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Full text of "Zeitschrift für experimentelle Pädagogik"

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Zeitschrift  für 


Experimentelle  Pädagogik, 

Psychologische  und  pathologische  Kinderforschnng 

mit  Berücksichtigung  der 

Sozialpädagogik  und  Schulhygiene 

unter  Mitwirkung  von: 

Prof.  Dr.  N.  Ach,  Königsberg  i.  Pr. ;  Dr.  E.  Ebert,  Lehrer,  Zürich;  Dr.  A,  Engrels- 
perger,  Direktor  d.  Pr.-Erziehungs-Anstalt  f.  geistig  abnorme  und  nervöse  Kinder, 
München;  L.  F.  GSbelbecker,  Hauptlehrer  in  Konstanz;  Prof.  Dr.  H.H.  Goddard 
in  Vineland,  N.J.;  Frau  Dr.  L.  Hoesch  Ernst  in  Godesberg;  Prof.  Dr.  Ch.  H.  Judd, 
Prof.  a.  d.  Universität  Chicago;  Prof.  Dr.  Krogius  in  St.  Petersburg;  Dr.  Aug.  Mayer, 
Kreisschulinspektor  in  Bayreuth;  Dr.  0.  Messmer,  Seminarlehrer  in  Rorschach;  Prof. 
Dr.  A.  Netschajeff  in  St.  Petersburg;  Dr.  L.  Pfeiffer.  Stadtschulrat  in  Schweinfurt; 
Dr.  Ranschburg  in  Budapest;  Dr.  Fr.  Schmidt,  Bezirksoberlehrer  in  Würzburg;  Prof. 
Dr.  Schuyten  in  Antwerpen  ;  Prof.  Dr.  E.  D.  Starbuck  in  Richmond,  Indiania ;  Prof.  Dr. 
G.  M.  Stratton,  Johns  Hopkins  University  Baltimore;  Dr.  A.  Stössner,  Seminarober- 
lehier   in  Pirna;    Dr.  0.  Ziegler  in  München 

herausgegeben  von 

E.  Meumaun, 

Professor  der  Philosophie  u.  Pädagogik  a.  d.  Univ.  Halle  (Saale). 


ix:.  ]Baiia. 


OTTONEMNiCn 

vtRLno 

LEIPZIG. 

1909. 


Dnick  der  Dirtrrichschcn  Univ-Buchdruckcrci  (W.  Fr.  Kaestner) 
in  OöUinifcn. 


Inhalt 


Abhandlungen:  Seite 

Zur  Erkennung  jugendlichen  Schwachsinns.  Von  Gustav 
Major,  Direktor  des  med. -päd.  Kinderheims  „Sonnenblick" 

in  Zirndorf  b.  Nürnberg 1  — 73 

Nochmals  das  „Ferngefühl"  (Fernempfindung)  als  Hautsinn.     Von 

M.  Kunz 74  —  146 

Bemerkungen    zu    der    obigen    Abhandlung    von  M.  Kunz.     Von 

E.  Meumann 146  —  149 

Zeichnen,  Sprechen  Rechnen.     Von  F.  Graberg  in  Zürich        .  149 — 165 

Die  wichtigsten  Ergebnisse  der  experimentellen  Untersuchungen 
über   das    Lesen.      Von  Oberlehrer  Dr.  Jak.   Schwender 

in  Biebrich  a.  Rh 169—224 

Pädagogik  und  Psychologie  der  Mathematik.  Von  Dr.  Theodor 
Lessing,  Privatdozent  der  Philosophie  und  Pädagogik  in 

Hannover 225-237 

Der    Stand    der  Heilpädagogik    in    Ungarn    im    Jahre   1907/08. 

Von  Helene  Goldbaum  in  Wien 238—239 

Ein  Bedenken  über  „Einige  Gedanken"  von  Frau  Dr.  L.  Hösch- 

Ernst.     Von  Alexander  Netschajeff  in  St.  Petersburg  239^ — 240 

Das    städtische    pädologische   Laboratorium    Antwerpens.        Von 

Direktor  Dr.  M.  C.  Schuyten 241  —  250 

Zur  physiologischen  und  pathologischen  Psychologie  der  elemen- 
taren   Hechenarten.       Zweiter,    abschließender    Teil.       Von 

Dr.  Paul  Ranschburg  in  Budapest 251  —  263 

Literaturbericht    . 165—168.  264—311 


A.bliandlunge  n . 


Zur  Erkennung  jugendlichen  Schwachsinns. 

Von  Gustav  Major,  Direktor  des  med.-päd.  Kinderheims  „Sonnenblick" 
in  Zirndorf  b.  Nürnberg. 

Wer  kennt  nicht  die  Klage  besorgter  Väter  über  die  geringen 
Fortschritte  ihrer  Kinder  in  der  Schule  und  ihr  Urteil:  Es  wird  in  der 
Schule  viel  zu  viel  verlangt.  Die  Kinder  haben  gar  keine  freie  Zeit 
mehr,  den  ganzen  Tag  müssen  sie  Schularbeiten  machen.  Ebenso  bekannt 
sind  die  Vorwürfe  vieler  niedergedrückter  Mütter,  die  alle  Schuld  dem 
Lehrer  beimessen,  der  gerade  ihr  Kind  nicht  leiden  mag.  Beide  An- 
klagen sind  stark  übertrieben.  Die  Schule  als  öffentliche  Institution  des 
Staates  zur  Heranbildung  tüchtiger  Charaktere  und  Staatsbürger  kann 
und  muß  ihre  Maßnahmen  nur  auf  gesunde,  leistungsfähige  Kinder  zu- 
schneiden. Und  das  gesunde  Kind  absolviert  denn  auch  die  Schule  ohne 
nennenswerte  Schwierigkeiten,  ohne  übergroße  Anstrengungen. 

Ob  nun  alles  in  der  Schule  richtig  und  gut  ist,  ob  man  nicht  zuviel 
Grewicht  legt  auf  Aneignung  gedächtnismäßiger,  vielfach  fürs  Leben 
wertloser  Dinge,  ob  man  nicht  zu  viel  papierne  Zimmerweisheit  doziert, 
ob  die  Schule  die  Hauptarbeit  in  den  Unterricht  verlegt,  oder  sich 
die  Kinder  mit  dem  Erfassen  und  Verarbeiten  des  gebotenen  Stoö'es  zu 
Hause  allein  oder  mit  Vater,  Mutter  und  Hauslehrer  plagen  läßt,  ob 
zwischen  Lehrenden  und  Lernenden  ein  richtiges,  väterlichfreundliches 
Verhältnis  besteht,  ob  endlich  der  Schüler  gern  zum  Born  der  Weisheit 
geht,  soll  hier  nicht  entschieden  werden.  Uns  kommt  es  hier  auf  etwas 
ganz  anderes  an.  Die  Tatsache,  daß  viele  Kinder  den  Anforderungen 
der  öffentlichen  Schule  nicht  gewachsen  sind  und  in  derselben  nicht  mit- 
kommen können,  läßt  sich  nicht  aus  der  Welt  schaffen.  Sind  die  Schule 
und  der  Lehrer  nicht  ohne  Weiteres  schuld  an  dem  Hängenbleiben  der 
Kinder,  so  kann  der  Grrund  nur  in  diesen  selbst  gesucht 
werden.     Hierzu  einige  Beispiele: 

J.  K.,  der  Sohn  eines  höheren  Beamten,  hat  keine  Vorschule  besucht, 
sondern   ist   im  Hause   unterrichtet.     Mit    10  Jahren   kommt    er   in   die 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  1 


—     2     — 

Sexta  und  erreicht  das  Klassenziel,  bleibt  aber  in  Quinta  sitzen.  Da  er 
in  den  beiden  letzten  Jahren  des  Privatunterrichtes  gute  Fortschritte 
gemacht,  die  Sexta  glatt  absolviert  hatte  und  nun  in  der  Quinta  nicht 
mitkommt,  muß  die  Schule  schuld  sein.  Die  Krankengeschichte  des 
Kindes  jedoch  gibt  andern  Aufschluß. 

J.  hat  spät  laufen  und  sprechen  gelernt  und  spät  Zähne  bekommen. 
Er  klagt  häufig  über  schneidende  Schmerzen  im  Hinterkopf.  Von  den 
Kinderkrankheiten  hat  er  Scharlach  und  Masern  überstanden.  In  der 
vorschulpflichtigen  Zeit  sind  ihm  die  Rachenmandeln  entfernt. 

In  den  manuellen  Fertigkeiten,  Schreiben,  Zeichnen  usw.  ist  er  sehr 
ungeschickt  und  langsam.  Dieselbe  Ungeschicklichkeit  und  Verlang- 
samung zeigt  sich  auch  beim  Spielen  und  praktischen  Arbeiten  im  elter- 
lichen Garten.  Nebenher  geht  jedoch  eine  nicht  geringe  Waghalsigkeit, 
ein  Unvermögen  im  Abschätzen  der  Grefahr.  Im  Anzüge  ist  er  unselbst- 
ständig  und  unordentlich.  Zu  seinen  Greschwistem  ist  er  meist  nett 
und  liebevoll,  manchmal  jedoch  kann  er  bei  ganz  geringen  Anlässen  recht 
zornig  und  häßlich  werden.  Leichte  Gesichtszuckungen  und  Nägelkauen 
verraten  dazu  ein  geschwächtes  Nervensystem. 

Eine  leichte  Verlangsamung  der  Ideenassoziation  ist  das 
hervorstechendste  Moment  bei  einer  Analyse  seines  Intelellekts.  Als 
KoroUarsymptome  treten  hinzu  leicht  herabgesetzte  Weckbarkeit  der 
Aufmerksamkeit  und  herabgesetzte  Haftfähigkeit  derselben.  Vigilität 
und  Tenacität;  die  Verlangsamung  der  Ideenassoziation  beschränkt  sich 
nicht  nur  auf  die  Auseinanderreihung  der  Vorstellungen  unter  sich,  son- 
dern auch  auf  die  Anknüpfung  der  ersten  Vorstellung  an  die  Empfindung. 
Weiter  betrifft  die  Verlangsamung  auch  die  Schlußübertragung  der 
kortikalen  Erregung  in  die  motorische  Region.  Es  zeigte  sich  nämlich 
auch  als  weitere  Teilerscheinung  eine  Verlangsamung  der  willkürlichen 
Bewegungen. 

Daß  alle  Denkprozesse  so  langsam  einhergehen,  hat  zumeist  seinen 
Grund  in  der  mangelhaften  Aufmerksamkeit.  Am  liebsten  sitzt 
J.  träumend  im  Unterricht,  er  beteiligt  sich  selten  und  läßt  lieber  andere 
arbeiten,  um  sich  mit  den  paar  herausdestillierten  Ergebnissen  zu  befrie- 
digen. Auffallend,  jedoch  erklärlich  ist  es,  daß  J.  gar  manche  Dinge 
seiner  Umgebung  nicht  oder  ganz  ungenau  kennt,  woraus  folgt,  daß  er 
nicht  viel  klare  Erinnerungsbilder  und  auf  sie  abgestimmte  Assoziations- 
bahnen haben  kann.  So  ist  es  verständlich,  daß  Reize  oder  daraus  ent- 
standene Empfindungen  die  Aufmerksamkeit  nicht  bestimmen  und  keine 
Vorstellungen  wecken  können.  Wiederholt  man  die  Frage  noch  einmal, 
so  wirkt  man  balinend  und  der  Reiz  tritt  über  die  Schwelle  des  Be- 
wußtseins und  führt  psychische  Prozesse  herbei. 


Ebenso  langsam  vollzieht  sich  die  Übertragung  in  die  motorische 
Region,  dies  geht  sogar  soweit,  daß  die  Phonation  etwas  gehemmt  ist, 
er  spricht  langsam  und  leise.  Alles  ist  verlangsamt,  dagegen  kann  er 
beim  Spielen  sehr  ausgelassen  sein,  was  wiederum  auch  verständlich  ist, 
da  diese  Art  Betätigung  keine  oder  doch  wenig  Überlegung  erfordert, 
sie  vollzieht  sich  mehr  reflektorisch. 

Das  schwache  Gedächtnis  wirkte  weiterhin  hemmend  auf  die 
normale  Entwicklung  des  Jungen  ein.  Am  besten  ist  noch  das  mecha- 
nische Gedächtnis  entwickelt.  Durch  Allitteration,  Rythmus  und  Reim 
prägt  sich  ihm  gar  manches  recht  fest  ein.  Wollte  man  hierauf  weiter- 
bauen, so  könnte  man  ihn  zu  einem  leidlich  guten  Wissen  verhelfen,  alles 
wäre  aber  nur  Wortwissen,  Scheinwissen,  ohne  Wert  für  seine  Persön- 
lichkeitsb  il  düng. 

Schwächer  schon  ist  das  Wortbildergedächtnis,  was  seine  mangel- 
hafte Rechtschreibung  dokumentiert.  Besonders  schwach  ist  das  Willens- 
gedächtnis. Er  will  gern  alles  tun,  was  man  von  ihm  verlangt,  aber 
der  nächste  Augenblick  hat  ihm  den  Antrieb  zur  Ausführung  weg- 
genommen. 

Infolge  der  etwas  verlangsamten  Gedankenbewegung  und  der  be- 
vorzugten Form  des  mechanischen  Aneignens  des  Wissenswerten  ist  der 
Wortschatz  auch  ein  verhältnismäßig  kleiner.  Einige  Ausdrücke,  be- 
sonders gesellschaftlicher  Art,  verblüffen  direkt  und  verursachen  wohl 
auch  eine  höhere  Bewertung  der  Veranlagung  des  J. 

Ethische  Ausfälle  ließen  sich  ebenfalls  unschwer  feststellen. 
J.  ist  egoistisch  veranlagt.  Gern  fühlt  er  sich  als  Mittelpunkt  der  Spiele 
und  Unterhaltungen  seiner  Kameraden ;  ein  Abweichen  von  diesem,  seinem 
Wunsch,  kann  ihn  recht  häßlich,  rechthaberisch,  ja  roh  werden  lassen. 
Genau  so  ist  er  im  Verkehr  mit  seinen  Geschwistern,  denen  er  sehr 
zugetan  ist.  Er  kann  aber  bei  dem  geringsten  Anlasse  ins  Gegenteil 
sich  verkehren,  und  stark  negative  Gefühle  bekunden.  Die  Stimmung 
ist  labil. 

Das  Wahrheitsgefühl  liegt  infolge  des  nicht  ganz  intakten  Gedächt- 
nisses auch  etwas  darnieder.  Er  lügt  selten  bewußt,  meist  glaubt  er 
tatsächlich,  daß  der  Vorgang  sich  genau  so  abgespielt  habe,  wie  er  angibt. 

