischen  einzelheiten  zu  den  rückwärtigen 
der  indogermanischen  spracheiuheit  zu  ziehen,  meist  ohne  sie  durch  hypotheseu  zu 
belasten  oder  gar  durch  beiwerk  zu  verhüllen.  Vor  allem  aber  werden  in  dieser 
darstellung  die  kräfte  wieder  lebeadig,  die  alle  jene  Veränderungen  herbeigeführt 
haben.  In  der  formenlehre  des  verbums  ist  nach  dieser  richtung  des  guten  fast  zu 
viel  getan.  Unsere  spräche  hat  in  die  Schubfächer,  die  für  die  vergleichende 
Sprachforschung  gelten,  oft  so  wenig  einzuwerfen,  dass  für  manche  ein  wort  der 
einleitung  oder  eine  anmerkung  ausreichte.  Da  steht  es  doch  im  raissverhältnis, 
wenn  §  13  (s.  23)  augmenttempora  und  aorist  besprochen  werden,  obwohl  nur 
ganz  vereinzelte'  und  dazu  problematische  entsprechungen  zur  seite  stehen,  wie  iddjn 
und  scrirun. 

In  der  erklärung  der  ablautverhältnisse  ist  W.,  wie  schon  angedeutet,  zurück- 
haltend und  konservativ,  dagegen  bringt  er  in  die  gliederung  der  ablautreihen  eine 
neuerung.  Er  scheidet  zwischen  verben  mit  voll  entwickeltem  ablaut  und  solchen 
mit  schwächer  entwickeltem  oder  ganz  fehlendem  ablaut.  Gewiss  liefert  der  erste 
typus  eine  ziemlich  geschlossene  gruppe,  die  reihen,  die  man  sonst  unter  1-B  zu- 
sammenfasste,  got.  steigan,  hiudan,  niman,  gihan,  alles  thematische  verba  aus 
e-wurzeln  mit  wurzelbetonung  im  praesens.  Aber  im  zweiten  typus  gehen  die  ein- 
zelnen reihen  doch  zu  weit  auseinander,  um  sich  in  eine  gruppe  zu  fügen:  auf  der 
einen  seite  farax).  mit  ablaut  zwischen  praesens  und  praeteritum,  auf  der  anderen 
Seite  Utan,  hwöpan,  haldan  mit  ihren  im  gotischen  reduplizierten  formen,  die  W. 
nach  der  älteren  auffassung  auch  für  das  e  der  deutschen  praeterita  verbindlich 
macht.  An  der  reduplikation  als  erklärung  für  den  langen  wurzelvokal  im  plural 
des  praeteritum  der  klasseu  niman,  gihan  {nemun,  nahmen;  gebmi,  gaben)  hält 
W.  ebenfalls  fest,  wonach  beim  schwinden  des  wurzelvokals  die  reduplikutionssilbe 
um  so  mehr  an  ton  gewonnen  habe.  Die  entfernung  des  wurzelhaft  verlautenden 
konsonanten  will  er  aber  nicht  mit  Osthoff  auf  streng  lautgesetzlichem  wege 
erklären  (ausgangspunkt  die  lautgesetzliche  entwicklung  von  sed  aus  sesd),  sondern 
er  rechnet  mit  einer  'freien  beseitiguiig  der  störenden  elemente',  namentlich  'solcher, 
die  zu  weit  abstanden  von  den  übrigen  formen  des  verbums'.  Dass  sich  diese  besei- 
tigung  aber  so  glatt  und  vollständig  restlos  vollzogen  haben  soll,  bleibt  immer  auf- 
fallend. Das  althochd.  r  im  praet.  von  scrian,  büan^  stösan  will  W.  nicht  aus  der 
reduplikation  erklären,  sondern  er  nimmt  es  mit  Zarncke  (P.  Bb.  15,  350)  als  einen 
übergangslaut,  der  sich  nach  kurzer  offener  silbe  einstellte.  Dafür  tritt  nunmehr 
(P.  Bb.  32,  s.  490  ff.)  auch  Feist  ein,  der  im  übrigen  der  gotischen  reduplikation 
aufs  neue  das  recht  bestreitet,  als  ausgangspunkt  des  deutschen  e-typus  zu  gelten. 
Mit  besonderem  geschick  gelingt  es  dem  Verfasser,  bei  den  ablautverhältnissen 
die  linie  gesetzmässiger  entwicklung  jeweils  im  fortlaufenden  flusse  zu  ziehen  und 
dann  erst  die  eingriffe  und  die  Störungen  der  gesetzmässigkeit  unter  gesichtspunkten 
zusammenzufassen,  die  aus  dem  gewirr  der  einzelheiten  auf  die  treibenden  kräfte 
weisen.  Ein  glanzpunkt  ist  hier  der  abschnitt  'Spaltung  und  Umgestaltung 
der  ablautreihen'  (§§  23-27,  s.  B9-48).    Er  umfasst  die  differenzierungen,  die 


ÜBEK   WILMANNS,   DEUTSCHE    GRAilMATIK  375 

in  den  einzelnen  sprachen  die  besonderen  lautverhältnisse  verursachten  (gotisch : 
bairan,  baurans  neben  niman,  numans  u.  a.,  althochdeutsch  geban,  Juifan  neben 
bitten,  bintan,  biugu,  neben  biogan ;  faru  neben  feris  u.  a.),  die  Spaltungen,  die 
die  lautveränderungeu  in  der  entwicklung  vom  mhd.  zum  nhd.  erfahren  {begonnen 
neben  gebunden;  vergessen  neben  lesen;  nehme  zu  nimmst  u.  a.).  Als  form- 
iibertragungen  des  neuhochdeutschen'  werden  die  ausgleichungen  zwischen  den 
einzelnen  formen  im  verbalsjstem  behandelt  (vgl.  stieg,  stiegen  gegen  steig, 
stigun:  vgl.  galt,  galten  gegen  galt,  gulten ;  gehen  gegen  gibe).  Dazu  kommen  die 
ausgleichungen  in  den  vom  grammatischen  Wechsel  betroffenen  formen,  die  vom 
althochdeutschen  an  (shiog  nach  sluogum  zu  slahan)  bis  zum  neuhochdeutschen  ver- 
folgt werden,  wo  nur  noch  gewesen  neben  war  und  gediegen  neben  gedieh  an  die 
alten  Verschiedenheiten  erinnert. 

Die  abschnitte  vom  gebrauch  der  wortformen  zeichnet  eine  vollkommene  be- 
herrschung  der  syntaktischen  literatur  aus,  die  bei  alleu  einzelheiten  nicht  nur  durch 
nennung  einschlägiger  monographien,  sondern  auch  durch  hinweise  auf  die  betreffen- 
den stellen  in  den  grösseren  lehrbüchem  angemerkt  ist.  Aber  auch  lückeu  hat  der 
Verfasser  in  der  bisherigen  forschung  festgestellt,  und  er  hat  sie  teilweise  —  meist 
durch  arbeiten  von  schülern  —  auszufüllen  gesucht.  Dass  diese  arbeiten  vorzugs- 
weise der  älteren  Übersetzerliteratur  sich  zuwandten,  steht  im  Zusammenhang  mit 
dem  darstellungsprinzip  des  Verfassers,  der  bei  der  entwicklungsgeschichte  der  ein- 
zelnen deutschen  fügungen  an  erster  stelle  so  viel  belege  aus  der  Übersetzerprosa 
beibringt.  Und  wenn  auch  an  manchen  orten  auf  die  abhängigkeit  hingewiesen 
wird,  in  der  die  Übersetzer  zu  ihrer  vorläge  und  damit  zu  den  fügungen  einer 
fremden  spräche  stehen,  so  können  solche  vereinzelte  bemerkungen  doch  das  bild 
kaum  mehr  ändern,  das  dem  leser  aus  der  reihenfolge  und  der  raumverteilung  bei 
diesem  Stoffe  entgegendringt.  Gewiss  ist  vorsieht  geboten,  will  man  den  poetischen 
denkmälern,  die  von  einer  unmittelbaren  vorläge  nicht  abhängen,  anhaltspunkte 
abgewinnen ,  die  auf  deutsche  eigenart  und  heimische  fügungen  w'eisen ,  aber 
solche  anhaltspunkte  sind  da,  und  sie  können  an  dem  widerstand,  den  die  Über- 
setzer —  selbst  der  des  Tatian  —  da  und  dort  dem  lateinischen  gefüge  leisten,  ge- 
festet und  weitergeführt  werden.  Gleich  die  betrachtung  der  nominalformen  des 
verbums,  vor  allem  die  des  Infinitivs,  hätte  in  dieser  richtung  an  Übersichtlichkeit 
und  an  ursprünglicher  einfachheit  gewonnen,  wenn  der  Verfasser  von  dem  gebrauch 
ausgegangen  wäre,  der  im  Hildebrandsliede,  im  Heliaud,  ja  selbst  noch  bei  Otfrid- 
sich  so  deutlich  von  den  latinisierenden  Wendungen  des  sklavischen  Tatianübersetzers 
und  von  den  etwas  gekünstelten  fortschritten  bei  Notker  abhebt  (vgl.  besonders 
§  70  s.  125  f.,  s,  128  f. ).  Mit  dem  verzichte  auf  die  ausnützung  der  Heliandbelege 
stossen  wir  an  einen  nachteil,  der  sich  aus  der  behandlung  der  syntax  innerhalb 
dieser  gesamtdarstellung  der  deutschen  grammatik  ergibt,  insofern  die  bedingungen, 


1)  Auch  für  einige  'entgleisungen'  im  althochdeutschen  sucht  der  Verfasser 
anschluss  an  das  obige  Stichwort.  Sie  weisen  aber  teils  in  einen  aiulercn  Zusammen- 
hang (vgl.  §  17  zu  girochan  u.  a.),  teils  gehören  sie  mehr  der  mittelhochdeutschen 
zeit  an. 

2)  Doch  das  gnomische  Praeteritum  (§  95,  s.  183),  von  dem  W.  sagt,  es  sei 
in  älterer  zeit  häufiger  beobachtet  als  jetzt,  und  das  er  hauptsächlich  aus  Otfrid 
belegt,  führt  deutlich"  auf  lateinische  Wendungen  zurück.  Ganz  aiulcrs  verhalten 
sich  demgegenüber  einige  belege  aus  Walther,  die  sich  mehr  mit  dem  praeteritum 
in  Wunschformen  berühren. 


376  WUNDERLICH 

die  für  andere  teile  gelteu,  aucli  für  die  syntax  massgebend  werden.  Wälireud  die 
altsächsische  dichtung  an  lauterscheinungen  und  formen  wenig  aufweist,  was  zum 
Verständnis  des  althoclideutschen  bestandes  notwendig  herangezogen  werden  müsste, 
zeigt  das  gotische  auch  in  der  gattuuy  der  Übersetzerprosa,  in  der  es  uns  fast  allein 
überliefert  ist,  so  viel  älteres  und  ursprünglicheres,  dass  es  im  allgemeinen  ohne 
schaden  dem  deutschen  vorangestellt  werden  kanu '.  A.ber  auf  dem  gebiete  der 
Syntax  ist  ein  Übersetzer,  der  dem  Aveit  fortgeschrittenen  satzbau  einer  vorläge 
gegenübergestellt  ist,  für  die  aufstelluug  ursprünglicher  heimischer  füguugen  wenig 
in  anspruch  zu  nehmen,  zumal  wo  die  kunst,  die  er  in  den  dienst  seiner  aufgäbe 
gestellt  hat,  noch  nicht  genau  umschrieben  ist.  Hier  wäre  aus  der  altsächsischen 
und  auch  der  angelsächsischen  dichtung  mehr  ursprüngliches  zu  gewinnen  als 
aus  dem  gotischen.  Denn  schon  für  jene  zeit  gilt  der  satz,  den  die  syntax  in  der 
heutigen  mundartenforschung  erweist,  je  weiter  die  Knien  in  laut  und  formen  aus- 
einandergehen, um  so  näher  berühren  sie  sich  in  der  satzfügung.  Auch  die  scharfe 
logik,  mit  der  der  Verfasser  zu  werke  geht,  wird  den  tatsächlichen  Verhältnissen 
der  sprachgebung  nicht  immer  gerecht.  Wenn  jemand  sagt,  '■mein  verstorbener 
freund  dachte  anders  darüber'',  '•schon  der  geschlossene  landtag  hat  beschlossen\ 
so  handelt  es  sich  hier  um  die  festen  Verbindungen  mein  verstorbener  freund  etc., 
die  auch  in  eine  erzählung  eingefügt  werden,  deren  zeitstufe  von  ihrer  eigenen  ab- 
weicht, nicht  aber  ''um  ein  partizip,  das  auf  einen  Vorgang  u-eisen  kann,  der  später 
eingetreten  ist,  nur  vom  Standpunkt  des  redenden  aus  betrachtet  der  Vergangenheit 
angehört''  (§  57,  s.  103;  ähnliches  gilt  von  §  58,  s.  105  u.  a.). 

Mit  recht  ist  §  69  (s.  123)  die  Substantivierung  des  infinitivs  später  auge- 
setzt und  sind  die  gotischen  belege  der  vorläge  zur  last  gelegt  worden.  Wirksam 
wird  das  vordringen  der  Substantivierung  in  parallele  gesetzt  mit  dem  zurück- 
weichen des  einfachen  verbalen  infinitivs  mit  zu,  so  dass  am  ende  fast  nur  die 
beiden  möglichkeiten  übrigbleiben :  u-i.i  zaeme  uns  mit  tu  strlten !  Nibel.  123,  1 
und  im  zaeme  niht  ze  dagene  2044,  1.  Freilich  so  reinlich,  wie  der  Verfasser  es 
glaubhaft  macht,  scheiden  sich  die  gruppen  doch  nicht;  manchen  unter  den  soge- 
nannten substantivierten  Infinitiven  ist  noch  vollere  verbalkraft  zuzusprechen  (s.  124). 
Für  die  Verbindung  'um  zu'  beim  Infinitiv  (§  71,  s.  129)  wären  aus  meiner  Unter- 
suchung zu  Stcinhövvel  und  dem  Dekamerou  (Hen-igs  archiv  84,  s.  277)  die 
ältesten  hochdeutschen  belege  aus  Steinhöwel  nachzutragen.  Ebeudort  habe  ich 
auch  schon  die  erklärung  angebahnt,  die  hier  nach  Pauls  Wörterbuch  gegeben  wird. 
§  72,  2  wird  für  den  abhängigen  infinitiv  die  forderung  aufgestellt:  'kommt  das 
Subjekt  des  abhängigen  verbums  im  regierenden  satz  nicht  vor,  so  kanu  der  Infinitiv 
nur  dann  gebraucht  werden,  wenn  sein  Subjekt  eine  unbestimmte  oder  aus  dem 
Zusammenhang  leicht  erkennbare  person  ist  und  die  bedeutung  des  regierenden 
Satzes  für  den  infinitiv  notwendig  ein  anderes  subjekt  voraussetzt'.  Das  alles  trifft 
doch  auch  für  die  wendung  'ich  wünsche  wohl  gespeist  zu  haben'  zu,  die  zudem 
in  manchen  gegenden  noch  in  der  ursprünglichen  form  'ich  wünsche  ihnen  wohl 
gespeist  zu   haben'   vorliegt.     Dass  man  dem  infinitiv  das  subjekt  zubilligen  sollte, 


1)  Dass  auch  dabei  die  Voranstellung  des  gotischen  zu  bedenken  anlass  gibt, 
ist  von  anderen  gegen  die  früheren  abteilungen  eingewendet  worden.  Auch  in  der 
vorliegenden  lässt  sich  manchmal  zeigen,  dass  die  ursprünglichkeit  oder  die  eigen- 
wüchsigkeit  der  deutschen  formen  hierdurch  verdunkelt  wird  (vgl.  z.  b.  §  23,  2; 
§  27,   1,  vgl.  die  frage  der  reduplikation  im  deutsilien  §  20  f.). 


ÜBER   WILMANN.S,    DEUTSCHE    GRAMMATIK  377 

(las  das  regierende  verbum  bei  sich  hat,  ist  doch  in  der  gesellschaftlichen  Situation, 
in  der  diese  formel  gebraucht  wird,  undenkbar.  Bei  dem  versuche,  den  abhängigen 
infinitiv  gegen  die  konkurreuz  durch  umschreibende  dasssätze  abzugrenzen  (§  72), 
sind  nicht  alle  feststellungen  gleich  einleuchtend.  Mit  recht  wird  der  grund  der 
Verschiedenheit  in  dem  Verhältnis  zwischen  objekt Verbindung  und  regierendem  satze 
gesucht  (§  72,  5),  während  vorher  (§  72,  3—4)  ein  zu  grosses  gewicht  auf  äussere 
begleitumstände  gelegt  war,  die  den  kern  des  Sachverhalts  nicht  berühren.  Die 
abgrenzung  der  verba  haben  und  sein  neben  dem  partizip  intransitiver  verba  (§§  79  ff., 
8.  147  f.;  vgl.  auch  §  77,  s.  142  f.;  vgl.  ich  habe  im  see  geschwommen  gegen:  ich  bin 
in  den  see  herausgeschwommen)  gab  gelegenheit,  die  von  Behaghel  aufgestellte, 
von  Paul  in  den  abhandlungen  der  Münchener  akademie  (XXII.  bd.,  1.  abt.)  ein- 
gehend begründete  erklärung  aus  dem  gegensatz  imperfektiver  und  perfektiver 
aktionsart  zur  geltung  zu  bringen.  Die  Schwierigkeit,  einem  doch  früh  aus  dem 
deutschen  sprachbewusstsein  schwindenden  gegensatz  gerade  für  die  erst  in  jüngerer 
zeit  sich  vollziehende  ausgestaltung  der  zusammengesetzten  verbalformen  so  nach- 
haltigen einfluss  zuzugestehen,  löst  der  Verfasser  durch  energischeres  zurückgreifen 
auf  die  alten,  in  den  früheren  deutungen  verwerteten  vorstellungsgruppen  der 
handlung  und  der  bewegung,  die  dem  gegensatz  der  aktionsart  allmählich  erwuchsen 
und  die  somit  eine  neue  trennungslinie  herbeiführten,  als  die  alte  sich  verwischte.  Wie 
durch  Störungen  aller  art,  vor  allem  durch  ausgleichungen,  die  mundartlich  verschieden 
verliefen,  auch  diese  neue  linie  wieder  verschoben  wurde,  das  ist  vor  allem  bei  den 
verbis  sitzen,  liegen,  stelin,  bleiben,  sein  gezeigt,  die  in  besonderer  gruppe  behandelt 
werden  C§  83,  s.  1B4  f.j.  Der  Wichtigkeit,  die  die  neuere  forschung  diesen  und  anderen 
spuren  des  ehemaligen  gegensatzes  der  aktionsarten  beilegt,  entspricht  es,  dass  die 
Partikel  ge  so  ausführlich  behandelt  wird  (§§  107—109,  s.  210—216).  An  vorarbeiten 
dafür  lag  freilich  nur  wenig  vor,  und  so  beschränkt  sich  W.  für  die  aufzählung 
auf  seine  eigenen  Sammlungen  zu  Walter,  bei  denen  er  im  gegensatz  zu  seiner 
sonst  so  erprobten  gliederungskunst  nicht  zur  Verarbeitung  seines  ersten  Schemas 
vordrang.  Er  stellt  nicht  weniger  als  10  Unterabteilungen  auf,  von  denen  mehrere 
zusammengelegt  werden  können  (2,  3  und  4;  6  und  7),  während  in  anderen  die 
eigentlichen  gliederungsgründe  durch  äusserliche  anhaltspunkte  zui-ückgedrängt  wer- 
den. Im  wesentlichen  handelt  es  sich  um  relative  und  nicht  relative  funktionen 
bei  den  Zeitformen  des  verbum  finitum,  um  das  praefix  bei  dem  von  hilfsverben 
abhängigen  infinitiv  und  um  das  praefix  beim  part.  praet.  Für  die  ersten  beiden 
gruppen  lässt  sich  auch  aus  der  darstellung  im  deutschen  wörterbuche,  wo  alle  die 
mit  ge  verstärkten  verben  einzeln  behandelt  werden,  manches  beibringen  (vgl.  jetzt 
z.  b.  getvirken).  Zum  Gebrauch  der  passivformen  (§  151,  1,  2)  wird  das  wesent- 
liche vielfach  durch  unwesentliches  in  den  schatten  gestellt.  Hier  war  gelegenheit 
geboten,  die  stilistische  seite  des  passivgebrauches  zu  streifen,  vor  allem  einzelne 
berufssprachen,  wie  die  Juristensprache,  heranzuziehen.  Bei  der  kongrueuz  (§  153) 
wird  zum  ersten  male,  und  in  einer  anmerkung,  auf  die  alliterierende  dichtung  bezug- 
genommen. Wenig  anschaulich  ist,  was  über  den  singular  des  verbums  neben 
pluralsubjekten  gesagt  wird;  es  werden  wohl  tatsachen  angeführt,  aber  sie  sind 
nicht  auf  der  seite  beleuchtet,  die  zur  erklärung  führt.  Bei  den  beispielen 
aus  Otfrid  handelt  es  sich  z.  b.  einfach  um  abstrakta,  deren  bedeutung  den 
Singular  zulässt,  so  dass  eine  pluralform  hier  ganz  überflüssig  wäre.  Treft'end  da- 
gegen wird  §  154  der  pluralis  auctoris  und  majestatis  (l.person)  gegen  den  pluralis 
reverentiae  (2.  person)  in   anschaulicher  kürze  behandelt;   hier  kommt  färbe  und 


378  WIINDKKIJCH 

leben  in  die  aucli  nacli  der  kulturgescliiclitüchen  seite  mustergültige  darstelluiig. 
Dagegen  fehlt  (§  155,  1)  bei  der  einbürgerung  eines  persönlichen  pronomens  der 
1.  oder  2.  person  im  relativsatze  (ihr  fürsten,  die  ihr)  der  geschichtliche  hinter- 
grund.  Die  gruppe  ist  zudem  nicht  am  richtigen  orte  eingeschoben.  Die  deutung 
des  koujunktivs  praet.  in  Wendungen  wie  über  den  berg  wären  wir  u.  a.  (§  116,  4, 
s.  234)  hat  mich  wenig  überzeugt,  doch  gebe  ich  zu,  dass  meine  erklärung  (vgl. 
Satzbau  I,  364 :  Umgangsprache  s.  214  ff.)  auch  vielfach  angefochten  wird  —  nach 
meiner  Überzeugung  freilich  nur  deshalb,  weil  die  gegner  zu  wenig  mit  der  eigenart 
volkstümlicher  rede  vertraut  sind. 

Kurz  und  treffend  in  der  raumverteilung  ist  der  abschnitt,  der  in  der  flexion 
des  nomens  die  Vorbedingungen  kennzeichnet,  aus  denen  die  deutschen  nominalforraen 
erwuchsen  (§  156  ff.).  Hier  ist  die  mannigfaltigkeit  der  indogermanischen  Verhältnisse 
nicht  zum  schema  benutzt  worden  für  die  darstellung  der  so  viel  einfacheren  glie- 
derung  im  deutschen ;  nur  zur  erhellung  des  geschichtlichen  hintergrundes  wird  das 
alte  kasussystem  herangezogen,  wobei  sich  der  Verfasser  vielfach  der  anmerkungen 
bedient.  Dass  die  ergebnisse  der  neueren  forschung  trotzdem  hier  nicht  zu  kurz 
kommen,  zeigen  viele  einzelheiten.  So  wird  beim  dativ-ablativ  des  pluralis  (s.  323), 
dessen  endung  ja  nicht  dem  indogermanischen  dativ-ablativ  {bhyas,  lat.  bus)^  sondern 
dem  alten  Instrumentalis  entspricht,  auf  gleichartige  lateinische  dativformen  ver- 
wiesen. Bei  den  einzelnen  strittigen  fragen  werden  dem  leser  die  auhaltspunkte 
geboten,  die  ihm  ein  eigenes  urteil  ermöglichen.  Dabei  lässt  der  Verfasser  über 
seine  auffassung  keinen  zweifei,  ob  er  nun  feststellt,  dass  die  frage  noch  nicht 
spruchreif  sei  (vgl.  z.  b.  den  gegensatz  von  got.  baur,  wair  gegen  ahrs  s.  321),  oder 
ob  er  zu  einer  der  vorgetragenen  ansichten  Stellung  nimmt,  wie  bei  der  wendung 
zi  houbiton,  die  er  nicht  aus  einem  siugular  des  Instrumentalis,  sondern  mit  0  s  t- 
hoff  aus  dem  gegensatz  gegen  zu  fassen  deutet  (324)  u.  a.  Bei  der  endung  im 
des  dat.  pluralis  der  i-maskulina  schliesst  sich  W.,  wie  auch  sonst  häufig,  einer 
erklärung  B e t h g e s  an,  der  gegen.Streitberg  eine  alte  bildung  mit  tiefstufigem 
Suffix  aufstellt.  Für  die  althochdeutschen  endungen  auf  un  und  ün  der  n-deklination 
in  ihrem  gegensatz  gegen  gotische  an,  ans,  6ns,  6n  verwirft  W.  die  etwas  kompli- 
zierten erklärungen,  die  bei  der  annähme,  dass  das  idg.  o  zwar  im  got.  allgemein 
zu  a  geworden  sei,  im  hochdeutschen  aber  seine  dunklere  färbung  behalten 
habe,  nunmehr  mit  mannigfachen  formübertragungen  rechnen  müssen.  Er  gesteht 
der  endung  6n  mit  Kluge  eine  neigung  zu  ün  zu,  die  vor  dem  dentalen  nasal 
sich  durchgesetzt  habe,  während  vor  dem  kräftigen  m  das  o  sich  behauptete  (§  167, 
s.  348).  Diese  zweite  erklärung,  der  W.  beitritt,  ist  jedoch  mehr  als  Vermutung 
dargestellt  und  nicht  weiter  durchgeführt.  Ansprechend  ist  bei  dem  unterschiede 
von  gebd  im  nom.  plur.  gegen  sunte  die  Vermutung,  dass  das  von  N  o  t  k  e  r  als 
länge  gekennzeichnete  a  ursprünglich  vielleicht  kurz  gewesen  und  erst  später  ge- 
längt worden  sei  (§  163  s.  334).  Der  abschnitt  'Verbreitung  des  Wort- 
schatzes über  die  deklinationen'  (§§  175— 183,  s.  359— 375)  ist  treffend  unter 
dem  gesichtspunkt  zusammengestellt,  dass  die  typen,  in  denen  eine  grössere  anzahl 
von  Worten  sich  bewegen,  auch  die  grössere  kraft,  sich  zu  behaupten,  besitzen.  So 
ist  ein  besonders  dankenswerter  abschnitt  vorbereitet,  die  'Jüngere  ge staltung 
derdeklination'(§§  183-193,  s.  375-398),  bei  der  zu  der  älteren  grundbedingung, 
dem  verfall  der  endungen,  nunmehr  weit  stärker  noch  der  einfluss  eben  jenes  macht- 
verhältnisses  hinzutritt,  dem  zufolge  die  seltener  gebrauchten,  also  wenig  gestützten 
formen  untergieugeu.   Wie  sich  die  grenzen  der  alten  deklinationen  verschoben,  und 


ÜBER   WIL^rANNS,   DEUTSCHE    GRAMMATIK  379 

wie  eng  damit  auch  eiu  gesclilechtsvvandel  der  substautiva  vermischt  war,  das  wird 
hier  mit  einer  dankenswerten  fülle  der  belege  ins  einzelne  verfolgt,  wobei  zum 
schluss  auch  auf  die  Schicksale  der  namen  und  der  fremdwörter  (umlaut:  Frohste  u.  a., 
zu  einzelnen  Pronomhia,  nicht  Proiiominen)  neues  licht  fällt.  Den  schluss  der  formen- 
lehre  bilden  die  flexionslosen  formen  der  nomin  a  (§§  212—214,  s.  447  ff.), 
unter  denen  höchstens  Wendungen  wie  ze  erist  vermisst  werden. 

Beim  gebrauch  der  nominalformen  (§§  216  ff.,  s.  454  ff.)  werden  erst  die  be- 
dingungen  untersucht,  die  die  Veränderungen  und  Vereinfachungen  in  unserem  kasus- 
system  herbeiführten.  Neben  dem  chronologischen  prinzip,  das  mit  der  entwicklung 
jüngerer  und  Verdrängung  älterer  gebrauchsformen  rechnet,  wird  die  möglichkeit  betont, 
eine  räumliche  beziehung  verschiedenartig  aufzufassen  {im  schiffe  fahren,  lokativ ; 
mit  dem  schiffe,  iustrumentalis).  Ein  weiteres  moment,  das  die  Unsicherheit  steigerte, 
sieht  W.  in  dem  bedeutungswandel  der  verba,  die  gewohnheitsmässig  mit  Substan- 
tiven in  einem  aus  der  ursprünglichen  bedeutung  bedingten  kasus  verbunden  sind, 
und  die  nun  in  ihrer  neuen  bedeutung  eine  andere  auffassung  jenes  kasusverhältnisses 
entwickeln.  Mit  richtiger  beschränkung  setner  darstellung  auf  den  kasusgebrauch, 
wie  er  sich  in  unseren  ältesten  *  denkmälern  zeigt,  grenzt  der  Verfasser  den  nominativ 
gegen  die  casus  obliqui  ab,  bei  denen  er  die  engere  oder  losere  form  der  abhängig- 
keit  und  die  verschiedenen  Wortklassen,  von  denen  sie  abhängig  sind,  einzeln  be- 
obachtet; nur  die  kasus  bei  präpositionen  sind  in  einer  art  anhang  zusammengefasst. 
Den  schluss  l»ilden  die  gebrauchsformen  des  numerus  und  genus  der  Substantive,  die 
adjektivformen  und  das  wenige,  was  der  Verfasser  nach  seiner  abgrenzung  der  syntax 
hier  schon  bringen  konnte.  Beim  gebrauch  des  nominativs  überrascht,  dass  die 
verba,  die  neben  der  aktiv  transitiven  bedeutung  auch  eine  intransitive,  medial- 
passive haben,  erst  und  gerade  hier  behandelt  werden  (§  216,  2,  s.  457).  Bei  der 
aufstellung  (§  216,  5,  s.461),  dass  bei  manchen  verbis  eine  lokale  bestimmung  zum 
Subjekt  werden  könne,  ist  für  das  beispiel  aus  deniTatian  das  lateinische  vorbild 
(mensuram  superfluentem)  zwar  angegeben,  aber  zur  erklärung  nicht  verwertet. 
Eingehend  und  übersichtlich  ist  '■es  als  scheinsubjekt'  behandelt  (§  218  ff.,  s.  463), 
wenn  auch  die  darstellung  im  Zusammenhang  des  pronoraens  überhaupt,  die  nach 
dem  befolgten  System  ausgeschlossen  war,  noch  helleres  licht  geworfen  hätte.  Erst 
beim  akkusativ  werden  die  reflexiven  verba  behandelt,  die  ansprechend  nach  der  frage 
gegliedert  werden,  ob  das  reflexivpronomen  ausschliesslich  ein  objekt  zum  ausdruck 
bringt  {sich  tödten),  oder  ob  es  vielmehr  die  bedeutung  des  verburas  differenziert: 
sich  setzen  gegen  jemanden  wohin  setzen  (§  231,  s.  496  ff.).  Beim  genitiv  folgt 
der  Verfasser  den  weitgehenden  versuchen,  für  die  abhängigkeit  eines  Substantivs 
von  einem  anderen  die  Spielarten  zu  gliedern.  Auch  er  erkennt  einen  genitivus 
definitiv  US  und  explicativus  an  (§  275,  s.  579  ff.),  in  Wendungen  wie  das 
lastör  des  trunkes,  die  äugen  des  herzens.  Dass  die  pronominalformen  in  diesem 
Zusammenhang  nur  wenig  gestreift  werden,  habe  ich  schon  erwähnt.  Diese  zer- 
reissung  der  natürlichen  verbindungsbrücke  ist  durch  das  gewählte  System  bedingt. 
Zur  kongruenz  (§  355,  1,  s.  765)  macht  W.  darauf  aufmerksam,  dass  sie  beim  pro- 
uomen,  das  substautiva  vertritt,  nur  auf  numerus  und  genus,  nicht  auf  den 
kasus  sich  erstreckt.   Ansätze  zu  letzterer  sieht  er  in  abweichungen  im  gebrauch  des 

1)  Dass  die  ältesten  dcMkinäler  nicht  immer  auch  den  ältesten  gcbraucli  auf- 
weisen, ist  ja  bekannt.  Im  vorliegenden  fall  ist  dieser  tatsache  jedoch  keine  gewalt 
angetan. 


380  BINZ 

akkiisativs   und  genitivs,    die  er  §  2;^()   a.  4  und  §  333,  11  anführt  und  von  denen 
die  letztere  ohne  weiteres  einleuchtet. 

Dies  ist  nur  einer  unter  vielen,  nicht  immer  hervorgehobenen  fällen,  in  denen 
des  Verfassers  Scharfblick  punkte  erspäht,  die  die  syntaxforschung  bisher  wenig 
oder  gar  nicht  beachtet  hatte,  und  mit  freudiger  erwartung  dürfen  wir  nach  dieser 
leistung  dem  syntaxbaude  entgegensehen. 

BERLIN.  HERMANN   WUNDERLICH. 


Griistav  Trilsbach,  Die  lautlehr e  der  spätwestsäclieischen  evangelien. 

Bonn,  kommissionsverlag  P.  Hanstein,  1905.     174  s.  8 ".     m.  4. 
J.  Wilkes,   Lautlehre   zu  Alfrics  Heptatench  und  buch  Hiob.    (Bonner 

beitrage  zur  anglistik,  hg.  v.  M,  Trautmann,  heft  21).    Bonn,  P.  Hanstein,  1906. 

176  s.  8 ».  m.  5.60. 
Diese  beiden,  auf  eine  anregung  Bülbrings  zurückgehenden  arbeiten  haben 
so  vieles  miteinander  gemein,  dass  sie  zusammen  besprochen  werden  dürfen.  In 
der  ganzen  anläge  sind  sie  sich  völlig  gleich.  Im  engsten  anschluss  an  ihres 
Ichrers  Altengl.  elementarbuch  geben  sie  eine  vollständige  Statistik  der  in  den  be- 
treffenden Sprachdenkmälern  vorkommenden  belege  für  die  laute  der  betonten  silben, 
während  für  die  unbetonten  vokale  und  die  konsonanten  nur  dann  sämtliche  beleg- 
steilen aufgeführt  werden,  wenn  von  der  regelmässigen  entwicklung  abweichende 
formen  vorlagen.  3Iit  diesem  verfahren  sind  beide  Verfasser  absichtlich  über  die 
ihnen  von  ihrem  lehrer  gestellte  aufgäbe  hinausgegangen,  die  dahin  lautete,  solche 
formen  aus  den  texten  auszuziehen,  die  im  spätwestsächsischen  wechselnde  gestalt 
zeigen.  Man  darf  bezweifeln,  ob  die  Verfasser  nicht  besser  daran  getan  hätten, 
dem  rate  Bülbrings  zu  folgen.  Für  die  lautlehre  der  betonten  silben  standen  die 
grundzüge  doch  schon  fest;  eine  vollständige  Vorführung  aller  belege  war  für  diesen 
zweck  überflüssig.  Sie  hat  auch,  zumal  da  die  Verfasser  sich  fast  ganz  auf  die 
aufzählung  der  beispiele  beschränken  und  auf  erklärungen  verzichten,  den  nachteil, 
dass  regel  und  ausnähme  sich  nicht  deutlich  voneinander  abheben,  um  so  mehr, 
als  zufällige  Schreibfehler  auf  diese  weise  leicht  zu  einem  ilinen  in  Wirklichkeit 
gar  nicht  zukommenden  gewicht  gelangen.  Andererseits  ist  zuzugeben,  dass  diese 
sehr  fleissigen  und  im  ganzen  auch  richtig  geordneten  und  zuverlässigen  material- 
sammlungen,  die  eigentlich  spezialwörterbücher  (in  grammatikalischer  statt  in 
alphabetischer  Ordnung)  der  behandelten  texte  darstellen,  für  mancherlei  sprachliche 
zwecke,  z.  b.  auch  für  die  wortbildungslehre,  nützlieh  werden  können. 

Trilsbach  legt  seiner  Untersuchung  die  Skeatsche  ausgäbe  der  west- 
sächsischeu  evangelien  zugrunde ;  er  stellt  die  den  westsächsischen  sprachtypus  am 
reinsten  widerspiegelnde  hs.  Cp  des  Corpus  Christi  College  in  Cambridge  in  den 
mittelpunkt,  notiert  die  abweichungen  von  A,  B  und  C  und  lässt  die  in  der  ihm 
noch  nicht  zugänglichen  Brightschcn  ausgäbe  (Gospel  of  St.  John  etc.,  Boston  1904) 
benützten  übrigen  hss.  (Lakeland  fragment  und  die  keutischen  abschriften  K  und  H) 
ausser  betracht.  Er  konnte  dies  ohne  schaden  tun,  weil  diese  jüngeren  kopien  in 
Reimanns  dissertation  über  die  spräche  der  mittelkentischen  evangelien  schon 
systematisch  ausgebeutet  waren.  In  einer  zusammenfassenden  Übersicht  am  ende 
versucht  T.   die   für    die    verschiedenen   hss.  charakteristischen    eigentümlichkeiten 


ÜBER   TRILSBACH    UNO    WILKE.S,   LAUTLEHRE  881 

hervorzuheben.  Dass  ihm  das  völlig  geglückt  sei,  wird  mau  kaum  sageu  dürfen. 
Das  liegt  wahrscheinlich  daran,  dass  T.  sich  selbst  über  den  zweck  dieser  Zu- 
sammenstellung nicht  ganz  klar  war.  Es  gab  verschiedene  möglichkeiteu.  Man 
konnte  versuchen,  aus  den  abweichungen  der  handschrifteu  voneinander  Schlüsse 
für  die  Scheidung  nach  unterdialekten  innerhalb  des  spätwestsächsischen  zu  ziehen, 
mit  einiger  aussieht  auf  erfolg,  weil  die  handschrifteu  alle  ungefähr  der  gleichen 
zeit  entstammen  und,  zum  grösseren  teil  wenigstens,  ziemlich  genau  lokalisiert 
sind,  oder  man  konnte  aus  den  verschiedenen  Überlieferungen  die  lautformen  der 
originalhaudschrift  wiederherzustellen  versuchen.  Auf  beides  hat  T.  verzichtet;  er 
begnügt  sich  damit,  bei  jeder  handschrift  einige  von  den  nach  Sievers  und  Bülbring 
regelmässigen  spätwestsächsischen  formen  abweichende  erscheinungen  zu  notieren. 
Dabei  sind  gerade  die  feineren  nüancierungen  der  hss.  nicht  genügend  heraus- 
gearbeitet :  in  Cp  wären  z.  b.  die  Schreibung  cea  statt  ea  in  ceagan,  ceagon,  die 
Wandlung  von  weor  in  ivur  zu  erwähnen  gewesen ;  A  ist  den  übrigen  hss.  gegenüber 
auch  durch  einige  von  T.  nicht  beaclitete  züge  charakterisiert,  wie  die  verliebe  für  e 
statt  ea  vor  /*,  g,  c  im  silben auslau t,  für  entrundung  von  //  >  7,  für  weor  gegen 
ivur  von  Cp  B,  für  eo  <  e,  i  durch  w/«-umlaut  {cleopaö,  heora,  leofad,  hleonmiga, 
unaseoiood  gegen  clypad,  hyra,  lyfaö,  hlinunga,  unasiwod  in  Cp  B),  durch  Schwund 
eines  anlautenden  j  in  ear,  earwiad,  durch  a  im  partizip  gesawen,  ofslagen  gegen 
gesewen  in  Cp  B  C.  Die  in  B  häufigen  besonderheiten  eines  le  statt  ea  {abieh, 
gecies,  died,  dieöe  usw.)  und  ie  statt  ea  (bierme,  civierterne,  iert  usw.), 
eines  auslautenden  nc  statt  ng,  der  en  düngen  -gn,  -ynd,  -gr  statt  -en, 
-end,  -er  werden  von  T.  nicht  erwähnt,  ebensowenig  der  B  C  gemeinsame 
zug  des  inlautenden  u  für  /.  So  wäre  wohl  manches  hinzuzufügen  gewesen. 
Die  ausnahmslose  Übereinstimmung  sämtlicher  hss.  in  den  Schreibungen  bleda,  recels 
(so  auch  bei  Älfric  nach  Wilkes)  lässt  vermuten,  dass  deren  Stammvokale  nicht  auf 
westgerm.  (e  und  au,  sondern  eher  auf  ö  und  iu,  zurückzuführen  sind.  Dass  das 
handschriftenverhältnis  doch  nicht  so  einfach  ist,  wie  T.  in  anlehnung  an  Skeat 
annehmen  will,  hat  Bright  in  seiner  ausgäbe  des  Johannesevangeliums  s.  XXI  f. 
und  XXXVII  ff.  gezeigt.  Die  T.sche  arbeit  leidet  dadurch,  dass  text  und  belege 
nicht  typographisch  geschieden  sind,  an  einer  Unübersichtlichkeit,  die  sich  leiclit 
hätte  vermeiden  lassen. 

Der  Druck  der  Wilkes  sehen  Untersuchung  ist  von  diesem  fehler  zwar  frei, 
hat  dafür  aber  den  andern,  dass  weder  ein  inhaltsverzeichnis  beigegeben  nocli  der 
mindeste  versuch  einer  Zusammenfassung  der  wichtigeren  ergcbnisse  unternommen 
ist.  Hier  war  die  aufgäbe  von  der  T.schen  insofern  verschieden,  als  eigcntlicli 
nur  eine  einzige  handschrift  (Land  B  19  der  Bodleiana)  zu  beliandeln  war.  Da  die 
Greinsche  ausgäbe  derselben  im  ersten  bände  der  Bibliothek  der  angelsächsischen 
prosa  nicht  auf  autopsie,  sondern  nur  auf  den  drucken  von  Thwaites  und  L'Isle 
aus  den  Jahren  1698  und  1623  beruhte,  nahm  W.  zunächst  eine  koUation  des 
Greinschen  textes  mit  der  handschrift  vor  und  teilt  deren  ergcbnisse  auf  s.  6—30 
seines  buches  mit.  Die  handschrift  weist  einen  im  ganzen  auffallend  einheitliclien 
lautcharaktcr  auf;  nur  vereinzelte  mundartliche  oder  zeitlich  jüngere  abweichungen 
von  der  spätwestsächsischen  norm  sind  zu  bemerken.  Nicht  immer  scheint  laut- 
gesetzliche  entwicklung  daran  schuld  zu  sein,  sondern  es  treten  wohl  gelegentlich 
analogiewirkungen  ein,  welche  eine  Störung  der  im  ganzen  konsequenten  orthograpliie 
verursachen.  W.  hat  mit  gcwissenhaftigkeit,  aber  unter  verzieht  auf  kritische 
Würdigung   die   in   seinem  texte  auftretenden  Wörter  unter  die  verschiedenen  para- 


382  M-:iIK    KKS('|1KIMIN(JEX 


graphtMi  sciiiLT  liiiitlchrc  aufgeteilt.  Dass  ilini  daliei  einige  versehen  zugestossen 
sind,  hat  sclion  Weyhe  in  Engl.  stud.  39,  85  tf'.  hemerkt.  Einige  andere,  die  mir  bei 
der  durchsieht  aufgefallen  sind,  darf  ich  anzuführen  mir  ersparen,  da  jeder  henützer 
sie  leicht  selbst  richtigstellen  wird. 


GUSTAV   HINZ. 


NEUE  ERSCHEINUNGEN. 

(Die  redaktion  ist  bemüht,  für  alle  zur  besprechung  geeigneten  werke  aus  dem  gebiete  der  german. 

Philologie  sachkundige  referenten  zu  gewinnen,  übernimmt  jedoch  keine  Verpflichtung,   unverlangt 

eingesendete    bücher    zu    rezensieren.     Eine    zurücklieferung    der    rezensions-esem- 

plare   an    die   herren   Verleger   findet   unter   keinen  umständen  statt.) 

Barth,  Bruno,  Liebe  und  ehe  im  altfranzösischen  fablel  und  in  der  mittelhoch- 
deutschen novelle.  [Palaestra  XCVII.]  Berlin,  Mayer  &  Müller  1910.  X,  273  s. 
7,80  m. 

Beheiiu,  Michel.  —  Gille,  Hans,  Die  historischen  und  politischen  gedichte 
Michel  Beheims.  [Palaestra  XOVL]  Berlin,  Mayer  &  Müller  1910.  X,  240  s. 
7  m. 

Boer,  K.  C,  Die  sagen  von  Ermanarich  und  Dietrich  von  Bern.  [Germanist.  Inuul- 
bibliothek.    X.]     Halle,  Waisenhaus  1910.     Vm,  333  s.     8  m. 

Brentano.  —  Schubert,  K.,  Clemens  Brentanos  weltliche  lyrik.  [Breslauer  bei- 
trage zur  lit.gesch.  20.]     Breslau,  Hirt  1910.     81  s.     2,25  m. 

Brunk,  A.,  Osuabrücker  rätselbüchlein.  Osnabrück,  Ct.  E.  Lückerot  1910.  84  s. 
1,20  m. 

Delbrück,  Berthold,  Germanische  syntax.  I.  Zu  den  negativen  sätzen.  [Abhandl. 
der  philol.-histor.  kl.  der  kgl.  sächs.  gesellsch.  der  wissensch.  XXVIII,  4.]  Leipzig, 
Teubner  1910.     (II),  64  s.     2  m. 

Dichtungen  aus  mittelhochdeutscher  frühzeit .. .,  herausg.  von  Hermann  Jantzeu. 
2.  aufl.     Leipzig,  Göschen  1910.     154  s.     Geb.  0,80  m. 

Eckhart,  Meister.  —  Meister  Eckharts  Buch  der  göttlichen  tröstung  und  Von  dem 
edlen  menschen,  herausg.  von  Phil.  Strauch.  [Kleine  texte  für  theol.  und 
philol.  Vorlesungen  und  Übungen,  herausg.  von  Hans  Lietzmann.  55.]  Bonn, 
A.  Marcus  und  E.  Weber  1910.     51  s.     1,20  m. 

Edda  Ssemundar.  —  Ussing,  Henrik,  Ora  det  indbyrdes  forhold  mellem  helte- 
kvadene  i  .Eldre  Edda.     [Dissert.]     Kobenh.,  Gad  1910.     176  s. 

Elsässer,  August,  Die  kürzung  der  mhd.  langen  stammsilbenvokale  in  den  hoch- 
deutschen mundarten  auf  grund  der  vorhandenen  dialektliteratur.  [Heidelberg, 
dissert.]     Halle  1909  (G.  Fock,  Leipzig  in  komm.).     (VI),  76  s.     1,20  m. 

Friedemann,  Käte,  Die  rolle  des  erzählers  in  der  epik.  [Untersuchungen  zur 
neueren  sprach-  und  lit.gesch.,  herausg.  von  Oskar  F.  Walzel,  n.  f.  VII.] 
Leipzig,  H.  Haessel  1910.     X,  246  s.     4,60  m. 

(wedichte,  Kleinere  geistliche,  des  12.  Jahrhunderts,  herausg.  von  Albert  Leitz- 
m  a  u  n.  [Kleine  texte  für  theol.  und  philol.  Vorlesungen  und  Übungen,  herausg. 
von  Haus  Lietzmann.  54.]  Bonn,  A.  Marcus  und  E.  Weber  1910.  30  s. 
0,80  m. 


NEUE   ERSCHEINUNGEN  383 

Cfot'tlu'.        Schütte,   ^I.,   Das   Goetlie-aational-museum   in  Weimar.     Crrosse   aus- 
gäbe des  fiilirers.     Leipzig,  Inselverlag  1910. 
(wross,  Edgar,  Die  ältere  romantik  und  das  theater.    [Theatergeschichtl.  forschungen, 

herausg.  von   B.  Litzmann.     XXII.]     Hamburg  und  Leipzig,   Leop.  Voss   1910. 

(Tin),  119  s.     4  m. 
driiudacker  Yon  Judenburg,  Christi  hört,  aus  der  Wiener  handschrift,  herausg.  von 

J.  J  a  k  3  c  h  8.     Mit  einer   tafel  in  lichtdruck.     [Deutsche  texte  des  mittelalters. 

XVIII.]     Berlin,  Weidmann  1910.     XVHI,  92  s.     4  m. 
(«üuderode,   Caroline  von.  —  Bianquis,   Genevieve,   Caroline   de  Günderode 

(1780—1806).     Ouvrage   accompagne   de  lettres  inedites.     Paris,  F.  Alcan  1910. 

XI,  508  s.     10  fr. 
Haupt-   und   staatsactionen,   Wiener,   eingel.  und   herausg.  von  Kudolf  Payer 

von  Thurn.    2.  band.    Mit  einer  beilage  in  lichtdruck.    [Schriften  des  Literar. 

Vereins  in  Wien.     XIII.]     Wien  1910.     (VI),  439  s.     Geb.  17  m. 
Ilott'maun,  E.  T.  A.  —  Otmar  Schissel  von  Fieschenberg,  Novellenkompo- 
sition   in    E.  T.  A.  Hoffmanns   Elixieren    des    teufeis.     Halle,    Niemeyer    1910. 

IV,  80  s. 
Kiefer,   Heinrich,   Der   ersatz   des   adnominalen   genitivs   im   deutschen.     Dissert. 

Giessen,  A.  Hoffmann  1910.     89  s. 
Kluckholin,   Paul,   Die  ministerialität  in  Südostdeutschland  vom  10.  bis  zum  ende 

des  13.  Jahrhunderts.    [Quellen  und  Studien  zur  verfassungsgesch.  des  Deutschen 

reiches  in  mittelalter  und  neuzeit,  herausg.  von  K.  Zeumer.    IV,  1.]    Weimar, 

Böhlau  1910.    XI,  248  s.     8  m. 
Kutsclier,  Artur,   Die   ausdruckskunst   der  bühne.     Grundriss   und   bausteinc   zum 

neuen  theater.     Leipzig,  Fritz  Eckardt  1910.     223  s. 
Liederhandschriften,  Zwei  Leipziger,  des  17.  Jahrhunderts,  als  beitrag  zur  kenntnis 

des  deutschen  volks-  und  Studentenlieds,  herausg.  von  Emil  Karl  Blümml. 

[Teutonia  .  .  .,  herausg.  von  W.  Uhl.     X.]     Leipzig,   Avenarius   1910.     XXIII, 

117  s.     3,50  m. 
Meyer,  Richard  M.,  Altgermanische  religionsgeschichte.     Leipzig,  Quelle  &  Meyer 

1910.     XX,  645  s.     16  m. 
Olrik,  Axel,  Danmarks  heltedigtning,   en   oldtidsstudie.     Anden   del :    Starkad  den 

gamle  og  den  yngre  Skjoldung-raekke.    Kebenh.,   Gad  1910.     322  s.     6,50  kr. 
Ordbok  öfver  Svenska  spräket  utgifven  af  Svenska  akademien.    Haftet  41.    Demo- 

krati  —  den    (sp.  705—864).      Luud,    Gleerup    (Leipzig,    Nils   Pehrsson)    1910. 

1,50  kr. 
Platen.  —  Renk,  H.,  Platens  politisches  denken  und  dichten.    [Ereslauer  beitrage 

zur  lit.gesch.    19.]     Breslau,  Hirt  1910.     122  s.     3,20  m. 
Rag:uars  saga  loöbrökar.  —  Pu sehnig,  A.  Otto,   Die   Ragnar  Lodbroksage   in 

der   deutschen   literatur.     [Progr.    der   staatsobeiTcalschule    in    Lail)ach.]     1910. 

44  s. 
Rudolf  von  Ems.  —  Lü dicke,  Victor,  Vorgeschichte  und  nachleben  des  Wille- 
halm von  Orlens  von  Rudolf  von  Ems.    [Hermaea  .  .  .,  hrg.  von  Phil.  Strauch. 

VIII.]     Halle  a.  S.,  Niemeyer  1910.     (VIII),  178  s.     4,50  m. 
Schmidt,  Ludwig,  Geschichte  der  deutschen  stamme  bis  zum  ausgange  der  Völker- 
wanderung.    I,  4.      [Quellen    und    forschungen    zur    alten    gesell,    und    geogr., 

herausg.  von  W.  Sieglin.     XXIL]     Berlin,  Weidmann    1910.     S.  I-VHI  und 

367-493.     4,20  m. 


384  NKUE    EUSCIIEINirXCKN      -    NACllKICUTKX 

Yerhaudluuycu  dur  50.  Versammlung  tlciit.sclier  philologcii  vmd  schulmänucr  in 
Graz  vom  28.  sept,  bis  1.  okt.  1909,  im  auftrage  des  ausschusses  zusammen- 
gestellt vom  ersten  präsideuten  univ.prof.  dr.  Heinrich  Sehen  kl.  Leipzig, 
Teubner  1910.     VIII,  240  s.     6  m. 

Yolksweiscn.  —  Islonzk  [)j6()lög.  ßjarni  I'ors  tein  ss  on  prestur  i  Sigliifiröi 
hefur  safuaö  lögunum  1880—1906  og  saniiö  ritgjöröirnar.  Gefin  Vit  ä  kostnaö 
Carlsbergssjöössius.  Kaupmannahöfn,  prentuö  hjä  S.  L.  Möller  1906—1909.  XI, 
957  s.     15  kr. 

'Wagner,  Reiuliard,  Die  syntax  des  Superlativs  im  gotischen,  altniederdeutschen, 
althochdeutschen,  frühmittelhochdeutscheu,  im  Beowulf  und  in  der  älteren  Edda. 
[Palaestra  XCI.]     Berlin,  Mayer  &  Müller  1910.     VIII,  117  s.     H,50  m. 

Walzel,  Oskar  F.,  Das  Prometheussymbol  von  Shaftesbury  zu  Goethe.  [Sonder- 
abdruck aus  den  Neuen  Jahrbüchern  für  das  klass.  altertum,  geschichte  und 
deutsche  lit.,  25.]     Leipzig  und  Berlin,  Teubner  1910.     70  s.     2  m. 

Weruher  der  gjirteiiiere.  —  Helmbrecht,  ein  oberösterreichisches  gedieht  aus  dem 
13.  Jahrhundert,  übertragen  von  Konr.  Schif  fmanu.  2.  aufl.  Linz,  R.  Piru- 
gruber  o.  j.     69  s. 


NACHRICHTEN. 


Bj.  M.  01s eil  ist  zum  mitgiied  der  Kgl.  dänischen  gesellschaft  der  Wissen- 
schaften ernannt  worden. 

Prof.  dr.  Roman  Wörner  in  Freiburg  i.  Br.  ist  vom  lehramt  zurück- 
getreten, an  seine  stelle  ist  der  bisherige  privatdozeut  dr.  P.  Witkop  in  Heidel- 
berg zum  ausserordentlichen  professor  für  neuere  deutsche  literaturgeschichte  in 
Freiburg  i.  Br.  berufen  worden. 

Der  privatdozeut  für  deutsche  pMlologie  an  der  Universität  Strassburg  dr. 
Ernst  Stadler  ist  an  die  Uuiversite  libre  in  Brüssel,  der  professor  dr.  C.  Borcli- 
ling  ist  von  Posen  nach  Hamburg  berufen  worden. 

Der  professor  für  deutsche  spräche  und  literatur  an  der  technischen  hoch- 
schule  in  Dresden  dr.  ().  Walzel  ist  zum  Geheimen  hofrat  ernannt. 

Prof.  dr.  L.  Wim  m  er  in  Kopenhagen  tritt  am  1.  September  1910  von  seinem 
amte  zurück. 

Verstorben  sind:  Prof.  dr.  Leo  Meyer  (Göttingen)  und  prof.  dr.  Ernst 
Martin  (Strassburg) . 


Druck  vou   W.  Koblbammer,  Stuttgart. 


3f^ 


ZWEI    KUNENINSCHKIFTEN   AUS    NORWEGEN    UND 

FRIESLAND. 

1.    Die  Inschrift  des  Wetzsteines  von  Str0m  auf  Hitteren. 

Jede  neue  urnord.  inschrift  ist  ein  erfreulicher  gewinn  für  die 
german.  sprachg-eschichte. 

Die  einsichtnahme  in  das  bis  zum  jähre  1903  reichende  Verzeich- 
nis der  urnord.  Wörter  bei  Noreen  ^  lehrt  den  sachverständigen  sogleich, 
von  wie  hoher  bedeutung  diese  ursprünglichen  sprachformen  ohne 
umlaute,  ohne  nennenswerte  lautverluste  im  wortinneru  und  mit  gut 
erhaltenen  endsilben  für  die  erkenntnis  des  ältesten  german.  sprach- 
zustandes  sein  müssen,  wie  sie  im  verein  mit  den  gotischen  formen 
und  den  german.  lehnwörtern  des  finnischen  die  balken  gewähren,  vom 
germanischen  aus  nach  rückwärts  zu  den  nächstverwandten  sprachen 
der  ig.  familie  eine  brücke  zu  schlagen  und  über  die  vorgeschichtlichen 
geschehnisse,  deren  ergebnis  die  geburt  des  german.  sprachtjpus  ist, 
wenigtens  zu  leitenden  anschauungen  zu  gelangen. 

Nicht  gerade  die  ältesten  Wörter  sind  es,  die  uns  das  urnord. 
spendet;  hinsichtlich  des  alters  der  Überlieferung  werden  sie  von  den 
german.  dementen,  appellativen  und  namen,  der  antiken  literatur  viel- 
fach übertroffen,  aber  es  sind  die  ältesten  german.  texte,  es  ist  intern 
german.  erbgut,  unverändert  durch  griechische  oder  lateinische  laut- 
auffassung,  unberührt  in  den  endungeu,  die  ja  im  antiken  gebrauche 
zumeist  durch  den  tlexivischen  apparat  der  bezüglichen  spräche,  des 
griechischen  oder  lateinischen,  ersetzt  sind  und  selbst  dort,  wo  sie 
noch  zutage  liegen,  leider  nicht  immer  eindeutig  sind. 

Die  bei  Plinius  (23-79  u.  z.)  überlieferten  germ.-latein.  handels- 
wörter  ylaesum,  gantae,  sapo  sind  weitaus  älter  als  irgendeine  urnord. 
inschrift,  aber  die  ursprünglichen  german.  endungen  dieser  entlehnungen 
sind  nicht  ersichtlich;  sie  müssen  herausgerechnet  werden,  und  ich  möciite 

1)  Altnord,  grammatik  I  •',  Halle  1903,  s.  414-18. 
ZEITSCHRIFT   F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLH.  26 


386  vox  (:i!ii:Ni!r.i;(iKK 

nicht  beliauptcn,    dass   dies   in  jedem  falle  mit  ausreichend  verl)ürg-ter 
Sicherheit  zu  machen  sei. 

Man  kann  unter  der  Voraussetzung,  dass  das  genus  der  späteren 
g-erman.  entsprechungeu  dem  der  jeweiligen  vorläge  dieser  latein.  lehn- 
wörter  gleich  sei,  für  das  erste  (Pliu.  37,  42  certum  est  [sucinum]  .  .  . 
ab  Germnnis  appellai-i  glaesiim,  itaque  et  ab  nostr/s  ob  id  imani  insulam 
Glnesariam  appellatam  .  .  .,  ags.  gld'r,  angeblich  neutrum  bei  Bosworth- 
Toller,  gen.  gld'res  'sucini'  S  mnd.  gldr  'gummi')  ein  german.  neutrum 
^glilzo  erschliessen,  als  pendant  zu  den  umgekehrten  entlehnungen,  den 
neutris  got.  lein,  wein  aus  lat.  '^Hiuo,  *vmo,  wie  dono  CIL.  10,  4632  ^ 
hochlatein.  Imiwi,  vmimi,  die  otfenbar  zu  einer  zeit  erfolgt  sein  müssen,- 
da  das  ig.  neutrum  -om  im  german.  auf  -o  und  noch  nicht  dem  ur- 
nord.  gemäss  auf  -a  ausgieng. 

Man  kann  ferner  die  einbringung  des  zweiten  wortes  (Plin.  10,  53 
candidi  [anseres]  ibi  [in  Germania],  verum  minores,  gantae  vocantiir, 
ags.  qanot,  gen.  ganotes  'fulix')  in  die  erste  latein.  deklinationsklasse 
den  latein.  maskulinen  derselben  auf  -a,  selten  -as :  hosticapäs,  pari- 
cid.as'^  zuschreiben  und  eine  german.  form  ^gantaz,  acc.  '^ganta, 
verlangen. 

Man  darf  endlich  für  das  dritte  wort  (Plin.  28,  191  prode.st  et 
sapo  .  .  .  optimus  .  .  .  spissus  ac  liquidus,  Martial  14,  26  attrito  mpone 
genas  pnrgare  memento,  ags.  Bosw.-Toll.  readre  deage  [marg.  sdpe] 
'rubre  stibio')  ein  german.  femininum  auf  -o,  ig.  a  :  ^saipo  zugrunde 
legen,  zu  dem  sich  german. -finnisch  saipio,  ags.  sdpe,  -an,  ahd. 
Graft  6,  172  seifa,  acc.  saiffun  als  sekundäre  Jö«-ableitung  und  be- 
zeichnung  einer  saftart*  verhält.  Aber  diese  bestimmungen  sind  doch 
keineswegs  die  einzig  möglichen  und  nötigen  ausserdem,  insofern 
man  sie   aufrecht   hält,    zur  annähme  verschiedener  entlehnungszeiten. 

Das,  was  die  urnord.  inschriften  bieten,  sind  dagegen  direkte 
Zeugnisse,  bei  denen  auch  für  das  verbum  und  die  übrigen  redeteile 
des  Satzes  etwas  abfällt. 

Im  September  1908  wurde  nach  dem  berichte  Magnus  Olsens"' 
auf  der  besitzung  .0vre  Sageidet  bei  Strom  auf  der  norwegischen  insel 

1)  Old  Engi.  glosses  ed.  l)y  Napier,  Oxford  1900;  1,  1074. 

2)  Sommer,  Handbuch  der  lat.  laut-  und  formeulehre,  Heidelberg  1902,  §  209. 

3)  Sommer,  §  191. 

4)  Klug-e,  Nom.  «tammbildunyslchre  . . .,  2.  aufl.,  Halle  1899,  §§  80-82,  e;  s.  42. 

5)  Runerne  paa  et  nyfundet  bryne  fra  Stram  paa  Hitteren.  Af  Magnus 
Olsen,  Trondhjem  1909  =  Det  kgl.  norske  Videuskabs  Selskabs  Skrifter,  1908, 
nr.  13,  20  ss.,  1  taf. 


ZWEI    RUXEXINSCHRIFTEX    AUS    NORWEGEN    UND    FRIESLAND  387 

Hittereu  unter  einem  Steinhaufen,  V2  eile  unter  der  Oberfläche,  ein  kleiner, 
prismatischer  Wetzstein  gefunden.  Ausser  diesem  kamen,  auf  ein  brand- 
grab deutend,  spärliche  reste  von  kohle  zutage,  aber  keinerlei  andere 
altsachen. 

Der  stein,  feinkörniger,  glimm  erhaltiger  Sandstein,  von  14,5  cm 
länge,  1,9  cm  grösster  breite  und  1,2  bis  1,3  cm  dicke  ist  an  den 
beiden  Schmalseiten  beschrieben,  und  zwar  an  der  einen  Schmalseite 
vom  einsatze  einer  gegen  die  spitze  zu  schief  abfallenden  fläche,  der 
ganzen  länge  folgend,  bis  zu  dem  der  spitze  entgegengesetzten  ende 
mit  10,2  cm,  an  der  andern,  von  der  spitze  bis  etwas  über  die  hälfte 
der  läugenerstreekung  hinaus  mit  7,2  cm  zeile. 

Die  erste  rune  der  ersten  zeile  P  steht  dicht  an  der  kante  der 
Seitenfläche  und  der  abdachenden  fläche,  und  zwar  so,  dass  die  auf- 
rechte hasta  des  buchstabens  dieser  nicht  senkrecht  orientierten,  sondern 
schief  nach  rechts  oben  verlaufenden  und  nicht  geradlinigen,  sondern 
etwas  gekrümmten  kante  folgt,  was  mit  Olsen  s.  5  ein  beweis  dafür 
ist,  dass  sie  der  ruuenschreiber  schon  vorfand,  dass  also  vor  ihr 
keinerlei  verlust  von  runen  durch  abschleifen  stattgefunden  haben 
könne. 

Während  aber  Olsen  a.  a.  0.  der  meinung  ist,  der  vier  glatte 
Seiten  aufweisende  Wetzstein  habe  auch  noch  nach  anbringung  der 
Inschrift  zum  schärfen  gedient,  wird  dies  von  K.  Rygh  in  einer  Zu- 
schrift an  Olsen ^  in  zweifel  gezogen:  'es  stünde  nichts  im  wege,  an- 
zunehmen, dass  die  inschrift  unmittelbar  vor  der  niederlegung  des 
Steines  im  grabe  ausgeführt  worden  sei;  die  schlifPspuren  an  Wetz- 
steinen zeugten  durchaus  nicht  bindend  für  geschehenen  gebrauch,  sie 
können  auch  während  der  Zubereitung  des  Steines  und  infolge  dieser 
zustande  kommen'. 

Es  ist  also  möglich,  dass  der  Wetzstein  von  Str0m  überhaupt 
niemals  zum  schärfen  bestimmt  war,  weder  für  sensen  oder  äxte, 
denen  seine  grosse  nicht  genügt,  noch  für  kleinere  gerate,  messer 
oder  Pfeilspitzen  (Olsen  s.  4),  sondern  dass  er  ein  zum  zwecke  der 
beigäbe  in  ein  grab  ausgewähltes  und  mit  inschrift  versehenes  Schau- 
stück sei,  bei  dem  es  auf  die  tatsächliche  Verwendbarkeit  zum  flngierteu 
zwecke  gar  nicht  ankam. 


l)  Smaastykker  11  (M.  0.)   'Runenie   paa   et  nyfundet   l)ryne   fra   Stram   paa 
Hitteren'.    Nye   oplysninger   tilligemed   et  spersmaal :   Maal  og  ininne,  1909,  s.  100. 

26* 


388  VOX    GKIKXI5KKGEU 

Die  beiden  reehtsläu%en  zeilen  der  in  den  älteren  nordischen 
runen  geschriebenen  legende  ergeben  die  transliterierung: 

w.atehalihiiiohorna  ,  liahasksiliihalmligi 
wozu  in  grapliischer  liiusicht  einiges  zu  bemerken  ist. 

Sämtliche  lia,  vier  an  zahl,  sind  ligiert;  das  eine  s,  sonst  schief  /, 
ist  senkrecht  aufgestellt  und  gestreckt  S;  das  eine  k  hat  nicht  die 
älteste,  im  mittleren  zeileuraume  schwebende  form  <,  sondern  die  etwas 
spätere,  auf  einen  stab  gestellte  Y;  das  n  in  Jiorna  ist  nach  Olsen  s.  6 
mit  dem  folgenden  vokal  zu  einer  binderune  na :  ^  verschmolzen, 
während  man  nach  der  abbildung,  die  hier  allerdings  auch  täuschen 
kann,  versucht  Aväre,  au  ein  zuerst  ausgelassenes  und  dann  im  oberen 
zeilenraume  nachgetragenes  >< ;  R^f^  zu  glauben;  die  zeichen  für  die 
lautgruppe  ^^^■ ;  IXI  nähern  sich  der  gestalt  eines  runischen  <f;M,  inso- 
fern die  beiden  I  an  die  fusspunkte  des  X  stark  herangerückt  sind ; 
aber  die  distanzen  an  den  kopfpunkten  sind  deutlich  in  acht  genommen, 
und  ein  urnord.  auslaut  Id  wäre  nur  bei  annähme  von  kürzungen 
oder  als  vokativ  möglich. 

Die  buchstabenformen  beider  zeilen  sind  die  gleichen,  doch  ist 
die  ausführung  der  zweiten  zeile  etwas  sorgfältiger  geraten  als  die 
der  ersten,  was  Olsen  zu  der  alternativen  Vermutung  veranlasste,  die 
beiden  zeilen  rührten  entweder  von  zwei  runenmeistern  her,  oder  sie 
seien  allerdings  von  einem,  aber  nicht  zu  ein  und  derselben  zeit 
geschrieben.  Dessenungeachtet  erklärt  er  die  Inschrift  als  zusammen- 
hängenden text:  'das  hörn  soll  diesen  stein  netzen,  dann  mag  kampf- 
gefahr  drohen'  und  denkt  an  eine  rituelle  weihe  des  Wetzsteines  mit 
dem  inhalte  des  beim  mahle  kreisenden  trinkhornes,  so  dass  vom 
steine  magische  kräfte  auf  die  mit  ihm  geschärften  wafien  übertragen 
würden,  die  in  kampfgefahr  Sicherheit  böten.  Im  nachworte  äussert 
sieh  Olsen  doch  sehr  skeptisch  über  diesen  Zusammenhang  und  bringt 
in  Maal  og  minne  a.  a.  o.  den  sachlichen  nachweis  des  deutschen 
dialektforschers  Wolf  von  Unwerth  zur  kenntnis,  dass  die  mähder  in 
Schlesien  den  Wetzstein  für  die  sense  in  einem  ivetzkleze  genannten 
hörne  (ochsenhorn)  trügen,  in  dem  sich  etwas  wasser  befindet;  'hier 
könne  also  vom  hörne  gesagt  werden,  dass  es  den  stein  netze,  was 
vielleicht  zu  einer  in  mehreren  hinsichten  geänderten  auffassung  vom 
inhalte  der  Inschrift  führen  werde' '. 

Zu  der  gleichen  ansieht,   dass  das  hörn  ein  kumpf  sei,  ist  selb- 

1)  Einstimmende  nachweise  aus  Norwegen  trägt  31.  0.  in  3Iiial  og  minue  1909, 
s.  163  nach. 


ZWEI   RUNENINSCHRIPTEX    AUS   NORWEGEN    UND    FRIESLAND  389 

ständig'  August  Gebhardt  ^  gelaugt,  der  daraus  mit  recht  folgert,  dass 
der  zweite  abschnitt  der  iuschrift  Avohl  weniger  kriegerisch  aufzufassen 
sein  werde. 

Der  gebrauch  des  Wortes  hieze  in  der  hier  angezogenen  bedeutuug 
ist  im  DW.  V,  700  unter  4  des  weiteren  aus  Sachsen,  dem  Erzgebirge 
und  Nordböhmen  nachgewiesen,  doch  fehlt  hier  eine  angäbe  darüber, 
ob  diese  kieze  aus  ochsenhorn  verfertigt  sei  oder  w-enigstens  aus 
solchem  verfertig-t  sein  könne. 

Die  von  Olsen  proklamierte,  in  mehreren  punkten  geänderte  auf- 
fassung  von  dem  inhalte  der  Inschrift,  den  wir  nun  schon  ahnen,  hängt 
an  dem  worte  hapu.  Dass  Olsen  dasselbe  als  casus,  Instrumentalis, 
des  bekannten,  in  compp.  auftretenden  german.  wortes  für  'kämpf  ur- 
nord.  liapu-  und  hactti-,  ags.  heapo-,  ahd.  hadii-,  an.  auch  unkomp.  als 
gottname  ügpr,  in  anspruch  nahm,  w^ar  nahezu  selbstverständlich; 
niemand  hätte  eine  andere  bcziehung  gesucht,  aber  eine  erfolgreiche 
deutung  der  Inschrift  war  damit  nicht  zu  erzielen. 

Ich  erkläre  häpu  als  kontraktion  aus  *hawipu,  einem  verbal- 
abstraktum  zu  der  urnord.  entsprechung  von  nhd.  hauen,  anorweg. 
hofigua,  gleichbedeutend  mit  nhd.  'die  mahd',  semasiologisch  und  ety- 
mologisch zusammengehörig  mit  nhd.  heu,  got,  hawi,  au.  hey  'afslaaet 
gras'  (Fritzner)  als  'umgehauenes'.  Hinsichtlich  der  suffixalen  bildung 
lässt  sich  urnord.  *liawipu  mit  den  ahd.  sekundären  verbalen  abstrakten 
gilwrida  'auditus',  miösida  'absolutio,  redemtio',  fjlscihida  'casus'  zu 
giiioren,  arlösen,  giscehan  vergleichen,  i.  b.  mit  dem  letzteren,  das  Ja 
gleichfalls  von  einem  starken  verbum  ohne  /  im  suffixe  ausgeht. 

Die  kontraktion  zu  hapic  ist  im  sinne  des  altnordischen  regulär. 
Noreen^  §  77,  2  (s.  64)  bemerkt  unter  u :  'nur  unmittelbar  nach  kurzem 
vokal,  in  welcher  Stellung  es  überall  aus  iv  entstanden  ist,  ist  es  so 
rasch  synkopiert  worden,  dass  es  keinen  umlaut  hinterlassen  hat: 
sträpa  <  "'strdiida  <  "strawläö,  got.  strnwida,  nur,  got.  nann  leiche'. 

Dass  freilich  der  gang  der  entwicklung  gerade  der  von  Noreen 
angegebene,  über  eine  mittelform  au  führende  gewesen  sei,  möchte 
ich  nicht  für  durchaus  gesichert  halten.  Im  praeteritum  ek  Häpn  z.  b., 
urnord.  taividö,  zu  "teyia,  got.  taujaii  'tüoiöiv',  oder  in  hdpa,  das  w^äre 
m\\ov([.'^haivktü  zu  heyia  'ausführen',  dürfte  eher  silbische  synkope 
wi  eingetreten  sein,  die  sogleich  länge  a  hinterliess.  Das  gleiche  kann 
man  auch  für  das  abstraktum  "hajm  aus  "hawipu  in  anspruch  nehmen, 

1)  Doutsclie  litcraturzeitunji-  1910.  iir.  14.  sp.  872-3. 


390  VON    GUlENHEK(iEU 

nur   (lass   diese   synkope   in  einem    iirnordischen  texte  als  frühforni 
bezeichnet  werden  niuss. 

Die  Synkopen  der  3.  sinj;-.  praet.  adän.  run.  Helnjes  fäpi,  Flemlose 
faapi  neben  nrnord.  Einang  fnihiäö  werden  von  Noreen  P,  §  224,  1 
um  800  angesetzt,  aber  die  J-synkope  in  HaukopUB,  Vänga,  ist  wesent- 
lich älter.  Noreen  a.  a.  o.  s.  347  verlegt  den  stein  ins  6.  Jahrhundert; 
der  gleichen  zeit  niuss,  nach  dem  gesamteindrucke  der  sprachformen 
geurteilt,  die  Inschrift  des  Wetzsteines  von  Strom  angehören.  Olsen  s.  19 
meint,  die  Inschrift  sei  etwas  jünger  als  die  des  Steines  von  Varnum 
(Järsberg),  und  verlegt  sie  in  die  erste  hälfte  des  7.  Jahrhunderts;  da 
aber  der  stein  von  Varnum  nach  Noreen  gleichfalls  dem  6.  Jahrhundert 
angehört,  so  lässt  sich  die  forderuug  Olsens  auch  innerhalb  dieses 
Jahrhunderts  realisieren. 

Die  konjimktion  Jn  ist,  wie  Olsen  s.  17  ganz  richtig  gesehen 
hat,  mit  got.  pyei  'oTt,  Iva,  ut'  identisch,  also  sicherlich  auch  in  der 
an.  ursprünglicheren  form  Jn,  an  stelle  des  späteren,  nach  hol  ana- 
logisch umgestalteten  dat.  sing,  neutrius  pvl  des  demonstrativprono- 
mens  sä  fortgepflanzt,  der  im  sinne  von  'deshalb,  diew^eil,  in  dem  falle' 
gebraucht  wird;  aber  keine  dieser  an.  bedeutungen  ist  hier  in  anwen- 
dung  zu  bringen,  und  von  ags.  py,  einem  eigentlichen  Instrumentalis, 
als  konjunktion  'deshalb'  ist  überhaupt  abzusehen.  Die  urnord.  kon- 
junktion  pn  ist  vielmehr,  nicht  nur  formell,  sondern  auch  der  Wirkung 
nach  mit  dem  got.  lokativ  pjei  in  seiner  finalen  funktion  Joh.  6,  12 
P)el  ivaihtai  ni  fraqistnai  'damit  nichts  umkomme'  durchaus  identisch 
und  so,  wie  in  diesem  got.  finalsatze  mit  einer  3.  sing,  praes.  U(ji, 
zu  an.  liggia,  got.  Ugan,  gebunden,  deren  endsilbe  -t  von  Olsen  auf 
älteres  -ij,  -ial  zurückgeführt  wird. 

j)!  hapH  ligi  heisst  also  'auf  dass  die  mahd  liege',  wozu  ich  die 
Olsensche  interpretierung  des  voranstehenden  hauptsatzes  dem  sinne 
nach  völlig  unverändert  übernehme,  nur  dass  ich  wate  nicht  als  3.  sing, 
praes.  optativi  eines  ^/r/n-verbums,  sondern  lieber  als  2.  sing,  imperativi 
eines  alten  ^n-verbums,  got.  -ai  (habai),  ahd.  -e  {habe),  an.  -e  (vake): 
'netze  diesen  stein  hörn!'  betrachte. 

Das  empfiehlt  sich  sowohl  stilistisch  als  auch  aus  dem  gründe, 
dass  man  für  die  in  rede  stehende  optativflexion  einerlei  form  mit 
der  des  konjunktivs  ligi,  d.  h.  -?,  nicht  -e  erwarten  müsste. 

Dass  auch  mit  einem  r//-verbum  die  erforderliche  kausative 
l)edeutung  'nass  machen'  verbunden  sein  könne,  ergibt  sich  aus 
got.  gaainan  'vereinzelnen'  ;  ains ,  anapncan  'dienstbar  machen'  zu 
pnus,  weihau  'weihen' ;  loeihf^  'y-yw;',  alle  drei  mit  nominaler  basis.    Es 


ZWEI   RUNEXINSCHRIFTEN   AUS   XORAVEGEN   UND   FRIESLANI)  391 

steht  also  nichts  dawider,  einem  verbnm  der  ae'-klasse  got.  ^^wetr/n, 
iirnord.  ^^watm  zum  adj.  an.  vätr,  ags.  iccff.  'nass'  die  bedeutimg-  der 
/V/n-verba  :  an,  va'ta  {tt)  'gjore  vaad',  ags.  wcHan,  praet.  ivcvtte  'hiimec- 
tare'  zuzuerkennen. 

Spätere  nachweise  zum  /-thema  Jial<l>i  neben  got.  halliis,  urnord. 
Stenstad  hal<l>aB,  aisl.  hallr  (:  lit.  kdlnas  'der  berg' !)  hat  G.  Neckel  ' 
in  runenschwed.  heli,  aschwed.  hwl  beigebracht. 

Zu  hinö,  von  Olsen  als  acc.  sing.  masc.  des  demonstrativprono- 
mens  got.  "^his,  und  hina  dag  Mt.  11,  23  erklärt,  ist  ausser  urnord. 
Kjulevig  mininö,  got.  meinana,  auch  got.  ainnöhun,  sonst  oinana,  hivanöli, 
sonst  hwana,  hwctrjanöh,  ungedeckt  hwarjana  zu  vergleichen. 

Die  akkusative  sing.  masc.  dieser  pronomina  nach  nominalem 
stand  sind  durch  hl-,  meina-,  aina-,  hwa-,  hivarja-  (ig.  -im  und  -om!) 
repräsentiert;  die  diesen  ursprünglichen  akkusativen  angeschlossene 
Silbe  -nö,  got.  im  reinen  auslaut  -na,  muss  demnach  eine  deiktische 
Verstärkung  sein. 