Als  die  Eltern  auf  alle  diese  Symptome  aufmerksam  gemacht 
wurden,  wollten  sie  darin  kein  Abweichen  von  der  Norm  sehen,  es  käme 
doch  öfter  vor,  daß  Kinder  sich  so  geben,  wie  ihr  Junge,  der  doch 
körperlich  sehr  kräftig  sei,  und  noch  viel  weniger  wollten  sie  glauben, 
daß  ihr  Junge  das  Gymnasium  zu  absolvieren  nicht  imstande  sein  würde, 
daß  er  nicht  für  den  gelehrten  Beruf  tauge  und  etwas  Praktisches  er- 
lernen müsse. 

1* 


—    4    — 

L.  C,  13  Jahre  alt,  Tochter  eines  Branereidirektors,  besuchte  bis 
zu  12  Jahren  die  höhere  Töchterschule.  In  den  untern  3  Klassen  ist 
sie  ohne  besondere  Anstrengung,  wenn  auch  nur  als  leidlich  mittel- 
mäßige Schülerin  versetzt.  Die  folgende  Klasse  brachte  Französisch 
und  jetzt  zeigte  sich  ganz  deutlich,  daß  L.  nicht  mehr  mitkommen  konnte. 
Sie  wollte  gern,  denn  das  wußte  sie,  daß  ihr,  falls  sie  jetzt  mit  den 
anderen  Schülerinnen  nicht  Schritt  halten  konnte,  der  weitere  Besuch 
der  höheren  Töchterschule  unmöglich  war  und  so  arbeitete  sie  fleißig, 
und  trotzdem  Vater  und  Mutter  halfen,  mußte  sie  doch  täglich  3 — 4 
Stunden  über  den  Schularbeiten  sitzen.  So  wurde  sie  überanstrengt, 
nnd  konnte  in  der  Schule  nicht  folgen,  es  blieb  mehr  Hausarbeit,  die 
sie  nicht  bewältigen  konnte.  Es  entstand  ein  circulus  vitiosus.  Und  so 
blieb  sie  denn  sitzen.  Als  sich  in  der  5.  Klasse  keine  bessern  Fortschritte 
zeigten,  nahm  sie  die  Mutter  aus  der  Schule  heraus  und  brachte  sie  in 
eine  Mittelschule. 

Auch    diese    Eltern    wollten    nicht    glauben,    daß    ihr    Kind    leicht 
schwachsinnig   war   und   daß   darin   der  Gruud   des  Mißerfolges   in   der 
Schule   lag.      Beide    glaubten,    daß   ihr    körperlich    gesundes   Kind    das, 
leisten  könnte,  wenn  es  nur  wollte. 

Neben  schwachem  Gedächtnis  zeigten  sich  vor  allem  schwere  Fehler 
und  Mängel  im  Vorstellungsleben.  Einfache  Vorstellungen  zeigten 
noch  nichts  Anormales,  je  höher  hinauf,  desto  erheblicher  waren  die  Aus- 
fälle. Schon  die  Zeitvorstellungen  waren  nicht  absolut  klar,  am  ärgsten 
war  es  mit  den  Beziehungsvorstellungen.  Ursachen  und  Wirkung,  Grund 
und  Folge  zu  erfassen,  war  ihr  schier  unmöglich.  Sie  konnte  es  nicht 
einsehen,  daß  bei  veränderter  Ursache  die  Wirkung  eine  andere  sein 
muß,  oder  die  Ursache  eine  andere  ist  bei  anderer  Wirkung.  In  den 
mangelhaften  Beziehungsvorstellungen  hat  es  auch  seinen  Grund,  daß 
ihr  das  Rechnen  so  schwer  fiel.  Alle  Operationen  mit  abstrakten  Größen, 
wo  es  nur  auf  Reflexionen  ankommt,  bereiteten  ihr  schier  unüberwind- 
liche Schwierigkeiten.  Daß  dann  natürlich  die  komplexen  Vorstellungen, 
gebildet  aus  zusammengesetzten  Allgemein-  und  Beziehungsvorstellungen, 
nicht  intakt  sein  können,  ist  einleuchtend  und  so  waren  ihr  Begriffe 
wie  Dankbarkeit,  Pflicht,  Eigentum  etc.  nicht  so  klar,  daß  sie  dieselben 
zu  Maximen  für  ihr  Handeln  machen  konnte. 

Die  freie  Assoziation  war  etwas  verlangsamt.  Folgende  Reiz- 
skala zeigt  neben  der  Armut  an  Vorstellungen  eine  Unbeweglichkeit  der 
Gedanken.    Die  Zeiträume  waren  auch  größer  als  die  normalen. 

tanzen  

Bär  Tier 

Lokomotive  Zug 


rufen 
Luftschiff 

sprechen 
fahren 

weich 

—  —  — 

turnen 
Autobus 

springen 
fahren 

schützen 

Schilderhaus 

heiß 



exerzieren 



Laternenpfahl 
Globus 

Erdkarte 

B.  Z.  am  Mittag 
verkaufen 

Berliner  Zeitung 
handeln 

schlau 

heiter 

handeln 

kaufen 

umhertreiben 
Kamel 

spazieren 
Tier 

Sparkasse 

Geld. 

Als  inhaltliche  Störungen  der  Ideenassoziation  zeigt  sich 
nunmehr  eine  verständliche  Urteilsschwäche  und  Armut  der 
Phantasie.  L.  vermochte  eine  ihr  vorerzählte  Geschichte  oder  ein 
Erlebnis  wohl  leidlich  nacherzählen,  hatte  aber  lange  nicht  immer  den 
Innern  Zusammenhang  und  die  Pointe  erfaßt. 

Die  Weckbarkeit  der  Aufmerksamkeit  war  auch  etwas 
herabgemindert,  desgleichen  die  sensorielle  Konzentrations- 
fähigkeit; das  anhaltende  Einstellen  der  Aufmerksamkeit  auf  zu  er- 
wartende Reize  war  erheblich  gesteigert.  Daher  die  allgemeinen  Klagen 
der  Lehrer,  daß  L.  nicht  folgen  könne,  da  zufällig  ins  Blickfeld  kommende 
Dinge  als  Nebenreize  so  stark  sind,  daß  sie  den  gewollten  Hauptreiz  ver- 
drängen und  so  selber  als  überwertiger  Hauptreiz  auftretend,  die  Aufmerk- 
samkeit und  die  sich  anfolgenden  Assoziationen  und  Reflexionen  bestimmen. 

Bei  den  sensoriellen  Gefühlstönen  kennzeichnete  sich  ein 
gesteigertes  Kitzelgefühl  und  eine  stärkere  Schmerzempfindlichkeit  als 
anormal.  Die  intellektuellen  Gefühlstöne,  die  der  Vorstellungen 
müssen  geschädigt  sein,  wenn  auch  dem  Laien  kaum  merklich,  da  die 
Vorstellungen  höherer  Ordnung  nicht  völlig  richtig  und  intakt  sind.  Und 
intellektuelle  Gefühlstöne  sind  die  der  Erinnerungsbilder.  Hierin  finden 
wohl  zum  Teil  ihre  nicht  sehr  ausgeprägte  Dankbarkeit  und  Anhäng- 
lichkeit ihre  Erklärung. 

Dagegen  war  sie  ziemlich  komplizierter  Affekte  fähig,  die  jedoch 
alle  den  Stempel  krassen  Egoismusses  trugen.  Eine  nicht  geringe 
Schadenfreude   verband   sich  mit  einem  gut  Stück  Rachsucht  und  Neid. 


Mit  der  Wahrheit  nahm  sie  es  nicht  sehr  genau,  vor  allem  dann  nicht, 
wenn  es  sich  auf  ihre  eigene  Person  bezog.  Eitel,  selbstgefällig,  putz- 
und  gefallsüchtig  war  sie  in  besonderm  Maße.  Wenn  ein  gut  Teil  Eitel- 
keit einem  Mädel  ganz  gut  steht,  so  waren  hier  die  Grrenzen  ins  Un- 
ermeßliche verschoben.  Ihr  gesamtes  Wünschen  und  Sehnen  richtete  sich 
auf  eine  gute  Toilette,  schlanke  Figur,  zarten  Teint,  große  Augen  und 
dergleichen  Dinge  mehr.  Während  ihre  zeichnerischen  Fähigkeiten  und 
Produktionen  sonst  durchaus  nicht  auffallend  gut  waren,  war  sie  eine 
Meisterin  im  Malen  kostbarer  Toiletten.  Im  Unterrichte,  im  Hause,  auf 
der  Straße  vorm  Schauladen  stand  sie  und  zeichnete. 

Ebenso  kompliziert  waren  ihre  Überlegungen  und  Handlungen. 

Die  Analyse  der  Psyche  beider  Kinder  zeigt  ganz  deutlich  die 
Gründe  der  schlechten  Ergebnisse  in  der  Schule.  Beide  Kinder  hätten 
mit  den  beliebten  Nachhilfestunden  noch  1 — 2  Jahre  die  Schule  besuchen 
können,  hätten  vielleicht  sogar  einen  gewissen  Abschluß  erreicht,  um 
dann  erst  unter  den  gesteigerten  Anforderungen  des  Lebens  an  die 
psychischen  und  physischen  Kräfte  des  Einzelnen  zu  unterliegen. 

Es  gibt  solcher  Fälle  eine  ganz  stattliche  Anzahl.  Nicht  selten, 
wird  solch  anormales  Kind  aus  äußern  Rücksichten  durch  die  Schule 
geschleppt,  weil  der  Vater  ein  angesehener  Mann  oder  gar  Mitglied  des 
Lehrerkollegiums  der  Schule  ist,  weil  man  den  inständigen,  häufigen  Bitten 
der  Eltern,  ihnen  die  Blamage  zu  ersparen,  aus  vielleicht  rein  mensch- 
lichem Interesse  nachgibt,  weil  das  gesamte  Schülermaterial  gerade  in 
dieser  Klasse  ein  besonders  schlechtes  ist  und  der  Betreffende  nicht 
sonderlich  auffällt,  oder  in  kleinern  Anstalten,  besonders  in  denen  pri- 
vater Natur  aus  geschäftlichen  Gründen. 

Wir  haben  gerade  diese  beiden  Beispiele  gewählt,  um  zu  zeigen, 
daß  niemand  im  Elternhause  und  Schulkörper  die  abnorme  Veranlagung 
erkannte,  weil  die  Kinder  körperlich  gesund,  ja  kräftig  waren,  man 
hielt  sie  für  normal,  höchstens  für  faul,  legte  ihr  Nichtmitkommen  als 
Nichtwollen  aus  und  tröstete  sich  damit,  daß  andere  Kinder  nicht  viel 
bessere  Leistungen  aufzuweisen  hätten  und  diese  Unart  vielleicht  noch 
verschwinden,  das  Ziel  doch  erreicht  wird.  Zu  diesen  beiden  Fällen 
ließen  sich  noch  viele  hinzufügen,  die  aber  alle  dasselbe  bekunden  würden: 
daß  in  allen  Formen  kindlichen  Schwachsinnes,  selbst  in 
leichten,  die  Anforderungen  der  öffentlichen  Schule  als 
Anstalt  für  Gesunde,  zu  hoch  sind,  daß  ein  Erreichen  des 
gestecktes  Zieles  unmöglich  ist,  und  weiter,  daß  die  Eltern 
leider  nicht  die  Ursache  des  Mißlingens  erkennen  und  daher  nicht  bei- 
zeiten für  eine  richtige,  sachgemäße  Behandlung  ihrer  Kinder  Sorge 
tragen   konnten.     Denn    daß    in   den    weitaus    meisten    Fällen    bessere 


—     7     — 

Resultate  gezeitigt,  den  Eltern  und  Kindern  viel  Sorge  und  Herzeleid, 
trübe  Stunden,  ja  Jahre  hätten  erspart  werden  können,  daß  das  ver- 
ärgerte, scheue,  geängstete,  freudeleere  Kindergemüt  Sonnenschein,  Licht 
und  Leben  atmen  könnte,  wenn  man  recht  früh  die  abnorme  Veranlagung 
erkannt  hätte,  bedarf  heute  keiner  besonderen  Begründung  mehr,  die 
Heilpädagogik  lehrt  es.  Heute  darf  man  wohl  die  Behauptung,  daß  es 
für  schwachsinnige  Kinder  keine  Rettung  mehr  gibt,  als  absurd  be- 
zeichnen. Wir  betonen  es  aufs  bestimmteste:  Es  gibt  keinen  Fall 
von  angeborenem  Schwachsinn,  der  als  durchaus  besse- 
rungsunfähig oder  gar  erziehungsunfähig  angesprochen 
werden  müßte.  Bildungsunfähige  Schwachsinnige  gibt  es 
nicht.  Dies  allen  besorgten  Eltern  und  Angehörigen  zum  Trost.  Je- 
doch müssen  wir  gleichfalls  darauf  hinweisen,  daß  die  Aussicht  auf 
Besserung  mit  den  Jahren  abnimmt.  Je  früher  das  Kind  in 
richtige  Behandlung  kommt,  desto  aussichtsvoller  ist  sie. 

Um  nun  einem  Laien  die  Möglichkeit  zu  geben,  schon  recht  früh 
den  event.  Schwachsinn  seines  Kindes  erkennen  zu  können,  sind  hier  die 
wichtigsten  Kennzeichen  desselben  zusammengestellt,  jedoch  mit  der 
Einschränkung,  daß  nicht  das  Vorhandensein  eines  Merkmales 
schon  die  Diagnose  den  Schwachsinn  rechtfertigt.  War- 
nungssignale sollen  sie  sein,  die  den  Eltern  sagen  sollen: 
Seid  auf  der  Hut! 

Die  Kennzeichen  jugendlichen  Schwachsinnes  wollen  wir  in  körper- 
liche und  seelische  gliedern  und  mit  den  körperlichen  beginnen. 

Körperliche  Merkmale  jugendlichen  Schwachsinnes. 
Am  auffallendsten  sind  die  Abweichungen  des  Schädels  von 
der  Norm  und  da  zunächst  die  Grröße  desselben.  Ganz  allgemein  weiß 
man,  daß  ein  zu  kleiner  oder  zu  großer  Schädel  nicht  auf  hohe  Intelli- 
genz schließen  lassen.  Ausnahmen  haben  jedoch  statt.  Der  normale 
Schädelumfang  ist  ungefähr  bei 

Neugeborenen  36  cm 

1jährigen  Kindern    45  cm 

2  jährigen  Kindern    48  cm 

5  jährigen  Kindern     50  cm 

10  jährigen  Kindern  52  cm 

15jährigen  Kindern  54  cm. 
Diese  Zahlen  müssen  nicht  bei  allen  Kindern  absolut  dieselben  sein, 
kleine  Abweichungen  finden  sich  sehr  wohl  und  bedeuten  nichts.    Größere 
Abweichungen   dagegen   sind    bedenklicher    und    erregen   Verdacht    auf 


—    8    — 

Schwachsinn.  Beim  angeborenen  Schwachsinn  findet  man  in  der  Regel 
Abweichungen  von  der  Norm,  entweder  bleibt  das  Gehirn  im  Wachstum 
zurück,  oder  aber  es  bildet  sich  Wasser  in  den  Himhöhlen.  Im  ersten 
Falle  hat  man  einen  zu  kleinen  Schädel  Mikrocephalie,  im  andern  Falle 
einen  zu  großen,  einen  Wasserkopf  Hydrocephalie.  Früher  neigte  man 
zu  der  Ansicht,  daß  im  Falle  der  Schädelkleinheit  die  Schädelknochen 
sich  zu  früh  schlössen  und  nicht  genug  Raum  ließen  zur  normalen  Ent- 
wicklung des  Gehirns  (Vircbow).  Ja  ein  Franzose  hat  durch  Offnen 
der  Schädeldecke  versucht,  der  Entwicklung  des  Gehirns  mehr  Raum 
geben  zu  können,  hatte  jedoch  keinen  Erfolg.  Der  Rückschluß,  daß  ein 
abnorm  großer  oder  abnorm  kleiner  Schädel  nun  mit  absoluter  Sicherheit 
auf  geistige  Minderwertigkeit  schließen  lassen,  ist  falsch.  Es  gibt  nor- 
male, ja  hervorragend  normale  Menschen  mit  Hydrocephalie  —  Helm- 
holtz  —  und  ebenso  sind  Menschen  mit  normalen  Veranlagungen  bei  Mikro- 
cephalie nicht  selten.  Ich  kenne  eine  ganze  Reihe  von  Fällen,  in  denen 
Kinder  mit  guten  geistigen  Leistungen  einen  zu  großen  oder  zu  kleinen 
Schädel  hatten,  wie  mir  anderseits  auch  gar  mancher  Schwachsinnige 
bekannt  ist,  der  einen  annähernd  normalen  Schädelbau  hat.  Aus  dem 
Schädelumfang  Schlüsse  auf  die  geistigen  Veranlagungen  zu  ziehen,  ist 
zum  Mindesten  sehr  gewagt. 

Als  weiteres  Symptom  am  Schädel  ist  des  späten  Fontanellen- 
schlusses zu  gedenken.  Die  großen  Fontanellen  schließen  sich  bei  nor- 
malen Kindern  am  Ende  des  zweiten  Lebensjahres,  beim  angeborenen 
Schwachsinn  später,  ja  es  kann  sogar  vorkonunen,  daß  sie  sich  überhaupt 
nicht  schließen. 

Abnorme  Schädelformen  finden  sich  ebenfalls  sehr  oft  bei  Schwach- 
sinnigen. Auf  Grund  von  Rhachitis  treten  die  Schädel-  und  Stirnhöcker 
besonders  stark  hervor,  die  Stirn  ist  verbreitert  und  das  Hinterhaupt 
mangelhaft  entwickelt.  Der  Schädel  gewinnt  dadurch  eine  fast  vier- 
eckige Form.  Bei  andern  Patienten  bemerkt  man  eine  flache,  fliehende 
Stirn  oder  eine  Form,  in  der  die  auffallend  niedrige  Stirn  und  Nase  in 
einer  Geraden  liegen  (Aztekentypus)  oder  den  Vogelschädel,  bei  dem 
der  Schädel  eine  spitze,  vogelschnabelähnliche  Form  erhält  durch  das 
starke  Zurückspringen  des  Kinnes,  oder  ein  plattgedrücktes,  flaches 
Hinterhaupt,  oder  eine  Unregelmäßigkeit  im  Bau  der  beiden  Schädel- 
hälften, Asymmetrie,  Schiefheit  des  Schädels  genannt. 

Ein  recht  häufiger  Typus,  der  aber  nicht  immer  mit  Mikrocephalie 
verbunden  zu  sein  braucht,  ist  der  Cretinentypus.  Der  ganze  Körper- 
wuchs ist  zurückgeblieben  (Zwergwuchs).  Gang  schleppend,  mit  gebeugten 
Knien,  Haltung  schlaff,  der  Gesichtsausdruck  ist  stets  ein  müder.  Die 
Nasenwurzel  ist  breit,  die  Nase  erscheint  aufgestülpt.    Die  Augen  stehen 


—    9    — 

weit  auseinander,  die  Lidspalte  ist  etwas  schief.  Die  Jochbeine  und  der 
Oberkiefer  treten  weit  hervor.  Die  Zunge  ist  wulstig,  groß  und  rissig. 
Der  Leib  ist  stark  aufgetrieben.  Häufig  findet  sich  Nabelbruch.  Die 
Haut  ist  trocken,  wulstig,  verdickt,  besonders  in  den  Achseln  und  am 
untern  Halse,  sie  hat  eine  bläuliche  Färbung  und  ist  sehr  spröde.  Stets 
ist  die  Schilddrüse  krankhaft  verändert.  In  der  Erkrankung  der  Schild- 
drüse hat  der  Cretinismus  seinen  Grund  insofern,  als  dadurch  eine,  der 
Vergiftung  ähnliche  St  off  Wechselerkrankung  bedingt  ist  und  diese  Defekte 
und  Ausfälle  sowohl  leiblicher  als  geistiger  Natur  zeitigt.  Der  Cretinis- 
mus in  seiner  ausgeprägten  Form  gehört  zu  den  schweren  Fällen  des 
Schwachsinnes,  leichtere  Fälle  und  Übergangsformen  finden  sich  daneben 
aber  auch. 

Lymphdrüsenschwellungen  findet  man  auch  häufig. 

Der  Gesichtsschädel  ist  in  vielen  Fällen  abnorm  gebaut.  Manchmal 
springt  der  Unterkiefer  zu  weit  hervor,  manchmal  bleibt  er  im  Wachs- 
tum hinter  dem  Oberkiefer  zurück  und  der  Oberkiefer  ragt  über  den 
Unterkiefer  hinaus  und  gibt  dem  Schwachsinnigen  das  eigentümliche, 
häßliche,  abstoßende  Aussehen.  Auch  der  Gaumen  zeigt  nicht  selten 
Abweichungen,  er  ist  zu  hoch,  oder  kielartig,  gespalten,  Hasenscharte, 
Wolfsrachen  u.  a.  m. 

Andere  Abweichungen  im  Skelett  sind  nicht  so  auffallend,  haben 
auch  nicht  die  Bedeutung  der  bisher  angeführten  Merkmale.  Jedoch 
findet  man   bei  90  ^/o   aller  Schwachsinnigen  Anomalien  im  Knochenbau. 

Genau  wie  man  beim  Schädel  Schwachsinniger  oftmals  Asymmetrie 
konstatieren  kann,  kann  man  häufig  eine  Unregelmäßigkeit  im  Bau  des 
gesamten  Knochengerüstes  finden.  Eine  Seite  ist  nicht  selten  stärker 
entwickelt  als  die  andere.  Das  kürzere  Bein  bedingt  natürlich  einen 
hinkenden  Gang.  Der  etwas  kürzere  Arm  hat  oftmals  eine  Bevorzugung 
des  längeren  Armes  beim  Gebrauch  der  oberen  Extremitäten  zur  Folge. 
In  andern  Fällen  ist  ein  Bein  dicker  und  unförmiger  als  das  andere,  ein 
Arm,  eine  Hand  stärker  als  die  andere  Extremität.  Immer  wird  die 
schwächere  weniger  zur  Aktion  kommen  und  dadurch  noch  mehr  leiden. 
Nicht  selten  sind  die  oberen  Extremitäten  länger  als  gewöhnlich,  manch- 
mal reichen  sie  bis  unters  Knie  hinunter,  wenn  der  Patient  die  Arme 
an  den  Körper  anlegt.  Hierher  gehören  auch  Verbiegungen  der  Wirbel- 
säule, angeborene  Verrenkungen,  Uberzähligkeit  von  Fingern  oder  Zehen 
(Polydaktylie),  Fingerverwachsung  (Syndaktylie),  Unvermögen  die  End- 
glieder der  fünften  Finger  zu  beugen.  Alles  Momente,  welche  den 
Schwachsinnigen  schon  äußerlich  als  solchen  kennzeichnen. 

Auffallend  oft  ist  die  Zahnbildung  gehemmt.  Sollier  stellte  bei 
91  ^/o   aller   Imbecillen   Anomalien   in   der   Bezahnung   fest.     Sehr   spät 


-    10    -  i 

fangen   diese  Kinder   an   zu    zahnen,   manchmal   erst  im  3.  Jahre,    dazu  '■ 
kommen  die  Zähne  sehr  unregelmäßig. 

Die  2.  Dentition  tritt  noch  häufiger  verspätet  ein.  Selten  einmal  \ 
findet  man  ein  normales  Gebiß,  die  Zähne  stehen  schief  zu  einander  i 
oder  zu  weit  von  einander  entfernt.  Oftmals  sind  die  Zähne  abnorm  i 
klein  und  die  Eckzähne  ohne  Spitzen,  schneidezahnartig  gebildet.  Da-  i 
gegen  sind  die  oberen  mittleren  Schneidezähne  oft  recht  groß.  Die  < 
Oberfläche  der  Zähne  ist  nicht  selten  rauh,  mit  kleinen  Vertiefungen,  ] 
Löchern,  Zacken  und  Ausbuchtungen.  ! 

In  allen  Fällen,  wo  Rachitis  als  auslösendes  Moment  des  Schwach-  i 
Sinnes  in  Frage  kommt,  findet  man  noch  mehr  Anomalien  am  Skelett.  ^ 
In  der  Rachitis  glaubte  man  früher  eine  Erkrankung  des  Knochen-  i 
gerüstes  sehen  zu  müssen,  neuere  Untersuchungen  sprechen  aber  dafür,  : 
sie  als  eine  allgemeine  StoiFwechselerkrankung  anzusehen.  Das  Wesen  i 
der  Krankheit  ist  noch  wenig  ergründet,  man  weiß  aber,  daß  unhygienische  1 
Verhältnisse,  kalte,  nasse,  dunkle,  kleine  Wohn-  und  Schlafräume,  un-  i 
genügende  Ernährung  ihrer  Ausbreitung  sehr  günstig  sind.  Nun  leidet  : 
unter  dieser  Krankheit  die  Entwicklung  des  Knochensystems  sehr,  das  ] 
sieht  jeder,  jeder  kennt  einen  rachitischen  Schädel  und  jeder  kennt 
rachitische  Kinder  mit  herabgesetzten  geistigen  Funktionen,  daher  : 
glaubte  man,  daß  das  abnorme  Wachstum  des  Schädels  ein  Zurückbleiben 
der  geistigen  Funktionen  bedingt.  Jetzt  weiß  man  aber,  daß  dies  nur  \ 
in  sehr  seltenen  Fällen  statt  hat,  vielmehr  wird  das  Nervensystem  in  '. 
seiner  Entwicklung  gehemmt  und  zeitigt  so  die  Ausfälle  psychischer  j 
Natur. 

Häufig  hat  man  bei  asymmetrischen  Schädeln  auch  Mißbildungen  des  \ 
äußern  Ohres,  z.  B.  unvermittelter  Übergang  des  Ohrläppchens  in  die  j 
Wangenhaut  durch  eine  Hautwulst,  nahezu  rechtwinkliges  Abstehen  der  i 
Ohren,  mangel-  und  fehlerhafte  Struktur  der  dem  Ohr  eigentümlichen  ! 
Erhöhungen  und  Vertiefungen. 

An  den  Augen  kann  man  sehr  oft  Anomalien  finden.  Schiefe  Stel-  \ 
lung  der  Augen,  ungleichmäßige  Färbung  der  Iris,  ovale  Form  der  • 
Pupille,  Albinismus  u.  a.  m.  . 

Bei  einer  verhältnismäßig  großen  Zahl  der  Schwachsinnigen,  bei  i 
etwa  30°/o  finden  sich  Anomalien  der  Genitalien.  Oftmals  : 
bleiben  die  Hoden  im  Leistenkanal  oder  in  der  Bauchhöhle  liegen  oder  \ 
aber  sie  sind  auffallend  klein.  Häufig  ist  die  Eichel  groß  bei  abnorm  ' 
kleinem  Gliede.  Mitunter  hat  die  Harnröhre  eine  abnorme  Einmündung  ] 
am  Rücken  oder  in  der  Mitte  oder  am  Grunde  des  Gliedes.  Weit 
öfter  als  bei  normalen  Kindern  findet  sich  eine  abnorme  Enge  der 
Vorhaut    (Phimose),    Azoospermie,    Aspermie,    Verstopfung    oder    Ver-  j 


—   11    — 

schlossenheit  der  Vagina,  infantiler  Uterus,  Verdopplung  des  Scheiden- 
uteruskanals. 

Die  Greschlechtsreife  tritt  oft  nicht  zur  rechten  Zeit  ein.  Es 
gibt  Fälle,  wo  sie  später  auftritt,  aber  auch  solche,  wo  sie  sich  erheb- 
lich verfrüht.  Ich  habe  einen  Schwachsinnigen  von  etwa  20 — 22  Jahren 
gesehen,  der  noch  nicht  voll  entwickelt  war,  kenne  dagegen  anderseits 
einen  10 V2  jährigen  schon  geschlechtsreif en  Jungen.  Die  vielen  Varia- 
tionen und  die  Häufigkeit  der  Anomalien  an  den  Genitalien  ist  ein  Be- 
weis mehr  dafür,  daß  der  angeborene  Schwachsinn  meist  eine  Folge  einer 
allgemeinen  Störung  der  Entwicklung  des  gesamten  Organismus  ist  und 
daß  derselbe  nicht  bedingt  ist  durch  einen  zu  kleinen  Schädel. 

Endlich  sind  noch  Abweichungen  in  der  Behaarung  zu  regi- 
strieren. Die  Haargrenze  ist  bis  .tief  in  die  Stirn  hineingezogen,  oder 
auf  beiden  Seiten  verschieden,  oder  das  Haar  ist  verschieden  gefärbt 
oder  der  Haarwirbel  ist  verdoppelt.  Auch  sind  zuweilen  ganze  Körper- 
stellen mit  dichtem  Haarwuchs  versehen. 

Von  nicht  zu  unterschätzendem  Einfluß  auf  den  geistigen  Habitius 
sind  die  Wucherungen  im  Nasenrachenraum.  Das  Drüsengewebe 
der  Nase  und  Rachenschleimhaut  weist  nicht  selten  so  starke  Wucherungen 
auf,  daß  der  ganze  Raum  davon  ausgefüllt  und  die  Nasenatmung  völlig 
behindert  ist.  Dasselbe  zeigt  sich  bei  einer  Vergrößerung  der  Rachen- 
mandeln. Durch  diese  örtlichen  Anschwellungen  und  Verdickungen  ent- 
steht eine  Art  Stauung  in  den  Lymphgefäßen,  sie  werden  zusammen- 
gepreßt und  können  nicht  soviel  Blut  führen,  als  zur  Ernährung  des 
Gehirns  nötig  ist.  Eine  unzulängliche  Ernährung  der  Gehirnzellen  be- 
dingt aber  eine  herabgesetzte  Tätigkeit  derselben  und  so  sind  die  Kinder 
unlustig  zur  Arbeit,  träge,  schläfrig;  daß  auf  Grund  der  adeoniden 
Vegetation  Schwachsinn  entstehen  kann,  ist  übertrieben,  eine  geistige 
Schwäche,  ein  Zurückbleiben  kann,  ja  muß  statt  gefunden  haben,  mehr 
aber  nicht.  Sprachgebrechen  können  in  den  Wucherungen  ihre  Wurzel 
haben.  Einer  Exstirpation  der  Rachenmandeln  braucht  man  wohl  nicht 
mehr  das  Wort  zu  reden. 