Ich  erkläre  sie  als  ig.  acc.  sing.  fem.  *näm  des  pronominalstammes 
'^)io,  formell  identisch  mit  der  lat.  konjunktion  natn. 

Es  erübrigt  mir  nur  noch,  die  Zugehörigkeit  des  zwischen  beiden 
Sätzen  stehenden  wortes  hahaska  zu  entscheiden,  das  nach  Olsens 
interpretierung  urnord.  entsprechung  zu  an.  häske,  haske  m.  'gefahr' 
und  Subjekt  des  zweiten  war,  nunmehr  aber  anders  bestimmt  werden 
muss,  da  ja  die  grammatische  position  des  Subjektes  im  nachsatze 
schon  mit  hapu  besetzt  ist. 

Dabei  wird  man  diese  etymologische  gleichung  doch  keineswegs 
zu  verlassen  brauchen.  An.  hdske,  grundform  nach  Olsen  14  "^lianhaskan, 
ist  ein  adjektivabstraktum,  zu  den  bei  Kluge  ^  gegebenen  beispielen 
gehörig,  und  auch  die  semasiologische  entwicklung  des  begriifes  'gefahr' 
aus  dem  des  'drohend  über  jemand  hängenden'  führt  auf  ein  adjektiv 
mit  der  bedeutung  'pendulus',  das  man  aber,  da  es  im  finalsatze  nicht 
unterzubringen  ist,  als  attributiven  nachsatz  zu  horna  beziehen  wird, 
mit  dem  es  in  der  flexion  -a,  ig.  -om  übereinstimmt. 

Sachlich  erläutert  sich  dieses  adjektiv  aus  der  art,  wie  der  kumpf 
von  den  mähdern  getragen  wird. 

Einschlägige    angaben    hierüber    finden    sich    bei    Krünitz-':    'im 


1)  Afda.  33  (1909),  234-5. 

2)  Nominale  stammliildun<j,sle!ire  .  .  .,  s.  107. 

3)  Ökonomische  enzykloi)ä(lie  .  .  .  von  Jolianii  Geoi'g-  Krüiiitz,   teil  55.  Brunn 
1793,  s.  61. 


;>92  v()\  (:i;ikm!K1!(;kk 

fürstentume  Hohenlohe  heisst  kumpf  das  steinfass,  ein  hölzernes 
Ji-efäss,  worin  der  Wetzstein  steckt,  und  an  einem  giirtel  am  hinteren 
teil  des  leibes  hängt',  sowie  im  DW.  ^  zu  kumpf  m.  '.  .  .  3,  die  wetz- 
kieze  der  Schnitter,  gefäss  von  holz,  zugleich  für  den  Wetzstein  und 
Wasser  zum  netzen  des  Steines,  am  giirtel  getragen'  mit  drei  älteren 
belegen  aus  Helmbrecht,  Kellers  Altd.  erz.  und  Wickrams  Rollw.,  aus 
denen  zu  entnehmen  ist,  dass  der  kumpf  von  den  heumachern  getragen 
wurde  und  dass  der  in  ihm  steckende  stein  zum  schärfen  der  sense 
diente. 

Einige  Überlegung  erfordert  nur  die  genauere  gestalt  dieses  ur- 
uord.  adjektivs. 

Die  .?^•(r-adjektiva  mit  mittelvokal  a  sind  kein  produktiver  typus; 
was  es  mit  den  namen  german.-lat.  Gannascus  Tac.  und  Wnraso'  v.  n. 
des  7.  Jahrhunderts  auf  sich  habe,  die  Jakob  Grimm  ^  hierherrechnete, 
wäre  erst  zu  untersuchen.  Hätten  wir  aber  eine  urnord.  form  *hahnskaii 
anzusetzen,  so  würden  wir  sie  doch  für  nichts  anderes  halten  als  eine 
bildung  mit  dem  produktiven  suffixe  isht,  die  nur  im  mittelvokal  vom 
thema  des  nomens  got.  in  faura-,  faiir-hah  n.  beeinflusst  wäre.  Aber 
diesen  adjektiven  kommt  die  bedeutung  der  Zugehörigkeit  sowie  mora- 
lischer eigenschaften  zu,  während  die  präsentisch-partizipiale  bedeutung, 
z.  b.  von  an.  beiskr  'scharf,  d.  i.  'beissend',  am  mittelvokallosen  typus 
dieser  ableitungen  haftet. 

Man  wäre  also  sehr  viel  mehr  geneigt,  das  adjektiv  unmittelbar 
aus  dem  verbum  hahan  in  der  form  *häh-ska-  abzuleiten,  die  ja  wohl 
auch  schon  urnord.  mit  synkope  der  gutturalis  '^Jiaska-  ergeben  musste. 

Wir  haben  demgemäss  im  ersten  ftille  eine  eigentliche  form 
"haJiiskd,  etwa  'zum  Umhang,  gürtel  gehörig'  anzusetzen,  im  zweiten 
aber  vokalische  dopjjelschreibung  mit  zwischengesetztem,  nicht-etymolo- 
gischem h  anzunehmen.  Altgerman.  beispiele  für  diese  orthographische 
besonderheit  habe  ich  schon  vor  längeren  jähren  an  anderem  orte^ 
gegeben.  Graphische  gemiuata  aa  bietet  zweimal  die  urnord.  Inschrift 
der  Spange  von  Vi. 

An  der  nominalen,  vokalischen  endung  des  adjektivs  -et,  die  ja 
den  urverwandten  alten  sprachen  gemäss  ist,  lat.  'cornu  pendulum', 
wird   man    nicht   anstoss   nehmen    dürfen,   wenn   mau   auch   nach  got. 


1)  Bd.  V  (1873),  sp.  2614. 

2)  Deutsche   grammatik  von  Jakob  Grimm,  2.  teil,  neuer  verm.  a!)dr.,    Berlin 
1878,  s.  354. 

3)  PBB.  19  (1894),  s.  527  ff. 


ZWEI   RUXENIXSCIIKIFTEX   AUS   Xf)mVEGEN   UND   FRIESLAXD  393 

gebrauche  gerade  beim  vokativ  eher  das  konsonantische  adjektiv, 
im  neutrum  auch  urnord.  auf  -ö\  oder  nach  nordischem  die  mit  -t 
erweiterte  pronominale  form  erwartete. 

Die  ganze  inschrift  hiiitet  mit  mutmasslich  angegebener  Satz- 
betonung: ivatc  h(il<l>i  hinö  hönui  liäska,  pi  häpii  Ihji!  'madefac 
lapidem  hunc  cornu  pendulum,  ut  fenum  iaceat',  und  ich  bin  der 
ansieht,  dass  sie  keineswegs  metrisch  verfasst,  sondern  eher  nur  ge- 
hobene prosa  sei. 

II.  Das  seh  wert  eben  von  Ar  um. 

Der  an  sich  löbliche  grundsatz,  nicht  zweimal  in  einer  sache  zu 
sprechen,  lässt  sich  im  wissenschaftlichen  betriebe  nicht  aufrechter- 
halten. Man  käme  nicht  weit  in  der  forschung,  wenn  es  dem  ein- 
zelnen benommen  wäre,  einen  unzureichenden  einfall  durch  einen  zu- 
reichenderen zu  ersetzen,  wenn  man  sich  mit  dem  urteil,  das  man  sich 
einmal  über  eine  sache  gebildet,  bescheiden  müsste,  wenn  man  sich 
durch  die  tatsache,  dass  man  schon  einmal  über  eine  frage  geschrieben, 
die  bände  gebunden  hätte,  sie  ein  zweites  mal  anzufassen. 

An  diesen  grundsatz  haben  sich  daher  mit  gutem  rechte  hervor- 
ragende forscher  wie  Jakob  Grimm  oder  Sophus  Bugge  niemals  ge- 
kehrt und  sich  keineswegs  bestimmt  gefunden,  mit  dem  zurückzuhalten, 
was  ihnen  in  irgendeiner  sache  an  neuen  zusammenhängen ,  neuen 
erklärungen  durch  eigenes  und  fremdes  nachdenken  am  horizonte  sich 
mälich  formend  auftauchte. 

Ich  nehme  demgemäss  für  mich  die  erlaubnis  in  ansprach,  auf 
das  runische  wort  des  Arumer  schwertchens  abermals  zurückzukommen 
und  die  meinung,  die  ich  vor  zehn  jähren  über  dasselbe  hatte-,  nach- 
zuprüfen. 

Schon  in  seiner  ersten  ausführlicheren  publikation  ■'  —  die  aller- 
erste vorläufige  mitteilung  war  1899  im  Nederl.  Spectator  erschienen  — 
hat  P.  C.  J.  A.  Boeles  eine  treff'liche  abbildung  des  23  cm  langen 
scliwertchens  aus  eibenholz  gegeben,  die  hinsichtlich  der  lesung  der 
7  ags.  runen:    edceboda  nicht   die  geringsten  zweifei  zurückliess,   und 

1)  Stamm-Heynes  Ulfilas  .  .  .,  neu  hrg.  v.  Wrede,  11.  aufl.,  I'aileiliorn  1908, 
§  '2721). 

2)  Neue  beiträte  ziii-  ruiienlelire  in  Zeitsclir.  32,  s.  298—9. 

3)  Het  zwaavdje  van  Arum;  overi;ed)ukt  uit  het  71.  Verslag-  der  Haiuleliuiieii 
van  het  Friescli  Genootschap  van  Geschied-,  Oudheid-  en  Taalkunde  te  Leeuwarden, 
1898-99;  I  und  10  ss..  1  taf. 


394  VON    (;K[ENl!KK(iKK 

scholl  in  dieser  Veröffentlichung-  hat  Boeles  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  das  schwertchen  seiner  äusseren  erscheinung  nach  völlig  der  zwei- 
schneidigen fränkischen  spatha  gleicht,  und  zum  behufe  des  vergleich» 
das  miuiaturbild  einer  in  der  terp  bei  Wirdum  auf  einem  skelette 
aufgefundenen  spatha  beigegeben,  sowie  auf  die  beschreibung  einer 
anderen,  nahezu  gleichartigen,  dem  8.  oder  9.  Jahrhundert  angehörigen 
spatha  von  Lutkesaaxum  (Groningen)  durch  den  fries.  gelehrten  Pleyte 
verwiesen.  Ebenso  hat  Boeles  schon  in  dieser  publikation  der  ansieht 
ausdruck  gegeben,  dass  das  schwertchen  wegen  seines  kurzen  griffes 
und  des  benutzten  materials  unmöglich  einem  praktischen  zwecke  ge- 
dient haben  könne,  daher  notwendig  ein  symbol  sein  müsse. 

Die  bestimmung  dieses  schwertchens,  dessen  spitze  angekohlt 
ist,  suchte  Boeles  mit  beziehung  auf  die  von  J.  Grimm  in  der  einleitung 
seiner  Deutschen  rechtsaltertümer  gesammelten  nachrichten  über  sym- 
bolische gegenstände,  i.  b.  auch  angebrannte  stäbe  als  ankündigungs- 
mittel  zum  krieg  oder  zu  einer  rechtsversammlung,  und  mit  hinblick 
auf  den  abschnitt  boda,  in  dem  das  ags.  und  afries.  wort  für  'böte' 
nicht  zu  verkennen  ist,  innerhalb  der  kategorie  alter  rechtssymbole 
und  urteilte,  der  gegenständ  und  die  inschrift  sei  allem  ermessen  nach 
friesisch  und  müsse,  wenn  ags.,  zu  solchen  ags.  stammen  gehören,  die 
in  Friesland  angesessen  waren. 

Das  erscheinen  einer  neuen  lesung  und  erklärung  der  inschrift 
durch  Theodor  Siebs  \  der  Boeles  mit  dem  rechte  des  besser  unter- 
richteten die  Zustimmung  verweigern  musste,  bestimmte  ihn,  eine  neue, 
mit  einer  photographischen  abbildung  ausgestattete  publikation'-'  über 
die  Sache  zu  veröffentlichen,  in  der  er  vorher  vermisste  nachrichten 
über  die  fundumstände  hinzuzufügen  in  der  läge  war. 

Der  finder  des  schwertchens,  Schiffer  Wieger  Sijtsma,  der  das- 
selbe 1895  an  das  museum  zu  Leeuwarden  verkauft  hatte,  war  um  nähere 
auskunft  ersucht  worden  und  gab  nun  an,  dass  er  dasselbe  ungefähr 
15  fuss  vom  gipfelpunkte  einer  terp  unterhalb  Arum  in  der  schwarzen 
torferde  mit  einigen  knochen,  vermutlich  von  tieren,  gefunden  habe, 
und  dass  die  spitze  des  schwertchens  bei  der  auffindung  bereits  ver- 
koldt  gewesen  sei. 


1)  Friesische  literatur  von  Theodor  Siehs:  Grundriss  der  fjerman.  philologie, 
hvix.  V.  Hermann  Paul,  2.  aufl.,  II.  hd.,  1.  ahteilg,  Strasshurg'  1901—09,  s.  521—3. 

2)  Nogmaals  lict  zwaardje  van  Arum  en  de  Hada-munt  .  .  .  door  P.  C.  J. 
A.  Boeles;  overgedrukt  uit  de  Vrije  Fries  XX.  vierde  reeks,  2e  deel,  afl.  2  (1903), 
20  SS.  (=  190-208),  1  taf. 


ZWEI   RUNENINSCHKIFTEN   AUS   NORWEGEN    UND    FRIESLAND  395 

Die  neue  photographische  wiedergäbe  lehrt,  dass  die  trenuung-s- 
pimkte  zwischen  ce  und  b,  die  sieh  nach  der  ersten  al)bihlung  als  eine 
vertikale  reihe  von  fünf  punkten  darstellen,  auch  zufällig  sein  können, 
was  Boeles  schon  im  jähre  1899  für  möglich  hielt  ^,  dass  jedesfalls 
ihre  angenommene  funktion  als  trennungszeichen  nicht  auch  durch 
eine  entsprechend  weitere  buchstabendistanz  unterstützt  werde.  Der 
abstand  von  den  eudpunkten  des  seitendetails  am  1^  zur  aufrechten 
hasta  des  ^  ist  gleich  dem  vom  e  zum  ersten  d  und  geringer  als  der 
vom  zweiten  d  zum  a. 

Dass  der  erste  teil  des  glaublichen  kompositums  edwhoda  in 
afries.  eth,  ed,  '■eid^  zu  suchen  sei,  hat  van  Helten  gleichfalls  schon 
im  jähre  1899  mit  der  begründung  bestritten,  dass  die  interdentale 
Spirans  im  fries.  bis  ins  15.  Jahrhundert  ihre  spirantische  qualität  be- 
wahrt habe  ^,  d.  h.  van  Helten  erwartete  in  diesem  falle  Schreibung 
mit  ^om-rune.  Ich  fände  es  doch  noch  bedenklicher,  dass  der  dem 
a  von  got.  *aipa-  entsprechende  themavokal  (v  nach  vokalisch  langer 
Stammsilbe  bewahrt  wäre.  Man  wird  demnach  eine  Verbindung  mit 
mild,  eithot  'aufforderung  zur  eidesleistung'  nicht  wagen  dürfen.  Da- 
gegen scheint  es  formell  unbedenklich  den  ersten  teil  als  &d&-  gefasst 
mit  dem  german.  präfix  *eda-^  gleichzusetzen,  das  besonders  im  ags. 
(ed-)  reichlich  vertreten  ist  und  in  seiner  ahd.  zweisilbigen  form  /ta- 
(mhd.  ite-)  neben  reduziertem  it-  den  themavokal  noch  darbietet. 

Die  funktion  des  prätixes,  bei  Bosworth-Toller  mit  'rursus,  denuo, 
iterum'  angegeben,  deckt  sich  mit  dem  präfixe  re-  der  meisten  lateinischen 
glossenworte  zu  den  bezüglichen  ags.  belegen,  d.  h.  der  begriff  der 
wiederholten  identischen  handlung:  edrecan  'wiederkäuen,  nochmals 
kauen'  ist  aus  dem  der  kompensierenden  handlung:  edcßfan  'wieder- 
geben', nicht  gleich  'nochmals  geben',  sondern  gleich  'zurückgeben' 
als  kontrast  zu  'nehmen',  entwickelt,  und  die  bedeutung  'zurück'  muss 
älter  sein  als  die  bedeutung  'abermals'.  Da  nun  ahd.  itlon,  ags.  edlean 
'retributio'  nach  sinn  und  bildungsweise  von  ahd.  uuidnrlon  'recom- 
pensatio',  andd.  müthirlöii  'retributio',  ags.  wiperlean  nicht  verschieden 
ist,  wird  man  als  ältesten  wert  des  präfixes  (adverbiums !)  eda-  den 
des  örtlichen  'adversus,  contra'  zu  erschliessen  haben,  der  ja  auch  in 
der  adversativen  konjunktion  got.  ip  'Ss,  vero,  aber'  erkennbar  ist. 


1)  Brieü.  mitteiliuig ;  Leeuwarden  17.  VIII.  99. 

2)  Briofl.  mitteiliiiiiü-;  Oroiiiiiiieu  5.  IX.  99. 

3)  Wortschatz  der  iierin.  spraclieinlieit  .  .  .  von  Alf  Torp,  Göttinii-en  1909,  s.  24. 


3fl6  V(>\    CRIKXUEKOEK 

Auf  welcher  stufe  der  bcg-rift'seiitwicklung  das  prätix  in  dem 
kompositum    edaboda  stehen  könne,   muss  doch  erst  überlegt  werden. 

Was  zunächst  die  eben  erschlossene,  ursprüngliche  bedeutung 
'contra'  angeht,  so  ist  ihre  einführung  deshalb  gewagt,  weil  *edrf-  un- 
gleich dem  ahd.  uuidar  als  freie  präposition  mit  dem  sinne  eben  dieses 
Wortes  nicht  vorkommt,  weshalb  man  die  anscheinend  aus  der  mhd. 
gruppe  daz  iciderbot  und  diu  widerbiete  'fehde-,  kriegsankündigung', 
verbum  widerbieten  'aufkündigen,  fehde  ansagen,  krieg  ankündigen'  sich 
ergebende  analogie  nicht  mit  voller  beruhiguug  heranziehen  darf.  Aber 
auch  die  bedeutung  'nochmals'  kann  ich  nicht  wahrscheinlich  finden, 
da  sich  aus  derselben  die  Vorstellung  eines  periodisch  wiederkehrenden 
boten  ergäbe  und  man  wohl  zweifeln  muss,  dass  z.  b.  eine  in  festen 
fristen   wiederkehrende  Versammlung   überhaupt   eines   boten  bedürfe. 

Ich  glaube,  dass  das  kompositum  mit  'renuntius'  zu  übersetzen 
und  auf  grund  der  dem  latein.  re-  g-anz  eig-eutlich  entsprechenden  be- 
deutung- 'zurück'  als  'rückkehrender  böte',  d.  h.  als  ein  böte  zu  er- 
klären sei,  der  an  jemand  einen  auftrag  zu  bestellen  oder  eine  anfrage 
zu  richten  und  die  erteilte  antwort  dem  auftraggeber  zurückzubringen 
hat,  wobei  natürlich  die  Unterscheidung  vorschwebt,  dass  es  auch  boten 
gebe,  die  lediglich  eine  sache  anzusagen,  ein  gebot  aufzutragen  haben, 
ohne  eine  antwort  zurückbringen  zu  müssen. 

Dass  es  neben  der  nominalbildung  edceboda  auch  ein  verbum 
*edbiodan  'renuntiare'  gegeben  haben  werde,  darf  man  annehmen,  und 
es  wäre  dann  möglich,  die  im  Zusammenhang  mit  mhd.  widerbieten 
erwogene  bedeutung  des  Wortes  auf  grund  einer  begrififsentmcklung 
'aufkündigen,  absagen',  wie  sie  dem  lat.  verbum  zukommt,  zu  erreichen. 
Am  einfachsten  ist  aber  doch  die  reine  gleichung  mit  lat.  renuntius, 
und  dann,  muss  man  schliessen,  ist  das  runische  Avort  nicht  benennuug 
des  Symbols,  sondern  desjenigen,  der  das  symbolische  schwertchen  zu 
tragen  und  vorzuweisen  hat,  um  sich  mit  ihm  als  beauftragter  in 
irgendeiner  sache  zu  legitimieren,  wobei  man,  um  ein  modernes  bei- 
spiel  zum  vergleich  zu  stellen,  an  die  abzeichen  der  geheimpolizisten 
erinnern  kann. 

Diese  auffassung  des  gegenständes,  die  sich  hinsichtlich  des  In- 
halts dessen,  was  der  renuntius  zu  besorgen  hatte,  jeder  näheren  Ver- 
mutung enthält,  scheint  mir  auch  auf  die  eigentliche  bedeutung  des 
Stäbchens  von  Britsum  licht  zu  werfen ;  auch  dieses  Stäbchen,  dessen 
inschrift  den  träger  mit  uamen  nennt  und  die  funktion  des  tragens 
-  biriä  ml,  was  auch  heissen  kann  überbringt  mich  -  ausdrücklich 
erwähnt,    ist   am   ehesten   ein  legitimierendes  abzeichen,   glaublich  für 


GUNTERMAXN,  AHD,  ARUNTI,  MHD.  KRNDE  397 

einen  boten,  und  meine  frühere  anffassuug^  über  die  bestimmnng- 
desselben  demnach  zu  modifizieren,  wobei  aber  doch  die  versuchte 
deutung-  der  inschrift  nach  Worten  und  wortsinn  durchaus  unberührt  bleibt. 

Das  Verhältnis  von  edce-  zu  ags.  ed-,  ahd.  ita~  zu  it.-,  ist  das  von 
got.  anda  zu  and,  ahd.  aba  zu  got  af,  got.  ana  zu  ags.  on,  d.  h.  die 
jeweils  erste  ist  die  volle,  die  andere  die  gekürzte  form  des  adverbiums. 

Der  lautwechsel  a  zu  ce  in  edce  ist  ags.  gleich  den  runen,  die  ja 
wegen  der  zeichen  P  und  ^  keinem  anderen  germ.  aiphabet  angehören 
können.  Die  Wahrscheinlichkeit  ist  demnach  nicht  gering,  dass  die 
inschrift  des  Arumer  schwertchens  ags.  sei  und  jenen  Angelsachsen 
zugeschrieben  werden  müsse,  als  deren  relikte  in  Friesland  von  Boeles 
'Nogmaals  het  zwaardje',  s.  6-7  spezifisch  ags.  leichenurnen  des  5.  bis 
6.  Jahrhunderts  und  sceattas  des  7.  bis  8.  Jahrhunderts  aufgezählt 
werden.  Zu  den  letzteren  rechnet  Boeles  auch  den  solidus  von  Har- 
lingen  mit  der  inschrift  N^M^,  ersichtlich  einem  personennamen,  von 
dem  man  nur  nicht  ohne  weiteres  wissen  kann,  ob  er  als  ags.  Häda, 
ahd.  Hcito,  oder  als  Hadda  neben  Headda,  ahd.  Hatto  (grundlage  ags. 
-heard,  ahd.  -hart)  zu  deuten  sei.  Dem  Zeitabschnitte  dieser  sceattas, 
nicht  dem  der  urnen,  mag  auch  das  etwa  um  650  zu  datierende  Arumer 
schwertchen  zuzurechnen  sein. 

1)  Drei  westgermanische  runeninscliriften ;  Zeitschr.  41  (1909),  s.  425. 

CZERNOWITZ.  VON  GRIKXBERGER. 


AHD.  ARUNTI,  MHD.  EBNDE. 

Ahd.  arnnti  hat  der  lautlichen  erklärnng  immer  besondere  Schwierig- 
keiten gemacht  und  noch  keine  befriedigende  lösung  gefunden.  Dass 
es  in  irgendeinen  Zusammenhang  mit  got.  airinon,  oirus,  ags.  är,  cerende 
gebracht  werden  muss,  ist  meist  anerkannt  worden.  Sehe  ich  von 
J.  Grimms  tastenden  versuchen  ab,  so  hat  sich  Holtzmann  in  seiner 
Altdeutschen  grammatik  (1870)  um  das  wort  bemüht.  Er  schreibt 
s.  239  f.:  'got.  fu  entspricht  a,  wo  ai  für  e  steht,  in  saian,  vakm  usw.; 
anders  ist  das  schwierige  wort  änmti.  Man  stellt  es  zu  got.  airus, 
aber  nirgends  ist  ahd.  (/  gleich  got.  di.  Nord,  ercndi,  Qrendi  deutet 
auf  arunti  mit  kurzem  o,  wozu  mhd.  erende,  aber  Otfrid  liest  drimti 
und  Notker  schreibt  mit  Zirkumflex  drende,  und  dazu  passt  ags.  (erende. 


398  G UNTERM ANN 

Es  ist  also  die  länge  des  a  gesichert,  aber  die  ableitung  von  got.  airinon 
ist  schwierig.  Auch  alts.  är  für  got.  dir  ist  unerhört.'  S.  140  gieng 
er  beim  Heliand  über  diese  blosse  formulierung  der  tatsachen  hinaus : 
In  C  steht  d  einigemal  für  altes  ai,  sonst  alts.  e :  ciras,  sdrag,  scan, 
hdlag ;  ebenso  in  Abr.  hdloc/na,  gast;  dies  ist  ags.  .  .  .  hierher  drundi 
zu  ere  {mmtii),  got.  äirns.  Diese  andeutung  hängt  mit  Holtzmanns 
unbegründeter  ansieht  vom  ags.  originale  des  Heliand  zusammen  und 
hat  vielleicht  deshalb  das  Schicksal  gehabt,  dass  man  sich  nicht  weiter 
darum  bekümmerte.  Job.  Schmidt  beleuchtete  in  seinem  buche 
Zur  geschichte  des  indogerm,  vokalismus  II  (1875),  476-478,  das 
problem  von  einer  ganz  anderen  seite,  war  jedoch  gewiss  weniger 
glücklich,  da  er  mit  unhaltbaren  gründen,  nämlich  aus  der  kürze  von 
ne.  errand  und  dem  Lachmannschen  betonungsprinzip  zuliebe,  gegen 
das  ausdrückliche  zeugnis  Notkers,  für  (erende,  arundi,  arunti  kürze 
ansetzte.  Dieser  offenbare  fehler  wurde  denn  auch  von  Kluge  (PBB.  6 
[1879],  ssö)  vermieden,  doch  sind  dessen  sonstige  bemerkungen  keines- 
wegs gutzuheissen.  Anstatt  das  schwierige  wort  in  empirischer  weise 
aus  den  verwandten  zu  erklären,  konsti'uiert  Kluge  eine  form  urgerni. 
erundi  und  vergewaltigt  das  überlieferte,  indem  er  ein  nicht  vorhandenes 
ags.  (h-  benutzt  und  das  wohlbezeugte  alts.  eri  am  liebsten  unter  den 
tisch  fallen  Hesse,  was  ihm  Sievers  (PBB.  6,  570)  mit  recht  vorhielt  ^ 
Eine  lösung  aber  brachte  auch  er  nicht,  und  sie  ist  noch  immer  nicht 
gefunden.  Man  hat  sich  zwar  nicht  bei  den  ersten  versuchen  beruhigt, 
sondern  neue  unternommen  (wie  Bugge,  PBB.  24, 430 ».,  Wood,  Modern 
language  notes  8,  gi  ff.,  v.  Grienberger,  Untersuchungen  zur  got.  wort- 
kunde,  s.  15),  aber  keine  dieser  hypothesen  hat  sich  durchzusetzen 
vermocht,  zumal  man  die  sache  nicht  von  einer  neuen  seite  anpackte. 
Man  ist  vielmehr  zum  teil  von  zwei  verschiedeneu  wurzeln  ausgegangen, 
was  mir  ebensowenig  wie  Uhlenbeck  (PBB.  30, 253)  einleuchten  will. 
Soviel  ist  gewiss  klar  geworden,  dass  die  streng  lautgeschichtliche 
betrachtung  hier  nicht  am  platze  ist.  Vielleicht  gewinnt  man  mehr 
Verständnis,  wenn  man  mit  entlehnungen  rechnet,  und  bei  einem  lehn- 
worte  tritt  natürlich  ganz  besonders  die  goldene  regel:  Wörter  und 
Sachen    oder   hier:    wörter  und  gedanken  in  ihr  recht.     Was  bedeutet 

1)  Übrigens  ist  die  Klugesche  ansieht  in  verhesserter  fassung  in  das  New 
english  dictionary  III  (1897),  275,  sp.  1  ühergegangen :  the  Os.  and  OHG.  forms 
seem  to  i)oint  to  an  0.  Teut.  type  ^'cerundjo-m^  and  the  ON.  forms  to  *ärundjo-m, 
neither  of  wliich  is  easy  to  reconcile  with  tlie  otherwise  plausible  (and  generally 
accepted)  connexion  with  Got.  dirus,  ON.  d>-r,  OS.  eru,,  OE.  dr  messenger;  if  any 
relation  exists,  the  ai  of  0.  Teut.  *airns  raust  he  due  to  epenthesis. 


AHD.  ÄKUNTI,    MHD.    ERNDE  399 

das  vvort?  Da  hilft  uns  zunächst  R.  v.  Raum  er  mit  seiner  'Einwir- 
kung des  Christentums  auf  die  ahd.  spräche'  (1845)  weiter.  Er  stellt 
s.  326  ärunti  als  kirchlichen  fachausdruck  gleich  hinter  gotspel.  Zwar 
sind  die  belege,  auf  die  er  sicli  stützt,  lange  nicht  erschöpfend;  auch 
hat  Raumer  nicht  erwähnt,  dass  nicht  alle  fälle  unter  der  von  ihm 
gewählten  rubrik  untergebracht  werden  können,  aber  das  beeinträchtigt 
die  richtigkeit  der  von  ihm  gemachten  beobachtuug  nicht  wesentlich. 
Berücksichtigen  wir  nun  in  gleicher  weise,  dass  (wie  ich  noch 
zeigen  werde)  die  mehrzahl  der  fälle  das  wort  in  geistlicher  bedeutung 
zeigt,  und  zugleich  die  möglichkeit  einer  entlehnung,  so  kann  diese 
auf  zwei  verschiedenen  wegen  vor  sich  gegangen  sein.  Wie  schon 
V.  Raumer  s.  278  f.  ausgeführt  hat,  können  kirchliche  fachausdrücke 
german.  sprach  Charakters  im  ahd.  aus  dem  gotischen  oder  aus  dem 
ags.  entlehnt  worden  sein.  'Ohne  zweifei  hat  die  ags.  muttersprache 
des  Bonifacius  und  seiner  genossen  auch  auf  ihre  hochdeutsche  predigt 
einfluss  geübt.  Dieser  einfiuss  ist  jedoch  meist  so  versteckt,  dass  er 
sich  mit  bestimmtheit  weder  behaupten  noch  leugnen  lässt.  Die  haupt- 
frage,  auf  die  es  hier  ankommt,  ist:  haben  die  ags.  missionare  durch 
einmischung  ags.  demente  der  ahd,  spräche  gewalt  angetan?  Und 
diese  frage  lässt  sich  mit  bestimmtheit  verneinen.  In  ihren  predigten 
sind  sie  sicherlich  oft  genug  ins  ags.  verfallen;  allein  die  hochdeutsche 
spräche  hat  diese  ags.  demente  in  ihre  wortmasse  entweder  gar  nicht 
aufgenommen  oder,  wo  sie  es  in  einzelnen  fällen  tat,  sich  dieselben 
völlig  assimiliert.'  So  ergibt  sich  denn  ein  merkwürdig  verzerrtes  bild, 
der  sprachliche  einfluss  der  Goten,  von  deren  mission  in  Deutschland 
wir  eigentlich  gar  nichts  wissen  \  soll  stärker  sein  als  der  der  Angel- 
sachsen, die  für  die  bekehrung  so  unvergleichlich  viel  mehr  getan 
haben.  Und  die  sache  ist  neuerdings  durch  Kluges  aufsatz  über 
gotische  lehnworte  im  ahd.  (PBB.  35,  i24£f.)  nur  noch  mehr  verschoben 
worden '-.     Kluges  darlegungen   enthalten   sicherlich    manche   gute    be- 

1)  Raumer  hat  das  wohl  erkannt,  und  deshalb  lievorzuiit  er  aucii  das  reich 
des  Thoodorich  als  kulturvermittler,  Zfda.  6,  402,  404. 

2)  Kluge  spricht  mehrfach  von  gotischen  missionareii  in  Deutschiaml,  als  oh 
sie  etwas  ganz  gewöhnliches  gewesen  und  von  der  forschung  allgemein  anerkannt 
wären.  Demgegenüber  muss  docli  darauf  verwiesen  werden,  dass  wir  von  gotieclier 
missionstätigkeit  in  Deutschland  nur  durcli  rückschlüsse  etwas  wissen.  Vgl.  Hauck, 
Kirchengeseh.  Deutschlands  I,  s.  90,  331  ff.,  348.  Danacli  ist  bei  den  Alemannen 
nur  ein  christlicher,  und  zwar  arianischer  häuptling,  Gibuld,  im  5.  Jahrhundert  vor 
der  fränkischen  und  irischen  mission  bekannt.  Bei  den  Thüringern  möchte  Hauck 
durch  got,  einfluss  (man  denke  an  die  heirat  der  got.  prinzcssin  Anialal)erga  mit 
könig  Irmenfrid)  teilweise  bekehrung  des  königsliauses  und  von  d;i  aus  wieder  ein- 


400  (lUNI'KKMANX 

merkuug,  aber  als  ganzes  scheinen  sie  mir  doch  über  das  ziel  hinaus- 
zuschiessen. 

Anderseits  glaube  ich  in  as.  ärundi,  ahd.  äninti  ein  ags.  lehn- 
wort  zu  erkennen.  Die  lautliche  beschaifenheit  stellt  dem  nichts  in 
den  weg'.  Wir  haben  von  ags.  wrende  auszugehen.  Nun  entspricht 
aber  ags.  w  im  as.,  ahd.  a,  so  dass  also  die  Deutscheu  in  wrende  nur 
den  sprachüblichen  laut  einzusetzen  brauchten.  Wir  haben  einen  ganz 
ähnlichen  fall  im  Heliaud,  nämlich  tins;  auch  hier  wurde  der  dem 
ahd.  z  korrespondierende  laut  eingeführt.  Und  wie  ich  glaube,  dass 
tins  aus  dem  hd.  in  das  as.  mit  der  sache,  das  heisst  mit  den  steuern 
und  kontributionen  der  siegreichen  Franken  kam,  so  urimdi  mit  der 
ags.  mission. 

Dann  ist  natürlich  geistliche  bedeutung  für  das  wort  im  deut- 
schen zu  verlangen.  Die  überwiegende  mehrzahl  der  belege  genügt 
dieser  forderung,  und  zu  ihrer  Untersuchung  wende  ich  mich  im  folgen- 
den. Ganz  klar  liegen  die  Verhältnisse  in  der  as.  Gen.,  für  die 
schon  E.  Schröder  (Zfda.  44, 2230.)  engeren  Zusammenhang  mit  der 
ags.  missionssprache  annahm.     Im  rein  as.  teile  finden  wir  844  ft". : 

ac  hiet  sie  threa  faran 
is  engelos  ösfan  an  is  arundi, 
sidon  te  Sodoma. 
Sieht  man  sich,  was  bei  der  geringen  Sprachbegabung  des  Geuesis- 
dichters  ja  nicht   aussichtslos   ist,    danach   um,    ob   im  ags.  teile  ent- 
sprechendes  begegnet,    so   trifft   man    auf  262   on  Ins  ehrende  (wo  mit 
his  gott  gemeint  ist),  ebenso  auf  gott  bezogen  319  ff. : 
pcet  git  ne  Iwstan  wel 
hwilc  cerende,  sicä  he  easfen  hider 
on  pysne  sW  sended.     Nu  sceal  he  sijlf  faran 
to  incre  andsware ;  ne  mrrg  his  d'rende 
his  boda  beodan. 
Der   engel    heisst  dann  noch  423  wrendsecg  (ähnliche  komposita 
werden  uns   noch    begegnen),   447  dr;   vgl.  Hei.  559  eri.     Ausserdem 
ist   430  he   ma'g   unc   cerendian    to  pdm   alwaldan   anzuführen,    wofür 

Wirkung  auf  das  volk  annehmen.  Günstiiier  steht  die  saclie  für  die  Bayern,  \vo- 
durcli  Kluges  ansiclit,  dass  nur  Bayern  als  vernnttlungsgebiet  für  gotische  lehn- 
wörter  im  ahd.  in  frage  kommt,  l)estätigt  wird.  Für  Bayern  erklärt  Hauck  s.  335: 
katholische  Romanen,  heidnische  und  arianische,  vereinzelt  wohl  auch  katholische 
Deutsche  lebten  demnach  in  Bayern  nebeneinander,  als  das  land  in  abhängigkeit 
vom  fränkischen  reiche  kam. 


AHI).   AKUNTI,   lIHD.   ERNDE  401 

wir  ein  as.  anmdian  einsetzen  dürfen,  da  dieses  verbnm  durch  den 
Heliand  bezeugt  ist. 

Dieser  bietet  folgende  fälle.  Bei  der  Verkündigung  der  geburt 
Christi  282  aftar  theni  ärundie  =  nach  der  engelsbotscliaft,  289  godes 
drundi,  2456  drundl  godes  für  gottes  lehre;  1889  ist  dnuuli  der  mis- 
sionsauftrag  Christi  an  seine  jünger;  121,  719  handelt  es  sich  uin 
eine  engelsbotschaft,  553,  564,  638  um  die  fahrt  der  heiligen  drei 
könig-e.  ärundi  ist  3966  die  botschaft,  die  Maria  und  Martha  an 
Christus  senden  und  in  der  sie  ihn  bitten,  Lazarus  zu  heilen,  5816 
das  g-eschäft  der  frauen  am  grabe  des  auferstandenen,  5941  die  Ver- 
kündigung des  auferstandenen  durch  Maria.  5958  ist  darunter  die 
fahrt  der  jünger  von  Emmaus,  918  die  Sendung  der  pharisäischen 
boten  an  Johannes  den  Täufer  zu  verstehen.  Lässt  sich  dieser  letzte 
beleg  nur  mit  einiger  mühe  in  unsere  kategorie  einordnen  (doch  sind 
es  immerhin  geistliche  boten),  so  fügt  sich  der  einzige  beleg  des  ver- 
bums urundian  wieder  gut:  2157  habda  tlio  giurundid,  al  so  he  uuelde, 
er  hatte  seine  bitte  bei  Christus  nach  wünsch  angebracht,  Dass  der 
begriff  der  bitte  oder  auch  der  fürbitte  oft  in  diesen  Worten  liegt, 
zeigt  auch  Gen.  430:  Eva  will  den  wünsch  des  angeblichen  gottes- 
boten  erfüllen;  wir  haben  seine  gunst  nötig;  er  kann  beim  allmäch- 
tigen ein  wort  für  uns  einlegen;  auch  Hei.  3966  Hesse  sich  anführen. 

Dass  an  einer  derartigen  bedeutung  nicht  gezweifelt  werden  darf, 
zeigen  ferner  die  ahd.  glossen.  Sie  bieten  1,  250 12  (in  Gl.  K.  wie  Ra.) 
aruntporo  für  supplex.  Eine  genauere  bedeutungsbestimmung  für  diesen 
beleg  wie  für  1,  2542?  (Gl.  K.  und  Ra.)  epistola,  foranondic,  fornoniic 
armiti^  wird  sich  bei  der  anläge  des  keronischen  glossars  wohl  kaum 
geben  lassen.  Geistliche  bedeutung  kann  man  hier  allerdings  nur 
vermuten;  ziemlich  sicher  ist  sie  218 12 f.  (nicht  Ra.,  w^ohl  aber  Gl.  K.) 
-preceiHa  uel  mandata  pipod  edho  arimdi. 

Dieses  arundl  ist  auch  seiner  lautlichen  gestalt  wegen  interessant, 
da  es  gegenüber  dem  sonst  allgemein  üblichen  anmü  ein  d  zeigt. 
Immerhin  möchte  ich  in  K.  diese  Schreibung  nicht  lautlich  interpre- 
tieren,   sondern    orthographiegeschichtlich   ansehen  ^.     Es   handelt  sich 

1)  Diese  seltsame  Übersetzung  soll  offenbar  besagen  eine  botschaft,  die  man 
vor  äugen  hat,  was  für  aruiiti  die  bedeutung  der  mündlichen  botschaft  als  ursprüng- 
lich sichert. 

2)  Auch  aronthi  1,  600  le  gehört  hierher.  Es  handelt  sich  hier  offenbar  nur 
um  eine  orthographische  Variante,  denn  der  cod.  p,  aus  dem  dieser  beleg  stammt, 
schreibt  auch  6ÜO12  uothmcgir  (=  exactor  notmeior)^  597  52  niht  yenneith  wirt  (—  non 
putahitur,  gianitmi  ni  uairdit),  597  go  gihooth  ivirt  (=  fodietur  giJiouot  uulrdit). 

ZEITSCHRIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLH.  27 


402  OUNTEiniAXX 

Ulli  die  altertümliche  c?-sclireibiiiig',  im  letzten  gründe  um  den  weclisel- 
gebrauch  von  d  und  t,  während  in  Ra.  'die  raodernisierung  radikal 
vollzogen'  ist\  Doch  ist  2,42  29  legacionem  arundi  ~  ebenfalls  ein 
sehr  alter  beleg  (vgl.  Ahd.  gl.  4,  66632)  -,  wie  ich  glaube,  anders  zu 
beurteilen.  Hier  vermag  ich  in  d  nur  noch  ein  anzeichen  mehr  für 
die  entlehnung  zu  sehen  ^ 

Wenden  wir  uns  nun  wieder  zur  bedeutung,  so  kommt  zuerst 
Otfrid  in  betracht.  Er  gebraucht  aranü  für  die  engelsbotschaft  bei 
der  Verkündigung  der  geburt  Johannes'  I,  4)  48,  58,  65,  67  (dieses 
letzte  mal  direkt  gotes  arunti),  der  geburt  Christi  I,  5)  4,  25,  42,  72, 
auch  7)  2,  bei  den  hirten  in  der  heiligen  nacht  I,  12)  10.  Dazu 
kommen  folgende  worte  Johannes  des  Täufers  I,  27)  53  f. : 
tviht  ni  wizut  ir  sin,  thaz  ist  thoh  arunti  min, 
thaz  ih  iu  gizalti,  waz  er  hera  wolti. 

Und  entsprechend  ist  IV,  14,  1  (wie  Hei.  1889)  arunti  der  mis- 
sionsauftrag  der  apostel.  Zu  Hei.  918  stimmt  es  andererseits,  wenn 
das  wort  bei  jener  botschaft  der  Pharisäer  an  Johannes  den  Täufer 
I,  27)  13,  16,  69  verwendet  wird. 

Wie  die  stellen  aus  Otfrid  so  passen  auch  die  aus  den  gl  os- 
sären im  allgemeinen  gut  in  die  hier  vertretene  bedeutungssphäre. 
Der  einzige  beleg  für  das  verbum  ist  1,  725  39  euangelizans  arintonte 
(Lucas  81  praedicans  et  evangelizans  regnum  Dei).  Dazu  das  substan- 
tivum:  1,  384 19  f.  uerhum  aronti,  arenti,  arunote,  arnntin  (Richter  3,  19 
dixit  ad  regem :  verbum  secretum  haheo  ad  te,  0  rex;  in  vers  20  variiert 
zu  verbum  Dei  habeo  ad  te);  1,  600 15 f.  uerbuni  aronti,  aronthi,  arunti, 
rünunga,  rununga  (Jesaias  98  verbum  misit  Dominus  in  Jacob.),  1,400  38  f. 
in  uia  aronte,  arunte  (1.  Sam.  15  20  et  ait  Saul  ad  Samuelem  :  immo 
audivi  vocem  Domini  et  ambidavi  in  via  per  quam  misit  me  Dominus). 
Dann  2,  42  29  legacionem  arundi  (vgl.  Migne,  Patrologia  latiua  39,  2171 
iubente  enim  Christo  legationem  pauperum  apud  vos  agimus;  der  priester 
ist  hier  als  göttlicher  Stellvertreter,  als  anwalt  der  armen  gedacht: 
inter  vos  et  'p<^up)eres  quasi  mediatorem  me  p)osuit  Deus).  Und  schliess- 
lich als  auftrag  des  heiligen  Stuhls  zu  Rom  2,  117i8ff.  in  mandatis 
in   aronten,   in   aronton,   arontun,   arontvn:,   vgl.  Canones,    Koncil   von 


1)  Z.  b.  252  1  Gl.  K.  scanda,  Ra.  scanta  ;  i4  Gl.  K.  rahchondi,  Ra.  raJionti  usw. 
Vgl.  Kauffmann,  Das  keron.  glossar,  Ztschr.  32,  168  ff. 

2)  Denn  sonst  bevorzugt  der  allerdings  sehr  kurze  text  stets  die  «-Schreibung : 
41 17  altercantes  pacanti,  4224  exacturus  est  arpeitenti  ist,  42  27  iuhente  pipeotan- 
temo,  wie  er  überhaupt  zur  fortis  neigt. 


AIID,   AUUNTI,    MHD.    ERXDE  403 

Carthago  von  419  iu  der  einleitung-,  wo  der  päpstliche  legat  sagt': 
Inmncta  nobis  sunt  a  sede  cqjostolica  aliqua  per  scripturam,  aliqua 
etiam  in  mandatis'^. 

Nicht  so  glatt  fügen  sich  folgende  glossenstellen  1,  403 1  uia 
nronüK  Da  es  sich  hier  um  1.  Sam.  21 5  handelt,  ist  klar,  dass  dieser 
fall  vom  oben  erwähnten  beeinflusst  ist,  wo  via  aronti  der  ursprüng- 
lichen bedeiitimg  gerecht  wurde.  Dazu  stellen  sich  1,  482-28  uacnos 
unarentes  (Judith  In)"*  und  1,699  28  ff.  in  mandatis  marentim^,  aron- 
tun,  0  er  inte  ". 

Wende  ich  mich  nun  zu  Notker,  so  bietet  sich  bei  diesem  vor 
allem  anderen  seine  psalmenübersetzuug,  in  der  sich  schöne  belege 
finden.  Psalm  32.5  (Piper  II,  107)  uuanda  euangeliimi  chomen  ist,  wo 
ecancjelium  noch  mit  kuijt  urende  [=  yotspel]  übersetzt  ist ;  85  le  ßot 
mihi  seciüidiwi  verhum  tuum  nah  dinemo  drinde  so  bescehe  mir  (II,  358); 
1034  (II,  ^34:)  tiuntios  tierbi  tut  pötin  dinis  drindis;  10427  (II,  44:7)  posuit 
in  eis  cerba  signorum  siiorum  et  prodigiorum  in  zuein  bnuilh  er  diu 
unort  unde  diu  urende  smero  zetcheno;  126  5  (II,  558)  an  imo  staut  sie 
unz  sie  die  überuuindent  die  iro  ärende  loügenent.  Das  wort  ist  also 
in  der  geforderten  bedeutung  Notker  ganz  geläufig.  Daneben  gebraucht 
er  es  in  seiner  Übersetzung  des  Martianus  Capeila  aber  auch  in  anderer 
zweimal :  Piper  I,  723  so  sie  darachümen  unde  iro  ärende  tüon  müoson  ' 
wie  727  unde  er  sdmoso  Mmüozig er  stn  ärende  so  er  gebiite  trihen  nemähti^. 

Gehe  ich  nun  zu  den  belegen  der  mhd.  periode  über,  so 
empfiehlt  sich  (was  im  ahd.  noch  nicht  nötig  war)  eine  geographische 

1)  Gillivray,  The  inflneuce  of  christianity  on  tlie  vocabularj  of  old  englisli, 
§  130:  But  apart  from  the  possibility  of  au  O.E.  legat,  there  is  to  be  found  with 
some  degree  of  certaiuty  only  the  native  vocable  cBrend-raca,  'messenger'  in  general, 
for  the  'legatus'  of  the  pope. 

2)  Die  bedeutung  des  mündlichen  auftrags  tritt  bei  diesem  gegensatze  scharf 
hervor,  die  griechische  fassung  schreibt  sogar  aYpäcptüs. 

3)  J^t  respondit  David  sacerdoti:  Equidem,  si  de  muUeribus  agitiir :  eon- 
iiniiimus  nos  ab  heri  et  nudiustertius ,  giiando  egredichamur  et  fuei'unt  vasa 
pueroruni  saiicta.    Porro  via  haee  polluia,  sed  et  ipsa  hodie  sanctificahitur  in  vasis. 

4)  Jud.  1 10  ad  hos  omnes  misit  nuntios  Nabuchodonossor  rex  Assyriorum, 
11  qui  omnes  uno  animo  contradixerunt,  et  remiserunt  eos  vaciios  et  sine  Jionore 
ahjecerunt. 

5)  Lies  in  arentun. 

6)  2.  Maccab.  813  at  ille  pro  Ms,  quae  habebat  in  mandatis  a  rege,  dicebat 
omni  genere  regi  ea  esse  deferenda. 

7)  qui  postquam  introgressi  et  coram  data  copia  fandi. 

8)  ne  ...  cyllenius  .  .  .  velut  maritali  uacutione  feriatus  discursare  sab  pre- 
cepiis  iouialibus  denegarei. 

27* 


404  GUNTKKMANN 

gliedernug  der  belege.  Zunächst  das  mitteldeutsclie  Sprachgebiet. 
Die  Eheingegend  bietet  (könig  Rother  2912  mit  lievem  erande)  einen 
fjill  mit  allgemeinerer  bedcntnng;  gut  geistlich  ist  dagegen  eine  andere 
stelle,  ans  des  armen  Hartmann  rede  vom  glouven.  P]s  handelt  sich 
dabei  um  den  segensspruch  ^  Christi  an  Maria  Magdalena,  die  froh 
dahingeht  mit  liebin  erinde  2209.  Doch  je  weiter  wir  in  das  mittel- 
alter  gelangen,  desto  mehr  tritt  die  ursprüngliche  bedeutung  zurück. 
So  bei  Herbort  von  Fritzlar  13  868  er  sprach  er  ivere  es  gerende  daz 
im  gut  erende  zu  iverbende  geschee  (als  man  den  jungen  söhn  des 
Achilles  nach  Troja  zu  hilfe  holt).  Ebenso  in  dem  viel  späteren 
(zweite  hälfte  des  14.  Jahrhunderts)  nordostmitteldeutscheu,  vielleicht 
preussischen  schachbuch,  Zfda.  17,  343  3-4  daz  si  des  vatir  erne  vol- 
brengin  woltin  gerne.  Genau  so  liegt  die  sache  in  der  Düringischen 
chronik  des  Johann  Rothe:  §  101  her  hette  eigne  ere  ze  icerbin  zu 
Dario,  §  520  hastu  die  ere  geworben''.,  wobei  es  sich  sogar  um  einen 
mordauftrag  handelt.  Geistlichere  färbung  hat  aber  wieder  die  schon 
von  Diemer,  Genesis  und  Exodus  H,  80  zitierte  stelle  des  väterbuchs 
ivelh  zu  im  tvere  ir  ernde.  Es  kommen  da  zwei  junge  leute  zum 
heiligen  Macharius;  dieser  fragt  in  jener  weise,  und  sie  erklären  darauf- 
hin, ein  heiliges  leben  bei  ihm  führen  zu  wollen.  Die  bedeutung  ist 
demnach  hier  zwar  allgemein,  aber  der  stil  weist  doch  auf  geistliche 
grundbedeutung  "'. 

Besser  hat  sich  die  alte,  überwiegend  geistliche  bedeutung  im 
alemannischen  Sprachgebiete  gehalten.  An  der  spitze  steht  hier 
arnebote  ^  (in  einem  gebete  an  den  heiligen  Petrus  aus  dem  kloster 
Muri):  daz  du  mir  zi  iinsirme  trehtine  arnebote  siest  (Wackernagel, 
Lesebuch  I  ^,  s.  436  7  f.).  Geradezu  auffallend  ist  die  stelle  aus  Walthers 
von  Rheiuau  Marienleben  II  (Tübinger  Universitätsschriften  aus  dem 
jähre  1852),  s.  9  von  dem  ernde  der  heiligen  magt  Marian.    Nur  dieses 

1)  wih,  nü  ganc  du  hine, 
gesegeiit  in  minem  fride, 
vergehen  sint  dir  drne  sctilde 
und  habe  dir  gotis  htilde 
und  tu,  als  ih  dih  lere 

und  ne  sunde  niivit  mere. 

2)  Die  zweite  haupthandschrift  des  Werkes,  die,  nach  den  sprachformen  zu 
schliessen,  etwas  älter  ist,  hat  das  unverkürzte  \rnde,  vgi.  die  ausgäbe  von  Lilien- 
cron  8.  699. 

3)  Diese  angaben  beruhen  auf  einer  freundlichen  mitteilung  von  G.  Holz. 

4)  arnebote  ist  gewiss  eine  kurzform  von  arndebote.  Solche  zusanimensetzuugeu 
sind  auch  sonst  belegt:  cerendsecg,  aruntporo.    Zu  arne  vergleiche  md.  erm. 


AHD.  ARUNTI,    MHD.    ERNDE  405 

eine  mal  in  dem  langen  gedichte  findet  sich  das  wort,  und  hier  bandelt 
es  sich  um  die  engelsbotschaft  bei  der  Verkündigung  Christi.  Dazu 
stellen  sich  noch  die  belege  aus  den  Grieshaberschen  predigten  II,  wo 
das  subst.  ernder  und  das  verb.  er7iden  vorkommen;  s.  92  wird  jene 
geschichte  erzählt,  wo  Christus  der  ihm  nachlaufenden  und  nachrufen- 
den frau  die  erbetene  hilfe  zunächst  nicht  gewähren  will:  tmn  diziii 
frowe  vll  geruofte  und  vil  gescrai,  da  von  getvan  si  mit  ir  scrigende 
und  mit  ier  vuefende  vil  ernder  und  vil  bitter,  dann  erkanden  wir  .  ,  . 
die  ernder  und  die  bitter  so  ruoften  ivir  och  mit  unserem  gebet,  und 
schliesslich  zem  dritten  mal  son  ivir  ruefen  und  scrigen  hinz  got,  daz 
wir  unser  ernder  tmd  unser  bitter  envegen  und  uf  bringen;  dazu  noch 
auf  s.  96  darumbe  daz  wir  unser  ernder  und.  bitter  erwegen  und  hinz 
sich  die  iunger  unsers  herren  über  si  erbarmoton  und  daz  si  ier  ern- 
doton  umbe  got.  Es  handelt  sich  hier  immer  um  f Ursprache  beigott'. 
Nur  Lanzelet  5796  macht  in  Alemannien  eine  ausnähme  '^.  Es  ist  stil- 
geschichtlich interessant,  dass  gerade  der  Verfasser  des  Lanzelet,  der 
doch  wohl  jener  capellanus  Uolricus  de  Cecinchovin,  plebanus  Lou- 
nieissae  war,  das  offenbar  in  der  konversation  nicht  übliche  wort  ver- 
wendet. Er  steht  darin  mit  dem  dichter  des  königs  Rother  auf  einer 
stufe.  Hier  aber  sind  noch  zusammenhänge  mit  der  geistlichen  dich- 
tung  vorhanden.  Wo  sich  dagegen  die  laiendichtung  ganz  von  dieser 
befreit  hat,  hat  sie  auch  dieses  wort  gemieden:  Hartmann,  Wolfram, 
Gotfrid  gebrauchen  es  nicht.  Die  stilistisch  von  diesen  meistern 
abhängige  geistliche  dichtung  aber  kann  es  doch  wieder  zulassen. 
Walthers  von  Rheinau  stil  ist  so  weit  verrittert,  dass  er  I,  48  von 
Maria  als  gotes  muoter  und  annen  sprechen  kann,  aber  anderseits 
findet  man  in  seinem  Averke  das  geistliche  ernde. 

Ein  eigentümliches  bild  bietet  die  bayrisch-österreichische 
Überlieferung.  Sie  verwendet  das  veraltete  wort  kaum  noch.  Mir  ist 
nur  ein  fall  bekannt  aus  der  älteren  fassung  der  Genesis:  er  chot  sin 
herre  hete  in  dare  gesant  umb  einen  michelen  ärant  (Fundgruben  II,  34  30). 
Trotzdem  die  Originalfassung  einen  bequemen  reim  bot,  hat  der  bear- 
beiter,  der  wahrlich  wenig  sprach-  und  reimtalent  hatte  und  schon 
deshall)  das  wort  hätte  stehen  lassen,    wenn  es  ilini  nicht  gar  zu  uii- 

1)  Vgl.  oben  supplex  aruntporo,  besonders  aber  Gen.  430  he  mirg  unc  <eren- 
dian  tö  Jxrm  alwaldan. 

2)  5794  ff.  als  ich  tu  nu  sagele, 

so  sült  ir  fiirhas  verstau 

wie  der  megede  ernde  was  getan, 

sit  irs  haerent  gerne. 


406  OUNTEinrAXN,    AHD.  AHUNTI,    MIU>.    KUNDE 

modern  vorgekommen  wäre,  hier  i;eändert  in:  er  sprach:  min  herre 
hat  mich  her  gesant,  sine  hotschaft  hat  er  c/eivant.  Und  dieser  fall 
steht  nicht  allein.  Schon  am  aiisgang-  der  ahd.  zeit  lässt  sich  der- 
artiges feststellen.  Das  beweist  die  Wiener  fassnng  von  Notkers 
psalmenübersetzung.  Notker  hatte  in  seiner  Übertragung  das  wort 
fünfmal  gesetzt.  Davon  kommt  85  le  von  vornherein  nicht  in  betracht, 
da  in  der  jüngeren  handschrift  die  psalmen  51-100  fehlen.  Aber  325 
hat  man  die  glossierung  kiwt  arende  unterdrückt.  Zweimal  ist  sogar  der 
Wortlaut  verändert,  103  4  poton  dines  uuortes,  126  5  die  ira  botesccfte 
loiigenent.  Nur  1040?  dei  arende  sinero  zeichenne  ist  stehen  geblieben. 
Die  bearbeitung  aber  stammt  aus  dem  kloster  Wessobruun.  Ahnlich 
hat  die  Wiener  handschrift  des  Lanzelet  an  der  betreffenden  stelle 
ernde  ausgelassen  und  schreibt  wie  das  megete  was  getan  (vgl.  die 
ausgäbe  von  Hahn,  s.  260).  Und  dazu  gesellt  sich  ein  noch  ein- 
leuchtenderer fall  aus  der  tirolischen  bearbeitung  des  md.  väterbuehs  ^ 
(Zingerle,  Wiener  sitzungsber.  1870,  s.  237).  Jene  stelle  vom  heiligen 
Macharius  lautet  da  zeile  51  f.: 

Si  fragten  mich  der  maere, 

wa  die  seile  waere, 

da  sie  Macharium  fanden. 

Do  pat  ich  mir  kiinden, 

weihe z  zu  im  waer  ir  ende? 

„Da  sei  wir  des  gernde, 

daz  tvir  durch  gut  in  ivellen  sehen, 

ob  uns  daz  mach  an  im  geschehen." 
Hier  hat  der  bearbeiter  dadurch,  dass  er  ende  an  stelle  des  ihm 
sicher  nicht  bekannten  ernde  einführte,  es  sich  sogar  den  reim  kosten 
lassen.  Jedenfalls  wird  man  mit  einigem  rechte  behaupten  können, 
dass  ernde  in  der  mhd.  zeit  auf  dem  bayrisch-österreichischen  Sprach- 
gebiete so  gut  wie  ungebräuchlich  war^. 

1)  An  ein  sclireibversehen  wird  jemand,  der  die  ol)igeu  fälle  berücksichtigt, 
nicht  glauben.  Zudem  bemerkt  Zingerle  s.  145  ausdrücklich,  dass  die  handschrift, 
die  sprachlichen  änderungen  abgerechnet,  sorg-fältig  und  treu  gefertigt  ist  und  dass 
schreib  Verstösse  oder  nachlässigkeiten  selten  begegnen. 

2)  Bemerkenswert  ist,  dass  das  einzige  arant  der  Genesis  im  reime  stellt. 
Ebenso  sind  die  stellen  bei  Hartmanu,  Herbort,  im  väterbuche  und  im  schachbuche, 
reimbelege.  Im  versschluss  aber  haben  sich  gern  die  veralteten  liestandteile  der 
spräche  gehalten;  vgl.  Steinmeyer,  Über  einige  epitheta  der  mhd.  poesie,  Erlanger 
Programm  1889,  s.  15. 

K[EL.  K.    GUNTERMANX. 


KAPPE,   DEUTSCHE   SYNALOEPHEN    IX   DEN   OTFRIDHANDSCHKIFTEN  407 

DEUTSCHE  SYNALOEPHEN  IN  DEN  OTFRID- 
HANDSCHKIFTEN. 

Baeseckes  ausfülirungen  in  den  Beitr.  36  374  fg.  geben  mir  er- 
wünschte gelegenlieit,  noeli  einmal  die  prinzipien  darzulegen,  die  meines 
erachtens  die  beurteilung-  der  synaloephe  in  den  Otfridhss.  leiten 
müssen.  leb  kann  nicht  umhin,  hier  wiederum  den  wichtigen  passus 
über  die  synaloephe  aus  der  vorrede  Otfrids  an  Liutbert  wörtlich  an- 
zuführen; es  hängt  alles  daran,  wie  diese  sätze  richtig  zu  interpretieren 
seien:  Patitur  quoque  metaplasmi  figuram  nhnium  (non  tarnen  assidue), 
quam  doctore.^  grammaticne  artis  vocant  sinnlipham,  et  hoc  nisi  legentes 
praevldeant,  rationis  dicta  deformius  sonant,  lüeras  interduni  scriptione 
serocmtes,  interdum  vero  ehraicae  linguoe  more  vitantes,  quihus  ipsas 
lüeras  ratione  sinaliphae  in  lineis,  iit  qiiidani  dicunf,  penitus  amiUere 
et  transilire  moris  habetur ;  non  quo  series  scriptionis  hujus  7netrica  sit 
subtilitate  constricta,  sed  Schema  omoeoteleuton  assidue  quaerit.  Äptam 
en/'m  in  hac  lectione  et  priori  decentem  et  consimilem  quaerimt  verba  in 
ßne  sonoritatem,  et  non  tantum  per  hanc  inter  diias  vocales,  sed  etiafn 
inter  alias  literas  saepissime  patitur  co7ilisionem  sinahphae ;  et  hoc  nisi 
ßat,  extensio  sepius  literarum  inepte  sonat  dicta  verhorum.  Quod  in 
commtmi  quoque  nostra  locutione,  si  sollerter  intendimtis,  nos  agere  ni- 
mium  invenimus.  Quaerit  enini  linguae  hujus  ornatiis  et  a  legoitibus 
sinaliphae  lenem  et  conlisionem  lubricam  praecavere  et  a  dictantibus 
omoeotelenton ,  id  est  consimilem  verborum  terminationem,  observare. 
Die  vorrede  an  Liutbert  erörtert  im  ersten  teil  die  literarischen  Vor- 
aussetzungen, tendenz  und  einteilung  des  werkes,  um  im  zweiten  teil 
einige  eigentümlichkeiten  deutscher  spräche  aufzuzeigen.  Otfrid  be- 
spricht die  Verbindung  uuu,  den  vokal  unbestimmter  klangfarbe  u.  a.  ni. 
Es  heisst  dort:  Et  etiam  hoc  elementum  lingua  haec  horrescit  inter- 
dum, nulli  se  caracteri  aliquotiens  in  quodam  sono,  nisi  difficile,  jiingens ; 
k  et  z  sepius  haec  lingua  extra  usurn  latinitatis  utitur,  quae  gram- 
niatici  inter  litteras  dicunt  esse  snperßuas.  Ob  stridorem  autem  inter- 
dum dentium,  ut  puto,  in  hac  lingua  z  utuntur.  h  autem  ob  fautium 
sonoritatem.  Dann  folgt  unvermittelt  der  satz :  Patitur  ...  Es  scheint 
mir  in  der  tat  nötig  einmal  ausdrücklich  festzustellen,  dass  Otfrid  in 
den  einleitenden  sätzen  des  zweiten  teils  der  vorrede  (von  Hujus  enim 
linguae  barbaries  .  .  .  an)  ganz  allgemein  von  charakteristischen  zügen 
deutscher  spräche  {haec  lingua)  redet.  Der  satz,  der  mit  patitur 
beginnt  und  mit  moris  habetur  endet,   bringt  nur  einen  neuen   beitrag 


408  KAl'l'E 

zur  Charakterisierung  der  deutschen  spräche.  Er  besagt:  neben  jenen 
anderen  Sonderheiten  der  deutschen  spräche  ist  wichtig  zu  wissen, 
dass  sie  auch  jene  figur  des  metaplasmus  kennt,  die  die  lateinischen 
grammatiker  svnaloephe  nennen;  sie  macht  von  dieser  synaloephe 
ausgedehnten  gebrauch  (nimium),  aber  sie  verlangt  sie  doch  nicht 
immer,  was  Otfrid  selbst  noch  ausdrücklich  hinzuzufügen  für  gut  be- 
findet {no7i  tarnen  ass/due) ;  und  wenn  die  leser  deutscher  spräche  die 
synaloephe  nicht  durchführen,  klingen  die  worte  des  satzes  miss- 
gestaltet ^.  Der  schluss  des  satzes  bringt  eine  analyse  dieser  synaloephe. 
Wie  sollte  Otfrid  sie  wohl  anders  und  besser  beschreiben  als  durch 
den  ihm  und  seinen  standesgenossen  geläufigen  hinweis  auf  ähnliche 
dinge  im  lateinischen  und  hebräischen  ^ !  Er  erläutert  die  synaloephe 
durch  die  analogie  der  vokalpunktuation  des  hebräischen  und  natürlich 
in  erster  linie  durch  die  analogie  der  synaloepheregeln  der  lateinischen 
poesie.  Damit  aber  diese  analogie  nicht  zu  weit  getrieben  werde,  be- 
eilt sich  Otfrid  hinzuzufügen:  non  quo  series  scriptionii<  hujus 
metrica  sit  suhtilitate  constricta.  Nicht  als  ob  die  folge  des 
hier  vorliegenden  werkes  an  diese  synaloephen  wie  an  eine  metrische 
feinheit.  an  ein  kunstprinzip  metri  causa  gebunden  sei.  Ich  stelle 
fest:  erst  mit  diesem  satze  geht  Otfrid  auf  sein  gedieht  über.  Der 
gedankengang'  ist  in  breiter  ausf ührung  folgender :  wenn  ich  die  deutsche 
synaloephe  mit  der  lateinischen  synaloephe  (die  ein  kunstprinzip  metri 
causa  ist)  verglichen  habe,  gilt  das  nicht  in  dem  sinne,  als  bedeute 
die   synaloephe   in   meinem   gedieht  -  wo    ich   sie  natürlich  auch  znr 

1)  Es  ist  sicher  riclitig,  ''dicta  raiionis''  hier  allgemeiu  zu  fassen  als  Svorte 
des  satzes',  in  der  prosa  uat'ürlicli.     In  dieser  liedeutimg  hegeguet  ratio  hei  Cicero. 

"Anzuführen  ist  aucli,  was  Erdmann  z.  st.  s.  328  anmerkt:  jene  hedeutung  erkläre 
sich  vielleiclit  dadurch,  dass  das  wort  als  gleichbedeutend  mit  ahd.  recla  =  vernünftige, 
in  sich  zusammenhängende  rede  galt.  Den  heweis  liefert  weiter  unten  der  satz: 
Duo  etiam  negativi,  dum  in  latiniiate  rati onis  dicta  confirmant ,  in  hiijtis 
linguae  usu  pene  assidue  negant.  Hier  wie  oben  liehandelt  Otfrid  eine  deutsche 
Spracheigentümlichkeit  und  veranschaulicht  sie  am  gegensatz  lateinisclieu  Sprach- 
gebrauchs, wobei  dictn  rationis  doch  wohl  nichts  anderes  meinen  kann  als  die  folge 
eines  prosasatzes. 

2)  Otfrid  fällt  hier  aus  der  konstruktion.  Auf  den  parenthetischen  satz  et 
hoc  nisi  legentes  jiraevideant  .  .  .  folgt  literas  interdum  scriptione  servantes,  inter- 
dum  vero  ehraicae  linguae  more  vitantes.  Ich  möchte  als  Subjekt  zu  5en;rt«^es  nicht 
die  doctores  grammaticae  atiis  einsetzen,  sondern  legentes  oder  deutlicher:  sie,  die 
Deutschen,  wenn  sie  deutsch  lesen.  Sie  bewahren  bisweilen  die  buchstaben  in  der 
sckrift,  bisweilen  aber  lassen  sie  sie  aus  wie  im  hebräischen.  Will  sagen:  sie 
brauchen  in  ihren  hss.  schreibformen  und  gekürzte  sprechformen  —  eben  wie  Otfrid 
es  auch  halten  will. 


DEUTSCHE    SVXALOEPHEX    IX   DEX    OTFRIDHAXDSCHRIFTEX  409 

geltuiig,'  bring-en  nniss,  weil  es  eben  ein  deutsches  gedieht  ist  -  ein 
kiuistgesetz,  eine  feinheit  rein  metrischen  Charakters,  an  die  mein  ge- 
dieht zwingend  gebunden  sei  wie  die  lateinische  poesie  an  ihre  hiat- 
und  synaloepheregeln.  Das  kuustgesetz  seines  gedichtes,  und  darum 
obligat,  ist  der  endreim :  sed  Schema  omoeoteleuton  assidue  quaerit. 
Otfrid  weist  ausdrücklich  eine  gleichsetzung  der  deutschen  synaloephe 
mit  der  lateinischen  von  der  band ;  daher  die  gegensätzliche  anknüpfung 
mit  non  quo,  die  ihn  zugleich  durch  den  zwischen  den  zeilen  schwe- 
benden gedanken  an  die  lateinische  poesie  zu  seinem  eigenen  gedieht 
überleitet.  Er  stellt  die  deutsche  synaloephe  als  sprachliche  erschei- 
nung  in  gegensatz  zum  endreim  als  kunstprinzip  seines  werkes;  drum 
die  gegensätzliche  anknüpfung  mit  sed  und  diese  Zweiteilung  des  satzes, 
die  unten  noch  einmal  wiederkehrt.  Ich  fasse  demnach  schema  omoeo- 
teleuton als  akkusativ  und  setze  als  Subjekt  series  scriptionis  Intjus. 
Schema  hier  als  nominativ  zu  nehmen,  scheint  mir  schon  das  verbum 
zu  verbieten.  Man  sollte  mit  non  quo  einen  neuen,  selbständigen  satz 
beginnen.  Der  folgende  satz  bringt  denn  auch  die  definition  des  kunst- 
prinzips,  das  für  sein  gedieht  obligat  ist:  Aj^tam  enim  in  hac  lectione 
et  priori  decentem  et  co)ismiIem  quaenmt  verba  in  fine  sonoritatem. 
Es  folgt  dann  nicht  etwa  eine  blosse  Wiederholung  dessen,  was  schon 
oben  über  die  synalöphe  ausgesagt  war,  vielmehr  die  anwendung  der 
synaloephe,  die  oben  als  Charakteristikum  deutscher  spräche  aufgezeigt 
war,  auf  das  vorliegende,  in  deutscher  spräche  abgefasste  kunstwerk: 
um  des  reimverses  willen '  ist  die  conlisio  slnaUphae  nicht  nur  zwischen 
zwei  vokalen,  sondern  auch  zwischen  anderen  buchstaben  sehr  häufig 
(saepissime)  nötig.  Will  sagen :  Otfrids  vers  ist  zwar  nach  lateinischem 
muster  gebildet,  beruht  aber  auf  deutschen  betonungsgesetzen.  Für 
seinen  reimvers  gilt  als  oberstes  prinzip,  dass  die  rhythmische  be- 
tonung  sich  mit  der  phonetischen  betonung  decken  muss.  Es  gibt 
keine  sprachwidrige  betonung  im  verse.  Drum,  meint  Otfrid,  soll  es 
auch  keine  sprachwidrigen  vollformen  im  verse  geben.  Er  hat  die 
gesprochene  spräche  belauscht  und  möchte  die  synaloephe  in  seine 
neue  kunstform  einführen,  auf  dass  sie  den  erdgeruch  volkstümlich 
deutschen  sprachklangs  nicht  vermissen  lasse.  Das  scheint  ihm  ein 
erfordernis  seines  verses  (per  haue!).  Er  hat  oben  gesagt,  man  be- 
komme beim  lesen  eines  deutschen  satzes  eine  ungehörige  Vorstellung, 
wenn  die  synaloephe  nicht  beachtet  werde.    Er  wiederholt  es  hier  mit 

l)  Sollte   man    nicht  jhv   hanc   auf  in  hac  lectione  beziehen  küunen:    durch 
den  ganzen  verlauf  dieses  gedichtes  ist  synaloephe  erforderlich? 


410  KAPl'K 

rücksicht  auf  den  Vortrag  seiner  versc :  et  hoc  7iisi  ßnt,  extensio  sepius 
literarum  inepfe  sonnt  dicta  verborum.  Otfrid  bedient  sich  bei  diesen 
darlegungen  immer  der  ausdrücke,  die  ihm  von  lateinischer  spräche 
und  kunst  her  geläufig'  sind.  Wenn  er  für  die  conlislo  smi/liphne 
inter  alias  literas  den  ausdruck  ecthlipsis  meidet,  steht  wenigstens  zu 
vermuten,  dass  hier  die  analogie  des  lateinischen  unzulässig  sei  ^  Die 
deutsche  sj^naloephe  zeigt  hier  ein  anderes  gesiebt,  und  Otfrid  geht 
immer  vom  deutschen  aus  und  redet  nur  von  deutscher  synaloejjhe. 
Es  folgt  der  strittige  satz:  Quod  in  commujii  quoque  nostra  locutione 
si  sollerier  intendimus,  nos  agere  tiimium  invenimus.  Quod  in  rela- 
tivischer  anknüpfung  bezieht  sich  auf  den  Inhalt  des  ganzen  vorauf- 
gehenden Satzes.  Der  satz  mit  quod  schliesst  den  kreislauf  des  Ot- 
fridschen  gedankenganges.  Er  geht  aus  von  der  Umgangssprache:  sie 
duldet  die  synaloephe  nimium ;  man  hat  beim  lesen  darauf  zu  achten, 
sonst  klingen  die  sätze  ungehörig.  Mit  bezug  auf  sein  gedieht:  man 
hat  saepissime  synaloephe  eintreten  zu  lassen,  sonst  ruft  die  schrift 
einen  falschen  eindruck  des  Werkes  hervor,  und  zur  begründung  noch 
einmal  als  schlusssatz  den  ausgangssatz  (den  er  wiederholt  wie  die 
beziehung  auf  den  eindruck  des  Schriftbildes):  der  Vortrag  soll  sich 
so  darstellen,  wie  die  alltägliche  spräche  es  zeigt,  wenn  wir  sie  einmal 
aufmerksam  belauschen.  Das  wörtchen  nimium  im  rahmen  der  Um- 
gangssprache bildet  grundstein  und  schlussstein.  Nicht  auf  den  satz 
mit  quod  allein  stützt  sich  demnach  die  these,  dass  die  synaloephe 
bei  Otfrid  in  der  deutschen  rede  gegründet  sei.  Ich  weiss  nicht,  ob 
man  dies  nicht  hie  und  da  vorausgesetzt  hat. 

Diese  erörterung  über  die  synaloephe,  wie  überhaupt  die  ganze 
vorrede  an  Liutbert,  dokumentiert,  dass  Otfrid  immer  vom  gesprochenen 
deutsch,  nie  vom  papiernen  deutsch  ausgeht.  Wie  kann's  auch  anders 
sein  bei  dieser  ersten  beschäftigung  mit  deutscher  spräche  und  in 
diesen  anfangen  deutschen  Schrifttums!  Otfrid  zeigt  auf  schritt  und 
tritt,  dass  er  die  eigenheiten  der  Volkssprache  im  wesentlichen  wohl 
zu  fassen  und  zu  würdigen  versteht,  wie  dies  die  handhabung  der 
synaloephe  im  text  auf  das  lebendigste  bezeugt.  Er  bemüht  sich,  von 
der  Orthographie  zum  lebendigen  klänge  vorzudringen.  Vom  a,  e,  i, 
u  zum  1/  ist  derselbe  weg,  wie  von  den  vollformen  der  schriftwörter 
zu  den  synaloephen  des  gesprochenen  deutsch.  Unter  diesen  gesichts- 
punkten  ist  mir  Otfrids  vorrede  nicht  'eine  kleine  weit  bornierter 
klassizistischer  Überlegenheit'  -  die  andernorts  nicht  geleugnet  werden 

1)  Vg-1.  Zwierziua,  Zfda.  81  295. 


DEUTSCHE    SYXALOEPHEN   IN   DEN    OTFRIDHANDSCHRIFTEN  411 

kann  und  soll  -,  vielmehr  eine  kostbare  erste  äusserung  lebendigen 
deutsehen  sprachbewusstseins.  Hier  hören  wir  die  ersten  töne  klingender 
deutscher  spräche.  Hier  zum  erstenmal  vernehmen  wir  den  herzschlag 
unserer  mutterspraehe,  die  noch  fast  unentdeckt  im  schösse  des  Volks- 
lebens schlummerte.  Der  letzte  satz  des  passus  über  die  synaloephe 
fasst  alles  zusammen,  was  Otfrid  über  Vortragsweise  und  kunstprinzip 
seines  gedichtes  sagen  will.  Wie  er  in  den  Worten  non  quo  series 
scriptionis  hnj'us  metrica  sit  subtilitate  constricta,  sed  Schema  omoeo- 
teleuton  assidue  quaerit  scharf  unterschieden  hat  zwischen  der  synaloephe, 
die  deutschen  lesern  durch  ihr  Sprachgefühl  lebendig  ist,  und  dem 
kunstprinzip  des  endreims,  sondert  er  hier  zusammenfassend:  die 
spräche  der  poesie  in  dieser  mundart  verlangt  ein  doppeltes:  von  den 
lesern,  dass  sie,  geleitet  durch  ihr  Sprachgefühl,  die  synaloephe  in 
den  Vortrag  hineintragen,  dagegen  vom  dichter,  dass  er  den  endreim 
beachte.  Nur  der  reim  als  kunstprinzip  ist  sache  des  dichters;  die 
synaloephe,  weil  sie  sprachläufig  ist,  könnte  eigentlich  dem  leser  über- 
lassen bleiben.  Warum  Otfrid  und  die  übrigen  Schreiber  sie  dennoch 
bezeichnet  haben,  werden  wir  noch  sehen.  Man  spürt  zwischen  den 
Zeilen,  wie  sorglich,  ja  wie  ängstlich  fast  Otfrid  diesen  Zusammen- 
hang seiner  neuen  kunst  mit  der  Umgangssprache  ins  rechte  licht  zu 
rücken  sucht.  Der  schluss  der  vorrede  enthält  weitere  bemerkungen 
über  deutschen  Sprachgebrauch,  nicht  mehr  so  allgemein  wie  die  ein- 
leitenden Sätze,  vielmehr  in  stetem  hinweis  auf  die  handhabung  dieser 
fragen  in  der  vorliegenden  dichtung,  und  läuft  in  eine  literarische 
Würdigung  der  deutschen  spräche  aus.  Mir  scheint  diese  vorrede  recht 
verständig  und  kunstvoll  disponiert. 