Entsprechend  der  Entwicklungshemmung  der  Großhirnrinde  ist  die 
motorische  Innervation  herabgesetzt  und  stets  anders  als  beim  nor- 
malen Kinde.  Die  Bewegungsregion  ist  in  der  Entwicklung  zurück- 
geblieben. Diese  Innervationsstörungen  sind  ein  recht  charakteristisches 
Zeichen  und  nach  dem  Grad  der  Erkrankung  verschieden.  Leichte  Fälle  von 
Schwachsinn  lassen  sie  fast  nicht  erkennen,  bei  schweren  Fällen  dagegen 
sind  sie  um  so  auffälliger.  Hier  ist  schon  die  grobe  motorische  Kraft 
herabgesetzt  und  daher  die  groben  Muskelbewegungen  ungelenk,  eckig 
und  unsicher.     Dort  ist  die  grobe  Muskulatur   intakt   und  nur  Defekte 


—     12    — 

der  feinen  Muskulatur  zu  finden  und  diese  Ausfälle  des  feineren  Mecha 
nismus  fallen  dem  Laien  nicht  in  die  Augen.  Vor  allem  tritt  du 
Koordination  der  Bewegungen  viel  später  auf,  in  schwerei 
Graden  des  Schwachsinns  erlernen  sie  die  Patienten  überhaupt  nicht 
Diese  Anomalien  kann  jedoch  jeder  leicht  an  den  Kindern  wahrnehmei 
und  deshalb  seien  sie  hier  zusanunengestellt. 

Verfolgen  wir  die  Entwicklung  des  normalen  Kindes  und  haltei 
die  des  Schwachsinnigen  dagegen,  so  wird  jeder  deutlich  die  Ausfällt 
erkennen  können.  Schon  die  ersten  Saugbewegungen  des  Kindes  sim 
ein  zusammengesetzter  Akt,  bei  welchem  Muskelbewegungen  der  Lippe 
der  Zunge,  der  Wange  und  Schlingbewegungen  mitwirken.  Sehr  of 
können  Schwachsinnige  auffallend  schlecht  saugen,  die  NahrungsaufnahnK 
bereitet  ihnen  große  Schwierigkeiten,  nicht  wenigen  muß  die  ♦Nahrung 
eingeträufelt  werden. 

Bei  einem  normalen  Kinde  sind  wohl  im  allgemeinen  am  50.  Tag< 
die  Augenbewegungen  zusammengeordnet,  so  daß  beide  Augen  die  gleichi 
Blickrichtung  einschlagen  und  das  Schielen  wohl  ganz  aufgehört  hat 
Beim  Schwachsinnigen  findet  sich  diese  Zusammenordnung  weit  später 
jedenfalls  ist  sie  im  ersten  Jahre  noch  nicht  stetig.  Je  weiter  hinan 
wir  nun  in  die  Entwicklung  des  Kindes  kommen,  desto  größer  werdci 
die  Ausfälle  beim  Abnormen. 

Ein  normales  Kind  verfolgt  in  der  Regel  vom  3. — 4.  Monat  an,  einei 
sich  vor  ihm  bewegenden  Gegenstand  mit  den  Augen,  folgt  der  kommende] 
oder  gehenden  Mutter,  beobachtet  seine  Klapper,  folgt  einem  vorbei 
getragenen  Licht  etc.  Preyer  berichtet  sogar,  daß  sein  Kind  schon  von 
25.  Tage  an  der  sich  bewegenden  Kerze  folgte,  glaubte  aber  auch,  dal 
das  nicht  als  normal  gelten  kann  und  führt  es  auf  seine  täglichen  Ver 
suche  zurück,  die  sicher  den  Konvergenzmechanismus  früher  auslösten 
Hier  schon  zeigt  sich  beim  Schwachsinnigen  ein  bedeutendes  Zurück 
bleiben.  Ich  kenne  einen  Fall,  in  dem  es  dem  Kinde  im  7.  Jahre  nocl 
nicht  möglich  war,  mit  beiden  Augen  einem  vorüberfahrenden  Wagei 
zu  folgen. 

Äußerst  instruktiv  und  wichtig  in  der  Beurteilung  eines  Kinde 
sind  die  Bewegungen  der  Arme.  Anfänglich  arbeitet  das  Kind  mit  dei 
Armen  in  der  Luft  herum  ohne  irgend  eine  gewollte  Bewegung  dami 
zu  verbinden.  Es  ist  nur  der  Bewegungsdrang,  das  Sichausarbeiten  de 
Kindes.  Bei  diesen  Prozeduren  und  Spaziergängen  berührt  das  Kinc 
oft  Gegenstände,  ohne  durch  den  Reiz  der  Berührung  zum  Erfassei 
derselben  veranlaßt  zu  werden.  Es  besteht  noch  kein  Konnex  z wische i 
Reiz  und  Bewegung.  Mit  dem  Moment  aber,  wo  das  £and  bei  der  Be 
rülirung  die  Hand  schließt,   ist  dieser  Konnex  da,  ein  wichtiger  Schrit 


—     13    — 

im  Leben  des  kleinen  Weltenbürgers.  Er  kann  jetzt  erfassen  und  fest- 
halten, was  er  will.  So  weit  ist  das  Kind  in  seiner  Entwicklung  ungefähr 
im  5.  Monat.  Der  Schwachsinnige  liegt  dann  noch  immer  willenslos 
und  bringt  den  Dingen  der  Umgebung  dies  Interesse  noch  nicht  entgegen. 

Einen  Schritt  weiter  kommt  das  Kind,  wenn  es  die  Gegenstände 
auf  dem  kürzesten  Wege  zu  ergreifen  sucht.  Wiederum  ein  gut  Stück 
Überlegung  mehr,  es  ist  der  bestimmte  Wille  da,  diesen  oder  jenen 
Gregenstand  zu  ergreifen  und  ihn  in  den  Mund  zu  führen.  Das  Greifen 
ist  also  bedingt  durch  einen  Willens entschluß,  ist  eine  Willensäußerung, 
zu  der  das  schwachsinnige  Kind  erst  nach  Ablauf  des  1.  Jahres  gelangt. 
Es  gibt  Schwachsinnige,  die  niemals  sicher  einen  Gegenstand  ergreifen 
lernen. 

Beides  sind  sehr  charakteristische  Zeichen  und  sollten  nie  übersehen 
werden,  da  sie  berechtigte  Schlüsse  anf  die  Veranlagung  des  Kindes  zu- 
lassen, weil  immer  eine  gestörte  Hirnentwicklung  der  Grund  ist. 

Zur  Aufrechterhaltung  des  Kopfes  ist  schon  ein  ziemlich  komplizierter 
Muskelapparat  notwendig,  der  seine  Äußerungen  dem  Willen  unterordnen 
muß.  Preyer  berichtet  von  seinem  Kind,  daß  mit  der  11.  Woche  leichte 
Anfänge  eines  nicht  mehr  haltlosen  Tragens  des  Kopfes  zu  verspüren 
waren.  Sicher  aufrecht  trug  es  den  Kopf  von  der  16.  Woche  an  und 
das  ist  auch  wohl  die  Regel.  Beim  Schwachsinnigen  tritt  das  Vermögen 
viel  später  auf,  im  6. — 8.  Monat. 

Es  gibt  Schwachsinnige,  allerdings  ganz  schwere  Fälle,  die  das  Auf- 
rechttragen des  Kopfes  niemals  erlernen.  Der  Kopf  baumelt  hin  und 
her  und  hängt  schlaff  herunter  entweder  auf  den  Rücken,  oder  die  Brust 
oder  die  Schulter. 

Gehen  wir  in  der  Entwicklung  des  normalen  Kindes  weiter.  Das 
Aufrechthalten  des  Oberkörpers  beginnt  in  der  20. — 22.  Woche.  Preyers 
Kind  konnte  sogar  schon  in  der  20.  Woche  sich  selbst  aufrichten.  In 
der  Regel  kann  ein  Kind  sich  nach  Ablauf  der  24.  Woche  sitzend  auf- 
recht erhalten.  Das  schwachsinnige  Kind  kommt  hierzu  viel  später,  ja 
es  gibt  Fälle,  wo  es  nie  von  ihm  erlernt  wird. 

Das  Stehen  erlernt  ein  gesundes  Kind  in  der  Regel  im  10. — 12.  Monat, 
nach  Preyer  in  der  49.  Woche.  Das  Stehen  erfordert  eine  Zusammen- 
wirkung vieler  Muskelpartien  und  eine  große  Aufmerksamkeit  seitens 
des  kleinen  Künstlers.  Das  Versagen  oder  falsche  Arbeiten  eines  Muskels 
stört  das  Gleichgewicht  und  bringt  das  Kind  zu  Fall.  Dieser  Koordi- 
nation und  Willensherrschaft  ist  der  Schwachsinnige  im  gleichen  Alter 
noch  nicht  fähig,  er  erlernt  es  später,  je  nach  dem  Grad  des  Schwachsinnes. 

Noch  ein  großer  Schritt  ist  zu  tun,  damit  das  Kind  frei  und  allein 
geht.    Noch  weit  mehr  Aufmerksamkeit  und  Beherrschung  der  gesamten 


—    14    —  ; 

Muskulatur  ist  hierbei  erforderlich  als  beim  Aufrechtstehen  da  hier  eiaj 
fortgesetztes  Verändern  der  Kontraktion  der  Muskeln  statt  hat.  Daza; 
kommt  die  Gleichgewichtslage,  die  die  ersten  Gehversuche  unendlich! 
erschwert;  das  richtige  Abschätzen  der  einzelnen  Muskelbewegungen,] 
sowie  die  Bewegungen  ganzer  Muskelpartien,  das  Abschätzen  der  Ent-: 
femungen  bedürfen  langer  Übung.  In  der  66.  Woche,  am  457.  Tagei 
konnte  Preyers  Kind  allein  gehen,  oder  besser  gesagt  laufen,  das  erstei 
langsame  Gehen  ist  schwerer,  ist  aber  innerhalb  2—3  Wochen  zu  er- 
lernen. Preyers  Kind  konnte  in  der  68.  Woche  maschinenmäßig,  d.  hJ 
langsam  ohne  besonders  angestrengte  Aufmerksamkeit  gehen.  Im  16. — 19.; 
Monat  hat  in  der  Regel  jedes  gesunde  Kind  das  Laufen  erlernt.  *Aus-' 
nahmen  haben  auch  hier  statt.  Es  gibt  Kinder,  die  schon  im  8.  Monat 
laufen  können.  { 

Feldmann  (Inaugural-Dissertation  Bonn  1883)  berichtet,  daß  3  Kinder' 
im  8.  und  9.  Monat,  24  Kinder  im  10.,  6  Kinder  im  11.  und  12.  Monaljj 
laufen  lernten.  Der  Schwachsinnige  erlernt  es  recht  spät.  Beim  Schließen! 
von  Stehen-  und  Laufenlernen  auf  die  geistigen  Fähigkeiten  muß  man 
recht  vorsichtig  sein,  wie  denn  überhaupt  auf  Grund  eines  Symptoms  ein; 
richtiges  Urteil  wohl  selten  gefällt  werden  kann.  Das  Vorhandensein  meh-' 
rerer  Ausfälle  legt  den  Verdacht  auf  Schwachsinn  jedoch  sehr  nahe.  Allel 
diese  Kennzeichen  sollen  ja  auch  weiter  nichts  sein  als  Warnsignale.  Beimi 
Stehen-  und  Gehenlemen  können  Rachitis,  allgemeiner  schwächlicherj 
Körperzustand,  Krankheit  etc.  hindernd  in  den  Weg  treten  und  die  Erler-l 
nung  dieser  Fertigkeiten  aufhalten.  Wohl  zu  beachten  sind  die  Ausfall-| 
Symptome,  wenn  erwiesener  Weise  kein  äußerlicher,  körperlicher  Grund 
vorliegt.  I 

Nunmehr  kämen  wir  zur  feinsten  Koordination,  zur  Sprache.; 
Daß  da  die  Anomalien  noch  augenfälliger  werden,  ist  einleuchtend.  Die: 
Sprache  stellt  große  Anforderungen  ans  Gehirn.  Die  feinsten  Muskel- 
bewegungen der  Zunge,  der  Lippen,  des  Gaumens,  der  Lunge  und  des] 
Kehlkopfes  also  dreier  Muskelgruppen,  der  Atmung,  der  Stimme  und  der! 
Artikulation,  müssen  festgehalten  werden  im  Hirn  als  Bewegungsein-, 
Stellungen,  weiterhin  müssen  sie  alle  zusammen  wirken  und  sich  schließlichi 
mit  den  Objektivempfindungen  und  Objektenvorstellungen  assoziieren.: 
Eine  sehr  komplizierte  Arbeit,  die  ein  intaktes  Gehirn  verlangt.  Dasj 
normale  Kind  fängt  wohl  immer  im  15. — 16.  Monat  an  zu  sprechen,« 
sinnvoll  zn  sprechen.  Pappeln  kann  es  schon  lange.  Feldmann  berichtet  j 
von  einem  Kind,  das  im  14.  Monat,  von  8,  die  im  IB.  Monat,  von  19,  diej 
im  16.  Monat,  von  3,  die  im  17.  Monat,  von  einem,  das  im  18.  Monat  und; 
von  einem,  das  im  19.  Monat  sprechen  lernte.  Auch  hier  dasselbe  Ergeh- ; 
nis,  die  meisten  lernten  es  im  16.  Monat. 


-   15  — 

Wenn  das  Kind  nunmehr  sprechen  kann,  so  ist  es  noch  weit  davon 
entfernt,  alle  einzelnen  Laute  richtig  zu  sprechen,  es  spricht  für  einzelne 
Laute,  ähnlich  klingende,  oder  läßt  sie  aus,  es  stammelt.  Man  kennt 
ein  allgemeines  und  partielles  Stammeln.  Beim  allgemeinen  Stam- 
meln werden  z.  B.  alle  Laute  genäselt  (Rhinolalia  aperta)  oder  die 
meisten  Konsonanten  werden  durch  d  und  t  ersetzt  (Hottentottismus). 
Beim  partiellen  Stammeln  kommen  die  verschiedensten  Formen  vor: 

A.  Veränderung  einzelner  Laute. 

1)  einzelne  Laute  werden  ausgelassen. 

2)  einzelne  Laute  werden  durch  andere  ersetzt. 

3)  einzelne  Laute  werden  verstümmelt. 

B.  Veränderung  einzelner  Silben. 

C.  Veränderung  einzelner  Worte. 

D.  Veränderung  einzelner  Sätze. 

Es  werden  sowohl  Konsonanten  als  auch  Vokale  gestammelt.  Am 
seltensten  ist  eine  falsche  Aussprache  des  A,  die  andern  einfachen  Vokale 
werden  aber  oft  unrein  gesprochen  oder  vertauscht.  Noch  häufiger  sind 
falsche  Aussprachen  der  Umlaute  und  der  Diphtonge.  Sie  werden  eben- 
falls unrein  gesprochen  oder  mit  andern  verwechselt  oder  einfache  Laute 
dafür  gesetzt. 

Bei  dem  Stammeln  der  Konsonanten  finden  sich  sehr  viele  Arten 
des  Falschsprechens:  Lambdacismus  (L),  Rhotacismus  (R),  Gammacismus 
(Gr),  Deltacismus  (D),  Sigmatismus  (S).  In  diesen  Fällen  ist  das  Kind 
nicht  im  Stande,  den  betreffenden  Laut  lautrein  zu  bilden,  es  spricht 
ihn  undeutlich,  oder  läßt  ihn  ganz  aus.  Beim  Paralambdacismus,  Para- 
rhotacismus,  Paragammacismus  u.  s.  w.  ersetzt  das  Kind  den  betreffenden 
Laut  durch  einen  andern. 

Das  Kind  stammelt  solange,  bis  alle  Bewegungskoordinationen  voll- 
zogen sind,  bis  von  jedem  Laut,  jeder  Lautverbindung  genaue  Bewegungs- 
vorstellungen aufgespeichert  sind,  die  sich  mechanisch  mit  andern  Vor- 
stellungen in  Verbindung  setzen  können.  Ungefähr  mit  dem  vierten 
Lebensjahre  wird  in  den  meisten  Fällen  das  Stammeln  überwunden  sein 
und  ein  lautlich  richtiges  Sprechen  Platz  greifen.  Der  Schwachsinnige 
dagegen  lernt  das  lautlich  richtige  Sprechen  erst  viel  später,  er  stammelt 
oft  bis  an  sein  Lebensende.  40  ^/o  aller  Schwachsinnigen  sind  Stammler. 
Auch  hier  ist  bei  dem  Schluß  auf  Schwachsinn  größte  Vorsicht  geraten, 
denn  oftmals  stammeln  normale  Kinder  und  dann  liegt  ein  organischer 
Fehler  zu  Grrunde,  Abnormitäten  der  Lippen,  der  Zunge,  der  Zähne,  des 
Kiefers,  des  Gaumens,  der  Nase  und  Nasenhöhle,  des  Kehlkopfes,  des  Gehörs. 

Auch  das  Stottern  haben  wir  als  eine  Koordinationsstörung  anzu- 
sehen, die  aber  auf  einer  nervösen  Schwächung  des  Nervensystems  und  des 


—     16    — 

Sprachenzentrums  beruht  und  mit  einem  Intelligenzdefekt  nichts  zu  tun 

hat.    Daher  stottern  viel  mehr  geistig  normale  Kinder  als  Schwachsinnige.  ; 

Bislang  haben  wir  die  Ausfälle   bei  der  Zusammenordnung  der  Be-  , 

wegungen  betrachtet,  wenden  wir  uns  nun  zu  einer  andern  Bewegungs-  ^ 

anomalie,  der    Instabilität  der  Bewegungen.      Schon    der  Name  ; 

kennzeichnet  die  Art  der  Bewegungen  genau,   instabil,  unbeständig  sind  ; 

sie  und   erinnern  dadurch   an  den  Veitztanz  (Chorea),    ohne  jedoch  mit  \ 

dieser  Krankheit  identisch  zu  sein.  : 

Eine  Vergesellschaftung  des  Schwachsinns   mit  Chorea  kommt  "aber  i 

auch  vor.     Ein  Kind  mit  Chorea  hat  unwillkürliche  Muskelbewegungen,  | 

die  nicht  zurücktreten,   wenn   das  Kind  die  Muskeln   kontrahiert,   z.  B.  i 
hat   ein  Kind  Zuckungen,   Beugen   und  Strecken   der  Finger,    so   dauern 

diese  fort,  auch  wenn  es  nach  einem  Stuhl  greift,  schreibt,  spielt  u.  8.  f*  j 

Bei  der  Instabilität  der  Bewegungen   dagegen  hören  in   den   genannten  | 

FäUen  die  unwillkürlichen  und  ziellosen  Beuge-   und  Streckbewegungen  ; 
auf.     Chorea    ist    eine    Nervenkrankheit,     die    vom    Willen 

absolut   unabhängig   ist,   während   die   choreiforme    Insta-  ■ 

bilität    keine    Erkrankung     des     Nervensystems     ist     und  : 
durch   starke  Willensanstrengungen   unterdrückt   werden 

kann.     Man   nennt   die  Unbeständigkeit   der  Bewegungen   wegen   ihrer  • 

nur  choreaähnlichen  Art  choreiforme  Instabilität.    Unwillkürliche  \ 

Muskelbewegungen  können  nun  nicht  nur  in  der  Hand-  und  Armmuskulatur  j 

sich   finden,    sondern   auch   in   den   Gesichtsmuskeln.     Sogar   in   völliger  j 

Ruhe  der  Muskeln  zeigen  sich  diese  Muskelbewegungen.    Verlangt  man,  ; 

daß  das  Kind  die  Arme  ausbreitet,   oder  aufwärts   oder   vorwärts   hebt,  | 

oder   die   Finger   spreizt,    ein  Bein   hebt,    so   tritt   die   Instabilität   der  \ 

Bewegungen  noch    deutlicher   hervor,    da   sieht   man   die  Zwecklosigkeit  \ 

dieser  Bewegungen  noch  deutlicher.  ' 

Nicht  minder  oft  finden  wir  bei  schwachsinnigen  Kindern  noch  eine 
andere  Störung  der  Muskelbewegungen,  einen  krankhaft  gesteigerten  Be- 
wegungsdrang, eine  motorischeAgitation.  Als  leichteste  Form  dieses  ; 
Bewegungs dranges  ist   das  viele  und  rasche  Sprechen  anzuführen.     Mit  j 
der  ungeheuren  Gesprächigkeit  vergesellschaftet  sich  häufig  ein  gesteigertes  , 
Minenspiel.    Mit  dem  Grade  des  Schwachsinns  wächst  auch  die  Schnellig-  i 
keit  und  Häufigkeit  des  Sprechens ;  kaum  eine  Pause  gönnt  sich  das  Kind  \ 
und   das   Grimmasieren    erfährt   eine    erhebliche    Steigerung.     Je   mehr 
und  je  schneller  ein  Kind  spricht,  desto  intensiver  und  größer  sind  diese,  ; 
seinen  Redestrom  begleitenden  Gestikulationen.     Wirr  fährt  es  mit  den 
Händen  in  der  Luft  hemm,  erhebt  sich,  um  mit  Nachdruck  zu  sprechen,  i 
auf   die    Zehen,    arbeitet    mit    dem    Oberkörper,   läuft    im  Zimmer  hin  i 
u.  a.  m.    Fast  nie  sitzt  das  arme  Kind  still,  es  springt  auf,  läuft  hierin, 


—     17     — 

dorthin,  faßt  hier  etwas  an,  trägt  es  dort  hin  u.  s.  f.  Der  Grang  ist  ein 
unruhig  hüpfender.  Beschäftigt  ist  das  Kind  immer,  ja,  es  hat  viel  zu 
tun,  allerlei  beginnt  es,  um  im  nächsten  Augenblicke  etwas  anderes  zu 
sehen,  zu  erfassen  und  die  angefangene  Arbeit  bleibt  unvollendet.  Die 
motorische  Erregung  erstreckt  sich  auch  auf  die  Defäkation,  oft,  viel 
zu  oft,  suchen  sie  den  Abort  auf,  meist  ohne  Bedürfnis.  Genau  so  über- 
flüssig sind  ihre  Bemühungen  um  ihren  Anzug,  sie  ziehen  sich  an  und 
aus,  bürsten  sich  die  Kleider  aus,  frisieren  sich  u.  s.  f.  In  ganz  schweren 
Fällen  steigert  sich  die  motorische  Unruhe  zum  Zertrümmern,  Toben 
mit  häßlichem  Schreien,  Schlagen,  Stoßen,  Beißen  u.  a.  m.  Glücklicher^ 
weise  dauert  eine  derartige  Attacke  nicht  sehr  lange  und  nach  derselben 
sind  die  Kinder  meist  auffallend  ruhig  und  leistungsfähiger   als   früher. 

Bei  andern  Kindern  wieder  kommt  es  meist  nicht  zu  diesen  moto- 
rischen Entladungen,  sie  sind  und  bleiben  ruhig,  haben  aber  stereotype 
Bewegungen  als  Kopfnicken  oder  -wiegen,  Wiegen  und  Drehen  des  Ober- 
körpers, Reiben  der  Hände,  Pflücken  und  Kauen  an  den  Nägeln,  Schmatzen 
mit  der  Zunge,  Belecken  der  Lippe,  Augenzwinkern,  Schlagen  mit  dem 
Zeigefinger  in  die  andere  Hand  u.  a.  m.,  die  alle  einen  eigentümlichen 
Gegensatz  zu  der  sonstigen  Langsamkeit  und  Trägheit  bilden.  Alle 
diese  Bewegungen  haben  einen  äußerst  häßlichen,  bizarren  Charakter, 
die  dem  Kinde  den  Stempel  geistiger  Minderwertigkeit  aufdrücken;  sie 
sind  mehr  Folgen  früherer  Angewohnheiten,  Unarten  und  Untugenden, 
als  Eeizerscheinungen  der  motorischen  Region  und  im  ersteren  Falle 
leichter  zu  bekämpfen  als  im  letzteren.  Wohl  jedes  Kind  hat  irgend  eine 
häßliche  Angewohnheit,  wird  diese  stereotyp,  so  ist  es  ein  Tic,  ein  Ge- 
wohnheitstic,  der  entschieden  zu  bekämpfen  ist.  Schwerer  heilbar  ist 
der   konvulsive  Tic,   der  auf  Reizungen  des  Nervensystems  beruht. 

Wenn  das  Kind,  ganz  gleich  in  welchem  Alter,  eines  Tages  Krampf- 
bewegungen zeigt,  so  ist  stets  Gefahr  im  Anzüge  und  auf  jeden  Fall 
ist  der  Rat  eines  tüchtigen  Nervenarztes  oder  Psychiaters  einzuholen. 
Wenn  die  Krampfbewegungen  ohne  jede  äußere  Veranlassung  auftreten, 
so  ist  mit  Sicherheit  auf  eine  Gehirnveränderung  zu  schließen.  Doch 
hüte  man  sich  auch  hier  vor  dem  Schlüsse,  daß  jede  Krampfbewegung 
die  Folge  einer  veränderten  Hirnkonstruktion  ist.  Wohl  jeder  Vater 
weiß,  daß  auch  normale  Kinder  einmal  von  Krämpfen  befallen  werden 
können,  beim  Weinen,  bei  Magen-  und  Darmreizungen,  im  Fieber,  beim 
Zahnen,  bekannt  sind  sie  unter  dem  Namen  eklamptische  Anfälle.  Diese 
Art  von  Krampfbewegungen  können  selbstverständlich  auch  bei  Schwach- 
sinnigen vorkommen,  ja,  man  kann  sogar  sagen,  daß  Schwachsinnige 
dazu  neigen,  aber  eine  Ursache  des  Schwachsinnes  sind  sie  nicht,  nur 
eine  Komplikation. 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  2 


-     18    -  : 

Hierher  gehört  auch  das  Zähneknirschen.  Mit  den  Zähnen  knirscht  i 
wolil  einmal  jedes  Kind,  besonders  kleinere,  wenn  sie  Zahnweh  haben,  j 
Das  vereinzelte  Auftreten  ist  hier  auch  nicht  gemeint,  sondern  vielmehr 
das  ständige,  vor  allen  Dingen  das  Zähneknirschen  ohne  äußern  Anlaß,; 
vor  allem  im  Schlaf,  beim  Spiel,  bei  stiller  Beschäftigung  der  Kinder j 
n.  8.  f.  Das  Zähneknirschen  beruht  zwar  auf  einer  Reizung  der  Hirn- 
rinde, kommt  aber  nicht  nur  bei  Schwachsinnigen  vor,  sondern  auch  bei; 
der  psychopathischen  Konstitution,  sodaß  der  Schhiß  vom  Zähneknirschen ] 
auf  Schwachsinn  nicht  berechtigt  ist.  ■ 

Das  gleiche  gilt  vom  Einnässen  (Enorese).  Jedes  Kind  näßt  ein,i 
solange  es  klein  ist,  vielleicht  bis  zum  2.,  spätestens  bis  Ende  des^ 
3.  Jahres.  Für  Mastdarm  und  Blase  ist  das  Rückenmark  zuständig,  i 
Zuerst  entwickelt  sich  das  Gehirn,  danach  wird  erst  das  Rückenmark; 
beherrscht,  mithin  kann  vorher  eine  Regelung  der  Darmtätigkeit  nicht' 
eintreten.  Aber  nach  Ablauf  des  2. — 3.  Jahres  muß  sie  vollzogen  sein,! 
wenn  eine  normale  Entwicklung  stattgefunden  hat.  Vorsicht  ist  jedoch^ 
auch  hier  geboten,  bei  der  Schlußfolgerung,  denn  auch  bei  der  psycho- i 
pathischen  Konstitution  treffen  wir  diesen  Fehler.  i 

Ein  sicheres  Merkmal  für  Schwachsinn  dagegen  ist  die  übermäßig  i 
starke  Absonderung  von  Speichel  und  das  Herausfließen  des-i 
selben  aus  dem  Munde  bei  schon  größern  Kindern,  die  über  die  Zahnung^j- : 
periode  hinaus  sind.  Hierher  zu  zählen  ist  auch  die  Neigung  zum  Er-i 
brechen,  die  man  aber  auch  bei  andern  Krankheitsbildern,  z.B.  bei^ 
Hysterie  trifft,  sodaß  hier  dieses  Kennzeichen  allein  nicht  ausschlag-  ; 
gebend  ist.  ] 

Eine  häufige  Komplikation  ist  die  Epilepsie.  Ziehen  fand  bei  | 
70  "/o  aller  Schwachsinnigen  Epilepsie  „jedoch  spielt  sie  als  Ursache  des  ; 
Schwachsinns  eine  relativ  geringe  Rolle."  Sie  ist  eben  nicht  das  aus-  ; 
lösende  Moment,  sondern  eine  häufige  Begleiterscheinung  des  Schwach-  i 
Sinnes.  Bei  der  zerebralen  Kinderlähmung  z.  B.  tritt  sie  gleichzeitig  i 
mit  der  Lähmung  der  einen  Körperseite  sofort  nach  der  Erkrankung  . 
der  Hirnrinde  auf.  Die  epileptischen  Anfälle  sind  ein  sehr  wichtiges  1 
Warnungssignal,  sofern  die  Angehörigen  die  bisher  genannten  Ab- 
weichungen der  Schädelform,  des  Skelettes,  der  Innervation  oder  die  : 
Ausfälle  der  Intelligenz  nicht  beachtet  haben.  Wohl  jeder  ist  imstande,  1 
einen  epileptischen  Anfall  als  solchen  zu  erkennen.  Eingeleitet  wird  der 
Anfall  durch  verschiedene  Anzeichen  (Aura)  gesteigerter  Bewegungsdrang,  '■ 
erhöhtes  Angstgefühl,  überwertig  betonte  Vorstellungen  u.  a.  m.  Dann  \ 
fällt  der  Patient  mit  lautem  Aufschrei  zu  Boden  und  unter  Bewußtseins-  | 
Verlust,  zieht  sich  die  gesamte  Muskulatur  zusammen,  spannend  zusammen  : 
(Tonus)  um  dann  in  starken  Zuckungen,  Streck-  und  Beugekrämpfen  der  ^ 


-    19    - 

Muskulatur  überzugehen  (Klonus).  Die  Atmung  ist  sehr  erschwert. 
Nach  und  nach  löst  sich  der  Krampf,  das  Bewußtsein  kehrt  zurück  und 
der  Patient  fällt  in  einen  tiefen  Schlaf.  Während  dieser  Zuckungen 
beißt  sich  der  Patient  häufig  auf  die  Zunge,  die  Pupillen  sind  während 
des  Anfalles  weit  geöffnet,  reagieren  aber  nicht  auf  Lichteinfall. 