Ich  habe  diese  Interpretation  breitspurig  erörtern  zu  müssen  ge- 
meint, weil  ich  daraus  die  berechtigung  der  prinzipien  entnehme,  die 
meiner  einschätzung  der  synaloephen  in  den  Otfridhss.  zugrunde  liegen. 
Ich  halte  für  erwiesen,  dass  Otfrid  in  dieser  vorrede  aussagt,  die 
synaloephe,  die  er  in  seine  verse  einführt,  stamme  aus  der  gesprochenen 
deutschen  rede.  Keine  silbe  gibt  anlass  zu  vermuten,  Otfrid  habe 
eine  lateinische  kunsttheorie  auf  seine  verse  zu  übertragen  versucht. 
Man  hat  eingeworfen:  'warum  bezeichnet  Otfrid  denn  die  synaloej)he 
durch  elisionspunkte,  wenn  sie  spracligemäss  ist?  zumal  er  dafür  in 
der  lateinischen  poesie,  die  die  synaloephe  als  selbstverständlich  un- 
bezeichnet  lässt,  kein  Vorbild  hatte!'  'AVenn  es  also  jene  wundersame 
Sprechsprache  (im  gegensatz  zur  schreibsprache)  wirklich  gab,  so  waren 
die  punkte  nur  um  so  überflüssiger;  dann  brauchte  sich  jeder  leser 
nur   an   sein    Sprechsprachgefühl  -  sit   venia  -  zu  halten.'     Sehr  ein- 


412  KAIM'E 

fach.  Die  hiteiiiische  poesie  kann  leicht  die  synahjephe  als  selbst- 
verständlich unbezeichnet  lassen,  weil  es  sich  hier  um  rein  mechanische 
kimstregeln  handelt.  Hätten  Otfrids  deutsche  synaloephen  denselben 
eliarakter,  so  hätte  er  wohl  auch  auf  die  elisionspunkte  verzichtet, 
hätte  vielleicht  ein  paar  allgemeine  regeln  vorangeschickt.  Aber  seine 
synaloephen  entstammen  der  gesprochenen  rede,  wo  sie  naturgemäss 
von  den  jeweiligen  satzrhythmischen  bedingungen  abhängen.  Es  war 
nun  für  Otfrid  und  die  Schreiber  der  hss.  seines  werkes  eine  schwierige 
frage,  wie  sie  die  ihnen  von  der  muttersprache  her  geläufigen  syna- 
loephen in  die  rhythmischen  bedingungen  des  ungewohnten  neuen 
versmasses  einfügen  sollten.  Die  handhabung  der  elisionspunkte, 
korrekturen,  gegenseitige  abweichungen  zeigen,  wie  die  Schreiber  ge- 
schwankt haben,  wie  sie  oft  verschiedene  wege  einschlagen.  Aber 
eins  steht  fest:  Otfrid  und  ebenso  die  übrigen  Schreiber  sind  sich 
stets  bewusst  gewesen,  es  gälte  hier  etwas  sprachgemässes  dem  wider- 
spenstigen neuen  verse  anzupassen.  Jede  synaloephe,  die  irgend- 
einer der  Schreiber  einzuführen  für  gut  befindet,  ist  unter  allen  um- 
ständen sprach  gemäss.  Die  frage  ist  nicht,  ob  sie  'immer  gleich 
das  natürliche  sprachgemässe  gepackt  haben',  vielmehr  war  für  die 
Schreiber  der  Otfridhss.  die  frage,  wie  sie  das  Sprachgefühl  des  lesers 
durch  die  neuartigen  rhythmischen  bedingungen  des  verses  leiten  und 
ihm  anweisungen  zur  rhythmisch  richtigen  einführung  der  syna- 
loephen geben  sollten.  Anstoss  und  vorbild  gewannen  die  Schreiber 
aus  Otfrids  vorrede  und  der  handhabung  der  elisionspunkte  in  der 
hs.  V.  Nun  hat  freilich  die  hs.  V  elidierte  formen  weit  spärlicher  ein- 
gesetzt als  etwa  die  hs.  P.  Zahlreicher  sind  die  kurzformeu  nur  im 
ersten  buch.  Die  tendenz  des  korrektors  die  vollformen  wiederher- 
zustellen, ist  nicht  zu  verkennen.  Warum  sucht  Otfrid  die  kurzformen 
schon  vom  zweiten  buch  an  nach  möglichkeit  durch  die  vollformen 
zu  ersetzen  ?  Weil  er  unter  dem  einfluss  der  Alcuinschen  schriftreform 
steht,  weil  er  mit  ernst  und  prinzip  nach  orthographischen  vollformen 
strebt.  Ihm  sind  die  orthographischen  Spiegelbilder  der  kurzformen 
<ler  gesprochenen  rede  im  gründe  etwas  ungehöriges.  Er  ist  an  rein- 
liche schriftformen  des  einzelwortes  vom  lateinischen  her  gewöhnt. 
Wenn  er  trotzdem  kurzformen  einführt,  übernimmt  er  den  deutschen 
usus  und  erleichtert  die  Vortragsmöglichkeit  seiner  dichtung.  Aber  je 
länger  je  mehr  siegt  sein  bedürfnis  nach  orthographischer  korrektheit 
und  Sauberkeit,  das  ja  noch  aus  manchen  anderen  zügen  der  Über- 
lieferung zu  uns  spricht  (vgl.  Erdmanns  bemerkungen  über  die  hs.  V). 
Die  vollformen  drängen  sich  vor.    Oder  er  verwandelt  kurzformen  mit 


l 


DEUTSCHE    «YXALOEI'HEN   IN   DEN    OTFRIDKANDSCHRIFTEN  413 

elidiertem  vokal  in  schreibformen  mit  nnterpungiertem  vokal.  'Die 
Signatur  all  dieser  änderungen  an  der  elisionsbezeichnuug'  ist  nicht 
ein  'schwanken  zwischen  theorie  und  Sprachgefühl',  sondern  ein  kompro- 
miss  zwischen  den  forderungen  der  Orthographiereform  und  dem  streben, 
den  sprachgemässen  Vortrag  des  neuen  verses  durch  kurzformen  un- 
zweideutig darzustellen  \  Immerhin  genügte  die  anregung  der  hs.  V 
und  des  persönlichen  einflusses  des  autors,  um  den  Schreibern  der 
übrigen  hss.  die  tendenz  der  synaloephenbezeichnung  deutlicli  zu  machen. 
Baesecke  meint  wir  wissen  nichts  über  die  Stellung  der  Schreiber  von 
PDF  zwischen  der  eigenen  spräche  und  Otfrids  synaloephetheorie. 
Da  es  sich  aber  gar  nicht  um  eine  theorie  handelt,  sondern  um  die 
einführung  sprachläufiger  kurzformen  in  das  rhythmische  Schema  des 
verses,  sehen  wir  die  Schreiber  von  P  sich  recht  selbständig  bewegen 
und  in  grossem  umfange  sprechformen  au  stelle  der  papiernen  formen 
Otfrids  einsetzen.  P  wird  in  der  wähl  der  kurzformen  um  so  selbst- 
tätiger, je  mehr  die  vorläge  zu  den  vollformen  zurückkehrt.  Handelt 
es  sich  nun  darum  auszumachen,  was  wir  aus  den  synaloepheerschei- 
nuugen  für  das  gesprochene  althochdeutsch  lernen  können,  dann  dürfen 
und  müssen  uns  die  synaloephen  aller  hss.  gleichwertig  sein, 
weil  sie  alle  vom  Sprachgefühl  deutscher  Schreiber  eingegeben  sind. 
Uilt  es  dagegen,  festzustellen,  was  Otfrid  persönlich  durch  die  von 
ihm  sanktionierten  elisionspunkte  und  kurzformen  über  den  Vortrag 
seines  gedicktes  ausgesagt  hat,  so  wäre  nur  die  hs.  V  zu  berück- 
sichtigen gewesen.  Da  aber  die  Übersicht  und  vergleichende  betracli- 
tung  des  gesamtmaterials  aller  hss.  zeigt,  dass  die  elisiouen  der  übrigen 
hss.  nicht  mit  denen  der  hs.  V  in  Widerspruch  treten,  dass  sie  ledig- 
lich das  material  bereichern  und  sich  deutlich  genug  die  subjektiven 
aussagen  der  einzelnen  Schreiber  objektiv  in  allgemeine  regeln  über 
hiat  und  synaloephe  zusammenfassen  lassen  -  was  mir  hier  aufgäbe 
der  Wissenschaft  zu  sein  scheint  — ,  ergab  sich  mir  auch  aus  diesen 
metrischen  erwäguugen,  wie  oben  aus  grammatischen,  der  grundsatz, 
alle  hss.  gleichzusetzen. 

Das  eine  wessen  wir  wohl  mit  Sicherheit  über  die  bedeutung* 
des  liiats  in  deutscher  rede,  dass  er  in  weitem  umfange  deutschem 
Sprachgefühl  durchaus  geläufig  war,  zu  allen  Zeiten  und  auch  heute 
noch.    Es  versteht  sich  ja  von  selbst,  dass  in  der  naiven  gesprochenen 


1)  Ich    darf  verweisen   auf  Zeitsclir.  41  uo,   was   icli    liier   nicht   wiederholen 
möchte. 


414  KAIM'E 

rede  -  die  die  basis  unserer  untersuclnuig  bleiben  muss  -  ästhetische 
motive  ausgeschlossen  sind.  Es  handelt  sich  um  die  kurzformen  und 
verSchleifungen,  die  der  satzrhythmus  bedingt.  Darum  lege  ich  wert 
darauf,  Baesecke  gegenüber  ausdrücklich  festzustellen,  dass  es  un- 
richtig ist  zu  behaupten ,  Otfrid  habe  in  der  vorrede  an  Liutbert 
zwischen  vokalen  immer  synaloephe  gefordert.  Im  ersten  allgemein 
gehaltenen  satz  bestimmt  er  den  umfang  der  svnaloephe  zunächst 
durch  nhnium,  in  der  von  ihm  gewünschten  anwenduug  auf  sein  ge- 
dieht durch  saepissime,  in  der  zweiten  beziehung  auf  die  gesprochene 
rede  noch  einmal  durch  nimium.  Am  ende  schien  ihm  diese  Um- 
grenzung der  synaloephe  noch  nicht  bestimmt  genug;  er  fürchtet,  die 
analogie  des  lateinischen,  die  er  ja  selbst  heraufbeschworen  hat  und 
die  jedem  sich  zunächst  aufdrängte,  könne  zu  allzu  weitgehender  an- 
weudung  der  synaloephe  führen,  w^as  eben  dem  deutschen  Sprach- 
gebrauch zuwiderlaufen  würde.  Daher  fügt  er  dem  nimium  ein  ]W)i 
tarnen  assidiie  hinzu  und  weiter  unten  mit  bezug  auf  sein  gedieht  ein 
sepiiis:  et  hoc  nisi  fiat,  extensio  sepius  literarum  inepte  sonat  dicta  ver- 
borum.  Nicht  immer  klingen  die  vollformen  ungehörig,  d.  h.  sprach- 
widrig. In  gewissen  grenzen,  die  Otfrid  durch  non  tameii  assidue, 
nimium,  saep>issime,  sepius,  nimium  andeutet,  ist  die  synaloephe  sprach- 
widrig, ist  der  hiat  das  richtige.  Wie  in  der  gesprochenen  rede,  so 
darum  auch  in  Otfrids  deutschen  versen.  Diese  grenzen  gilt  es  aus 
den  Otfridhss.  festzustellen,  dann  wäre  die  sachliche  Interpretation 
der  erwähnten  ausdrücke  geliefert.  Dies  habe  ich  durch  meine 
'hiatusregeln'  versucht  (vgl.  Zeitschr.  41 147  fg. ,  42  301  fg.).  Die  nach- 
träglichen korrekturen  '■non  tarnen  assidue\  ^sepius'  tragen  also  nichts 
völlig  neues  hinein  -  keinen  afterthoucjht  -,  sie  begrenzen  genauer, 
was  schon  im  texte  gesagt  war.  Wenn  Baesecke  aus  diesen  korrek- 
turen schliessen  zu  dürfen  glaubt,  'die  strikte  regel,  synaloephe  immer 
eintreten  zu  lassen,  wird  der  natürlichen  spräche  zuliebe  erst  nach- 
träglich durchbrochen',  so  tut  er  dem  ganzen  gedankengang  der  vor- 
rede gew'alt  an,  ignoriert  Otfrids  unzweideutige  Äusserungen  {nimium 
saeinssime  nimium)  und  benötigt  weiterhin,  schenia  omoeoteleuton  als 
uominativ  zu  fassen,  was  meines  erachtens  unmöglich  ist.  Man  ver- 
kennt Otfrids  sprachliche  bemühungen,  wenn  man  ihn  zu  Opitz  stellt. 
Es  ist  ihm  gar  nicht  eingefallen,  wie  Opitz  'die  parole  auszugeben: 
kein  hiat!'  Ich  sehe  nicht,  wie  eine  unbefangene  Interpretation  der 
vorrede  zu  dieser  auffassung  führen  kann.  Opitz  ist  von  ästhetischen 
motiven  geleitet;  er  verficht  metrische  kuustprinzipien.  Otfrid  lehnt 
metrische   rücksichten   ab    und   sucht   das   erste   deutsche    reimgedicht 


DEUTSCHE    SYNALOEPHEX    IN    DEN    OTFRIDHANDSOHRIFTEN  415 

gTOssen    Stils    dem    deutschen    spraehcharakter    möglichst    anzupassen. 
Darum  darf  die  synaloephe  nicht  fehlen. 

Ich  denke,  nach  diesen  betrachtungen  fällt  alles,  was  Baesecke 
aus  den  änderung-en  des  korrektors  aus  den  kurzformen  schliessen 
möchte.  Ich  greife  die  belege  heraus,  durch  welche  Baesecke  die  .so 
als  'sprachwidrig'  erweisen  will.  Wenn  V  7mal  die  form  so  vor  einer 
zweiten  vokalisch  anlautenden  senkungssilbe  auf  die  Schwundstufe  so 
herabsetzt  (1  so  ist,  2  so  hi,  2  so  iJi,  1  so  iz,  1  so  ouh)  und  diese 
7  belege  zahlreichen  schreibformen  gegenüberstehen,  ist  es  sicher  falsch, 
von  der  änderung  II  734  hruader  sin,  so  ih  zc'dta  V  soih  (0  hinzukorri- 
giert) auf  sprachwidrigkeit  jener  7  formen  zu  schliessen,  zumal  die 
hs.  P  von  diesen  7  belegen  6  bestätigt  (nur  Imal  zeigt  P  die  schreib- 
forinen)  und  noch  16  metrisch  identische  kurzformen  hinzufügt  (1  so  ist^ 
1  so  in,  1  so  iu,  4  so  ih,  8  so  er,  1  so  es),  denen  in  V  schreibformen 
gegenüberstehen ;  die  Zusammenfassung  aller  belege  ergibt,  dass  inner- 
halb dieser  rhythmischen  kategorie  stets  synaloephe  in  irgendeiner 
form  eintritt.  Jene  änderung  kann  nichts  weiter  bedeuten  als  ein 
Zugeständnis  an  die  Orthographie.  In  den  versen  11  1 39  Iz  ward  dllaz 
io  sär  soso  er  iz  gibot  thar  V  (so  hinzukorrigiert)  und  II  19  le  so  iver 
soso  htih  hdzzo  V  [so  übergeschrieben,  P  soso)  wollen  die  korrekturen 
zweifellos  den  hiat  vermeiden.  Im  einsilbigen  auftakt  und  in  ein- 
silbiger Senkung  vor  vokalisch  anlautender  hebung  kennen  Otfrid 
und  die  übrigen  Schreiber  keine  synaloephe;  hier  ist  der  hiat  das 
gewöhnliche,  und  die  synaloephe  wäre  gegen  das  Sprachgefühl, 
wie  sich  aus  zahlreichen  belegen  unangreifbar  dartun  lässt  (vgl.  Zeit- 
schr.  41  i47fg.).  Nur  proklitika  geringsten  gewichts,  zu  denen  aber  so 
nicht  gehört,  werden  hier  auf  die  Schwundstufe  herabgesetzt.  Die 
zulässigkeit  des  hiats  hindert  natürlich  nicht,  dass  Otfrid  ihn  hie  und 
da,  einer  gelegentlich  hervortretenden  neigung  folgend,  die  rein  ästhe- 
tischer natur  ist  und  ihm  aus  der  lateinischen  poesie  angeflogen  war, 
durch  mittel  der  Wortwahl  umgeht,  wie  er  es  III 39  und  11 19  le  getan 
hat  und  I2245  min  muat  mir  so  irfdltos  {so  hinzukorr.,  dann  anrad.  V) 
vielleicht  gewünscht  hätte.  Die  kurzform  sos  hat  fast  den  charakter 
eines  selbständigen,  auch  durch  die  Orthographie  anerkannten  Wortes 
angenommen  (vgl.  Zeitschr.  4l5ocfg.);  darum  mag  sie  Otfrid  hier  sym- 
pathischer gewesen  sein.  Wichtig  ist  hier  nicht,  dass  Otfrid  den  hiat 
umgeht,  sondern  dass  er  trotz  dieses  bcstrebens  nicht  auf  den  ge- 
danken  kommt,  sprachwidrige  synaloephen  einzuführen  einer  theorie 
zuliebe,  die  Baesecke  ihm  gern  zuweisen  möchte.  Otfrid  hat  sich  wohl 
gehütet,  gegen  sein  Sprachgefühl  zu  handeln,  um  den  hiat  zu  beseitigen. 


416  K.vrrE,  deutsche  syxaloephen  in  den  otfridhandschiuften 

Überliaiipt  spürt  man  auf  selivitt  und  tritt,  dass  die  von  Otfrid 
nnd  den  übrigen  Schreibern  eingeführten  synaloephen  weit  entfernt 
sind,  an  irgendeiner  Schablone  orientiert  zu  sein.  Sie  nehmen  überall 
rücksicht  auf  die  akzentstufen,  den  bedeutungsnaehdruck  eines  Wortes, 
auf  das  phonetische  gewicht  der  zusammenstossenden  vokale.  Es  hiesse 
die  aus  der  Statistik  meiner  arbeit  gewonnenen  resultate  noch  einmal 
aufwickeln,  wollte  ich  die  mannigfach  abgestuften  formen  der  synaloephe 
im  einzelnen  aufzeigen.  Hier  nur  ein  paar  allgemeine  bemerkungeu. 
Im  einsilbigen  vokalisch  auslautenden  auftakt  vor  vokalisch  anlautender 
hebung  hat  keine  synaloephe  statt:  tho  ju  nu  io  wio  st  iu  tliu  si  thiu 
thia  so  sind  nur  in  der  vollform  belegt  in  zahlreichen  halbversen  (so 
allein  67mal!)  -  doch  wohl  ein  unanfechtbares  statistisches  resultat. 
Und  doch  erleidet  die  regel  ausnahmen,  wo  es  sich  um  proklitika 
geringsten  nachdrucks  handelt,  um  die  praep.  bi  zi,  die  rel.  part.  thl 
und  das  präfix  <]i-  oder  um  die  diphthongisch  auslautenden  pronomina 
sie  thie  thio,  an  denen  wieder  besondere  erscheinungen  heraustreten. 
Wenn  die  Schreiber  hier  übereinstimmend  plötzlich  synaloephe  eintreten 
lassen,  müssen  sie  doch  wohl  durch  ihr  Sprachgefühl  geleitet  sein 
(vgl.  Zeitschr.  41i47fg.).  G-anz  ähnlich  liegen  die  dinge  für  vokalisch 
oder  diphthongisch  auslautende  einsilbige  Wörter  in  einsilbiger  Senkung 
vor  vokalisch  anlautender  hebung  (vgl.  Zeitschr.  41 155  fg.)-  Das  pro- 
nomen  iz  wird  ganz  anders  behandelt  als  etwa  es  oder  er,  wie  die 
Statistik  allerorten  zeigt ;  es  sind  eben  nicht  mechanische  regeln,  sondern 
sprachliche  gesichtspunkte  massgebend  gewesen.  Für  imo  man  iru 
ira  ho  lassen  sich  aus  den  synaloepheerscheinungen  genau  die  ein- 
zelnen ablautstufen  in  ihren  rhythmischen  entstehungs-  und  existenz- 
bedingungen  festlegen,  ebenso  für  sie  und  sia.  Hier  ist  doch  auch 
unser  heutiges  Sprachgefühl  lebendig  genug,  um  eine  kontroUe  aus- 
üben zu  können,  und  ich  möchte  glauben,  dass  es  die  mögliche  sprach- 
läufigkeit  jener  formen  zu  bestätigen  fähig  ist. 

Ich  bin  mir  freilich  wohl  ))ewusst,  dass  nicht  alle  folgerungen, 
die  ich  aus  der  Statistik  der  kurz-  und  vollformen  gezogen  habe,  ab- 
solut zwingend  sind.  Ganz  gewiss  nicht.  Die  sprechformen  sind  oft 
schon  zu  gering  an  zahl,  da  eine  rhythmische  sonderung  der  belege 
meines  erachtens  die  Voraussetzung  der  zulässigkeit  irgendeines  Ver- 
gleiches bleibt.  Oft  genug  musste  gleichsam  der  eindruck  des  gesamt- 
materials,  der  die  jeweiligen  einzelnen  äusserungen  des  Sprachgefühls 
der  alten  Schreiber  zusammenfasst,  für  die  bewertung  vorsichtig  heran- 
gezogen werden. 

Das   entscheidende   zur   bestätigung   der   hier   vertretenen    inter- 


BLEY,   DIE   AUSDRÜCKE   N.ESTA   BRCKDRA   VSW.  417 

pretation  der  von-ede  an  Liutbert  und  zur  bewertung-  der  synaloephen 
in  den  Otfridliss.  kann  nur  die  Untersuchung  der  übrigen  abd.  und 
mhd.  denkmäler  bringen. 

HAMBURG.  RUDOLF  KAPPE. 


ZUE  EEKLARUNG  DER  AUSDRÜCKE 

ncesta  broedra,  annarrn  brcedra,  priäja  hroßdra. 

In  betreif  dieser  ausdrücke  äussert  sich  K.  Maurer  gelegentlich 
seiner  erörterung  der  altisländischeu  Verwandtschaftsverhältnisse  folgeu- 
dermassen  ^ :  'Über  die  geschwisterkinder  hinaus  kennt  das  isländische 
recht  noch  die  abgeleiteten  ausdrücke  ncesta  bru^dra,  cninarm  broedra, 
pridja  broedra  für  den  dritten,  vierten  und  fünften  gleichen  grad 
kanonischer  komputation  .  .  .  Vilhjälmr  Finsen  hat  bereits  darauf  auf- 
merksam gemacht^,  dass  jene  ausdrücke  in  ihrer  genetivischen  form 
oifenbar  elliptisch  sind  und  voll  zu  lauten  hätten :  ncesta  bradra 
bc^rn  usw.,  so  dass  also  die  broedrungar  oder  g-eschwisterkinder  als 
na'stir  brcedr,  d.  h.  nächste  brüder  bezeichnet  zu  denken  sind,  die 
nachgeschwisterkinder  als  actrir  brcedr,  zweite  brüder,  endlich  deren 
kinder  als  pridju  broedr,  d.  h.  dritte  brüder;  aus  dieser  beobachtung 
ergibt  sich  aber  sofort  eine  reihe  sehr  bedeutsamer  folgerungen.  Klar 
ist  nämlich  zunächst,  dass,  ihre  richtigkeit  vorausgesetzt,  der  ausdruck 
brüder  ursprünglich  nicht  auf  den  ersten  grad  der  Seitenverwandtschaft 
beschränkt  gewesen  sein  konnte,  vielmehr  zugleich  auch  auf  alle  anderen 
gleichen  grade  innerhalb  derselben  sich  erstrecken  niusste,  wie  dies 
bezüglich  einzelner  asiatischer  sowohl  als  amerikanischer  Völkerschaften 
nachgewiesen  worden  ist^.  Klar  ist  aber  auch,  dass  man  auf  Island 
ganz  ebenso,  wie  dies  unser  Sachsenspiegel  tut,  die  geschwister  noch 
nicht  in  die  sippezahl  mit  eingerechnet  haben  kann,  was  denn  auch 
durch  die  ausdrückliche  Vorschrift  bestätigt  wird,  dass  die  geschlcchts- 
reihen  immer  erst  von  den  geschwistern  ab  gezählt  werden  sollen.' 

Diese  erklärung  Finsen-Maurers  scheint  grossen  anklang  gefunden 
zu  haben.    So  ist  K.  v.  Amira  in  seiner  darstellung  der  altgermanischen 

1)  Island  von  seiner  ersten  entdcckung  l)is  zum  Untergänge  des  freistaats, 
s.  326-327. 

2)  Anualer  1849,  s.  281-283. 

3)  Vgl.  Peschel,  Völkerkunde,  s.  239-240. 

ZEITSCHRIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  28 


418  ULKY 

verwaiultscliaftsverhältnisse  zweifelsohne  davon  beeiuflusst,  wie  es  ii.  a. 
folgender  passus  beweist  ^ :  'Die  nähe  zwischen  den  seitenverwandten 
wurde  durch  abzählen  der  knie  in  den  beiden,  von  ihrem  gemeinsamen 
Stammvater  absteigenden  Knien  ermittelt,  so  dass  hier  die  kinder  der 
geschwister  und  die  geschwister  der  eitern  ins  erste  knie  zu  stehen 
kamen.  Eine  uralte  und  ehedem  allgemein  ostgermanische  ausdrucks- 
form  für  diese  berechnung  der  Seitenverwandtschaft  bewahrt  das  islän- 
dische recht,  indem  es  die  kinder  der  geschwister  als  'nächste  brüder', 
deren  kinder  als  'andre',   deren  kinder  als  'dritte  brüder'   bezeichnet'. 

Ebenso  erscheint  K.  Lamprecht  von  Finsen-Maurer  abhängig, 
wenn  er  im  anschluss  an  seine  ausfiihrungen  über  die  urgermanische 
familie  zurzeit  des  mutterrechtes  sagt'-:  'Selbst  das  andenken  an  eine 
ursprüngliche  geschlechtsgemeinschaft  ist  noch  nicht  (sc.  in  historischer 
zeit)  gänzlich  erloschen.  Einst  hatten  sich  alle  angehörigen  derselben 
generation  untereinander  brüder  .  .  .  genannt:  in  Island  hat  das  w^ort 
brüder  noch  in  geschichtlicher  zeit  eine  ausgedehntere  bedeutung 
gehabt,  die  vielseitig  über  den  begriff  hinausragt,  den  wir  damit  ver- 
binden.' 

Trotz  der  anerkennung,  welche  die  erklärung  Finsen-Maurers 
gefunden  hat,  ist  sie  schwerlich  richtig.  Dagegen  sprechen  sowohl 
gewichtige  sprachliche  als  logische  bedenken.  Wenn  es  sich  in  den 
ausdrücken  ncesta  hroeäro,  annarra  broedra,  prtctja  brcectra  um  nächste, 
zweite,  dritte  brüder  handelte,  wenn  nämlich  das  adjektiv  dem  Sub- 
stantiv beigeordnet  wäre,  so  hätte  die  altnordische  form  zu  lauten 
ncestra  broedra^  annarra  broedra,  pridja  broedra,  es  sei  denn,  dass 
man  im  ersten  und  dritten  falle  für  das  adjektiv  die  unflektierte,  im 
zweiten  falle  dagegen  die  flektierte  form  gelten  lässt,  was  uns  wenig 
annehmbar  scheint.  Sodann  fragt  man  sich:  wie  ist  die  ausdrucks- 
weise logisch  zu  rechtfertigen?  Brüder  sollen  zu  einer  zeit,  wo  seit 
einer  langen  reihe  von  Jahrhunderten  die  gesellschaft  wie  heute  auf 
der  gesondert  lebenden  einzelfamilie  beruhte,  nicht  nur  verwandte,  die 
von  denselben  eitern,  von  demselben  vater  oder  derselben  mutter  ab- 
stammten, geheissen  haben,  sondern  auch  noch  entferntere  verwandte, 
die  derselben  stufe  von  Seitenlinien  gemeinsamen  Ursprungs  angehörten. 
Brwdr  sollen  also  nicht  nur  leibliche  brüder,  sondern  auch  noch  vettern, 
kleinvettern,  kleinkleinvettern  geheissen  haben,  ja  die  ncestir  brcedr 
sind  nicht  einmal  die  leiblichen  brüder,  sondern  die  a  b- 


1)  H.  P  a  u  1 ,  Gruudiiss  der  germauisclien  philologie  III  -,  s.  IBO. 

2)  Deutsche  geschichte  I'',  s.  126. 


DIE   AUSDRÜCKE   N.T^STA   BRCE?;RA    USW.  419 

köminlinge  von  leiblichen  brüdern.  Wir  müssen  gestehen, 
dass  diese  erklärung  nns  gar  zu  unwahrscheinlich  klingt. 

Wie  die  bezeichnungen  für  Verwandtschaftsverhältnisse  in  der 
germanischen  urzeit  gelautet  haben  mögen,  zur  zeit  des  mutterrechtes, 
als  die  geschlechter  noch  kommunistisch  im  durcheinander  mehrerer 
generationen  in  ein  und  demselben  haushalte  lebten,  wie  sie  heute 
noch  bei  Völkerschaften  sehr  niedriger  kultur,  denen  der  begriff  der 
germanischen  sippe  und  einer  höheren  gesellschaftsform  nicht  auf- 
gegangen ist,  lauten  mögen,  das  scheint  uns  ohne  belang  für  die 
erldärung  der  angeführten  altnordischen  ausdrücke  zu  sein.  Diese 
ausdrücke  gehören  einer  zeit  au,  welche  die  Verwandtschaftsverhält- 
nisse aufs  genaueste  und  in  weitem  umfang  unterschied,  ihnen  genau 
bestimmte  rechte  und  pflichten  zuerkannte  und  dafür  eine  ungemein 
präzise  terminologie  schuf.  Sowohl  sprachlich  wie  logisch  sind  sie 
deshalb,  wie  uns  scheint,  aus  den  gegebenen  Verhältnissen  der  zeit, 
welche  sie  schuf  und  stetig  gebrauchte,  nicht  aus  den  nebeln  einer 
grauen  vorzeit  oder  aus  den  ganz  anders  gearteten  Verhältnissen  einer 
viel  niedrigeren  kulturstufe  zu  erklären,  vorausgesetzt,  dass,  was  Peschel 
berichtet,  der  Wirklichkeit  entspricht. 

Welches  mögen  diese  altisländischen  Verhältnisse  gewesen  sein? 
Konungsbök  (1852)  I,  s.  46-47,  wo  es  sich  um  die  ausschaltuug  von 
richtern  handelt,  die  mit  einer  der  streitenden  parteien  verwandt  waren, 
lesen  wir:  'Mapr  scal  hefin  frcendsemis  tolii  at  breprum  .  epa  at  syst- 
kiiiiim  .  ej)a  at  sijstrum  .  oc  scal  telia  kne  runnmn  .  unz  par  kemr .  er  sa 
mapr  er  .  er  i  dömi  sitr  .  oc  sa  majjr  er  p>ar  er  ajnli  er  soknar  .  ep)a 
carnar' ,  d.  h.  in  etwas  freier  Übersetzung:  '(Wenn  der  beklagte  einen 
richter  ausschalten  will),  soll  er  die  berechnung  der  Verwandtschaft 
(sc.  des  richters  und  des  klägers)  anheben  mit  brüdern  oder  geschwistern 
oder  Schwestern,  und  soll  er  die  generationen  (=  geschlechtsstufen) 
zählen,  bis  er  zu  dem  richter  einerseits,  dem  kläger  oder  dessen  Sach- 
walter andererseits  kommt.'  Laut  diesem  texte  der  Grägas  heisst  dem- 
nach ein  Verwandtschaftsverhältnis  zwischen  zwei  männern  bestimmen 
so  viel  als  nachw^eisen,  in  der  wievielten  generation  oder  geschlechts- 
stufe,  im  wievielten  grade  die  beiden  von  brüdern  (resp.  geschwistern 
oder  Schwestern)  abstammen,  von  denen  sich  ihre  Verwandtschaft  her 
schreibt.  Stammen  sie  direkt  von  brüdern  (resp.  geschwistern  oder 
Schwestern)  ab,  so  sind  sie  hra'drungar  =  brüder-  (resp.  geschwister-, 
Schwester-)  söhne,  vettern;  sie  bilden  die  den  brüdern  (resp.  ge- 
schwistern oder  Schwestern)  nächste  generation,  die  erste  generation 
der  brüder  usw.,    auf  deutsch   besser   der  ersten  generation  nach  den 

28* 


420  '■• ''!'''»' 

brüdern.  Ihre  näelisteii  nachkoiiunen  aber  werden  geheissen  mi'sta 
broectra,  d.  h.  söhne,  kinder,  sprösslinge  der  nächsten  generation  der 
brüder  oder  nach  den  brüdern.  Wie  lässt  sich  nun  der  worthiut 
na'sta  hrwära  aus  seinem  nicht  7a\  bestreitenden  sinne  erklären  oder 
rechtfertigen?  Uns  dünkt,  man  hat  es  hier  nicht,  wie  allgemein  an- 
genommen wird,  mit  einer  einfachen,  sondern  mit  einer  doppelten 
ellipse  zu  tun.  Die  erste  entspricht  dem  begriffe  söhn,  sonr,  spröss- 
ling,  niär  oder,  wie  Finsen  annimmt,  dem  begriff  kind,  barn,  möglicher- 
weise auch,  wie  sich  bald  zeigen  wird,  dem  begriffe  sie  stammen  ab, 
peir  eru  mit  genitiv.  Die  zweite  entspricht  dem  begriffe  generation, 
geschlechtsstufe,  grad,  liär  Fritzner  nr.  3,  hie  Fritzner  nr.  4  oder  auch 
hnerunnr  laut  dem  angeführten  passus  der  Gragäs. 

Auf  welche  weise  kann  man  sich  nun  diese  elliptische  ausdrucks- 
weise entstanden  denken?  Wie  uns  scheint,  weist  die  Gragäs  auf  den 
weg  der  entstehung  hin.  Bei  der  Zusammensetzung  von  gerichten 
spielte  die  erörterung  von  Verwandtschaftsverhältnissen  eine  grosse 
rolle  ^.  Wenn  ein  richter  wegen  seiner  Verwandtschaft  mit  einer  der 
streitenden  parteien  beanstandet  wurde,  ertönte  regelmässig  die  frage : 
von  welcher  generation  der  brüder  stammen  die  betreffenden,  richter 
und  partei,  ab,  zu  welcher  generation  derselben  gehören  sie?  hvers 
liäar  oder  hvers  kniar  oder  hvers  hierunns  hroßdra  eru  peir  s//inr 
oder  niäjar  oder  b(>rn?  oder  noch  einfacher,  da  vera  mit  dem  genitiv 
den  begriff  zu  etwas  gehören,  von  etwas  abstammen  ausdrückt,  livris 
Mar  oder  knidr  oder  hierunns  eru  peir?  und  die  antwort  lautete, 
falls  es  nicht  vettern,  broectrimgar  waren:  {p)eir  eru)  ncests  oder  ens 
ncesta,  annarSy  prktja  oder  ens  pridja  (sc.  liäar  oder  hiiär  oder  hne- 
runns)  broßdra.  Die  begriffe  'söhn',  'kind',  'sie  stammen  ab'  einerseits 
und  'generation',  'geschlechtsstufe',  'grad'  andererseits,  die  leicht  zu 
ergänzen  waren,  wurden  ausgelassen,  broedra  als  das  prinzip  der  Ver- 
wandtschaft wurde  beibehalten. 

Die  elliptischen  ausdrücke  nwsts  broedra  oder  ens  ncesta  brwdra, 
annars  broedra,  pridja  broedra  oder  ens  pridja  broedra  wurden  in  der 
gerichtssprache  eine  geläufige,  jedem  verständliche  bezeichnung  für 
Verwandtschaftsverhältnisse  dritten,  vierten  und  fünften  grades.  Sie 
gehören  zu  den  ellipsen,  die  nach  Hermann  Paul  ^  verständlich  werden 
durch  eine  ergänzuug  aus  der  gegebenen  Situation;  in  solchen  ellipsen 
steht   statt   des   Substantivs   mit   seiner  bestimmung  bloss  die  letztere. 


1)  Vgl.  Konungsbök  kap.  25  clorarudning-. 

2)  Prinzipien  der  sprachgescliichte  -,  s.  271  (kap.  XVni). 


DIE   AUSDRÜCKE   X.T;.STA   BRCEBKA   USW.  421 

Aus  der  gerichtssprache  giengen  die  ausdrücke  über  iu  die  ge- 
meinspraehe.  Allmälilicli  verschwand  das  bewusstsein  ihres  Ursprungs  \ 
Das  gefühl  des  syntaktischen  Verhältnisses  kam  abhanden,  die  bedeu- 
tung  haftete  nicht  mehr  an  den  einzelnen  Wörtern,  sondern  an  dem 
ausdruck  als  ganzem;  man  nahm  anstoss  an  den  nicht  mehr  ver- 
standenen formen  ncests  oder  ens  nmsta,  annars,  ens  pridja  und 
glich  sie  dem  darauf  folgenden  Substantiv  au.  Infolgedessen  fasste 
man  das  adjektiv  als  ersten  bestandteil  eines  zusammengesetzten  Sub- 
stantivs und  verlieh  ihm  die  endung  a,  wo  es  sie  nicht  bereits  hatte; 
der  artikel  aber,  w^enn  er  je  vorhanden  gewesen  war,  fiel  weg.  Daher 
wäre  es  denn  auch  angebracht,  die  ausdrücke  in  einem  worte  zu 
schreiben  ^  oder  zwischen  die  beiden  teile  einen  bindestrich  zu  setzen, 
wie  es  Vigfusson  in  seinem  Dictionary  tut  (s.  22,  erste  spalte  infra 
z.  10-8),  um  anzudeuten,  dass  das  vorliegende  grammatikalische  Ver- 
hältnis kein  attributives  ist.  Hier  hat  also  wohl  die  irrige  deutung 
die  heute  übliche  unangemessene  Schreibung  hervorgerufen. 

Das  bestreben  Finsen-Maurers,  die  Verwandtschaftsbezeichnungen 
ncesia  broectra,  annnrra  hroiära,  pridja  brcedro-  aus  der  bedeutung  der 
sie  bildenden  zwei  wörter  herzuleiten,  Avar  also  verfehlt.  Dafür  dürfte 
auch  noch  die  tatsache  sprechen,  dass  diese  bezeichnungen,  wie  sich 
aus  der  von  uns  oben  zitierten  stelle  der  Grägäs  ergibt,  sich  nicht 
nur  auf  nachkommen  von  brüdern,  sondern  auch  auf  nachkommen 
von  Schwestern  oder  von  geschw'istern  beziehen.  Das  Sprachgefühl 
empfindet  nicht  den  begriff:  'von  brüdern  im  dritten,  vierten  oder 
fünften  grade  abstammende  verwandte',  sondern  bloss  den  begriff  'ver- 
wandte im  dritten,  vierten  und  fünften  grade'.  Dieser  begriff  beruht 
zwar  auf  der  Zusammensetzung  der  Verwandtschaftsbezeichnung,  er 
deckt  sich  aber  nicht  mit  der  bedeutung  ihrer  beiden  bestaudteile, 
er  hat  kaum  noch  etwas  damit  gemein. 

1)  Ebenda  s.  272:  'Je  fester  der  usus  geworden  ist,  um  so  weniger  ist  zum 
Verständnis  die  Unterstützung  durch  die  Situation  erforderlicli'. 

2)  Fritzner  schreibt  sie  bald  in  zwei  Wörtern,  l)akl  in  einem;  so  sclireibt  er 
ncesta  broectra,  annarra  hroeära,  priäja  hrcectra,  annarra  brcedri  (—  ein  männliclier 
naclikomme  im  vierten  grade),  dagegen  ncestabrcedri,  nmstahro'dra  [=  ein  männ- 
licher, resp.  weibliclier  nachkomme  im  dritten  grade),  f/riitjabrmtra,  verwandte  im 
fünften  yrade,  pridjabroeäri,  ein  männliclier  nachkomme  im  fünften  grade.  Diese 
Verschiedenheit  der  sclireiliweise  ist  nicht  gerechtfertigt,  da  in  allen  diesen  compo- 
sitis  das  Verhältnis  des  ersten  Wortes  zum  zweiten  dasselbe  ist.  Aus  dem  plural- 
indeklinahile  nceata  brwdra  usw.  musste  sich  mit  der  zeit  notwendigerweise  ein 
wort  mit  singularliedeutung  ergeben. 

gp:nt.  a.  blkv. 


422 


DAS  'VADO  MORI'. 

(Zu  s.  261  ff.) 

Wilhelm  Fehse  hat  in  seinem  jüngsten  aufsatz  über  das  toteutanz- 
problera  die  entwicklung-sgeschichte  der  texte  in  wohl  überzeugender 
weise  dargelegt  und  den  lateinischen  totentanztext  als  den  "ältesten 
uns  erhaltenen  charakterisiert.  Mit  recht  bringt  er  mit  ihm  ein  latei- 
nisches gedieht  des  13.  Jahrhunderts  in  Zusammenhang,  das  den  Ver- 
tretern der  einzelnen  menschlichen  stände  je  ein  distichon  in  den  mund 
legt,  das  mit  'vado  nwri'  beginnt  und  schliesst^  und  den  gedanken 
des  todes  je  nach  dem  stände  des  betreffenden  menschen  variiert. 
Hier  ist  bereits  in  früher  zeit  die  differenzierung  der  stände  in  ver- 
binduno'  mit  dem  todesgedanken  vollständig  ausgebildet,  die  den  einen 
wesentlichen  faktor  der  totentänze  bildet.  Es  ist  deshalb  völlig  unzu- 
treifend  und  überflüssig,  gerade  hierbei  die  legende  der  drei  leben- 
den und  der  drei  toten  als  ausgangspunkt  für  die  totentänze  nutzbar 
machen  zu  wollen.  Ich  habe  diese,  zuletzt  von  Künstle  geäusserte 
ansieht  kürzlich  ~  kritisch  widerlegt  und  hoffe,  die  ausführliche  be- 
gründung  demnächst  in  meinem  buche  über  die  legende  geben  zu 
können. 

Die  tatsache,  dass  das  'Vado  mori'  in  den  einzelneu  Strophen 
monologische  gefühlsäusserungen  enthält,  verbindet  es  mit  dem  latei- 
nischen Urtext  und  lässt  es,  wie  Fehse  richtig  ausgeführt  hat,  als 
eine  Vorstufe  zu  diesem  erscheinen.  Seine  grosse  bedeutung  für  die 
entwicklungsgeschichte  der  totentänze  rechtfertigt  eine  ausführliche 
betrachtung. 

Die  mir  bekannt  gewordenen  Versionen  des  'Vado  mori'  lassen 
sich  in  fünf  gruppen  einteilen,  die  ich  mit  den  handschriften  hier 
anführe. 

I.  Sechs  einleitende  verse  (ine.  Dum  mortem  cogito,  cre^cit  mihi 
causa  doloris)  gehen  meist  dem  eigentlichen  gedieht  voraus. 

1)  Diese  art  des  strophenbaus  (versus  opliitae  oder  paracterici),  nach  der  im 
distichon  die  anfangsworte  des  hexameters  am  schluss  des  pentameters  wiederholt 
sind,  ist  auch  in  anderen  beispielen  bekannt.  Ich  weise  hin  auf  das  '■Mundus  nbif 
(Meyer,  Documents  et  manuscrits,  I,  p.  169),  ^Flere  volo'  (Analecta  hymnica,  XLI, 
p.  166),  und  '■Dulcis  ainica  veni''  (Mones  Anzeiger  VIT,  586). 

2)  Literarische  rundschau  1910,  s.  344  8.  —  Die  differenzierung  nach  ständen 
begegnet  uns  bereits  im  11.  und  12.  Jahrhundert,  z.  b.  in  dem  '■Besant  le  Dicii'  des 
Guillaume  le  clerc  und  vornehmlich  in  Helinands  'Vers  sur  la  tnoti''  schon  in  Ver- 
bindung mit  dem  gedanken  der  Vergänglichkeit. 


DAS   VADO   MORI  423 

Hss.: 

I.Oxford.     Bodleian  library.    Cod.  Rawlinson,  C  485,  f.  117". 
13.  Jahrhundert.      Versus  de  mortis  trnimpho. 

2.  Erfurt.  Fol.  nr.  50,  f.  99.  14.  Jahrhundert.  Confessio  Goliae; 
abgedruckt  in  Studi  medievali  II,  559  und  Zeitschr.  42,  277. 

3.  London.     Bibl.  reg-.  8  B,  VI,  f.  30.     13.  Jahrhundert. 

4.  London.  Lansd.  397,  f.  9.  13.  Jahrhundert.  (3  und  4  nach 
Douce,  Holbeins  Dance  of  Death,  1882,  p.  24.) 

5.  Arras.     Bibl.  de  la  ville  829  (anc.  525).     14.  Jahrhundert. 

6.  London.     Add.  18347,  f.  119. 

7.  London.     Add.  24660,  f.  134\ 

8.  London.     Roy.  5  E  XXI,  f.  126 \ 

9.  London.  Roy.  7  E  VII,  f.  177.  {Boger  of  Waltham,  Poema 
morale.) 

IL  Eine  erweiterte  fassung  (ohne  einleitung),  die  mehrere  Strophen 
mit  I  gemein  hat,  kommt  vom  14.  Jahrhundert  ab  vor.  Diese  fassung 
folgt  unten  nach  der  handschrift  in  der  Mazarine  bibliothek.  Male 
(L'art  religieux  ä  la  fin  du  moyen  äge  1909,  p.  390)  hat  einige  Stro- 
phen mitgeteilt.  Diese  version  kehrt  dann  wieder  in  der  'Chorea  ab 
eximio  macahro'  des  Peter  Desrey  (als  anhang  des  'Speculwn  omniwm 
statimm  des  Rodericus  Zamorensis,  gedruckt  Hanau  1613,  ediert  von 
Melchior  Goldast)  \ 

Hss.: 

1.  Paris.     Bibl.  Mazarine  980,  f.  83.     13.-14.  Jahrhundert. 

2.  München.  Cod.  hit.  5015,  f.  4.  15.  jalirhundert  (f.  3^  steht 
als  Verfasser  HeUnandus  monachns  Friyidi  moiitis). 

3.  München.  Clm.  20015.  Anf.  16.  Jahrhunderts,  (üos  versus 
composicit  Dominus  HeUnandus^  qiä  fuit  multum  egregius  in  Om- 
nibus dlctis  suis).     Cfr.  Analecta  hymnica  XXXIII,  p.  285-6. 

4.  Rostock.  Univ.-bibl.  IV,  C.  IV,  14,  f.  34\  15.  Jahrhundert. 
54  disticha.  Als  Verfasser  dieses  'Carmen  de  morte'  wird  in 
12  das  gedieht  begleitenden  hexametern  der  Benediktiner 
Petrus  von  Rosenheim,  bezeichnet,  der  sie  1424  im  kloster 
Melk  verfasst  habe.     Vgl.  Serapeum  XXI,  p.  170  ff. 

5.  München.  Cod.  lat.  7747,  f.  68.  15.  Jahrhundert.  Wie  in 
4  wird  Petrus  von  Rosenheim  als  Verfasser  genannt.  Vgl. 
Catal.  cod.  bibl.  Monac.  III,  3,  p.  195. 

1)  Fehse  nennt  versehentlich  Goldast  als  autor. 


424  STOUCK 

G.Paris.  Bibl.  Mazarine  3896,  f.  237.  15.  Jahrhundert  (Feier 
Desrey). 

Ferner  erseheint  das  'Vado  mori'  bei  Bonuicinus  de  Bipa  (De 
raortc  Carmen  horrendura,  z.  61  ff.)  in  einem  druck:  Venedig  1507. 
Vgl.  Roman,  forschung-en  III,  292. 

III.  Eine  selbständige  fassung  ist  abgedruckt  in  Dreves'  Ana- 
leeta  hymnica  medii  aevi  XL  VI,  p.  351-2  nach  der  handschrift: 

Darmstadt.     Cod.  1988.     14.  Jahrhundert. 

IV.  Eine  weitere  originelle  ausgestaltung  enthält: 
London.     Roy.  8  B  VI.     16.  Jahrhundert. 

Jedes  distichon  des  'Vado  mori'  ist  gefolgt  von  einem  gleich- 
gebauten, beginnend  'Vive  deo'.  (Freundliche  mitteilung  des  herrn 
J.  A.  Herbert-London,  British  museum.) 

V.  Die  französische  bearbeitung,  die  den  Zusammenhang  mit  dem 
lateinischen  gedieht  in  dem  stereotyp  wiederkehrenden:  Je  vois  morir 
zu  anfang  und  ende  jeder  Strophe  zeigt.  Auch  sie  ist  bereits  in  hand- 
schrifteu  des  14.  Jahrhunderts  nachweisbar, 

Hss. : 

I.London.  Brit.  mus.  add.  29  986,  f.  147'-.  60  Strophen; 
möglicherweise  eine  Übersetzung  nach  einem  lateinischen  ori- 
ginal   {de   latin   translate   en  francoi).     Vgl.  Zfromph.  1,  548. 

2.  Paris.     Bibl.  nat.  ms.  fr.  916,  f.  170. 

3.  Paris.     Bibl.  nat.  ms.  fr.  957,  f.  123. 

4.  Paris.  Bibl,  nat.  ms.  fr.  1555,  f.  221  noch  dem  ende  des 
14.  Jahrhunderts  angehörend.  Die  bezeichnung  Fehses  ist  die 
alte  der  hs.  4. 

5.  Cambridge.  Magdal.  College.  Coli.  Pepys.  1938,  f.  Vgl 
Romania  XXIV,  f.  418. 

6.  Paris.  Bibl.  nat,  früher  St.  Vict.  886,  f.  222.  Vgl.  Le  Roux 
de  Lincv,  Le  livre  de  proverbes  francais,  2^  ed.,  1859,  II,  553. 

7.  Brüssel.     Bibl.  roy.  9556.     Vgl.  Gröbers  Grundriss,   s.  865. 
Diese  fassung  ist  publiziert  von  Meon,  Vers  sur  la  mort,  2^  ed., 

1835,  p.  73  ff.  Eine  nachbildung  aus  dem  14.  Jahrhundert  existiert  in 
dem  von  Naetebus,  Die  nicht  lyrischen  Strophenformen  des  altfranzö- 
sischen,  1893,  s.  142  erwähnten  gedieht:  Inc.  Li ßl  Adam,  avant  venes. 

VI.  Die  vollständigste  und  jüngste  bearbeitung  des  'Vado  mori' 
hat   Anton   Steiuhauer    gegeben    in    seinem    büchlein    Vado    mori 


DAS   VADO    MORI  425 

sive  via  omiiis  carnis  morte  duce  niortalibus  hi  Processione  Mortuonoii 
moHsfrata.     Strassburg-  1731  und  Cöln  1745. 

Die  einleitung-  'de  doctrina  mortis'  nimmt  ebenfalls  einen  alten 
g-edanken  auf  mit  dem  distichon: 

Disce  mori,  qnicunque  legis  mea  carinina  lector!  Qiiisquis  es 
aiiditor!  tu  quoque  disce  mori! 

Dann  folgt  die  'Processio  mortuorum',  in  der  die  einzelnen  stände 
zu  gruppen  geordnet  auftreten,  so  z.  b.  die  hierarchia  secularis  und 
religiosa,  die  academia,  vom  pedell  und  rektor  geführt,  denen  die 
einzelnen  fakultäten  folgen-,  der  'status  militaris,  Status  civilis'.  Dann 
erscheinen  boni  et  mali,  mobiles  (darunter  postmeister  und  postillon), 
aetates,  religioues.  Den  beschluss  macht  ein  dicdogus  finalis  inier 
mortem  et  poetam. 

Die  bearbeitungen  des  '  Vado  mori'  müssen  eine  sehr  grosse  Ver- 
breitung gehabt  haben,  und  es  werden  sicherlich  noch  zahlreiche  hand- 
schriften  derselben  namhaft  gemacht,  wenn  man  ihnen  erst  die  ge- 
bührende aufmerksamkeit  schenkt.  Hinweisen  möchte  ich  noch  auf 
eins,  was  ebenfalls  für  die  popularität  der  Strophen  spricht.  Au  ver- 
schiedenen stellen  konnten  wir  einzelne  verse  aus  den  bearbeitungen 
des  Vado  mori  benutzt  finden.  So  in  den  ^Las  horas  de  nitestra  se)iora 
con  muchos  otros  oficio^  y  oraciones  (Paris  1495)  bei  den  lateinischen 
Unterschriften,  worauf  schon  Fehse  aufmerksam  machte.  In  einer  hand- 
schrift  des  15.  Jahrhunderts  (Heidelberg,  Pal.  germ.  37,  f.  104-'')  begegne 
ich  in  randgiossen  den  versen: 

Mors  seruat  legem  tollit  cam  p auper e  regem. 

Xam  rcgis  et  pauperis  lex  est  moriendi  communis. 

Und  ähnlich  in  einem  gedieht  des  13.  Jahrhunderts  (Paris,  Mazarine 
1007,  f.  412^)  1; 

Mors  fera,  mors  neqitarn,  que  nuiiquam  pareit  et  equam 
Dans  cwnctis  legem  miscet  cum  paapere  regem 
Omnes  crede  mori,  mors  nulli  pareit  honori 
Omnes  majores  mors  occupat  atque  minores 
Equa  falce  secat,  humüem  majorihus  equat-. 

1)  Die  gleichen  verse  finde  ich  weiter  bei  Boiigiovaniii  da  Carvriana  (Novati, 
Attraverso  il  medio  evo,  1905,  p.  25),  im  Florilcgiuiii  Gottiiigense  (Koni,  forsch.  III, 
292]  und  in  einer  Pariser  liandschrift  des  13.  jahrh.  (J>il)l.  nat.  ms.  lat.  15  952  f., 
107;  Haureau,  Notices  et  extraits,  V,  p.  34). 

2)  Das  gedieht  ist  ferner  zu  vergleiclien  mit  einem  iu  einer  Sammlung  latei- 
nisclier  schulpoesie  enthaltenen  des  12.  Jahrhunderts.  Vgl.  Wattenbach,  Sitzungs- 
berichte der  Berliner  akad.  1895,  s.  143. 


426  sToucK 

Die  g-leichen  verse  übernimmt  Peter  Desrey,  dessen  Clioren  ah 
eximio  macabro  nicht  eine  blosse  Übersetzung  der  französischen  Danse 
macabre  ist,  wie  Seelmann  meint,  sondern  —  wie  wir  sehen  -  sehr 
viel  von  den  volkstümlichen  gedichten  kompiliert  hat.  Es  heisst 
bei  ihm: 

Est  commune  mori:  mors  nulli  i)arcit  honori 

Mors  fern,  mors  neqaam,  mors  nulli  parcit  et  aegua»i 

Cunctis  dat  lege?n,  tollit  cum  paupere  Megem. 

Zu  dem  abdruck  des  gedichtes  der  Mazarine  bemerke  ich : 
Die  hs.  980,  f.  83 ""  wird  von  dem  Catal.  gener,  in  das  ende  des 
13.  Jahrhunderts  versetzt,  von  Male  (a.  a.  o.)  in  den  anfang  des  14.  - 
Der  abdruck  erfolgt  in  vergleichung  zu  Desreys  text,  auf  den  sich  die 
in  [  ]  gesetzten  angaben  beziehen.  Die  disticha  9,  12,  14,  16  stimmen 
mit  denen  des  I.  typus  übereiu,  Nr.  9,  10  und  13  sind  von  Desrey 
nicht  übernommen. 

1.  Vado  raori:  mors  certa  quidem  nil  cercius  illa 

Hora  fit  incerta,  vel  mora.     vado  mori.  [Papa  II.] 

2.  Vado  mori:  quid  amem,  qiiod  flnem  spondet  amarum? 

Cuius  inanis  amor?  non  amo.     vado  mori.  [Imperator  III.] 

3.  Vado  mori:  sors  es  quia  *  non  hoc  impedit  illud. 

Quo  mecumque  ferat  sors  data,     vado  mori.  [Cardinalis  IV.] 

4.  Vado  mori:  lüdeat  quo  currat  quisque  superstes. 

Cursor  habet  mecum  dicere.     vado  mori.  [Legatus  a  latere  VI.] 

5.  Vado  mori:  presens  transactis  equiperando. 

Si  non  transiui,  transeo.     vado  mori.  [Rex  V.] 

841^6.    Vado  mori:  uiuens  -  sentencia  dura,  beato 

Grata;  raori  sequitur  uiuere.     Vado  mori.  [Dux  VII.] 

7.  Vado  mori,  cinis  in  cinerera  tandem  rediturus 

Ordine,  quo  cepi,  desino  vado  mori.  [Patriarcha  VIIL] 

8.  Vado  mori,  sectans  alios  sectandus  et  ipse: 

ultimus  aut  primus  non  ero;  vado  mori.  [Connestabilis  IX.] 

9.  Vado  mori,  rex  sum,  quid  honor,  quid  gloria  mundi? 
Est  via  mors  hominis  regia,     vado  mori. 

10.  Vado  mori  papa;  nam  mors  papare  diu  me 
Non  sinit  aut  cogit  claudere.     vado  mori. 

11.  Vado  mori  presul  baculum,  sandalia,  mitram 

Nolens  siue  volens  desino^;  vado  mori.  [Archiepiscopus  X.] 

12.  Vado  mori  m  i  1  e  s ,  belli  certamine  uictor, 

mortem  non  didici  vincere.     vado  mori.  [Miles  XL] 

1)  Desrey :  v.  m.,  mortem  non  hoc.  non  .  .  . 

2)  „         misero. 

3)  „         desero. 


UA8   VADO    MORI 


427 


13.  Vado  mori,  pugiles  doctus  superare  duello. 
Sed  mortem  nequeo  viucere.     vado  mori. 

14.  Vado  mori  medicus,  medicamine  non  redimeudus, 
Quidquid  agat  medici  pocio.     vado  mori. 

15.  Vado  mori,  magnus  mundi  moriturus  araori  \ 
Hunc  sperueus  possum  dicere,  vado  mori. 

16.  Vado  mori  logicus;  aliis  concludere  novi. 
Couclusit  breuiter  mors  michi :     vado  mori. 

17.  Vado  mori  iuvenis,  qiiia  uil  habet ^  ipsa  iuventus 
De  nece  protegere  nequeo,  vado  mori. 

18.  Vado  mori  senior,  iam  finis  temporis  iustat. 
Jamque  patet  mortis  ianua,  vado  mori. 

19.  Vado  mori  diues  aiirum  uel  copia  rerum 
nullum  respectum  dant  michi  vado  mori. 

20.  Vado  mori  iudex;  quia  iam  plures  reprehendi, 
iudicium  mortis  horreo,  vado  mori.  [Iudex  sive  praeses  XV.] 

84"*'21.    Vado  mori  pauper;  uil  mecum  defero,  mundo 
Contempto  uudus  ^  trauseo,  vado  mori. 

22.  Vado  mori,  non  me  retinet  uiciosa  voluptas 
Nee  luxus  äuget  uiuere;  vado  mori. 

23.  Vado  mori,  genitus  de  sanguine  nobiliori: 
Nee  genus  inducias  dat  michi,  vado  mori. 

24.  Vado  mori  pulcher  uisu:  mors  ipsa  decori 
Vei  forme  nescit  parcere,  vado  mori. 

25.  Vado  mori  sapiens:  sed  que*  sapieocia  nouit 
Mortis  cautelas  fallere  ?     vado  mori. 

26.  Vado  mori  stultus,  mors  stulto  uel  sapieuti 
Non  iungit  pacis  federa ;  vado  mori. 

27.  Vado  mori  uarijs  epulis  uinoque  repletus. 
Hijs  utens  cogor''  dicere  uado  mori. 

28.  Vado  mori,  sperans  per  longum  uiuere  tempus 
Forte  dies  est  hec  ultima,     vado  mori. 

29.  Vado  mori  gaudens;  non  gaudeo  tempore  longo 
mundi  dimittens'^  gaudia.     vado  mori. 

30.  Vado  mori,  sed  nescio  quo,  sed  nescio  quando, 
Me  quo '  cumque  loco  uertero.     vado  mori. 

31.  Vado  mori:  cernens,  quod  mors  cunctis  dominatur, 
Tensa  uidens  mortis  recia.     vado  mori. 

32.  Vado  mori,  non  me  tenet  ornatus,  neque  uestis 
Linea,  nee  moUis  culcitra.     vado  mori. 


[Medicus  XX.] 

[Mercator  XIX.] 

[Professor  XXVI.] 

[Infans  XXXVII.] 

[Carthusiensis  XXII.] 

[Usurarius  XXV.] 

sive  praeses  XV.] 

[Rusticus  XXXI.] 

[Amans  XXI.] 

[Scutifer  XHI.] 

[Cliens  XXXIE.] 

[Philosophus  XVI.] 

[Stultus  XLI.] 

[Advocatus  XXVIII.] 

[Civis  XVII.] 

IMusicus  XXIX.] 

[Minorita  XXXyi.] 

[Parochus  XXX.J 

[Canonicus  XVIII.] 


1)  Desrey :  araator. 


2) 

5) 

valet. 

3) 

5? 

mundus 

4) 

■n 

quid. 

6) 

n 

restat. 

6J 

n 

mitto. 

7) 

51 

quo  me. 

428 


33.  Vado  mori ;  miserere  mei  rex  inclite  C-hriste, 

Omnia  dimittens  debita.     vado  mori.  [Clericus  XXXVIIL] 

34.  Vado  mori  sperans  uitam  sine  flne  mauentem. 
Spernens  presentem:  sie  beue  vado  mori. 

Vado  mori  miserere  mei  rex  inclyte  Cliriste.  [Heremita  XXXIX.] 

Amen. 

HEIDELBERO.  WrLLV   F.    STÜRCK. 


HANS    SACHSENS    DRAMA    'DEE    MARSCHALK   MIT 
SEINEM  SOHN'  UND  SEINE  QUELLEN. 

Zu  den  beachtenswertesten  unter  den  grösseren  dramen  des  Hans 
Sachs,  wenigstens  in  stofflicher  hinsieht,  gehört  die  'Comedia  mit  12 
personen  zu  spilen',  welche  unter  dem  titel  erschien  'Von  dem  mar- 
schalk  mit  seinem  söhn'.  Das  am  4.  juni  1556  gedichtete  stück 
stand  im  10.  spruchbuch,  bl.  236-252  'und  hat  fiinfif  actus'  (Keller- 
Goetze,  bd.  XIII,  s.  52-83).  Während  H.  Sachs  sonst  seine  drameu- 
stoffe  gerne  auch  als  spruchgedichte  oder  meistergesänge  behandelte, 
hat  er  den  stoif,  die  fabel  des  vorliegenden  dramas,  nicht  weiter  ver- 
Avertet.  Eine  angäbe,  woher  er  die  erzählung  genommen,  wie  er  sie 
bisweilen  seinen  'ehrnholdt'  machen  lässt,  findet  sich  nicht  in  unserem 
stücke.  Die  quelle  des  lustspiels  ist  bis  in  die  neueste  zeit,  meines 
Wissens,  nicht  nachgewiesen  worden.  Über  den  stoif  haben  der 
reihe  nach  Mussafia,  Reinhold  Köhler  und  Johannes  Bolte  gehandelt, 
ohne  indes  über  die  vorläge  unseres  meisters  eine  mutmassung  zu 
äussern. 

Ich  selbst  habe  früher  die  deutsche  Übersetzung  des  Chevalier 
de  La  Tour  Landry  (gedr.  1493)  zusammen  mit  der  darausgezogenen 
nacherzählung  bei  Agricola  {Sprickwörter  nr.  201)  für  die  vorlagen 
des  meistersängers  angesehen.  Das,  was  mich  in  dieser  Vermutung 
bestärkte,  war,  dass  Hans  Sachs  die  beiden  bücher  längst  kannte,  als 
er  sein  lustspiel  schrieb :  Agricolas  Sprichivörter  sicher  schon  1544, 
wenn  nicht  1539,  und  den  Bitter  von  Thurn  spätestens  1551.  Rätsel- 
haft waren  mir  dabei  freilich  die  sehr  beträchtlichen  abweichungen 
des  Hans  Sachs  von  diesen  quellen.  Die  namen  Pamphilus  für  Cato 
oder  'Cathonet',  Vespasianus  für  den  kaiser  und  Titus  für  seinen  söhn 
blieben  mir  unerklärlich,  und  auch  sonst  konnte  ich  zweifei  gegen 
meine  Vermutung  nicht  los  werden.     Die  meistergesänge  des  H.  Folz, 


H.  SACHSENS  DRAMA  DEß  MARSCHALK  MIT  SEINEM  SOHN  UND  SEINE  QUELLEN       429 

welche  August  L.  Meyer  im  vorigen  jähre  veröffentlichte,  und  die  mir 
soeben  unter  die  hände  kamen,  zeigten  mir,  wie  begründet  meine 
zweifei  Avaren,  und  führten  mich  auf  die  richtige  quelle. 

Hans  Sachs  hatte  ein  meisterlied  des  Hans  Folz  zur 
vorläge,  das  unter  der  aufschrift  'Hannen  krath  Hans  Foltzeu 
barbires'    18  Strophen   oder  288  verse  umfasst  (Meyer,  s.  172-179). 

'Zu  Rame',  also  erzählt  H.  Folz,  sass  ein  mächtiger  kaiser,  'Pam- 
philus  war  sein  name',  in  dessen  diensten  ein  marschalk  stand.  Als 
dieser  letztere  -  wie  er  hiess,  wird  nicht  gesagt  -  zum  sterben  kam, 
'tat  er'  seinem  söhne  'drew  geböte' :  das  erste,  dass  er  um  das  leben 
eines  zum  tode  verurteilten  nicht  bitten  sollte;  das  andere,  'das  er 
kein  merern  (grösseren)  lud  zu  hauss  durch  ichte' ;  das  dritte,  dass  er 
seinem  weibe  kein  geheimnis  anvertraue.  Der  vater  starb,  und  sein 
söhn  ward  sein  nachfolger.  Kurz  darauf  wird  ein  'ubelteter'  zum  tod 
verurteilt.  Erbarmungsvoll  'löst  er  in  von  den  stricken'  und  schenkt 
ihm  das  leben.  'Unnd  verachtet  alda  seines  vaters  lere.'  Ebenso- 
wenig kehrt  er  sich  an  seines  vaters  zweites  gebot.  Er  sprach:  'thu 
ichs  verachten.  Wem  mag  es  ungeschlachten?'  'Er  lud  den  keiser 
unnd  sein  herschatft  gare.'  Aber  die  reichen  'schecz  unnd  cleinet', 
die  er  beim  mahle  zur  schau  stellt,  reizen  die  habgier  des  monarcheu ; 
er  befiehlt  seinen  trabanten,  sie  fortzuschleppen,  indem  er  sprach:  'es 
zimpt  keim  diner  sulcher  schacze'.  Um  auch  das  dritte  gebot  des 
vaters  zu  brechen,  wandte  er  sich  dem  söhne  des  kaisers  zu  -  sein 
name  bleibt  uns  ebenfalls  unbekannt  -,  darauf  bedacht,  'Wie  er  sein 
hercz  mit  stricken  Der  lib  enzunt  und  mit  begir'.  Er  meldet  ihm  die 
grüsse  einer  schönen,  und  der  leicht  zu  entflammende  Jüngling  ver- 
liebt sich  knall  und  fall  in  sie.  Nun  erbietet  sich  der  marschalk,  ihm 
'ein  sunders  gaden'  einzuräumen,  wo  er  mit  der  'schonen'  'auf  ein 
menet'  verborgen  bleiben  könne.  Der  vorsciilag  wird  von  dem  ver- 
liebten prinzen  angenommen,  und  der  marschalk 

Ein  offne  dirn,  mit  aller  schon  beladen, 

Hiess  er  sich  zir  und  i3aden, 

Die  fürt  er  yn  sein  gaden, 

Uct  ir  mit  reicher  cleidung-  steur. 

Und  'des  keiser  sun',  'In  daucht  das  weib  von  hoher  arte',  'Pei  ir 
was  im  die  weil  geheur'.  'Lass  wir  die  zwey  sich  }n  der  lieb  ver- 
richten !'  sagt  Folz  im  tone  eines  modernen  erzählers  und  wendet  sich 
dem  marschalk  zu.  Dieser  hatte  indessen  ein  kalb  mit  seinem  degen 
erstochen   und   im    stall   verüraben.     'Des   Marschalks  Weib   das   plut 


430  STIKFKL 

ersähe'  und  schrie  laut  auf.  Er  g-esteht  ihr  ein,  dass  leib  und  leben 
für  ihn  auf  dem  spiele  stehen,  und  bittet  sie,  7ä\  schweigen. 

Doch  wolstu  mir  dein  trew  und  eid  verflichten, 
Das  du  in  den  geschichteu 
Mich  melden  wolst  mit  nichten, 
Ich  offenbiirt  dir  dise  dat. 

Als  sie  ihm  leib  und  leben  zu  pfand  setzte,  dass  sie  über  die  sache 
schweigen  wolle,  erzählt  er  ihr,  dass  er,  von  des  kaisers  söhn  mit 
Worten  schwer  gestraft,  im  zorn  ihm  das  leben  genommen  habe.  Aufs 
neue  schwört  sie  ihm,  dass  sie  das  geheimnis  treu  bewahren  wolle. 
'Das  hilf,  sagt  der  schalkhafte  dichter,  'die  fraw  mit  ganczer  stete 
Vil  noch  ein  stunde',  bis  eine  gespielin  zu  ihr  kam,  länger  konnte 
sie  'ir  di  dat  nit  für  do  halten',  und  sie  machte  sie,  ihr  schweigen 
auferlegend,  zur  mitwisserin,  mit  dem  erfolg,  es 

.  .  .  verpot  ye  ein  der  andernn  harte, 

Piss  sein  die  stat  vol  warte 

Die  red  zum  keiser  karte 

Wie  den  sein  sun  erstochenn  wer. 

Der  marschalk  wird  eingezogen  und  zum  tode  verurteilt.  Allein  es 
fand  sich  in  ganz  Rom  niemand,  'der  yn  gert  zu  doten',  bis  zuletzt 
der  'dip'  kam,  'den  er  erpiten  det',  welcher  ihn  'Umb  ringes  gut'  zu 
töten  versprach.  Nun  sah  der  marschalk,  wie  begründet  seines  vaters 
lehren  waren.  Er  verfluchte  den  dieb  und  hielt  ihm  vor,  dass  er 
allein  ihn  'toten'  wollte,  er,  dem  er  das  leben  gerettet  habe.  Doch 
der  Schurke  erwiderte  frech: 

'Wer  det  dichs  noteu? 

Sich  hat  gemeret 

Doch  sider  allenthalben  mein  unheile.' 

Jetzt  schickte  der  marschalk  zum  kaiscr  und  Hess  ihm  melden,  dass 
sein  söhn  lebe.  Unter  dem  jubel  des  volkes  zum  monarchen  zurück- 
gebracht, erzählte  er  ihm  'die  Sache  gare'  und  wie  die  'pot  seins 
vaters  trew  und  stet'  waren.  Grosse  freude  des  kaisers,  der  sofort 
seinen  söhn  holen  lässt,  den  marschalk  freispricht  und  'sein  cleynet 
drate  Im  wider  antwurt  schnelle  gar'.  IJber  das  Schicksal  des  ,ubel- 
teters'  schweigt  Folz.  Die  letzten  drei  Strophen  seines  meisterliedes, 
anfangend  von  vers  233-288,  verwendete  er  zu  einer  langen  moral, 
worin  er  die  drei  lehren  des  alten  marschalks  breitschlägt. 

Wo  fand  Hans  Folz  die  merkwürdige  geschichte?  Im  augen- 
blick  kann  ich  es  nicht  mit  Sicherheit  sagen,  ich  kann  nur  Vermutungen 
aussprechen.     Es  wäre  der  zeit  nach  möglich,   dass  seine  vorläge  das 


H.  SACHSEXS   DRAMA  DER   :\rARSCHALK   MIT  SEINEM  SOHN  UND  SEINE  QUELLEN        431 

bereits  1493  in  deutscher  Übersetzung-  durch  den  druck  verbreitete 
buch  des  Chevalier  de  La  Tour  Landry,  'Der  ritter  von  Thurn', 
wäre;  aber  die  Verschiedenheiten  zwischen  den  beiden  Versionen  sind 
so  bedeutend  und  so  charakteristisch,  dass  ich  es  bei  der  sonstigen 
arbeitsweise  des  Nürnberger  dichters  für  ausgeschlossen  halte,  dass 
er  ihn  direkt  benützte.  Eher  Hesse  sich  annehmen,  dass  er  die  frag- 
liche erz'ahlung  im  Ritter  von  Thurn  mündlich  vernommen  habe  und, 
wie  es  in  diesem  falle  oft  zu  gehen  pflegt,  in  entstellter  bzw.  ab- 
weichender form.  Indes  scheint  mir  das  nicht  recht  wahrscheinlich 
zu  sein.  Die  abweichungen  sind  so  eigenartig,  dass  man  eher  an  eine 
andere  Überlieferung  als  an  eine  nachlässige  oder  freie  benützung 
denken  muss.  Es  wird  vielleicht  in  Deutschland  schon  früh  eine  vom 
Ritter  von  Thurn  abweichende  fassung  der  erzählung  zirkuliert  haben, 
die  mit  der  des  Chevalier  de  la  Tour  auf  eine  gemeinschaftliche  quelle, 
auf  ein  altes  fableau,  zurückgehen  mochte. 

Um  die  Verschiedenheit  der  Folzschen  erzählung  von  der  des 
Ritters  von  Thurn  zu  veranschaulichen,  und  um  gleichzeitig  zu  zeigen, 
dass  Hans  Sachs  letztere  nicht  zur  vorläge  hatte,  will  ich  kurz  ihren 
inhalt  andeuten. 

Der  weise  Cato  erteilt  auf  dem  totenbette  seinem  söhne  Gatlionnet  drei  weise 
lehren:  1.  von  seinem  'obern  herren  kein  ampt'  anzunehmen;  2.  'keinen  der  den 
todt  verdienet  hatt  abzukaufen  oder  ledig  zu  machen' ;  3.  'seine  hußfrow  wohl  zu 
versuchen,  bevor  er  ihr  seine  heymlicheiten  eröffnete  ob  sy  die  verschwigen  möchte'. 
Cathonnet  übernimmt  die  erziehung  des  sohnes  des  kaisers  und  übertritt  so  des 
Vaters  erstes  gebot.  Er  trifft  in  den  Strassen  Roms  einen  'ubelteter',  und  von  einem 
manne  dazu  aufgefordert,  'thet  er  in  von  dem  gericht  entledigen  vnd  ließ  in  louffen'. 
Naclits  fiel  ihm  ein,  'wie  er  zwey  stuck  der  lere  syns  vaters  bette  gebrochen.  Vndt 
redt  mit  im  selb,  wie  er  das  drit  euch  versuchen  wolle.'  Wie  seine  frau  erwacht,  teilt 
er  ihr  mit,  dass  er  des  kaisers  söhn,  der  ihm  'vil  bösser,  misfeliger  werten  gab', 
'nachdem  er  wol  getrimcken  hatt',  'zu  todt  geschlagen,  das  hertz  vß  im  genommen, 
das  zu  einer  guten  speyssen  zu  richten  lassen  vnd  das  dem  keiser  vnd  der  keyßerin 
zu  essen  geschickt  hab'.  Er  bittet  sie  das  niemand  'zu  offnen'.  Die  frau  verspricht's. 
'Als  es  aber  tag  wart,  schickt  sy  nach  einer  junckfrowen  in  der  statt,  die  ir  gespiel 
was."  Sie  will  zwar  eher  sterben,  als  ihr  etwas  sagen;  als  aber  die  andere  ver- 
sichert, dass  sie  sich  eher  'beyde  ougen  vssstechen  lassen'  wolle,  als  etwas  weiter 
zu  sagen,  so  vertraut  sie  ihr  das  geheimnis  an.  'Darab  sich  die  jungfrow  grässlich 
segnet  vnd  sprach  sy  wolt  es  wol  verschwigen.'  Sofort  jedoch  lief  sie  an  des 
kaisers  hof  und  erzählte  alles  der  kaiserin.  'Diese  fieng  so  kloglichen  an  zu  schryen 
vnd  zu  weinen  das  ein  erbermde  was  zu  hören'.  Das  vernimmt  der  monarch,  und 
als  er  die  Ursache  davon  aus  dem  munde  seiner  gemahlin  erfährt,  gebot  er,  'das 
mau  Cathonnet  hencken  solt  vil  höher  dann  all  ander  übelthäter'.  Cathonnet  wird 
sofort  verhaftet,  veranlasst  aber  die  häsclier,  ihn  unter  dem  vorwand,  dass  es  zu 
spät   sei,   ins    gefängnis  zu  legen    und  am  'morn  ein  verbaut  gericht  zu  halten  vor 


432  STIKI-EL 

alloiii  volck'.  Er  beruft  sofort  eiueu  seiner  'edelu'  und  schirskt  ihn  fort,  um  den 
prinzen,  der  an  einem  dritten  orte  weilte,  zu  holen.  Der  mann  entledigt  sich  seines 
auftrags  noch  in  der  nacht,  und  der  kaisersohn  bi'icht  sofort  mit  ihm  auf.  Am 
frühen  morgen  hat  Cathonnet  'syner  fründe  einen  die  hencker  zu  behalten  byss  zu 
tertz  zyt  |  das  thett  er".  Als  es  nun  'umh  prim  zytt  ward  da  wart  er  zu  dem 
galgen  gefurt',  beweint  von  aller  weit,  denn  'der  selb  was  vss  der  masseu  lieb  ge- 
hapt  zu  Rom  dann  er  gar  wisse  demütig  vnd  züchtig  was.'  Da  'wart  man  nach 
den  heuckern  fragen  |  aber  sy  waren  all  verborgen'.  Nun  trat  'der  den  Cathonnet 
vom  todt  entlediget  hat,  herfür'  und  erbot  sich  zum  amte.  Entrüstung  des  volkes. 
Cathonnet  sagte  zu  ihm  bloss:  'Du  gedenckest  gar  wenig  der  vergangneu  zyt'. 
'Mit  denen  reden  sahent  sy  einen  grossen  stoub  von  pferden  vnd  hortent  einen  mit 
luter  stymm  schi-yen :  Halta  |  halta,  nit  tödten  den  frommen  mau'.  Der  'knab'  ent- 
ledigte sogleich  seinen  'meister'  und  führte  ihn  zum  kaiser.  Scham  und  reue  des 
monarchen  und  seiner  gattin,  die  sich  'gegen  im'  entschuldigten.  Grosse  freude 
über  die  Wiederkehr  des  sohnes.  Cathonnet  erzählte  nunmehr  die  ganze  geschichte 
von  seines  vaters  weisen  lehren  und  legte  sein  amt  als  erzieher  des  prinzen  nieder, 
um  'furo'  den  geboten  seines  vaters  zu  leben.  Er  blieb  aber  'meister  des  ratz  zu 
Rom'.  Betrachtungen  des  ritters  von  Thurn  über  die  notwendigkeit  der  Verschwiegen- 
heit beschUessen  die  erzählung. 