Von  dem  ganzen  Anfall  hat  der  Patient  keine  Erinnerung.  Er 
weiß  bis  kurz  vor  dem  Anfall  alles  genau,  aber  mit  der  Aura  setzt  die 
Amnesie  ein.  Sie  wissen  nicht,  woher  sie  die  blutige  Zunge  haben, 
woher  die  Verletzungen,  die  event.  beim  Fall  entstanden  sind,  stammen. 
Der  Verlauf  eines  Anfalls  ist  also  folgender :  Aura,  Tonus,  Klonus, 
Zungenbiß,  Einnässen,  Pupillenstarre,  Amnesie  und  sie  sind  die  Unter- 
scheidungsmerkmale z.  B.  von  Hysterie.  Der  hysterische  Anfall  kennt 
von  alledem  nichts.  Die  epileptischen  Anfälle  treten  in  sehr  verschiedenen 
Zwischenräumen  auf.  Manchmal  an  einem  Tage  mehrere,  manchmal 
wiederholen  sie  sich  in  langen  Abständen.  Jeder  Anfall  raubt  ein  Stück 
geistiger  Spannkraft  und  mit  gehäuften  Anfällen  sieht  man  ganz  offen- 
sichtig die  Intelligenz  sich  vermindern. 

Nun  ist  schließlich  noch  der  Lähmungen  zu  gedenken,  die  auch 
nicht  auf  der  Grundlage  des  Schwachsinnes,  also  einer  Entwicklungs- 
störung der  Großhirnrinde  entstehen,  sondern  infolge  einer  Herder- 
krankung, einer  örtlichen  Zerstörung  der  motorischen  Region  oder 
Leitungsbahnen.  Eine  Herderkrankung  eines  Erwachsenen  hat  einen 
andern  Verlauf  als  die  eines  Kindes  mit  noch  nicht  völlig  entwickeltem 
Hirn.  Während  die  Herderkrankung  Erwachsener  auf  den  Ort  der  Er- 
krankung und  die  nächste  Umgebung  beschränkt  bleibt,  wird  bei  den 
Herderkrankungen  des  kindlichen,  noch  nicht  voll  entwickelten  Gehirns 
meist  das  ganze  Hirn  in  Mitleidenschaft  gezogen  und  die  Entwicklungs- 
störung hindert  ein  völliges  Auswachsen  des  Gehirns  und  es  entsteht 
Schwachsinn.  Also  nicht  die  Lähmung  (zerebrale  Kinderlähmung)  ist 
eine  Folge  von  Schwachsinn,  sondern  der  Schwachsinn  ist  ofmals  bedingt 
durch  eine  Lähmung.  Als  solche  Herderkrankungen  bei  Lähmungen 
kommen  Geschwülste,  Blutungen,  Verstopfungen  der  Blutgefäße  durch 
Fremdkörperchen  (Embolien)  oder  durch  Bluttröpfchen  (Thrombose) 
u.  a.  m.  in  Betracht. 

Je  nach  der  Lokalisation  der  Erkrankung  ist  die  Lähmung  eine 
verschiedene.  Ist  der  Herd  in  der  linken  Hirnhälfte,  so  ist  die  Lähmung 
eine  rechtsseitige,  ist  der  Herd  rechts,  so  ist  die  Lähmnng  linksseitig. 
Bei  rechtsseitiger  Lähmung  kann  die  Herderkrankung  auch  auf  das 
Sprachzentrum  übergehen  und  völlige  Sprachlosigkeit  zur  Folge  haben 
(Aphasie).  Meist  ist  die  Lähmung  eine  halbseitige  (Hemiplegie),  jedoch 
kann  auch  auf  Grund  einer  doppelseitigen  Herderkrankung  eine   beider- 

2* 


-    20     -  ] 

i 

seitige  Lähmung  (Diplegie)  entstehen.  Selten  sind  nach  Ziehen  Para-i 
plegien,  Lähmungen  beider  Beine,  und  noch  seltener  Lähmungen  nur- 
einer  Extremität.  \ 

Die  erkrankten  Extremitäten  der  halbseitig  gelähmten  Kinder  sind* 
im  Wachstum  zurückgeblieben.  Die  Arme  und  Beine  sind  nicht  nurj 
kürzer  als  die  gesunden  Gegengliedmaßen,  sondern  auch  im  UmfangJ 
geringer,  also  nicht  nur  die  Knochen  sind  im  Wachstum  gestört,  sondemj 
auch  die  Muskulatur  ist  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Dazu  nehmen  Arme^ 
und  Beine  die  bekannte  Kontraktur  ein,  das  ist  eine  feste  Stellung,  die] 
der  Patient  durch  seinen  Willen  nicht  verändern  kann  und  die  selbst' 
einer  mechanischen  Lageveränderung  Widerstand  entgegensetzen.  Arm; 
und  Hand  sind  in  Beugestellung,  das  Bein  und  der  Fuß  in  Streckstellung. | 
Fast  jede  zerebrale  Kinderlähmung  ist  besserungsfähig,-  Heilungen  jedoch: 
sind  sehr  selten.  Näher  auf  die  heilpädagogische  Behandlung  gelähmter; 
Kinder  einzugehen,  verbietet  sich  hier  von  selbst^).  \ 

Seelische   Merkmale.  ] 

Gehen  wir  nunmehr  zu  den  seelischen  Symptomen  über.  Die  ersten] 
Jahre  kommen  hier  weniger  in  Betracht,  ist  doch  in  denselben  das  Kindi 
noch  so  sehr  abhängig  von  den  örtlichen  Verhältnissen,  dem  körperlichenj 
Befinden  und  das  kindliche  Gehirn  noch  so  unentwickelt,  daß  ein  Schlußj 
auf  die  geistigen  Fähigkeiten  noch  nicht  berechtigt  erscheint.  Allerhand  j 
äußere  Zufälligkeiten  können  die  Entwicklung  des  Kindes  so  beein- 
trächtigen und  hindern,  daß  es  hinter  seinen  Altersgenossen  notwendig 
zurückbleiben  muß.  i 

Die  durch  diese  äußern  Hindernisse  bedingten  Ausfälle  sind   in   der 
Regel  mit  dem  4.  oder  5.  Jahre  annähernd  ausgeglichen,  daß  die  Zeit  vom  | 
5.  bis  spätestens  8.  Lebensjahre  für  die  Beurteilung  der  geistigen  Fähig- 
keiten wohl  nicht  mehr  als  zu  früh  zu  bezeichnen  ist.  : 

Die  Empfindungen  sind  auch  bei  dem  Schwachsinnigen  meist  nor- ] 
mal.   Hier  findet  man  die  wenigsten  Defekte.   Nur  in  ganz  schweren  Fällen 
zeigen   sich    Ausfälle.     Wenn    ein  Kind   weniger   als   normal   auf  Reize; 
reagiert,  so  liegt  dies  meist  nicht  an  einer  Unempfindlichkeit  (Hypästhesie), 
sondern  an  einer  Störung  der  Vorstellungen  oder  Assoziation.    Geschmack  ] 
und  Geruch  sind  in  den  leichten  Fällen  durchweg  gut  entwickelt.  | 

In  schweren  Fällen  findet  man  doch   oft  erhebliche  Abweichungen. 
Scharf  gesalzene,  gepfefi^erte,  bittere,  saure  Speisen  oder  Ingredienzienen ' 
werden  von  ihnen  mit  sichtlichem  Wohlbehagen  gegessen  und  getranken.  \ 

1)  Vgl.  0.  Major,  Die  heilpädagische  Behandlang  gelähmter  Kinder.  Zeitschrift  für  \ 
experimentelle  PädagogUc  1909.  Die  Abhandlung  erscheint  zusammen  mit  der  vorliegenden  | 
als  Broschüre  im  Verlag  von  0.  Nemnich.. 


—     21     — 

Das  Auffallendste,  was  mir  in  dieser  Hinsicht  vorgekommen  ist,  war 
eine  Geschmacksperversität.  Ein  11  jähriger  idiotischer  Knabe  ohne 
Sättigungsgefübl  aß  alles,  was  er  auf  der  Erde  fand,  auch  an  harten 
Gegenständen  kaute  er  herum.  Eines  Tages  erzählte  er  selbst  hoch  er- 
freut, daß  er  Glas  essen  könne  und  daß  es  ihm  sehr  gut  schmeckt.  Er 
hat  Glasscheiben  in  allerkleinste  Teile  zerkaut  und  hinuntergeschluckt. 
Gefragt,  warum  er-  das  äße,  gab  er  an,  es  schmecke  -so  schön,  es  knackt 
so  schön  zwischen  den  Zähnen. 

Ein  anderer  achtjähriger  stark  schwachsinniger  Knabe  ißt  Seife, 
Lehm,  Sand,  Koks,  Asche.  Papier,  Lederabfälle  und  ist  beglückt,  wenn 
er  einmal  etwas  neues  gefunden  hat,  das  ihm  schmeckt. 

Doch  ist  auch  hier  Vorsicht  geboten.  Bleichsüchtige  Kinder  essen 
auch  manchmal  Dinge,  die  sonst  nicht  zu  ihrer  Nahrung  gehören,  Kreide, 
Sand,  Kalk,  Kohlen  etc.  Wenn  jedoch  ein  Kind  Schwefelwasserstoff 
oder  dgl.  mit  sichtlichem  Wohlbehagen  riecht,    so   erregt  das  Bedenken. 

Dagegen  ist  die  Schmerzempfindlichkeit  nicht  selten  stark  herab- 
gesetzt. Daß  sich  ein  schwachsinniges  Kind  die  Fingernägel  soweit  weg- 
kaut, daß  die  Eingerkuppen  anfangen  zu  bluten,  oder  daß  es  die  Nägel- 
haut vollständig  abpflückt,  ist  nichts  Seltenes.  Selbst  schwere  operative 
Eingriffe  ertragen  viele  ohne  die  geringsten  Anzeichen  irgend  eines 
Schmerzes.  Es  gibt  Schwachsinnige,  die  sich  selbst  Wunden  im  Gesicht, 
an  den  Händen  oder  an  den  Eüßen  beibringen  und  ihr  Zuheilen  durch 
ständiges  Aufkratzen  oder  Aufschlagen  verhindern.  Ich  kenne  Schwach- 
sinnige, die  eigentlich  immer  mit  Wunden  im  Gesicht  herumlaufen,  jedes 
kleine  Pickelchen,  jeder  kleine  Ritz  wird  aufgekratzt. 

Die  Berührungsempfindlichkeit  ist  oft  auch  abweichend  von 
der  Norm,  man  findet  jedoch  weit  öfter  eine  Unter-  als  Überempfindlich- 
keit.  Gesteigert  ist  nicht  so  selten  das  Kitzelgefühl.  Die  Empfindlich- 
keit gegen  Wärme  und  Kälte,  gegen  Berührung  der  Haut,  ist  oft  er- 
heblich herabgemindert,  ohne  jedoch  ganz  zu  fehlen,  was  nur  in  ganz 
wenigen  Fällen  zu  konstatieren  sein  wird. 

Die  Seh-  und  Hörschärfe  ist  bei  den  meisten  Schwachsinnigen 
normal.  Bei  einigen,  vorab  bei  den  Cretinenhaften,  finden  wir  eine  Kurz- 
oder Übersichtigkeit.  Blindheit  und  Taubheit  sind  seltene  Befunde.  Bei 
der  Blindheit  handelt  es  sich  nach  Ziehen  um  eine  Erkrankung  der  Netz- 
haut oder  der  Sehnerven,  seltener  um  eine  solche  innerhalb  des  Gehirns, 
der  Sehsphäre  oder  Sehbahnen.  Dadurch  ist  dann  entweder  eine  totale 
oder  beinahe  totale  Blindheit  bedingt,     (amaurotische  Idiotie). 

Ich  erinnere  mich  eines  Schwachsinnigen  von  8  Jahren  mit  fast  to- 
taler Blindheit.  Es  war  das  6.  Kind  eines  Trinkers.  Während  der  Gra- 
vidität  fiel  die  Mutter  von  einer  Leiter  herunter.     Die  Geburt  dauerte 


—    22     —  1 

sehr  lange  und  schließlich  mußte  doch  eingegriffen  werden.  Das  Kind" 
wurde  scheintot  geboren.  Sehr  schwer  war  es,  das  Kind  an  die  Brust 
zu  gewöhnen  und  Saugbewegungen  hervorzurufen.  Die  Mutter  gab 
nachher  zur  Beruhigung  Milch  mit  einem  Zusatz  von  Branntwein,  da^ 
das  Kind  sehr  viel  schrie.  \ 

Mit  IV«  Jahren  lernte  der  Knabe  im  Wagen  sitzen,  mit  2*/*  Jahren^ 
gehen.  Beim  Gehen  ist  er  immer  hin-  und  hergewackelt,  sodaß  es^ 
immer  aussah,  als  ob  er  fiel.    Mit  Sprechen  hat  er  viel  später  angefangen.] 

Der  Junge  ist  einmal,  als  er  ungefähr  2  Jahre  alt  war,  aus  dem; 
Wagen  gefallen.  Die  Mutter  war  nicht  anwesend.  Als  sie  nach  Hause  • 
kam,  lag  er  an  der  Erde  und  hatte  Schaum  vor  dem  Munde  und  schlug  | 
immer  um  sich.  Seitdem  bekommt  er  manchmal  Wutanfälle,  dann  schlägt; 
er  um  sich  und  zerschlägt  alles,  was  ihm  in  die  Quere  kommt.  Daß  erj 
schlecht  sehen  konnte,  haben  wir  als  er  V/2  Jahre  alt  war  gemerkt.  Bisj 
hierher  der  Bericht  der  Mutter. 

Der  Junge  ist  unterernährt  und  hat  rachitischen  Knochenbau.  Der 
Schädelumfang  war  45  cm,  die  Stirnhöcker  sprangen  stark  hervor.  Die 
Haargrenze  war  links  tief  ins  Gesicht  verschoben.  Die  Ohrläppchen' 
waren  angewachsen  und  die  Erhebungen  der  Ohrmuschel  wenig  ent-j 
wickelt.  Die  Beine  waren  stark  auswärts  gebogen.  Die  Wirbelsäule^ 
zeigte  eine  linksseitige  Verbiegung  und  auf  der  Brust  markierte  sich^ 
ziemlich  deutlich  der  Rosenkranz.  ; 

Er  wackelt  mit  dem  Kopfe  hin  und  her  und  bewegte  den  Ober-1 
körper  leicht  drehend  um  seine  Längsachse.  Die  Knie  waren  etwas  ge-| 
beugt.  Mit  dem  Mittelfinger  der  linken  Hand  schlug  er  dauernd  in  die; 
andere  Hand. 

Die  Sprache  ist  stockend,  langsam  und  fehlerhaft,  er  stammelt  g 
und  k  und  sprach  dafür  d  und  t  oder  er  läßt  sie  bei  schwierigem  län-: 
gerem  Wort  vollständig  aus.  Für  f,  w  und  v  spricht  er  s-Laute.  Dazu' 
gesellt  sich  ein  starkes  Satzstammeln.  ■ 

Er  ißt  viel,  kaut  aber  sehr  schlecht.  Die  Zähne  sind  schlecht  undi 
stark  kariös.  Die  Zähne  haben  eine  unregelmäßige,  weite  Stellung,  der; 
Gaumen  ist  steil. 

Auf  Lichtreize  reagiert  er,  wenigstens  auf  einige  Entfernung.  Be-| 
kannte  Personen  konnte  er  von  einander  unterscheiden,  wie  er  behauptet! 
durchs  Gesicht,  doch  erscheint  dies  kaum  glaublich,  da  er  z.  B.  aus  ver-! 
schiedenen  Gegenständen  Messer,  Gabel,  Buch,  Federhalter,  Flasche  nicht, 
zwei  gleiche  herausfinden  kann,  wobei  allerdings  ein  Aufmerksamkeits-; 
defekt  beteiligt  sein  kann.  Er  wird  wohl  ihm  bekannte  Personen  mitj 
dem  Gehör,  an  der  Sprache  erkennen.  Von  an  der  Wand  hängenden,] 
größeren  Bildern  hatte  er  schwache  Gesichtsempfindungen. 


-     23     — 

Die  Sclinierzempfindliclikeit  war  herabgesetzt.  Gregen  Druck  und 
Stiche  reagierte  er  wenig,  auch  hatte  er  keine  deutlichen  Empfindungen 
von  Kälte  und  Wärme,  das  Kitzelgefühl  war  gesteigert.  Einfache  Vor- 
stellungen hatte  er,  wenn  auch  in  bescheidener  Zahl,  z.  B.  Haus,  Baum, 
Vogel,  Tier,  Elektrische,  Soldaten  etc.  Zusammengesetzte  Vorstellungen, 
vor  allem  Raum-  und  Zahlvorstellungen  waren  desto  fehlerhafter.  Be- 
ziehungsvorstellungen fehlten  ganz.  Er  schwatzt  ziemlich  viel  und  er- 
zählte auch  kleine  Erlebnisse  ganz  deutlich.  Ethisch  war  er  beinahe 
indifferent. 

Wenn  wie  oben  schon  erwähnt  die  Hörschärfe  bei  den  meisten 
Schwachsinnigen  normal  ist,  oder  sich  doch  der  Normalität  nähert,  so 
kann  man  doch  auch  in  den  einzelnen  Fällen  eine  Unter-  und  Über- 
emptindlichkeit  finden.  Bei  einem  Mädchen  zeigte  sich  bei  sonst  ziem- 
lich herabgesetzter  Empfindlichkeit  gegen  alle  Reize  der  Außenwelt 
eine  erhebliche  Empfindlichkeit  gegen  alles  Singen,  Leierkasten,-  Orgel- 
und  Harmoniumspiel.  Entsprechend  der  Blindheit  der  Schv/achsinnigen 
kommt  es  auch  in  schweren  Fällen  zur  völligen  Taubheit. 

Ein  Zögling  meiner  Anstalt,  ein  kräftiger  Knabe  war  taub  und 
idiotisch.  Der  Grehörgang  war  nicht  verschlossen,  sodaß  ein  Defekt  in 
der  Leitung  und  im  Zentrum  vorhanden  sein  mußte.  Der  Knabe,  ein 
Mikrocephaler,  war  jähzornig,  leicht  ablenkbar,  mit  den  stärksten  Auf- 
merksamkeitsdefekten, ängstlich,  scheu,  sodaß  eine  Behandlung  von  vorn- 
herein aussichtslos  erschien.  Ich  versuchte  es  trotzdem,  mußte  aber 
nach  langer,  oft  wiederholter  Bemühung  die  Unmöglichkeit  jeder  Hilfe 
erkennen,  da  er,  trotzdem  er  die  einzelnen  Lautstellungen  der  Sprach- 
werkzeuge richtig  bildete,  keinen  Laut  hervorbrachte  und  bei  der  ge- 
ringsten Berührung  aufschrie  und  weglief,  trotz  seiner  großen  Anhäng- 
lichkeit und  Zuneigung  zu  mir. 

Wenn  so  die  meisten  Schwachsinnigen  über  normale  oder  doch  an- 
nähernd normale  Empfindungen  verfügen,  so  stellen  sich  im  Festhalten 
dieser  Empfindungen  häufig  schon  größere  Defekte  ein,  die  Erinner- 
ungsbilder oder  Vorstellungen  haften  nicht  sicher,  wesentliche 
Merkmale  des  Gegenstandes  werden  übersehen  und  nicht  festgehalten, 
oder  sie  schwinden  wieder,  sodaß  kein  klares,  scharf  umrissenes  Bild 
vom  Gegenstand  im  Hirn  niedergelegt  und  aufgespeichert  ist. 

Vorsicht  ist  auch  hier  geboten.  Man  darf  unmöglich  verlangen,  daß 
ein  Kind  von  5 — 8  Jahren  alle  Vorstellungen  haben  soll,  über  die  ein 
größeres  Kind  oder  gar  ein  Erwachsener  verfügt.  Viele  Dinge  hat  das 
Kind  noch  garnicht  gesehen,  oder  ihnen,  aus  irgend  einem  äußern  Grunde 
keine  Beachtung  geschenkt,  wie  soll  es  aber  dann  davon  Vorstellungen 
haben?     Ein  Dorfkind  hat   andere  Vorstellungen   als   ein  Stadtkind,   ist 


-    24    -  jj 

€8  darum  schon  vorstellungsärmer?  Ein  Kind  einer  wohlhabenden  Fa-  ] 
milie  sieht  und  hört  mehr,  als  das  gleichaltrige  Kind  des  Arbeiterstandes,  ) 
ist  es  deshalb,  weil  es  über  mehr  Erinnerungsbilder  verfügt  intelligenter?  , 
Darum  Vorsicht  bei  der  Beurteilung;  nur  dann,  wenn  grobe  Ausfälle  j 
sich  gleich  bei  der  ersten  Untersuchung  zeigen,  wenn  viele  Vorstellungen  ; 
fehlen,  die  jedes  andere  gleichaltrige  normale  Kind  hat,  ist  ein  Verdacht  | 
auf  Schwachsinn  berechtigt.  Der  gewissenhafte  Beurteiler  wird  jedoch  \ 
trotzdem  das  Kind  noch  öfter  beobachten  und  untersuchen.  ; 

Bei  der  ersten  Konsultation  ist  eine  genaue  Aufstellung  des  gei-  ; 
stigen  Besitzstandes  unerläßlich,  um  eine  Grundlage  für  die  späteren  ] 
Untersuchungen  zu  haben.  Nunmehr  zeigt  man  dem  Kinde  andere  Ge-  ] 
genstände  in  natura  oder  im  Bilde,  was  nicht  so  zu  empfehlen  ist  und  ■ 
prüft  später,  ob  die  Vorstellungen  haften  und  ob  die  Eeize  stark  genug 
gewesen  sind,  um  Erinnerungsbilder  festzulegen.  So  allein  kann  man 
zu  einem  einwandfreien  sichern  Urteil  über  den  geistigen  Habitas  kommen.  I 

Im  folgenden  wollen  wir  eine  solche  genaue  Untersuchung  nach  dem  j 
Schema  von  Ziehen  kennzeichnen.  ^ 

Ausgehend  von   den   einfachsten  Erinnerungsbildern,  von 
den  Individual  Vorstellungen  wird  zu  untersuchen  sein,  ob  das  Kind 
seine  nächsten  Angehörigen  und  die   Dinge   seiner  nächsten  Umgebung  ] 
kennt:  Vater,    Mutter,   Schwester,  Bruder,  Stuhl,  Tisch,  Uhr,  Bett,  An-  ■ 
zug,   Stiefel,    Ofen,    Schrank,  Hand,  Kopf,  Nase,  Fuß  u.  s.  f.     Wenn  man 
ein  Kind  auffordert,    diese  Dinge  zu   benennen,    so  wird   es  einem  öfter  ' 
begegnen,  daß  es  dies  nicht  vermag.     Zwei  Möglichkeiten  sind  dann  als  ; 
Grund  dafür  vorhanden;    entweder  kennt   es  diese  Dinge  wirklich  nicht  ; 
und  dann  ist  es  schwachsinnig  im  schwersten  Grade;   oder  aber  nur  die  • 
Namen  für  die  Dinge  fehlen  dem  Kinde,    oder  es  kann  die  Worte  nicht  i 
aussprechen,  sichere  Vorstellungen  von  den  Dingen  hat  es  aber. 

Um  sich  in  solchen  Fällen  nicht  einer  schweren  Unterlassungssünde  J 
schuldig  zu  machen,  ist  es  erforderlich,  noch  einen  zweiten  Weg  der  ] 
Prüfung  zu  beschreiten,  nämlich  die  Dinge  zu  nennen  und  sie  von  dem  \ 
Kinde  zeigen  zu  lassen  und  wenn  auch  hier  der  Erfolg  noch  ausbleibt,  \ 
so  ist  die  dritte  Möglichkeit  ins  Auge  zu  fassen,  das  Kind  streng  zu  I 
beobachten,  wie  es  sich  den  genannten  Dingen  gegenüber  verhält,  um  ! 
daraus  schließen  zu  können,  ob  es  dieselben  kennt.  Und  das  wird  nicht  j 
schwer  sein  und  lange  wird  es  nicht  währen  und  man  weiß  sicher,  ob  \ 
das  Kind  seine  Angehörigen,  seine  Kleider  etc.  kennt. 

Schon  hier  bei  der  Prüfung  der  Individualvorstellungen  versagen  j 
die  Schwachsinnigen  schwersten  Grades,  Idioten,  sie  kennen  weder  Vater  \ 
noch  Mutter,  weder  ihren  Platz  hei  Tische,  noch  ihr  Bett,  weder  ihre  ■ 
Jacke,  noch  ihre  Stiefel  etc.    Schwachsinnigen  mittleren  Grades,  Imbe- 


—    25    — 

cillen,  sind  diese  Dinge  bekannt,  aber  ihr  Vorstellangskreis  bleibt  auf 
die  Dinge  der  nächsten  Umgebung  beschränkt,  sie  finden  und  orientieren 
sich  nur  der  allernächsten  Nachbarschaft.  Bei  Schwachsinnigen  leichten 
Grades,  Debilen,  findet  man  keinerlei  Ausfälle. 

Bislang  haben  wir  nur  Einzelvorstellungen  geprüft  und  schon  Ab- 
weichungen feststellen  können,  gehen  wir  nun  zu  den  Allgemein  vor- 
stellungen, so  werden  die  Defekte  größer.  Der  Imbecille  kennt 
seinen  Stuhl,  seinen  Baukasten,  sein  Messer,  sein  Bilderbuch,  seinen 
Ball  etc.,  dagegen  hat  er  nicht  immer  eine  Allgemeinvorstellung  von 
Tisch,  Messer,  Haus,  Ball  etc.  Wieder  sind  beide  Arten  der  Prüfung 
geboten:  Wo  ist  das  Messer?  —  Heraussuchen  unter  mehreren  Gegen- 
ständen —  und  was  ist  das?  —  Messer  — .  Nun  darf  man  hierbei  nicht 
immer  die  Gegenstände  nehmen,  die  das  Kind  als  die  seinen  genau  kennt, 
sondern  andere,  ähnliche.  So  verlangt  man  von  dem  Kinde,  daß  es 
von  kleinen  Abweichungen  und  Abänderungen,  kleinen  Verschiedenheiten 
abstrahiert  und  die  Gegenstände  trotzdem  als  gleichartige  erkennt. 

Der  Schwachsinnige  schwerster  Art  kann  keine  Allgemeinvorstel- 
lungen bilden.  Der  Imbecille  hat  die  geläufigsten  konkreten  Allgemein- 
vorstellungen, um  die  handelt  es  sich  jetzt  hier  nur,  ist  jedoch  oft  nicht 
imstande,  kleine,  weniger  auffällige  Abweichungen  festzuhalten  und  zu 
unterscheiden.  So  gibt  es  nicht  wenige,  die  nicht  die  deutschen,  ge- 
druckten Buchstaben  von  den  lateinischen  unterscheiden  können,  denen 
es  trotz  aller  Übung  nicht  gelingt,  einen  Apfelbaum  von  einem  Birn- 
baum zu  unterscheiden,  für  die  Hirsch  und  Reh  dasselbe  sind  u.  a.  m. 
Der  Debile  dagegen  verfügt  fast  immer  über  die  konkreten  Allgemein- 
vorstellungen. 