Wie  man  sieht,  bestellen  eine  anzabl  grösserer  und  kleinerer 
versehiedenlieiten  zwischen  den  beiden  Versionen.  Vor  allem  sind  die 
namen  der  personen  nicht  die  gleichen.  Der  kaiser,  ohne  namen  beim 
Eitter  von  Thurn,  heisst  bei  Folz  Pamphilus;  der  sterbende  vater, 
Cato  beim  Ritter  von  Thurn,  wird  hier  als  marschalk  schlechtweg  be- 
zeichnet, desgleichen  der  junge  Cato  (Cathonnet)  als  der  junge  mar- 
schalk. Die  übrigen  personen  sind  in  beiden  erzählungen  namenlos. 
Eine  gewisse  Verschiedenheit  herrscht  auch  in  den  Charakteren.  Während 
Cathonnet  stets  'wyse,  demutig  und  züchtig'  bleibt,  ist  der  junge  mar- 
schalk so  verworfen,  dass  er  den  jungen  kaisersohn  sittlich  verdirbt 
und  ihn  einer  dirne  ausliefert.  Auch  der  kaiser  ist  unsympathisch  bei 
Folz  durch  seine  habsucht.  Die  kaiserin  fehlt  bei  Folz  ganz.  Auch 
in  den  drei  lehren  des  sterbenden  vaters  herrscht  nicht  Übereinstim- 
mung. Sie  sind  einmal  verschieden  in  der  anordnung:  1  bei  Folz  = 
2  beim  Ritter  von  Thurn.  Dann  ist  die  zweite  lehre  bei  Folz  eine 
ganz  andere  als  die  entsprechende  erste  im  Ritter  von  Thurn.  Bei 
letzterem  empfiehlt  der  vater  seinem  söhn,  von  einem  oberen  herrn 
kein  amt  anzunehmen,  bei  Folz  dagegen,  keinen  höheren  zu  tisch  zu 
laden.  Die  dritte  lehre,  obwohl  bei  beiden  im  ganzen  dieselbe,  ist 
doch  etwas  verschieden  bei  jedem  formuliert.  Bei  Folz  heisst  es, 
er  solle  der  frau  nichts  mitteilen,  was  er  wollte  verschwiegen  haben; 
beim  Ritter  von  Thurn  wird  er  aufgefordert,  sein  weib  erst  zu  ver- 
suchen, ob  er  ihr  ein  geheimnis  verraten  dürfe.  Grundverschieden  ist, 
wie   der  junge    mann  seiner  frau  die  nachricht  vom  tode  des  kaiser- 


H.  SACHSENS   DRAMA   DER  MARSCHALK   MIT  SEINEJI  SOHN  UND  SEINE  QUELLEN       433 

liehen  prinzen  meldet:  bei  Folz  ersticht  er  ein  kalb,  begräbt  es,  kommt 
scheinbar  aufgeregt  zur  frau  und  zeigt  ihr  den  blutigen  degen.  Beim 
Ritter  von  Thurn  erzählt  er  die  vermeinte  tat  nachts  plötzlich,  als  die 
frau  erwacht.  Das  kannibalische  herausreissen  und  verspeisen  des 
herzens  ist  nur  im  Ritter  von  Thurn  zu  finden,  wie  wiederum  das  er- 
stechen des  kalbes  usw.  nur  bei  Folz.  Die  umstände  bei  der  Ver- 
haftung und  Verurteilung  des  jungen  mannes  und  sein  gang  zur  richt- 
stätte  bieten  ebenfalls  ab  weichungen ;  kurz,  die  Verschiedenheiten  sind 
so  zahlreich  und  zum  teil  so  erheblich  in  beiden  Versionen,  dass  meine 
bereits  oben  ausgesprochene  Vermutung,  Folz  habe  eine  andere  vorläge 
als  den  Ritter  von  Tiiurn  gehabt,  nicht  unbegründet  erscheinen  dürfte. 
Für  Hans  8achs  konnte  noch  eine  dritte  version  in  betracht 
kommen:  die  schon  erwähnte  des  Johannes  Agricola  von  1529.  Ob- 
wohl diese,  nach  eigenem  geständnis  des  Schreibers,  aus  dem  Ritter 
von  Thurn  geschöpft  ist,  so  weicht  sie  doch  in  mehreren  punkten  da- 
von ab,  sowohl  im  stil  wie  in  nebenumständen.  Zunächst  erfolgen 
die  drei  lehren  darin  in  etwas  anderer  reihenfolge.  Die  geböte  lauten : 
'Für  das  erste  |  Solt  du  dich  in  keines  herren  dienst  begeben  |  der 
dein  zu  leib  vnd  gut  mechtig  ist;  Zum  andern  j  Wenn  du  ein  weib 
vberkumpst  ]  dem  soltu  nichts  heimlichs  vertrawen  |  du  habst  denn 
zuuor  erfaren  dass  sie  schweigen  konnde  .  .  .  Zum  dritten  solt  du 
keinen  dieb  vom  galgen  |  odder  einen  andern  vbelthetter  vom  tode 
bitten.'  Am  hofe  des  kaisers  ist  der  junge  Cato,  gleich  Cathonnet, 
erst  erzieher  'des  keysers  süne  |  Er  helt  sich  aber  also  wol  |  daß  man 
yhn  hoher  setzet  vnd  braucht  yhn  in  die  rädte  .  .  .  vnd  macht  yhn 
zu  letzt  zum  viceroy  vnd  stathalter  des  keysers'.  In  dieser  eigen- 
schaft,  wie  er  eines  tags  prunkvoll  durch  die  Strassen  Roms  reitet, 
trifft  er  in  enger  gasse  'einen  diep,  den  man  solt  hencken'.  Dieser 
ruft  seine  gnade  an.  'Dem  Catoni  thet  die  ehre  vnd  der  pracht 
wol  I  lest  sich  bereden  vnd  machet  den  dieb  loss.'  Auff  eyn  zeit  feilet 
yhm  ein  -  also  nicht  nachts  im  bett,  wie  beim  Ritter  von  Thurn  -, 
dass  er  seines  'vatters  letzten  befelch  nun  zwey  mal  vberfaren'  habe. 
Nun  will  er  'die  dritte  lehre  versuchen':  'Vnnd  kumpt  auft"  eyn  zeit 
eylends  heym  geritten  mit  iemmerlichen  geberden.'  Seine  frau  er- 
reicht erst  mit  viel  weinen  und  bitten,  dass  er  sein  geheimnis  offen- 
bart. Er  erzählt  ihr,  'er  habe  auff  eynem  schloß  .  .  .  mit  des  keysers 
sunen  gespielet  vnd  auffstutzig  worden  habe  also  des  keysers  son 
den  eitern  erstochen'.  Vom  herausschneiden  und  auftisclien  des  herzens 
ist  hier  keine  rede.  Es  folgt  der  auftritt  mit  der  'gespielen',  nach  der 
sie,   wie   im  Ritter  von  Thurn,    schickt.     Dann   verfährt   der  erzähler 

ZEITSCHRIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  ^9 


434 


STIKFKL 


sehr  kurz.  Cato  ward  'gegriffen  vnud  mit  yliin  zum  galgen  zu  geeylet. 
Es  hat  sich  aber  niemaiidt  vnterstehen  wollen  |  den  Cato  zu  heneken'. 
Da  'springet  der  herfur  den  Cato  vom  galgen  erlöset  hette  |  wolt  den 
Cato  heneken.  Aber  in  mitteler  zeyt  wüste  Cato  das  des  keysers 
sune  kommen  wurden  in  die  Stadt,  wie  den  auch  geschach'.  Und  da 
'ward  Catho  ledig'. 

So  weit  Joh.  Agricola.  Der  freie  stil  und  mehrere  abweichungen 
von  der  quelle  legen  die  Vermutung  nahe,  dass  er  nicht  den  Ritter 
von  Thurn  bei  der  niederschrift  vor  sich  hatte,  sondern  aus  dem  ge- 
dächtnis  nacherzählte.  Die  geschichte  hat  auf  diese  weise  nur  ge- 
wonnen. 

Meine  aufgäbe  ist  es  nun,  zu  zeigen,  dass  Hans  Sachs  das  meister- 
lied  des  Hans  Folz  und  nicht  die  beiden  anderen  Versionen  zur  vor- 
läge für  seine  'Comedia'  hatte. 

Als  der  Nürnberger  meistersinger  1556  an  die  dramatische  be- 
arbeitung  des  Folzschen  schwanks  gieng,  stand  er  auf  der  höhe  seines 
Schaffens.  Er  beherrschte  durch  Übersetzungen  einen  sehr  beträcht- 
lichen teil  des  antiken  Schrifttums,  er  war  -  wieder  durch  Über- 
setzungen -  mit  humanistischen  und  italienischen  dichtem  vertraut  und 
ausserdem  belesen,  wie  wenige  in  der  zeitgenössischen  deutscheu 
dichtung,  in  chroniken,  geschichts-  und  reisewerken  usw.  Die  zahl 
seiner  eigenen  dichtungen  betrug  damals  bereits  tausende;  darunter 
waren  hunderte  von  trefflichen  schwanken  und  fabeln,  und  eine  statt- 
liche reihe  von  fastnachtspielen  (74),  komödien  und  tragödien  aus 
seiner  feder  waren  erfolgreich  über  die  bretter  gegangen.  Der  mar- 
schalk  mit  seinem  söhn  war  also  nicht  das  werk  eines  neuliugs.  Welche 
gestalt  hat  die  alte  fabel  in  diesem  stücke  unter  den  bänden  des 
meistersingers  angenommen? 

Heben  wir  mit  den  personen  an.    Es  treten  bei  Hans  Sachs  auf: 

1.  Heroldt. 

2.  Keyser  Vespasianus. 

3.  Thitus,  sein  suu. 

4.  Sopluis,  der  alt  marschalck. 

5.  Painphilus,  der  juug  marschalck. 

6.  Floria,  sein  gmahel. 

7.  Philippus,  des  kej'sers  raht. 

8.  Sabella,  sein  gmahel. 

9.  Marus,      1     o  *    i      * 
,^    T^,    -,         f     2  trabauteu. 

10.  Phednis,  ) 

11.  Diboldt,  der  dieb. 

12.  Der  hencker. 


H.  SACHSENS   DRAMA  DER  MARSCHALK   MIT  SEINEM  SOHN  UND  SEINE  QUELLEN       436 

Der  meister  verwendete  also  genau  so  viele  personen,  als  unbedingt 
für  seine  haudlung-  nötig-  waren.  Neu  hinzugekommen  ist  nur  'des 
keysers  ralit'  Philippus,  der  zum  gatteu  'der  gespielin'  (Floria)  ge- 
macht wurde,  was  nur  zu  billigen  war,  da  er  hierdurch  den  übrigen 
personen  besser  angefügt  wurde.  Was  die  namen  der  personen  an- 
belangt, so  sind  sie  alle  bis  auf  einen  erst  von  Hans  Sachs  in  die 
fabel  eingeführt  worden,  und  diesen  einen  namen,  Pamphilus,  den 
der  dichter  dem  Hans  Folz  entlehnte,  gab  er  nicht,  wie  seine  quelle, 
dem  kaiser,  sondern  dem  jungen  marschalk.  Der  grund  ist  sehr  ein- 
fach :  Hans  Sachs,  wohl  vertraut  mit  der  römischen  geschichte,  wusste 
ganz  genau,  dass  es  keinen  kaiser  Pamphilus  gegeben  hatte.  Er 
suchte  sich  daher  in  der  langen  reihe  der  Cäsaren  den  ersten  heraus, 
der  den  söhn  zum  naehfolger  hatte,  welch  letzterer  daher  dem  namen 
nach  bekannt  war,  und  so  waren  die  beiden  namen  Vespasianus  und 
Titus  für  unser  stück  gegeben.  Die  übrigen  namen  entlehnte  Hans 
Sachs  seiner  lektüre;  Sophus  ist  vielleicht,  was  man  bei  Sachs  öfters 
findet,  durch  eine  teiluug:  Philo-Sophus  gewonnen  worden.  Seltsam 
nimmt  sich  unter  den  lateinischen  namen  der  einzige  deutsche,  Die- 
bolt,  aus,  offenbar  aus  der  neigung  entstanden,  im  namen  Dieb-olt 
gleich  den  Verbrecher  zu  kennzeichnen. 

Wenden  wir  uns  zum  drama  selber,  so  bietet  uns  der  prolog, 
d.  h.  die  rede  des  'Ehrnhold'  (Herold)  in  der  kurzen  Inhaltsangabe, 
die  sie  von  der  fabel  bringt,  die  drei  lehren  getreu,  auch  in  der  reihen- 
folge,  nach  Folz;  er  nähert  sich  dabei  im  ausdruck  seiner  vorläge; 
man  vgl. 

H.  Sachs.  Folz. 

Die  erst Das  erst:  wer  zu  dem  clote 

Das  er  für  keinen  bitten  sollt  Mit  recht  verurteilt  wurd  .  .  . 

Verurteilt,  den  man  heucken  wolt.  Um  des  lebenn  solt  er  nit  pitteu. 

Das  eigentliche  stück  beginnt  folgendermassen.  'Sophus  der  alt  marschalck 
geht  ein  mit  seinem  son',  setzt  sich  und  spricht: 

Nun  hör  zu,  lieber  sone  fein, 
Es  nahet  sehr  dem  ende  mein, 
Die  doctor  der  artzney  gegründt 
Haben  mir  mein  leben  abkündt. 
Deshalb  liab  ich  vor  meinem  endt 
Schon  verfertigt  mein  testament  .  .  . 
Nach  meim  todt  wii'stu  auch  zu  letzt 
Marschalck  wern  an  meiner  stat, 
Wie  mir  das.  zugesaget  hat 
Der  keyser 

29* 


436  STIKFKI. 

So  verlass  ich  dir  gut  iiiid  ehr 
Wil  geben  dir  dazu  drey  lehr  usw. 

Darauf  sagt  'Pampliilus,  der  son'  nur: 

Herr  vatter,  zeig  au  die  lere  deiu. 
So  wil  ich  dir  gehorsam  sein, 
Dieweil  und  ich  das  leben  han. 

Nim  folgen  die  lehren  in  derselben  Ordnung  wie  im  prolog  und  bei 
Folz.  Nach  jeder  lehre  spricht  Pamphilus  zwei  überflüssige  verse,  die 
offenbar  nur  den  zweck  haben,  einen  dialog  herzustellen,  so  z.  B. 

Ich  folg"  dir  als  ich  billich  sol, 
Herr  vatter  erzel  auch  die  drit. 

Nachdem  Sophus  seine  drei  lehren  angebracht  hat,  bittet  er  den  söhn, 
ihn  zu  bett  zu  führen,  da  er  'abkrefftig'  sei.  Der  söhn  'fürt  ihn  ab', 
indem  er  für  die  lehren  dankt  und  sie  zu  halten  verspricht. 

Für  die  abhängigkeit  des  Hans  Sachs  von  Folz  im  ausdruck 
seien  die  nachfolgenden  verse  angeführt. 

H.  Sachs.  Folz. 

Das  du  .  .  .  dein  heimlikeit  .  .  .  Das  er  mit  nichte 

Gar  mit  nichte  seiest  vertrawen  Sein  weih  der  sach  berichte 

Zu  eröifnen  deiner  ehefrawen.  Die  er  in  etil  noch  hete  gar. 

Gleich  erscheint  der  kaiser  'mit  seim  hoffgsiud'  setzt  sich  uud  spricht : 
Mein  Pamphile,  dein  vatter  ist  todt  .  .  . 
Der  selb  uns  wol  gedienet  hat. 
Vor  seinem  endt  er  uns  erbat 
Dich  marschalck  an  sein  Stadt  zu  machen. 

Er  nimmt  ihn  daher  zum  marschalck,  uud  'Pamphilus  globt  dem  keyser'  : 
Aller  großmechtigster  keyser, 
Des  römischen  reichs  sighaffter  reiser. 
Ich  wil  mit  hertzen,  wort  und  tat 
Der  keyserlichen  mayestadt 
Mit  aller-hochsten  trew  in  aUen 
Dienen  

Hierauf  erinnert  Philippus,  'der  raht',  den  'keyser'  daran,  dass  es  zeit  sei, 
das  mandat  zu  siegeln,  das  'von  wegen  der  Schätzung'  ausgesandt  werden  solle. 
'Sie  gehen  alle  auss'. 

Die  bemerkung  des  Philippus  'von  wegen  der  Schätzung'  scheint  dem  bibel- 
kundigen Sachs  durch  ev.  Lukas  11,  1  eingegeben  worden  zu  sein. 

Dibolt  erscheint  nun  und  hält  einen  mouolog,  worin  er  uns  seine  ganze 
Schlechtigkeit  enthüUt  und  zuletzt  den  eutschluss  kundgibt,  sich  durch  stehlen  zu 
ernähren.  Pamphilus  und  der  kaisersohn  Titus  werden  sichtbar.  Er  will  'schawen', 
ob  er  'ir  einem  müg  räumen  die  daschen'! 

Titus  gratuliert  dem  Pamphilus.     Dieser  dankt  und  versichert   dem   prinzen, 


H,  SACHSEXS  DRAMA  DER   MARSCHALK   MIT  SEINEM  SOHX  UXD  SEINE  QUELLEN       437 

der  mit  ihm  'von  jugendt  auff  kindtweiss'  erzogen  worden  ist,  seiner  treue.  Nun 
schleicht  sich  Diholt  an  Titus  heran,  nimmt  ihm  eine  kette  ah  und  entläuft.  Der 
berauhte  schreit:  'Dihio,  dihio' ;  die  trahauten  Marus  und  Phedrus  erscheinen, 'fallen' 
den  dieb  'an'  und  führen  ihn  mit  bosliaften  reden  ah.  'Titus  geht  auch  mit  ah'; 
nur  Pamphilus  bleibt  zu  einem  kurzen  monolog  zurück.  Es  tut  ihm  leid,  dass  der 
dieb.  'ein  schön  gerade  person',  'sol  hangen'.  Er  will  den  kaiser  bitten,  ihn  zu  be- 
gnadigen. Zwar  hat  ja  sein  'vatter'  ihn  gelehrt,  um  keinen  dieb  zu  bitten,  aber 
was  soll  es  schaden,  vielleicht  möcht  aus  dem  dieb  'werden  ein  biderman'.  Hiermit 
schliesst  der  I.  akt. 

Alle  diese  szeneii  sind  erfiiidiing-  des  Haus  Sachs;  nur  zu  deu 
spöttischen  reden  der  beiden  trabanten  zog  er  eine  von  ihm  auch 
sonst  ausgiebig-  benutzte  quelle  heran,  den  Esopus  des  B.  Waldis. 
Hier  eine  probe.     Der  trabant  Phedrus  ruft  dem  dieb   spöttisch  zu: 

Schaw,  weil  du  mausest  also  gern 
Wirst  abt  bein  dürren  brüdern  wern 
Den  segen  geben  mit  den  füsen. 

B.  AValdis  in  der  43.  fabel  des  IV.  bucbes  seines  Esopus,  die  Hans  Sachs 
bereits  am  21.  Oktober  1552,  also  fast  vier  jähre  vor  unserer  Comedia, 
in  einem  meisterlied  nachgeahmt  (Gloetze,  Schwanke,  nr.  819),  sagt: 

Wer  .  .  .  nicht  kau  .  .  . 

Von  böser  gwonheit  abelassen 

Deu  muß  mau  in  ein  kloster  globen 

Zun  dorren  brüdern  hoch  dort  oben. 

In  der  32'^.  fabel  des  IV,  buches  des  Esopus,  welche  Sachs  gleich- 
falls, und  zwar  am  24.  november  1552,  zu  einem  meisterlied  (Goetze, 
nr.  829)  verarbeitet  hatte,  lesen  wir: 

Der  bischof  must  am  galgen  büssen 
Da  gab  ern  segen  mit  den  füssen. 

Im  II.  akt  wird  der  dieb  vom  henker  gebracht.  Dann  erscheint  Pamphilus 
und  verkündet  ihm,  dass  er  beim  kaiser  ihm  'das  leben  erworben  habe'.  Er  ermahnt 
ihn,  sich  zu  bessern  und  eine  beschäftigung  anzunehmen.  Der  dieb  fällt  auf  die 
knie  und  dankt  ihm  überschwenglich.  Mit  diesem  letzteren  zug  schliesst  sich 
H.  Sachs  au  Folz  an,  welcher  ausdrücklich  sagt:  'Der  cam  danckt  im  vil  sere'. 
Wenn  aber  Diboldt  bemerkt:  'Schafft  und  gebiet  mir  wie  cim  knccht'!  und  der 
junge  marschalck  ihn  gleich  als  rcitknecht  dingt  und  mitnimmt,  so  ist  das  ein  ge- 
schickter einfall  unseres  meisters,  um  deu  dieb  seiner  vorläge  noch  besser  in  die 
handlung  zu  verknüpfen.  Sie  gehen  beide  ab.  Gleich  heisst  es  wieder :  'Floria  geht 
ein  mit  irem  gmahel  Pamphile'.  Er  erzählt  ihr  von  den  ihm  widerfahrenen  ehren, 
von  der  guust,  die  er  am  hofe  geniesst  beim  kaiser  und  bei  Titus. 

Derhalb,  mein  gmahel  ich  beger, 
Sie  beid  zu  gast  laden  einmal. 


438  STIEFKL 

Sie  ist  (liuait  einverstanden  und  zählt  auf,  was  sie  alles  an  Vorräten  und  goldenen 
und  silbernen  geraten  zu  einer  'solch  gastung'  haben.  Pamphilus  erinnert  sich  aber 
mit  einemmal 

.  .  .  mein  vatter  verl)Ot  sehr  vast, 

Das  ich  kein  laden  solt  zu  gast, 

Der  noch  mechtiger  wer,  dann  ich. 

Floria  glaubt  jedoch,  dass  eine  einladung  nichts  schaden  könne.  Habe  es  duch 
auch  nichts  geschadet,  dass  er  seines  vaters  erstes  gebot  gebrochen. 

Da  du  erbatest  von  dem  todt 
Dibolt,  unseren  trewen  knecht. 

Sie  erwartet  vielmehr  vorteil  daraus, 

du  wirst 
Ir  beiden  lieb,  gunst  und  gnad  mern. 

Pamphilus'  bedenken  schwinden ;  er  entfernt  sich,  um  den  kaiser  einzuladen,  und 
fordert  Floria  auf,  dass  sie  alles  'auif  das  hast  und  köstlichst'  zurichte.  Sie  ver- 
spricht es  und  'geht  ab'. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  die  gründe,  welche  Floria  für  die  'gastung' 
anführt,  von  H.  Sachs  gut  ersonnen  sind.  In  solchen  kleinen  zügen  zeigt  er  immer 
ein  richtiges  Verständnis. 

Pamphilos,  allein  bleibend,  will  nicht  nur  den  kaiser,  sondern  auch  'neben 
ihm'  den  adel  und  des  'keysers  rath'  einladen. 

Die  ganze  szene  ist  die  sehr  frei  gehaltene  ausführung  der  folgenden 
Folzischen  verse: 

Dem  andern  pot  gund  er  auch  noch  zu  drachten 

Unud  sprach :  thu  ichs  verachten, 

Wem  mag  es  nngeschlachten? 

Ein  groß  wirtschafft  er  do  zu  rieht. 

Er  lud  den  keiser  unnd  sein  herschaft  gare. 

Den  n.  akt  beschliesst  Dibolt  mit  einem  monolog.  Er  klagt  über  die  viele 
ungewohnte  arbeit,  die  er  zu  verrichten  hat.  Er  will  sich  nun  schadlos  halten  an 
den  'guten  bisslen',  die  er  'erzwacken'  kann,  und  will  sagen,  'sam  habs  ein  katz 
getan',  und  wo  er  eine  flasche  mit  wein  erwischen  kann,  da  will  er  sein  'schuabel 
hencken  drein'.  Plötzlich  hört  er  'hertrummen' :  'Der  keyser  kumbt  mit  groser  zal.' 
Er  entfernt  sich,  denn  er  'muss  gehn  zu  helfen  auff  dem  sal'. 

Dieser  geschickte  monolog  ist  erlindung  des  H.  Sachs. 

Den  UI.  akt  eröffnen  die  trabanten  Marus  und  Phedrus  mit  einer  Schilderung 
des  in  jeder  beziehung  prunkhaften  'pauket'.  Sie  haben  beide  desgleichen  noch  nie 
gesehen  'in  keinem  künigreich'.  Plötzlich  verstummen  sie;  der  kaiser  erscheint. 
Ihn  hat  der  neid  erfasst  über  des  marschalcks  reichtum.  Er  befiehlt  den  beiden 
trabanten,    'all    güldene   pocal'    im    saale   zu  nehmen  und  ins  'palatinm'    zu   tragen. 

Er  meint 

Solch  köstlichkeit  uit  haben  solt 

Ein  ambtman,  der  nur  ist  ein  knecht. 
Für  diese  beiden  szenen  waren  die  nachstehenden  verse  des  H.  Folz  vorl)ild 
Do  trug  der  marsclialck  dare 
AI  schecz  unnd  cleynet  zu  gesiclit. 


H.  SACHSENS  DRAMA   DER   MARSCHALK   MIT  SEINEM  SOHN  UND  SEINE  QUELLEN       A'69 

Do  nun  die  wirtschafft  nara  ein  ende 

Der  keiser  reiche 

Die  cleynet  nemen  ließ  behende 

Alle  geleiche 

Unnd  spracli :  es  zimpt  keim  diner  sulcher  schacze. 

Floria  kommt  dann  mit  ihrem  manne  und  klay't,  dass  die  trabanten 

All  gülden  scliewren  und  pocal 
Und  ander  gülden  gfes  zumal 

fortschleppen.  Pamphilus  'furcht  es  geschali  auss  neid  unnd  liaß'.  Das  soll  ilim 
fortan  'ein  witzung  sein'.  Er  befielilt  ihr,  das  Silbergeschirr  zu  verwahren.  Allein 
bleibend  gesteht  er,  dass  seines  vaters  lehre  recht  habe. 

Nun  wil  ich  ye  versuchen  mehr 
Und  sein  driette  lehr  auch  brechen 
Sehen  wer  doch  das  selb  wöll  rechen. 

In  diesen  versen  herrscht  Übereinstimmung  mit  Folz,  welcher  sagt: 

.  .  .  Auff  das  er  auch  das  drit  gepote 
Seins  vaters  preche 
Und  solt  er  dorumb  leiden  note 
Ob  er  sich  reche. 

Pamphilus  verkündet  uns, 

Ich  wil  was  sagen  meiner  frawen 
Ir  das  verbieten,  und  wil  schawen, 
Ob  sie  das  selb  verschweigen  tliu. 

Diese  intrigue  inszeniert  er  genau  vne  Folz.  Titus  'kumbt'  und  drückt  dem 
freunde  sein  bedauern  aus  wegen  des  gehabten  Schadens.  Den  Pamphilus  'ficht  es 
eben  nichsen  an'.  Er  schreitet  zur  ausführung  seines  plans  und  verkündet  dem 
hohen  freunde,  dass  'ein  weib  vom  adel  hochgeborn  In  lieb  gen'  ihn  'entzündet 
woru'.  Auf  die  frage  'des  keysers  sun',  'Wer  ist  dann  diese  edle  fraw'?  reimt  der 
marschalck:  'Des  graffen  tochter  von  Andalaw'.  Diesen  namen  hat  wohl  das 
bedürfnis  nach  einem  reim  auf  'fraw'  veranlasst.  H.  Sachs  fand  ihn  vielleicht  bei 
J.  Agricola  {Sprichiv.  245).  Er  bedachte  nicht,  dass  ein  'Graff  von  Andalaw'  im 
munde  eines  Römers  zur  zeit  kaiser  Vespasians  ein  böser  anachrouismus  ist.  Doch 
derartiges  bietet  Sachs  ja  oft.  Der  'Marschalck'  entwirft  eine  begeisterte  Schilde- 
rung von  'der  zartn'  und  fügt  hinzu: 

Die  hat  dich  gesehen  mit  sieg 
Eeißen  aus  dem  jüdischen  krieg. 


Als  Titus  fraijt: 


Wie  kündt  es  haben  fug  und  stadt, 
Da  ich  denn  kummen  möchte  schier 
Das  ich  inöclit  heiiidicli  <rehn  zu  ir? 


440  .STIKFKI. 

SO    antwortet    Pampliilus,    er   habe    der  'zartn'   ein    'liauß   bestaudu',    woriu    sie  iliii 
lieimlicli   empfangen   wolle  und  wo   er  bleiben  könne,   'als  lang  euch  baiden  offelt'. 
Auch  zu  diesen  ausführungen  gab  Folz  die  anregung.     Dieser  sagt  z.  b. : 

Teglicli  gund  er  den  marschalck  an  zu  fechten, 
Wie  sie  ein  sin  gedechteii 
Und  schir  zu  wegen  prechten, 
Die  zart  die  im  do  det  gewalt. 

Den  hiuweis  auf  den  'jüdischen  krieg'  schöpfte  H.  Sachs  aus  Seb.  Francks 
Chronik  oder  Zeytbuch  (1531)  oder  vielleicht  aus  He  dies  Übersetzung  des  Josephus 
Flavius  (1531)  oder  des  Hegesipp  (1532). 

H.  Sachs  fährt  fort :  'Sie  gehen  bald  ab.    Pamphilus  kumbt,  redt  mit  im  selb' : 

Ich  hab  der  sach  ein  anfang  gemacht 

Und  mit  list  den  Titum  bracht 

Zu  eiur  gmainen  metzen  hinali, 

Die  ich  schon  auft'-gemutzet  hab 

Mit  schöm  gwandt,  kettn  und  ringen, 

Sie  Unterricht  mit  allen  dingen, 

Wie  züchtig  sie  sich  haltn  soll 

Sam  sey  sie.  hoch  geadelt  wol. 

Bey  ir  bleibt  er  aufl's  wengst  drey  tag, 

Dieweil  mein  sach  ich  enden  mag... 

Ich  wil  gehn  und  ein  kelblein  schlachten 

Und  meiner  frawen  zeigen  an 

Sam  hab  ich  einen  mort  gethan. 

Lass  schawen  ob  sies  verschweigen  wert. 

H.  Sachs  folgte  hierin  Folz  sachlich  genau,  indes  frei  im  ausdruck;  nur  ein  vers 
führt    direkt   auf  diesen    zurück  (oben  durch  Sperrdruck  hervorgehoben).    Folz  sagt: 

Der  marschalck  der  wart  dichten 

Wie  er  sein  sach  mit  fleiss  volle nt. 

Nach  einer  kurzen  szene,  die  ich  übergehe,  kommt  Pamphilus,  'tregt  das  blutige 
kalb  im  sack'  und  gesteht  seinem  weihe  ohne  weiteres,  dass  er  den  kaisersohn  er- 
stochen habe.  Auf  ihre  frage:  'Ach  warumb  hast  du  das  gethan?'  erzählt  er  ihr, 
dass  jener  ihn  mit  schmachworten  angetastet  und  ihn  ins  angesicht  geschlagen 
habe  usw.  Er  fordert  Floria  auf,  ihm  zu  helfen,  den  leichnam  im  keller  zu  begraben, 
und  bittet  sie,  die  sache  zu  verschweigen.  Sie  gibt  ihm  das  versprechen,  und  'sie 
gehen  baide  auss.' 

In  dieser  szene  hält  sich  H.  Sachs  weniger  an  Folz,  dessen  meisterlied  gerade 
hier  recht  dramatisch  ist.  Es  zeigt  sich  hier,  wie  so  oft  in  anderen  stücken  von 
ihm,  dass  ihm  die  fähigkeit  abgeht,  dramatisch  bewegte  Szenen,  leidenschaftliche, 
rührende  oder  pathetische  auftritte  wiederzugeben.     Bei  Folz  heisst  es  z.  b. 

Des  marschalks  weili  das  plut  ersache 
Vill  laut  sie  schreie  usw. 


H.  .SACHSEX8   DRAMA   DER  JIARSCHALIv  MIT  SEINEM  SOHN  UND  SEINE  QUELLEN        441 

Der  marschalck  lässt  sie  erst  schwören,  ehe  er  ihr  etwas  anvertraut,  und  sie  bricht 
in  wehklao;en  aus,  als  sie  das  schreckliche  aeständnis  vernommen  liat.  Nichts  von 
allem  dem  bei  Sachs.  Die  sache  spielt  sich  so  ruhig  und  trocken  ab,  als  ob  sie  den 
gleichgiltigsten  handel  beträte. 

Xur  in  ein  paar  versen  und  reimen  verrät  der  nachahmer  seine  quelle; 
man  vergleiche: 

Sachs  Folz 

( t  lass  die  sach  bleiben  bey  dir  Es  gilt  mir  leib  und  leben 

Es  wais  es  suust  niemandt  dann  wir  ...  die  sach  leit  neur  an  dire 

Es  kostet  warlich  sunst  mein  leben  Es  weiss  es  nymandt  dan  wire. 

Als  sich  beide  entfernt,  kommt  Dibolt  und  klagt,  dass  'das  haus  wenig  fressens, 
vil  lauffens  geit'.  Floria,  die  dazukommt  und  ihn  nach  den  neuigkeiten  am  hofe 
fragt,  erfährt,  dass  'der  keyser  in  grimmen  zorn  sein  son  Hess  suchen  uberal'.  Sie 
gibt  Dibolt  den  auftrag,  den  tisch  zu  decken  und  allein  bleibend,  setzt  sie  sich  und 
äussert  ihre  furcht,  'das  mordt  kumb  an  den  tag'.  Sie  kann  den  'jamer  nit  ertragen' ; 
sie  will  die  sache  ihrer  freundin,  die  'verschwigen  trew  und  frumb'  ist,  mitteilen 
und  bei  ihr  'trost  und  rath'  suchen.    Doch  diese  kommt  eben  selbst. 

Für  diese  szene  fand  Sachs  wenig  bei  Folz.  Ebensowenig  ist  die  folgende, 
wo  in  rede  und  gegem-ede  Floria  der  'Sabella,  ein  gmahel  Pliilippi',  unter  dem  siegel 
der  Verschwiegenheit  alles  erzählt  und  dann  mit  ihr  fortgeht,  um  zu  hören,  was  man 
xmterm  volk  über  die  sache  redet,  dem  Folz  entlehnt.  H.  Sachs,  der  sich  so  recht 
in  die  Situation  versetzen  kann,  verfährt  hier  selbständig. 

Den  IV.  akt  eröffnet  Philippus.  Er  ruft  seine  frau  und  erzählt  ihr  vom  ver- 
schwinden des  kaisersohnes  Sabella  verschw^ätzt  sich  und  teilt  dann  ihrem  manne 
unter  der  bedingung,  'kein  wort  zu  sagen  darvan',  die  geschichte  mit.  Philippus 
hält  es  für  seine  pflicht,  den  kaiser  zu  benachrichtigen,  denn  'des  keysers  aid'  gilt 
ihm  viel  mehr  als  sein  versprechen.  Nun  will  Sabella  wenigstens  'Paraphilum  warnen 
than  das  er  geb  die  flucht'.  Der  gefährdete  befindet  sich  indes  ruhig  in  seinem 
hause  und  versichert  seiner  frau,  es  sei  noch  alles  still,  als  plötzlich  die  trabanten 
kommen,  ihn  verhaften  und  auf  seine  frage  warum?  antworten:  'das  wiss  wir  nicht'. 

Gleich  erscheint  der  kaiser  mit  Philippus  und  einem  herold  und  spricht 
dem  vermeinten  mörder  sein  urteil:  tod  am  galgeu.  Als  motiv  der  tat  mutmasst 
er:  'vielleicht  das  ich  sein  gülden  credentz  im  nam'.  Ein  nicht  übler  zug  des  Sachs. 
Sofort  wird  der  marschalck  geliracht;  der  kaiser  fälirt  ihn  an,  und  Pamphilus  ver- 
teidigt sich  recht  zweideutig.  Der  kaiser  befiehlt,  den  mörderischen  'bösswicht'  'in  ein 
tieften  thurm'  zu  legen,  bis  sich  ein  'nachrichter'  finde,  und  gibt  dem  herold  den 
auftrag,  in  der  Stadt  zu  verkünden,  dass,  wer  'den  schentliug  marschalck  wöl 
hencken',  der  solle  lOü  dukaten  erhalten.  Philippus,  dem  der  monarch  seinen  schmerz 
über  den  Verlust  des  trefflichen  sohnes  klagt,  tröstet  ihn  mit  der  bemerkung,  er 
könne  nicht  recht  an  den  tod  des  jungen  herru  glauben;  er  schlägt  vor,  in  den 
tenipel  .Jovis  zu  gehen,  'der  als  zum  besten  wenden  kon'. 

Dibolt  beschliesst,  wie  den  II.,  so  den  IV.  akt  mit  einem  monolog.  Er  hat 
die  Verkündigung  des  herolds  gehört,  und  es  gelüstet  ilin,  die  100  dukaten  zu  ver- 
dienen. Es  halte  'doch  niemandt  nichts'  von  ihm,  weil  er  zum  galgen  verurteilt 
gewesen.  Art  lasse  nicht  von  art.  'Wo  nit  so  hart  mein  lierr  im  zaumb  mich  reiten 
thet,  lengst  ich  wider  zu-griifen  lief.    Er  lohne  ihm  sclik^cht,  'gleicli  wie  der  teuffei 


442  STIEl'EI. 

seinem  knecht'.  Aber,  fälirt  er  zu  seiner  rechtfertigung  fort,  er  halte  ihn  oft  'ange- 
schnarrt', ihn  oft  'hönisch'  angesprochen,  nnd  dafür  wolle  er  sich  'mit  fueg  an 
ihm  rechen'. 

Der  ganze  akt  ist  erfiudung  des  H.  Sachs  und  meines  erachteus  nicht  der 
schlechteste  teil  des  Stückes.  Zu  kleineu  guten  zügen  bekundet  der  meister  ent- 
schiedenes talent. 

Die  sprichwörtliche  redensart  'Er  lohnt  ihm  wie  der  teuM  seinem  knecht'  er- 
läuterte Sachs  bereits  am  .81.  mai  1539  in  einem  schwankhaften  nieisterlied  'Der 
teufel  mit  dem  spieler'. 

Mit  dem  V.  akt  verfällt  H.  Sachs  wieder  in  die  nachahmung  des  H.  Folz. 
Wenn  der  dichter  gleich  anfangs  den  kaiser  anwesend  sein  lässt,  während  Folz 
und  der  Kitter  von  Thurn  ihn  fernhalten  und  den  verurteilten  später  zu  ihm  ver- 
bringen lassen,  so  geschah  das  aus  einem  berechtigten  grund:  im  Interesse  der 
Ökonomie  des  Stückes.  Der  kaiser  beginnt  den  akt,  indem  er  den  trabanten  befiehlt, 
den  marschalck  zu  bringen,  'den  unendtlichen  laster-balck'.  Während  die  trabanten 
sich  entfernen,  befragt  der  kaiser  den  herold,  wen  er  'zu  einem  nachrichter  erweld' 
habe.  Der  herold  berichtet,  dass  'das  ambt  wolt  niemandt  nenien  an'.  Man  thet  sich 
des  marschalcks  erbarmen  ;  er  habe  zuletzt  kaum  einen  mann  gefunden,  'der  sich 
des  ambts  hat  gnummen  an'.  Gerade  jetzt  erscheint  der  marschalck,  und  der  kaiser 
befiehlt  dem  nachrichter,  'den  schedlich  mörderischen  man'  anzugreifen  und  zu 
henken.    Da  Diboldt,  der  henker,  hinzutritt,  erkennt  ihn  Pamphilus  und  ruft: 

Dein  böse  art,  die  sey  verflucht.  .  .  . 

"Weil  iederman  verschonet  mein, 

So  wiltu  selber  hencker  sein, 

Das  ich  wert  von  deiur  handt  gethödt? 

Und  Dibolt  erwidert  frech: 

Sag  wer  bat  dich  darzu  genöht  etc.? 

Das  alles  ist,  auch  im  Wortlaut,  getreu  nach  Folz : 

Er  sprach:  verflucht  sey  ewiglich  dein  stame  .  .  . 

So  iderman  mich  ledig  let 

Unnd  du  allein  denn  gerest  toten 

Der  dich  erneret. 

Der  posswicht  sprach :  wer  det  dichs  noten  ? 

Pamphilus  erzählt  nun  den  anwesenden  von  den  drei  lehren  seines  Viiters 
und  erklärt  dem  kaiser,  sein  söhn  lebe.  Zugleich  gibt  er  an,  wo  er  zu  finden  sei. 
Er  gesteht,  dass  die  lehren  seines  vaters  alle  begründet  seien;  er  wolle  sie  künftighin 
beobachten.  Titus,  von  den  beiden  trabanten  geholt,  tritt  auf,  wird  vom  kaiser  um- 
armt, und  nach  seinem  verbleib  gefragt,  bemerkt  er:  'Ich  hab  die  höchsten  freud 
eingenummen'.  Jetzt  drückt  das  gewissen  den  marschall ;  dem  kaiser  zu  füssen  fallend, 
bittet  er: 

Wölt  mir  die  that  verargen  nit, 

Die  ich  im  besten  hab  gethan ; 

AVan  es  sol  ie  ein  junger  man 

Erforschen  und  erfaren  vil. 


H.  SACHSENS  DllAJIA  DER  MAUSCHALK   MIT  SEINEM  SOHN  UND  SEINE  QUELLEN       443 

Der  kaiser  pflichtet  dieser  sehr  bedenklichen  moral  bei  und  übergibt  den  söhn 
seiner  'freundtschaift  und  hut,  das  er  auch  nachtracht  der  weissheit',  bestätigt  den 
marsch  all  für  immer  in  seiner  würde  und  heisst  die  trabanten  'den  trewlosen  dieb 
an  galgen  hangen'.  Dem  Pamphilus  will  er  aber  'die  credentz'  wieder  zustellen 
lassen,  welche  er  ihm  abgenommen  hat.    Dann  sollen  alle  in  den  tempel  Jovis  gehen, 

Der  alle  ding  weiss  und  erkenndt, 
Unser  trawiigkeit  hat  gewent 
Zu  einem  gutseligen  endt. 

Zu  dieser  letzten  szene  hat  Folz  wenig  auregung  geboten.  H.  Sachs  ging  hier, 
sehr  zum  nachteü.  der  moral,  seine  eigenen  wege.  Bei  Folz  fragt  der  kaiser  den 
sehn  nicht,  wo  er  gewesen,  und  der  marschall  hat  daher  keinen  anlass,  seine  sehr 
verwerflichen,  am  prinzen  ausgeübten  Verführungskünste  zu  verteidigen.  Bei  Sachs 
ist  die  Verteidigung  fast  noch  schlimmer  als  die  tat  selber.  Übereinstimmung 
herrscht  bei  ihm  jedoch  mit  Folz  in  der  rückgabe  der  'cleineth'. 

Der  epUog  oder  die  schlussrede  des  Elirnholdts,  die  gewöhnlich  die  moral  des 
Stückes  verkündet,  ist  eine  wdederholung  der  drei  lehren  —  wir  hören  sie  damit  zum 
vierten  mal  — ,  wozu  wahrscheinlich  die  von  Folz  seiner  erzählung  angehängte  moral 
den  anstoss  gab ;  denn  auch  bei  diesem  werden  nochmals  die  drei  lehren  breit- 
geschlagen. Obwohl  der  jüngere  dichter  sich  bemühte,  im  ausdruck  von  seinem  Vor- 
gänger unabhängig  zu  sein,  so  ertappen  wir  ihn  doch  auf  ein  paar  wörtlichen  be- 
nützungen;  man  vergleiche: 

Sachs.  Folz. 

Wo  ist  entwicht  haut  unde  haar  ...  wo  haut  und  hör  ist  gancz  vernichte. 

Da  wirt  kein  guter  peltz  nit  auss.         Do  wirt  der  pelcz  entwichte. 

Derhalb  die  frawen  tragen  leider  Wann  weib  haut  kurczenmut  und  lange  clei  der 
Einkurtzenmuthundlangekleider.      Unnd  ist  ein  deutung  leyder  usw. 

Fasse  ich  alles  vorangegaiig-ene  kurz  zusaiiinien,  so  glaube  ich 
erwiesen  zu  haben,  dass  Hans  Sachs  für  seine  Comcdia  das  meister- 
lied  des  Hans  Folz  zur  vorläge  hatte.  Dieser  vcrsion,  und  nicht  der 
des  Ritters  von  Thurn  und  des  Joh.  Agricola,  folgte  er  in  der  fabel 
und  im  aufbau  der  handlung,  wobei  er  allerdings  auch  oft  seine 
eigenen  wege  gieng.  Mehrere  male  nähert  er  sich  ihr  auch  im  aus- 
druck. Daneben  verwertete  er  auch  sonst  kleinigkeiten  aus  dem  schätze 
seiner  belesenheit. 

Welche  gründe  veranlassten  ihn  aber,  der  version  des  Folz  vor 
dem  Ritter  von  Thurn  und  dem  Agricola,  die  er  seit  jähren  kannte 
und  bereits  mehrfach  benutzt  hatte,  den  vorzug  zu  geben?  Hierüber 
lassen  sich  nur  Vermutungen  aussprechen.  Vielleicht  billigte  er  nicht 
die  erste  lehre  der  beiden,  von  einem  höheren  kein  amt  anzunehmen. 
.Sachs   sah    in    der   Übernahme  eines  amtes,    das  man  zum  nutzen  des 


444  STIEFEL 

g-cmeiuwesens  ausfüllte,  nichts  nnvernünftig-es  und  unrechtes.  Sicher 
misstiel  ihm  auch  die  grässliche  behaudlung-,  welche  der  junge  Cato 
dem  kaisersohne  angeblich  zuteil  werden  liess.  Dann  war  er  ein  zu 
guter  kenner  der  römischen  geschichte,  um  nicht  zu  wissen,  dass  das, 
was  von  Cato  in  beiden  Versionen  erzählt  wird,  weder  auf  den  älteren 
noch  auf  den  jüngeren  träger  des  namens  passte.  Vielleicht  reizte 
es  ihn  endlich,  den  stoff  gerade  so  zu  verarbeiten,  wie  ihn  der  alte 
Nürnberger  meister,  der  von  ihm  verehrte  Hans  Folz,  geformt  oder 
überliefert  hatte. 

Nebenbei  könnte  ja  H.  Sachs  auch  die  beiden  anderen  Versionen 
benutzt  haben,  doch  lässt  sich  dies  nicht  mit  völliger  Sicherheit 
entscheiden.  Im  allgemeinen  entspricht  es  ja  durchaus  den  gepflogeu- 
heiten  des  meisters,  für  seine  dichtungen,  zumal  für  die  längeren,  aus 
mehreren  quellen  zu  schöpfen  und,  falls  verschiedene  Versionen  einer 
und  derselben  fabel  vorlagen,  alle  zu  benutzen  und  zu  kontaminieren ; 
aber  er  konnte  auch  einmal  eine  ausnähme  gemacht  haben.  Und  so 
kann  ich  nur  mit  vorbehält  ein  paar  stellen  namhaft  macheu,  in  denen 
der  meistersänger  dem  Job.  Agricola  oder  dem  Ritter  von  Thurn  ge- 
folgt zu  sein  scheint. 

Im  II.  akte,  als  Dibolt  zur  richtstätte  geschleppt  wird,  ruft  er  aus: 

Herr  gott,  wil  sich  deuu  niemandt  raeiu 
Als  eines  verurth  eilten  armen 
Durch  eine  trewe  fürbit  erbarmen? 

Dieser  zug  findet  sich  weder  bei  Folz  noch  im  Ritter  von  Thurn; 
aber  bei  Agricola  heisst  es: 

r 
'der  dieb  ruifet  zu  yhm  vmb  gnade'  usw. 

Im  III.  akte,  als  Floria  von  der  heimlichen  bergung  des  ver- 
meintlich  getöteten   kaisersohnes   zurückkommt,    heisst   es   bei   Sachs: 

Floria  setzt  sich,  spricht : 
Erst  bin  mit  hohem  leid  ich  bsessen  .  .  . 
Ich  kan  mein  jamer  nit  ertragen, 
Ich  wils  gelin  meiner  freundin  klagen. 

Diese  kommt  aber  selbst  und  spricht: 

Mein  Floria,  was  gebricht  dir, 
Das  du  sitzt  also  sehre  betrübet. 


Dein  hertzenleid  hilff  icli  dir  trafen 


H.  SACHSENS  DRAMA   DER  MARSCHALK   MIT  SEINEM  SOHX  UND  SEFNE  QUELLEN       446 

Bei  Agrieola  lesen  wir: 

Die  fraw  erschrickt  der  rede  viel  i  setzt  sich  auff  eiueu  winckel  vnd  tregt 
leyde  vnd  weinet  sehr  vud  schicket  nach  yhrer  gespieleu  .  .  .  vnd  .  .  .  dise  .  .  .  spricht: 
Ach  sage  mir  liebe  g-espiele  |  was  dir  angelegen  sey  |  denn  ich  sihe  |  es  gehet  dir 
etwas  zuhertzeu. 

Etwas   dementsprechendes   findet   sich  weder  bei  Folz  noch  im  Ritter 
von  Thurn. 

Ferner  sagt  Hans  Sachs  in  der  schlussrede  des  Ehrnholds: 

Wie  manch  weib  bass  schweigen  kan 
Die  heymligkeit 
Der  aber  ist  an  massen  wenig. 
Agrieola  sagt: 

Denn  obs  wol  seltzam  ist  schweygen  vnter  den  weyberu 
so  findet  man  doch  auch  weyber  die  schweygen  kondeu. 

Was  den  Ritter  von  Thurn  anbelangt,  so  mJJchte  man  glauben, 
dass  Sachs  sich  seiner  erinnerte,  als  er  Pamphilus  in  der  schlussszene 
nochmals  dem  monarchen  gegenüber  die  drei  lehren  seines  vaters  dar- 
legen und  die  üblen  folgen  ihrer  nichtbeachtung  betonen  lässt,  ein 
motiv,  das  bei  Folz  und  Agrieola  fehlt.  Gross  ist  auf  alle  fälle  die 
einwirkung  von  Agrieola  und  Ritter  von  Thurn  nicht,  und  wir  müssen 
unser  drama  zu  jenen  dichtungen  des  meisters  zählen,  in  denen  er 
von  kontaminationen  wenig  gebrauch  machte. 

Da  der  nachweis  der  quelle  der  eigentliche  zweck  dieser  Unter- 
suchung ist,  so  will  ich  mich  auf  eine  ausführliche  beurteiluug  des 
Hans  Sachsschen  dramas  hier  nicht  einlassen  und  nur  ein  paar  be- 
merkungen  anschliesseu. 

Obwohl  'Der  marschalk  mit  seinem  söhn'  noch  zu  den  weniger 
misslungenen  unter  den  grösseren  dramen  des  dichters  zu  zählen  ist, 
so  enthält  er  doch  alle  die  schwächen  und  mängcl,  welche  an  seineu 
komödien  und  tragr»dien  von  der  kritik  gerügt  werden.  Hans  Sachs 
war  für  beide  gattungen  nicht  geschaffen.  Am  besten  lagen  ihm 
der  derbe  bürgerliche  schwank  und  das  fastnachtspiel.  Überall  in 
unserem  stücke,  wo  sich  die  Situation  diesem  nähert,  ist  er  erträglich, 
darüber  hinaus  versagt  seine  kunst-,  alles  ist  unbeholfen  und  hölzern 
und  zeigt  kaum  einen  ansatz  zur  wirklichen  dramatischen  behandlung. 
Von  einem  angemessenen,  lebendigen  dialog,  der  sich  je  nach  den  per- 
sonen  und  der  Situation  abstuft  und  nuanciert,  von  einer  wirksamen 
Charakteristik  der  personen,  vom  verschlingen  und  lösen  der  fäden 
der  handlung,  von  einer  Verwendung  der  leidenschaft  hatte  der  biedere 


446  VAN    IIKLTKN.    NOCH    EINMAL    ZUR    ETYMOLOGIE    VON    15RAUT 

meister  kaum  eine  alinung.  Dazu  koinint,  dass  er  sich  in  dem  stück 
nicht  zu  der  moralischen  höhe  aufschwingt,  die  sonst  gerade  in  seinen 
tlramen  zu  finden  ist. 

Aber  in  einzelnen  szenen,  in  kleinen  zügen  ist  der  dichter,  wie 
■\^i^  oben  sahen,  oft  recht  glücklich  und  zeigt  uns,  dass  er  nicht  ein- 
fach handwerksmässig  seine  erzählende  vorläge  auf  akte  zuschnitt, 
sondern  dass  er  mit  Überlegung  verfuhr,  dass  er  bemüht  war,  einen 
Zusammenhang  unter  den  einzelnen  teilen  der  handlung  herzustellen 
und  das  tun  und  lassen  der  personen  zu  motivieren.  Sichtlich  tritt 
bei  ihm  auch  das  bestreben  hervor,  alles  überflüssige,  seien  es  nun 
personen,  sei  es  handlung,  seien  es  reden,  zu  vermeiden.  Wohl  sind 
die  meisten  personen  in  seinem  drama  blosse  Schemen ;  aber  eine  aus- 
nähme bildet  Dibolt.  Diese  spitzbubenfigur  hat  Sachs  nicht  ohne  ge- 
schick  gezeichnet  und  gut  in  die  handlung  verwoben :  wiederum  ein 
fingerzeig,  in  welcher  richtung  die  dramatische  befähigung  des  meister- 
sängers zu  suchen  ist. 

MÜNCHEN.  ARTHUR   LUDWIG   STIEFEL. 


MISZELLEN. 

Noch  einmal  zur  etymologie  von  braut. 

S.  132  ff.  dieser  Zeitschrift  beanstandet  Kauffmauu  aus  sachgeschichtliclieu 
gründen  die  fassung  von  brnd  =  'quae  concumbit  cum  viro',  deren  berechtiguug 
bereits  Beitr.  34,  561  ff.  und  85,  306  ff.  aus  etymologischen  gründen  bezweifelt  wurde. 
Durch  dankenswerte  Zusammenstellung  folkloristischer  berichte  hebt  er  sodann  a.  a.  o. 
hervor,  dass  die  junge  frau  gewissermassen  als  adoptivtochter  in  die  familie  des 
ehemanns  aufgenommen  wurde  ^.  Wenn  aber  besagter  forscher  mit  rücksicht  hierauf 
(s.  137  f.)  annehmen  möchte,  dass  brücl  als  suppletives  femininum  zu  eidam  zu  gelten 
hätte  und  letzterer  name  auf  die  durch  einen  eidschwur  vermittelte  aufnähme  des 
verlobten  mannes  in  die  sippe  der  haustochter  hindeuten  sollte,  dass  mit  andern 
w^orten  für  die  deutung  des  fem.  verwandtschaftsnamens  von  einer  grundbedeutung 
'adoptivtochter'  auszugehen  sei,  so  dürfte  diese  folgerung  meines  erachtens  nicht 
unbedenklich  erscheinen.  Die  beregte  deutung  von  eidam  Hesse  sich  eben  rechts- 
geschichtlich gar  wenig  begründen  -.     Und  etymologisch  ist  brüd  doch  wohl  kaum 


1)  Hervorzuheben  sind  auch  die  von  K.  (s.  180)  im  anschluss  an  Sohras  rechts- 
geschichtliche forscbungen  betonten  termiui  gemalwlo,  -a,  sponsus,  -a  =  'neuver- 
mählte(r)',  eig.  'durch  Wiederholung  der  Verlobung,  die  traditio  secunda,  getraute(r)'. 

2)  Es  wäre  der  name  nach  aulass  der  von  K.  (s.  137)  ans  Heinricli  v.  Freibergs 
Tristan  zitierten  stelle  als  'durch  der  sippe  der  Jungfrau  geleisteten  schwur  ver- 
pflichteter' zu  fassen. 


n 


EIEKMAXX,    CASPAR   STIELER   ALS    DICHTER   DER    GEHARXSCHTEN    VENUS  447 

ZU  trennen  von  aksl.  bra-kr  'ehe' :  aksl.  a  aus  für  öu  stehendem  ö  (vgl.  Brugmanns 
Grdr.- 1,  §  223  und  IF.  23,  99),  dein  auf  germanischem  Sprachgebiet  der  stammlaut  ent- 
spricht von  in  ahd.  gU.  als  bezeichuungen  für  'nurus,  bruta'  überlieferten  brot  und 
proiitun,  -on  (prototjp  trö-di- ;  wegen  6  =  uo  und  wegen  oa  aus  ö,  sowie  wegen 
-iin,  -on  aus -im7  s.  Beitr.  35,  307  f. ;  für  die  semantische  eutwicklung  des  ursprüng- 
lichen verbalabstraktums  wäre  au  'durch  verehelichung  [nicht  durch  gehurt]  er- 
worbene tochter'  zu  denken,  doch  ist  mit  rücksicht  auf  das  unten  über  hrüps  etc. 
'nurus'  bemerkte  auch  die  möglichkeit  nicht  zu  übersehen  von  alter  [nicht  über- 
lieferter] bedeutuug  'junge  ehefrau') :  brnd,  brtit,  bryd  etc.  mit  zu  öu  im  ablaut 
steheiulem  vokal  (vgl.  auch  den  ital.  beinamen  der  Venus,  Frütis  oder  Frutis). 
Die  Beitr.  32,  30  ff.  und  35,  306  anm.  nachgewiesene  bedeutuugen  'braut  am 
hochzeitstage  bzw.  während  der  (über  mehrere  tage)  verteilten  hochzeitsfeste'  und 
'junge  ehefrau'  (vgl.  auch  die  in  Zs.  f.  d.  wortf.  1,  240  ff.  belegten  mgr.  ßpoÜTig,  ßpouxr; 
'junge  frau')  lassen  sich  anstandslos  aus  ,ehe'  herleiten  (=  'die  sich  durch  bevor- 
steheude  oder  vor  kurzem  erfolgte  verehelichung  kenuzeichneude' ;  vgl.  auch  zu 
krimgot.  marzus  'nuptiae'  zu  stellendes  lit.  martl  'braut  am  hochzeitstage'  und 
'junge  frau'). 

Auf  diese  semantischen  basen  aber  sind  die  anderen  Beitr.  32,  30  ff.  für  unser 
wort  hervorgehobenen  bedeutuugen  gar  leicht  zurückzuführen: 

'Schwiegertochter'  (vgl.  got.  brüps,  sowie  aus  germ.  muudarten  entlehnte 
franz.  brat,  bru,  rhätoroman.  brit,  breit,  mlat.  brutis,  bruta  und  beachte  Beitr.  35, 309  f. ; 
auch  lit.  martl  =  'Schwiegertochter')  durch  Verwendung  des  'junge  frau'  bezeich- 
nenden nomens  in  bezug  auf  die  eitern  des  jungen  gatten  (wegen  des  gegen- 
stückes,  bru  dial.  und  nurus  auch  für  'junge  frau',  vgl.  Beitr.  a.  a.  o.) ; 

'gattin  im  allgemeinen'  (as.  ags.  an.  mnd.  uud  im  älteren  ndl.)  durch  kompa- 
rative Übertragung  des  wortes  auf  eine  bezüglich  des  vermähltseins  mit  einer  jungen 
ehefrau  zu  vergleichende  person; 

•illegitime  beischläferin'  (mnl.  mhd.),  worüber  Beitr.  34,  562  f. ; 

'weih  im  allgemeinen'  (in  aisl.  poesie,  Beitr.  32,  5'2)  durch  analogie  des  für 
'mulier'  und  'uxor'  geltenden  nomens  kona-^ 

'verlobte'  durch  (in  jüngerem  hd.  und  gelegentlich  auch  in  däu.  und  ndl. 
poesie  zu  beobachtende)  komparative  Übertragung  des  'braut  während  der  hochzeits- 
feier'  bezeichnenden  wortes  (beide  bedeutungen  begegnen  sich  in  bezug  auf  die 
bevorstehende  ehe); 

'Jungfrau,  mädchen'  (meng..  Mätzner,  Sprachpr.  2,  1,350  f.)  durch  sclimeichelnd- 
höfliche  Verwendung  des  eig.  'junge  frau'  bezeichnenden  ausdrucks. 

GRONINGEN.  W.   VAN   HELTEN. 


Caspar  Stieler  als  dichter  der  (reharuschten  Venus. 

Man  hat  bekanntlich  lange,  nach  Eeifferscheid  (AUg.  deutsche  biogr.  33,  443) 
seit  .Job.  Mollers  (1661-1725)  Cimbria  literata  (1744),  die  'Gojiarnschtc  Venus' Jaeol) 
Schwieger  zugeschrieben,  bis  endlich  A.  Köster  in  seiner  Untersuchung  'Der  dichter 
der  Geharnschten  Venus',  Marburg  1897,  Caspar  Stieler  die  autorschaft  überzeugend 
zuwies.  Nach  Köster  (a.  a.  o.  113)  hat  Stieler  selbst  später  seiner  liedersammlung 
mit  keiner  silbe  gedacht.  Doch  findet  sich  in  einer  nach  seinem  tode  erschienenm 
aufläge   eines   seiner   werke   eine   angäbe,   durch   die  Kösters  beweisführung,   ohne 


448  GKHHARDT 

dass  ihm  ansclicinend  dieses  zeiiguis  bekannt  gewesen  war,  auf  das  glänznidste 
bestätigt  wird.  Der  4.  aufläge  von  'Des  Spaten,  oder  Caspar  Stielers  Teut- 
scher  Secretariat-Kunst',  Frankfurt  a.  M.  1726,  hat  der  herausgeber  Joachim  Friederich 
Feller,  fürstl.  sächsischen  gesammten  gerichts-secretarius  zu  Weimar,  eine  'Nachricht 
von  weiland  Herrn  Hof-Rath  Stielers  Leben  und  Schrifften,  wie  auch  von  der  jetzigen 
veränderten  Auflage  seiner  Secretariat-Kunst'  vorausgeschickt,  die  Weimar,  den 
30.  Jan.  1726  datiert  ist.     Darin  heisst  es : 

Seine  Schrifften  hat  man  in  folgendes  Verzeichnüss  gebracht. 

1.  Disputatio  de  Calido  innato. 

2.  Filidors,  des  Dörfeners,  geharnischte  Venus  (so  er  in 
Brandenburgischeu  Kriegs-Diensten  gemacht,  und  dessen 
Inhalt  mehrentheils  in  Liebes-Liedern  bestehet)  ist  zu 
Hamburg  in  länglicht  Duodez  mit  beygefügten  Melo  dien 
gedruckt. 

Es  fehlt  also  die  angäbe  des  erscheinungsjahres,  1660,  und  ausserdem  ist  das  ana- 
gramm  'Dorfferer  =  Erfforder'  (Köster  s.  90),  vielleicht  durch  blossen  di-uckfehler 
oder  weil  man  es  nicht  verstanden,  verunstaltet.  Jedesfalls  ist  es  bedeutsam,  dass 
noch  66  jähre  nach  dem  erscheinen  der  lieder,  die  nur  eine  aufläge  erlebten 
(Köster  s.  6),  und  19  jähre  nach  des  dichters  tode  der  wahre  autor  allgemein 
bekannt  war  oder  es  jedesfalls  durch  die  angäbe  Fellers  wurde.  Nur  dem  um- 
stände, dass  alle  diese  voluminösen  kanzleibriefsteller  des  17.  Jahrhunderts  (die 
erste  aufläge  von  Stielers  Secretariat-Kunst  erschien  nach  Feiler  Nürnberg  1678, 
nach  Schröder  ADB.  36,  202  a.  1673)  völlig  in  Vergessenheit  geraten  sind,  ist  es  zu- 
zuschreiben, dass  noch  der  neudrack  der  Geharnschten  Venus  (Braune  nr.  74—75, 
1888)  Jacob  Schwieger  auf  dem  titel  fiihrt  und  Kösters  Untersuchung  nicht  über- 
flüssig war.  Denn  Edw.  Schröder  führt  zwar  in  den  literaturangaben  zu  Stieler 
(ADB.  36,  203)  Fellers  vorbericht  an,  ohne  jedoch  die  Geharnschte  Venus  zu 
erwähnen,  obwohl  sie  schon  von  Eeitferscheid  (a.  a.  o.)  Schwieger  mit  bestimmtheit 
abgesprochen  war.  Hätte  Schröder  den  vorbericht  beachtet,  so  wäre  wohl  schon 
durch  ihn  vier  jähre  vor  Köster  die  von  Reifferscheid  aufgeworfene  frage  gelöst 
oder  doch  auf  die  richtige  spur  gebracht  worden,  da  immerhin  Fellers  angäbe  an 
sich  nicht  beweiskräftig  gewesen  wäre. 

KIEL.  W.   EIERMAXN. 


LITERATUR. 


Die  1  e  h  n  w  ü  r  t  e  r  des  a  1 1  w  e  s  t  u  o  r  d  i  s  c  h  e  n.    Von  Frank  Fischei-.    [Palaestra. 
L'ntersuchungen  und  texte  aus  der  deutschen  und  englischen  philologie,  heraus- 
gegeben von  Alois  Brandl,  Gustav  Roethe  und  Erich  Schmidt.    LXXXV.]    Berlin, 
Mayer  u.  Müller,  1909.     VUI,  234  s.     6,50  m. 
Der  Verfasser  betrachtet  in  seiner  fleissigen  arbeit  die  lehnwörter  des  altwest- 
nordischen   unter   zwei   gesichtswinkeln :   im   ersten,   als  Berliner   dissertation   auch 
gesondert    erschienenen    teile   nach   ihrer    herkunft    aus    dem    irischen,    englischen, 
niederdeutschen,  slawischen,  lateinischen,  romanischen,  mit  einem  ersten  kapitel  über 
vorgeschichtliche   lehnwörter  und   einem   anhang  über  solche  unbekannter  herkunft 


I 


ÜBER   FISCHEK,    DIE    LEIIXWOItTEll   DES    ALTWESTNORDISCIIEX  449 

und  Über  die  gelehrten  lehuwörter  in  den  aufzählungen  von  Imti  in  der  Snorra 
Edda.  Dabei  sind  diejenigen  aus  dem  lateinischen  in  drei  getrennten  kapiteln  vor- 
geführt, je  nachdem  sie  über  das  englische  oder  das  niederdeutsche  oder  unmittelbar 
aus  dem  mittellateinischen  übernommen  sind. 

Im  zweiten  teile  werden  die  lehuwörter  noch  einmal  vorgenommen  und  nach 
ihrer  Verteilung  in  literaturwerken  und  -gattungen  betrachtet. 

Es  ist  ein  gegenständ,  der  wohl  der  Untersuchung  wert  war,  denn  einmal 
können  wir  nach  ihrem  vorkommen  in  datierten  denkmälern  nun  auch  die  zeit  der 
aufnähme  für  manche  lehnwörtergruppen  feststellen,  und  umgekehrt  können  auch 
die  lehuwörter  wichtige  hinweise  geben  für  die  zeitliche  festlegung  bisher  nicht 
datierbarer  werke. 

Ein  einleitendes  kapitel  behandelt  die  vorgeschichtlichen  lehuwörter  oder 
vielmehr  die  vermeintlich  vorgeschichtlichen  lelmwörter.  Denn  Fischer  verweist  ein- 
zelne davon,  z.  b.  tiald.  wohl  mit  recht  unter  die  heimischen  Wörter.  Ob  er  hierin 
nicht  noch  weiter  hätte  gehen  dürfen?  So  will  mir  z.  b,  gar  nicht  einleuchten, 
dass  der  pflüg,  altn.  pUgr,  unter  die  ,kulturwörter  unbekannter  herkunft'  gehören 
soll.  Wenn  auch  Plinius  von  dem  keltischen  räderpflug  ploum  spricht,  so  ist  damit 
meines  erachtens  noch  gar  nicht  bewiesen,  dass  nun  die  Kelten  den  wendepflug 
auch  erfunden  haben,  und  nicht  vielleicht  die  Germanen.  Ich  glaube,  gerade  je 
weiter  im  norden  und  in  minder  fruchtbarem  lande  ein  volk  gewohnt  hat,  um  so 
eher  musste  es  darauf  bedacht  sein,  ein  Werkzeug  zu  erfinden,  das  den  kärgeren 
boden  tiefer  aufschürfte,  als  mit  dem  kümmerlichen  hakenpflug,  altn.  arßr,  möglich 
war.  Fischer  begeht  nämlich  auch  den  allgemeinen  Irrtum,  auf  den  ich  schon  an 
anderer  stelle  hingewiesen  habe,  den  altn.  arßr  als  pflüg  überhaupt  anzusehen.  Es 
bezeichnet  dieses  wort  aber  bloss  den  hakenpflug,  der  noch  lange  nach  erfindung 
des  mit  moldbrett  versehenen  wendepflugs  diesem  als  ein  vorpflug,  ein  blosser  sech- 
pflug,  vorangieng  (in  einzelnen  gegenden  noch  jetzt  vorangeht),  bis  schliesslich  im 
modernen  pflüg  beide  vereinigt  wurden  ^ 

Wie  fast  in  allen  sprachen,  so  können  wir  auch  im  awestn.  gelegentlich  ein 
und  dasselbe  lehnwort  in  verschiedener  form  finden,  je  nach  den  verschiedeneu 
kulturströmen,  mit  denen  es  in  die  spräche  gekommen  ist.  So  erscheint  z.  b.  das 
latein.  abbas   als   dböU  übers   ags.  und  als  abhäti  übers  niederdeutsche  eingeführt. 

Manchmal  kann  mau  auch  der  wortform  nicht  ansehen,  auf  welchem  wege 
die  entlehnung  stattgefunden  hat,  so  kann  z.  b.  minta  'minzc'  aus  lat.  mentha  eben- 
sogut übers  ags.  wie  übers  ndd.  aufgenommen  sein. 

Da  die  herkunft  der  lehuwörter  nach  sprachen  zugleich  auch  mittelbar  die 
Zugehörigkeit  zu  bestimmten  kulturkreisen  widerspiegelt,  so  war  es  schon  aus 
diesem  gründe  durchaus  richtig,  die  lateinischen  lehuwörter  in  die  oben  angegebenen 
Unterabteilungen  zu  zerlegen.  Allein  da  erhebt  sich  die  frage :  warum  ist  nicht  mit 
den  über  das  keltische,  insbesondere  irische,  entlehnten  lateinischen  Wörtern  ebenso 
verfahren  worden?  Wenn  beispielsweise  s.  51  sokkr  'strumpf  <  lat.  soccus  oder 
stallari  'marschall'  <  lat.  stabularius  (ae.  socc  und  steaUere)  nicht  als  altenglische, 
sondern  als  englisch-lateinische  lehnwörter  aufgeführt  sind,  so  sehe  ich  nicht  ein, 
warum  s.  18  bagall  'krummstab'  <  lat.  baculus  oder  bi/niak  'segen'  <  lat.  benedictio 
als  irisch   zu  gelten   haben  und  nicht  vielmehr  als  irisch-lateinisch.     Irisch  bachall 

1)  Vgl.  K.  Braungart  in  H.  Thiels  Landwirtschaftlichen  Jahrbüchern,  bd.  2tj, 
Berlin  1897. 

ZEITSCHRIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  30 


450  GKÜHAUDT 

oder  bennact  sind  doch  kaum  stärkere  cntstellungeu  dieser  Wörter  als  ae.  steallere 
von  stabularius.  Freilich  wäre  dann  das  ohnehin  sehr  schmächtige  kapitel  der 
irischen  lelinwörter  noch  mehr  zusammengeschrumpft.  Dann  möchte  ich  ein  grosses 
fraü'ezeichen  hinter  Franks  satz  machen  'Nur  wenige  irische  lehnwörter  sind  im 
an.  wirklich  lebendig.'  Ich  glaube,  eine  tiefere  aufschürfung  des  materials,  das 
Alexander  Bugge  in  'Vesterlandenes  indflj-delse',  besonders  s.  255  ff.,  geliefert  hat, 
hätte  doch  noch  mehr  zutage  gefördert.  Auch  eine  von  Fischer  freilich  grundsätz- 
lich ausgeschlossene  quelle  hätte  da  noch  manches  erschliessen  können :  das  neu- 
isländische  und  das  fieröische,  sowie  die  lebenden  norwegischen  mundarten.  Es  ist 
m.  e.  gänzlich  ausgeschlossen,  dass  ins  isländische  irische  Wörter  später  aufgenommen 
worden  sind  als  in  der  zeit  der  irisch-isländischen  Wechselbeziehungen,  da  die 
isländischen  grossen  oft  längere  zeit  auf  Irland  lebten,  und  da  sie  irische  knechte 
und  irische  geliebte  mit  nach  Island  brachten.  Ein  wort  wie  slavak,  im  fseröischen 
'ulva  maris  viridis'  (Indfl.  s.  359),  im  isländischen  durcheinander  wachsende  poa 
annua  und  stellaria-arten  *  bedeutend,  aus  irisch  slahhagan  'eine  essbare  taugart', 
kann  doch  nur  in  jener  sozusagen  zweisprachigen  zeit  aufgenommen  worden  sein 
und  ist  heute  noch  lebendig. 

Umgekehrt  aber  hätte  das  wort  minßak  n.  'eine  speise'  wohl  ausgeschaltet 
werden  sollen.  Denn  es  kommt  ja  nur  an  der  einen  stelle  Ldn.  I,  6  vor,  an  der 
ausdrücklich  erzählt  ist,  dass  es  irische  knechte  waren,  die  mehl  und  butter  zu- 
sammenkneteten und  in  ihrer  spräche  minßak  nannten.  Dass  danach  die  isländische 
örtlichkeit  3Iinßakseyrr  genannt  wurde,  an  die  das  von  ihnen  über  bord  geworfene, 
schimmlig  gewordene  ininßjak  an  land  trieb,  das  beweist  hier  doch  gar  nichts  für 
aufnähme  des  Wortes  in  die  isld.  spräche. 

Dann  hätten  viel  eher  solche  Wörter  aufgeführt  werden  sollen,  die  wie  irisch 
goba  'schmied'  als  beiname  des  Kttill  giifa  ins  isld.  aufgenommen  worden  sind-  und 
in  namen  wie  Gufuskälar,  Gufd,  Gufudalr,  Gufafiordr  fortleben. 

Da  Fischer  'Vesterlandenes  indflj-delse'  selbst  benutzt  hat,  hätte  er  versuchen 
sollen,  von  professor  Alexander  Bugge  das  s.  '255  erwähnte  Verzeichnis  keltischer 
lehnwörter  zur  einsieht  zu  erhalten,  das  dessen  vater  angelegt  und  Whitley  Stokes 
durchgesehen  hat.  Ich  bin  überzeugt,  dass  dann  sein  kapitel  über  irische  lehnwörter 
ganz  anders  aussehen  würde. 

Auffällig  ist  das  vollständige  fehlen  eines  kapitels  über  lehnwörter  aus  den 
finnisch-lappischen  sprachen.  Nur  hinter  der  aufführung  der  slawischen  lehnwörter 
finden  wir  auf  s.  45  die  kurze  bemerkuug,  dass  Gudbrand  Vigfüsson  für  askraki, 
gälkn,  gainmi,  hreinn  imd  gndnrr  lappischen  Ursprung  vermutete,  ohne  dass  Frank 
sich  weiter  darüber  auslässt. 

Begreiflich  ist  aber  dieses  fehlen  aus  zwei  gründen.  Einmal  ist  ja  doch  die 
germanische  kultur  der  finnisch-lappischen  weit  überlegen,  so  dass  auch  die  germa- 
nischen sprachen  die  gebenden,  jene  die  nehmenden  waren,  und  dann  ist  ja  auch 
die  awestn.  literatur,  Franks  ausschliessliche  quelle,  fast  durchweg  isländisch,  ent- 
behrt also  seit  Jahrhunderten  vor  dem  einsetzen  der  niederschrift  der  Wechsel- 
beziehungen zu  den  Lappen. 

Überhaupt  hat  ja  der  Verfasser  so  gut  wie  gar  keine  norwegischen,  sondern 
ausschliesslich  isländische  quellen  benutzt.    'Die  Biskupasögur,  sagt  er  s.  V,  blieben 

.1)  Stefan  Stefänsson,  Flora  Islands,  Kph.  1901,  s.  53. 
2)  [Vgl.  jedoch  Aarb.  1907  s.  328.     H.  G.] 


ÜBER    FISCHER,    DIE    LEHNWÖRTER   DES    ALTWESTXORDISCHEX  451 

mit  der  üblichen  geistlichen  literiitiir,  sowie  den  rechtsbücheru,  gelehrten  Schriften 
und  Urkunden  fort'.  Das  ist  ein  grundfehler.  Freilich  wollte  -  und  vielleicht 
sollte  -  Frank  nicht  ein  unendlich  dickes  buch  liefern.  Allein  bei  dieser  beschrän- 
kung  durfte  er  seine  arbeit  nicht  mit  einem  titel  bezeichnen,  dessen  bestimmte 
artikel  den  anscheiu  der  Vollständigkeit  erwecken.  Gerade  die  Urkunden  und  rechts- 
bücher  hätten  besonders  gut  erkennen  lassen,  wie  weit  lehnwörter  schon  volkstüm- 
lich waren,  und  wenn  Snorra  Edda  behandelt  ist,  so  sieht  man  nicht  ein,  warum 
andere  gelehrte  literatur,  vor  allem  der  Königsspiegel,  ausgeschlossen  ist.  Bedauer- 
lich ist  auch,  aber  ohne  schuld  des  Verfassers,  dass  er  die  jetzt  eben  im  'Samfund' 
erscheinende  Remundar  saga  keisarasonar  nicht  mehr  benutzen  konnte,  die  von 
lehnwörtern  der  verschiedensten  art  geradezu  wimmelt. 

Es  ist,  rein  menschlich  betrachtet,  recht  wohl  zu  verstehen,  dass  der  Verfasser 
im  zweifei  ein  wort  lieber  als  unter  sein  thema  fallend  betrachtet  hat  als  umge- 
kehrt. So  hält  er  z.  b.  unter  den  lehnwörtern  unbekannter  herkunft  s.  91  piltr, 
genta ,  pika ,  stulka  für  'eine  gewiss  entlehnte  gruppe',  während  ich  schwerlich 
an  entlehnung  glauben  könnte,  auch  wenn  ich  nicht  dabei  bemerkungen  läse  wie 
'nach  F.  T.  heimisch'. 

Auch  an  den  uunordischeu  lau tverbin düngen  in  di/nkr,  Jilunka,  hranki 
brauchen  wir  uns  kaum  zu  stossen.  Sie  sind  wohl  junge  bildungen  mit  lebendigem 
Ä-suffix  -  vgl.  Hellqvist,  Arkiv  7,  142  ff.  — ,  die  sich  infolge  des  etymologischen 
bewusstseins  der  Wirkung  des  lautgesetzes  nk  >  kk  entziehen.  Was  insbesondere 
sinkr  'habsüchtig,  karg'  betrifft,  so  halte  ich  es  für  ein  vom  subst.  sinka  'habsucht, 
eigenliebe'  abgeleitetes  adjektiv,  und  das  subst.  sinka  dürfte  wohl  eine  abstrakt- 
bildung  vom  possessivum  s/n  mittels  des  Ä-suffixes  sein. 

Auf  keinen  fall  möchte  ich  syll,  sylla  'schwelle'  als  ein  englisch-lateinisches 
lehnwort  aus  lat.  solea  auffassen,  wie  Fischer  §  29,  s.  51  tut.  Wir  haben  es  liier 
ganz  einfach  mit  einer  ablautsform  zum  verbum  sivellnn  zu  tun.  Vgl.  Falk-Torp  u.  d.  M". 
svill.  Es  wäre  ja  auch  unsinnig,  dass  die  Nordleute  ausdrücke  des  fachwerkbaues 
aus  dem  lateinischen  entlehnen  sollten.  Übrigens  ist  ja  die  ähnlichkeit  der 'schwelle' 
mit  einer  solea  nur  von  unserer  heutigen  auffassung  aus  möglich,  da  uns  die  schwelle 
heutzutage  als  eine  fläche,  ein  brett  erscheint.  Im  alten  fachwerkbau  aber  gieng 
ja  die  schwelle  durch.  Unsere  heutige  schwelle  ist  nur  ein  teil,  ist  nur  der  in  der 
türöffnung  freigelegte  teil  der  durchgehenden  alten  schwelle,  wie  wir  sie  heute 
noch  gelegentlich  in  alten  räumen  linden.  Wer  nicht  das  glück  hat,  vom  lande 
oder  aus  einer  besonders  altertümlichen  Stadt  zu  stammen,  der  sollte  um  so  eifriger 
die  junge  Wissenschaft  von  den  Wörtern  und  Sachen  betreiben,  ohne  die  gerade 
lexikalische  arbeiten  unmöglich  sind. 

Ebensowenig  aber  vermag  ich  —  trotz  Cederschiöld,  Cläri  saga,  s.  30  —  mit 
Fischer  s.  233  den  ersten  bestandteil  von  viravirki  'filigranarbeit'  für  romanisch 
zu  halten. 

Der  §  40  behandelt  die  —  gelehrten  —  lehnwörter  der  Iiulur  in  der  Snerra 
Edda  und  bildet  eine  abteilung  für  sich.  Das  halte  ich  für  eine  unglückliche  durch- 
brechuug  des  einteilungsgrundsatzcs.  Wenn  sich  z.  b.  der  verf.  unter  diesen  bei 
iarpi  'tetrao  bonasia'  an  die  erklärung  Tamms  aus  slaw.  Jarsin  anschliosst,  so 
gehörte  das  wort  in  das  5.  kapitel  'slawische  lehnwörter'.  Die  aufzählung  nach 
dem  ort  ihres  Vorkommens  hätte  in  den  zweiten  teil  gehört. 

Innerhalb  jedes  kapitels  sind  im  ersten  teile  die  lehnwörter  alphabetisch  auf- 
geführt, gelegentlich  auch  in  zwei  alphabeten,  so  bei  den  englischen  die  anerkannton 

30* 


452  l'AN/.KK    l!l!Ki;    V.  MUTH,    KINI-EITUXG    IX    DAS   NIBELUNGENLIED 

und  die  erst  von  Frauk  hierhergereclmeten  getrennt.  Eine  einrichtung,  die  sehr 
praktisch  ist. 

Im  zweiten  teile  nun  werden  die  vom  verf.  ausgezogenen  literaturgattungen 
und  deukmäler,  nämlich  l'sleudingasggur,  Konuugasogur,  Fornaldarsggur,  Eiddara- 
SQgnr,  eddisclie  dichtung  und  skaldische  dichtung  in  je  einem  kapitel  und  weiter 
nach  denkmälern  geordnet  durchgenommen  und  die  in  ihnen  vorkommenden  lehn- 
wörter  aufgezählt  nach  der  reihenfolge  der  kapitel  des  ersten  teils,  in  die  sie 
gehören  und  deren  zahl  ihnen  fett  vorgedruckt  ist. 

Da  ergibt  sich  nun  ein  höchst  uupraktisclier  zustand:  da  die  einzelnen  selten 
keinerlei  Überschriften,  also  auch  nicht  die  nummern  der  kapitel,  tragen,  so  muss 
man  oft  länger  blättern,  bis  man  die  angeführte  stelle  findet.  Wenn  es  mit  dem 
plane  der  Palaestra  unvereinbar  war,  zu  diesem  zwecke  die  kapitelnummern  oben 
auf  die  seite  zu  setzen,  so  hätte  Fischer  eben  anders  verweisen  sollen,  entweder 
auf  die  selten,  wie  es  im  register  geschehen  ist,  oder  wenigstens  nach  paragraphen. 

Dieser  zweite  teil  ermöglicht  uns  einen  hübschen  überblick  über  die  ver- 
schiedenen sprachlichen  quellen,  die  auf  die  eine  und  andere  literaturgattung  beson- 
ders befruchtend  eingewirkt  haben.  Aber  Fischer  bietet  noch  mehr:  er  hat  sich 
die  mühe  nicht  verdriessen  lassen,  den  lehnwörterbestand  einzelner  voneinander 
abweichender  fassungen  und  handschriften  getrennt  zur  anschauung  zu  bringen. 

Und  so  stehe  ich  nicht  an,  trotz  der  vorgebrachten  ausstellungen  die  von 
grossem  fleiss  und  umfassender  belesenheit  zeugende  arbeit  für  ein  recht  gutes  buch 
zu  erklären,  das  uns  bequeme  dienste  zu  leisten  wohl  geeignet  ist^ 

1)  AVer  als  Spezialist  auf  dem  altnordischen  gebiete  arbeitet,  sollte  aber 
wissen,  dass  Worttrennungen  wie  lei-kari  (s.  4),  hg-fup  (s.  5),  fxj-rirläta  (s.  135) 
dem  gebrauche  nicht  entsprechen.     Vgl.  Wimmer  §  8. 

ERLANGEN.  AUGUST  GEBHARDT. 


Richard  y.  Mutlis  Einleitung  in  das  Nibelungenlied.  Zweite  aufläge. 
Hg.  mit  des  Verfassers  nachtragen  und  mit  literarischen  nachweisen  bis  zur 
gegenwart  von  J.  W.  Nagl.    Paderborn,  Ferd.  Schöningh  1907.    X,  501  s.    8  m. 

Ob  die  neue  aufläge  dieses  buches  ein  buchhändlerisches  bedürfnis  war, 
wissen  wir  nicht;  ein  wissenschaftliches  war  sie  gemss  nicht. 

Zweifellos  wäre  eine  einleitung  in  das  Nibelungenlied  und  den  gegenwärtigen 
stand  der  Nibelungenforschung  ein  bedürfnis,  und  wir  wären  jedem  dankbar,  der  mit 
keuntnis  und  geschmack  sie  uns  böte.  Aber  diese  einleitung  mit  der  Jahreszahl  1907 
auf' dem  titel  bedeutet  einen  schUmmen  anachronismus. 

Auf  'darstellung  der  herrschenden  lehrmeinungeu'  hatte  es  der  Verfasser  in 
seinem  buche  von  1877  abgesehen,  und  wirklich  gab  er  eine  eingehende  und  sorg- 
fältige 'darstellung  der  ansichten,  wie  sie  die  Lachmannsche  schule  bis  dahin  aus- 
gebildet und  vertreten  hatte.  Die  gegner  Lachmanns  kamen  freilich  schon  damals 
zu  kurz.  Nicht  bloss,  dass  das  buch  sich  giftgeschwollen  gegen  sie  blähte  und 
seine  argumente  mit  beschimpfungen  untermischte,  es  fehlte  auch  an  einlässlicher 
darstellung   des   Inhalts    der    abweichenden    auschauungen.     Dem   geschlechte   von 


I 


BAESECKE  ÜBER  RUNGE,  ALBRECHT  VOX  HALBERSTADT  453 

lieute  ist  der  siim  für  die  tonart  des  buclies  gäuzlicli  verloren  gegangen,  es  hat 
sich  aber  vor  allem  .sachlich  in  allen  wichtigen  punkten  so  weit  von  Lachmanns 
auschauungen  entfernt,  dass  ein  buch  nicht  mehr  als  einleitung  ins  Nibelungenlied 
gelten  kann,  das  nur  sie  darstellt.  Die  neue  aufläge  bietet  nun  v.  Muths  werk 
fast  völlig  in  der  alten  gestalt.  Die  vorrede  teilt  in  Sätzen,  über  deren  bedenklich 
missverständliche  ausdrucksweise  schon  von  Braune  (Lbl.  1907,  sp.  323.  1908,  sp.  85) 
gerechte  beschwerde  geführt  wui'de,  mit,  dass  der  Verfasser  nui"  'die  ersten  vier 
jähre  nach  erscheinen  seines  werkes'  nachtrage  zu  seiner  arbeit  gesammelt  habe, 
*da  ein  früher  tod  ihn  dahinraffte'.  In  Wahrheit  ist  v.  Muth  1902,  also  25  jähre 
nach  erscheinen  seiner  einleitung,  gestorben.  AVie  dem  nun  sei,  die  literatur  seit 
1881  ist  für  den  text  völlig  unberücksichtigt  geblieben.  Nagl  liat  lediglich  biblio- 
graphische verweise  auf  die  neuere  literatur  eingeschoben,  die  nur  in  verschwindenden 
fällen  einmal  auf  den  Inhalt  dieser  arbeiten  aufmerksam  machen.  Auf  diese  weise 
wird  ein  gewissenhafter  leser,  ein  studierender  etwa,  der  sich  aus  diesem  buche 
über  die  gelehrte  forschung  unterrichten  wollte,  in  die  seltsamste  läge  versetzt : 
schlägt  er  die  literatur  nach,  auf  die  er  verwiesen  wird,  so  muss  er  in  sehr  vielen 
fällen  entdecken,  dass  in  den  angezogeneu  aufsätzen  und  büchern  ganz  anderes, 
öfter  das  gerade  gegenteil  von  dem  gelehrt  wird,  was  der  text  verkündet.  Der 
herausgeber  ist  in  seiner  Zurückhaltung  so  weit  gegangen,  dass  er  z.  b.  nicht  einmal 
die  rein  tatsächlichen  angaben  über  die  hss.  nach  der  von  ihm  selbst  zitierten 
literatur  hat  korrigieren  mögen.  Durch  dieses  verfahren  musste  natürlich  ein  voll- 
ständig unbrauchbares  buch  entstehen.  Da  aus  Braunes  oben  schon  angezogenen 
erklärungeu  auch  deutlich  wird,  dass  ein  unveränderter  neudruck  keineswegs  im 
sinne  des  verstorbenen  Verfassers  liegen  konnte,  der  sich  späterhin  wesentlich  von 
den  auschauungen  entfernt  hat,  die  er  1877  vertrat,  so  ist  wirklich  nicht  einzusehen, 
wem  mit  dieser  neuen  ausgäbe  genützt  werden  sollte. 

FRANKFURT   A.  M.  FRIEDRICH   PANZER. 


Otto  Rung-e,  Die  m  etamorph  osen  Verdeutschung  Albrechts  von  Halber- 
stadt (Palaestra  LXXIII).  Berlin,  Mayer  &  Müller  1908.  VI,  168  s.  4,60  m. 
Runge  sclireitet  lobenswert  methodisch  so  vor,  dass  er,  wie  übrigens  schon 
Bartsch  in  seiner  ausgäbe,  an  der  band  der  erhaltenen  verse  Albrechts  die  art  der 
Wickramschen  bearbeitung  studiert,  um  dann  in  den  übrigen  partien  aus  Wickram 
auf  das  verlorene  zu  schliessen.  Danach  verkleistert  Wickram  die  'kurtzen'  verse 
seiner  vorläge,  um  die  gewünschten  8  oder  9  silben  herauszul)ringen,  mit  allerhand 
flick-  und  formwörtern,  modernisiert  und  sieht  auch  wohl  einmal  den  Ovid  selbst 
ein  (s.  13  f.),  ohne  doch  zu  etwas  einheitlich  neuem  zu  kommen  (vgl.  s.  24  f.  die 
liste  der  werte,  die  bei  ihm  nur  in  der  metamorphosenbearbeitung,  niclit  in  den 
übrigen  werken  zu  ündcn  sind). 

Einige  ergänzungen  ergeben  sich  aus  Zfda.  51,  1G4  ff.  Runge  geht  auf  das 
dort  dargelegte  verfahren  Wickrams,  scliwer  verständliche  werte  mehrfach  zu  über- 
setzen, nicht  ein.  Ich  führe  noch  an:  Alb.  A  HO  iumplichen  käne  >  W.  VI,  1012  f. 
gentzlieh  taub  und  tarn,  Inn  seim  gmilt  irr  inn  eyner  summ,  A  142  quäle  >  VI,  1041 
weh  und  1049  j;e?«,-  um  genenden  A  39  zu  vermeiden,  ist  der  folgende  vers  dreifach 
übersetzt :   VI,  946.  946.  949.     Wickram   klebt  an   den  reimen :   um  das  wort  vare 


454  BAESECKE 

(Infinitiv)  A  21  beizubehalten,  erschafft  er  VI,  926  ein  unerhörtes  der  oder  das  far 
für  'die  fahrt' ;  A  20  u-art  =  wärts  erhält  er  VI,  925  als  tvardt  =  fiebat ;  aus  dem 
veralteten  plural  vnsinnen  A  90  wird  negiertes  sinnen  VI,  989;  von  dem  unver- 
standenen verse  B  9  rettet  er  doch  deu  reim  stunden  XI,  286  und  das  gleichfalls  un- 
verstandene wort  Oft  B  98  vervollständigt  er  XI,  371  zu  fart;  den  rührenden  reim 
se  :  gese  A  137  zerlegt  er,  mit  begriff  und  klang  möglichst  nahe  bleibend,  in  sehr: 
meer  VI,  1028  und  geschehen  :  gesehen  1034.  Zu  den  aufgegebeneu  worten  gehören 
noch  kunne  B  143  (>  kummen  XI,  416!)  und  vreisam  B  182  (>  scheulich  XI,  450); 
aufgegebene  form  ist  hören  ohne  umlaut,  s.  die  reime  XI,  281  <  B  4,  306  <  30, 
330  <  56).  Entgangen  scheint  übrigens  dem  Verfasser  auch,  dass  im  zweiten  frag- 
ment  Wickram  bereits  bedeutend  freier  ist  als  im  ersten. 

Für  spräche  und  stil  Albrechts  stehen  uns  also  doch  nur  seine  eigenen  verse 
zur  Verfügung,  wohl  aber  wird,  bei  einiger  vorsieht,  Wickrams  bearbeitung  sagen 
können,  wie  sich  Albrecht  inhaltlich  zu  seiner  vorläge,  Ovid,  stellte  (s.  27). 

Demgemäss  verfährt  Runge  im  zweiten  hauptteil,  'Albrechts  Verhältnis  zu 
Ovid',  in  dem  er  nun  mit  treuem  fleisse  aus  zahlreichen  einzelzügen  ein  bild  des 
dichters  zusammenzusetzen  sucht. 

Ja,  wir  lesen  Albrechts  text,  und  seine  Unzulänglichkeiten  bUcken  uns  an 
wie  unser  fleisch  und  blut  aus  unseren  kindern:  er  ist  uns  verständlich  und  lieb, 
wir  wissen  etwa,  an  welchen  punkt  der  entwicklung  er  gehört,  und  sind  froh,  wenn 
wir  den  unhistorisch-ästhetischen  wert  seiner  schlichten  rede  —  es  ist  ja  nur  Über- 
setzung —  nicht  pflichtmässig  durch  einige  minder  gebräuchliche  epitheta  literarisch 
etikettieren  müssen.  Aber  dann  nehmen  wir  den  Ovid  her,  und  wir  brauchen  nur 
wenige  verse  lang  diese  unerhörte  meisterschaft  auf  uns  wirken  zu  lassen,  die  jedes 
wort  an  die  einzig  gesollte  stelle  setzt  und  mit  der  leichtesten  wendung  jede  raf- 
finierte nuance  darüberhaucht,  indes  der  hexameter  durch  sein  immer  feiner  aus- 
geklügeltes kaskadenwerk  dahinklingt,  als  wäre  er  mit  seinem  rauschen  der  natür- 
lichste redestrom.  Da  sinkt  denn  das  werk  unseres  armen  guten  und  'gelehrten' 
landsmannes  zusammen:  der  glänzende  rhetorische  schmuck  von  anaphern  und  anti- 
thesen,  von  ausrufen,  fragen,  künstlichen  lautmalereien  und  gewollten  epitheten  ist 
dahin,  alles  ist  einfach  und  eben  geworden,  und  nur  die  weiterführenden  haupt- 
■gedanken  sind  in  ungeschicktem  fresko,  blass  und  breit,  nachgebildet,  ohne  freude 
am  detail,  ohne  sonderliches  bestreben,  das  antike  ganz  wiederzugeben  oder  ganz 
einzudeutschen,  aber  auch  unbefangen,  ohne  prüde  möncherei  und  moralische  nutz- 
anwendung  und  gewiss  reinlicher  als  Ovid  gemeint.  Nur  (wie  es  bei  den  Übersetzern 
der  zeit  zu  sein  pflegt)  wo  von  der  umgebenden  natur  die  rede  ist,  da  stellen  mitten 
in  der  ungeheuren  fremden  märchenfülle  wald,  gras  und  vögelein  sich  ein,  und 
mancher  zug  des  ländlichen  lebens  ist  in  kleinen  Zusätzen  treffend  wiedergegeben. 
Das  alles  hat  Eunge  noch  über  Bartsch  und  Bolte  hinaus  umständlich  bis  ins  ein- 
zelne dargelegt,  und  man  sähe  sich  nur  zuweilen  gern  einmal  ki'äftig  erinnert,  dass 
Wickram  nicht  Albrecht  ist,  dass  er  z.  b.  nebenher  noch  andere  quellen  benutzte 
(Bolte  s.  XXVII:  Boccaccio,  vgl.  Eunge  s.  91).  Ein  exkurs  (s.  87  ff.,  vgl.  Bolte 
s.  XIX)  geht  der  von  Albrecht  benutzten  Ovidhandschrift  nach;  schade,  dass  der 
Verfasser  nicht  das  fazit  aus  seinen  beobaclitungeu  zu  ziehen  versucht. 

Teil  III,  'Albrechts  Verhältnis  zur  mhd.  epik  und  lyrik',  zunächst  in  stil  und 
spräche.  (Hier  wird  also  doch  Wickram  für  Albrecht  ausgenutzt;  vgl.  oben  das 
ergebnis  aus  teil  I.)  Eunge  summiert  ganz  richtig,  'dass  Albrecht  ein  Vertreter  der 
Übergangsperiode  zwischen  Veldeke  und  Hartman  ist'  (s.  147). 


ÜBER  RUNGE,  ALBRECHT  VON  HALBERSTADT  455 

'Übergangsperiode  zwischen  Velcleke  und  Hartman',  trotz- 
dem der  Verfasser  das  liet  von  Troye  und  die  deutschen  meta- 
niorphosen  nach  dem  Iwein  ansetzt!? 

Charakteristisch  für  diese  wunderliche  Übergangsperiode  wären  die  ein- 
gestreuten Wahrheitsbeteuerungen,  die  auf  Währung  der  (noch  nicht  selbstverständ- 
lichen) etikette  ausdrücklich  hinweisenden  zusätze,  einzelne  früh  veraltete  bestand- 
teile  des  Wortschatzes  {giädtn,  auch  noch  rötguldin,  icolgetäii,  ein  inere  bitrch, 
(legen,  iv/gant,  Jielt  etc.);  auf  die  paarigen  formein  ist  wenig  zu  bauen,  weil 
wir  ja  wissen,  dass  Wickram  den  vers  mit  synonymen  ausstopft.  Aber  in  der 
sache  hat  Runge  völlig  recht:  stil,  spräche  und  die  (nicht  mitbehandelte)  metrik 
allein  würden  Albrecht  vor  Hartman  rücken,  wenn  wir  keine  datierung  hätten  *. 
Eigentümlichkeit  Albrechts  gegenüber  den  höfischen  epikern  ist,  dass  er  sich  aus 
pracht  der  gewäuder  nichts  macht  und  nicht  dabei  verweilt. 

Jene  chronologische  placieruug  sucht  Runge  schliesslich  noch  durch  uachweis 
von  parallelen  uad  entlehnungen  zu  sichern. 

Was  er  aber  aus  der  Eneit  dem  von  Behaghel  s.  CXC'IX  ff.  beigebrachten 
hinzufügt,  ist  fast  durchweg  nicht  einleuchtend. 

Die  beziehung  zwischen  Albrechts  und  Herborts  prolog  ist  ganz  richtig 
erkannt:  Albrecht  ist  der  nehmende.  Dasselbe  Verhältnis  glaubt  Runge  noch  für 
eine  andere  stelle  erweisen  zu  können. 

Herbort  schreibt,  wo  es  sich  um  den  erfolg  der  griechischen  gesandtschaft 
handelt,  die  nach  Troja  kam,  um  Helena  zurückzufordern,  in  v.  15594  flf.: 

Priamus  vii  sine  diet 

Vö  Zorne  vs  dem  rate  schiet, 

Ir  rede  hleip  an  ende  gar, 

Durch  die  sie  wäre  kvme  dar:  man  weigert  sich. 

Dieselbe  sache  erzählt  Ovid,  aber  da  heisst  es  Met.  XIH,  201  ff. : 
et  moveo  Priamum  Priamoque  Antenorn  iunctuiii. 
at  Paris  et  fratres  et  qui  rajniere  suh  illo, 
vix  tenuere  manus  etc. 

Hier  lesen  wir,  dass  Priamus  mit  Antenor  darauf  eingieng,  Paris  aber  und 
die  brüder  sich  weigerten.     Und  trotzdem  schreibt  Wickram  XIII,  311  ff.: 

Do  erzürnt  ich  mit  meim  erznlen 
Den  hang  sampt  seinem  hoffgsind  allen  : 
Paris  sampt  seinen  gseUai  mich 
Gern  umbrocht  ketten  sicherlich  — 

d.h.  er  folgt  gegen  Ovid  Herborts  auffassung?  Und  also  wäre  Herbort  v.  15  594  ff. 
älter  als  Albrechts  XIII.  buch  ?  Sehr  möglich,  denn  es  folgen  ja  nur  noch  zwei 
bücher  bis  zum  Schlüsse,  und  der  zuletzt  geschriclKMic  prolog  Albrechts  ist  sicher 
jünger  als  Herborts.  • 

1)  Den  einwendungen,  die  Schröder  Zfda.  51,  175  gegen  meine  Interpre- 
tation des  siv  elf  hundert  jär  und  zehen  hevorn  als  1190  vorbringt,  war 
schon  Zfda.  50,  .373  begegnet,  worauf  ich  auch  Zfda.  51.  170  hinwies.  Inzwischen 
haben  mir  übrigens  C.  v.  Kraus,  R.  M.  Meyer  und  Seelmann  ihre  zustiininiing  zu 
erkennen  gegeben. 


4B6  IJAESEf'Kl': 

Aber  auch  das  umgekehrte  ist  möglich.  Runge  hat  versäumt,  Herborts  vor- 
läge einzusehen,  und  gerade  hier  ist  er  Benoit  gegenüber  selbständig  (Benoit 
V.  25  353—64  Constans,  vgl.  Cl.  Fischer,  'Der  afrz.  roman  de  Troie'  etc.,  Pader- 
born 1883,  s.  61),  ohne  dass  Benoit  sich  mit  Ovid  berührte.  Vielleicht  hat  also 
Herbort  seine  abweichuug  aus  Albrechts  werk  entlehnt. 

Vielleicht  aber  fasste  Albrecht  das  movere  seiner  vorläge  als  'erzürnen'  statt 
als  'bewegen'  und  las  etwa  et  statt  at,  stimmte  also  zu  Ovid. 

Die  entscheidung  müssten- Albrechts  berichte  über  die  Kosten  geben  können, 
denn  da  berühren  sich  Herborts  und  sein  gedieht  inhaltlich  am  nächsten,  und  sie 
machen  ja  bei  Herbort  eben  den  schluss  aus.  Aber  es  ist  nur  jämmerlich  wenig, 
was  Wickrani  mehr  hat  als  Ovid.  Vers  XIV,  163—68  die  uachricht,  dass  Odysseus 
dem  Polyi)hem  sein  äuge  nahm  (fehlt  Ovid  XIV,  180).  Das  könnte  aus  Herbort 
17  615  ff.  entnommen  sein.  Aber  da  steht  nichts  davon,  dass  es  7nit  listen  (AVick- 
ram  XIV,  168)  geschah,  und  Albrecht  könnte  den  einschub  nach  der  prophezeiung 
eben  dieser  blendung  verfasst  haben,  die  er  kurz  zuvor  (XIII,  998  ff.)  übersetzt  hatte. 

Bedeutsamer  scheint  schon  etwas  anderes.     Ovid  schreibt  XIII,  730  von   der 

Charybdis : 

vorat  haec  raptas  revomitqiie  carinas. 

Wickram  sagt  das  vielmehr  von  der  Scylla  aus  und  fügt  hinzu  XIII,  927  f. : 

Und  2'^ft^9^  ^*'  iconen  inn  dem  meer 

Und  laufft  z  wirb  eis  weiss  zammen  sehr. 

Woher  hat  Albrecht  den  wirbel  und  die  Verwechslung  der  beiden  ungeheuer? 
Herbort  schreibt  v.  17 718  ff.: 

Ez  en  wart  nie  mä  so  wis, 

Der  weste^  waz  caribdis 

Vn  cilla  ivere. 

Des  enste  immer  mere : 

Mir  (Odysseus)  iimrt  in  dem  lade  kvnt, 

Ez  si  daz  mer  ane  grünt, 

In  eime  creizze  ez  vbe  gat  .  .  . 

Vgl.  Benoit  28  875  ff. : 

Conte  qii'il  fii  pres  de  sa  fin, 

Entre  Sillan  e  Caribdin, 

La  ou  sont  li  nombril  de  mer  usw. 

Also  auch  bei  Benoit-Herbort  wirbel,  und  zwar  -  eine  vorstufe  der  Verwechslung?  — 
zwischen  Scylla  und  Charybdis  gelegt. 

Ich  lege  indes  zunächst  kein  grosses  gewicht  auf  diese  parallelen.  Aber  auf 
eine  art  von  beziehungen  zwischen  Albrecht,  Veldeke  und  Herbort  muss  ich  noch 
näher  eingehen,  auf  die  schon  Bartsch  p.  CLX  hinweist,  die  aber  Eunge  gar  zu 
rasch  übergeht  (s.  96):  das  sind  die  auslassungen  Albrechts  in  allen  dingen, 
die  die  Kosten  betreffen. 

Denn  Albrecht  behält  von  Ovids  Äneaserzählung  nur  das  bei,  was  zur  auf- 
reihung der  Verwandlungsfabeln  als  gerüst  nötig  war.  Die  flüchtigen  kommen  nach 
Athen  (statt  nach  Delos)  zu  könig  Anius,  und  es  wird  von  den  geschicken  seiner 
fünf  kinder  erzählt  (Met.  632-74;  Wickr.  832-92),  auch  von  den  beiderseitigen  gast- 


ÜBER  RUNGE,  ALBRECHT  VON  HALBERSTADT  457 

o-eschenken  (Met.  675—704;  die  darstellung  auf  dem  raisclikni2:e  des  Auius  [682—701] 
gibt  Albrecht  nicht  wieder,  sie  ist  ersetzt  durch  die  verse  W.  XIIL  908  ff. : 

Eyn  gülden  kopff  herrn  Eneas, 

Darinne  was  eyn  edelstein 

Der  wie  eyn  glünder  hol  schein). 

Die  zahlreichen  Stationen  aber  der  weiterfalirt  bis  nach  Sizilien  (Met.  70.5—28)  sind 
zusammengefasst  in  v.  921 : 

Gar  manig  lundt  er  do  hestreych 

(vgl.  die  Zusammenfassung  Eneit  177—81),  und  es  folgt  gleich  die  Scylla:  da  war 
zu  berichten,  was  der  Eneit  (und  den  Nosten)  fehlte,  ihre  Verwandlung  in  ein  meer- 
ungeheuer. Dasselbe  gilt  für  das  abenteuer  des  Polyphem  mit  der  Galathea  und 
des  Cxlaucus  mit  der  Circe,  die  an  die  Scyllaerzählung  geknüpft  sind.  Sobald  aber 
Ovid  (XIV,  75)  den  faden  wieder  aufnimmt  und  von  Aneas'  fahrt  weitererzählt, 
benutzt  Wickram  die  deutlichste  präteritio : 

XIV.  109  Docli  unll  ich  jetzundt  vtelden  nit, 

Wie  Eneas  slest  von  ir  (Dido)  schiet, 

Als  sie  in  für  im  man  erkoss, 

Und  loie  sie  Iren  leib  verloss  (Met.  XIV,  78—81;  Eneit  1953—2528) 

Und  wie  er  ansprach  Sihyllam  (Met.  XIV,  104-15 ;  En.  2686-2880), 

Auch  wie  er  zci  der  hellen  kam, 

Wie  er  auch  inn  der  hellen  sali 

Als  das,  so  im  hinach  geschah, 

Und  tvie  sie  in  von  solcher  fart 

Widerumb  bracht  herufferwart 

Und  er  sich  aber  inns  meer  Hess. 


(Met.  XIV,  116-57; 

En.  2881-3748.) 


Met.  XIV,  82—103  finden  also  überhaupt  keine  entsprechung:  82-84  (grab 
des  Anchises)  -  En.  2529-2652;  Met.  XIV,  85-103  (Stationen  bis  Italien)  fehlen 
auch  der  Eneit.  Erst  als  Aneas  auf  Macareus,  den  zurückgebliebenen  gefährten  des 
Odysseus,  trifft,  geht  Albrecht  wieder  in  wirkliche  erzählung  über.  Hier  waren 
dessen  berichte  über  Polyphem,  Äolus  und  besonders  Circe  einzuflechten  (bis  Met. 
XIV,  440).  Ausgelassen  ist  nur  iumittels  v.  233-46;  es  ist  die  Lästrygonen- 
geschichte.  Warum?  AVeil  von  den  Irrfahrten  des  Odysseus  Herbort  zu  sagen 
hatte  (vgl.  V.  17  571ft'.)?  Aber  warum  spricht  dann  Albrecht  doch  von  Äolus  und, 
wenn  auch  abküi'zend,  von  Circe  und  Polyphem,  die  in  denselben  kreis  gehören? 
Von  Äolus,  weil  Herbort  von  ihm  nichts  erzählt  (er  nennt  v.  17  622  nur  den  namen : 
In  des  kvniges  Eolis  lant  Eine  frotve  ich  da  vant  Cyrce  geheizzen!)  ■  von  Circe, 
weil  Herbort  sie  mit  den  Lotophagen  und  Calypso  verwechselt,  so  dass  Albrecht 
ganz  andere  dinge  zu  berichten  hatte!  Ohnedies  war  ja  mit  Circe  und  Polyphem 
noch  verschiedenes  so  verknüpft  (Galathoa,  Acis,  Glaucus,  Picus  etc.),  dass  sie  nicht 
ausgelassen  werden  konnten.  tJbrigens  sind  die  bezichuugen  zwischen  Polyphem 
und  Odysseus  von  Ovid  überhaupt  nicht  erzählt,  sondern  nur  XIII,  772  ff.  geweis- 
sagt, XIV,  180  aber  als  bekannt  vorausgesetzt:  und  da  schiebt  Albrecht  die  oben 
angeführten  erklärenden  verse  ein. 

Aeneas  kommt  nach  Italien,  der  krieg  mit  Turnus  beginnt  und  wird,  schon 
von  Ovid  im  hinblick  auf  Vergil,  mit  wenigen  Worten  übergangen.   Es  folgen  (Met. 


458  ÜAESECKE 

XIV,  454  ff.)  die  vervvaudlimgeii  des  Acirion  und  Apulus.  Albrecht  übergeht  sie, 
denn  es  ist  nichts  anderes  als  der  vdoTog  des  Diomedes,  dem  jene  Verwandlungen 
in  wenigen  versen  angegliedert  sind.  Herbort  erzählt  von  Diomedes'  heinikehr  be- 
sonders T.  17234  ff.,  sehr  verwirrt  (s.  d.  anm.)  und  von  Ovid  abweichend. 

Auch  die  nächste  Verwandlung  übergeht  Albrecht.  Als  Turnus  die  schiffe 
des  Äneas  in  brand  stecken  will,  werden  sie  in  meernymphen  verwandelt  (XIV, 
527—65).  Aber  das  gehörte  ja  wieder  zur  Äneis  (Vergil  Aeu.  IX,  1—122),  und 
Veldeke  erzählte  v.  6469,  wie  Turnus  in  der  tat  die  schiffe  verbrannte.  Er  hätte 
sich  also  in  Widerspruch  zu  Veldeke  gesetzt.  Und  ebenfalls  zu  den  taten  des 
Äneas  gehört  die  Zerstörung  von  Ardea,  der  fall  des  Turnus  (Met.  XIV,  527-80). 
Erst  da  knüpft  Albrecht  wieder  an :  XFV,  545 : 

Sohaldt  er  Tu7-num  übcncandt, 
Der  krieg  sich  enden  t/iet  zuhandt. 

Und  die  apotheose  des  Aneas,  die  bei  Veldeke  fehlt,  hat  Albrecht  vollständig: 
W.  XIV,  650—86.  Also:  Albrecht  erzählt  von  Äneas  und  seinen  taten  nichts 
Ovidisches,  was  Veldeke  schon  hat  (Didos  tod,  Sibylle,  Krieg  mit  Turnus)  oder  was 
Veldeke  anders,  vollständiger  hat  (szene  am  grabe  des  Anchises,  Städtegründung 
auf  Sizilien,  Verwandlung  der  schiffe,  höllenfahrt) ;  er  erzählt  aber  alles  Ovidische 
über  Äneas,  was  Veldeke  nicht  hat  (Anius,  die  Verwandlungen  der  Scylla  und 
Circe,  Polyphem,  die  apotheose,  die  ja  als  ein  besonders  wertvoller  zusatz  erscheinen 
musste).  Eine  ausnähme  von  diesen  sätzen  machen  nur  die  beiden  aufzählungen 
der  fahrtstationen  bis  und  von  Sizilien;  sie  mussten  nach  Albrechts  ganz  natürlicher 
technik  schon  als  leere  namenreihen  fallen  (vgl.  Eunge,  s.  51ff. ;  Bolte  s.  XII  ff.), 
damit  dann  auch  eine  kleine  Verwandlungsgeschichte,  wie  die  an  den  namen  der 
Pithecusen  angeknüpfte  (Met.  XIV,  91-100). 

Nun  mag  man  ja  zur  not  für  zufall  erklären,  dass  Albrecht  auslässt,  was 
Veldeke  erzählt  —  höchst  unwahrscheinlich  wäre  es  sicherlich  — ;  aber  dass  er  auch 
da  lückeu  lässt  und  sogar  andeutet,  wo  Veldeke  anders,  umständlicher  erzählt,  das 
deutet  doch  auf  eine  gemeinsame  beziehung,  imd  die  sehe  ich  in  des  Landgrafen 
Herman  auftrag,  zu  der  Äneis  (und  dem  Trojanischen  kriege)  die  metamorphosen 
zu  fügen,  als  eine  art  zubehör,  und  darum  rücksicht  auf  das  schon  vorhandene  zu 
nehmen.  Denn  sonst  würde  doch  Albrecht  das  von  der  Eneit  abweichende  —  er 
kannte  sie  ja  —  nicht  unterdrückt,  sondern  vielmehr  als  eigenes,  besseres,  direkt 
aus  der  antike  geschöpftes  besser  wissend  und  vielleicht  triumphierend  entgegen- 
gestellt haben. 

Und  nun  gelten  dieselben  sätze  auch  für  Albrechts  Verhältnis  zu  Herborts 
Nosten:  er  erzählt  von  Scylla  und  Circe,  von  Äolus  und  Polyphem,  was  bei  Her- 
bort fehlt;  er  schweigt  über  die  heimkehr  des  Diomedes,  die  Herbort  anders  dar- 
stellt, und  übergeht  die  Lästrygonen,  von  denen  Herbort  spricht. 

Nur  zwei  leuchtende  ausnahmen :  von  Polyphem  und  Scylla  erzählt  er  etwas, 
das  auch  Herbort  erzählt,  und  da  weicht  er  von  Ovid  ab :  es  sind  die  oben  s.  455  f.  an- 
geführten parallelen,  d.  h.  wir  finden  jetzt  durch  die  ratio  in  Albrechts  auslassungen 
bestätigt,  dass  sie  wirklich  entlehnungen  bedeuten,  dass  Albrecht  im  14.  buch  Her- 
borts Nosten  kannte. 

Wenn  sich  aber  Albrecht  mit  seinen  auslassungen  zu  Herbort  ebenso  verhält 
wie  zu  Veldeke,   so  weist  das  abermals  auf  die  gemeinsame  beziehung  ihrer  werke 


ÜBER  run(;e,  albkecht  von  haleerstadt  459 

zu  laiKlgraf  Herman  und  jenem  auftrag.  Ich  versuche  aher  noch  eine  art  gegenprobe 
an  buch  XV  und  XIII. 

Gegen  schluss  seiner  arbeit  ermattet  Albrecht.  Auf  die  apotheose  des  Äneas 
folgt  die  liste  seiner  nachfolger.  Veldeke  nennt  nur  Silvius,  Silvius  Eneas,  Romulus 
und  Remus,  Julius  Cäsar  und  Augustus;  Alhrecht  gibt  die  vollständige  (und  ab- 
weichende) reihe  des  Ovid,  in  der  er  natüi'lich  nicht  nach  belieben  auslassen  konnte. 
Aber  er  lässt  jetzt  lücken,  sobald  Ovid  Äneas  oder  trojanisches  nennt: 

Met.  XV,  420  beginnt  Ovid  sozusagen  mit  dem  Schlüsse :  sie  omnia  verti  cer- 
nimiis,  atque  illas  adsumere  robora  genfes,  concidere  has,  und  er  exemplifiziert  auf 
Troja:  ein  signal  für  Albrecht,  das  folgende  (v.  428— 78)  zu  überspringen,  trotzdem 
es  auch  die  alte  Prophezeiung  auf  Roms  zukünftige  grosse  enthält.  Dasselbe  gilt 
für  759—78:  Venus  erinnert  die  götter  an  ihre  leiden  im  trojanischen  kriege,  an 
die  fahi-ten  und  kämpfe  des  Äneas,  um  für  Cäsars  apotheose  Stimmung  zu  machen ; 
damit  fällt  auch  der  bericht  von  den  Vorzeichen,  die  auf  Cäsars  tod  deuten  (779—800). 
Der  mord  selbst  (800—802)  ist  wiedergegeben,  als  aber  dann  sogleich  von  Äneades, 
Paris,  Atridae,  Diomedes,  Äneas  die  rede  ist,  dispensiert  sich  Albrecht  bis  v.  828 
und  kommt  gleich  auf  Augustus  zu  sprechen:  er  ist  grösser  als  Cäsar.  Wenn  es 
dann  aber  heisst  Met.  XV,  855: 

sie  magni  cedit  titulis  Agamemnonis  Atreus, 
Aegea  sie  Theseus,  sie  Pelea  vincit  Achilles 
und  V.  861 

Aeneae  eomites 

(die  Albrecht  wohl  nicht  als  Penaten  verstand)  feierlich  angerufen  werden,  so  bricht 
der  müde  Übersetzer  vor  den  namen  Agamemnon,  Achilles,  Äneas  zum  letzten  male 
und  ganz  ab  und  schreitet  zu  seinem  christlichen  Schlüsse:  das  trojanische  brauchte 
er  nicht. 

Soviel  über  die  Xosten  uud  den  schluss.  Dehnen  wir  nun  die  betrachtung 
auch  über  das  XII.  und  XIII.  buch  der  Metamorphosen  aus,  die  von  XII,  575  an 
nur  trojanisches  enthalten,  so  zeigt  sich  ein  ganz  anderes  bild.  Nichts  von  jener 
rücksichtnahme  auf  den  anders  erzählenden  genossen :  Ovid  lässt  Achill  im  kämpfe 
durch  den  fersenschuss  des  Paris  fallen ;  bei  Herbort,  nach  der  mittelalterlichen 
Überlieferung,  hinterlistiges  niedermetzeln  in  einem  tempel;  dort  streit  um  Achills 
Waffen,  hier  ums  palladium;  Selbstmord  des  Ajax  gegen  ermorduug  durch  Odysseus; 
Verwandlung  gegen  Steinigung  Hekubas ;  Opferung  Polyxenas  auf  der  heimfahrt 
gegen  ermordung  durch  des  Pyrrhus  band  an  Achills  grabe. 

Auslassungen:  XIII,  58— 62,  verrat  des  Odysseus  anPalamedes:  nach  Herbort 
fiel  er  in  offener  schlacht  durch  Paris  (v.  117541).  Aber  Wickrams  randglosse  zu 
der  unmittelbar  vorausgehenden  geschichte  des  Yhi\ okt et '■Plamedes  bleibt  dohin- 
den  von  wegen  zufclligcr  hranekheif  zeigt  in  dem  uanienversehen  P(a)lamedes  (für 
Philoktet),  dass  dessen  geschichte  von  Albrecht  miterzählt  war. 

Ferner:  XIII,  230— 37:  Odysseus  hält  die  Griechen  in  der  fluchtauf;  271—74 
Patroklus  in  Achills  waffen  vertreibt  die  Trojaner  von  den  schiffen;  296—305  Odys- 
seus zögert,  am  kriege  teilzunehmen ;  310—19,  328—36  Philoktet :  all  das  fehlt  bei 
Herbort  auch,  fehlt  also  hier  nicht  aus  rücksicht  auf  ihn.  Audi  570—622,  Jlcmnous 
(tod  und)  Verwandlung,  dürfen  wir  hier  mit  nennen,  denn  Herbort  erzählt  nur  von 
seinem  kämpf  und  tod.  Nur  zwei  lücken  könnten  aus  einer  rücksicht  auf  Herbort 
erklärt  werden:   XIII,  80—90:   Zweikampf  zwischen  Hektor  uud  Ajax  nach  Homer. 


460  BAESECKE  ÜBER  RUNGE,  ALBRECHT  VüX  HALBERSTADT 

Herbort  lässt  ihu  vielmehr  frennclschaftlich  ausgehen,  5913  ff.  XIII,  204—209:  erst 
im  10.  jähre  offener  kämpf  mit  den  Trojanern ;  bei  Herbort  offener  kämpf  seit  der 
ausscliiffuug-. 

Aber  haben  diese  beiden  auslassungeu  gegen  die  übrigen  vielen  gewicht,  die 
nicht  Herborts  wegen  geschehen  sein  können^?  Und  gegen  die  fülle  der  bei- 
behaltenen Parallelerzählungen  ? 

Ich  würde  es  bei  der  zweiten  vielleiclit  glauben,  wenn  sich  nicht  Albrecht 
(Wickram??)  durch  einen  zusatz  ausdrücklich  anders  als  Herbort  erklärte. 
Hinter  v.  337  (—  rapui  Phrygiae  siffnum  penetrale  Minervae  [palladium]  Iwstihus 
e  mediis)  fügt  er  7  verse  erläuterung  ein,  darunter  v.  449  Dasselbig  hildt  ich 
(Odysseus)  in  verstal.  Damit  vergleiche  man  Herborts  v.  15  606  ff. :  die  Trojaner 
liefern  es  vielmehr  aus,  und  die  erzählung  davon  wird  von  langer  band  vorbereitet. 

Und  dazu  passt,  dass  Albrecht  gerade  bis  ins  13.  buch  eine  grosse  Unkenntnis 
der  trojanischen  dinge  beweist:  W.  VIH,  696  f.  stirbt  Nestor  vor  Troja  (gegen 
Ovid),  W.  XII,  58  ist  Iphigenie  'Menelai  dess  konig s  hindV,  W.  XIII,  492  und  861 
sind  Menelaus  und  Agamemnon  verwechselt.  Für  das  XV.  buch  verzeichnet  E.  nur 
(s.  89)  noch  hasta  minoris  Atridae  >  Agamemnons  spieß  (W.  XV,  142) :  es  ist  der- 
selbe Irrtum  wie  der  vorige. 

Ich  denke,  das  alles  stimmt  gut  zu  den  beobachtungen  am  14.  buche,  und  ich 
kann  nun  die  ergebnisse  für  die  relative  Chronologie  der  beiden  dichter  so  zusammen- 
fassen. Albrecht  beginnt  (im  jähre  1190)  seine  Übersetzung  ohne  prolog.  Er  ist 
mindestens  ins  7.  buch  gelangt,  als  Herbort,  nach  vorausgehendem  prologe,  an  der 
trojanischen  Vorgeschichte  schreibt  (vgl.  Zfda.  50,  376  f.).  Im  13.  buche  nimmt  er 
noch  keine  rücksicht  auf  Herbort  (wird  also  auch  in  W.  XTIT,  311  nicht  von  ihm 
entlehnt  haben) ;  im  14.  kennt,  berücksichtigt  und  benutzt  er  wahrscheinlich  seine 
Nosten;  zwischen  buch  18  und  14  also  spätestens  hatte  Herbort  den  genossen  über- 
holt. Den  zuletzt  verfassten  prolog  schreibt  Albrecht  nach  muster  des  Herbortsclien 
(Zfda.  50,  371  f.). 

Über  Herborts  verhalten  zu  Albrecht  ist  damit  genug  gesagt.  Es  fehlt,  um 
den  ring  zu  schliessen,  nur  noch  eins :  das  Verhältnis  von  Herbort  zu  Veldeke.  Aber 
da  brauchen  wir  nicht  zu  beweisen;  er  sagt  (v.  17  379)  mit  deutlichen  werten,  dass 
er  gebundene  marschroute  hatte;    er  überschlägt,   was  Veldeke  zu  erzählen  hatte-: 

Eneas  vur  danocJi  sider 

Manige  tac  vur  sich. 

Vö  veldiche  meisier  heinn'ch 

Hat  an  sime  buche  gelart 

Von  eneas  varf, 

Wa  er  vn  die  sine  hin  harte: 

Sie  blihe  sv  Jjamparte.  — 

Ich  brauche  nicht  hinzu  fügen,  dass  ich  das  vorige  für  eine  stütze  meiner 
Chronologie  halte:  im  jähre  1210  hatte  die  Eneit  schon  über  20  jähre  dagelegen 
und  war  in  ihrer  techiiik  ganz  veraltet;  da  hätte  man  —  auch  wenn  sich  das  inter- 

1)  407—21 ,  brand  und  greuel  von  Troja,  sind  offenbar  wegen  der  Eneit 
gestrichen. 

2)  Vielleicht  würde  man  es  auch  ohnedies  aus  einigen  änderuugen  und  aus- 
lassungen  vor  der  eigentlichen  fahrt  des  Äneas  schliessen;  ve'l.  Fischer  a.  a.  o. 
s.  61  ff. 


HAC4EN   ÜBER   GOLTHEK,    GRALSSAUE  461 

esse  an  dem  antiken  Stoffe  zufällig'  neu  belebte  —  kaum  zwei  neue  werke  mit  ihr 
verknüpfen,  kaum  eine  Stilverwandtschaft,  wie  sie  den  übrigen  werken  der  höfischen 
epik  gegenüber  unleugbar  vorhanden  ist\  erreichen  können,  am  wenigsten  aber 
diesen  stil  und  diese  technik  so  als  etwas  neues,  schweres  hinstellen  können,  wie  es 
Albrecht  und  Herbort  in  ihren  prologen  tun. 

Ich  kehre  zu  Runges  arbeit  zurück.  Von  den  aus  Hartmans  dichtungeu  bei- 
gebrachten parallelen  kommen  zwei  in  betracht: 

Gregor  3841  f.:  Wickiam  X,  867  f.  (zusatz  zu  Ovid): 

sin  mmter,  sin  base,  sin  ivip        Und  icaren  dannoeht  nur  zwen  leib, 
diu  driu  heten  einen  Up.  Doch  ratter,  tochter,  man  und  iceib. 

Aber  es  ist  ja  offenbar  nicht  der  Wortlaut,  sondern  das  gleich  rätselmässige 
des  ausdrucks  ähnlicher  Verhältnisse,  was  die  parallele  so  frappant  macht;  und 
dafür  gibt  Bolte  s.  XX  f.  beispiele ;  vgl.  auch  MSD.  Vn,  5  und  6  und  Kögel,  Lit.- 
gesch.  I-,  s.  165  f. 

Iwein  626-28:  Albrecht  I  60  (zusatz  zu  Ovid): 
Der  morgensterne  inöhte  sin  so  der  tage  Sterne, 

flicht  schoener,  swemier  üfgdt  Swenner  luter  ufyat 

und  in  des  luftes  triiebe  lat  vnd  in  diu  trübe  verlat. 

Fast  wörtliche  Übereinstimmung!  Also  Albrecht  hat  Hartmans  glatte  verse 
höchst  kunstvoll  archaisiert?  Hat  eigens  für  morgensterne  das  ältlichere  tage- 
sterne  eingesetzt,  hat  die  grössere  poetische  fülle  des  luftes  aufgegeben,  um  den 
alten  Veldekischen  stil  zu  erzielen?  Das  ist  die  folge  der  falschen  Chronologie? 
Jeder  unbefangene  muss  das  umgekehrte  herauslesen. 

Indessen  ist  mit  diesen  wenigen  parallelen  das  Verhältnis  zwischen  Hartman 
und  Albrecht-Herbort  nicht  abzutun. 

1)  Auch  Schröder  gibt  den  archaischen  Charakter  von  Herborts  stil  zu  (vgL 
Zfda.  50,  377,  anm.  2). 

CHAKLÜTTEXBURG.  GEORG  BAESECKE. 


W.  (Tolther,  Die  Gralssage  bei  Wolfram  von  Eschenbac  h.  Rede  zur  feier 
des  28.  februar  1910.  Rostock,  1910.  24  s. 
Wie  Baist  als  Freiburger  prorektor  im  vergangenen  jähr  über  Parzival  und 
den  GraP,  so  hat  Golther  als  rektor  der  Rostocker  Universität  über  die  Gralssage 
bei  Wolfram  von  Eschenbach  gesprochen.  Er  geht  aus  von  Chrestien.  Der  französische 
dichter  meint  mit  seinem  Gral  eine  edelsteinverzierte  goldene  schüssel,  in  der  eine 
ungeweihte  oblate'  liegt.  Die  christlich-mystische  gestaltung  der  sage,  die  bei  Chrestien 
nicht  vorhanden  ist,  erscheint  bei  Robert  von  Borou.  AVolfram,  der  das  wort  Gral 
nicht  verstand,  sah  darin  einen  edelstein  und  schuf  selbständig,  vielleicht  mit  arabischem 

1)  Freiburger  prorektoratsreden  von  1909,  S.  27—44. 

2)  Auch   nach   Baist  s.  41   ist   die   hostie  'einfach  jenes  nachtischgebäck,  das 
man  in  Deutschland  und  Frankreich  auch  oblate  nennt'. 


462  Kori' 

eiiisclilag,  die  sage  vom  paradiesesstein.  Die  einsiedlerszeue  des  iieuuteu  biichs,  in 
der  Wolfram  das  Gralgeheimnis  erklärt,  'ist  der  ausgangspunkt  für  alle  erweiterungen 
und  Zusätze  Wolframs ;  von  hier  aus  entwarf  er  seinen  plan ;  hier  laufen  alle  fäden 
nach  vorwärts  und  rückwärts  zusammen'  (s.  24).  An  einen  mittelsmann  zwischen 
Chrestien  und  Wolfram  glaubt  also  Golther  im  gegensatz  zu  seiner  früheren  ansieht 
jetzt  nicht  mehr :  Wolfram  hat  Guiot  von  Provins  nur  vorgescliohen.  Überein- 
stimmungen zwischen  der  wälschen  prosa  und  dem  deutschen  gedieht  erweisen  im 
Parzival  ebenso  wie  im  Eree  nur  Chrestienhandschriften,  in  denen  ein  oder  zwei 
reimpaare  mehr  standen  als  in  den  bisher  bekannten.  Wolfram  hat  manche  kuude 
vom  Orient  gehabt  und  den  lateinischen  brief  des  priesterkönigs  Johannes  gekannt 
und  benutzt.  Er  hat  auch  die  Steiermark  gut  gekannt  und  nicht  das  englische 
königshaus  der  Anjous  \  sondern  die  österreichischeu  Anschower  (Anschau  in  der 
pfarre  Traunstein)  in  seinem  gedieht  gefeiert. 

Man  wird  Golthers  schrift,  auch  wenn  man  wie  referent  zu  anderen  ansichteu 
gelangt  ist,  mit  Interesse  lesen  und  wohl  annehmen  dürfen,  dass  der  Verfasser 
seine  Stellung  zu  den  einzelnen  problemen  noch  eingehend,  was  die  form  der  rede 
nicht  erlaubte,  begründen  wird,  wenn  auch  vielleicht  erst  nach  erscheinen  der  kri- 
tischen ausgäbe  von  Chrestiens  Perceval,  an  die  er  weitgehende  hoffnungen  knüpft. 
Ob  aber  schon  die  für  die  entwicklungsgeschichte  der  sage  zuerst  aufzuwerfende 
frage  nach  der  bedeutuug  des  Grals  bei  Chrestien  sicher  zu  beantworten  sein  wird 
auf  grund  der  neuen  ausgäbe?  Man  wird  sie  abwarten  müssen,  umzusehen,  ob  der 
französische  dichter,  dem  graf  Philipp  von  Flandern  ein  buch  über  den  Gral  ge- 
geben hat,  mit  seinem  bostiengral  wirklich  nichts  anderes  gemeint  haben  kann  als 
irgendeine  prunkschüssel  mit  gebäck,  und  wie  es  mit  den  Worten  tant  sainte  cose 
est  li  graaus  bei  ihm  steht. 

1)  In  einer  Verherrlichung  der  englischen  könige  sieht  Baist,  der  gleichfalls 
nur  Chrestien  als  Wolframs  quelle  anerkennt,  den  einzigen  einwand,  der  gegenwärtig 
noch  gegen  diese  ansieht  angeführt  werde,  aber  auch  hinfällig  sei.  'Wolfram  hat 
Anjou  gewählt,  weil  es  an  der  peripherie  seiner  geographischen  kenntnisse  in  einer 
für  das  wunderbare  geeigneten  entfernuug  lag'  (s.  39). 

LtJBEC'K.  PAUL   HA(tEX. 


über  die  Haager  liederhands  chrif  t  nr.  721.  Von  Anton  Kalla.  (Prager 
deutsche  Studien.  H.  14.  Herausg.  von  C.  v.  Kraus.)  Prag,  C.  Bellmann  1909. 
IX,  141  s.     4  m. 

Die  frage  nach  Ursprung,  entstehung  und  geschichte  des  niederländischen 
beschäftigt,  seit  wir  uns  einer  germanischen  Sprachwissenschaft  erfreuen,  ausser  den 
zunächst  beteiligten  heimischen  auch  die  deutschen  gelehrten  und  forscher  auf  das 
lebhafteste.  Wenn  das  niederländische  durch  die  besondere  läge  des  gebietes,  in 
welchem,  und  durch  die  eigenartige  geschichte  der  stamme,  von  welchen  es  ge- 
sprochen wird,  auch  als  eine  selbständige  Schriftsprache  sich  festgesetzt  und  be- 
hauptet hat,  so  gehört  es  doch  seiner  ganzen  beschaffenheit  nach  zu  den  nieder- 
deutschen mundarten,   wie   seine   heimischen  grammatiker   es   noch  bis  weit  in  das 


ÜBER   KALLA,   HAA<4EK   LIEDERHAXDSCHRIFT  463 

19.  Jahrhundert  hineiu  meist  'nederduitsch'  benannt  haben  und  erst  neuerdings  die 
beueunung  'uederlandsch'  allgemein  üblich  geworden  ist.  Ausser  dieser  mittel- 
stellung  zwischen  mundart  und  Schriftsprache  macht  sich  der  fast  gänzliche  mangel 
altniederländischer  Sprachdenkmäler  bei  der  wissenschaftlichen  und  historisch- 
kritischen behandlung  des  niederländischen  beständig  fühlbar  und  verursacht  be- 
sondere Schwierigkeiten  bei  der  beurteilung  der  sprachlichen  erscheinungen.  Das 
durcheinanderwirken  der  verschiedenen  landschaften,  von  denen  im  anfang  der  ent- 
wicklung  das  mit  französischen  gebieten  verknüpfte,  mit  starkem  französischen 
einschlag  versetzte  Flandern,  danach  das  mehr  deutschverwandte  Brabant,  schliess- 
lich das  von  welscher  beimischuug  freie  Holland  übergewiclit  und  Vorherrschaft 
gewann,  während  Limburg  und  Geldern  weniger  hervortraten,  auch  von  der  gesamt- 
masse  des  Deutschen  reichs  weniger  deutlich  abstachen  —  die  nebeneinflüsse  der 
benachbarten  deutschen  mundarten,  des  friesischen,  des  niedersächsischen  und  am 
stärksten  des  niederfränkischen,  wozu  mau  das  niederländische  geradezu  rechnet: 
alle  diese  mannigfachen  Verzweigungen,  Verästelungen  und  verknotungeu,  deren 
Vorstufen  fehlen  oder  in  dunkel  gehüllt  sind,  im  einzelnen  festzustellen,  ist  wegen 
des  auf  engem  räum  zusammengedrängten  bunten  durcheinanders  ungemein  schwierig; 
Wachstum  und  entwicklung  des  wunderbaren,  reizvollen  gebildes  hat  man  vor  äugen, 
aber  die  wurzeln  bleiben  verborgen  und  entziehen  sich  allem  nachspüren. 

Abgesehen  von  tierfabel  und  lehrgedicht,  regte  sich  im  niederländischen  wie 
sonst  im  niederdeutschen  gebiete  spät  erst  und  spärlich  die  heimische  dichturig. 
Heinrich  v.  Veldeke,  der  sogenannte  Stammvater  der  höfischen  poesie,  obschon  er 
aus  dem  limburgischen  stammt  und  einflüsse  seiner  heimatlichen  mundart,  zumal  in 
seinen  liedern  unverkennbar  sind ',  noch  nicht  einmal  er  lässt  sich  ohne  weiteres 
in  die  geschichte  der  niederländischen  dichtung  als  begründer  heimischer  sanges- 
kunst  einreihen,  sondern  wird  stets  vor  allem  für  die  geschichte  der  gemeindeutscheu 
dichtung  in  anspruch  genommen;  er  hatte,  wie  keine  Vorgänger,  so  keine  uachfolger 
auf  niederländischem  boden.  Um  die  zeit,  als  im  andern  Deutschland  der  höfische 
minuesang  bereits  in  voller  blute  stand,  zeigen  die  Niederlande  kaum  noch  ausätze 
dazu;  die  höheren  stände,  hier  wie  sonst  als  träger  des  verfeinerten  geisteslebens, 
der  höfischen  zucht  und  sitte  zugleich  alleinige  Vertreter  der  diclitkunst,  standen 
damals  in  den  Niederlanden  gänzlich  unter  französischem  einfluss  und  bedienten 
sich,  wenn  sie  dichteten,  der  als  vornehmer  geltenden  spräche,  wie  stets  in  der 
lyrik,  oder  übersetzten  und  richteten  sich  nach  französischen  mustern  und  vorlagen, 
wie  meist  bei  didaktischen  oder  epischen  Stoffen.  Zumal  in  Flandern  war  fran- 
zösische bildung  unerlässlich,  und  wenn  manche  hochdeutschen  dichter,  wie  z.  b. 
Neidhart  v.  Eeueuthal,  'vlämische  hövescheit'  rülimen  und  alles  flämische  ganz 
im  widerspiel  zu  der  späteren  und  noch  jetzt  üblichen  bedeutung  dieses  wertes  als 
höflich,  artig,  fein  und  geschmackvoll  gilt,   so   wird  leider  damit  mehr  die  welsche 


1)  So  vorsichtig  muss  man  sich  über  diesen  punkt  äussern.  Zwar  schien 
C.  v.  Kraus,  der  herausgeber  der  Prager  Studien,  Avorin  jetzt,  wohl  von  ihm  an- 
geregt, Kalla's  arbeit  erscliienen  ist,  in  seiner  schritt  'Heinrich  v.  V.  u.  die  mlid. 
dichtung'  (1899)  über  die  Stellung  des  dichters  in  sprachlicher  hinsiclit  abschliessend  und 
erschöpfend  gehandelt  zu  haben;  aber  in  einem  kürzlicli  (anfang  1910)  erschienenen 
umfangreichen  buche  'Sanct  Servatius  oder  Wie  das  erste  reis  in  deutscher  zunge 
geimpiet  wurde'  versucht  F.  Wilhelm  die  von  Kraus  aufgestellten  Sätze  zu  er- 
schüttern und  abzutuu,  was  freilich  so  leicht  nicht  möglich  sein  dürfte. 


464  Koi'P 

tünche   der   oberen   schichten   als   das   innere   wesen  jenes  kernhafteu  Stammes  ge- 
meint sein. 

In  das  ganze  niederländische  gebiet  klangen  vor  dem  ende  des  13.  Jahr- 
hunderts immer  nur  vereinzelte  töne  vom  sonstigen  Deutschland  hinüber.  Die 
heimische  dichtung,  vor  allem  die  lyrische,  die  den  tiefsten  herzensdrang  voraus- 
setzt, in  der  sich  das  innerste  wesen  des  volkes  oder  Stammes  hervorkehrt,  fand 
einen  boden,  in  dem  sie  wurzel  fassen  konnte,  erst,  als  Holland  an  das  bayrische 
fürstenhaus  kam  (1345).  Indem  nun  das  oberdeutsche  gefolge  den  minnesang  mit- 
brachte, nachahmung  und  Wetteifer  weckte  und  sich  mit  den  einheimischen  zum 
besseren  gegenseitigen  Verständnis  auszugleichen  strebte,  bildete  sich  für  die  dich- 
tung eine  aus  deutschen  und  holländischen  bestandteileu  gemischte,  beiden  gruppen 
verständliche  Sprechweise,  wofür  die  von  Kalla  in  vorliegendem  hefte  sorgfältig 
untersuchte  handschrift  wahrscheinlich  den  frühesten  beleg  liefert. 

Zuerst  hat  wieder,  wie  bei  so  vielen  fundgruben  deutscher  und  niederländischer 
dichtung,  Hoffmann  v.  Fallersleben  auf  diese  hs.  aufmerksam  gemacht.  Sodann 
ist  sie  mehrfach  benutzt,  aber  nur  selten  etwas  genauer  durchforscht  worden,  wie 
besonders  von  Zacher  1841  in  der  Zfda.  und  von  Johanna  Aleida  Nijlaud  in 
ihrer  dissertation  vom  jähre  1896.  Da  diese  dissertation  die  kenntnis  der  hs. 
kaum  wesentlich  gefördert  hat,  und  Zacher  vom  mittelniederländischen  nach  dem 
damaligen  stände  der  Wissenschaft  nur  mangelhafte  Vorstellungen  haben  konnte,  so 
will  K.  nun  mit  den  inzwischen  stark  vermehrten  hilfsmitteln  sprachlicher  forschung 
die  verschiedenen  mundartlichen  bestandteile  der  in  der  hs.  enthaltenen  lieder  sondern 
und  solchermassen  die  sprachlichen  zustände  dieser  für  die  bildung  des  nieder- 
ländischen höchst  bedeutsamen  zeit  klarlegen. 

Unzweifelhaft  hat  er  damit  einen  guten  anfang  gemacht  und  einen  grossen 
schritt  vorwärts  getan,  obschon  es  auf  diesem  unsicheren  gründe  schwer  wird,  festen 
fuss  zu  fassen.  So  dürftige  quellen,  wie  die  s.  15/16  nachgewiesenen  drei  'sonstigen 
liederhandschriften  des  14.  und  15.  Jahrhunderts',  reichen  keineswegs  hin  für  diese 
schwierigen,  lediglich  durch  ein  massenhaftes  material  genugsam  zu  stützenden 
Untersuchungen.  Auch  liefern  solche  von  liebhabern  nach  eigener  wähl  und  willkür 
veranstalteten  handschriftlichen  Sammlungen  an  sich  schon  meist  nur  ein  trügerisches, 
leicht  irreführendes  material,  da  durch  das  niederschreiben  aus  dem  gedächtnis 
oder  nach  unzuverlässigen  vorlagen  die  sprachlichen  grundzüge  verwischt  zu  werden 
und  ganz  unberechenbare  persönliche  launen  und  Sonderbarkeiten  laienhafter  Schreiber 
und  pfuscher  dabei  mitzuspielen  pflegen.  Franck  hat  sicher  nicht  falsch  gehandelt, 
wenn  er  sich  in  seiner  Mittelniederländischen  grammatik  nur  auf  sorgfältig  verfasste 
texte  stützen  wollte,  und  er  mag  wohlweislich  bei  der  auswahl  von  lesestückeu 
diese  hs.,  weil  sie  ihm  keine  genügend  sichere  grundlage  zu  bieten  schien,  beiseite 
gelassen  haben,  wodurch  freilich  seine  sprachproben  eine  so  bezeichnende,  wichtige 
gattung,  wie  die  weltliche  lyrik,  ganz  ausfallen  lassen  und  geringere  mannigfaltig- 
keit  zeigen,  als  möglich  wäre.  Von  Francks  ausgezeichnetem  werk  liegt  übrigens 
nunmehr  (anfang  1910)  die  zweite  aufläge  vor,  während  K.  nur  die  bereits  vor 
26  Jahren  erschienene  erste  benutzen  konnte. 

K.  nimmt  an  (s.  18),  'dass  mit  dem  Übergänge  Hollands  an  Philipp  von 
Burgund  (1433)  der  hochdeutsche  einfluss  vollkommen  paralysiert  wurde'.  Demnach 
würde  die  von  ihm  vorausgesetzte  mischsprache  mit  ihrer  annäherung  an  das  hoch- 
deutsche, wie  räumlich  auf  Holland,  so  zeitlich  auf  das  nicht  ganz  vollständige 
Jahrhundert  von  1345  bis  1433  abzugrenzen  sein.    Aber  der   deutsche   einfluss,   der 


ÜKEH    KALLA,    HAAGEK   LIEDEKHANDSCHKIFT  465 

nicht  anders  als  vornehmlich  ein  hochdeutscher  sein  konnte,  beschränkt  sich  weder 
anf  ein  so  kleines  gebiet  nocii  auf  einen  so  geringen  Zeitraum.  Flandern  und  Brabant 
waren  freilich  schon  früher  als  Holland  an  das  verwelschte  Burguud  gefallen ;  auch 
die  habsburgische  herrschaft,  unter  welche  die  Niederlande,  Holland  also  nach  einer 
nur  kurzen  burguudischen  periode,  kamen  und  womit  schliesslich  auch  das  von 
dem  benachbarten  Kleve  beanspruchte,  doch  wider  Karl  V.  nicht  lange  behauptete 
Geldern  vereinigt  wurde,  diese  spanisch-österreichische  herrschaft  war  gleichfalls 
wenig  danach  angetan,  deutschen  einfluss  geltend  zu  machen.  Aber  abgesehen  von 
allen  dynastischen  und  politischen  Verhältnissen,  hat  in  handel  und  wandel  ununter- 
brochen ein  reger  austausch  und  eine  starke  Wechselwirkung  zwischen  Deutschem 
reich  und  Niederlanden  geherrscht.  Im  westen  den  Rhein  entlang  reichten  die 
handelsbeziehungeu  der  Niederlande  bis  nach  Oberdeutschland  zur  see,  mit  wie  trotz 
der  deutschen  hausa  weit  in  die  Nord-  und  Ostsee  hinein,  und  ein  mächtiger  ström 
von  Holländern  ergoss  sich  über  die  meisten  gegenden  des  nördlichen  Deutschlands 
bis  an  die  grenzen  Böhmens  und  nach  dem  fernsten  osten  au  den  baltischen  gestadeu 
and  brachte  dorthin  die  kenntnis  ihrer  überlegenen  Viehzucht  und  milchwirtschaft, 
ihres  hoch  entwickelten  ackerbaus  und  gewerbefleisses  —  an  den  kiüturfortschritten 
Deutschlands  sind  die  Niederländer  in  einem  weit  über  ihres  kleinen  bereichs  Ver- 
hältnis zum  ganzen  hinausgehenden  mass  beteiligt. 

Der  austausch  geistiger  erzeugnisse  zugunsten  des  hochdeutschen  muss  nach 
dem  von  K.  bezeichneten  Zeitraum  auch  eher  zu-  denn  abgenommen  haben.  Je  mehr 
die  hochdeutsche  Schriftsprache  sich  regelte  und  befestigte,  desto  grösseren  einfluss 
übte  sie  naturgemäss  auf  die  niederdeutschen  gebiete.  Während  bei  schneller  zu- 
nähme des  buchdrucks  und  wachsender  Verbreitung  der  gemeiusprache  das  nieder- 
sächsische vom  amtlichen,  öffentlichen,  geschäftlichen  verkehr  allmählich  mehr  und 
mehr  zurückgedrängt  und  ausgeschlossen  wurde  und  sich  nur  im  lokalen  und  häuslich 
familiären  gebrauch  zu  behaupten  vermochte,  ergab  sich  für  die  niederländischen 
mundarten  eine  gemeinsame,  stets  fester  werdende  grundlage,  so  dass  im  16.  Jahr- 
hundert die  Niederlande,  während  ihrer  harten  freiheitskämpfe  mit  den  Spaniern 
auf  sich  allein  gestellt,  von  den  andern  niederdeutschen  dialekten  und  somit  von 
dem  deutschen  hauptstamme  sprachlich,  wie  politisch  von  dem  verrotteten  heiligen 
römischen  reich  deutscher  nation  sich  vollends  lostrennen  und  für  immer  abzweigen 
konnten.  Für  den  starken,  herrlichen  eichbaum  des  niederdeutschen  sprachstammes 
fand  sich  nirgends  platz  im  kunstgärtnerisch  eingehegten,  beengten  park  Deutsch- 
lands, aber  im  weiten,  freien  gefilde  daneben,  unter  der  obhut  eines  gediegenen, 
zähen,  hochgemuten  volkstumes  schlug  er  wurzel  und  gedieh  zu  stattlicher  grosse  — 
sogar  über  das  meer  hin  nach  andern  Weltteilen  wurden  lebensfähige  schösslinge 
von  ihm  verpflanzt.  So  verdanken  wir  Germanen  und  insbesondere  wir  Deutscheu 
den  stammverwandten  Niederlanden  die  bildiuig  einer  besonderen,  vollgiltigen  nieder- 
deutschen Schriftsprache,  die,  wenn  auch  weniger  ausgedehnt,  qualitativ  an  adel, 
Schönheit,  prägnng  und  gehalt  der  gemeindeutschen  Schwester  durchaus  ebenbürtig 
zur  Seite  steht. 

K.  hat  sich  behutsam,  aber  wohl  ein  wenig  zu  starr  und  ängstlich  an  die 
von  ihm  zu  behandelnde  hs.  gehalten,  und  einer  auseinandersetzung  mit  allgemeineren 
gosichtspunkten,  wie  sie  in  vorstehenden  zeilen  angedeutet  worden  sind,  M'eiter 
greifenden  ausführungen,  die  ja  nichts  neues  an  tatsächliciiem  bieten  können,  aber 
doch  die  Stellung  des  einzelnen  gebildes  innerhalb  des  ganzen  veranschaulichen, 
in   seiner   arbeit  keinen   räum   gegeben.     Wenn  beim   gänzlichen  ausfall  weltlicher 

ZEITSCHRIFT   F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE,     BD.  XLH.  31 


466  KOIT   ÜBEl!    KALLA,    HAACJEIJ    I.IEDEUHANDSOHKIFT 

lyrik  aus  früherer  zeit  zur  anknüpfung  an  die  vergaiiirenheit  keine  möa'lichkeit 
vorlag-,  so  konnte  durch  ausbiick  in  die  zukunft  um  so  mehr  der  gesichtskreis  mit 
reicliem  gewinn  erweitert  werden.  Die  folgezeit  bietet  eine  fülle  von  sprachlich 
wie  dichterisch  interessantem  material. 

Aus  dem  16.  Jahrhundert  sind  mehrere  liedersammlungeu  erhalten,  die  das 
Verhältnis  niederländischer  und  gemeindeutscher  dichtung  und  spräche  zu  beleuchten 
geeignet  sind.  Das  Antwerpener  liederbuch  vom  jähre  1544  gibt  einerseits,  indem 
es  eine  menge  von  ursprünglich  deutschen,  und  zwar  grösstenteils  hochdeutschen 
liedern  aufzuweisen  hat,  noch  deutlich  künde  vom  Zusammenhang  der  beiden  gruppen, 
besonders  auf  dem  gebiet  des  volksgesanges ;  nichtsdestoweniger  tritt  andererseits 
darin  schon  eine  recht  gleichmässige,  von  den  beiden  deutschen  hauptstäramen,  dem 
niederdeutschen  und  noch  mehr  natürlich  dem  hochdeutschen,  abweichende  ge- 
staltung  der  spräche  deutlich  zutage,  namentlich  zeigt  sich  der  Wortschatz  über- 
wuchert von  welschen,  anscheinend  ganz  mundgerecht  gewordenen  und  vollständig 
eingebürgerten  Schmarotzern,  die  zumal  in  der  lyrik  höchst  befremdlich  anmuten. 
Mehrere  liederhandschriften  aus  dem  16.  Jahrhundert,  wie  die  vom  jähre  1537  aus 
Zutphen  (Hoffmann  v.  F.,  Weim.  Jahrbuch  1,  1864),  die  sogenannte  uiederrheinische 
vom  jähre  1574  oder  eine  zweite  (gleich  der  vorigen)  der  K.  bibliothek  zu  Berlin 
vom  jähre  1568,  zeigen  jene  seltsame,  für  die  landschaften  um  den  Xiederrhein  mit 
weiterem  umkreise  so  bezeichnende  mischung  niederländischer,  niederdeutscher  und 
hochdeutscher  bestandteile,  nur  mit  stärkerer  neiguug  nach  der  gemeindeutschen 
Schriftsprache  hin,  ein  gemengsei,  wodurch  sich  mehr  die  Verwirrung,  Unsicherheit 
und  nachlässigkeit  der  Schreiber  gegenüber  den  schwankenden  erscheinungen  verrät, 
als  dass  bündige  Schlüsse  daraus  gezogen  werden  könnten  auf  die  sprachlichen 
zustände  der  in  betracht  kommenden  gegeuden  und  zeiten. 

Im  anfang  des  17.  Jahrhunderts  druckte  Paul  v.  d.  Aelst  zu  Deventer  hoch- 
deutsche bücher,  darunter  auch  die  bekannte  liedersammlung  'Blumm  und  Aussbuud' 
vom  Jahre  1602.  Geldern  und  Limburg  bildeten  dauernd  ülier  die  landesgrenzen 
hinweg  in  sprachlicher  hinsieht  ein  vermittelndes  bindeglied  zwischen  den  benach- 
barten deutschen  muudarten  und  den  streng  niederländischen.  Der  steigende 
Widerwille  gegen  alles  welsche  wesen  hatte  die  gründliche  reinigung  des  nieder- 
. ländischen  und  seine  engere  anlehnung  an  die  gemeindeutsche  Schriftsprache  zur 
folge,  so  dass  die  beiden  sprachen  einander  je  später,  je  näher  verwandt  erscheinen, 
auffallend  raehi-  als  im  mittelalter. 

Einen  kräftigen  und  jedesfalls  den  ersten  wirklich  bemerkbaren  anstoss  nach 
dieser  dem  Deutschtum  günstigen  richtung  gab  die  zeitweilige  Verbindung  Hollands 
mit  dem  bayrischen  fürstenhaus  in  der  zeit  von  1346  bis  1433.  Aus  dieser  zeit, 
und  zwar  aus  dem  ersten  viertel  des  16.  Jahrhunderts,  rührt  auch  die  von  Kalla 
behandelte  hs.  her,  deren  zum  teil  in  holländischer,  zum  teil  in  deutscher,  grössten- 
teils aber  in  einer  aus  holländischen  und  deutschen  bestandteilen  gemischten  spräche 
verfasste  lieder  in  vorliegendem  hefte  gründlich  untersucht  sind. 

Dem  nutzen,  den  die  durchforschung  der  frühesten  derartigen  hs.  gewährt, 
hat  K.  leider  dadurch  abbruch  getan,  dass  er  nicht  endlich  einmal  die  viel  berufene 
hs.  vollständig  herausgegeben  oder  nicht  mindestens  davon  eine  genaue  Inhalts- 
übersicht geboten  hat.  Er  schliesst  sowohl  alle  bestimmten  dichtem,  wie  "Walter 
V.  d.  Vogelweide,  Fraueulob,  Noydekin  usw.  eignenden  als  auch  alle  schon  früher  ab- 
gedruckten lieder  ganz  aus.  Nun  wird  man  beständig  irre  bei  den  springenden 
zahlen  1,  2,  5,  7,  9,  10,  13  (usw.);   man   empfindet   verdi-uss,   wenn   eine   nuraraer, 


I 


DIKTRICH    ÜBER   DAUR,    DAS   ALTE   DEUTSCHE   VOLKSLIED  467 

auf  die  K.  sich  bezieht,  iu  seiner  aufzähluug  nicht  zu  finden  ist ;  man  sieht  sich 
stets  wieder  genötigt,  auf  Zacher  zurückzugehen,  dessen  veraltete  abhandlung  durch 
vorliegende  schrift  doch  entbehrlich  werden  sollte.  K.  selbst  scheint  sich  bisweilen 
bei  diesem  hin  und  her  in  der  hs.  nicht  mehr  sicher  zurechtgefunden  zu  haben. 
Sogleich  auf  s.  1  heisst  es  im  text  über  Lejeune,  er  habe  nr.  46  und  48  der  hs. 
veröffentlicht,  in  der  anmerkung  dazu  sind  es  aber  die  nummern  46  und  108;  s.  30 
werden  nr.  46  und  48  ohne  weitere  bemerkung  aufgeführt;  s.  42  ist  zu  nr.  108  an- 
gemerkt :  'abgedruckt  iu  D.  W.  [d.  i.  Dietsche  warande]  8,  83'.  Folgerichtigerweise 
hätten  diese  drei  nummern  eigentlich  von  der  aufzähluug  ausgeschlossen  sein  müssen 
als  bereits  gedruckte.  —  Die  nummern  1  und  84  hat  K.  blindlings  nach  den  angaben 
Zachers  zusammengeschweisst,  weil  beiden  eine  längere  reihe  von  strophen  gemeinsam 
ist.  Nach  s.  5  anm.  bricht  der  abschreiber  von  nr.  84  bei  'zuld  ich  arbeyt  da  van 
dulden'  plötzlich  ab ;  s.  68  v.  563  'solt  ich  arbeit  von  iu  dulden'  ist  von  str.  71  die  dritte 
zeile,  fälschlich  also  steht  im  kritischen  apparat  zu  v.  560  =  str.  70  letzte  zeile: 
's-  bricht  hier  ab'.  Weshalb  in  dem  doppelgedicht  eigentlich  die  52  strophen,  die 
nr.  84  für  sich  besonders  hat,  vorausgestellt,  sodann  die  19,  die  nr.  1  und  84  ge- 
meinsam haben,  zum  schluss  noch  str.  32 — 41  von  nr.  1  als  str.  72 — 81  des  ganzen 
und  hinterdrein  gerade  die  12  ersten  strophen  von  nr.  1  als  besondere  nr.  la  ge- 
boten werden,  ist  gar  nicht  abzusehen.  Ein  überzeugeuder  oder  gar  zwingender 
grund  zu  dieser  massregel  Zachers  ist  weder  von  ihm  noch  von  K.  angegeben  und 
liegt  wohl  auch  nicht  vor.  Es  dürfte  weit  besser  und  anschaulicher  gewesen  sein, 
nr.  1  und  ebenso  nr.  84  nach  dem  bestände  der  hs.  einfach  an  ihren  stellen  jede 
für  sich  besonders  abzudrucken  und  höchstens  die  gemeinsamen  strophen  aus  der 
ohnehin  unvollständigen,  mitten  iu  Strophe  71  plötzlich  abbrechenden  nr.  84  iu 
gestalt  von  Varianten  bei  den  entsprechenden  strophen  von  nr.  1  zu  geben.  Auf 
ein  ästhetisches  gemessen  ist  bei  solchen  faden  reimereien  doch  nicht  zu  rechnen, 
wie  ja  der  herausgeber  die  ganze  hs.  auch  nicht  in  solchem  sinn,  sondern  fast  aus- 
schliesslich für  sprachliche  zwecke  bearbeitet  und  hauptsächlich  die  genauere  fest- 
stelluug  und  sonderuug  der  verschiedenen  mundartlichen  bestandteile,  sowie  die 
darauf  gegründete  richtige  Verteilung  der  einzelnen  lieder  auf  das  holländische, 
deutsche  und  jene  von  ihm  nebst  andern  angenommene  holländisch-deutsche  misch- 
sprache  sich  zur  aufgäbe  gemacht  hat. 

Schmerzlich  vermisst  man  ein  Wortregister,  doppelt  schmerzlicli  bei  dieser 
arbeit,  deren  Schwergewicht  und  hauptwert  eben  auf  sprachlichem  goliiete  liegt; 
freilich  dieser  mangel  ist  wieder  lediglich  eine  folge  davon,  dass  der  Inhalt  der  hs. 
nicht  wenigstens  in  seinen  für  diesen  zweck  wesentlichen  teilen  vollständig  wieder- 
gegeben ist.  So  würde  trotz  der  vielen  bände,  die  sich  schon  früher  damit  be- 
schäftigt haben,  trotz  des  von  Kalla  darau  gewandten  fleisses,  trotz  der  anerkennens- 
werten leistung,  die  sich  in  seinem  vorliegenden  buche  darstellt,  immer  noch  ein 
abschliessendes  werk  über  die  hs.  fehlen  und  erst  von  der  zukunft  zu  erwarten  sein. 

.■\L\RBURG   A.    L.  A.    KOI'l". 


Albwt  Daur,    Das   alte   deutsche   Volkslied   nacli    seinen   festen   aus- 

d  r  u  c  k  s  f  0  r  m  e  n  b  e  t  r  a  c  h  t  e  t.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer  1909.  YIII,  200  s.  6  m. 

Der  Verfasser  des  vorliegenden  buches,  das  aus  einer  Heidelberger  dissertation 

hervorgegangen  ist,  schickt  der  eigentlichen  darstellung  eine  einleituug  voraus.   Im 

^inschluss  an  Bücher  konstatiert  er   die  Wichtigkeit  der  formel  bei  eutstehung  und 

31* 


468  DIETRICH 

ontwickolung  der  vollispoesie.  Die  formel  (d.  h.  typischer,  festgeprägter  ausdruck) 
dient  ihm  dazu,  den  Zusammenhang  des  Volksliedes  mit  epik  und  minnesaug  zu 
beweisen.  Nachdem  der  Verfasser  dann  festgestellt  hat,  dass  er  unter  dem  alten 
deutschen  Volkslied  die  gesamte  liederdichtung  des  15.  und  besonders  des  16.  Jahr- 
hunderts verstanden  wissen  will,  erörtert  er  die  bedeutung  der  formel  in  den  ver- 
schiedenen epochen  des  Volksliedes.  In  der  frühzeit  und  decadence  ist  ihm  die  formel 
organisches  moraent  zum  liedbilden,  in  der  Irühzeit  infolge  mangels  an  eigenen 
Worten,  in  der  decadence  infolge  mangels  an  eigener  empfindung.  Durch  das  zu- 
sammenstellen der  formein  entstehen  ganze  Volkslieder ;  dadurch,  dass  diese  formein. 
wechseln,  erklärt  sich  die  tatsache  des  'zersingens'  der  Volkslieder.  In  der  blütezeit 
dagegen  ist  die  formel  Stilerscheinung,  da  sie  zwar  nicht  unbedingt  zur  liedbildung 
erforderlich  ist,  aber  durch  schmiegsame  Wendungen  doch  der  poetischen  Wirkung 
zu  dienen  vermag  sowohl  bei  den  erzählenden  wie  bei  den  betrachtenden  liedern. 
In  einem  ersten  hauptteil,  in  dem  die  formelhaften  verse  und  Wendungen  als  lied- 
bildender ausdrucksschatz  in  einer  beispielsammlung  dargestellt  werden,  trifft  der 
Verfasser  die  Unterscheidung  zwischen  lyrischen  und  epischen  formein.  Episch  sind 
dem  Verfasser  Wendungen,  die  sich  an  irgendein  ding,  eine  begebenheit,  örtlichkeit 
heften.  Unter  lyrischen  Wendungen  versteht  er  die  sprachlichen  ausdrucksmittel  für 
all  das,  was  sich  im  menschen  ohne  die  möglichkeit  äusserer  anschauung  vollzieht, 
WO  also  der  dichter  den  ausdruck  seiner  Stimmung  sucht  und  ohne  anlehnung  an 
ein  äusseres  sein  giebt.  Der  Verfasser  hält  eine  derartige  Unterscheidung  mit  riick- 
sicht  auf  die  gliedeniug  des  Stoffes  für  gerechtfertigt,  kommt  aber  mit  der  getroffenen. 
Unterscheidung  nicht  aus,  sondern  muss  in  einem  dritten  abschnitte  die  übrig- 
bleibenden formein  behandeln. 

Beispiele  für  die  epischen  Wendungen  hat  der  Verfasser  aus  den  lieder- 
büchern  sorgfältig  zusammengetragen  uud  in  gruppen  vereinigt.  An  einzelnen 
stellen  wäre  eine  grössere  Vollständigkeit  zu  erlangen  gewesen.  So  werden  z.  b.  bei 
der  Schilderung  der  geliebten  nur  die  körperlichen  Vorzüge  berücksichtigt;  die  übrigen 
eigenschaftcn  der  geliebten  dagegen,  seien  es  Vorzüge,  seien  es  fehler,  werden  un- 
berücksichtigt gelassen.  Diese  Wendungen  zeigen  aber  ebenfalls  einen  formelhaften 
Charakter.  Vergl: 

ir  iveyUich  zucht  (art,  ehr).     Ab.  45,  2,  A.  191,  3,  Ab.  14,  2,  A.  43,  2. 

het  ich  dein  untrew  lengst  erkant.     S.  30,  5,  A.  74,  5. 

ir  untrew  ist  mir  ivol  bekant.     Ab.  35,  30,  vergl.  Ab.  30,  2. 

dein  untrew  duck.     S.  8,  1. 

dein  falsche  dlick.     A.  258,  3. 

dein  glitt  mich  des  betzivungen  hat.     Ab.  8,  2. 

dein  zucht  und  ehr  bezwingt  mich  sehr.     S.  13,  2. 

sie  ist  aller  tagend  voll. 

sie  ist  mild  und  erenreich.     B.  6.  4. 

ihr  hertz  ist  aller  untreic  voll.     B.  35,  3. 

mit  Spot  ist  sy  mnbgeben  gantz.     Ab.  50,  1. 

Die  ausdrücke,  die  das  traummotiv  erzeugt  (s,  53),  mussten  nach  der  einmal 
getroffenen  Unterscheidung  unter  den  1  y  r  i  s  c  h  e  n  Wendungen  aufgeführt  werden. 
Zweckmässig  konnten  damit  zusammen  auch  die  formein  anderer  feststehender  motive 
behandelt  werden,  z.  b.  bestimmte  ausdrücke  für  das  motiv  des  verschliessens  der  ge- 
liebten person  im  herzen  wie  in  einem  schreine  und  für  das  motiv  des  verwundeten 


ÜBER   DAUR,    DA«   ALTE    DEITSCHE    VOLK.SLIElJ  469 

herzeiis.  Dafür,  dass  die  hier  gebrauchten  ausdrücke  auch  einen  formelhaften  Charakter 
zeigen,  nur  ein  heispiel: 

mein  lurtz  ist  verwundet  {hetrüht,  entzündt,  verseret).  VS.  8,  1,  VG.  158, 1, 
A.  80, 1,  A.  27,  4,  Ab.  22,  2,  B.  31,  4,  S.  28,  2. 

Für  die  lyrischen  formein  hat  der  Verfasser  eine  reiche  beispielsammlung  aus 
den  liederbücheru  zusammengestellt;  nur  an  wenigen  stellen  lässt  sich  diese  Sammlung 
ergänzen.  Neben  Gott  und  Christ  wird  auch  das  gluck  in  formelhaften  Wendungen 
um  hilfe  angerufen : 

liilf,  gelück,  dat<  ich  im  widerste.     Ab.  7,  1. 

ßcht  gluck  mit  deiner  seiden  stang.     Ab.  44,  18. 

gdi'ick,  nun  füg,  das  m  ergee.     Ab.  88,  2. 
Mehr  noch,  als  die  Warnungen  vor  falschen  zvmgeu,  mussten  die  Warnungen  vor  den 
falschen  klaffern  in  ihrem  formelhaften  Charakter  hervorgehoben  werden: 

glaub  du  den  kleffe?-n  nit.     A.  81,  6,  S.  27,  8. 

die  kleffer  saltu  meiden.     B.  9, 4. 

tut  die  kläffers  meiden,     VG.  11,  4. 

las  alle  falschen  kleffer  schwetzen.  A.  211,  1. 
Da  der  Verfasser  in  den  beiden  gruppen  von  epischen  und  lyrischen  formein  nicht 
alle  formelhaften  Wendungen  behandeln  konnte,  so  stellte  er  in  einer  dritten  gruppe 
die  übrigbleibenden  formelu  zusammen  (füllsei  und  einschiebsei,  eingeschobene  sätze 
und  Paarungen  sinnverwandter  Wörter).  In  dem  zweiten  hauptteile  werden  die 
formein  nach  ihren  erscheinungen  im  liede  dargestellt,  u.  zw.  werden  zuerst  beispiele 
für  formelhafte  liedeingänge  gegeben.  Bei  dieser  beispielsammlung  ist  nicht  der 
wortgleiche  ausdruck  der  massgebende  gesichtspunkt,  sondern  das  Schema  der  formel, 
ihre  syntaktisch-gedankliche  seite.  Die  beispiele  für  solche  formelhaften  liedeingänge 
schliessen  sich  vielfach  an  die  in  Goedekes  Grundr.  11-,  §§  109,  110  gegebene  material- 
saramlung  an.  Die  beispiele  lassen  auf  das  deutlichste  erkennen,  dass  die  liedeingänge 
in  besonderem  masse  formelhafte  Wendungen  zeigen.  Hier  gibt  der  Verfasser  manche 
fruchtbare  ani-egung.  Mit  recht  weist  er  z.  b.  darauf  hin,  mit  wie  grosser  vorsieht 
<lie  eingangsverse  zu  behandeln  seien,  da  sie  einen  bestimmten  typus  zeigen  und 
infolgedessen  oft  derselbe  eingangsvers  bei  den  verschiedensten  liedern  wiederkehrt. 

In  dem  folgenden  abschnitte  behandelt  der  Verfasser  die  gerippf  ormel  n, 
worunter  er  formein  versteht,  die  bei  gleichbleibendem  gefüge  im  Wortlaut  derart 
veränderlich  sind,  dass  sie  in  allen  fällen  ihrer  anwendung  einen  gleichmässig  festen 
und  einen  nach  Zusammensetzung  und  gebrauchsweise  veränderlichen  teil  haben, 
aus  diesen  gerippformeln  entwickeln  sich  die  typischen  str  opheneingäu  ge. 
Die  beispielsammlung  für  diesen  abschnitt  ist  äusserst  reichhaltig  und  zeigt,  von 
wie  grosser  bedeutung  solche  formein  für  die  komposition  des  liedes  sind.  Auch  die 
Schlussstrophen  gestalten  sich  in  den  meisten  fällen  formoliiaft.  Der  schluss  einer 
Strophe  ist  oft  bedingt  durch  den  reim  und  zeigt  meist  formein,  die  auf  den 
dichter  des  liedes  bezug  nehmen.  Infolge  des  zersingens  sind  jedoch  in  den  ver- 
schiedenen fassungen  eines  liedes  die  angaben  über  persönlichkeit  und  stand  des 
<lichtors  sehr  verschieden,  so  dass  man  aus  diesen  angaben  den  wirklichen  dichter 
oft  nicht  mehr  erkennen  kann. 

Auch  gruppen  von  zwei  versen,  die  durch  reim  gebunden  sind,  er- 
scheinen als  formein.  An  band  einer  reichen  beispielsammlung  zeigt  der  Verfasser, 
dass  die  reime  vielfach  zu  formein  geworden  sind,  die  auf  kosten  des  vorstellungs- 
gehaltes  unveränderlich  sind. 


470  HAIFFEX 

T>ei  den  Strophenübergängen  behandelt  der  Verfasser  die  lieblingsstrophen 
und  lieblingsmo  t  i  ve  des  Volksliedes,  die  als  konstante  verse  in  verschiedeneu 
liedern  vorkommen. 

Alsdann  auf  die  kurz  und  sprunghaft  vorwärtsschreitende  art  des  Volksliedes 
eingehend,  sucht  er  zu  beweisen,  dass  dies  dadurch  bedingt  sei,  dass  das  Volkslied 
von  anbeginn  mit  einem  festen  bestand  von  formein  wirtschaftete;  jene  darstelluugs- 
weise  ])abe  sich  rein  bedürfnismässig  entwickelt.  Damit  dürfte  er  aber  doch  wohl  die 
bedeutung  der  formel  überschätzt  haben. 

Im  letzten  hauptteil  beschäftigt  sich  Verfasser  mit  der  bedeutung  der  formel 
für  die  liedkomp  osition.  Sie  kann  sich  derart  verändern,  dass  liedteile  (und  auch 
ganze  lieder)  mit  einem  andern  liede  verschlungen,  dass  lieder  'zersungen'  werden. 
Dieses  zersingen  sucht  der  Verfasser  nicht  allein  durch  entlehnung  zu  erklären^ 
sondern  auf  gruud  des  formelreichtums  füge  sich  das  einzellied  dem  grösseren  vor- 
stellungszusammeuhang  der  volksgesänge.  Wenn  dies  der  fall  ist,  lässt  sich  die 
ähnlichkeit  und  Übereinstimmung  ganzer  liedteile  leicht  erklären.  Den  beweis  hierfür 
erbringt  der  Verfasser  durch  eine  genaue  Untersuchung  der  lieder,  die  einander 
ähnlich  sind  und  teilweise  oder  ganz  übereinstimmten.  Überschätzt  Daur  mitunter 
auch   die  bedeutung   der  formel,  so   ist   sein   buch    doch  mit  freuden  zu  begrüssen^ 

KIEL.  (I.    DIETRICH. 


Maximiliau  Pfeiffer,  Amadisstudieu.  Erlanger  Inauguraldissertation.  Mainz,. 
Job.  Falk  1905.     XIV,  75  s. 

Im  ersten  teil  dieser  auf  genauen  bibliographischen  und  stilistischen  Unter- 
suchungen fussenden  dissertation  wird  die  Verbreitung  der  Amadisromane  in  Spanien, 
Frankreich  und  Deutschland  dargelegt  und  hierbei  werden  die  zahlreichen  vorhan- 
denen bibliographien  berichtigt  und  so  weit  als  möglich  auf  grund  einer  umfrage  an 
alle  in  betracht  kommenden  bibliotheken  vervollständigt.  Im  zweiten  teil  wird  durch 
viele  belege  überzeugend  nachgewiesen,  dass  Fischart  das  sechste  buch  verdeutscht 
hat.  Ich  will  nun  die  summe  aus  dieser  dissertation  ziehen  und  bei  dieser  gelegen- 
heit  ergebnisse  verwerten,  die  ich  aus  der  beschäftigung  mit  diesem  Stoff  vor  jaliren 
gewonnen  habe. 

Die  personen-  und  Ortsnamen  dieses  Stoffes  weisen  nach  Wales.  Dort  muss 
der  grundstock  des  Amadis  de  Gaula  =  AVales  entstanden  sein.  Er  stand  ursprüng- 
lich wahrscheinlich  in  beziehung  mit  dem  bretonisch-nordfranzösischen  Sagenkreis 
von  Artus'  tafeirunde,  von  Tristan,  dem  Gral  und  Lanzelot.  Doch  ist  der  alte 
sagenkern  in  willkürlicher  phantasie  zu  einem  verstiegenen  idealgebilde  von  spät- 
mittelalterlichem rittertum  und  fi-auendienst  ausgestaltet  worden.  Früli  muss  der 
Stoff  in  romanische  länder  gewandert  sein,  weil  die  Charaktere  und  lebensverhältnisse 
romanische  art  bezeugen.  Die  erste  künde  von  dem  'roman'  kommt  aus  Spanien ; 
dort  erwähnen  üin  einige  dichter  bereits  in  der  mitte  des  14.  Jahrhunderts,  dort 
erhält  er  auch  erst  gegen  ende  des  15.  Jahrhunderts  seine  endgiltige,  uns  allein 
überlieferte  fassung.  Um  1470  vollendete  der  regidor  der  stadt  Medina  del  Campo, 
(Tarzi-Ordonez  de  Montalvo,  seinen  Amadisroman  in  vier  büchern.  Er  benützte  hier- 
für in  freier  weise  eine  früh  verschollene  spanische  erzählung  und  fügte  namentlich 
in  den  beiden  letzten  bänden  viel  aus  eigenem  hinzu.    Seine  vorrede  ist  datiert  vom 


ÜBER    PFEIFFER,   AMADISSTUDIEN  471 

jabr  1492.  Der  älteste  naclivveisliche,  alle  vier  bücher  iniibissende  druck  ist  1508 
erscbieuen.  Diesem  folgen  bis  1587  noch  26  ausgaben  und  ein  undatierter  druck 
des  dritten  und  vierten  bucbes.  Hier  wird  erzäblt,  wie  der  lield  Amadis  (im  roman 
als  Amadeus  erklärt),  der  aus  dem  heimlichen  liebesbunde  des  königs  Perion  von 
Wales  mit  Elisena,  der  jüngsten  tochter  des  königs  Garinter  von  Kleinbritannien, 
entsprossene  söhn,  in  einem  kästchen  einem  fluss  überlassen,  von  einem  schottischen 
ritter  gefunden  wird  und  unter  dem  namen  des  Junkers  vom  raeere,  von  der  fee 
Urganda  beschützt,  am  schottischen  hofe  aufwächst.  Als  knabe  verliebt  er  sich 
in  die  zehnjährige  Oriana,  die  tochter  des  königs  Lisuarte  von  Grossbritannien. 
Von  seinem  vater  zum  ritter  geschlagen,  zieht  er  in  ihren  dieusten  in  ferne 
läuder,  wo  er  in  zahlreichen  kämpfen  ritter,  zauberer  und  riesen  besiegt,  Ver- 
suchungen widersteht,  schwache  beschützt,  unrecht  und  gewalt  1)richt,  und  damit 
seine  ritterehre  leuchtend  bewährt.  Auf  diesen  Irrfahrten  stösst  er  auch  auf  seineu, 
den  eitern  früh  geraubten  bruder  Galaor,  ein  leichtsinniges  gegenstück  zu  dem 
treuen  Amadis.  Trotz  dieser  treue  schöpft  Oriana  verdacht  und  schreibt  ihrem 
liebsten  einen  absagebrief.  Verzweifelt  flieht  Amadis  in  die  einsamkeit,  avo  er 
waffenlos  ein  zährenreiches  dasein  führt.  Sein  ritterlicher  mut  treibt  ihn  jedoch 
wieder  in  abenteuer.  Nach  auflösung  vieler  missverständnisse  erfolgt  die  Vereinigung 
der  liebenden,  welche  aber  durch  Verleumdungen  bald  wieder  gestört  wird.  Oriana 
gebiert  einen  söhn  Esplandian.  Als  der  kaiser  von  Rom  um  sie  wirbt,  gibt  ihr 
vater  aus  politischen  erwäguugen  seine  Zustimmung.  Doch  Amadis  befreit  sie  auf 
ihrer  brautfahrt  und  bringt  sie  auf  die  beschlossene  insel.  Bei  einem  allgemeinen 
Völkerkrieg  zwischen  Christen  und  beiden  wird  Amadis  sieger  und  endlich  mit 
Oriana  vermählt. 

Die  Vorzüge  dieses  romans:  die  reiche  mannigfaltigkeit  des  unterhaltenden 
Stoffes,  die  spannenden  Schilderungen  von  abenteuern  und  Zweikämpfen,  die  bewegten 
Schlachtenbilder,  die  wirksame  darstellung  des  wunderbaren  und  zauberhaften,  die 
gut  durchgeführte  Charakteristik  der  hauptpersonen,  die  deutlich  hervortretende 
sittlich-ideale  anschauung  des  beiden,  die  klare  Widerspiegelung  des  Zeitgeistes, 
die  flüssige,  wenn  auch  in  breitem  und  manieriertem  stil  gehaltene  erzählung  waren 
die  gründe  seiner  grossen  beliebtheit  und  seiner,  erst  durch  die  gleichzeitig  auf- 
kommende buchdruckerkunst  ermöglichten  starken  Verbreitung  und  nachwirkung. 

Die  grossen  fehler  dieses  romans,  die  von  den  fortsetzungen  noch  weit  ül»er- 
trumpft  wurden,  sind  von  der  menge  der  leser  nicht  erkannt  worden :  das  langsame 
vorrücken  der  handlung,  die  sich  in  mehrere  nebeneinanderlaufende  zweige  teilt 
und  durch  das  fortwährende  auftauchen  neuer  persönlichkeiten  und  episoden.  durch 
das  auftürmen  neuer,  ganz  unbegründeter  hinderuisse,  missverständnisse  und  ranke, 
die  nur  durch  übernatürliclie  mittel  behoben  werden  können,  immer  wieder  ins 
stocken  gerät.  Ferner  die  bis  zu  ermüdender  länge  ausgemalten  beschreil)ungon, 
die  weitschweifigen,  gespreizten  reden,  die  süsslichen,  von  höflichkeit  triefenden 
liebesgespräche,  welche  zwar  das  deutliche  bestreben  nach  eleganz  und  rhetorischer 
kunstfertigkeit  zeigen,  aber  von  einem  schwall  gedrechselter  und  hochtrabender 
redensarten  überwuchert  sind.  Im  gegensatz  zu  dem  rittertum  der  alten  epen  und 
romane  aus  dem  bretonischen  und  französischen  Sagenkreise,  welches,  getragen  von 
den  lebendigen  ritterliclien  und  religiösen  idealen  des  niittelalters,  in  der  ursprüng- 
lichen rauhen,  herben  und  darum  so  wirksamen  natürlichkeit  auftritt,  erscheint  uns 
das  rittertum  im  Amadis  kiinstiich  raffiniert  und  unnatürlich  verstiegen,  zwecklos, 
ohne  belebende  grundsätze  und  ideale,  unwahr,  hohl,  totgeboren.    Weil  die  wieder- 


472  HAIFFKX 

gäbe  der  Wirklichkeit  in  den  zeiten  des  Verfalls  nicht  genügte,  versetzte  man  sich 
in  eine  erträumte  Vergangenheit.  Politische,  geschichtliche,  kulturelle  zustände 
finden  sich  hier,  die  nie  hestanden  haben  und  in  ihrer  inneren  Unwahrheit  nie  be- 
stehen konnten.  Ebenso  unnatürlich  erscheint  hier  die,  eine  triebfeder  der  handlung 
bildende  liebe,  obschon  einzelne  liebesszeueu  roh  sinnlich  ausgemalt  sind. 

Einige  bemerkenswerte  einzelheiten  aus  der  technik  und  der  auffassung  dieses 
romans  wären  noch  hervorzuheben.  Der  Verfasser  tritt  sehr  häufig  persönlich  her- 
vor. Er  spricht  die  leser  an :  ihr  mögt  selbst  sehen  ;  ihr  könnt  euch  denken,  dass  . . . 
Am  schluss  von  kapiteln,  wo  episodeu  enden,  nimmt  er  von  dem  beiden  abschied, 
überlässt  ihn  seinem  Schicksal  oder  empfiehlt  ihn  der  gnade  Gottes.  Am  aufaug 
des  nächsten  kapitels  knüpft  er  an  eine  früher  abgebrochene  episode  an:  ihr  habt 
gehört,  was  sich  mit  dem  ritter  N.  begeben  hat.  Auch  durch  hinweise  auf  spätere 
ausführungen  sucht  er  dem  leser  den  überblick  auf  die  in  mehreren  fäden,  zum  teil 
in  ganz  loser  aneinanderreihung  der  alienteuer,  nebeueinanderlaufende  handlung 
zu  erleichtern.  Spannung  wird  erzeugt  und  hingehalten  durch  rätselhafte  Inschriften 
und  geheimnisvolle  zeichen  und  Weissagungen,  die  erst  viel  später  ihre  lösuug  finden. 

Der  ganze  lebensinhalt  der  auftretenden  personen  scheint  sich  nur  um 
zwecklose  kämpfe  und  um  einen  grillenhaften  minnedienst  zu  drehen.  Den  poli- 
tischen mittelpunkt  der  Amadisromane  bilden  die  kaiser  von  Konstantinopel,  die  als 
haupt  der  Christenheit  Europa  vor  der  eroberung  durch  die  ungläubigen  zu  schützen 
haben.  Wenigstens  ein  aktuelles  motiv,  weil  eben  während  der  entstehung  und 
Verbreitung  der  Amadisromane  die  Türkeugefahr  aufs  höchste  gestiegen  ist.  Die 
gegner  der  Christen  sind  sultaue  und  kalifen  aus  dem  Orient,  also  mohammedaner, 
werden  aber  nur  als  beiden  benannt,  die  .Jupiter  als  ihren  obersten  gott  anrufen, 
während  heidnische  riesen  Mohammed  anrufen.  Im  übrigen  werden  sie  den  christ- 
lichen kämpfern  ganz  gleich  geschildert.  Sie  haben  dieselben  ritterlichen  auschau- 
ungen  und  dieselbe  ausrüstung.  nämlich  (den  bescbreilmngen  und  holzschnitten  nach 
zu  scbliessen)  die  damals  typische,  stilisierte  antike  rüstung  an.  In  den  Zwei- 
kämpfen zwischen  Christen  und  beiden  neigt  sich  gewöhnlich  zuerst  dem  tapfer 
zuschlagenden  beiden  scheinbar  der  sieg  zu,  doch  im  letzten  augenblick  wird  der 
Christ  mit  Gottes  hilfe  immer  sieger.  Ähnlich  ergebt  es  den  beiden  in  den  grossen 
entscheidungsschlachten.  In  der  Zauberei  wird  die  weisse  magie,  die  A'on  gott 
kommt  und  den  Christen  im  kämpf  gegen  die  beiden  erlaubt  ist,  geschieden  von 
der  schwarzen  magie  des  teufeis,  deren  sich  die  ungläubigen  bedienen. 

Aus  dem  stamm  der  vier  ersten  bücher  sprossen  viele  zweige,  die  später  in 
Italien  und  Franki'eich  neue  scbösslinge  trieben.  In  diesen  fortsetzungen,  die  das 
leben  der  nachkommen  durch  mehrere  geschlechter  hindurch  erzählen,  wird  die 
breite  ins  ungeheuerliche  gedehnt  und  das  unnatürliche  bis  ins  fratzenhafte  ver- 
zerrt ;  immer  wieder  werden  die  gleichen  Charaktere,  motive  und  Schilderungen  bis 
ins  einzelne  in  ähnlicher  weise  vorgeführt.  Aus  pietät  zur  familienüberlieferuug 
gebären  die  Prinzessinnen  das  erste  kind,  meist  einen  söhn,  vor  der  eheschliessung 
und  heimlich,  während  ihr  liebster  in  der  ferne  weilt;  sie  müssen  auch  das  kind  gleich 
beiseite  schaffen  und  in  der  Verborgenheit  aufziehen  lassen.  Auch  die  legitimen 
kinder  werden  oft  gleich  nach  der  geburt  von  beiden,  riesen,  wilden  tieren  geraubt 
und  erst  herangeAvachsen ,  mit  den  eitern  vereinigt.  Die  Zweikämpfe  zwischen 
Vätern  und  söhnen,  brüderu  und  freunden,  die  unerkannt  oder  aus  nichtigen  grün- 
den miteinander  ringen,  sind  auch  untereinander  im  wesentlichen  gleich.  Die 
kämpfer  bringen  sich  gegenseitig  so  schwere  wunden  bei,  dass  sie  dem  tode  geweiht 


ÜBEH    I'FEIFFEK,    AMAUISSTUDIEX  '  473 

wärt'U,  wenn  sie  nicht  durcli  zaubt'rkundige  franeu  gelieilt.  von  wölken  eingeliüUt, 
kui'z,  durch  ein  wunder  gerettet  würden.  Vier  hauptbestandteile  sind  am  stamm 
und  den  zweigen  deutlich  zu  erkennen :  ritterabenteuer,  liebeshändel,  höfische 
etiquette  und  konversation,  welche  ein  vorbild  für  das  gesellschaftliche  leben  der 
zeit  bieten  und  die  wunderweit,  die  dem  seusationsbedürfnis  der  leser  dienen  sollte. 

Montalvo  selbst  hat  das  beispiel  zu  diesen  fortsetzungen  gegeben,  indem  er. 
eine  griechische  quelle  vorschützend,  die  taten  Esplandians,  des  schwarzen  ritters, 
der  nach  siegreichen  kämpfen  kaiser  von  Konstantinopel  wird,  in  einem  fünften 
bände  schildert,  der  von  1510—1588  in  10  auflagen  veröffentlicht  wurde.  Das  von 
Paez  de  Eibeira  verfasste  sechste  buch  bringt  die  taten  des  Florisando,  des  bruder- 
sohnes  von  Amadis,  des  einzigen  beiden  der  langen  Amadisreihe,  der  nicht  in  gerader 
linie  von  dem  ahnheiTn  al)stammt.  Aus  diesem  gründe  wohl  fand  dieses  buch 
selbst  in  der  heiniat  keinen  anklang  —  es  erscliien  hier  nur  in  zwei  drucken,  1510 
und  1526  —  und  wui'de  zwar  in  Italien,  aber  nicht  in  Frankreich  und  somit  auch 
nicht  in  Deutschland  übernommen.  Das  siebente  buch  eines  unbekannten  Verfassers 
ist  den  heldentaten  Lisuarts  de  Grecia,  Esplandians  sohns  und  Perions,  des  zweiten 
sohns  von  Amadis,  gewidmet.  Es  erschien  von  1514—1587  in  73  auflagen.  Beson- 
ders gegen  das  fünfte  und  das  siebeute  buch  richten  sich  die  spöttischen  bemer- 
kuugen  von  Miguel  Cervantes  (Don  Quichote  I,  6).  Das  achte  buch,  eine  fortsetzung 
des  siebenten,  ist  nur  in  einem  drucke  (1526)  bekannt.  Feliciano  de  Silva  ist  der 
Verfasser  des  neunten  buches  von  Amadis  de  Grecia,  Lisuarts  söhne,  dem  ritter  vom 
brennenden  schwert  (1530—1596  acht  drucke),  des  zehnten  buches  (1532—1584  sechs 
drucke)  und  des  elften  buches  (in  zwei  teilen  von  1536—1568  in  sieben  drucken), 
welche  beide  die  chronik  des  Don  Florisel  de  Niquea  enthalten.  Mit  deiw  zwölften 
buche  über  die  heldentaten  des  Don  Silves  de  la  Selva  (1546—1551  di'ei  drucke) 
schliesst  die  reihe  der  spanischen  Amadisromane  ab.  Allerdings  erscheint  noch  (1687) 
eine  lose  mit  dem  Amadis  zusammenhängende  „Cronica  del  principe  de  Belianis". 
Die  neuauflagen  hören  um  1590  auf,  wo  dann  die  französischen  und  deutscheu  be- 
arbeituugen  diesen  roman  allenthalben  verbreiten.  Alte  Amadisroiuanzen  sind  wieder- 
holt im  19.  Jahrhundert  veröfl'entlicht  worden,  auch  die  romane  in  neuausgaben 
von  1838,  1848  und  1857.  (Vgl.  Amadis,  Erstes  Inich  nach  der  ältesten  deutschen 
Übersetzung.     Hg.  v.  A.  v.  Keller  in  der  bibl.  d.  lit.  Vereins  XL,  S.  440  f.) 

In  der  portugiesischen  literatur  wird  der  Amadis  auch  früh  erwähnt.  Von 
der  verloren  gegangenen  portugiesischen  fassung  vermutet  man,  dass  sie  im  auftrag 
des  Infanten  Dom  Pedro  um  1480  von  dem  notar  zu  Eivas  aus  dem  spanischen  oder 
französischen  übersetzt  worden  sei.  Doch  ist  überhaupt  die  existenz  dieser  Über- 
tragung zweifelhaft.  Einer  nicht  erweislichen  mitteilung  von  Clemenciu,  Quijote  1833, 
(1,  109)  zufolge  soll  der  Amadis  auch  ins  hcliräische  ül)ertragen  worden  sein.  Höchst 
unwahrscheinlich  ist  auch  eine  griechische  Übersetzung,  die  Feyerabend  in  der  vor- 
rede seiner  folioausgabe  des  deutschen  Amadis  (1583)  erwiilint. 

In  Italien  erschien  eine  ül)ersetzung  der  spanischen  fassung  zuerst  154H. 
also  etwas  später  als  die  ersten  sechs  bücher  in  Frankreich.  In  den  nächsten  Jahr- 
zehnten erschienen  zahlreiche  ausgaben.  Mambrino  Roseo  hat  die  drei  letzten 
spanischen  bücher  auf  mehrei-e  Ininde  erweitert  und  dci  stoff'  dann  selbständig  fort- 
geführt. -  (Es  ist  höchst  wahrscheinlich,  dass  die  französischen  bücher,  min<l('stens 
von  XVI-XXI,  Übertragungen  aus  Koseo  sind,  uiul  dass  nur  die  drei  letzten  bücher 
von  unbekannten  französisclien  autorcn  al)gef;isst  worden  sind.  Dodi  es  sind  diese 
beziehungen   noch   nicht  gründlich   erforscht   worden.     Aueli  I'feitfer   liringt   iii.lits 


474  '  UAriFEx 

darüber.  Es  wäre  oiuc  daukbare  aufgäbe,  das  Verhältnis  zwischen  den  spanischen, 
italienischen  und  französischen  fassungen  endlich  einmal  klarzulegen.  Bei  den 
deutschen  bearbeitungen  steht  es  ja  fest,  dass  sie  den  24  französischen  büchern 
stofflich  entsprechen.)  —  Noch  in  einer  zeit  lebendiger  Wirksamkeit  des  ximadis  hat 
Bernardo  Tasso,  der  vater  Torquatos,  in  seinem  Epos  Amadigi  di  Fraucia  (1560) 
den  roman  in  ungemein  breiter  uud  ungeschickter  weise  bearbeitet. 

Frankreich  wurde  'das  Sammelbecken,  aus  dem  sich  der  Amadisroman  wie 
ein  fruchtbarer  ström  in  die  kultursprachen  ergoss'.  Der  artillerieoffizier  Signeur 
Des  Essars  Nicolas  de  Herberay  hat  den  stoff  ungefähr  1520  kennen  gelernt  und 
bald  danach  die  bearbeitung  begonnen.  Der  kriegerischen  zeiten  wegen  uud  in  der 
bescheidenen  erwägung,  dass  einige  inzwischen  in  Frankreich  erschienene  Übertragungen 
anderer  dichtungen  die  Wirkung  seiner  arbeit  in  schatten  stellen  könnten,  entschloss 
er  sich,  diese  erst  drei  jahrfünfte  später  zu  vollenden  und  herauszugeben,  viel- 
leicht auf  das  drängen  seiner  freunde  hin.  Doch  die  so  oft  wiederholte  behauptuug, 
Franz  I.  habe  Herberays  Übersetzung  betrieben,  ist,  wie  Pfeiffer  (s.  12  f.)  zeigt,, 
nicht  zu  erweisen.  Im  jähre  1540/41  erscheint  das  erste  und  zweite  buch ;  rasch 
folgen  die  weiteren  sechs  biicher  bis  1548.  Herberay  wollte  durch  dieses  werk 
nicht  lob  ernten,  sondern  durch  die  widmung  an  den  zweiten  söhn  des  königs,  den 
herzog  Karl  von  Orleans,  dem  hofe  seine  ergebenheit  erweisen  und  noch  mehr,  als 
tapferer  soldat  den  kriegerischen  rühm  Frankreichs  erheben.  Durch  die  Verwechse- 
lung von  Gaule  mit  Gallien  hält  er  Amadis  für  einen  Franzosen  und  will  ihn  in 
die  heimat  zurückführen  und  seinen  zeit-  und  landesgenossen  den  verblassten  glänz 
vergangener  ritterlicher  zeiten  vor  die  äugen  zaubern.  Er  bekennt  selbst,  dass  er 
nicht  die  absieht  hatte,  der  vorläge,  wie  es  allgemein  üblich  sei,  ängstlich  zu  folgen, 
besonders  dämm,  weil  die  heimischen  sitten  der  vorläge  nicht  entsprächen.  So 
umgibt  er  den  spanischen  kern  mit  einer  französischen  schale.  Aus  den  vorreden 
und  der  art  seiner  änderungen  geht  geradezu  hervor,  dass  seine  bearbeitung  ein 
Vorbild  werden  sollte  für  das  benehmen  des  französischen  edelmannes  im  kriege  wie 
im  gesellschaftlichen  leben.  Durch  diese  vaterländische  umniodeluug  und  durch 
seinen  eleganten,  reinen  stil,  auf  den  Herberay  viel  mühe  und  Sorgfalt  verwendete, 
hat  er  diesem  schwerfälligen  roman  zu  einem  beispiellosen  erfolg  verholfen. 

Die  von  Herberay  bearbeiteten  acht  bücher  erreichen  alle  bis  1577  (das  vierte 
bis  1588)  zahlreiche,  je  20—24  auflagen;  die  späteren,  von  verschiedenen  autoren 
besorgten  bücher  weniger,  IX-XII  bis  1577  je  10-15  auflagen,  XIII-XXI  bis  1582 
je  2—10  auflagen,  XXII— XXIV  nur  im  erscheinungsjahr  1615  je  drei  drucke. 
Pfeiffer  verzeichnet  (s.  17—26)  alle  drucke  mit  der  ausgäbe  von  ort  und  jähr  und 
dem  gegenwärtigen  aufbewahrungsort.  Ferner  erschienen  noch  zwei  gesamtausgaben, 
die  erste  in  Lyon  mit  13  büchern  1577,  die  zweite  mit  allen  24  büchern  in  Lyon, 
Antwerpen  und  Paris  1577—1615,  uud  eine  Schatzkammer  von  briefen  und  reden 
aus  den  Amadisromauen,  die  als  musterbriefsteller,  komplimentierbuch  und  rheto- 
rische beispielsammlung  dienen  sollte.  (Wenn  Pfeiffer  für  die  erste  ausgäbe  1550 
den  titel  "Thresor  des  douze  livres  d'Amadis  du  Gaule'  angibt,  so  ist  das  ein 
versehen,  denn  bis  dahin  sind  nur  acht  bücher  erschienen.)  Erst  die  zweite  aus- 
gäbe (1559)  konnte  bereits  zwölf  bücher  benützen  und  auch  auf  dem  titel  augeben. 
Die  weiteren  elf  ausgaben  von  1560—1606  führen  den  titel  'Tresor  de  tous  les 
livres  .  .  .'  und  gel)en  je  nach  den  inzwischen  erschienenen  fortsetzungen  weitere 
auszüge ;  die  letzte  aufläge  ans  21  büchern  (nicht  24,  wie  Pfeiffer  irrtümlioli  sagt), 
denn  die  drei  letzten  Itände  sind  ja  erst  1615  herausgekommen.    (A.  v.  Keller  a.  a.  o. 


ÜHKll   PFEIFFER,   AMADISSTUDIEN  475 

s.  446  envälmt  noch  ein  25.  bucli  Flores  de  Grece,  das  sicli  eigentlich  dem  stoff 
nach  au  das  6.  buch  auschlicsst.  da  Flores  der  zweite  söhn  Esplandiaus  ist,  und 
ferner  uoch  eine  aus  dem  spanischen  übersetzte  Vorgeschichte  zum  Amadis  über 
dessen  vorfahren  Trebatius  und  Rosiclair  1620—1625  in  acht  bänden.)  Endlich 
erschien  ein  abschluss  der  abenteuer  von  Belianis,  Amadis  und  dem  Sonnenritter: 
Gilbert  Saulnier  'Le  romant  des  romans'  (Paris  1626—1629)  in  sieben  gewaltigen 
bänden.  Mit  dem  lieginu  des  di'eissigj ährigen  krieges  verschwindet  der  Amadis- 
vom  französischen  büchermarkt.  Umdichtungen  des  Amadis  erscheinen  viel  später 
von  fräulein  von  Lubert  1750,  vom  grafen  von  Tressan  1779  und  1796,  sowie  eine 
freie  bearheitung  der  Vorgeschichte  vom  markgrafen  von  Paulmy  1780.  (Vgl. 
A.  V.  Keller  a.  a.  o.  s.  446.)  Neu  bearbeitet  wurde  dieser  stoff  in  der  in  Paris  1813- 
erschienenen  dichtung  'Amadis  de  Gaule'  von  A.  Creuze  de  Lesser. 

Eine  holländische  Übersetzung  erschien  1596;  englische  Übersetzungen  1619,. 
und  viel  später,  1803,  von  R.  Southey,  beide  nur  die  vier  ersten  bücher  enthaltend. 
1802  veröffentlichte  W.  Stewart  Rose  seine  umdichtung  'Amadis  de  Gaul,  a  poem 
in  three  books  from  de  french  vers'^ 

Aus  Frankreich  wandert  der  ronian  zuerst  nach  Deutschland,  wo  er  im  letzten 
drittel  des  16.  Jahrhunderts  grosse  teilnähme  erweckte.  Von  1569—1595  wurden 
sämtliche  24  bücher  ins  deutsche  übertragen.  Schon  die  französische  fassung  hat 
im  Reiche  viele  liehhaber  gefunden.  Das  erweisen  die  zahlreichen  drucke  in  deutschen 
bibliotheken,  die  zum  teil  mit  eintragen  von  besitzern  aus  dem  16.  Jahrhundert  ver- 
sehen sind.  Besonders  in  die  kreise  des  adels  und  der  höfe  muss  der  Amadis  eingang 
gefunden  haben,  denn  herzog  Christoph  von  Wüi'ttemberg  hat  die  Verdeutschung 
veranlasst,  was  sich  aus  Feyerabeuds  vorrede  zum  vierten  buche  ergibt.  Knapp 
nach  seinem  tode  (28.  dez.  1568),  zur  fastenmesse  1569,  erscheint  das  erste  buch  in 
zwei  drucken,  dem  ersten  mit  der  unrichtigen  Jahreszahl  MDLXI  und  dem  zweiten 
(zuerst  von  Pfeifter  nachgewiesenen)  druck  mit  der  richtigen  Jahreszahl,  beide  bei 
Siegmuud  Feyerabend  in  Frankfurt  a.  M.  In  dem  gleichen  verlage  erschienen  von 
1569—1575  in  rascher  folge  dreizehn  bücher,  die  von  verschiedenen,  nebeneinander 
arl)eitenden  Übersetzern  besorgt  wurden.  Feyerabend  schloss  hiermit  vorläufig  seine 
reihe  ab. 


1)  Die  Wiener  hofl>il)liothek,  welche  die  umfrage  Pfeiffers  (s.  XIII)  nicht 
beantwortet  hat,  besitzt,  wie  ich  dem  Zettelkatalog  entnehme,  folgende  ausgaben : 
Spanisch:  Amadis  de  Gaula,  Los  quartos  libros  ...  luieuomente  impressos.  Lo- 
uayna,  S.  Sasseno,  1551.  —  Elf  bücher  in  sieben  bänden.    Sevilla,  F.  Diaz,  1586-96. 

—  Portixgiesisch :  Felic.  de  Silva,  Choronica  del  Amadis  de  Grocia.  Lisboa  1596.  — 
Italienisch :  Amadis  di  Gaula,  tradotto  di  lingua  Spagnola.  A^enezia,  Michele  Trame- 
zinno,  1558-65.  Bd.  1-4.  6-23.  Venezia,  Cam.  Franceschini,  1581-82.  Bd.  1.  3. 
6.  8  9.  11.  12.  14.  -  Venezia,  Tramezinno,  1561.    Bd.  16.  -  1569-1583.    Bd.  18-23. 

-  Silva,  Amadis  di  Grezia  nuovamente  tradotto.  s.  1.  1565  und  Venezia  1580.  — 
Französisch:  Amadis  de  Gaule.  Paris,  J.  Longis.  Zwölf  bücher  in  vier  bäuden. 
1548-1556.  -  Lyon,  B.  Rigaud.  Bd.  1-14.  16.  1575-78.  -  Anvers,  Cli.  Plautiii. 
Zwölf  bücher  in  drei  bänden.  1561.  Lyon,  F.  Didier.  24  bücher.  1577-1615.  - 
Tresor.  Lyon  1616.  -  Das  Britische  museuni,  dessen  Catalogue  of  printed  l)ooks  .3, 
62-72  Pfeiffer  für  die  spanischen  und  französischen  drucke  licranzieht,  weist  überdies 
einen  grossen  bestand  von  italieuischen,  portugiesischen,  deutschen,  englischrii  und 
holländischen  originaldruckeii,  fortsetzungen,  späteren  ansgal)en  und  bearlnntuiiiicu 
auf.  So  viel  ich  weiss,  sind  nur  liier  die  französische  uud  die  eiiglisclie  Ainadis- 
oper  erwähnt:  P.  Quiuault,  Tragedie  en  niusique,  Paris  1684  und  James  Heidegger, 
Amadis,  London  1715. 


470  HAUFFEN 

Die  l)eliebtheit  des  Stoffes  mochte  aher  auch  Michael  Manger  in  Augsburg 
verlockt  haben,  einzelne  teile  davon  zu  veröffentlichen,  und  zwar  1578  das  'vierte 
bucli  ander  theil',  samt  einem  besonderen  'anhang'  (der  wahrscheinlich  einem  teil 
des  5.  buches  entspricht  und  1579  noclimals  mit  der  falschen  angäbe  'das  fünff- 
zebende  buch'  erschien),  und  1579  'das  vierdtzehend  buch',  das  aber  nicht,  wie 
Pfeiffer  (s.  32  und  34)  meint,  die  Feyerabendsche  reihe  fortsetzt,  sondern,  wie  es 
schon  aus  dem  titel  und  aus  der  vorrede  Feyerabends  zu  seinem  14.  buch  hervor- 
geht, das  bringt,  was  in  dem  früheren  band  aus  dem  vierten  buche  ausgelassen 
worden  war,  nämlich  die  fährlichkeiten  von  Amadis  und  Galaor,  während  das 
14.  buch  in  Wirklichkeit  die  geschichte  von  Sylvis  vom  walde  fortführt.  Das  von 
Pfeiffer  (s,  31,  anm.  1)  erwähnte  Breslauer   exemplar   der  Ausgsburger   ausgäbe  des 

4.  buches  hat  Bobertag  (a.  a.  o.  1,  346  f.,  anm.)  genau  beschrieben.  Hieraus  ersehen 
wir,  dass  'Georgius  "Willer  von  Augspurg,  buchhäudler'  die  dedikation  an  den  pfalz- 
grafeu  Albrecht  bey  Rhein  unterzeichnet  hat.  Manger  sclieint  also  nur  den  druck 
besorgt  zu  haben.  Diese  bücher  sind  im  gegensatze  zur  Frankfurter  ausgäbe  aus 
dem  italienischen  übertragen. 

Im  jähre  1583  gab  Feyerabend  eine  zweiteilige  folioausgal)e  der  dreizehn 
liücher  ohne  die  früheren  vorreden  und  einleitungsgedichte  heraus,  die  begreif- 
licherweise keinen  solchen  absatz  fand  wie  die  handlichen  einzelausgaben  und 
auch  keine  zweite  aufläge  erlebte.  Auf  dem  titel  des  zweiten  liandes  ist  irrtümlich  das 
14.  und  15.  buch  erwähnt.  Doch  erst  1590  entschloss  sich  Feyerabend,  von  anderen 
dazu  'beredt',  diese  beiden  liücher  bei  J.  Foillet  in  Mombelgarten  (Mömpelgard, 
französisch  Montl)eliard,  damals  württem])ei'gisch)  drucken  zu  lassen.  Die  weiteren 
bücher  XVI— XXIV  wurden  auch  in  rascher  folge  von  1591—1595  von  seinen  erben 
herausgegeben.  Nachdrucke  von  bucli  I,  XIV,  XVII  und  XVm  erschienen  von 
1610-1617  liei  Gottfried  Tambach  in  Frankfurt  a.  Main. 

Auch  in  Deutschland  erscheint  eine  'Schatzkammer  schöner  zierlicher  orationen, 
sendbriefen,  gesprächen'  .  .  .  L.  Zetzner,  Strassburg  1596,  die  aber  nicht  eine  Über- 
setzung des  'Tresor'  ist,  sondern  eine  selbständige,  aus  den  24  büchern  der  deut- 
schen Übersetzung  gezogene  Sammlung,  welche  dann  noch  fünfmal  bis  1624  aufgelegt 
wurdet  (Erwähnt  sei  auch  noch  Andreas  Hartmanns  'Comedia:  Historia  von  des 
ritters  Amadisens  auß  Franckreich  .  .  .  Thaten'.    Dresden  1587.     Ferner  Christophs 

5.  Mylius  'Amadis  von  Gallien'  nach  der  französischen  fassung  von  Tressan. 
Leipzig  1782.  —  Dass  Wielands  'Neuer  Amadis'  nur  den  namen  mit  dem  älteren 
Stoff  gemein  hat,  ist  allgemein  bekannt.) 

Die  Verbreitung  des  Amadis  ist  also  in  Deutschland  nicht  so  gross  wie  in 
Frankreich,  doch  verhältnismässig  beträchtlich  genug.  Pfeiffer  (s.  28)  findet  es 
verwunderlich,  dass  'bei  den  religiösen,  politischen  und  schweren  wirtschaftlichen 
kämpfen,  .  .  .  mit  der  hochflut  von  Streitschriften  zur  lehr  und  wehr,  mit  der  Winds- 
braut von  politischen  und  religiös-satirischen  flugblättern  auch  der  dickleibige 
Amadis  einhergeweht  wird'.  Ich  meine  aber,  dass  es  eine  ganz  natüi-liche  erschei- 
nung  ist.  Gerade  durch  diesen  grellen  gegensatz  zwischen  den  damaligen  zuständen 
und  der  sie  widerspiegelnden  literatur  und  andererseits  der  erotisch-phantastischen 
idealen  scheinweit  musste  der  Amadis  den  deutschen  lesern  förmlich  zum  labetrunk 


1 )  Auf  der  Wiener  hofbibliothek  sind  vorhanden :  Amadis,  Frankfurt  a.  M. 
1569-1612  (darunter  das  6.  buch  1595,  das  14.  und  15.  bucli  1610,  das  16.  und 
17.  buch  1591),  die  zweibändige  folioausgabe  1583  und  die  Schatzkammer  1612. 


ÜBER   PFEIFFEK,   AMADISSTUDIEN  4/7 

werden.  Freilicli  einen  so  tiefgehenden  einfluss  auf  die  kultur  der  höheren  schichten 
wie  in  Frankreich,  konnte  dieser  roman  in  Deutschland  nicht  nehmen.  Schon  darum 
nicht,  weil  hier  die  Übersetzer  nicht  in  der  läge  waren,  dieses  durchaus  romanische 
werk  einzudeutschen,  es  so  wie  Herberay  der  heimischen  um  weit  gemäss  umzuge- 
stalten. Durch  den  dreissigj ährigen  krieg  wurden  hüben  wie  drüben  der  reiclis- 
grenze  alle  spuren  des  Amadis  verwischt '. 


Die  Verdeutschungen  der  Amadisromane  sind  von  verschiedenen  Verfassern 
besorgt  worden.  Ausser  den  bänden  1,  8—10  und  19  sind  die  Übersetzer  mit  je 
vier  grossen  buchstaben  bezeichnet,  die  als  anfangsbuchstaben  der  namen  anzusehen 
und  l)isher  noch  nicht  gedeutet  worden  sind,  weil  es  sich  wahrscheinlich  um  lite- 
rariscli  unbekannte  autoren  handelt,  die  je  einen  oder  mehr  bände  —  die  meisten 
(fünf)  ein  J.  E.  V.  S.  —  aus  vergnügen  oder  des  broterwerbs  wegen  übersetzt  haben. 
Nur  bei  dem  sechsten  buch  verhält  es  sich  anders.  Hier  heisst  es  im  titel  aus- 
drücklich :  'auß  Frantzösischer  sprach  newlich  in  Teutsche  durch  J.  F.  M.  G.  gebracht* 
und  unter  der  Überschrift  des  einleitenden  gedichts  J.  F.  G.  M.  Das  sind  also  die 
l)ekaunten,  so  oft  verwendeten  initialen  für  Johann  Fischart  genannt  Mentzer. 
Daraus  geht  klar  hervor,  dass  Fischart  das  6.  buch  verdeutscht  hat.  Eigentlich 
müsste  die  gegenteilige  meinung  erwiesen  werden.  Trotzdem  waren  die  ansichten 
darüber  verschieden.  Goedeke  (Grundriss  ^  2,  74)  weist  nur  das  einleitende  gedieht 
(neu  gedruckt  bei  Kurz  3,  24—32)  Fischarten  zu.  Gervinus,  Geschichte  der  deutschen 
dichtuug^  3,  499,  A.  v.  Keller  (a.  a.  o.  448),  Bobertag  (Geschichte  des  romans  1, 
360)  und  Besson  (Etüde  sur  Fischart,  166)  lassen  die  frage  offen.  Scherer  (Anfänge 
des  deutschen  prosaromans,  Qu.  u.  F.  21,  62)  sagt  mit  recht,  die  autorschaft  müsse 
'durch  philologische  Untersuchung  doch  zu  ermitteln  sein'.  Baesecke  (Glückliaft 
schiff,  neudrucke  nr.  182,  Xf.  anmerkung;  von  mir  besprochen  in  dieser  Zeit- 
schrift 35,  555—57)  nimmt  einen  ansatz  dazu,  doch  erst  Pfeiffer  hat  durch  eine 
genaue  stilistische  Untersuchung  die  Verfasserschaft  Fischarts  erwiesen. 

Diese  Untersuchung  ist  übersichtlich  augeordnet  und  bringt  für  viele  Fi- 
scharten besonders  eigentümliche  Stilerscheinungen  eine  fülle  von  gut  ausgewählten 
belegen. 

Den  anfänger  in  der  kunst  des  übersetzeus  merkt  mau  deutlich  an  den  vielen 
flüchtigen,  ungenauen  oder  ganz  unrichtigen  oder  sinnlosen  üliersetzungen;  so  gibt 
er  'tard'  mit  'ermüdet'  (322),  'demoysel'  (afr.  junker)  oft  sinnstürend  mit  'Jungfrau' 
wieder,  weil  er  es  für  'demoyselle'  liest.  [Ein  beispiel  für  wiederholt  vorkommende 
missdeutungen  französischer  redensarten  möclite  ich  hier  noch  hinzufügen:   'j'avois 

1)  In  dem  artikel  'Amadisromane'  der  letzten  (sechsten)  aufläge  von  Jleyers 
grossem  konversatiouslexikon  1,  405  (1902)  finden  sich  die  unrichtigen  angaben, 
dass  die  deutsche  Übersetzung  1583  (richtig  von  1569  angefangen)  erschienen  und 
dass  diese  auf  30  bände  erweitert  worden  sei,  während  in  wirkliclikeit  die  24  deut- 
scheu bücher  den  französischen  entsprechen.  Ferner  dass  die  erste  bekannte  aus- 
i^abe  von  Montalvos  text  1519  (riclitig  1508)  erschienen  ist.  Hier  möchte  ich  noch 
bemerken,  dass  die  von  Braunfels  im  'Kritischen  versuch  über  den  Amadis'  (Leipzig 
1876)  mit  guten  gründen  ins  fabelreich  verwiesene  portugiesische  Urschrift  in  dem 
irenannten  artikel  wiederum  als  ciuelle  Montalvos  angegeben  und  die  hypotiiese  von 
Braunfels,  die  allgemeine  anerkenuung  gefunden,  als  'hinfällig'  l)ezeiciiiiet  winl. 
Die  hier  erwähnte  schrift  von  Braga,  Forma^'üo  do  Amadis,  Opurto  1878,  die  wahr- 
scheinlich die  these  von  Braunfels"  bekämpft,  ist  mir  leider  nicht  zugänglich. 


478  HAITFEX 

la  counoissauce  de  la  tette  de  ma  uourisse'  (284),  'so  hab  ich  .  ,  .  allbereyt  schon 
meiner  seuganimen  kopff  vud  angesicht  erkennet',  wobei  er  4a  tette'  (brüst)  mit 
'la  tete"  (köpf)  verwechselt.  Ungeschick  erweisen  aucli  die  Wendungen,  die  sich 
wortwörtlich  an  das  französische  lehnen  und  darum  undeutsch  klingen,  oder  deren 
sinn  erst  dui'ch  einen  vergleich  mit  der  vorläge  klar  wird:  'la  teste  baissee  mon- 
trerent'  (223),  'vnd  nach  gehencktem  kopff  bestiegen  sie  den  wall  usw',  'le  Chevalier 
cheminant  toute  nuit  et  jusques  au  lendemain  le  heaulme  en  la  teste,  ne  repaissaut 
ne  luv,  ne  son  cheval'  (405  f.),  'der  ritter  .  .  .  die  gantze  nacht  ohu  einige  gepflegte 
rliu  des  pferds  noch  seiner,  noch  auch  ablegung  des  heims  gereyset  seye'.] 

Doch  auch  die  besonderen  eigenschaften  und  Vorzüge  von  Fischarts  Über- 
setzung zeigen  sich  schon  bei  diesem  ersten  versuch:  die  grosse  ausdrucksfähigkeit, 
der  reiche  wortvorrat,  der  ihm  bereits  zur  Verfügung  steht.  Schon  hier  erweitert 
€r  die  französische  vorläge  durch  zwei-  und  mehrgliedrige  formelu,  durch  anhäufung 
von  synonymen,  durch  verstärkende  beiwörter  und  bestimmungswörter,  erklärende 
Oppositionen  und  durch  beifügung  der  Verdeutschung  zu  dem  übernommenen  fremd- 
wort:  'quelle  fortune'  (63),  'was  für  vnglück  vnd  böser  windt';  'estourdy'  (246), 
^vnrichtig,  düi-misch  vund  erdaubet' ;  'les  mortelles  plaintes'  (351),  'das  leidklagen, 
senfftzen,  achtzen,  jaraern  vnnd  mordschreyen' ;  'leurs  mains'  (681),  'ihren  raubi- 
scheu  bänden' ;  ['du  desir'  (563),  'des  ehrenzimliclien  lustes'] ;  'il  tremblayt  comme 
la  fucille'  (473),  'bidmet  vnd  zitteret  wie  ein  espenlaub' ;  [l'Isle  ferme'  (2),  'Insel 
Ferme,  sonst  die  starck,  vest,  beschlossen  insel  genannt' ;  'esphere'  (5),  'spehr  oder 
himmelskugel'  (vgl.  Greschichtklitterung  186  'spher  oder  Weltkugel')]. 

Die  überwiegende  mehrheit  der  Sprichwörter,  redensarten  und  bilder  der 
vorläge  sind  genau  und  trefiend  wiedergegeben ;  ausserdem  werden  noch  nüchterne 
stellen  durch  bildkräftigen  ausdruck  ersetzt  und  selbständig  scherzhafte  und  anschau- 
liche Wendungen  eingefügt:  Tautiquite'  (56),  'alt  fränckische  manier';  ['secouer  le 
jarret'  (730),  'die  hosenband  vnd  das  füsslein  schütteln'  (sterben);  'Or  touchait 
eile  droitement  au  mal  de  ceste  princesse'  (18),  'mit  diesen  reden  hat  sie  der 
jungen  fürstin  (wie  man  pflegt  zu  reden)  den  rechten  eysen  gerüret'  (die 
gesperrt  gedruckte  weudung  kommt  ähnlich  bei  Fischart  überaus  häufig  vor) ; 
,prens  ce  chemin'  (414),  'uam  den  weg  .  .  .  vnder  die  füß' ;  'Certes  ce  n'estoit  pas 
droitement  le  poinct,  qui  les  solicitoit  le  plus,  ains  le  petit  enfangon  qu'elles  seutoit 
-deja  mouvoir  au  ventre'  (757),  'Warlich  diss  war  eigentlich  nicht  der  wurm,  der 
sie  am  meisten  naget,  sondern  das  klein  gartenkindlein,  welches  bereyt  band  vnnd 
füss  bekommen,  im  mutterleib  sich  reget'] ;  'il  entra  pesle  mesle'  (458),  'vnder  sie 
sprang  wie  ein  hungeriger  wolff  vnder  die  schaff'. 

Weiter  bemerken  wir  schon  hier  die  gewandtheit  in  Wortbildungen  und  einen 
grossen  voiTat  von  allgemein  deutschen  und  insbesondere  alemannischen  ausdrücken. 
Pfeiffer  (s.  63—65  und  72)  bringt  eine  reihe  von  Substantiven  auf  -ung,  von  denen 
gewiss  mehrere  ueubildungen  sind.  Ferner  mehrere  Fischart  eigentümliche  Zu- 
sammensetzungen, besonders  adjektive  wie  'neidbissig'  (456),  'notträugiich'  (343), 
'sattelraumig'  (384).  [Einige  davon  finden  sich  auch  anderwärts  bei  Fischart,  so 
für  'estourdy'  (638),  'schellhirnig',  vgl.  Geschichtklitterung  s.  3,  'schellhörnig  vnd 
hirnschöllig'  und  'zornwägig'  (542),  vgl.  Lob  der  laute  v.  44.  Für  einen  in  der 
vorläge  wiederholt  vorkommenden  ausdruck  gebraucht  der  bearbeiter  viele  ver- 
schiedene bezeichnungen :  'tenans'  (579—591),  bestandritter,  planschirmer,  =--  haber, 
=  halter,  =  herr,  =  recher,  =retter,  parthalter,  handhaber  (beim  tiu'nier);  'vilain' (41). 
'grober  vnghoflicher   baurenflegel',   (58)    'vnhöfflicher  baurenwisch',   (464)   'schelms- 


ÜBER   PFEIFFER,    AJIADIS.STIDIEN'  479 

lialß';  'lance'  (550  und  oft),  'gläne,  lantze'  (553  ii.  a.),  'spar,  spieß'.  —  Ich  füüfe 
noch  eine  kleine  liste  von  Zusammensetzungen  und  einfachen  ausdrücken  hinzu,  die 
nur  hier  belegt  oder  die  der  alemannischen  bezw.  der  elsässischen  mundart  angehören : 
'aberkuust'  (243  in  einem  absatz  über  zauberei);  'beschöiilich'  (498  honneste ;  nur 
'unbeschünlich  'in  Stielers  Wörterbuch,  s.  1756);  'entruttnng'  (202  effroy;  'entriitten" 
Lob  der  laute  v.  33);  'grewelhorn'  (40  corue;  vgl. 'gräuselhorn'  Jesuiterhütlein  v.  27 
und  Catalogus  B  la);  'haunelen'  (oder  'schreyen',  von  pferden  748  hennir;  im 
ersten  buch  724  Svehnlet  vnd  schrie'j ;  'liebkuß'  (626  baiser)  und  'liebzanck'  (299 
Zusatz ;  ähnliche  bildungeu  'libtranck'  Gorgo  v.  59,  'libtat'  Ehezuchtbüchlein  167  u.  a. 
'libsucht'  Pod.  trostbüchlein  25,  'liebkrantz'  Geschichtklitterung  266l;  'liebpflichtig' 
(461  ä,  qui  je  suis,  vgl.  'libmächtig'  Ehezuchtbüchlein  126,  'liebhaft'  232  usw.); 
^agerig'  (467  amegrie);  'mundleinspiel'  (505  'les  traitemens  de  bouche);  'nach- 
denckig'  (649  pensifj ;  'schamlächlet'  (500  se  souzrians) ;  'stumpffling'  (den  rücken 
kehren  456) ;  'vngrundlicher'  (freuden  253,  d'un  trop  grande  aise') ;  'vergriff liehe' 
(anzügliche  reden  503);  'Vermahlung'  (752  la  grue).  Einige  selten  gebrauchte 
ausdrücke :  'ausskunden'  (rottenweiß  345  manderant  de  mein  en  raain,  in  der 
bedeutuug  verkündigen,  vgl.  'ausskunden  lassen'  Geschichtklitterung) ;  'dickmals' 
(273  maintefois,  vgl.  'dickmals'  Bienenkorb  E  39  a) ;  'notzwäuglich"  (beschlafeu  440 
forcee,  erster  beleg  im  Deutschen  Wörterbuch  VII,  964);  'schnellschiff lein'  (264  le 
petit  navire,  im  Deutschen  Wörterbuch  IX,  1309  wird  'schnellschift''  als  neubildung 
von  Campe  bezeichnet.  —  'ketschen ,  pfetzen'  und  'walgern' ,  die  auch  hier  oft 
vorkommen  (ein  gelungenes  beispiel  'gouverner  les  dames'  717  'die  meidlin  zu 
pfetzen'),  sind  lieblingsausdrücke  von  Fischart,  vgl.  das  Wörterverzeichnis  von 
Kurz  (3,  518;  523;  537)  und  das  Elsässische  Wörterbuch  1.  483;  2,  142  f.;  821. 
•zatz'  (184  vilaine,  Dirne;  vgl.  'zatz'  für  hündin,  Flöhhaz  v.  2401,  auch  im  elsäs- 
sischen  in  diesen  beiden  bedeutungen  üblich.  Eis.  wörterb.  2,  921).  Der  umlant 
in  der  einzalil  von  'die  aesch'  und  die  Schreibung  'floch,  flöch',  wie  sie  hier  vor- 
kommen, sind  auch  bei  Fischart  zu  finden  (Flöhhaz  v.  658  und  v.  1562)  und  im 
elsässischeu  üblich  (Wörterbuch  1,  80  und  163).  Bezeichneiul  für  Fischart  scheint 
mir  auch  die  Übersetzung  für  'qu'il  estoit  Francoys',  (459)  'daß  er  ein  Franck  were' 
(vgl.  Geschiciitklitternng  31  für  Eabelais  'es  Francois':  'zu  den  Teutschen  Fraucken 
vnnd  Franck-Teutschen')]. 

Wie  später  in  der  Geschichtklitterung,  so  erhalten  schon  im  Amadis.  nur  in 
geringerem  masse,  französische  ausdrücke  in  wirksamer,  auch  scherzhafter  Umge- 
staltung deutsches  gewand:  'quartier'  (269),  'wartier';  'saugloutz'  (746),'  'gluchsen' ; 
'faire  voyle'  (493),  'die  segel  zu  freyen';  'galleres'  (359)  'waleen'  oder  für  den  kreuz- 
weg  'un  carrefour'  (537),  'an  eine  karrefurt'. 

Pfeiffer  führt  einige  Wortspiele  an,  die  zum  teil  niclit  von  der  vorläge  an- 
geregt worden  sind,  wie  'contestaiis'  (314),  'indem  sie  wehr  vnd  ehrwort  treiben'. 
Aus  dem  einfachen  Wortspiel  'cerf  —  serf  —  service'  wird  mit  reichen  zutaten  ein 
dreifaches  (472—73) :  'hirtz  —  hertz  —  gehürn  —  zürn  —  stirn  —  dirn".  Ferner  viele  l)ei- 
spiele  von  alliterationen,  die  nur  zum  geringen  teil  von  der  vorläge  angeregt  worden 
sind,  so  z.  b.  'vent  et  vagues'  (37  u.  a.),  'wind  vnd  wasserwogen'  und  mehrere 
stellen  mit  reimprosa,  die  alle  selbständig  eingeführt  wurden.  [Zu  (519)  'weder 
strut  noch  pfad'  wäre  zu  erwähnen,  dass  P'isciiart  es  liebt,  scherzweise  niederdeutsche 
formen  auch  im  reim  einzufügen:  vgl.  Geschiclitklitterung  (8.376)  'seclis  bilger  aß 
oder  (vml)  reimens  willen)  frat'.] 

Aus  diesen  betrachtungen  gelit  schon  liervor.  dass  der  üliersetzer  den  spracli- 


480  IIAIFI  KX 

licluMi  ausdruck  der  vorläge  durchaus  nicht  uur  bereichert,  sondern  auch  verbreitert 
hat.  Pfeiifcr  gibt  solche  beispiele  für  Schilderungen  von  Zweikämpfen,  liebesszenen, 
ansprachen  und  gegeureden  zweier  feinde.  Doch  möchte  ich  hierzu  bemerken,  dass 
die  deutsche  bearbeitung  zwar  lebendiger  und  kräftiger  ist,  dafür  aber  sehr  oft  in 
Weitschweifigkeit  und  besonders  bei  den  reden  in  gespreiztheit  ausartet.  Trotz  alle- 
dem finden  sich  hier  keine  sachlichen  einschübe,  \vie  später  bei  der  Geschichtklitte- 
rung und  anderwärts.  Fischart  hat  hier,  jedenfalls  dem  beispiele  der  Übersetzer  der 
ersten  Amadisbücher  und  dem  wünsche  des  Verlegers  folgend,  auf  zusätze  ver- 
zichtet. Die  Weitschweifigkeit  aber  liegt  ihm  im  blut  und  äussert  sich  schon  in 
der  Amadisübersetzung,  wo  für  ein  wort  der  vorläge  eine  breite  Umschreibung  oder 
eine  reihe  von  synonymen  steht,  für  einen  kurzen  satz  ein  oft  unübersichtliches 
Satzgefüge,  womit  nichts  neues  gesagt,  sondern  nur  das  ganze  ungenauer  und  schwer 
verständlich  wird.  Nur  ein  beispiel:  'se  voyant  si  tost  frustre  de  la  presence  de 
sa  nouvelle  amye:  de  laquelle  il  n'eut  moyen  avoir  autre  conge,  sinon'  (34),  'dieweil 
er  sah,  sich  so  bald  seiner  newen  holdschaift  beraubt  sein,  vnd  die  angefangen  lieb 
vnvoUendet,  auch  dass  er  von  jhrer  tröstlichen  gegenwertigkeyt,  so  stützlich  ohn 
alles  vorgenaden  solte  scheiden,  mit  welcher  er  dan  in  solcher  verdrüßlichen  eil 
kein  andern  abscheid  wüsste  zu  machen,  dan  dass  .  .  .'  Wenn  der  Franzose  an  das 
vorhergehende  mit  'toutesfois'  anknüpft,  so  wiederholt  Fischart  dafür  mehr  oder 
weniger  von  dem  bereits  gesagten.  Eine  breite,  schwülstige  prosa  erseheint  den 
meisten  Schriftstellern  dieser  zeit  als  eine  notwendigkeit,  als  allgemeiner  brauch,  ja 
als  Vorzug,  in  der  meinuug,  dass  ein  solcher  stil  mehr  gewicht  verleihe.  Besonders 
krass  wird  der  gegensatz  bei  einem  vergleich  mit  dem  französischen,  das  damals 
wie  heute  einen  viel  knapperen,  bündigeren  stil  zeigt  als  das  deutsche,  welches 
dagegen  wiederum  ausdrucksfähiger,  reicher  an  bezeichnungen  für  die  verschiedenen 
färbungen  desselben  begritfes  ist. 

Fischart  pflegt  bei  seinen  bearbeitungen  an  der  vorläge  gar  keine  oder  nur 
unwesentliche  änderungen  und  striche  aus  ganz  bestimmten  gründen  anzubringen. 
Wie  bei  der  Geschichtklitterung  (vgl.  meine  ausführungen  im  Afda.  23.  77  8), 
so  verhält  es  sich  auch  bei  dem  deutschen  Amadis.  Pfeiffer  (60  f.)  zeigt,  dass 
der  verdeutscher  katholische  eiurichtungen  und  ausdrücke  streicht  oder  ersetzt, 
so  'messe'  durch  'predig',  'couvent'  durch  'apotheke' ,  'sainte  Mari!'  durch  'ach, 
Jesus',  natürlich  nicht  konsequent,  denn  das  ist  Fischart  nie.  Allerdings  finden 
wir  dieselbe  erscheinung  auch,  in  den  ersten  büchern. 

Pfeiffer  hat  sich  auch  der  mühe  unterzogen  (s.  47  f.,  68,  72),  die  bearbeitung 
Fischarts  mit  den  meist  schlichten  und  einförmigen,  au  den  kurialstil  gemahnenden 
Verdeutschungen  der  'das  sechste  umgebenden  bücher'  zu  vergleichen,  freilich  nur 
oben  hin  und  ohne  gegenbeispiele.  Er  findet  bei  dem  sechsten  buche  folgende 
besonderen  eigentümlichkeiten :  eine  grössere  freiheit  der  bewegung,  eine  flottere 
behandlung  und  intelligentere,  nicht  so  sklavische  Übersetzung  wie  bei  den  übrigen, 
einen  selbständigen,  unerschöpflichen  wortvorrat,  wenig  fremdwörter,  ein  plastischeres 
hervortreten  der  personen,  die  auch,  statt  der  abhängigen  rede  im  französischen, 
direkte  reden  führen,   also  alles  merkzeichen  der  'gengen  redfärtigkeyt'  Fischarts  ^ 

Diese  Vorzüge  der  bearbeitung  müssen  die  grössere  Verbreitung  des  sechsten 
buches  bedingt  haben,   nicht   der   Inhalt,   der   in   stoff  und  auffassung  den  übrigen 

1)  Belanglose  bemerkungeu  ülier  die  spräche  des  unbekannten  Übersetzers 
des  ersten  buches,  eines  Schwaben,  gibt  A.  v.  Keller  (a.  a.  o.  s.  465  f.). 


ÜBER    PFEIFFER,    AMADISSTIIMEN  481 

büchern  gleichartig  ist.  Das  sechste  buch  hat  fünf  auflagcü  erlebt,  wie  das  erste, 
während  das  zweite  bis  vierte  buch  auf  vier,  die  übrigen  bücher  bis  zum  drei- 
zehnten es  nur  auf  drei  auflagen  gebracht  haben.  Das  fällt  um  so  mehr  ins  ge- 
wicht, als  die  höhe  der  aufläge  sehr  gross  war.  (Beim  6.  und  6.  buch  des  letzten 
druckes  ungefähr  1250,  bei  den  übrigen  büchern  ungefähr  1200—1225  exemplare. 
H.  P  all  mann,  Feyerabend,  sein  leben  und  seine  geschäftlichen  beziehungeu, 
Archiv  für  Frankfurter  geschichte  und  kunst,  neue  folge,  7.  bd.,  Frankfurt  1881, 
s.  251/7,  hat  diese  daten  den  registern  der  herbstmessen  von  1594/7  entnommen.) 
Auch  die  erste  aufläge  muss  sehr  gross  gewesen  sein,  nach  einem  ausspruch  Feycr- 
abends  (Pfeiifer  s.  37)  zu  schliessen:  'dass  jme  diser  zeit  der  Amadis  de  Gaula 
mehr  in  seckel  getragen,  weder  des  Luthers  Postill'.  Auch  in  der  vorrede  zur 
folioausgabe  (1583)  sagt  der  Verleger  ganz  ähnliches  über  die  erste  ausgäbe  in 
eiuzelbäuden :  'Welche  auch  dermasseu  angenommen,  auffgekauft  vnd  gelesen  worden, 
dass  alle  derselben  exemplaria  in  kurtz  abgaugen,  verkaufft  worden  vnd  in  grosse 
nachfrag  gar  gerahten'.  Die  bücher  XIV— XXIV  sind,  abgesehen  von  den  olien 
erwähnten  nachdrucken,  nur  einmal  aufgelegt  worden. 

Das  einleitende  gedieht  'Ein  Vorbereitung  in  den  Amadis',  das  auch  vom 
siebenten  buche  übernommen  wurde,  ist  natürlich  auch  von  Fischart  abgefasst. 
Das  erweisen  nicht  nur  die  anfangsbuchstaben  seines  vollen  namens  unter  der  Über- 
schrift, sondern  auch  die  innere  und  äussere  form.  Am  eingang  ein  lang  aus- 
gespounenes  gleichnis  mit  dem  übergange  zum  gegenstände,  vers  41,  'Also  soll  es 
auch  hie  geschehen'  (ganz  ähnlich  wie  in  vielen  seiner  Bildergedichte  0>  Ferner  das 
heisse  bemühen,  aus  dem  Amadis  eine  moralische  nutzanwenduug  zu  ziehen.  Neu- 
bildungen wie  V.  21  'Gifftwend'  (vgl.  'Traurwendt'  für  V7j7cev9-Yjg,  vorrede  zum 
Eulenspiegel  reimensweiß  2,  14),  wortspielende  etymologien  v.  75  f. ;  109  ff. ; 
antithesen  vers  86  'jen,  daß  man  leid,  die,  daß  man  meid'  (mit  binnenreim), 
V.  65  f.,  74,  75  f.,  89  f.;  wirksame  zweigliedrige  formein  v.  38  'Solch  köstlich 
kraut,  solch  kräfftig  samen';  alemannische  reime  v.  83  f.  'ist:  vermischt'  u.  a. 
Dieses  gedieht  ist  nach  der  ersten  ausgäbe,  1572,  mitgeteilt  von  A.  v.  Keller 
(a.  a.  0.  448—451)  mit  den  versehen  v.  'hat]  het',  v.  46  'vcrdrüst]  verdüst',  'denn]  dann'. 
Keller  gibt  hier  auch  die  Varianten  der  zweiten  ausgäbe  1573.  Den  text  der  dritten 
ausgäbe  1576  bringt  Kurz  3,  29-32.  Kurz  schreibt  v.  66  die  beiden  worte  'hörn 
auß.  honig  loß'  fälschlich  getrennt.  Die  fassungen  von  1576,  1583  und  1595  zeigen 
nur  orthographische  abweicliungen  von  dem  ersten  druck. 

Nach  den  umständlichen  allgemeinen  betrachtungen  geht  Fischart  erst  gegen 
schluss  dieses  gedichtes,  v.  109  ff.,  auf  das  eingeleitete  buch  selbst  ein  mit  aus- 
führungen,  die  man  zum  teil  auf  den  Amadisroman  überhaupt  beziehen  könnte. 
Amadis  heisse  'Gottes  lieb'-.  Darum  lasse  ihn  (lOtt  trotz  trüber  erfahrungen  nicht 
erliegen,  sondern  obsiegen,  so  dass  er  sein  geschlecht  bis  ins  dritte  glied  geniesse. 
(In  der  tat  hebt  mit  Amadis  aus  Griechen,  den  Onolorie,  Lisuarts  verlobte,  am 
Schlüsse  dieses  buches  gebiert,  das  dritte  geschlecht  an.  Die  späteren,  damals  im 
deutschen  noch  nicht  herausgekommenen  büclier  hat Fiscliart  jedenfalls  uiclit  gekannt.) 
Der  roman  zeige  auch  das  amt  der  rechten  obrigkeit,  nach  schweren  kämpfen  räuber 

1)  Vgl.  meine  'Neuen  Fischart-Studien'  (7.  Ergiinzungsheft  znm  luiphnrion), 
s.  172-4. 

2)  Barfüsser  sektenstreit  A,  v.  44.5  7:  'Zu  der  sect,  Amadeer  gncnt  |  Sonst 
gnant  brüder  von  Gottes  lieb  |  Die  ich  gern  mit  dem  D.  l)eschrieb'. 

ZEITSCIIKIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLII.  32 


482  HAIFFEX    ÜliEU    ri'EIFFER,    AJtADISSTlDlEX 

uiul  rieseil,  Türken,  Tataren  und  Leiden  niederzuringen.  Solche  und  dergleichen 
lehren  könne  man  diesem,  der  'ergetzlicheyt'  dienenden  buche  entnehmen.  Man 
lege  nichts  lihel  aus  und  verkehre  nichts  in  gift,  wie  die  spinne,  sondern  handle 
wie  die  hienen.  Dieses  l)ild  mit  dem  sprichwörtlichen  gegensatz  zur  hiene  ist  im 
16.  Jahrhundert  ausserordentlich  häufig  (vgl.  Deutsches  Wörterbuch  X,  1,  sp.  2510). 
Fischart  selbst  verwendet  es  mehrmals,  allerdings  ohne  erwähnung  der  biene,  so 
gleich  ein  jähr  danach  am  Schlüsse  seines  mit  der  Amadiseinführung  in  den  all- 
gemeinen erörterungen  übereinstimmenden  einleitenden  gedichts  zum  Ismenius  v.  229f. 
Den  gedanken,  durch  scherz  zu  l)elehren,  finden  wir  nicht  nur  in  den  vorreden  zu 
Fischarts  Eulenspiegel  reimeusweiss.  Podagi'ammisch  trostbüchlein,  Geschichtklitte- 
rung, sondern  auch  in  zahlreichen  vorreden  geistesverwandter  werke  dieser  zeit. 
auch  in  denen  der  Amadisbücher. 

Die  vorreden  zum  sechsten  buch  sind  nicht  von  Fischart.  Die  erste, 
eine  widmung,  wird  in  wenig  verändertem  Wortlaut  in  die  späteren  Imcher  auf- 
genommen. Diese  Widmungen  wenden  sich  bis  einschliesslich  des  13.  buches  an 
damen  regierender  oder  adelicher  liäuser;  die  späteren,  ausser  dem  16.  buch,  an 
männer,  zum  teil  büi'gerlichen  Standes.  Die  widmung  zum  sechsten  buch  hat 
wahrscheinlich  Fischart  selbst,  den  geänderten  Verhältnissen  entsprechend  ein 
wenig  umstilisiert.  Dabei  hält  er  sich  nicht  an  die  Widmungen  der  nächst  vor- 
hergehenden bücher,  sondern  nach  der  ersten,  wie  die  späteren  vom  Verleger  ge- 
zeichneten, vorrede.  (Ein  beispiel:  für  die  stelle  der  ersten  widmung,  die  Fischart 
wörtlich  übernimmt  und  auch  für  seine  'Vorbereitung'  verwertet :  'nit  wenig  nutzens 
neben  der  belustigung  zu  löblicher  handhabung  der  tugendt,  wie  ausser  einem  lieb- 
lichen lustgarten,  in  dem  gute  vnd  böse  kreuter  gefunden,  nemen  vnd  abbrechen, 
das  böse  vnd  lästerlich  zu  rück  stellen,  vnd  fahren  lassen  mag',  sagt  die  widmung 
zum  dritten  buch:  'vil  nutzens  neben  der  belustigung  zur  behauptung  vnd  hand- 
habung zucht,  tugendt  vnnd  erbarkeit  nemmen  vnnd  l)ehalten :  Was  aber  ärgerlich 
vnd  nit  aller  der  tugend  zutreglich  beiseit  vnd  zurück  stellen  vnnd  derwegen 
gedencken,  daß  auch  wol  vnder  dem  schönen  wolriechenden  rößlein  spitzige  vnd 
stachlichte  dorn  gefunden  werden'). 

Was  nun  die  zweite  'Vorrede  an  den  gunstigen  leser'  betrifft,  so  sind  die 
behauptungen  Pfeiffers  (s.  43  f.),  diese  sei  erstmals  dem  sechsten  buch  vorgesetzt 
und  käme  dem  stil  nach  Fischart  zu,  unrichtig.  Diese  vorrede  erscheint  schon  in 
den  ersten  ausgaben  des  dritten  und  weiterer  bücher  (vgl.  Meusebach-Wendeler 
a.  a.  0.  3111),  und  zwar  durchweg  gleichlautend,  und  weist  keine  kennzeichen 
seines  stiles  auf. 

Dass  Feyerabend  auf  Fischart  verfiel,  ist  naheliegend.  Dieser  lieferte  ihm 
ja  1571  den  anfangs  1572  veröffentlichten  Euleuspiegel  reimensweiß.  Zur  herbst- 
messe  1572  erschien  das  sechste  buch  des  Amadis.  So  hatte  Fisehart  ungefähr  ein 
jähr  zeit,  seine  Übersetzung  fertigzubringen'. 

Bedürfte  es  überhaupt  noch  weiterer  beweise,  so  könnte  auf  aussprüche  Fischarts 

1)  Auf  fällt,  dass  Feyerabend  sowohl  beim  Eulenspiegel  als  auch  bei  einigen 
bänden  der  ersten  reihe  der  Amadisbücher  (so  beim  6.  buch),  bei  denen  er  doch 
die  widmung  mit  seinem  namen  zeichnet,  und  bei  anderen  werken  dieser  zeit  seineu 
1563  geborenen,  also  minderjährigen  söhn  Hieronymus  als  Verleger  angibt.  Pall- 
mann  (a.  a.  o.  s.  35  und  31  f.)  erklärt  das  als  einen  akt  der  vorsieht.  Denn  zur 
ueujahrsmesse  1568  in  Leipzig  wurden  dem  buchführer  Feyerabends  wegen  eines 
uachdrucks  der  Carionschen  Chronik  sämtliche  büchervorräte  beschlagnahmt. 


STIEFEL    ÜBER    PETER    PROBST,    DRA^^rATISCHE    WERKE    ED.    KREtSLER  483 

Über  den  Araadis  verwiesen  werden,  die  sich  iicrade  auf  den  inhalt  des  sechsten  buches 
beziehen.  Zu  den  stellen  im  Peter  von  Stauffenberg  v.  61/6  und  in  der  vorrede  dazu 
(Pfeiffer  s.  74)  wären  noch  hinzuzufügen  die  stellen  in  der  Geschichtklitterung 
(s.  158,  427  und  395):  'wann  Vrganda  nicht  im  Amadis  war,  was  wer  es?'  —  'Gleich- 
wol  halten  etliche  Amadisischen  0 rianisten'  [nach  Oriane,  der  frau  von  Amadis] 
'darfür,  er  werd  in  d  e  r  Vrganda  affenschiff  wieder  kommen'  (vgl.  6,  buch,  44.  kap.)  — 
'als  der  Amadisischen  Vrganda  weiß,  die  sibentzigenjärig  siben  schläf  er 
macht'  (vgl.  6.  buch,  21.  kap.).  Wichtig  ist,  dass  die  zweite  stelle  1582  und  die 
gesperrten  werte  erst  1690  eingefügt  wurden,  woraus  hervorgeht,  dass  Fischarten 
noch  achtzehn  jähre  später  der  inhalt  des  sechsten  buches  vertraut  war^  Ferner 
bemerkt  er  in  seiner  Verdeutschung  von  Bodins  Dämonomanie,  und  zwar  erst  in 
der  zweiten  ausgäbe  vom  jähre  1586,  s.  160,  zu  der  erwähnung  des  heilkrautes 
Orant:  'von  diesem  Orant  oder  Orchant  scheint,  hat  der  dichter  des  Amadis  seine 
beste  fabelspickerin,  die  Vrganda,  erdichtet.' 

Der  Wahlspruch  am  schluss  des  Amadis  'Alors  comme  alors'  findet  sich  in 
einer  handschriftlichen  eintragung  von  1567  (Pfeiffer  s.  75)  und  als  schluss  dreier 
von  Fischart  verdeutschten  politischen  flugschriften  (Hauffen  im  Euphorion  8,  547; 
549  f.;  554  7). 

Den  nachweis,  dass  noch  1628  in  Strassburg  der  tätige  anteil  Fischarts  am 
Amadis  liekannt  war,  hat  Eubensohn  (Euphorion  6,  223,  aum.  1,  vgl.  ebenda  1,  59  f. 
und  Pfeiffer  74  f.)  erbracht.  Danach  hat  der  Altorfer  professor  Nikolaus  Eitters- 
hausen  während  eines  längeren  aufenthalts  in  Strassburg  1628  in  ein  ihm  gehöriges 
exemplar  von  Opitzens  Aristarchus  seinen  namen  eingetragen  und  bei  erwähnung 
des  Amadis  an  den  rand  geschrieben  'Priores  quidem  Septem  libri  a  Johanne  Fischard 
translati'.  Eul)ensohn  fügt  hinzu,  dass  diese  nachricht  das  grösste  bedenken 
erregen  muss.  Freilich  alle  ersten  sieben  bücher  hat  Fischart  nicht  ül »ersetzt,  doch 
dass  er  der  verdeutscher  des  sechsten  buches  ist,  das  wird  niemand  mehr  be- 
zweifeln können. 

1)  Wenn  er  in  die  Geschichtklitterung  (s.  453)  1582  einschiebt:  'besser  als  im 
Thresor  des  Amadys',  so  kann  dies  nicht  melir  erweisen,  als  dass  ihm  der  titel  der 
französischen  ausgäbe  bekannt  war.  Die  deutsche  'Schatzkammer'  ist  ja  erst  1596 
■erschienen. 

PRA(t-SMICHOW.  ADOLF    HAl'FFBN. 


Die  dramatischen  werke  von  Peter  Probst  (1553—1556).  Eingeleitet 
und  herausgegeben  von  Emil  Kroislcr.  Halle  a.  S.,  Niemeyer  1907.  XVIII, 
141  s.  (Neudr.  deutscher  literaturwerke  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  nr.  219 
bis  221).     1,80  m. 

Seitdem  Leonhard  Li  er  in  seinen  hübschen  Studien  zur  geschichte  des  Xiirn- 
berger  fastnachtsspiels  (1889)  und  in  seinem  aufsatze  'Peter  Probst  ein  Zeitgenosse 
und  mitbürger  des  H.  Sachs'  (Allg.  zeitung  1891)  dem  früher  wenig  bekannten 
dichter  eine  liebevolle  betrachtung  gewidmet  und  Gustav  Eöthe  ihm  in  der  Allg. 
deutschen  biographie  mit  bewährter  hand   den   ihm   gebührenden  platz  angewiesen 

32* 


484  S'riI':i'TOL    ÜliEK    l'KTEU    I'KOn.ST,    IMIAMATISCHE    WERKE   ED.    KKEISLER 

hat,  sind  wir  gewohnt,  Probst  an  der  seite  des  ihn  übrigens  in  jeder  bezichung 
überragenden  Nürnberger  naeisters  seine  stelle  einnehmen  zu  sehen.  Aber  noch  war 
jeder,  der  sicli  unmittelbar  mit  ihm  beschäftigen  wollte,  gezwungen,  die  handschrift 
seiner  dichtungen  in  der  Dresdener  k.  ölt',  bibliuthek  einzusehen;  denn  ausser  dem 
von  Franz  Schnorr  v.  Carolsfeld  herausgegebenen  fastnachtspiel  vom  kranken, 
bauern  (Archiv  f.  literaturgesch,  IV,  409 ff.)  war  nichts  von  ihm  gedruckt.  So 
war  es  denn  zu  begrüssen,  dass  Kreisler  die  dramen  des  dichters  durch  einen 
schönen  druck  jedermann  zugänglich  machte.  Es  war  mir  leider  nicht  möglich, 
den  druck  mit  der  handschrift  zu  vergleichen,  um  festzustellen,  ob  er  getreu  ist. 
Das  vom  herausgeber  beobachtete  verfahren  ist  jedenfalls  nicht  zu  beanstanden. 
Er  hat  die  Orthographie  respektiert  und  nur  den  gebrauch  der  majuskeln  geregelt: 
vers-  und  satzanfänge,  eigennamen  und  'die  in  den  szenischen  bemerkungen  als 
solche  gebrauchten  gattungsnamen'  gross  geschrieben.  Für  einzelne  stellen,  die 
mir  verderbt  erscheinen,  hätte  ich  zwar  Verbesserungsvorschläge,  aber  ohne  ein- 
sieht in  die  handschrift  möchte  ich  sie  nicht  aussprechen.  S.  45  indes  würde 
ich  (vers  91,  bzw.  92)  ohne  bedenken  'bona  dies'  statt  bona  dieas  und  'semper 
quies'  statt  semper  quias  lesen. 

In  einer  16  selten  langen  einleitung  stellte  Kreisler  kurz  zusammen,  was  die 
forschuug  bisher  über  Probsts  leben,  über  seine  werke  im  allgemeinen  und  über 
die  einzelnen  spiele,  sowie  über  seine  handschrift  ermittelt  hatte.  Neues  vermochte 
er  nicht  beizubringen.  Auch  ich  habe  nur  wenig  beizufügen.  Eine  erwähnung  in 
der  vorrede  hätte  vielleicht  Creizenachs  Geschichte  des  neueren  dramas  verdient,  weil 
er  Probst  zwei  selten  widmete  (bd.  III,  s.  309/10)  und  seine  fastnachtspiele  richtig 
charakterisierte.  —  Bei  der  comediaVon  dem  blind  geborenen  bliebe  zu 
untersuchen,  ob  nicht  ein  humanistisches  stück  dem  Verfasser  vorgelegen.  Der  text 
indes  verrät  nur  beuützung  der  Lutherischen  bibelübersetzung.  Bei  dem  spiel 
Von  einem  mulner  vnd  seinem  weib  gibt  Kreisler  11  bearbeitungen  der 
fabel  an ;  er  hat  offenbar  keine  ahnung  von  der  ungeheuren  Verbreitung  des  Stoffes. 
Ich  verweise  der  kürze  halber  auf  W.  Hertz  Spielmannsbuch  s.  423—432,  wo 
eine  sehr  grosse  anzahl  von  versioneu  —  aber  bei  weitem  nicht  alle  —  zusammen- 
gestellt und  klassifiziert  sind  \  —  H.  Kurz,  Lier  u.  a.  sind  der  ansieht,  dass  Waldis 
lY^  66  —  Probsts  vorläge  —  auf  Rosenplüts,  auch  von  H.  Sachs  benutzten  schwank 
Von  einem  varnden  sc  hui  er  zurückgehe.  Da  Waldis  erwiesenermassen  einen 
anderen  alten  Nürnb.  erzähler,  den  H.  Folz,  benützte,  so  böte  die  annähme  an  und  für 
sich  keine  Schwierigkeit;  selbst  der  umstand,  dass  Rosenplüt  den  schwank  von  einem 
bauern  erzählt,  während  W.  einen  müller  zum  beiden  macht  und  die  handlung 
in  einer  mühle  vor  sich  gehen  lässt,  wäre  zu  erklären :  Waldis  kannte  und  benützte 
vielleicht  das  von  A.  v.  Keller  in  den  Erzähl,  aus  altd.  handsehriften  (s.  260  ff.")  ver- 
öffentl.  gedieht  Von  dem  mullner,  das  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  unserer 
fabel  zeigt;  aber  die  anderen  einzelheiten  sind  zu  verschieden,  auch  war  der 
schwank  sehr  verbreitet,  so  dass  eine  zwingende  notwendigkeit,  Eosenplüt  für  die 
quelle  des  Waldis  anzusehen,  nicht  besteht.  —  S.  VII  behauptet  Kreisler,  dass  Probst 
'eine  art  mittelglied  zwischen  dem  älteren  fastnachtspiele  und  Hans  Sachs  bildet'. 
Das  hätte  einen  sinn,  wenn  Probst  älter   als  Hans  Sachs,   wenn   er  sein  Vorgänger, 

1)  Vgl.  ferner  Bolte  und  Seelraann,  Niederdeutsche  schausp. ,  s.  *42— *48, 
Boltes  Ausg^  von  M.  Montanus'  Schwankbüchern,  s.  627  und  meine  bemerkungen  zu 
H.  Sachsens  37.  fastnachtspiel  Germania,  bd.  36,  22. 


^ 


WITKOWSKI   ÜBER   PAYER    VOX   THURX,    STAATSAKTIONEN  485 

sein  Vorbild  wäre;  so  aber  begaan  Probst  erst  1553,  also  zu  einer  zeit,  wo  Sachs 
schon  45  fastnachtspiele  und  zahlreiche  'coraedien'  und  'tragedien'  verfasst  hatte. 
Probst  ist  kein  mittelglied  zwischen  dem  älteren  fastnachtspiel  und  H.  Sachs, 
sondern  ein  nachahmer  des  H.  Sachs,  und  zwar  auch  darin,  dass  er,  gleich  diesem, 
auf  ältere  Vorbilder,  auf  Hans  Folz  und  Rosenplüt,  zurückgriff. 

MÜNCHEN.  ARTHIR  LUDWIG  S'l'IEFEL. 


Wiener  haupt-  und  Staatsaktionen.  Eingeleitet  und  herausgegeben  von 
Kudolf  Payer  von  Thurii.  Zwei  bände.  Wien,  verlag  des  literarischen  Vereins 
in  Wien,  1908  und  1910.  (Schriften  des  literarischen  Vereins  in  Wien  X  und  Xni.) 
XLI,  461  und  VI,  439  s. 

In  der  geschichte  des  deutschen  dramas  und  theatera  ist  der  Zeitraum 
vor  der  reforni  Gottscheds,  das  erste  viertel  des  18.  Jahrhunderts,  der  dunkelste. 
Das  gilt  sowohl  in  bezug  auf  die  positive  kenntnis  der  leistungen  wie  von  der 
technik  der  dichter  und  Schauspieler.  Wir  wissen  nur  das  wenige,  was  uns  Gottsched, 
Lessing,  Nicolai  und  einige  ihrer  Zeitgenossen  berichten  und  was  später  von  Karl 
Weiss,  Carl  Heine,  E.  M.  Werner,  Schwering,  zuletzt  noch  von  Homeyer  erforscht 
worden  ist. 

Für  die  Vorgeschichte  der  Neuberschen  truppe,  die  grosse  lücke  zwischen  dem 
tode  Veltens  und  dem  eingreifen  Gottscheds,  fehlt  es  leider  fast  ganz  an  Urkunden 
über  prinzipale,  Schauspieler  und  Spielplan  und  zumal  an  drucken  oder  abschriften 
der  aufgeführten  dramen.  Über  eine  bescheidene  zahl  von  14  näher  bekannten 
ernsten  stücken  der  Wandertruppen  berichtete  Carl  Heine  in  seiner  schrift  'Das 
Schauspiel  der  deutschen  Wanderbühne  vor  Gottsched'  (Halle  a.  S.  1889). 

Der  typus  dieser  'haupt-  und  Staatsaktionen'  besteht  bekanntlich  darin,  dass 
ein  ernster  historischer  stoff  in  schwülstige  prosadialoge  umgesetzt  wird,  unter- 
brochen durch  die  derb  komischen  extemporierten  hauswurstszenen.  Die  Stoffe  werden 
mit  Vorliebe  der  vornehmeren  oper  entlehnt  oder  der  politischen  unterhaltungsliteratur 
in  der  art  der  'gespräche  im  reiche  der  toten'.  Das  grausige  mischt  sich  mit  der 
grotesken  komik  in  sicherer  berechnung  auf  die  ungeläuterten,  die  gröbsten  reize 
fordernden  Zuschauer.  Während  der  titellield  in  der  'enthaubttung  des  weltberühmten 
wohlredners  Ciceronis'  von  Marcus  Antonius  im  walde  überfallen  und  geköpft  wird, 
macht  hanswurst  seine  lazzi  und  dann  prügelt  er  sich  mit  Scapin  um  das  ab- 
geschlagene haupt,  damit  ihm  das  trinkgeld  nicht  entgehe,  das  er  von  der  tochter 
des  ei'schlagenen  erhofft. 

Das  schmutzigste  an  worten  und  aktioii  wird  als  würze  in  dieses  gebräu 
geschüttet.  Armselige  nachahmung  des  übertriebenen  opcrnprunks  durch  bunten 
dokorationswechsel,  grobe  maschineneft'ekte,  unechter  glänz  der  kostünie  sollen  die 
hungrigen  äugen  ergötzen  und  steigern  doch  nur  den  eindruck  jämmerlicher  unkunst 
und  gemeiner  routine. 

Aber  mit  alledem  bleiben  die  denkmäler  dieser  gattung  doch  historisch  be- 
deutsam. Nur  an  ihnen  lässt  sich  ermessen,  welch  langer  weg  bis  zum  klassizistischen 
drama  französischer  art  zurückzulegen  war. 

Die  15  haupt-  und  Staatsaktionen  des  Wiener  hansvvursts  Joseph  Antoiii 
Stnmitzky   bietet   Payer   von    Thurn    in    dem    vorliegendem    werke    dar.     Die    ein- 


48(5  WITKOWSKI   ÜBER   PAYEU   VON   THURN,' STAATSAKTIONEN 

leitung-  stellt  auf  grund  umfungreicher  forschungen  leben  und  tätigkeit  Stra- 
nitzkys  dar.  Er  ist  nach  alter,  hier  durch  wahrscheinlichkeitsgrüude  bestätigter 
tradition  iu  Prag  etwa  1676  geboren,  hat  seine  Jugend  in  Graz  verlebt,  wo  sein 
vater  lakai  war.  Dieser  starb  1684,  und  die  witwe  betrieb  später  das  geschäft  einer 
tändlerin.  Der  söhn  ist  erst  als  hanswurst  bei  einem  quacksalber  in  dienst  getreten 
und  hat  da  nach  der  sitte  der  zeit  die  patienteu  diu'ch  seine  spässe  angelockt. 
1699  aber  erscheint  er  mit  dem  Wohnsitz  Augsburg  in  der  Münchener  stadtrechnung 
als  Unternehmer  von  polichinellspielen,  1705  zum  erstenmale  in  Wien,  im  folgenden 
jähre  als  prinzipal  mit  zwei  anderen,  die  in  der  hütte  auf  dem  neuen  markt  spielen. 
Inzwischen  hatte  er  sich  die  neue,  überaus  erfolgreiche  maskenrolle  zurechtgelegt, 
die  dem  hanswui'st  auf  lange  zeit  als  die  beliebteste  erscheinungsform  verbleiben 
sollte.  Statt  des  phantasiekostüms  wählte  er  die  tracht  des  Salzburger  bauern  aus 
dem  Pinzgau  und  gab  vor,  das  gewerbe  des  sauschneiders  [castrator  porcorum)  zu 
betreiben,  durch  dessen  ausübung  die  Pinzgauer  weit  über  ihre  lieimat  hinaus  be- 
kannt waren.  Stranitzkys  kunst  gab  den  deutschen  schauspielern  in  Wien  den 
festen  boden.  Aus  der  bude  sind  sie  bald  in  das  Ballhaus,  aus  diesem  in  das  noch 
vornehmere  Kärntnertortheater  übergesiedelt.  Dabei  ist  Stranitzky  in  wenigen  jähren 
zum  wohlhabenden  bürger  geworden,  trotzdem  er  hohe  abgaben  zu  zahlen  hatte  und 
aus  seiner  ehe  zwölf  kinder  entsprangen.  Einen  teil  seines  Vermögens  verdankte  er 
dem  nebenerwerb  als  zahnbrecher,  nachdem  er  1707  von  der  Wiener  medizinischen 
fakultät  als  zahn-  und  mundarzt  geprüft  worden  war.  Ausserdem  hat  er  wahrscheinlich 
einen  weinhandel  lietrieben,  wie  sich  aus  den  grossen  Vorräten  schliesseu  lässt,  die 
von  dem  edlen  rebensaft  beim  tode  Stranitzkys  in  seinem  besitz  waren.  Er  starb 
am  19.  mai  1726,  nachdem  er,  wie  die  legende  erzählt,  dem  publikum  noch  seinen 
nachfolger  Gottlieb  Prehauser  vorgestellt  hatte. 

Wie  von  diesen  lebensdaten,  wusste  man  auch  von  den  stücken  Stranitzkys 
schon  manches,  besonders  durch  die  treffliche,  zusammenfassende  darstellung  Alexander 
V.  Weilens  in  seiner  geschichte  des  Wiener  theaterwesens  von  den  ältesten  zeiten 
bis  zu  den  anfangen  der  hoftheater  (s.  121—139).  Dort  ist  auch  (s.  131  ff.)  von  den 
fünfzehn  stücken  die  rede,  die  mit  Sicherheit  auf  ihn  zurückzuführen  sind.  Merk- 
Avürdigerweise  weichen  die  titel  bei  Weilen  von  denen  in  Paj-ers  neudruck  vielfach 
ab.  Ohne  vergleichung  der  handschriften  lässt  sich  die  Ursache  dieser  differenzen  nicht 
auffinden.  Ebensowenig  ist  die  quelleufrage  ausserhalb  Wiens  weiter  zu  fördern,  als 
es  Weilen  gelang,  indem  er  sieben  der  stücke  als  bearbeituug  von  texten  der  Wiener 
hofoper  nachwies.  Ich  weiss  nicht,  weshalb  Payer  (s.  Vni  ff.)  das  verdienst  dieser  nach- 
weise Hohmeyer  zuschreibt.  Die  Stücke  Stranitzkys  nehmen  den  originalen  alle  reize  der 
poetischen  form,  um  für  die  eine  beherrschende  gestalt  des  hauswursts,  die  sie  neu 
einfügen,  den  weitesten  Spielraum  zu  schaffen.  Er  ist  nicht  nur  der  spassmacher;  er 
intrigiert,  er  belauscht  die  heimlichen  gespräche  und  mordtaten  und  löst  durch 
enthüUung  der  verbrechen  die  knoten  der  handlung;  er  ist  jedermanns  vertrauter, 
gehilfe  und  ratgeber.  In  dieser  neuen,  gegen  früher  sehr  erweiterten  funktion  hat 
der  hanswurst  mit  dem  grünen  hut  die  Wiener  Volksbühne  bis  an  die  zeit  Eaimunds 
beherrscht.  Die  schüler  und  nachfolger  Stranitzkys  durchzogen  die  österreichischen 
laude  und  das  ganze  deutsche  Sprachgebiet  mit  stücken,  die  abseits  von  der  ge- 
druckten höheren  literatur  nur  dem  Schauspieler  die  unterläge  derber  komik  bieten 
wollten,  denn  nach  dem  tode  Stranitzkys  verschwand  sehr  bald  die  ernste  haupt- 
und  Staatsaktion,  und  die  reine  hanswurstiade  blieb  allein  übrig. 

So  sind  die  von  Payer  abgedruckten  Wiener  stücke  neben  den  wenigen  ander- 


TH.  A.  .IIEYEK   ÜBER   SCHl.ENKEH,    15ATTEUX   IX   DElTSCHLAXi)  487 

wärts  erhaltenen  der  gleiclien  art  die  letzten  ansläufer  der  einst  von  den  englischen 
komödiauten  in  Deutschland  gegründeten  dramatischen  technik  und  werden  in  diesem 
Zusammenhang  zu  historischen  deiikniälern  von  höherer  bedeutung.  Es  hätte  sich 
verlohnt,  nach  dieser  richtuug  hin  die  etwas  dürftigen  aunierkungen  zu  erweitern, 
etwa  die  'Englischen  comedieu  vnd  tragedien'  von  1620-1630  und  die  'Schau-bühne 
englischer  vnd  französischer  comödianten'  für  motive  und  technik  zum  vergleich 
heranzuziehen,  die  besonders  charakteristischen  abweichungen  von  den  opernvorlagen 
zu  verzeichnen  und  die  Wiener  lokalbeziehungen  reichlicher  zu  erläutern.  Doch  hat 
der  verdiente,  sorgsame  herausgeber  mit  gutem  gründe  den  ohnehin  starken  bänden 
diese  last  nicht  aufgebürdet. 

l.EIPZIG.  .  GEOllG    WITKOW.SKI. 


Manfred  Sclilenker,  Charles  Bat  teux  und  seine  u  achahmungstheori  e 
in  Deutschland.  Leipzig  1909.  VIII,  154  s.  [Untersuchungen  zur  neueren 
sprach-  und  literaturgeschichte,  herausg.  von  Oskar  E.  Walze  1.  Neue  folge, 
n.  heft.]     3  m. 

Der  Verfasser  greift  ein  interessantes,  in  sich  abgeschlossenes  kapitel  aus  der 
geschichte  der  ästhetik  heraus.  Er  setzt  bei  Batteux  ein,  in  dem  die  von  Aristoteles 
formulierte  und  von  der  renaissance  den  neueren  Völkern  übermittelte  nachahmungs- 
theorie  ihren  letzten  bedeutenden  und  eigenartigen  Vertreter  gefunden  hat.  Dann 
berichtet  er,  wie  die  Deutschen,  die  durch  Gottsched  und  die  Schweizer  mit  der 
vorbatteuxschen  nachahmungstheorie  des  französischen  klassizismus  bekanntgemacht 
worden  waren,  Batteux'  anschauungen  zustimmend  und  ablehnend  verarbeitet  und 
schliesslich  durch  eine  tiefere  aulfassung  des  künstlerischen  schaft'ens  ersetzt  haben. 
An  stelle  der  antiken  Objektivität  in  der  kunstbetrachtuug,  wie  sie  sich  in  der 
aristotelischen  lehre  von  der  nachahmung  bekundet,  bricht  bei  den  männcrn  vom 
Sturm  und  drang,  bei  Herder  und  Goethe,  siegreich  'der  subjektive  Idealismus  der 
modernen  weit  hervor,  der  in  der  kunst  vor  allem  eine  darstellung  des  eigenen  ge- 
fühlslebens  sieht.'  Nach  ihrer  meinung  arbeitet  der  küiistler  nicht  der  natur 
äusserlich  nach,  sondern  er  gestaltet  in  angeborener  Schöpferkraft  auf  dem  weg  der 
natur  und  doch  frei  von  sklavischer  nachahmung  derselben  eine  zweite  höhere  natur. 
Wie  fruchtbar  die  betrachtung  der  geschichte  des  ästlietischen  denkens  unter  dem 
gewählten  gesichtspunkt  gerade  für  die  behandelte  epoche  ist,  zeigt  sich  in  Scblenkers 
abhandlung  an  den  lichtem,  die  nach  allen  selten  auf  die  entwicklung  des  deutschen 
geisteslebens  und  vornehmlich  auf  führende  männer,  wie  auf  Gottsched  und  die 
Schweizer,  auf  Klopstock,  Lessing  und  Winkelmann,  auf  Herder  und  Goethe,  fallen, 
und  wenn  der  Verfasser  auch  nicht  zu  wesentlich  neuen  resultaten  gegenüber  seinen 
Vorgängern  gekommen  ist,  so  hat  er  sie  doch  in  zahlreichen  einzelheiten  meist  recht 
glücklich  berichtigt.  Die  mit  unverkennbnrem  gesehick  und  erfreulicher  Sachkenntnis 
geschriebene  abhandlung  macht  nicht  bloss  ihrem  Verfasser  elire,  sondern  auch  der 
schule  von  0.  F.  Walzel,  aus  der  sie  hervorgegangen  ist. 

STrT'J'(iAin'.  '11 1.    A.    MKVKK. 


488  EinusMAxx 

Zwei-  und  d  r  e  i  g  1  i  e  cl  r  i  g  k  e  i  t  i  u  der  d  e  u  t  s  c  li  e  n  p  r  o  s  a  des  XIV.  u  u  d 
XV.  Jahrhunderts.  Ein  beitrag  zur  geschichte  des  neuhochdeutschen  prosa- 
stils  von  Friedrich  Wenzlau.  [Herrn aea  IV.]  Halle,  Xiemeyer  1906.  XVI, 
266  s.     9  in. 

Unter  den  redefiguren  in  der  Stilistik  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  nehmen 
die  zweigliedi'igen  formein  und  synonj^ma  die  erste  stelle  ein.  Sie  vor  allem  bilden 
den  schmuck  der  gehobenen  spräche  in  dichtuug  und  prosa,  in  der  predigt,  den 
theologischen  traktaten,  in  den  rechtssätzen  und  den  Urkunden.  Die  zweigliedrig- 
keit ist  die  am  stärksten  gebrauchte,  aber  auch  am  ärgsten  missbrauchte  unter  den 
colores  rhdoricdlcs.  Denn  allzu  üppig  spriessen  zuweilen  diese  'geferwten  kunst- 
lichen planten''  (Der  leyen  disputa,  John  Meier  in  den  Philol.  Studien,  der  festgabe 
für  Sievers,  s.  403)  aus  sonst  magerem  boden  hervor,  oder  auch  sind  sie  zu  dürftig 
'gefärbt'  und  haben  darum  ein  ödes  ansehen.  Der  virtuos  verwendet  sie  und  der 
Stümper,  an  ihnen  lässt  sich  der  künstlerische  sinn  eines  schi-iftstellers  prüfen. 
Unter  diesem  gesichtspunkte  hat  der  Verfasser  des  vorliegenden  werkes  das  stil- 
mittel  der  zwei-  und  dreigliedrigkeit  bei  einer  grösseren  anzahl  von  autoren  des 
14.  und  15.  Jahrhunderts  untersucht  (Johann  von  Neumarkt,  Heinrich  von  Mügeln, 
Ackermann  aus  Böhmen,  Erhart  Gross,  Albrecht  von  Eyb,  Nikolaus  von  Wyle,  Hein- 
rich Steinhüwel,  der  md.  ApoUonius  von  Tyrus  und  die  Griseldis,  Johann  Hartlieb, 
Arigo,  Die  Marina,  Antonius  von  Pforr).  Indem  er  ein  grosses  material  fleissig 
gesammelt,  nach  wissenschaftlichen  gesichtspunkten  gruppiert  und  mit  gutem  urteil 
zu  Schlüssen  über  die  sprachliche  kunst  der  betreffenden  Verfasser  verwendet  hat, 
ist  die  forschuug  über  die  geschichte  des  deutschen  stils  wesentlich  durch  ihn  ge- 
fördert worden. 

Im  hintergrunde  dieser  neuen  prosaischen  stilkuust  steht,  wie  für  den  auf- 
schwung  der  Urkundensprache,  die  frühhumanistische  kultur  Karls  IV.  (s.  20) ;  die 
Übersetzungen  seines  kanzlers  Johann  von  Neumarkt  und  der  Ackermann  von  Böhmen 
bringen  sie  am  gewandtesten  zum  ausdruck.  Es  ist  das  verdienst  des  Verfassers, 
dass  er,  den  anregungen  Burdachs  folgend,  gerade  diese  auch  für  die  geschichte 
der  deutschen  prosa  so  wichtigen  werke  der  ostdeutschen  literatur  unter  bestimmten 
künstlerischen  gesichtspunkten  untersucht  hat. 

Die  mystiker,  diese  zweite  gruppe  der  grossen  prosaisten  des  14.  und  15.  Jahr- 
hunderts, hat  der  Verfasser  aus  seinen  beobachtungen  ausgeschlossen,  deutet  aber 
doch  mit  recht  an,  dass  auch  sie  die  zweigliedrigen  ausdrücke  verwendeten.  Aber 
die  frage  nach  der  herkunft  der  stilistischen  figur  der  zweigliedrigkeit  ist  nicht 
richtig  beantwortet.  Sie  stammt  nicht  aus  der  urkuudensprache,  sondern  sie  ist  ja 
längst  vorher  schon  ein  schmuck  der  gehobenen  rede  gewesen.  Sie  ist  doppelten 
Ursprungs.  Die  zwillingsformeln  sind  schon  ein  charakteristischer  ausdruck  der 
poetischen  spräche  der  Germanen  (vgl.  bes.  R.  M.  Meyer,  Die  altgermanische  poesie 
s.  240  ff.),  und  sie  leben  fort  im  mittelhochdeutschen  volksepos  (Radke,  Die  epische 
formel  im  Nibelungenliede  s.  21  ff. ;  AViegaud,  Stilistische  Untersuchungen  zürn  könig 
Rother  s.  56  ff.). 

Die  altheimischen  formein  tragen  zum  grossen  teil  ein  bestimmtes  gepräge, 
und  sie  lassen  sich  dadurch  oft  von  der  anderen  gruppe  unterscheiden.  Diese, 
die  zweite  art,  hat  ihren  Ursprung  im  lateinischen  rhetorenstil  und  gelangte  durch 
die  christlich-lateinischen  Schriftsteller  wie  in  die  anderen  Volkssprachen,  so  auch 
in  die  althochdeutsche  geistliche  literatur  (über  Otfrids  formein  vgl.  Schütze,  Bei- 
träge zur  poetik  Otfrids  s.  24  ff).     In  den  frühmittelhochdeutschen  dichtungen  und 


ZWEI-    rXD    DKEKiLIEDKKJKEIT    IN   DER   DEUTSCHEN    PROSA  489 

predigten  ist  dieser  schmuck  oft  iu  überschweDglicher  weise  angebracht,  vgl.  Heinzel, 
H.  von  Melk  s.  13  f.;  Schröder,  Anegenge  s.  30;  Eödiger,  Litanei,  Zfda.  19,  323; 
Kossmann,  Exodus  s.  65ff. ;  von  der  Leyen,  Des  a.  Hartmann  rede  v.  glouven 
s.  52 ;  Bruiuier,  Studien  zu  Wernhers  Marienliederu  s.  214  ft". ;  Haas,  Das  stereotype 
iu  den  ad.  predigten  s.  32,  36,  71  ff.;  Baumgarten,  Stilistische  Untersuchungen  zum 
Eolandsliede,  Behaghel  in  seinen  Untersuchungen  über  die  predigten  Eckhards  in 
den  Beiträgen  bd.  36.  Die  höfischen  dichter  haben  die  zweigliedrige  formel  nicht 
aus  der  geistlichen  literatur  oder  aus  der  schule  oder  der  predigt  entnommen, 
sondern  aus  ihren  Vorbildern,  den  altfranzösischen  romanen.  Veldeke  und  Hart- 
mann verwenden  sie  reichlich  (Roetteken,  Die  epische  kunst  H.  von  Veldeke  und 
Hartmanus  von  Aue  s.  104  ff.),  aber  erst  Gotfrid  hat  sie  mit  künstlerischer  Virtuosität 
zu  einem  wesentlichen  ausdruck  seiner  formensprache  gemacht.  Von  seiner  eigenen 
spräche  gilt  noch  in  viel  höherem  masse  das,  was  er  von  der  Hartmanns  sagt :  sie 
ist  durchvänvtt  und  durchzieret  (V.  4622),  und  zu  seinen  colores  gehören  haupt- 
sächlich diese  paarbegriffe.  Er  ist  geAviss  durch  sein  Vorbild,  Thomas  von  Bretune, 
dazu  bestimmt  worden,  denn  der  künstlerische  bau  von  dessen  spräche  beruht  auf 
parallelismus  und  Symmetrie.  Von  grossem  einfluss  auf  die  spätere  höfische  dich- 
tung  ist  dann  Konrad  von  Würzburg  gewesen,  der  die  zweigliedrigen  ausdrücke 
sehr  zierlich  anzubringen  verstand  (vgl.  Josef,  Klage  der  kunst  s.  43  ff. ;  Jaekel, 
Egenolf  von  Staufenberg  s.  10  ff.).  Und  nun  die  prosa.  Der  Verfasser  weist  selbst 
darauf  hin,  dass  iu  den  deutscheu  urkuuden  die  zweigliedrigen  formein  schon  vor 
Karl  IV.  auftreten  (s.  14  und  s.  6  [mitteilung  Burdachs]).  Besonders  in  den  grund- 
formein der  Urkunden  und  briefe  haben  sie  ihre  stelle,  so  schon  in  den  ältesten 
deutschen  prosabriefen,  in  denen  Ulrichs  von  Lichtenstein :  mtn  huld  und  ouch  den 
dienest  iiun  (Lachm.  32,  9  f.),  ir  huld  und  ir  gruoz  (162,  21  f.);  so  auch  in  dem  brief 
der  Anflise  au  Gahmuret,  Parz.  76,  24:  minne  und  gruoz  (eine  andere  grussformel 
ist  dienst  enhiettn :  Meinloh,  MSF.  11,  14;  Gutenburg,  MSF.  69.  1). 

Der  erste  kanzleibeamte  aber,  der  in  die  deutsche  literatur  eingegriffen  hat, 
ist  Michael  de  Leone,  der  protonotarius  des  bistums  Würzburg.  Die  eintrage,  die 
er  in  der  von  ihm  veranstalteten  sammelhandschrift,  der  sog.  Würzburger  handschrift, 
gemacht  hat  (um  1340),  tragen  vielfach  den  kanzleistil.  So  sind  in  den  Über- 
schriften des  Eenner,  die  von  ihm  herrühren  (erhalten  in  der  Erlanger  hs.)  syno- 
nyme formein  gebraucht  wie  die  hölzerne:  Von  elen  vier  elemcnten  vnd  dar  üf 
vnd  ouch  darnach  (Bamberger  druck,  V.  6110)  oder  die  sehr  geschuörkelte  in 
der  vorrede:  Und  darum  bittet  Meister  Michel  von  Wirshurc,  der  diz  huoch 
also  corrigiert,  rehtvertigt,  capituliert  und  registriert  hat.  Aber  gerade  diese 
pedantisch  bureaukratische  Steifheit  zeigt,  wie  weit  er  an  geschmack  hinter  seinem 
kolk'gen  und  Zeitgenossen,  dem  böhmischen  kanzler,  zurückstand. 

In  den  lateinischen  klosterschulen  ist  die  deutsche  literarische  prosa  ent- 
standen;  die  Zierlichkeit  des  stils  haben  die  deutschen  höfischen  dichter  von  den 
Franzosen  gelernt;  mit  dem  frühhumanismus  ist  die  klassische  rhetorik  schulgemäss 
als  muster  aufgestellt  worden.  Überall  ist  die  deutsche  kunstsprache  abhängig  von 
derjenigen  der  Römer  und  Romanen.  Somit  erwächst  für  die  forsehung  die  aufgäbe 
einer  historischen  Stilistik,  welche  darzulegen  hat,  wo  und  wie  weit  der  deutsciic 
Stil  von  fremder  sprachkuust  abhängig  ist.  Eine  der  hauptfragen  wird  dabei  die 
nach  den  arten  des  stilistischen  ausdrucks  sein.  Die  mittelalterliche  lateinische 
rhetorik  hat  die  Unterscheidung  der  drei  stilarten  von  den  Römern  übernommen, 
die  extenuata,  mediocris  und  gravis  oratio  nach  Ad  Heren ni um  IV,  10—12,  oder 


490  EHRISJrANN   ÜBER   WEXZLAU,    ZWEI-    UND   DREIGLIEDRKiKEIT   USW. 

tenuior,  medioeris,  plenior  nach  Cicero,  De  oratore  III,  212.  Nach  Cicero  lehrt 
Augustinus,  De  doctrina  christ.  IV,  14:  der  einfache  stil  soll  lehren,  der  zier- 
liche ergötzen,  der  erhabene  rühren  (Ebert,  Gesch.  der  christl.-lat.  lit.  I,  238;  vgl, 
auch  Hugo  Parisiensis,  Migne  176,  880).  Isidor,  Orig.  IT,  17  hat  die  hezeich- 
uuug  hiimile,  medium,  grandiloqiium,  und  ihm  folgt  Konrad  von  Hirsau  in 
seinem  Didascalion  (ed.  Scheppss  s.  27  und  anra.  10,  wo  weitere  autoren  zitiert 
sind).  In  Notkers  Ehetorik  sind  vier  (/e?ierrt  oroior««n  unterschieden,  cap.  38— 42 
(Piper  U,  663—666;  dazu  Norden,  Die  antike  kuustprosa  II,  929),  worunter  das 
(jmus  copiosmn  hier  am  meisten  interessiert,  da  zu  ihm  die  zweigliedrigen  formein 
gehören,  wofür  er  als  heispiele  anführt:  sapiens  et  callidus,  stultitiu  et  temeritate. 
Die  elocutio,  der  richtige  sprachliche  ausdi'uck,  im  gründe  freilich  dasselbe  wie  die 
oratio,  kann  doppelter  art  sein,  entweder  simplex  oder  figurata,  und  die  letztere 
besteht  im  copiose  ornateque  dicere,  cap.  51  u.  52  (Piper  II,  671 — 673). 

In  der  mittelhochdeutschen  literatur  hat  die  theorie  von  den  drei  stilarten 
nicht  prinzipiell  eingaug  gefunden,  wohl  aber  sind  zwei  arten  des  ausdrucks  mit 
künstlerischer  absieht  unterschieden  worden,  indem  ein  schriftsteiler  unter  um- 
ständen, wenn  sich  gelegenheit  bot,  für  die  ihm  gewöhnliche  und  eigene  redeweise 
eine  höhere,  weiter  ausgeschmückte  anwendete  (die  sog.  geblümte  rede,  vgl. 
Beitr.  22,  322),  gerade  wie  Cicero  De  oratore  III  a.  a.  o.  vorschreibt,  dass  die 
Stilart  dem  Inhalt  entsprechen  soll.  Die  geblümte  rede  ist  eine  nachahmung  der 
mittelalterlich  lateinischen  schwülstigen  Schreibart,  welche  auf  der  spätlateinischen 
rhetorischen  kuustprosa  und  somit  auf  dem  Asianismus  beruht  (vgl.  Norden, 
bes.  II,  586  ff.). 

Doch  aber  wird  man  bei  der  abstufung  der  drei  römischen  stilarten  unwill- 
kürlich au  die  grundsätze  der  drei  grossen  mittelhochdeutschen  epiker  erinnert. 
Hartmanus  spräche  ist  einfach,  sie  entspricht  auch  seinem  lehrhaften  naturell:  das 
ist  die  oratio  humilis,  deren  absieht  ist  zu  lehren,  docere ;  Gotfrid  ist  zierlich,  er 
will  ästhetisch  ergötzen  (delectare),  die  Wirkung  bildet  bei  ihm  die  süssigkeit  der 
Worte,  suavitas,  x^pts  (vgl,  Norden  I,  216) ;  Wolfram  aber  spricht  erhaben,  er  will 
ethisch  ergreifen  (movere,  fleeterc);  das  ist  hohe  rede,  grandiloquum,  die  Wirkung 
geschieht  durch  t:  de  9- 0  g.  Seinesprache  ist  ein  werk  der  berechnung.  Was  uns  un- 
■  gelenk  erscheint,  seine  dunkle,  geschraubte  art,  seine  gesuchten  metapheru  und 
bilder,  sind  nicht  lediglich  aus  einem  ringen  mit  dem  sprachstotf  oder  aus  einer 
ihm  anhaftenden  Schwerfälligkeit  im  sprachlichen  ausdruck  hervorgegangen,  sondern 
das  ist  ein  beabsichtigtes  prinzip :  es  ist  mittelhochdeutscher  Asianismus. 

Eine  sehr  beachtenswerte  entdeckuug,  die  zu  weitergehenden  beobachtungen 
anregt,  hat  der  Verfasser  mit  den  'metrischen  kapitelausgängen'  in  .Johanns  von  01- 
mütz  Übersetzung  des  Hieronymuslebens  gemacht  (s.  81  ft'.).  259  kapitel  desselben 
schliessen,  mit  ausnähme  von  neun,  wo  aber  unbedenklich  geändert  werden  kann, 
mit  unbetonten  silben,  also  trochäisch,  und  zwar  meist  mit  mehreren,  besonders 
häufig  mit  drei  trochäen.  Was  der  Verfasser  gefunden  hat,  sind  also  rhythmische 
Satzschlüsse,  und  wir  haben  hier  ein  beispiel  dafür,  dass  der  kursus  der  lateinischen 
prosa  in  einem  deutschen  Schriftwerke  in  gewisser  weise  nachgeahmt  wurde. 
Darauf  hat  Burdach  hingewiesen  im  ersten  teile  seiner  abhandlung  'Über  den 
satzrhythiiuis  der  deutschen  prosa'  (Sitzungsberichte  d.  kgl.  preuss.  akademie  der 
Wissenschaften  1909,  520—535),  deren  fortsetzung  die  geschichte  dieses  auch  für 
die  deutsche  prosa  so  wichtigen  ausdrucksmittels  bringen  wird. 

GREIFSWALD.  G,   EHRISMANX. 


f 


I 


HIRSCH    ÜBER   HILLE,   DEUTSCHE   KOMÖDIE  491 

Die  deutsche  kouiödie  unter  der  einwirkung  des  Aristophanes  von 
Cart  Hille.  [Breslauer  beitrage  zui'  literaturgeschichte.  12.  lieft.]  Leipzig, 
Quelle  und  Meyer  1907.  VI,  180  s.  5,75  m. 
Als  eine  besondere  gattuug  des  deutschen  lustspicls  führt  Kurz  in  seiner 
rubrikeureichen  literaturgeschichte  («IV,  526)  das  aristophanische  au,  dessen  be- 
gründer  in  Deutschland  er  Platen  nennt.  Seinen  spuren  folgt  auf  das  getreueste 
Hille  in  seiner  Untersuchung,  die  in  breiterer  darstellung  die  autoren  vorführt, 
deren  bereits  Kiuz  gedacht  hat.  Nun  tut  man  Kurz  vielleicht  unrecht,  wenn  mau 
seine  stoffgeschichtliclien  Zusammenstellungen  kurzweg  von  sich  weist;  sie  geben 
immerhin  anhaltspunkte,  auf  denen  man  weiterbauen  kann.  Ihn  aber  als  einzig 
massgebende  quelle  zu  betrachten,  ist  kaum  möglich.  Gewiss  wird  eine  stoff- 
geschichtliche Untersuchung  niemals  allseits  befriedigen  können,  und  immer  wird 
sich  eine  mehr  oder  weniger  bedeutungsvolle  nachlese  ermöglichen  lassen.  Wenn 
es  aber  jemand  unternimmt,  die  deutsche  komödie  unter  cinwirkung  des  Aristo- 
phanes darzustellen,  wird  er  sich  vor  allem  darüber  klar  sein  müssen,  was  das 
heisst:  'einwirkung  des  Aristophanes'.  Hille  will  zunächst  jede  parodie  von  seiner 
abhandlung  ausgeschlossen  wissen  —  das  ist  ein  Standpunkt,  über  dpn  sich  dis- 
kutieren lässt.  Er  geht  dabei  aber  gleich  einen  schritt  weiter  und  schliesst  zum 
grössten  teile  auch  alle  politische  satire  aus.  So  fehlen  gerade  alle  die  stücke  in 
seiner  arbeit,  die  in  jeder  hinsieht  aristophanisch  sind.  Dadurch  verschiebt  sich 
aber  das  gesamtbild,  die  darstellung  wird  einseitig  und  orientiert  über  einen  sehr 
wichtigen  zweig  unserer  literatur  gar  nicht.  Wir  sind  nämlich  keineswegs  so  arm 
an  politischen  Satiren  in  dramatischer  form,  wie  es  nach  Hilles  ausführungen 
scheinen  müsste.  Wenigstens  einige,  die  H.  nicht  hätten  entgehen  dürfen,  seien 
liier  angeführt.  Die  politisch  bewegten  jalire  vor  der  niärzrevolutiou  und  bis  zur 
einigung  des  deutschen  reiches  haben  gar  manche  scharfe  politische  satire  gezeitigt. 
So  schrieb  Eduard  von  Bauern feld,  den  H.  überhaupt  nicht  nennt,  1844  'Die 
reichsversammlung  der  tiere',  ein  durchaus  aristophanisches  stück.  Die  tiere  bc- 
schliessen  eine  konstitution,  erwählen  einen  neuen  könig,  erküren  abgeordnete  usw. 
Formell  und  inhaltlich  ist  hier  der  einfluss  der  'Vögel'  mit  bänden  zu  gTeifen. 
1840  erschien  bei  Hoffmann  und  Campe  'Tyll  Eulenspiegel',  eine  aristophanisclie 
komödie  von  Friedrich  Rade  well,  die  Zeitereignisse  glossiert.  Der  'hegelnde' 
grübler  Faust,  der  gleichheitsprediger  Posa  u.  a.  werden  'verworfen'.  —  'Die  Ver- 
klärung der  liebe  oder  die  nachteuleu',  ein  anonymes  lustspiel  (Erlangen  1838),  soll 
nach  einem  berichte  von  Heils  'Abendzeitung'  (1838  nr.  11)  besonders  witzige  naclit- 
eulenchöre  enthalten.  Zu  Schillers  100.  geburtstage  (1859)  erschien  'Der  politische 
Jahrmarkt',  ein  fastnachtsspiel  von  Schillere  redivivo.  Alle  politischen  Vorgänge  der 
zeit  werden  in  einer  reihe  burlesker  szenen,  die  nach  art  der  Goethischen  \\'alpurgis- 
nacht  gestaltet  sind,  persifliert.  Die  personen  sprechen  lediglich  worte  aus  Schillers 
drameu  und  werden  durch  diese  vortrefflich  charakterisiert.  Auch  die  zeitungcn  treten 
auf  und  mischen  sich  in  die  debatten.  In  der  vorrede  nennt  sich  der  autor  '31.  Reimlein, 
poeta  laureatus';  das  stück  scheint  viel  erfolg  gehabt  zu  haben;  nocli  18t;3  ist  eine 
neuauflage  erschienen.  —  Am  stärksten  äusserte  sich  die  politische  satire  im  sturm- 
jahre  1848  in  Wien.  Namentlich  'der  Wiener  Aristophanes'  .Tohann  Nestroy.  den 
Hille  nur  als  parodisten  (!)  gelten  lässt  und  deshalb  völlig  aus  seiner  Untersuchung 
ausschliesst,  griff  mit  ein  paar  kecken  koraödien  in  die  bewegung  ein.  Seine  'Frei- 
heit in  Krähwinkel',  noch  heute  auf  dem  Wiener  und  Berliner  theater  lebendig, 
ist  eine  scharfe  politische  satire  auf  die  politischen  Vorgänge,  eine  posse  'Lady  und 


492  HIKSCII    ÜBER   HILLE,   DEUTSCHE   KOMÖDIE 

Schneider'  durch  die  gestalt  des  politisierenden  Schneidermeisters  Heugeign  jeden- 
falls stark  von  aristophanischem  geiste  durchsetzt.  Überhaupt  war  ja  in  Wien  die 
Sehnsucht  nach  aristophanischen  komödien  immer  sehr  lebhaft.  Am  besten  geht 
dies  wohl  aus  einem  dialog  hervor:  'Aristophanes  und  ein  Wiener  lokaldichter'. 
Verfasser  sind  Ludwig  August  Frau  kl  und  Adolf  Seh  mied  el,  die  in  diesem 
(Bauernfeld  gewidmeten  und  im  'Album  zum  besten  der  durch  die  Überschwemmung 
in  Böhmen  verunglückten'  abgedruckten)  Zwiegespräche  ihre  ansichten  über  das 
aristophanische  lustspiel,  wie  man  es  für  Österreich  erhoffte,  kundgeben.  Dass 
dieser  dialog  gerade  zu  Bauemfelds  43.  geburtstage  (1845)  erschien,  nach  der  auf- 
führung  seines  'Deutschen  kriegers'  im  Burgtheater,  ist  von  besonderer  bedeutung. 
Denn  von  ihm  erhoffte  man  die  heiss  ersehnte  neubelebung  des  deutschen  lustspiels, 
das  aus  der  durch  zensurrücksichten  hervorgerufenen  sphäre  der  flacliheit  und 
Seichtheit  emporgehoben  werden  sollte.  So  stellten  ihm  Fraukl  und  Schmiedel 
Aristophanes  als  nachahmenswertes  muster  hin,  das  zu  befolgen  er  nur  leider  aus 
materiellen  rücksichten,  um  seine  stücke  überhaupt  aufgeführt  zu  sehen,  nicht  imstande 
war.  (Vgl.  auch  'Briefe  aus  Wien'.  Von  einem  eingeborenen.  Hamburg,  Hoffmaun 
und  Campe,  1844.  II.  band,  s.  67  ff.  —  Ob  Bauernfelds  'Eeichsversammlung  der  tiere' 
nicht  von  der  bei  Goedeke  ^III,  1021,  §  338,  no.  1169,  2  genannten  , Konstitutionellen 
monarchie  der  tiere',  Ulm  1824,  abhängig  sei,  vermag  ich  nicht  zu  sagen,  da  mir 
dieses  werk,  dessen  Verfasser  Benedikt  von  Wagenraann  ist,  nicht  zugänglich  wurde.) 
Ausser  den  politischen  komödien,  deren  Charakterisierung  Hille  zum  grössten 
teile  unterlassen  hat,  gäbe  es  auch  sonst  noch  reichlich  viel  nachzutragen.  Über 
die  komödie  des  Aristophanes,  die  er  recht  dürftig  beschreibt,  hat  Arnold  Rüge 
(Gesammelte  Schriften  II,  92)  sehr  schätzenswerte  aufschlüsse  gegeben,  und  über 
eine  nachbildung  des  griechischen  komöden  in  Eosenkrantz  ,Zentrum  der  Speku- 
lation' derselbe  (a.  a.  o.  II,  147).  Über  dieses  stück  vgl.  ferner  'HalUsche  Jahr- 
bücher' 1840  nr.  186  und  Ruges  briefwechsel  I,  199.  Rüge  soll  selbst  eine  aristo- 
phanische komödie  'Die  liederlichen  vögel'  geschrieben  haben,  wie  Rosenki'antz  ('Aus 
einem  tagebuch',  Leipzig  1854,  seite  173)  behauptet.  Das  stück  ist  nicht  auf- 
findbar. —  Aristophanische  Wortzusammensetzungen  findet  mau  bei  alten  Wiener 
autoren  auf  schritt  und  tritt;  bei  Bäuerle  und  vor  allem  Nestroy  begegnet  man 
fügungen  wie  'modewarenverlagsniederlagsverschleisshändlerin'  dutzendemale.  Falsch 
ist,  was  Hille  über  die  nachahmungen  der  aristophanischen  'Lysistrata'  behauptet. 
Sie  setzen  nämlich  nicht  erst  mit  Anzengrubers  'Kreuzelschreibern'  ein ;  schon  1836 
hat  Friedrich  Genee  sein  'Königreich  der  weiber'  erscheinen  lassen,  eine  direkte 
nachbildung  des  griechischen  Originals.  In  diesem  königreich  herrschen  die  frauen, 
während  die  männer  alle  häuslichen  arbeiten  verrichten  müssen,  bis  endlich  einige 
Europäer  in  das  land  kommen  und  die  weiber  dazu  überreden,  den  mäunern  wenig- 
.stens  den  schein  der  herrschaft  zu  überlassen.  ~  Übrigens  ist  es  wohl  kaum  angängig, 
diese  nachbildungen  der  'Lysistrata',  wie  es  Hille  will,  als  'soziale  komödien'  zu 
bezeichnen.  Ein  soziales  problem  wird  nicht  aufgerollt,  da  ja  eine  eigentliche 
Satire  auf  die  frauenemanzipation  diesen  stücken  durchaus  abgeht.  —  Eine  andere 
Unordnung  und  übersichtlichere  disponierung  des  Stoffes  bei  Hüle  wünschte  man 
lebliaft.  Es  wäre  sicherlich  dankenswert  gewesen,  wenn  der  Verfasser  z.  b.  alle 
stücke,  die  Satiren  auf  das  theater  enthalten,  unter  einem  betrachtet  hätte.  So 
hätte  sich  recht  gut  eine  zusammenfassende  darstellung  des  raotivs  vom  'theater  im 
theater'  ergeben,  die  von  Hilles  thema  organisch  gar  nicht  weit  abseits  gelegen  ist. 

WIEN.  FRIEDIUCH    E.    HIRSCH. 


IJ.  51.  MEYEK   ÜBER    ZIMMERMANN,    GOETHE.S    E(;M()NT  493 

Ernst  Zimmermann,  Goe  thes  Egm  ont.  [Bausteine  zu  r  geschichte  dei- 
ne uerendeutsclienliteratur.  Herausgeg.  von  Fr.  Saran.  Bd.  L]  Halle  a.  S., 
Niemeyer  1909.    XII,  161  s.    3  m. 

Der  herausgeber  kündigt  eine  Sammlung  an,  deren  arbeiten,  wo  es  irgend 
angeht,  nicht  hei  der  behandlung  der  philologischen  probleme  stehen  bleiben,  sondern 
darüber  hinaus  den  gedankengehalt  der  untersuchten  werke  erschöpfend  heraus- 
arbeiten und  in  die  geistige  bewegung  der  zeit  hineinstellen  sollen.  Für  diese  gewiss 
erfreulichen  tendenzen  gibt  dies  erste  stück,  zumal  im  ersten  sinne,  eine  gute  probe. 
Den  Egmont  in  die  geistige  bewegung  der  zeit  hineinzustellen,  hat  Zimmermann 
wohl  aucli  versucht;  im  ganzen  aber  leidet  das  buch  doch  darunter,  dass  das  gedieht 
zu  sehr  isoliert  wird;  nicht  einmal  für  Brackenburg  wird  (s.  62)  auf  eine  parallel- 
figur  wie  Bnenco  hingewiesen.  Vielmehr  bleibt  die  hauptabsicht  die,  den  gedanken- 
gehalt herauszuarbeiten.  Hierfür  leistet  die  arbeit  wichtiges,  obwohl  zu  demjenigen 
mass  von  superioritätsgefühl  gegenüber  früheren  Egmontbeurteilungen,  das  die 
eiuleitung  hervorkehrt,  kaum  genügend  Ursache  ist;  selbst  wenn  wir  von  dem  voi-- 
gang  Schrempfs,  den  Zimmermann  anerkennt,  absehen. 

Hier  zeigt  sich  nämlich  eine  gefährliche  neigung,  jenes  'reinliche  aufteilen', 
das  für  Kuno  Fischers  literarische  darstellungen  so  bezeichnend  war,  zu  erneuern. 
Zimmermann  geht  von  einem  nationalen  kontrast  aus :  hie  Spanier  —  hie  Nieder- 
länder. Zwischen  beiden  stehen  dann  Vermittlungsfiguren,  bis  in  Ferdinand  gleichsam 
die  beiden  kreise  sich  berühren.  Jene  beiden  koUektivindividualitäten  aber  sucht  er 
Ijis  ins  einzelnste  zu  kontrastieren.  Das  fülirt  zu  wunderlichen  konsequenzen.  Die 
Spanier  sind  nämlich  dann  doch  wieder  eigentlich  nur  geschöpfe  Albas  (s.  58),  so 
dass  der  nationale  gegeusatz  eigentlich  auf  den  zwischen  Alba  und  den  Xiederländern 
beschränkt  wird.  "Wichtiger  aber  ist  die  frage,  ob  wir  wirklich  mit  Zimmermann 
diese  nationale  Verschiedenheit  als  das  prius  ansehen  dürfen.  Sie  wird  durch  Stradas 
Charakteristik  (s.  145  f.)  gestützt.  Aber  sollte  Goethe  wirklich  durch  solche  probleme 
der  historischen  psychologie  augeregt  sein?  Ist  nicht  das  urproblem  die  psycho- 
logische Stufenleiter,  deren  typen  eben  an  den  nationalen  nur  exemplifiziert  werden  ? 
Goethe  veranschaulicht  seelische  strukturen  an  Egmont  und  Alba,  an  Niederländern 
und  Spaniern,  wie  Shakespeare  an  Römern  und  Vejenteru,  wie  Grillparzer  an 
Hellenen  und  Kolchern.  Diese  anschauung,  scheint  mir,  stimmt  allein  zu  Goethes 
dichterischer  praxis,  und  sie  stimmt  auch  allein  zu  der  entstehung  des  Egmont, 
mag  man  nun  die  szene  zwischen  Egmont  und  Orauien,  oder  die  zwischen  Egmont 
und  Alba  (s.  108)  als  den  kern  des  dramas  auffassen. 

Vor  allem  handelt  es  sich  ja  um  die  beurteilung  der  hauptfigur.  Kein  drama 
Goethes  wird  so  unbedingt  von  einer  gestalt  beherrsclit.  Schon  das  spricht  dafiii-, 
dass  Egmont  eine  ausnalimestellung  hat,  eben  als  Vertreter  des  dämonischen.  Zimmer- 
mann möchte  aber  nach  einer  dankenswerten,  doch  unergiebigen  Zusammenstellung 
aller  belege  für  dies  wort  (s.  90 f.)  Goethes  darstellung  aus  'Dichtung  und  Wahrheit', 
die  das  Schauspiel  ganz  auf  diesen  begriff  stellt,  abweisen.  Indessen  kommt  seine 
eigene  darstellung,  soweit  sie  das  wesen  Egmonts  betrilft,  fast  auf  das  gleiche 
hinaus.  Nur  die  beurteilung  scheint  mir  höchst  ungoethisch;  das  unbedingte 
durchsetzen  der  Persönlichkeit  ist  in  keiner  epochc  Goethes  ideal  gewesen,  sicher 
aber  nicht  mehr  nach  'Götz'  und  'Werther'.  So  kann  ich  denn  auch  durchaus  nicht 
finden,  dass  mit  dem  schluss  des  'Egmont'  der  zusammenbrucii  der  Spanier  erfolgt 
(s.  82).   Gewiss  zeigt  der  dichter  Sympathie  mit  den  Niederländern  (s.  81),  aber  von 


494  lt.  :\i.  MEVER 

einem  kämpf  um  die  toleranz  (s.  129)  sollte  man  doch  in  einem  Schauspiel  nicht 
iiprecheu,  das  gerade  den  Unterdrücker  Alba  so  oft  meiuungen  Goethes  aussprechen  lässt. 
Auch  sonst  führt  das  Schema  zu  gewaltsamkeiteu  oder  zu  Widersprüchen ; 
Margarete  soll  eine  amazone  sein  und  doch  eine  edle,  weibliche  natur  (s.  74).  Viel 
ergebnisreicher  ist  die  Untersuchung,  wo  sie  sich  an  äussere  tatsachen  hält,  ohwohl 
auch  die  entstehuugsgeschichte.  (s.  112  f.)  mit  bedenklichen  Vermutungen  (s.  120)  operiert 
und  die  betrachtung  der  fremden  einflüsse  (s.  121  f.)  von  jener  grundauffassuug  be- 
herrscht ist.  Eine  Vertiefung  der  probleme  aber  wird  man  auch  da,  wo  man  am 
■entschiedensteu  abweicht,  gern  und  dankbar  anerkennen. 

BERLIN.  RICHARD   M.  MEYER. 


W.  Bode,  Charlotte  v.  Stein.  Berlin,  Ed.  Mittler  &  söhn  1910.  XXVI,  628  s. 
7,50  m. 

Ein  sonderbares  buch !  Wer  hat  sich  in  die  altweimarischen  realien,  in  das 
-anekdotische  der  Goethezeit,  in  die  private  Weltgeschichte  des  grosslierzogtums 
tiefer  eingelesen  als  Bode  ?  Eine  ,Jeua-Weimarische  kulturgeschichte  sollte  er  schreiben, 
und  hat  sie  mit  dem  buch  über  Amalie  zum  teil  schon  geschrieben.  Seine  'Stunden 
mit  Goethe'  sind  reich  an  den  überraschendsten  funden  —  kleinen  funden  zumeist, 
-die  aber  ganze  partien  hell  beleuchten.  Seine  auszüge  aus  Goethes  schriften,  seine 
reisebücher  durch  einzelne  provinzen  des  universalsten  geistes  haben  gewiss  ver- 
dienstlich dazu  beigetragen,  für  Goethe  und  seine  gedankenweit  zu   werben. 

Und  nun  setzt  sich  dieser  selbe  Wilhelm  Bode  hin,  schlüpft  in  das  gewand 
der  frau  von  Stein  und  schreibt  ihre  posthume  autobiographie,  aber  in  einem  sinne 
leider,  der  den  thörichten  angriffen  Eduard  Engels  auf  Goethes  freundin  ebensoviel 
Vorschub  leisten  wird,  als  er  ihnen  boden  entziehen  wollte.  Es  ist  nur  gut,  dass  da 
(nach  Engels  terminologie)  zwei  'literarhistoriker'  streiten ;  wäre  einer  —  horribile 
dictu!  —  ein  philologe,  wie  würde  der  andere  über  ihn   herfallen! 

Bode  hat  nämlich  nicht  etwa  (ien  Standpunkt  der  geliebten  des  dichters  ein- 
genommen —  wer  wollte  ihm  das  nicht  verzeihen!  — ,  sondern  durchweg  den  der 
verlassenen,  verbitterten  Dido.  Nicht  um  ein  grau  weniger  verärgert  schreibt  er 
als  sie.  Allen  ernstes  spricht  er  (s.  .580)  über  den  dichter  des  'Faust'  die  ewig- 
denkwürdigen  Urteilsworte:  'Er  war  nicht  ganz  der  mann  geworden,  den  Charlotte 
einst  aus  ihm  bilden  wollte ;  aber  er  stand  doch  als  ein  erhöhter  da,  der  über  alle 
andern  im  reiche  der  geister  hoch  hinweg  dachte.'  Wir  müssen  uns  also  wirklich 
freuen,  dass  er  es  immerhin  noch  so  weit  gebracht  hat ;  viel  ist  freilich  von  dem 
'verwelschten  Goethe'  (s.  205)  in  seinem  'verhärteten,  gleichsam  versteinerten 
zustande'  (s.  536)  nicht  zu  fordern.  Er  war  der  'treuen  arbeit  vor  seiner  italienischen 
reise'  untreu  geworden  (s.  300)  und  (vgl.  s.  294)  in  die  gewalt  so  roher  menschen 
wie  Schillers  geraten  —  der  sich  über  eine  geistige  erkrankung  zwar  viel  vor- 
sichtiger äussert  als  Charlotte  'in  ihrer  spräche'  (s.  418),  aber  als  einer  der  schönen 
geister  an  sich  verdächtig  ist  (vgl.  s.  417).  Allen  ernstes  eignet  sich  Bode  all 
diese  meinungen  der  von  leben  und  liebe  enttäuschten  an  und  hat  auch  für  Goethes 
'herumbessern  an  verschiedenen  akademischen  anstalten'  (s.  300)  nur  ein  mitleidiges 
achselzucken.     Goethe    aber,   dessen    entschlossene    selbstbefreiung   nach   Italien  ja 


ÜBER    BODE,    CHARLOTTE    V.    STEIN  495 

gerade  (leu  wichtigsten  anklagepunkt  bildet,  hat  mit  seiner  ehemaligen  freimdin 
eigentlich  nur  eins  gemein  —  dass  'er  auch  alles  andere  leichter  herausbrachte  als 
einen  eutschluss'  (s.  379).  Wie  hübsch  von  ilir,  dass  sie  sich  demungeachtet 
wieder  auf  den  weg  zur  freundschaft  begab,  indem  sie  'sehi-  zufrieden' berichtete : 
'Es  ist  doch  schade,  dass  der  Goethe  in  so  dummen  Verhältnissen  steckt;  er  hat 
verstand  und  eine  seite  von  bonhommie,  und  nur  sein  dummes  häusliches  Verhältnis 
hat  ihm  etwas  zweideutiges  im  charakter  gebraclit'  (s.  376).  Dies  scheint  gegen- 
wärtig auch  des  herausgebers  der  'Stunden  mit  Goethe'  urteil  über  den  frivolen 
Verfasser  des  'Egmont'  (vgl.  s.  261)  zu  sein. 

Aber  der  eigensinn,  mit  dem  er  die  weit  durch  das  wahrlich  nur  zu  sehr  im 
engen  sinne  'weit-  und  erdgemässe  organ'  einer  verdriesslichen,  von  ihren  eigenen 
kindern  vorsichtig  gemiedenen,  nach  seiner  eigenen  darstellung  für  ihren  söhn 
Fritz  und  gegen  Karl  blind  eingenommenen,  eigensinnigen  alten  hofdame  beschaut, 
trifft  nicht  nur  den  dichter,  dem  die  junge,  hoffende,  dem  leben  noch  offene  mutter 
viel  versprechender  kinder  einst  die  Verkörperung  der  harmonischen  lebensshaltung 
gewesen  war.  Mit  der  ganzen  ranküne  einer  alten  hofdame  verfolgt  er  auch  die 
nichte  Amalie  v.  Imhoff  und  stellt  sie  etwa  (s.  423)  in  folgender  geschmacln'oller  weise 
der  taute  gegenüber:  'Eine  wahrhaftige  alte  frau  speit  dergleichen  süssigkeit  aus, 
um  sich  nicht  den  magen  zu  verderben ;  eine  zur  affektiertheit  neigende  Jungfrau 
findet  sie  wohlschmeckend.  .  .  .' 

Es  ist  ganz  klar:  indem  Bode  sich  allzulang  unter  den  Schardts  und  Steins 
und  aller  kleinlichen  hofmisere  herumgetrieben  hat,  ist  er  auf  den  Standpunkt 
etwa  von  Charlottens  treuem  alten  diener  Schach  herabgesunken  oder  mindestens 
auf  den  der  medisance  in  teekränzen,  die,  altjüngferlich  über  'dies  widenvärtige 
herabsinken  der  liebe  aus  himmelshöhen  in  die  tierische  leibesnotdurft'  (s.  76) 
denkend,  verzichtet  und  sich  dann  damit  entschuldigt,  dass  'der  sittliche  mensch 
Pessimist  werden  muss'  (S.  566). 

So  kann  leider  das  starke,  hübsch  illustrierte  bucli  nur  nach  seinem  urkund- 
lichen Inhalt  bewertet  werden.  Hier  haben  wir  für  reichliche  und  auch  wohl  allzu 
reichliche  uachrichten  über  alle  personen,  die  mit  Charlotte  verwandt  waren  oder 
über  ihre  schwelle  traten,  und  für  übersichtliche  Stammbäume  zu  danken,  für 
glücklich  verwertete  briefstellen  (Knebel  über  frau  v.  Stein  s.  187,  Amalia  v.  Imhoff 
über  Charlotte  s.  312,  Schillers  urteil  s.  402),  für  hübsche  aufgedeckte  auffinduiigeii 
(die  korkweste  und  der  Schwimmunterricht  s.  160 ;  die  'Guten  weiber'  s.  266),  für 
da?  aufspüi-en  mündlicher  traditionen  (s.  575  anm.).  Hin  und  wieder  wären 
erklärungen  wünschenswert  gewesen,  wie  dass  die  'Hausmutter'  (s.  177)  eine  famose 
altmodische  enzyklopädie  der  häuslichen  staatsvenvaltung  ist  (ich  besitze  sie) ;  oder 
es  laufen  Irrtümer  unter,  die  wenig  schaden,  wie  dass  (s.  309)  das  im  binnenland 
Liegende  Dobberan  statt  Heiligendamm  'zum  seebad  eingerichtet'  worden  sein  soll.  Alier 
was  liabeu  solche  quisquilien  zu  bedeuten  gegen  die  energie,  mit  der  eine  sdiöne 
aufgäbe  verfehlt  ist:  bei  so  gründlicher  kenutnis  der  Urkunden  auch  über  die  seele 
etwas  zu  lernen  und  zu  lehren.  Und  schliesslich  scheint  es  uns,  als  läge  in  dieser 
niedrig  greifenden  art,  einen  Goethe  und  seine  entwicklung  zu  beurteilen,  eine 
schlimmere   beleidigung   Charlottens   v.   Stein   als   in   Engels   launischen   angriffen! 

BERLIN.  Iil(  IIAIM)    M.    M  i:VKI!. 


490  üiKsK 

Eduard  liercud,  Jean  Pauls  ästhetik.  [Forschungen  zur  neueren  literatur- 
geschichte  von  Franz  Muncker,  XXXV.]  Berlin,  Alex.  Duncker  1909.  XV, 
294  s.     13,60  m. 

Diese  Münchner  doktordissertation  ist  eine  gediegene  und  nützliche  arbeit. 
Es  ist  eigentlich  schwer  zu  verstehen,  dass  eine  der  bahnbrechendsten  schritten 
•Jean  Pauls  —  und  das  ist  ohne  zvveifel  die  'Vorschule  der  ästhetik'  —  bisher  eine 
Sonderuntersuchung  nicht  erfahren  hat.  Während  die  Levana  immer  wieder  ein 
lebhaftes  Interesse  geweckt  und  noch  kürzlich  neue  darstelkmgen  (z.  b.  von  Münch) 
erfahren  hat,  ist  die  Vorschule  ohne  bearbeiter,  wenn  auch  nicht  ohne  herausgeber 
(wie  Wustmann)  geblieben.  Und  doch  hat  sie  grossen  einfluss  auf  die  entwicklung 
der  ästhetik  ausgeübt;  vor  allem  verdankt  ihr  bisher  noch  unerreichter  meister, 
Fr.  Th.  Vischer,  Jean  Pauls  anregungen  sehr  viel. 

Der  Verfasser  hat  sich  mm  nicht  darauf  beschränkt,  die  ästhetik  Jean  Pauls 
aus  der  'Vorschule'  allein  abzuleiten,  wie  man  es  hinsichtlich  der  pädagogik  bei 
der  Levana  getan  hat,  sondern  er  hat  sich  weiter  umgesehen.  Wenngleich  Jean 
Paul  in  der  Vorschule  so  ziemlich  den  ganzen  schätz  seiner  ästhetischen  ausichten 
niedergelegt  und  dabei  selbst  schon  den  sammler  gemacht  hat,  d.  h.  alles,  was  sich 
in  seinen  früheren  werken,  briefen,  Studienheften  usw.  an  bemerkungen  über  ästhetik 
fand,  zusammengetragen  hat,  so  ist  der  Verfasser  mit  rühmlichem  eifer  bestrebt 
gewesen,  fi'ühere  oder  spätere  äusserungen  zur  ergänzung  und  erläuterung  heran- 
zuziehen, namentlich  auch  zum  nachweis  von  meinungsentwicklungen  und  meinungs- 
änderungen,  die  man  dem  dichter  sehr  mit  unrecht  abgestritten  hat.  Jean  Paul  ist 
auch  in  dieser  hinsieht  ein  Proteus  von  erstaunlicher  wandlungs-  und  anpassungs- 
fähigkeit.  Vor  allem  ergab  die  durchsieht  der  handschriftlichen  vorarbeiten,  beson- 
ders der  aphoristischen  'Ästhetischen  Untersuchungen',  viel  unerwartetes  material, 
und  zwar  oft  in  ursprünglicherer,  reinerer  und  klarerer  gestalt.  So  weicht  denn 
auch  die  darstellung  in  Inhalt  und  anordnuug  von  der  Vorschule  ab  und  füllt  lücken 
dieser  aus,  klärt  duukelheiten,  löst  Widersprüche.  Nicht  minder  wertvoll  als  diese 
systematische  darstellung  —  bei  der  man  über  die  anordnuug  im  einzelnen  streiten 
könnte  —  ist  die  geschichtliche  betrachtung,  die  sich  mit  jener  verbindet;  es  galt, 
die  ästhetischen  anschauungen  Jean  Pauls  in  den  allgemeinen  historischen  Zusammen- 
hang einzureihen  und  durch  vergleich  mit  denen  seiner  Vorgänger  und  Zeitgenossen 
in  die  rechte  beleuchtung  zu  rücken,  wobei  freilich  nicht  immer  über  ursprünglich- 
keit und  abhängigkeit  zu  gericht  gesessen  werden  kann.  Gerade  in  jener  romanti- 
sierenden und  so  unendlich  ideenreichen  zeit  ist  es  oft  unmöglich,  festzustellen, 
welchem  geist  zuerst  dieser  oder  jener  gedankenblitz  entsprungen  ist.  Hinzu  kommt 
erschwerend  die  ungewöhnliche  belesenheit  Jean  Pauls,  sowie  die  ausserordentliche 
geschicklichkeit,  mit  der  dieser  wortvirtuose  und  metaphernjongleur  überkommeneu 
gedanken  ein  neues  gepräge  zu  geben  versteht.  Eecht  tut  der  Verfasser  auch  darin, 
dass  er  zur  Vervollständigung  seines  bildes  auch  solche  werke  in  den  kreis  der 
betrachtung  hineinzieht,  die  Jean  Paul  gar  nicht  bekannt  sein  konnten,  wie  Schel- 
lings  und  Wilhelm  Schlegels  ästhetische  Vorlesungen,  Schillers  und  Goethes  briefe 
und  gespräche  usf.  Die  frage  nach  Jean  Pauls  Vorgängern  findet  im  2.  kapitel 
durch  eine  Zusammenstellung  der  urteile  Jean  Pauls  über  einzelne  ästhetiker  ihre 
beantwortung,  nicht  minder  aber  auch  in  der  sehr  ergiebigen  einleitung,  wo  Jean 
Pauls  Parteinahme  in  dem  literarisch-ästhetischen  streite  während  der  perioden  des 
rationalismus,  der  Sentimentalität  und  der  reife  dargelegt  wird.  Das  hineinspielen 
der  theorie  in  die  praxis,  den  widerscliein  der  gedanken  in  dem  schaffen  selbst  auf- 


ÜBER   KEREND,    JEAX   PAULS   ÄSTHETIK  497 

zuweisen,  behält  sich  der  Verfasser  für  eine  andere  arbeit  vor;  hier  musste  er  sich 
mit  flüchtigen  hinweisen  begnügen. 

Das  ergebnis  der  Voruntersuchungen  ist,  dass  Jean  Paul  einer  bestimmten 
partei  nie  angehört  hat,  wie  dies  so  art  der  humoristischen  dichter  is<t.  Er  bahnte 
den  neuen  (romantischen)  geistern  den  weg,  barg  aber  in  sich  auch  wieder  so  viele, 
widerstreitende  demente,  dass  ein  zusammenprall  unausbleiblich  war.  Jean  Pauls 
ziel  war  und  blieb  die  herstellung  eines  gleichgewichts  zwischen  den  beiden  wag- 
schalen des  alten  und  des  neuen,  vor  allem  aber  der  poesie  und  der  prosa.  Der 
Schüler  Hamanns  und  Jacobis  spürte  iu  sich  die  Vorherrschaft  des  gefühls,  nach- 
dem er  den  nüchterneu  rationalismus  überwunden  hatte,  und  die  lösung  der  auf- 
gäbe, eine  durchgreifende  'Vereinheitlichung',  konnte  einer  solchen  natur,  die  der 
fleischgewordene  Widerspruch  war,  nicht  gelingen.  —  Die  'Vorschule'  ist  im  gründe 
genommen  nur  eine  poetik,  und  auch  das  ist  noch  einzuschränken,  da  Jean  Paul 
für  das  grosse  epos  und  die  tragödie  keinen  rechten  sinn  hatte. 

Die  darstellung  Bereuds  ordnet  sich  nach  folgenden  kapitelu:  Das  schöne. 
Poesie  und  Wirklichkeit.  Stoff  und  form.  Objektivität  und  Subjektivität.  All- 
gemeinheit und  besonderheit.  Wahrscheinlichkeit,  Wahrheit,  wunder.  Kunst  und 
Sittlichkeit.  Das  genie.  Der  witz.  Griechisch  und  romantisch.  Die  dichtungs- 
arten.  Fabel  und  charakter.  Das  lächerliche  und  das  erhabene.  Der  humor. 
Arten  des  komischen.     Darstellung. 

Was  die  eigenart  Jean  Pauls  bestimmt,  das  ist  die  wunderbare  mischung 
von  Phantasie  und  witz,  von  gefühl  und  verstand.  Das  gibt  ihr  das  schillernde. 
Aber  wenn  es  auch  der  ästhetik  an  systematischem  knochengerüst  fehlt,  so  ist  doch 
eine  gewisse  einheit  durch  die  grossartige  eigenart  des  genialen  mannes  gegeben. 
Und  genial  sind  die  auregungen,  die  er  iu  reichem  masse  über  das  wesen  der 
Phantasie  oder  der  inneren  und  äusseren  form,  über  geuie  und  witz  usw.  aus- 
gestreut hat;  es  bedurfte  jedoch  immer  einer  eisernen  energie,  um  die  Übermacht 
der  Phantasie  einzudämmen;  wir  sehen  ihn  ringen  zwischen  den  extremen,  den 
Widersprüchen,  zwischen  Objektivität  und  Subjektivität,  rationalismus  und  romantik, 
Schönheit  und  Sittlichkeit  (er  nennt  sie  'nahe  verwandt'),  zwischen  genie  und  kritik. 
Besonders  wichtige  gesichtspunkte  gewann  er  für  das  metaphorische  in  der  spräche 
und  Phantasie,  für  das  idyllische  und  vor  allem  für  das  komische  und  den  humor. 
Diesen  begriff  erhob  er  auf  die  ihm  gebührende  höhe  und  erschloss  das  problem 
des  komischen  der  philosophischen  Spekulation.  Denn  was  vor  Jean  Paul  über  den 
humor  gesagt  wurde,  war  ganz  unzulänglich.  Er  sah  ihn  als  eine  Weltanschauung 
an,  die  auf  dem  unauflöslichen  Widerspruch  des  bedingten  und  des  unbedingten 
ruht;  der  humor  gründet  sich  auf  eine  ernste,  ja  tragische  lebeusauffassung;  er  ist 
die  frucht  einer  langen  Vernunftkultur;  er  begehrt  einen  pliilosophiscli  gebildeten 
geist,  der  alles  sub  specie  aeterni  betrachtet.  So  oft  jedoch  Jean  Paul  auch  den 
unterschied  zwischen  satirischem  und  versöhntem  humor  andeutet,  so  hat  er  doch 
beide  nicht  klar  auseinanderzuhalten  vermocht,  weil  in  ihm  selbst  beide  Welt- 
anschauungen miteinander  im  kämpfe  lagen. 

Den  anhang  der  gediegenen  sclirift  bikbm  eine  abiiandlung  über  die  ent- 
st(^Iiung  der  Vorschule  und  ein  auszug  aus  ungedruckten  eintragen  zu  den  'Ästhe- 
tischen Untersuchungen'. 

NEUWIED.  AI>I'l!Kn   BIESE. 


ZEITSCHRIFT  F.   DEUTSCHE  PHILOLOGIE.     BD.  XLH.  33 


498  V.    MEVKi;    ÜBER   SENtJEK,    DER   BILDLICHE   AVSDRUCK   BEI   H,  V.  KLEIST 

Joachim  Henry  Senger,  Der  bildliche  ausdruck  iu  den  werken  Heinrich 
von  Kleists.  [Teutouia,  arbeiten  zur  germanischen  philologie  herausg.  von 
Wilh,  Uhl.     8.  lieft]     Leipzig.  Ed.  Avenarius  1909.     Y,  67  s.     2  m. 

Der  Verfasser  ist  zwar  überzeugt,  'dass  literaturgeschichte  nie  und  nimmer 
eine  exakte  Avissenschaft  sein  kann',  vermag  sich  jedoch  'nicht  des  eiudrucks  zu  er- 
wehren, dass  in  der  vergleichung  der  von  autoren  gebrauchten  bildersp räche 
immerhin  ein  anhält  geboten  sein  dürfte,  um  zu  Schlüssen  zu  gelangen,  die  einiger- 
massen  objektives  gepräge  aufweisen  (s.  IV).  Unter  diesem  gesichtspunkte  ist  die 
vorliegende  arbeit  zu  beurteilen.  Zum  erstenmal  systematisch  durchgeführt  in 
Blümners  abhandhmgen  über  die  spräche  Bismarcks,  ist  die  methode  der  Unter- 
suchung und  vergleichung  des  bildlichen  ausdrucks  inzwischen  gemeingut  der  philolo- 
gischen Wissenschaft  geworden ;  auch  Sengers  arbeit  stellt  sich  dar  als  frucht  dieser 
methodischen  anregungen.  Wenn  jedoch  der  Verfasser  meint,  damit  eine  ergiebi- 
gere methode  anzubahnen,  als  sie  bisher  in  der  literaturvrissenschaft  üblich  gewesen 
ist,  so  muss  man  sich  bewusst  bleiben,  dass  man  damit  noch  keine  literaturge- 
schichte macht,  sondern  nur  einen  kleinen  teil  dieser  aufgäbe  löst.  Der  Verfasser 
selbst  hat  lediglich  die  absieht,  dem  forscher  zum  zweck  der  lösung  dieses  teils 
der  aufgäbe  mit  einigen  grundlegenden  materialien  an  die  band  zu  gehen.  "Was 
er  bringt,  ist  eine  Sammlung  der  bildlichen  ausdrücke  in  den  werken  H.  v.  Kleists 
(einschliesslich  der  briefe),  lexikalisch  angeordnet,  numeriert  und  klassifiziert  nach  den 
gebieten,  denen  die  bilder  entnommen  sind  (tierreicli,  pflanzenreich,  mineralien,  leb- 
lose dinge,  mensch,  töne,  krieg  usw.)  Er  bietet  das  material  nur  dar,  ohne  zur  Ver- 
arbeitung und  vergleichung  vorzuschreiten.  Was  er  indessen  über  die  eigenart  der 
Kleistschen  bildersprache  sagen  zu  können  glaubt,  ist,  'dass  seine  bilder  vorwie- 
gend rhetorischer  art  sind  und  selten  den  zauber  unmittelbarer  anschauung 
ausüben,  der  ein  erstes  erfordernis  wirklich  poetischer  "närkung  ist'  (s.  V.)  Dass 
trotzdem  die  durch  das  elementare  feuer  dieses  genius  bewirkte  innere  bewegtheit 
seiner  dichtung  die  fatale  Wirkung  des  rhetorischen  nicht  aufkommen  lässt,  bezeugt 
die  'ausschlaggebende  dramatische  kraft  seines  geistes  (ebd.)',  die 
seinen  werken  den  Stempel  aufdrückt. 

Die  klassifizierende  anorduung  der  bilder  erscheint  in  der  zweiten  hälfte 
reichlich  kunterbunt,  wie  denn  auch  hier  die  disposition  versagt,  respektive  fehlt. 
3Iän  sieht  nicht  ein,  warum  der  Verfasser  es  unterlässt,  dem  reiche  der  tiere,  pflanzen 
und  mineralien  das  reich  des  menschen  beizuordnen  (und  zu  gliedern  nach  den 
geistigen  und  körperlichen  eigenschaften  des  menschen,  tätigkeiten,  produkten  der 
geistigen  und  mechanischen  arbeit,  geschichte  usw.)  und  statt  dessen  diese  gegebene 
eiuheit  zeiTcisst  und  mit  fremden  dingen  untermischt.  Hiervon  abgesehen  aber  er- 
füllt die  arbeit  ihren  zweck  in  vorbildlicher  weise,  zumal  die  mängel  der  disposition 
durch  ein  Wortregister  ausgeglichen  werden;  ein  Verzeichnis  der  ausgezogenen 
stellen  ermöglicht  eine  vergleichende  benutzung. 

Wenn  der  Verfasser  wünscht,  seine  arbeit  möge  der  anlass  werden,  mit  der 
systematischen  behandluug  der  bildersprache  der  autoren  einer  strengeren  methode 
die  nötigen  grundlagen  zu  schaffen,  so  ist  diesem  wünsche  in  der  arbeit  der  deutschen 
Universitätsseminare  schon  reiche  saat  entgegengereift. 

ALTOXA    (ELBE).  C.   MEYER. 


THUMB  ÜBER  GERINGER,  VER.SPRECHEN,  KIXDERSPRACHE,  NACHAHMUNGSTRIEB        499 

R.  Mt'ringer,  Aus  dem  leben  der  spräche.  Versprechen,  kindersprache, 
na  chahmuDiis  trieb.  Festschrift  der  k.  k.  Karl-Frauzensuuiversität  in  Graz 
aus  aulass  der  Jahresfeier  am  15.  november  1906.  Berlin,  Behrs  vorlag  1908. 
XVIII,  244  s.         8  m. 

Der  Untertitel  deutet  den  inlialt  der  drei  'hauptstücke'  des  Werkes  an.  Das 
buch  ist  aus  der  'freude  am  beobachten'  entstanden  und  bietet  eine  fülle  von 
material  zu  den  erscheinungen  des  Versprechens  und  zur  kindersprache ;  nur  der 
letzte  abschnitt  (s.  231  ff.)  ist  vorwiegend  raisounement,  besonders  über  die  natur 
und  die  Ursache  des  lautwandels.  Der  Verfasser  betont  mit  recht  den  engen 
Zusammenhang  des  Sprechens  mit  allen  übrigen  psychischen  lebensäusserungen,  den 
einfluss  des  volkscliarakters  auf  die  spräche.  Aber  man  vermisst  doch  in  den 
erörterungeu  über  lautwandel  und  lautgesetz  e])en  das,  was  in  den  übrigen  kapiteln 
die  hauptsache  ist:  positive  tatsacheu  und  beobachtungen.  Das  wort  des  Verfassers 
'man  beobachtet  zu  wenig  und  pliantasiert  zu  viel'  (s.  238)  gilt  gerade  von  dem 
Inhalt  des  letzten  kapitels,  aus  dem  man  wohl  anregungcn  gewinnen  kann,  das 
aber  ebenso  zum  Widerspruch  reizt. 

Das  zweite  kapitel  l)eschäftigt  sich  mit  einem  gegenständ,  der  in  den  letzten 
Jahren  intensiv  studiert  worden  ist,  mit  der  kindersprache,  über  welche  wir  eine 
ausgezeichnete,  an  exakten  beobachtungen  reiche  und  kritisch  zusammenfassende 
monographie  von  Stern  besitzen.  In  5  'kiuder])iographien'  (s.  145—206)  teilt  M. 
neues  material  mit,  das  freilich  nicht  so  methodisch  und  exakt  wie  bei  Stern 
gesammelt  ist,  auch  keine  neuen  tatsachen  zutage  fördert,  aber  eine  nützliche 
nachlese  zu  dem  schon  bekannten  Stoffe  bildet:  je  mehr  material  herbeigeschafft 
wird,  desto  sicherer  werden  wir  das  typische  und  individuelle  in  der  entwicklung 
der  kindlichen  spräche  untersclieiden  und  desto  sicherer  die  allgemeinen  entwieklungs- 
gesetze  gewinnen  können,  die  ihrerseits  erst  die  basis  für  die  erörterung  allgemein 
sprachwissenschaftlicher  probleme  bilden.  Der  jetzt  ziemlich  herrschenden  ansiclit, 
dass  die  kindersprache  im  wesentlichen  unter  dem  einfluss  der  kindlichen  Umgebung 
zustande  komme,  scliliesst  sich  auch  M.  an  (s.  206 ff.)  und  betont,  den  jüngsten 
forschei-n  folgend,  den  'emotionell-volitionalen'  Charakter  der  frühesten  kindersprache. 
Hinsiclitlich  des  biogenetischen  (phylogenetischen)  grundgosetzes  von  Haeckel  oder 
—  vorsichtiger  ausgedrückt  —  hinsichtlich  der  frage,  ob  die  entwicklung  der  kinder- 
sprache mit  derjenigen  der  menschlichen  spräche  in  parallele  zu  setzen  sei,  verhält 
sich  M.  vor  allem  gegenüber  Ament,  aber  auch  gegenüber  Stern  ablehnend;  ich  gehe 
nicht  so  weit  wie  M.,  wofür  ich  auf  meine  besprechung  des  buches  von  Stern 
(IF.  anz.  XXVII,  1  ff.)  verweise.  M.s  scharf  al)lelmende  worte  s.  223  scheinen  mir  einiger- 
massen  im  Widerspruch  zu  stehen  zu  des  Verfassers  bemerkungen  über  die  kindor- 
reduplikation  (s.  216):  daran  kann  doch  nicht  ernsthaft  gezweifelt  werden,  dass  in 
der  reduplikation  der  kinder-  und  der  vollsprache  eine  wirkliche  genetische 
parallele  vorliegt.  Wenn  ich  daher  in  diesen  dingen  M.  nicht  ganz  zustimme,  so 
bin  ich  doch  ganz  mit  ihm  einverstanden  in  einem  andern  punkt,  wo  er  einer  all- 
gemein üblichen  oder  wenigstens  sehr  verbreiteten  ajisicht  widerspricht,  'dass  die 
tatsache  der  immer  währenden  Veränderung  der  sprachen  ihren  grund  darin  habe, 
dass  die  sprachen  auf  immer  neue  generationen  von  kindcrn  übertragen  werden' 
(s.  224);  so  ist  im  besonderen  M.s  Überzeugung,  'dass  die  lautlichen  Veränderungen 
der  spräche  nicht  von  den  kinderu  herrühren'  (s.  228),  er  hält  den  jüngst  von 
E.  Herzog  unternommenen  vcrsucii  für  missglückt.  Da  ich  sell)St  durch  positive 
gründe   und   experimentell   festgestellte   tatsachen    bereits   vor  M.  die  herrschende 

33* 


500        TlirMl!  ÜBER  MERIXCKl»',  VERSPRECHEN,  KINDERSPRACHE,  NACHAHMUNGSTRIEB 

meiniing'  glaube  erschüttert  zu  haben,  so  wäre  ein  liinweis  auf  meine  ausführuni;en 
(IF.  XXII,  42  ff.)  sehr  wohl  am  platze  gewesen,  und  wenn  M.  davon  kenntnis 
genommen  hätte,  so  hätte  er  gesehen,  dass  die  Vermutung  Wallenskölds  von  dem 
'römischen'  kinde,  dem  die  Schöpfung  der  form  greve  nach  leve  zufalle  (s.  229),. 
durch  meine  darlegungen  erledigt  ist.  Ich  bemerke  bei  dieser  gelegenheit,  dass  die 
von  mir  a.  a.  o.  festgestellte  Verschiedenheit  der  wortassociation  von  kindern  und 
erwachsenen  inzwischen  durch  massenversuche  bestätigt  worden  ist  (vgl.  G.  Salin  g, 
Zschr.  f.  psychol.  XLIX,  238  ff.).  M.  hat  übrigens  auch  über  das  versprechen  von 
kindern  beobachtungen  gemacht  (113  ff.),  die  zeigen,  'dass  kinder,  sobald  sie  die 
spräche  zu  beherrschen  anfangen,  sich  ebenso  versprechen  wie  die  erwachsenen'; 
dabei  ist  es  mir  aber  noch  sehr  zweifelhaft,  ob  die  einzelnen  arten  des  Versprechens 
in  relativ  gleicher  häufigkeit  auftreten;  denn  die  grosse  lust  am  reimen  (s.  116) 
verrät  doch  eine  spezifische  eigeuart  der  kindlichen  assoziationstätigkeit,  während 
beim  erwachsenen  reine  klangassoziationen  nur  unter  bestimmten  bedingungen  auf- 
treten (vgl.  s.  51).  Diese  bedingungen  lassen  sich,  wie  ich  nebenbei  bemerke,  am 
besten  experimentell  nachweisen,  was  ich  an  anderm  orte  zeigen  werde. 

Die  grössere  hälfte  des  buches  ist  den  erscheinungen  des  Versprechens 
(s.  11—113)  gewidmet;  anhangsweise  werden  materialien  über  das  'verlesen' 
(s.  131-136),  'verschreiben'  (s.  136—142),  'verhören'  (s.  142  f.)  und  'verhandeln', 
d.  h.  versehentliches  handeln  (s.  143  f.),  geboten.  Der  Verfasser  vermehrt  dadurch 
das  schon  in  seinem  früheren  buche  zusammengetragene  material  um  ein  beträchtliches. 
Ich  sehe  bisweilen  nicht  ein,  warum  beim  ordnen  des  Stoffes  gleiches  auseinander- 
gerissen wurde.  Warum  sind  z.  b.  die  vertauschungen  der  worte  g e  s  t  e r  n  —  m  o  rge  n 
an  drei  verschiedenen  orten  angeführt  (s.  49,  50,  52)?  Oder  allgemeiner:  warum 
sind  die  vertauschungen  gegensätzlicher  begriffe  auf  zwei  abschnitte  (b.  Substitutionen, 
c.  Substitutionen  infolge  begrifflicher  assoziation)  verteilt?  Und  lag  es  nicht  nahe, 
die  kontamination  rechts  und  lenks  (s.  113)  unter  dem  gleichen  gesichtspunkt 
wenigstens  zu  erwähnen?  Denn  für  die  sprachpsychologische  wertung  dieser  dinge 
würde  dadurch  doch  eine  grössere  Übersichtlichkeit  erzielt. 

Dass  das  von  M.  früher  und  jetzt  gesammelte  material  für  die  erkenntnis 
verschiedener  erscheinungen  des  sprachlebens  treffliche  dienste  leistet,  ist  allseitig- 
anerkannt  worden.  Was  den  lautwandel  betrifft,  -so  genügt  es,  auf  die  erscheinungen 
der  -dissimilation  hinzuweisen ;  merkwürdig,  dass  der  Verfasser  gerade  in  diesem 
punkte  skeptischer  ist,  als  es  sein  material  verlangt;  denn  s.  91  bemerkt  M.,  er 
habe  mit  ausnähme  von  seh -lauten  'leichte'  dissimilationen  wie  r  — r  zu  r  — 1  'nie- 
mals mit  Sicherheit  konstatieren  können',  und  führt  doch  s.  93  eine  reihe  von 
solchen  dissimilationen  au,  die  mir  durchaus  einwandfrei  zu  sein  scheinen.  Dass 
die  dissimilation  von  r  — r  zu  r  — 1  oder  1  —  r  nicht  so  häufig  zu  beobachten  ist,  wie 
man  vermuten  könnte,  wird  vom  Verfasser  selbst  genügend  erklärt:  sie  findet  sich 
nur  bei  personen,  die  ein  zungen-r  sprechen,  und  das  ist  gerade  im  deutschen 
Sprachgebiet  selten.  Aber  noch  mehr  als  für  lautliche  Vorgänge  sind  gewisse 
erscheinungen  des  Versprechens  für  das  Verständnis  der  analogie1)ildungen  und 
besonders  der  kontaminationen  wertvoll,  worauf  ich  bereits  a.  a.  o.  liingewieseu 
habe.  Denn  die  beobacJitungen  M.s  zeigen  nicht  nur,  Avie  leicht  z.  b.  grundsätzliche 
begriffe  wie  gestern  —  heu te  sich  nebeneinander  ins  bewusstsein  drängen,  sondern 
wie  sich  daraus  die  schönsten  kontaminationsformen  ergeben ;  aus  der  kindersprache 
seien  bildungen  wie  erschwitzt  =  erhitzt  +  s  chwitzen  (s.  117)  oder  augn 
ogn  agn  =  äugen,  obren,  haare  (s.  148)  und  die  Verallgemeinerung  der  starken 


PETSCH   ÜBER   J0ACHIMI-DE(4E,    SHAKESPEAREPROBLEME  501 

partizipialbildung-  (de machen  =  gemacht  u.  ä.  s.  174f.)  herausgegriffen.  Ich 
Unterschreibe  es  daher,  wenn  M.  manche  einwände  gegen  den  wert  seiner  he- 
obachtuugen  kurzerhand  'redensarten'  nennt,  so  z.  b.  den  einwand,  'dass  das  ver- 
sprecl)en  mehr  ein  fehler  der  gebildeten  zu  sein  scheint'  (s.  5).  Wer  mit  solchen 
bedenken  kommt,  hat  gewöhnlich  keine  ahnung  von  den  tatsachen  der  modernen 
l)sychologie.  Mir  selbst  wurde  aus  anlass  meiner  experimentellen  arbeiten  über 
analogiebildung  entgegengehalten,  dass  "meine  Versuchspersonen  nur  gebildete  seien 
und  darum  wenig  beweiski-aft  hätten;  diese  kritiker  haben  es  natürlich  nicht  fü» 
nötig  gehalten,  sich  vorher  um  die  methoden  und  ergebnisse  der  assoziationsversuche 
zu  kümmern.  Auch  M.  selbst,  der  doch  den  psychologischen  fragen  ein  so  grosses 
Interesse  entgegenbringt,  scheint  mir  mit  diesen  dingen  nicht  so  vertraut  zu  sein, 
wie  es  gelegentlich  der  gegenständ  seiner  Untersuchungen  erfordert.  Sonst  würde 
er  z.  b.  den  begriff  der  Perseveration,  d.  h.  des  nachwirkens  eines  unmittelbar  vor- 
her gegebenen  eindrucks,  etwa  in  den  erörterungen  s.  59ff.  verwendet  haben:  die 
stärke  der  Perseveration  ist  im  vergleich  zur  assoziation  bei  verschiedenen  menschen 
und  unter  verschiedenen  umständen  recht  verschieden.  Man  sieht  leicht  ein,  dass 
solche  perseverationstendenzen  zwar  geeignet  sind,  das  okkasionelle  versprechen  zu 
erklären,  dass  sie  aber  für  die  Sprachgeschichte  wertlos  sind.  Ich  habe  ferner  a.  a.  o. 
(IF.  XXII,  18  ff.)  gezeigt,  dass  die  durch  ein  gesichtsbild  vermittelten  assoziationen 
ebenfalls  für  das  problem  der  analogiebildung  ohne  bedeutung  sind  (vgl.  M.  s.  40). 
Endlich  besitzen  die  s.  42  ff.  mitgeteilten  formen  des  Versprechens  ('mitklingen  eines 
durch  ein  gesichtsbild  erregten  wortbildes')  die  typischen  merkmale  der  assoziations- 
tätigkeit  im  Stadium  einer  bestimmten  ablenkuug,  über  die  ich  a.  a.  o.  s.  49  ff. 
gehandelt  habe:  aus  der  natur  der  vom  Verfasser  beobachteten  Vorgänge  ergibt 
eich,  dass  diese  von  ihm  angeführten  gebilde  des  Versprechens  für  die  Sprach- 
geschichte ebenfalls  bedeutungslos  sind.  Man  wird  zugeben,  dass  nicht  beliebige 
assoziationen,  beliebige  versprechformen  für  den  Sprachforscher  in  betracht 
kommen,  dass  also  das  beobachtungsmaterial,  das  der  Verfasser  im  dieuste  der 
Sprachwissenschaft  zusammenstellt,  auf  seinen  wert  für  die  Vorgänge  des  normalen 
Sprachlebens  geprüft  und  danach  geordnet  werden  muss.  Dass  der  Verfasser 
solche  gesichtspunkte  ganz  ausser  acht  gelassen  hat,  ist  um  so  verwunderlicher,  da 
er  meine  arbeiten  kennt.  Auch  was  M.  s.  46  über  die  Ursachen  der  assoziation 
oder  s.  127  in  bilderreicher  spräche  über  die  bewusstseinskonstelhition  beim  assoziieren 
bemerkt,  wird  der  psychologe  recht  nichtssagend  finden.  Eine  ständige  fühlung  mit 
der  psychologischen  forschung  kann  in  allen  vom  Verfasser  berührten  problemen 
reichen  gewinn  bringen,  genau  so  wie  die  enge  Verbindung  von  'Wörtern  und  sachen' 
der  etymologischen  forschung  gewinn  gebracht  hat. 

Auf  einige  weitere  allgemeine  fragen,  zu  deren  erörterung  mich  das  buch 
von  M.  angeregt  hat,  werde  ich  bei  anderer  gelegenheit  eingehen  (vgl.  'Beobachtung 
und  experiment  in  der  sprachpsycliologie'  in  der  festscbrift  für  Victor,  1910,  s.  19  ff.). 

STRASSBURG.  AI-HEK'r   TIHMB. 


Miiric  Joaclünii-Dogo,  Deutsche  Shakespeare  prob  lerne  im  18.  jahr- 
Iiundert  uml  zur  zeit  der  rom  antik.  Leipzig,  H.  Hassel  1907.  29ti  s. 
6  m. 

Der  geistvollen   sciiülcrin  Oskar  F.  Walzeis  kommt  es  nicht  darauf  au,    eine 
nach  allen  richtungen  erschöpfende  geschichte  der  aufnähme  Shakespeares  in  Deutsch- 


602  PETSt'II    ÜHKU   J()ACHIMI-1)E(;E,    SHAKESI'EAREPROBLEME 

land  zu  geben,  sondern  zu  zeigen,  wie  die  romantik  an  der  betrachtung  des  grossen 
Briten  ihre  dramaturgischen  und  poetischen  unschauungen  überhaupt  geklärt  und 
die  idee  eines  deutschen  nationalen  drainas  erfasst  hat.  Sie  verschliesst  sich  der 
Wahrheit  nicht,  dass  die  romantiker,  denen  ihre  liebe  gehört,  praktisch  ihre  ziele 
nicht  verwirklicht  haben,  aber  sie  will  ihnen  das  verdienst  der  richtigen  frage-  und 
Problemstellung  gesichert  wissen. .  So  lässt  sie  sieb  denn  auch  in  ihrem  urteil  über 
die  vorromantische  Shakespeareforschung  durch  das  urteil  der  schule  selbst  leiten; 
die  Vorbereitung  einer  schärferen  erfassung  des  englischen  dramas  findet  sie  nicht 
bei  den  Stürmern  und  drängern,  sondern  bei  Lessing.  Im  übrigen  werden  diese 
Vorstufen  kurz  und  mehr  schematisch-konstruktiv  abgetan,  während  die  Verfasserin 
auf  die  Shakespearestudien  der  romantiker  näher  eingeht  und  z.  b.  die  mannigfachen 
Irrwege  Tiecks  in  seiner  auffassung  des  grossen  dramatikers  umsichtig  schildert. 
Ganz  frei  von  konstruktionen  ist  aber  auch  dieser  zweite  hauptabschnitt  nicht,  der 
in  drei  gangen  den  kämpf  der  romantik  um  Shakespeare  gegen  die  'korrekten', 
gegen  den  Sturm  und  drang,  gegen  die  klassiker  behandelt.  Wir  wünschten,  auch 
diese  korrekten  kämen  zu  werte  und  die  polemischen  beziehungen  würden  uns 
genetisch  vorgeführt.  Der  höhepunkt  der  darstellung  ist  die  auseinandersetzung 
der  romantiker  mit  Goethe ;  und  ihre  genaue  darstellung  gewinnt  dadurch  an  wert 
und  Überzeugungskraft,  dass  sie  überall  die  entwickluug  derjenigen  probleiue  ins 
äuge  fasst,  um  die  in  Shakespeares  namen  gestritten  wurde,  vor  allem  das  genie- 
problem  und  die  grossen  fragen  der  romantischen  lebensgestaltung.  Alle  gegen- 
sätze  gehen  schliesslich  auf  den  einen  grün dgegens atz  zwischen  Kants  dualismus 
und  Fichte-Schellings  monismus  zurück.  Für  die  romantik  gibt  es  keine  kluft 
zwischen  ideal  und  Wirklichkeit;  Shakespeares  dramatische  form  zeigt  ihre  innigste 
Verschmelzung.  So  hat  Shakespeare  bei  den  romantikern  allmählich  die  stelle  einge- 
nommen, die  in  ihren  klassischen  anfangen  Sophokles  inne  hatte:  seine  werke  sind 
'höhere  Organismen,  Individuen,  Spiegel  des  Weltalls  und  Offenbarungen  der  geistigen 
alleinheit'.  An  stelle  der  'reinheit'  der  klassischen  tritt  so  die  organische  fülle 
und  geistigkeit  der  romantischen  form.  Über  seine  Stellung  sucht  sich  Friedrich 
Schlegel  kunstgeschichtlich  zu  orientieren.  In  der  griechischen  poesie  ist  die  kunst 
im  entstehen.  Sie  zeigt  ein  gedränge  von  kraft  und  Zwiespalt,  freude  am  sinnlich- 
reizvollen und  neuen,  am  glück  der  familie  und  einer  gewandten  klugheit.  Diese 
kunst  hat  sich  im  Römerreich  zersplittert ;  für  die  andere  weit  wurde  die  christliche 
religion  zum  träger  alles  enthusiasmus.  Dann  folgt  die  neue  woge  der  romantischen 
poesie.  Alle  ihre  einzelzüge:  tiefsinnigkeit  (transzendentalität :  Dante),  Innigkeit 
des  gefühls  (Petrarca),  verstand  und  kraft  der  darstellung  (Boccaccio),  witz  und 
neigung  zum  grotesken,  Vereinigung  von  ernst  und  scherz  (Ariost,  Bojardo)  ver- 
bindet Shakespeare;  in  ihm  erreicht  sie  ihren  höhepunkt,  ihren  besten  ausdruck, 
wird  sie  universell.  Damit  ist  eine  romantische  grundlage  des  modernen  dramas 
gelegt,  die  dauerhaft  genug  ist  für  ewige  zelten. 

Ein  wirklicher  gegensatz  zwischen  Goethe  und  der  romantik  trat  übrigens 
erst  ein,  als  man  wagte,  dem  meister  Tiecks  'Sternbald'  mit  seiner  Verherrlichung 
mittelalterlicher  kunst  zu  unterbreiten.  Dieser  mittelalterbegriff  mit  seiner  Schwäch- 
lichkeit und  seiner  Verworrenheit  ist  für  Goethe  später  das  typische  beispiel  des 
'romantischen'  geblieben ;  gegen  ihn  kämpfte  er,  ohne  zu  bedenken,  dass  die  brüder 
Schlegel  ihn  ebenfalls  abgelehnt  hatten  und  Tieck  überhaupt  nicht  als  einen  eigent- 
lich romantischen  dramatiker  gelten  liessen. 

In   seinen  Wiener   Vorlesungen  1808   machte  W.  Schlegel  ernst  mit  der  ver- 


FISCHER    l'll'.ER    KÜP.LEH,    15EU(i-,    FLUSS-    UND    OKTSNAMEX  503 

küudigung  des  germanischen  Shakespeare  neben  dem  klassischen  Goethe,  der  natio- 
nalen romantik  neben  der  Weimarer  antike,  und  ohne  Goethe  direkt  anzugreifen, 
führte  er  doch  die  übergriffe  des  klassizismus  auf  die  'bornierten  gelehrten'  zurück 
und  stellte  das  romantische  ideal  höher,  in  welchem  übrigens  alles  wertvolle  des 
klassischen  miteinbegriffen  sein  sollte.  Shakesjjcares  form  unterscheidet  sich  von 
der  rein  mechanischen  wie  das  lebendige  von  dem  toten;  aber  sie  überstrahlt  auch 
die  griechische,  wie  das  geistige  das  bloss  natürlich-lebendige  überwindet,  der 
höhere  Organismus  den  niederen.  Denn  ihr  innerer  einheitspuukt  ist  eben  der  stete 
liinweis  von  dem  endlichen  ins  unendliche. 

Wie  weit  die  absolutistische  auffassung  Shakespeares  durch  die  romantik  die 
spätere  ästhetik  und  die  literaturgeschichtliclie  darstellung  beeinflusst  hat,  wie  weit 
ihre  fragestellungen  und  ihre  methoden  nachwirkten,  das  alles  hat  ,J.-D.  der  künf- 
tigen forschung  zu  beantworten  überlassen. 

HEIDELBEKG.  ROBERT   PETSCH. 


Die  deutschen  l)erg-,  fluss-  und  Ortsnamen  des  alpinen  Hier-, 
Lech-  und  S  annenge l)ietes,  gesammelt  und  erklärt  von  August  Kubier. 
Herausgegeben  mit  Unterstützung  des  Deutschen  und  Österreichischen  Alpen- 
vereins.    Amberg,  Pustetsche  buchhandluug  1909.     8,  213  s.     10  m. 

Von  der  grossen  Wichtigkeit,  welche  die  Ortsnamen  einerseits  für  die  sied- 
lungs-  und  Wirtschaftsgeschichte  und  andererseits  für  die  erkenntnis  der  gesetze 
der  gesprochenen  spräche  haben,  braucht  man  in  dieser  Zeitschrift  nicht  zu  reden. 
Es  genügt,  zur  empfehluug  des  trefflichen  werkes  einiges  speziellere  anzuführen. 
Der  Verfasser  ist  seit  vielen  jähren  eifrig  an  der  erforschung  der  südöstlichen 
schwäbischen  dialektgruppe  gewesen,  welche  den  obersten  Lech,  die  oberste  liier 
und  deren  nächste  Umgebung  umfasst,  eine  gegend,  die  schon  deshalb  nicht  leicht 
von  einem  genauer  untersucht  wird,  weil  sie  sich  politisch  auf  zwei  gebiete,  Baye- 
risch-Schwaben  und  Tirol,  verteilt.  Kubier  hat  mir  schon  vor  jähren  ülier  die 
mundart  jener  täler,  besonders  des  Tannheimer  tals,  die  wertvollsten  beitrage  für 
mein  Schwäbisches  Wörterbuch  geliefert.  Seither  hat  er  in  unablässiger  arbeit, 
karge  mussezeit  benutzend,  sämtliche  berg-,  flur-  und  Ortsnamen  seines  alten  arbeits- 
feldes  gesammelt  und  bringt  sie  hier  in  alphabetischer  Ordnung  und  mit  philolo- 
gischer diskussion  zur  darstellung.  Ausser  den  heutigen  namen,  die  er  dem  volks- 
munde  selbst  abhören  musste  —  man  weiss,  wie  unzuverlässig  die  offizielle  wieder- 
gäbe zu  sein  pflegt  -,  hat  er  auch  die  alten  urkundlichen  verzeichnet  uiid  zu 
diesem  zweck  für  das  kleine  gebiet  von  69  Ortschaften  etwa  6000  Urkunden  durcli- 
gegangen.  Man  wird  also  von  seiner  arbeit  die  grösste  Vollständigkeit  und 
Sicherheit  erwarten  dürfen.  Und  das  ist  notwendig;  denn  nur  die  vollständigste 
und  bestgesicherte  Induktion  kann  in  solchem  fall  ein  brauchbares  ergebuis  zeitigen. 
Auf  dem  schwäbischen  gebiete  ist  Kühlers  arbeit  -  eine  kleinere  über  den  bezirk 
Lindau  abgerechnet  —  die  einzige,  die  bis  jetzt  dieser  anfordcruug  entsprielit. 
Wäre  es  nicht  möglich,  dass  ihr  da  und  dort  recht  viele  andere  nachfolgten?  ¥Än 
muster   hätten   die   herren  jetzt,   dem   sie  folgen  könnten,   wenn  sie  -  wie  oft!  — 


504  fiUSINDK    ÜBER   UNWEKTH,    «CULE.SISCIIE   MUNDART 

nm  ein  thema  für  ein  schulprogramm  oder  eine  dissertatiou  verlegen  sind;  uach- 
trägliche  entdeckungen,  dass  da  schon  ein  anderer  gearbeitet  habe,  wie  sie  in  der- 
artigen Schriften  so  gewölinlich  sind  ('Erst  während  des  drucks  kam  mir  zu  banden' 
oder  dergh),  wären  hier  nicht  zu  befürchten. 

TÜBIXGEX.  HERMANN   FISCHER. 


Wolf  You  Unwertli,  Die  schlesische  mundart  in  ihren  lautverhältnissen 
grammatisch  und  geographisch  dargestellt.  [Wort  und  brauch,  volkskundliche 
arbeiten  namens  der  Schlesischen  gesellschaft  für  Volkskunde  in  zwanglosen 
heften  herausgegeben  von  Theodor  Siebs  und  Max  Hippe.  3.  heft.]  Breslau, 
M.  u.  H.  Marcus  1908.     XVI,  94  s.  und  2  karten.     3,60  m. 

Ein  ganz  vortreffliches  buch,  von  der  Breslauer  philos.  fak.  als  preisarbeit 
gekrönt,  das  in  knapper  form  einen  reichen  inhalt  in  übersichtlicher  darstellung  bietet. 
Auf  den  vokalismuskarten  des  Wenkerschen  Sprachatlas  bietet  Schlesien, 
soweit  es  sich  um  deutsches  Sprachgebiet  handelt,  ein  recht  buntscheckiges  bild. 
Dem  verzwickten  laufe  dieser  linien  ist  v.  U.  nachgegangen  und  gibt  uun  eine  ge- 
naue abgreuzung  der  einzelnen  untermundarteu,  die  durch  zwei  karten  veranschau- 
licht wird.  Der  Verfasser  fusst  nicht  etwa  auf  den  erzeugnissen  der  mitunter  recht 
izweifelhaften  'dialekt'dichterei,  sondern  er  ist  von  dorf  zu  dorf  gegangen  und  hat 
aus  eigener  scharfer  beobachtung  ein  reiches  material  gesammelt,  so  dass  er,  der 
Schüler  Sievers',  aus  dem  lebendigen  und  vollen  schöpfen  kann. 

Von  mundartengrenzen  spricht  v.  U.  mit  mehr  Zurückhaltung  als  z.  b.  neuer- 
dings Gerbet  (Gramm,  d.  ma.  d.  Vogtlandes,  1908,  s.  12).  Nicht  einzelne,  oft  recht 
wandelbare  erscheinungen  sind  für  eine  praktische  abgreuzung  zugrunde  zu  legen, 
sondern  'eine  summe  gemeinsam  vollzogener  entwicklungen'.  'Die  grenze  einer 
mundart  aber  läuft  dann,  als  feste  linie,  da,  wo  zum  letzten  male  sämtliche  sprach- 
ersch einungen,  deren  gemeinsames  auftreten  man  als  charakteristisch  für  den  dialekt 
ansieht,  sich  vereinigt  finden.'  Als  kriterien  für  das  heutige  schlesische  stellt  v.  U. 
folgende  punkte  auf:  I.  a)  Zusammenfall  von  mlid.  e,  er,  gedehntem  i  und  ü, 
b)  znsammenfall  von  mhd.  a  und  gedehntem  o,  c)  von  mhd.  d  und  gedehntem  ii. 
■II.  Dehnung  von  kurzem  mhd.  vokal  in  offener  silbe  und  in  geschlossener  vor  ur- 
sprünglich auslautender  doppelkonsonauz..  III.  Kürzung  von  mhd.  uo,  üe,  ie  vor 
inlautenden  stimmlosen  geräuschlauten.  IV.  Bewahrung  von  germ.  p  nach  m  und 
in  der  gemination,  während  es  im  anlaut  verschoben  ist,  und  Verschiebung  von 
westgerm.  d  zu  t,  soweit  hochdeutsch  d  und  t  nicht  zusammengefallen  sind  (s.  §  57). 
Einzelne  dieser  punkte  finden  sich  freilich  auch  anderwärts.  So  zeigen  sich 
z.  b.  die  gleichen  vokaliscben  erscheinungen  zum  grossen  teil  auch  weiter  westlich, 
im  erzgebirgischeu  und  obersächsischen,  la  im  Frankenwalde,  II  noch  weiter,  unter 
anderem  im  oberpfälzischen,  vogtländischen,  hennebergischeu,  z.  t.  im  österreichischen, 
im  nordosten  des  schwäbischen.  Der  deutliche  zusammenfall  aller  der  angeführten 
linien  wird  aber  doch  mit  recht  vom  Verfasser  als  entscheidende  grenze  angesehen. 
Den  hauptteil  der  arbeit  nimmt  die  lautlehre  ein  (kap.  2—9),  in  der  die  sich 
deutlich  voneinander  abliebenden  untermundarteu  scharf  auseinandergehalten  werden. 
V.  U.  bleibt  auch  zum  glück  von  der  Versuchung  frei,  in  den  abweichuugen  stammes- 
unterschiede   zu   wittern;    er   erkennt  richtig,   dass  hier,   besonders   im   vokalismus. 


PAXZER    fBEIJ   LACHMANX,   WALTHER   VON   DER   VOGELWErDE  505 

spätere  entwickluug-  aus  gleichartiger  grimdlage  vorliegt.  So  hal)en  im  norden  die  ge- 
dehnten kürzen  neigung  zur  diphthongierung;  in  den  stammundarten  (ein  ausdruck, 
der  vielleicht  irreführen  kann,  als  wäre  damit  ein  historisches  Verhältnis  gegeben, 
für  den  ich  aber  auch  keinen  besseren  weiss  [s.  §  114])  sind  sie  einfache  vokale. 
Hier  scheinen  ganz  ähnliche  Verhältnisse  zugrunde  zu  liegen,  wie  sie  Wrede  für 
die  eutstehung  der  nhd.  diphthonge  ansetzt,  so  dass  also  auch  die  neuen  längen, 
später  als  die  alten,  angefangen  haben,  diphthongisch  zu  werden  (vgl.  jedoch  §  117). 
Aus  einer,  den  keim  eines  diphthongs  in  sich  bergenden  Zwischenstufe  sind  dann 
einerseits  die  formen  der  diphthongierungsmundarten  entstanden,  während  anderer- 
seits der  Süden  zur  eiufachen  länge  zurückgekehrt  ist,  entsprechend  der  mono- 
phthongierung alter  diphthouge  im  nämlichen  gebiete.  Dafür  spricht  vor  allem,  dass 
der  diphthong  sich  auch  in  Schönwald  findet,  einer  seit  der  aussctzung  mitten  im 
polnischen  Sprachgebiete,  also  seit  640  jähren,  abgeschlossenen  Sprachinsel,  über 
die  ich  bald  eine  eingehende  darstellung  geben  zu  können  hoffe.  Auch  in  den 
eng  verwandten  östen-eichisch-schlesischen  mundarten  findet  sich  älinliches  (vgl.  §  137). 

Im  10.  kapitel  bespricht  v.  U.  zunächst  den  einheitlichen  Charakter  des 
schlesischeu,  darauf  gibt  er  eine  genaue  einteilung  in  untermundarten.  Die  diphthon- 
gierungsmundart  trennt  sich  in  zwei  gruppen  im  nordwesten  und  im  Südosten.  Die 
'stammundarten'  zerfallen  in  das  lausitzisch-schlesische,  eine  etwas  ungenaue  bezeich- 
nung,  da  unter  ihr  auch  die  gleichgestaltete  mundart  von  Neisse  nach  norden  bis  Ohlau 
verstanden  wird,  und  das  zwischen  diesen  beiden  gebieten  liegende  gebirgsschlesische, 
in  dem  das  glätzische  wieder  eine  Sonderstellung  einnimmt.  Zwischen  beiden  haupt- 
gebieten liegt  eine  übergaugsmundart,  die  nach  Firnienich  als  ki'äutermundart  be- 
zeichnet wird.  —  Kap.  11  bietet  hauptsächlich  den  erläuternden  text  zu  den  beiden 
guten  und  übersichtlichen  kartenskizzeu.  Karte  1  stellt  die  teilmundarten,  karte  2 
die  dialektgrenzen  westlich  von  Breslau  dar.  Zugrunde  liegen  die  werte  schnitte, 
Stube,  haus,  schwein,  topf,  heissen,  haum,  kommen,  die  deminutivbildung  und  für 
die  grafschaft  (vgl.  Pautsch,  Ma.  von  Kieslingswalde)  stein,  laufen,  fallen,  uort.  — 
Das  letzte  kapitel  behandelt  die  nächsten  verwandten  des  schlesischeu  in  der  Nieder- 
lausitz, der  sächsischen  Oberlausitz,  Nordböhmen  und  in  Österreichisch-Schlesien  und 
Mähren.  — 

Ist  V.  U.s  arbeit  eine  klare  und  bedeutende  weiterführung  von  Weinholds 
dialektforschung,  soweit  es  sich  um  die  lebende  nmndart  handelt,  so  wird  sie  aucli 
eine  sehr  wertvolle  grundlage  für  eine  historische  darstellung  des  gesamten  sehlesisclien 
sein.  Und  der  Sprachatlas  wird  füi'  die  von  iiim  ausgegangene  förderung  reichlich 
entschädigt. 

BRESLAU.  KOXUAD    CISINDE. 


Die  Gediclite  Walthers  von  der  Vogel  weide.  Siel)ente  ausgäbe  von  Karl 
Lachmauu.  Besorgt  von  Carl  v.  Kraus.  Berlin,  Georg  Rieimer  1907.  XVIII, 
229  s.     4  m. 

In  der  neuen  ausgäbe  von  Laelimanns  Waltiier  fällt  sogleich  eine  änderung 
der  äusseren  einrichtung  vorteilhaft  in  die  äugen:  die  lesarten  sind  aus  den  er- 
läuternden anmerkuugen  ausgelöst  und  zu  grosser  erbäehterung  des  benützers  unter 
den  text  gestellt. 


506  liEKICHTIGUNGEN    —   NEUE   ERSCHEINUNGEN 

Am  texte  selbst  hat  der  neue  herausgeber  keine  änderungen  vorgeuommen. 
Mit  recht:  er  ist  historisch  geworden  in  der  gestalt,  die  Lachmanu  ihm  gegeben. 
Xur  einige  druckfehler  der  letzten  auflagen  sind  getilgt  und  hie  und  da  eine  kleine 
besseruug  naeh  den  handschriften  eingefügt,  die  Lachmann  wohl  selbst  aufgenommen 
hätte,  wären  ihm  die  betreffenden  lesarten  bekannt  gewesen.  Auch  den  kommentar 
hat  V.  Kraus  in  seiner  alten  oestalt  unverändert  belassen.  Dagegen  ist  die  be- 
schreibung  der  hss.  in  der  vorrede  durch  kleinere  notizen,  angaben  der  Signaturen, 
des  jetzigen  aufljewahrungsorts  u.  dgl.  ergänzt  und  allenthalben  auf  die  neuere 
literatur  verwiesen.  Seine  ganze  aufmerksamkeit  aber  hat  der  herausgeber  dem 
kritischen  apparate  zugewandt.  Hier  fand  sich  gar  manches  zu  bessern  und  zu 
ergänzen,  indem  v.  K.  sämtliche  hss.  (mit  zwei  verschwindenden  ausnahmen)  im 
original  oder  ihren  neueren  abdrücken  noch  einmal  verglich;  die  lesarten  der 
wichtigen  Wolffenbüttler  fragmente  sind  neu  hinzugekommen.  Lachmanns  an- 
schauungen  ward  auch  hierbei  rechnung  getragen,  indem  die  auswahl  der  Varianten 
streng  nach  seinen  grundsätzen  erfolgte.  So  ist  das  alte  buch,  das  80  jähre  nach 
seinem  ersten  erscheinen  immer  noch  jugendlich  genug  unter  uns  steht,  durch  die 
Sorgfalt  seines  neuen  herausgebers  wieder  auf  lange  hinaus  nützlich,  ja  unentbehr- 
lich gemacht. 

FRANKFURT   A.  M.  FRIEDRICH    PANZER. 


I 


Berichtigungen. 

Zeitschr.  41,  292 :  anm.  2  ist  von  'das'  ab  zu  streichen. 

41,  295  in  7d  fzeile  .5  von  oben)  lies  ungefügue  st.  ungefüge. 
41,308  zeile  12:  valentinne  23084  ist  hinzuzufügen. 

41,314  zu  h  für  germ.  -^•-:  die  Schreibung  ist  offenbar  aus  dem  auslaut  ein- 
gedrungen (vgl.  unter  c),  wo  h  und  ch  wechseln  konnten.  Vgl.  Zeitschr.  41,  310  ff. 
(k  und  eil). 

41,466  anm.  3:  die  letzte  zeile  ist  in  §  38,  zeile  4  nach  der  klammer  in  den 
tßxt  zu  setzen. 

42,  62  anm.  8,  letzte  zeile :  lies  s.  61  st.  s.  57. 

42,89:  zu  2704  A  ist  zu  vergleichen  riterVtche  maget  Iw.  1153. 
42,  94  anin.  3,  z.  2 :  lies  'psychischer'  st.  psychologischer. 


NEUE  ERSCHEINUNGEN. 

(Die  redaktion  ist  bemüht,  für  alle  zur  besprechung  geeigneten  werke  aus  dem  gebiete  der  german. 

Philologie  sachkundige  referenten  zu  gewinnen,  ül)ernimmt  jedoch  keine  Verpflichtung,   unverlangt 

eingesendete    bücher    zu    rezensieren.     Eine    zurückliefe  rung    der    r  e  z  en  s  i  o  n  s  -  e  x  e  m- 

plare   an    die   herren   Verleger   findet   unter   keinen  umständen  statt.) 

Arnold,  Robert  F.,  Allgemeine  bücherkunde  zur  neueren  deutschen  literaturge- 
schichte.     Strassburg,  Trübner  1910.     XIX,  354  s.     8  in. 

Babbitt,  Irving,  The  new  Laokoon.  An  essay  on  the  confusion  of  the  arts.  Lon- 
don, Constable  &  co.  1910.     XIV,  295  s.     geb.  5  sh. 


NEUE   ERSCHEINUNGEN  507 

Beowulf,  mit  ausführlichem  glossar  lierausg.  von  Moritz  Heyne.  9.  auf!.,  bearb. 
von  Levin  L.  Schücking.    Paderborn,  Schöningh  1910.    XII,  324  s.    5.80  m. 

Bin'),  Ludw.  Aniau,  Lautlehre  der  heanzischen  mundart  von  Xeckeumarkt.  Leipzig, 
Seele  &  co.  1910.     XVm,  112  s. 

Bitzius,  Albert.  —  Jeremias  Gotthelf  und  Karl  Rud.  Hagenbach.  Ihr  briefwechsci 
aus  den  jähren  1843-1853,  hrg.  von  Ferd.  Vetter.  Basel,  Lendortt'  1910. 
VI,  115  s.     3  m. 

Brockstedt,  Cfustav,  Von  mittelhochdeutschen  volksepen  französischen  Ursprungs. 
Erster  teil.     Kiel,  Cordes  1910.     (IV),  162  s. 

Busch,  Wilhelm.  -  Wiuther,  Fritz,  Wilhelm  Busch  als  dichter,  künstler, 
Psychologe  und  philosoph.  [University  of  California  publicatious  in  modern 
philology  II,  1.]     Berkeley  1910.     79  s. 

Cyprian,  Juliana.  —  Juliana  Magdalena  Cyprian,  geb.  Jaeger,  1697—1721.  eine 
vergessene  Gothaische  dichterin.  Von  prof.  dr.  M a x  Schneider.  [Sonderabdr. 
aus  den  Mitteilungen  der  verein,  f.  Goth.  gescb.  u.  altertumsforschung ,  Jahr- 
gang 1909/10.]     15  s. 

Eugelmanu,  Rene,  Der  vokalismus  der  Viandeuer  mundart.  Diekirch,  J.  Schrooll 
1910.     45  s.     4". 

Francis  Etymologisch  woordenboek  der  uederlandsche  taal.  Tweede  druk  door 
dr.  N.  van  Wijk.  Aflevering  1:  amjt  —  hijdrage.  's  Gravenhage,  31.  Xijhoff 
1910.    64  s.    1,20  fl.    [Erscheint  in  10  lieferuugen  und  soll  1912  komplett  sein.] 

Francke,  Kuno,  Die  kulturwerte  der  deutschen  literatur  des  mittelalters.  [A.  u.  d.  t. : 
Die  kulturwerte  der  deutschen  literatur  in  ihrer  geschichtl.  entwicklung.  L] 
Berlin,  Weidmann  1910.     XIV,  293  s.     geb.  6  m. 

Fries,  Albert,  Aus  meiner  stilistischen  studienmappe.  I.  Heinrich  von  Treitschkes 
Stil.  n.  Richard  AV agners  stil  in  vers  und  prosa.  Jlit  einer  beilage:  An- 
merkungen zu  den  von  Billeter  veröffentlichten  proben  aus  'Wilhelm  Meisters 
theatralischer  senduug'.     Berlin,  Borussia  1910.     (IV),  92  s.     1,50  m. 

Fryklund,  Daniel,  Vergleichende  studieu  über  deutsche  ausdrücke  mit  der  be- 
deutung  musikinstrument.  Uppsala,  Almqvist  &  Wiksells  boktryckeri  1910.    38  s. 

Goethe.  —  Goethes  erste  Weimarer  gedichtsammlung  mit  Varianten  herausg.  von 
Alb.  Leitzmaun.  [Kleine  texte  für  theol.  u.  philol.  Vorlesungen  u.  Übungen 
hrg.  von  H.  Lietzmann.    63.]    Bonn,  A.  Marcus  u.  M.  Weber  1910.    35  s.    0,80  m. 

—  Rueff,  Hans,  Zur  entstehungsgeschichte  von  Goethes 'Torquato  Tasso'.    [Beitr. 

zur  deutschen  lit.  wissensch.  hrg.  von  E.Elster.    18.]    Marburg,  Ehvert  1910. 
(VI),  73  s.     1,60  m. 

—  Trauer,   Ed.,  Adorf,  Elster  und  Goethes  Hermann  und  Dorothea,   zugleich  mit 

bezug  auf  dr.  Kullmers  schrift:  Tössneck'.    [Sonderabdruck  aus  der  21.jalires- 

schrift  des  altertumsvereins  zu  Plauen  i.  V.]    Plauen  i.  V.,  Rudolf  Neupert  1910. 

(II),  32  s.  u.  2  plane. 
(»rillparzers  werke,  im  auftrage  der  reichshaupt-  und  residenzstadt  Wien  hrg.  von 

August  Sauer.    1.  band:  Die  ahnfrau.    Sappho.    Wien  und  Leipzig,  Gerlach 

&  Wiedling  1909.     OXH,  481   s. 
~  de  Walsh,   Faust    Cliarles,    Grillparzer    as    a   poct   of  nature.     Xew  York, 

The  Columbia  university  press  1910.     XVII,  95  s.     1  doli. 
Hebbel.    —    Fr.  Hebbels    Genoveva.     Eine    monographie   von    Rieh.   Meszlcny. 

[Hebbel-forschungen   hrg.  von  R.  M.  W  ö  r  n  e  r  u.  W.  B 1  o  c  h  -  W  u  n  s  c  h  m  a  n  n. 

IV.]     Berlin-Zehlendorf,  B.  Behr    1910.     (JY),  175  s.     3  ni. 


■508  NEUE   ERSCHEINUNGEN 

Hosscliiiami,  Bcug-t,  De  korta  vokalerna  /  och  y  i  Sveuskan.  Undersökningar  i 
iiordisk  Ijudhistoria.  [Uppsala  uuiv.  ärsskrift;  filos.,  sprakvetensk.  och  hist.  veteii- 
skaper.    1909.    5.]     Uppsala,  Lundström   1910.     XX,  250  s.  u.  1  karte.    5,25  kr. 

Kleiiipaul,  Riid. ,  Länder-  und  vulkernamen.  Leipzig,  Göschen  1910.  139  s. 
geh.  0,80  m. 

Küussberg,  Eberhard  Frhr.  Vv  Aclit.  .Eine  studie  zur  älteren  deutschen  rechts- 
sprache.     Weimar,  Böhlau  1910.     Vin,  67  s.     1,80  m. 

Martin  von  Cocliem  1634—1712.  Sein  lehen  und  seine  Schriften  nach  den  quellen 
dargestellt  von  Joh.  Chris  est.  Schulte,  0.  M.  Cap.  Freiburg  i.  B.,  Herder 
1910.     XV,  207  s.     3  ra. 

Mondwahrsagebuch,  Ein.  Zwei  altdeutsche  handschrifteu  des  14.  und  15.  Jahr- 
hunderts hrg.  von  Robert  Vi  an.     Halle,  Niemeyer  1910.     (VIII),  127  s. 

Platen.  —  Schlösser,  Rudolf,  August  Graf  v.  Platen.  Ein  bild  seines  geistigen 
entwicklungsganges  und  seines  dichterischen  Schaffens.  Erster  band  1796—1826. 
München,  R.  Piper  1910.     XXIX,  765  s. 

Porzeziüski,  Victor,  Einleitung  in  die  Sprachwissenschaft.  Autorisierte  Übersetzung 
aus  dem  russischen  von  Erich  Boehme.  Leipzig  u.  Berlin,  Teubner  1910. 
(IV),  229  s.     3  m. 

{Schrifttafeln,  Deutsche,  des  9.  bis  16.  Jahrhunderts,  aus  handschrifteu  der  K.  hof- 
und  Staatsbibliothek  in  München  hrg.  von  Erich  Petzet  u.  Otto  Glauni  iig. 

I.  abteilung.     Althochdeutsche    Schriftdenkmäler    des    9.   bis    11.  Jahrhunderts. 
München,  Carl  Kuhn  1910.     33  s.  u.  15  taff.  fol.     6  m. 

Schröder,  Heinr.,  Ablautstudien.    [German.  bibliothek  hrg.  von  W.  Streitberg. 

II.  1,  2.]     Heidelberg,  Winter  1910.     XII,  108  s.     3  m. 

8ecundus.    —    Hilka,   Alfous,   Das    leben    und   die   Sentenzen    des   philosophen 

Secundus   des   schweigsamen   in   der   altfranzösischen   literatur  nebst  kritischer 

ausgäbe    der   lat.  Übersetzung    des   Willelmus    medicus ,    abtes   von   St.  Denis. 

[Sonderabdruck  aus  dem  88.  Jahresbericht   der  Schles.  gesellscb.  für  vaterländ. 

kultur.]     Breslau  1910.     42  s. 
Sijmous,  Barend,  Heldensage  en  sprookje.     Overdruk  uit  de  Verslagen   en   mede- 

deelingen  der  Kouiuglijke  vlaamsche  academie.     Gent  1910.     22  s. 
Singer,  S.,   Mittelalter   und   renaissance.     Die  Wiedergeburt  des  epos  und  die  ent- 

stehung  des  neueren  romans.    Zwei  akademische  vortrage.    [Sprache  u.  dichtung. 

Forschungen    zur   linguistik    u.  lit.  wissensch.  hrg.  von   Harry   Maync    und 

S.  Singer.    H.]     Tübmgea,  Mohr  1910.     VIH,  56  s.     1,80  m. 
Skaldenpoesie.   —   Den   norsk-islandske   skjaldedigtning  udgiven  af  kommissionen 

for  det  Arnamagnpeanske  legat  ved  Finnur  Jönsson.     A.  Text   efter  hand- 

skrifterne.    B.  Rettet  text  med  tolkuing.     Kobenhavn  og  Kristiania,  Gyldendal 

1910.     s.  185-416  u.  s.  177-416.     5  kr. 
Tirol  und  Fridebrant.  —  Die  altdeutschen  fragmente  von  könig  Tirol  und  Fride- 

brant,  eine  Untersuchung  von  Harry  Maync.     [Sprache  u.  dichtung  .  .  .  hrg. 

von   H.  Maync  und   S.  Singer.    L]     Tübingen,   Mohr  1910.     VIIL  109  s.  u. 

4  taff.     4  m.  •'" 

Young.   —   Edw.  Youngs   gedankeu   über   die   originalwerke  in  einem  schreil)en  an 

Sam.  Richardson,   übers,  von  H.  E.  v.  Teubern,    hrg.  von  Kurt  Jahn.     [Kleine 

texte  für  theol.  u.  philol.  Vorlesungen  und  Übungen   hrg.  von  H.  Lietzmann. 

60.]     Bonn,  A.  Marcus  u.  E.  Weber  1910.     46  s.     1,20  m. 


I.    SACHREGISTER 


509^ 


I.  SACHREGISTER 

ablaut  s.  374  fg. 

Agricola,  Johannes :  quelle  für  Hans  Sachs 
s.  428.  433  fg. 

Albrecht  von  Halberstadt,  Metamorphosen- 
verdeutschung :  Verhältnis  zu  Wickrams 
bearbeitung  s.  453,  Charakter  der  Ver- 
deutschung Albrechts  s.  454,  Verhält- 
nis zur  mhd.  epik  und  lyrik  s.  454, 
Albrecht  und  Herbort  v.  Fritzlar  s.  455, 
auslassungen  Albrechts  s.  456  fg. 

altenglisch:  spätwestsächsische evangelieu 
s.  380,  Älfric  s.  380;  vgl.  runenkunde. 

altertumskunde ;  grabhügel  und  königs- 
hügel  in  nordischer  heidenzeit  s.  1  fg., 
Steinsetzung  mit  opferstein  s.  3,  opfer- 
hügel  und  grabhügel  s.  4,  hochsitz  des 
königs*  auf  grabhügeln  s.  8,  aufenthalt 
auf  dem  öialshaugr  als  heidensitte 
s.  10,  schwedische  königswahl  s.  11, 
Morastein  s.  11,  Saxo  und  der  Mora- 
stein s.  12,  königshügel  und  thing- 
stätte  s.  13  fg. ;  altisländische  Verwandt- 
schaftsverhältnisse s.  419  fg. 

althochdeutsch:  Wortstellung  im  haupt- 
satz  s.  109,  im  nebensatz  s.  110;  ahd. 
ärunti :  geschichte  der  forschung  s.  397, 
kirchliche  fachausdrücke  germanischen 
Charakters  s.  399,  ahd.  ärunti  ein  ags. 
lehnwort  s.  400,  geistliche  bedeutung 
des  Worts  im  as.  ahd.  und  mhd.  s.  400  fg. 
vgl.  metrik. 

Amadisromane ;  geschichte  des  Stoffes 
s.  470,  Würdigung  des  romans  s.  471, 
technik  und  auffassung  s.  472,  fort- 
setzungen  s.  472  fg. ,  Wanderung  des 
romans  nach  Deutschland  s.  475,  Ver- 
deutschung der  Amadisromane  s.  477, 
Fischart  als  Übersetzer  des  6.  buches 
s.  477  fg. 


Aristophaues :  sein  einfluss  auf  die  deutsche 
komüdie  s.  491  fg. 

Batteux,  Charles :  seine  nachahmungs- 
theorie  in  Deutschland  s.  487, 

braut  und  gemahl :  die  kirchliche  trau- 
untr  eine  Wiederholung  der  Verlobung 


s.  129,  'gemahlin'  für  die  getraute  ehe- 
frau  s.  130,  die  Braunische  these 
'braut'  =  uxor  quae  concumbit  cum 
viro  s.  131,  vier  akte  einer  legitimen 
deutschen  verlobungimmittelalters. 134, 
Verlobungszeremonien  nach  Neocorus 
s.  135,  handgelübnis  und  eidschwur  in 
mhd.  quellen  s.  136,  aufnähme  des 
verlobten  (eidam)  in  die  sippe  des  mäd- 
chens  s.  137,  braut  das  suppletive 
feminimum  zu  eidam  s.  138,  mittel- 
alterliche Verlobung  im  gegensatz  zum 
älteren  deutschen  verlobungsrecht  8.140^ 
Zeremonien  der  heimführung  s.  141  fg., 
adoption  der  braut  s.  143  fg.,  einfüh- 
rungszeremonien  s.  144  fg.,  sprachliche 
benennungen  für  die  bestandteile  der 
heimführungszeremonie  s.  151  fg.,  zur 
etymologie  von  'braut'  s.  446  fg. 
Brennu-Njälssaga:  hss.  s.  368,  entste- 
hungsgeschichte  s.  368  fg. 

Ebernand  von  Erfm-t,  leben  und  wirken 
s.  361. 

Egilssaga :  die  Hildiriöfrage  s.  255,  Wider- 
sprüche zwischen  Egils  authentischen 
gedichten  und  der  saga  s.  256,  Wahr- 
heit und  dichtuug  in  der  Egilssaga 
s.  256. 

Faust  8.  Goethe. 

Feyerabend  s.  475  fg. ;  vgl.  Amadisromane» 

Fischart,  vei'hältnis  zu  Moscherosch  vgl. 

diesen ;  als  Übersetzer  des  Amadis  vgl. 

Amadisromane. 
flurnamen   des   alpinen  Hier-,  Lech-  und 

Sannengebietes  s.  503  fg. 
Folz,  Hans  vgl.  Sachs,  Hans. 


Goethe:  Goethe  über  seine  drauuitisclien 
dichtuugen  s.  124  fg.,  plan  einer  'Ruth' 
s.  125 ,  epilog  zu  Schillers  glocke 
s.  125,  zum  'Faust'  s.  333  fg.,  zum 
'Egmont'  s.  493  fg.;  Charlotte  v.  Stein 
s.  494  f. 

gotische  bibcl:  text  und  vorläge  s.  366  fg. 


510 


I.    SACHREGISTKK 


Hartmann  von  Aue  als  vorbild  Heinrichs 
von  dem  Turlin  s.  161. 

haupt-  und  Staatsaktionen  s.  485  fg.,  die 
stücke  des  Wiener  lianswursts  Joseph 
Antoni  Stranitzkj'  s.  486. 

Heinrich  von  dem  Turlin:  die  'Krone' 
und  ihr  dichter  s.  154  fg.,  Überlieferung 
und  abfassungszeit  s.  155.  166,  heimat 
und  geschlecht  des  dichters  s.  156  fg., 
Persönlichkeit  s.  160,  Vorbilder  s.  161, 
sprachform  der  'Krone'  s.  162  fg., 
287  fg.,  doppelformen  s.  316  fg.,  Wort- 
schatz s.  322  fg.,  der  schreiberanhaug 
s.  329  fg. 

Herbort  v.  Fritzlar,  Verhältnis  von  Albrecht 
von  Halberstadt  vgl.  diesen. 

Hermann  v.  Fritzlar,  Heiligenleben  s.  257. 

hiatus  vgl.  synaloephe. 

hochzeitgebräuche  vgl.  braut  und  gemahl. 

höfische  uud  unhöfische  Wörter  in  der 
Nib.hs.  A  s.  73  fg. 

indogermanisch,    Verhältnis    zum    semiti- 
schen s.  120  fg. 
Jean  Paul,  ästhetik  s.  496  fg. 

kärntisch  vgl.  mundartenforschug. 
kindersprache  s.  499  fg. 
Kleist,  Heinrich  v.,  bildlicher  ausdruck  in 
seinen  werken  s.  498. 

legende  vgl.  Thomaslegende. 
Lohengrin  s.  129. 
Luther,  spräche  s.  251  fg. 

metrik:  althociuleutsche  reimgedichte 
s.  364  fg. 

m//e-spiel  s.  326  a. 

jninnesang:  der  altdeutsche  minnesang 
im  Zeitalter  der  deutschen  klassiker 
und  romantiker  s.  361  fg. ;  vgl.  nieder- 
ländisch. 

Morasteiu  s.  11  fg. 

Moscherosch :  deutsche  Vorbilder  und 
quellen  seiner  'Gesichte'  s.  345  fg.,  be- 
ziehungen  zu  Strassburg  s.  346,  Fiscliart 
und  Moscherosch  s.  348  fg. 

mundartenforschung :  Nürnberger  mund- 


art  s.  126,  kärntisch  mit  bozug  auf  die 
spräche  der  'Krone'  s.  187 — 816  in  den 
anmerkungen,  Wortschatz  des  heutigen 
kärntisch  mit  bezug  auf  die  'Krone' 
s.  322  fg.,  schlesisch  s.  117  fg.  504  fg. 
Mundt,  Theodor  s.  '254. 

nameuforschung  s.  116fg. ;  vgl.  fluruameu. 

Neidharts  schule  s.  357. 

neuhochdeutsch :  Schriftdialekte  s.  251  fg.. 
das  suffix-c/ic«  s.  252  fg. 

Nibelungenhs.  A,  textkritik:  das  Verhält- 
nis der  Schreiber  zu  dem  strophen- 
bestaude  der  vorläge  s.  61  fg.,  ab- 
schwäcluing  der  dienerrolle  Siegfrieds 
s.  08  fg.,  beseitigungoder  abSchwächung 
spielmäunischer  demente  s.  70  fg.  74, 
beseitlgung  oder  abschwächuug  un- 
höfischer Wendungen  s.  73  fg.,  Stellung 
der  Schreiber  zum  text  der  vorläge 
s.  75  fg.,  zur  frage  des  Stilkriteriums 
s.  77,  epische  formein  s.  78  fg. 

niederdeutsch  vgl.  rechtsquelleu. 

niederläudisch :  eutwicklungsgaug  der  nl. 
literatur  s.  463,  die  Haager  liederlis. 
s.  464,  beziehungen  zwischen  hd.  uud 
ul.  s.  464  fg.,  andere  ul.  liederhss. 
s.  466. 

uordisch :  altnordisch  v  s.  233  fg. ;  ntesta 
broeöra,  annarra  broeöra,  })ridja  broeöra 
8.  417  fg. ;  altwestnordische  lehnwörter 
s.  448  fg. ;  vgl.  runenkunde. 

Otfrid  vgl.  synaloephe. 

Österreicher,  Ambrosius,  scliwerdttauz- 
gedicht:  vita  s.  98  fg.,  topographisches 
aus  Nürnberg  s.  99  fg.,  vom  titel  'alter 
herr'  s.  102,  Zusammensetzung  des 
Nürnberger  rates  s.  103,  luildigung 
vor  den  ratsherren  durch  den  schwert- 
tanz s.  104,  schwerttauz  s.  106  fg. 

Passional  s.  257. 

Probst,  Peter,  dramatische  werke  s.  483  fg. 

rechtsquellen,   die   nd.   rq.   aus  Ostfries- 
land 8.  119. 
romautik  vgl.  minnesang  und  Shakespeare. 


I.    SACHREGISTER 


511 


runenkunde: 

I.  nordische  runendkm. :  denksteine 
s.  236,  äussere  gestalt  der  iu- 
schriften  s.  237,  spraclio  8,  238, 
altnordische  personennamen  s.  238, 
Inhalt  der  Inschriften  s.  239,  verse 
in  runeninschriften  s.  239,  die  In- 
schrift von  Sonder-Vinge  s.  240, 
frauen  in  runeninschriften  s.  240; 
bildliche  darstellungen  und  figuren 
s.  241,  der  Karlevi-stein  auf  Öland 
s.  241,  fremde  runendenkmäler  auf 
dänischem  hoden  s.  242  fg.,  alter 
der  runeninschriften  s.  244,  geo- 
graphische Verbreitung  s.  244, 
Ärhustenen  Y  und  andere  neu 
entdeckte  runensteine  s.  245,  lexi- 
kalisches S.246,  der  Bornholinische 
stein  von  Vester  Marie  VI  s.  247, 
ein  norwegisches  schabemesser  aus 
dem  4.  jh.  s.  248,  norwegisches 
webetäfelchen  s.  248 ,  ein  neues 
dkm.  mit  dem  gemeingermanischen 
ruuenfujjark  s.  249,  die  inschrift 
des  Wetzsteines  von  Strom  auf 
Hitteren  (urnord.)  s.  885  fg. 
11.  die  altfriesische  inschrift  vom  Aru- 
mer  schwertchen  s.  393  fg. 
III.  altenglische  runeninschriften:  die 
beinlamelle  des  Brit.  museums 
s.  331,  die  inschrift  des  Brauu- 
sclnveiger  reliquars  s.  332  fg. ;  vgl. 
Wielandsage. 


Sachs,  Hans :  'der  marschalk  mit  seinem 
söhn',  (juellen  s.  428,  ein  meisterlied 
des  Hans  Folz  als  quelle  s.  429,  Ver- 
hältnis zum  'ritter  von  Thurn'  des 
Chevalier  de  La  Tour  Landry  s.  431  fg. 
443  fg.,  Johannes  Agricola  als  quelle 
für  Hans  Sachs  s.  433  fg.  443  fg.,  Hans 
Sachs  hat  nur  das  meisterlied  des  Hans 
Folz  benutzt  s.  434  fg.,  der  Esopus  des 
Burkhard  Waldis  als  quelle  für  Hans 
Sachs  s.  437  fg. ;  zum  'Henno'  s.  344  fg. 

Saxo  (Ti-ammaticus  s.  12  fg. 

achlesisch  s.  117  fg.,  504  fg. 


scbwerttanz  vgl.  Österreicher. 

Shakespeare  im  lichte  der  romantik 
s.  601  fg. 

spielmäunisches  in  der  Nib.hs.  A;  vgl. 
Nibelungenhs.  A. 

Sprachpsychologie  s.  122  fg. 

St.  Georgener  prediger  s.  356. 

Stein,  Charlotte  v.,  s.  494  fg. 

Stieler,  Caspar,  als  dichter  der  Gehar- 
nischten Venus  s,  447  fg. 

Stilistik:  das  zweigliedrige  wortasyndeton 
in  der  älteren  deutscheu  spräche 
s.  358  fg.,  zwei-  und  dreigliedrigkeit 
in  der  deutschen  prosa  des  14.  und 
15.  jh.  s.  488  fg.,  übersiclit  einer  histo- 
rischen Stilistik  s.  489,  theorie  der 
drei  stilarten  s.  489  fg.,  rhythmische 
Satzschlüsse  s.  480. 

Stranitzky  vgl.  haupt-  und  Staatsaktionen. 

synaloeplie  bei  Otfrid:  sprechformen  der 
Partikeln  s.  15  fg.,  die  pronomina 
s.  18  fg.,  189  fg.,  Übersicht  der  regeln 
für  hiat  und  synaloeplie  s.  231  fg., 
die  vorrede  an  Liutbert  s.  407  fg., 
prinzipielle  einschätzung  der  syna- 
loephen  bei  Otfrid  s.  411  fg. 

Syntax:  die  vorsilbe  ver-  und  ihre  ge- 
schichte  s.  362  fg.,  Substantivierung 
des  Infinitivs  s.  376  fg. 

Teilsage  vgl.  Wielandsage. 

Thomaslegende  s.  257  fg. 

totentanzproblem :  hypotheseu  vom  Ur- 
sprung der  totensänze  s.  261,  verliält- 
nis  der  ältesten  fassungcn  s.  263,  der 
frz.  text  s.  264,  der  personifizierte  tod 
oder  die  toten  selbst  im  totentanz 
s.  266  fg.,  Verwandtschaft  und  innere 
Verschiedenheit  des  frz.,  span.  und  ud. 
textes  s.  269  fg.,  Charakter  des  quell- 
textes  s.  272  fg.,  der  lat.  totentanz  als 
quelle  aller  totentänze  s.  274,  text  und 
geschichte  des  Vado  mori  s.  276  fg., 
427  f. ,  herkunft  des  totentanzmotivs 
s.  281,  totentauzbilder  s.  281  fg.,  ent- 
wicklungsgang  der  totentänze  s.  285  fg. 

Ulrich    von    Zatzikuven:    der    'Lanzelet' 


512       II.    VEKZKICHNIS   DER   BESPROCHENEN    STELLEN    —    III.   WORTREGISTER 


als  Vorbild  für  Heinrich  von  dem  Tur- 
lin  s.  162. 

Vado  mori :  Versionen  s.  276  f.,  422  fg.,  vgl. 
totontanzproblem. 

versprechen,  seine  bcdcutung-  im  spracli- 
leben  s.  500  ig. 

Volkslied  des  15./16.  jahrh. :  formelhafte 
elemente  s.  468,  epische  formelu  s.  468, 
lyrische  formein  s.  469,  liedeingänge 
s.  469,  gerippformeln,  stropheneingänge 
s.  469,  liedkomposition  s.  470. 


Waldis,  Burkhard:  quelle  für  Hans  Sachs 
s.  437  fg. 

Wielaudsage  s.  113  fg.,  der  hogeuschütze 
des  ags.  runenkästchens  s.  113  a.  2,  zu- 
sammenliang  mit  der  Tellsage  s.  114. 

Wirnt  von  Gravenberc  als  Vorbild  für 
Heinrich  von  dem  Turlin  s.  161. 

Wolfram  von  Eschenbach :  vorbild  Hein- 
richs von  dem  Turlin  s.  161,  die  gral- 
sage bei  Wolfram  s.  461. 


IL  VERZEICHNIS  DER  BESPROCHENEN  STELLEN. 


got.  bibel  Math.  10,  35  s.  151. 
Gudrun  str.  665,  1043,  1245  s 
Nib.lied  str.  1681  s.  136. 


136. 


Passional  (ed.  Köpke  s.  119, 6  ff.)  s.  140  a.  3. 
Tristan    des    Heinrich    von    Freiberg   v. 
496  fg.  s.  137. 


IIL  WORTREGISTER. 


Althochdeutsch. 

ärunti  s.  3ü7  fg. 
mahal  s.  138  fg. 

Mittelhochdeutsch. 

brütleite  s.  141. 
brütmuos  s.  151. 
emde  s.  397  fg. 
mile  s.  326  u.  a. 

Neuhochdeutsch. 

braut  s.  129  fg. 
eidam  s.  137. 
gemahl  s.  129  fg. 
göckelmann  s.  107. 
-ichin  s.  252. 


tussecke  s.  108. 
waidner  s.  107. 

Augelsächsisch. 

brj'dealu  s.  151. 

Altnordisch. 

haugr  s.  2  fg. 

hefja  til  konungs  s.  9  a. 

hgrgr  s.  3  fg. 

min[)ak  s.  450. 

siukr  s.  451. 

syll,  sylla  s.  451. 

Lateinisch. 

bruta  s.  152. 


Druck  von  W.  Kohlhammer,  Stuttgart. 


X 


PF 
3003 

Z35 

Bd.  42 


Zeitschrift  für  deutsche 
Philologie 


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