Viel  schwieriger  ist  die  Bildung  von  Allgemeinvorstellungen, 
welche  den  Empfindungsqualitäten  eines  Sinnesgebietes 
entsprechen.  Beginnen  wir  mit  den  Berührungsvorstellungen. 
Zu  dem  Zwecke  legt  man  verschiedene  Gegenstände  auf  den  Tisch  und 
fordert  das  Kind  auf,  bei  verbundenen  Augen  einen  gewünschten  Gegen- 
stand herauszusuchen  oder  einen  ihm  in  die  Hand  gegebenen  Gegenstand 
zu  benennen,  nur  so  kann  man  unter  Ausschaltung  der  Gesichtsvor- 
stellungen eruieren,  ob  das  Kind  Tastvorstellungen  hat.  Ganz  erhebliche 
Ausfälle  werden  uns  meistens  entgegentreten.  Auch  fehlen  nicht  selten 
Vorstellungen  von  glatt,  rauh,  weich,  hart,  naß,  trocken  etc. 

Nicht  so  sehr  geschädigt  ist  meist  der  Temperatursinn.  Man 
füllt  mehrere  Flaschen  oder  Reagenzgläser  mit  kaltem,  lauwarmem  und 
heißem  Wasser  und  läßt  die  Temperatur  bestimmen.  Idioten  vermögen 
es  oft  nicht.     Imbecille  und  Debile  machen  es  meist  richtig. 


-     20     -  1 

Zwecks  Untersuchung  des  Drucksinnes  läßt  man  verschiedene, 
gleichartige,  geschlossene  Kästen,  die  ganz  oder  teilweise  mit  Sand  ge- 
füllt sind,  heben  und  ihr  Gewicht  angeben.  Auch  hier  findet  man,  dalj 
die  Abstraktion  nicht  immer  vollzogen  ist,  denn  viele  können  nicht  das 
Gewicht  unterscheiden. 

Nicht  minder  geschädigt  sind  oftmals  die  Vorstellungen  wie  sauer,  süß 
bitter,  salzig,   und  die  Qualitäten  des  Geruchsinnes,  die   man  leicht 
mit   dunkeln   Flaschen,   die    verschiedene   Flüssigkeiten   enthalten,    fest 
stellen  kann.     Bei  tiefstehenden  Schwachsinnigen  gelingt  es  einem  auch 
oft,  durch  häufiges  Üben  nicht,  diese  Vorstellungen  zu  wecken.  ' 

Trotzdem  die  Seh-  und  Hörschärfe  bei  den  meisten  Schwachsinnigen 
fast  normal  ist,  sind  doch  die  Vorstellungen  dieser  Qualitäten  oft  auf- 
fallend und  unentwickelt.  Soweit  die  Hörsphäre  in  Betracht  kommt 
prüft  man  am  besten  bei  verbundenen  Augen  oder  doch  abgewandteiis 
Gesicht.  Man  läßt  ganz  bekannte  Geräusche  ertönen,  z.  B.  Glocke 
Geige,  Schlüsselbund,  Pfeife,  Stimmgabel  u.  s.  f.,  läßt  das  Kind  sagen 
womit  sie  hervorgebracht  waren.  Oder  aber  man  läßt  auch  das  Geräuscli 
an  verschiedenen  Orten  des  Zimmers  ertönen,  seitlich,  vor  und  hinter 
dem  Kinde,  weit,  nah  etc.  und  verlangt  vom  Kinde  die  Angabe  des 
Ortes.  Wenn  das  Kind  dies  vermag,  so  ist  es  ein  gut  prognostisches 
Zeichen ;  nur  Schwachsinnige  leichteren  Grades  können  diese  Abstraktioi 
und  Lokalisation  vollziehen. 

Von  größter  Bedeutung  sind  die  Qualitätsvorstellungen  des  Gesichts- 
sinnes. Vorab  ist  festzustellen,  ob  das  Kind  große  Einzeldarstellungei 
erkennt,  dann,  ob  es  auf  Bildern,  die  Tätigkeiten  —  Handwerk,  Gewerbe 
Leben  und  Treiben  auf  der  Straße  —  darstellen,  die  einzelnen  Gegen" 
stände  benennen  kann.  Während  die  meisten  Schwachsinnigen  —  aus« 
genommen  die  tiefstehensten  Idioten  —  das  Erstere  vermögen,  triflPt  mar 
im  anderen  Falle  oft  Defekte.  Das  Kind  erkennt  entweder  überhaupi 
nichts,  oder  zeigt  bei   jeder  Aufforderung  immer  denselben  Gegenstand 

Zur  weiteren  Prüfung  schneidet  man  sich  aus  Papier  verschiedene 
Formen,  Dreiecke,  Vierecke,  lang  und  kurz,  Kreise,  Kreuze,  Sterne  etc 
und  läßt  die  gleichen  heraussuchen  und  zusammenlegen.  Debile  könnet 
das  meistens,  jedoch  finden  sich  hier  auch  schon  Ausnahmen,  Lnbecillf 
dagegen  versagen  hier  meistens.  Noch  augenscheinlicher  werden  di< 
Defekte,  wenn  man  zu  den  Farbenvorstellungen  übergeht,  über  di< 
sogar  oftmals  leicht  abnorme  Kinder  nicht  verfügen,  trotz  umfangreiche) 
Schulkenntnisse.  Sie  sind  etwa  nicht  farbenblind,  sie  haben  wohl  di« 
richtige  Empfindung,  aber  aus  dieser  haben  sich  keine  Gemeinvorstel 
lungen  gebildet.  Ein  normales  Kind  lernt  die  Farben  bis  zum  5.  Jahr« 
erkennen  und  richtig  bezeichnen,   der  Schwachsinnige  erst  viel   später 


—     27     — 

ja  es  gibt  sogar  sehr  viele,  die  es  nie  erlernen.  Nur  in  ganz  seltenen 
Fällen  beobachtet  man,  daß  bei  tiefstehenden  Schwachsinnigen  die  Far- 
benvorstellungen gut  entwickelt  sind,  sodaß  man  die  Farbenvorstellungen 
als  gutes  Kriterium  für  den  Schwachsinn  nehmen  kann. 

Einige  Beispiele  sollen  zeigen,  wie  in  der  Regel  die  Ausfälle  in  den 
Farbenqualitäten  sich  zeigen. 

A.,  15 jährig,  eiiennt  keine  Farbe  richtig,  benennt  heute  schwarz 
als  grau,  ein  andermal  als  blau,  grün  als  rot  oder  auch  blau. 

K.,  12  jährig,  nennt  schwarz  und  braun  fast  immer  grau,  blau  fast 
immer  grün. 

In  beiden  Fällen  ist  das  Unvermögen,  richtige  Farbenvorstellungen 
zu  bilden,  ganz  deutlich.  Die  Beispiele  ließen  sich  mehren.  Es  handelt 
sich  immer  um  Idioten  und  Imbecille,  und  ganz  offensichtig  ist  es,  daß 
sie  entweder  überhaupt  keine  richtigen  Farbenvorstellungen  oder  eine 
Vorliebe  für  bestimmte  Verwechselungen  haben,  die  wohl  durch  die 
Ähnlichkeit  der  Farbe  bedingt  ist. 

P.,  13 jährig,  bezeichnet  gern  alles  grün;  kennt  keine  einzige  Farbe. 

F.,  14jährig,  kennt  keine  Farbe,  bezeichnet  alles  grau.     Ebenso 

B.,  11  jährig,  nennt  meist  alles  blau. 

Eine  dritte  Grruppe  Schwachsinniger  bezeichnet  alle  Farben  mit  ein 
und  demselben  Wort  oder  bevorzugt  dieses  wenigstens,  ohue  jedoch  ge- 
rade von  dieser  Farbe  eine  besonders  gute  Vorstellung  zu  haben,  meist 
sind  es  wohl  nur  bevorzugte  Gehörseindrücke. 

A.,  13 jährig,  verwechselt  braun  und  grün,  grün  und  blau,  andere 
Farben  richtig. 

W.,  Mjäbrig,  verwechselt  braun  und  gelb. 

P.,  12jährig,  verwechselt  gelb  und  grün. 

Ad.,  14 jährig,  verwechselt  manchmal  grau  und  grün. 

Diese  Grruppe  verwechselt  einige  ähnliche  Farben. 

E.,  11  jährig,  verwechselt  blau  bald  mit  grün,  bald  mit  gelb,  bald 
mit  grau,  bald  bezeichnet  sie  es  richtig. 

AI.,  12 jährig,  kannte  zunächst  keine  einzige  Farbe,  nach  langer 
Übung  verwechselte  sie  noch  blau,  braun  und  gelb,  blau  verwechselte 
sie  mit  grün  und  schwarz,  braun  mit  gelb  und  grün  und  gelb  mit  grün 
und  grau. 

Gr.,  13 jährig,  verwechselt  blau  manchmal  mit  grün,  ein  andermal 
mit  gelb,  grün  mit  blau,  grau  oder  gelb. 

Diese  drei  Kinder  benennen  eine  Farbe  immer  falsch,  ohne  jedoch 
immer  dieselbe  Bezeichnung  zu  wählen,  sodaß  also  Farbenblindheit  aus- 
geschlossen ist,  da  dann  eine  gesetzmäßige  Regelmäßigkeit  vorhanden 
sein  müßte. 


—    28    — 

Nunmehr  kommen  wir  zur  Untersuchung  der  Raum-  und  Größen- 
vorstellungen. Man  verändert  bei  abgewandtem  Gesicht  des  Kindes 
die  Lage  irgend  eines  Gegenstandes,  hängt  z.  B.  ein  Bild  schief,  legt 
einen  stehenden  Gegenstand  um  und  verlangt  vom  Kinde,  die  vorige 
Lage  wieder  herzustellen.  Oder  man  öffnet  einen  Schrank,  einen  Kasten, 
ein  Fenster  u.  s.  f.  und  fordert  das  Kind  auf,  es  wieder  so  zu  machen, 
wie  es  vordem  war.  Weiterhin  prüft  man,  ob  das  Kind  weiß,  was  oben, 
unten,  hinten,  vorn,  über,  neben,  in  etc.  ist,  indem  man  es  auffordert, 
einen  Kasten  in,  auf,  neben,  unter,  hinter,  vor  u.  s.  f.  den  Schrank  zu 
legen,   ein  Buch   in,    auf,   unter,   neben,   vor,   hinter  die  Bank  zu  legen. 

Kleine,  ganz  einfache  Figuren,  z.  B.  Dreiecke,  Kreuze,  Vierecke,  Stuhl, 
Leiter,  Kahn,  Tassen  u.  s.  f.  aus  Stäbchen  gelegt,  geben  einen  Einblick 
in  die  Lagevorstellungen  des  Kindes.  Man  legt  mit  Stäbchen 
irgend  eine  Figur  vor  und  das  Kind  muß  sie  nachlegen.  Ganz  unglaub- 
liche Ungeschicklichkeit  der  Hände  verbindet  sich  oft  mit  unklaren  Vor- 
stellungen und  verschlechtern  die  Leistungen. 

Mit  Papierstreifen  kann  man  recht  gut  die  Größenvorstellungen 
untersuchen.  Man  legt  lange,  kurze,  schmale,  breite  Streifen  auf  den 
Tisch  und  läßt  sich  die  langen  heraussuchen  oder  die  breiten  u.  s.  f. 
Ebenso  sind  die  Vorstellungen  nahe,  weit,  hoch,  niedrig,  tief,  flach  zu 
prüfen  mit  Gegenständen,  die  man  gerade  zur  Hand  hat.  Welches  Buch 
liegt  nahe  bei  mir?  Welcher  Stuhl  steht  weit  weg?  Welches  Bild 
hängt  hoch?  Welches  niedrig?  u.  s.  f.  Fragen  wie  diese:  Wie  groß  ist 
dein  Fuß,  der  Tisch,  deine  Nase?  Wie  groß  ist  wohl  ein  Hund?  eine 
Katze?  Wie  dick  ist  dein  Lesebuch?  Wie  lang  ist  dein  Bleistift,  dein 
Federhalter?  Wie  groß  ist  das  Billet  der  Elektrischen?  Wie  groß  ist 
ein  Pferd?  eine  Maus?  u.  s.  w.  werden  uns  zeigen,  daß  die  Raumvor- 
stellungen ebenso  wie  die  andern,  bislang  untersuchten  verschieden 
entwickelt  sind,  je  leichter  der  Schwachsinn  ist,  desto  geringer  ist  die 
Abweichung  der  Norm  und  je  tiefer  das  Kind  steht,  desto  mehr  schwindet 
die  Fähigkeit,  Allgemeinvorstellungen  zu  bilden. 

Denselben  Befund  haben  wir  bei  den  Zeitvorstellungen.  Einem 
normalen  Kinde  sind  diese  Vorstellungen  wie  Woche,  Tag,  Stunde, 
Minute,  Morgen,  Abend,  Mittag,  Nacht,  Jahr,  Vormittag,  Nachmittag, 
spät,  früh,  lang,  kurz  u.  s.  f.  wohl  im  5.  bis  6.  Jahre  geläufig,  beim 
Schwachsinnigen  entwickeln  sie  sich  entweder  garnicht,  oder  doch  später. 
Je  mehr  wir  uns  der  schweren  Idiotie  nähern,  desto  unentwickelter  sind 
die  Zeitvorstellungen.  Oftmals  vermögen  sich  Debile,  die  im  Umgang 
sich  kaum  von  gesunden  unterscheiden,  absolut  nicht  in  der  Zeit  zu 
orientieren,    sie   tragen   eine   Uhr   bei   sich,    können   sich   auch   danach 


—    29     — 

richten  nnd  trotzdem  ist  es  ihnen  unmöglich,  sich  selbständig  und  richtig 
in  der  Tageseinteilung  zurecht  zu  finden. 

Wichtig  ist  ferner  die  Untersuchung  der  Zahlvorstellungen.  Ein 
normales  Kind  erlernt  die  Zahlvorstellungen  nichts,  wenig,  viel  etc.  sehr 
bald,  schon  im  3.  Jahre  verfügt  es  darüber.  Auch  schon  zu  zählen  be- 
ginnt es  dann,  wenn  es  noch  keine  Zahlwörter  kennt,  es  legt  immer 
eins  dazu  und  .sagt  dabei:  noch  eins  und  erkennt  so  schon  das  "Wesen 
der  Addition,  nimmt  eins  weg  und  wieder  eins  und  spricht  dazu:  eins 
weg  und  erkennt  so  die  Subtraktion. 

I.  M.  hatte  sichere  Zahl  vor  Stellungen  bis  zur  5  mit  4  Jahren  und 
kannte  aber  die  Zahlwörter  3,  4  und  5  noch  nicht,  sondern  nannte  drei 
ein  Herz  und  vier  2  und  noch  2  und  malte  dazu  ein  richtiges  Zahlbild, 
5  war  dann  eins  mehr.  Von  da  an  rechnete  sie  viel  für  sich  allein  und 
überraschte  mich  eines  Tages  mit  den  Anfängen  der  Bruchrechnung,  in- 
dem sie  sich  nicht  damit  einverstanden  erklärte,  daß  sie  von  3  geöffneten 
Wallnüssen  nur  5  halbe  bekam.  Da  fehlt  eins,  behauptete  sie.  Mit 
Schulanfang  haben  die  meisten  Kinder  wohl  die  Zahlvorstellungen  bis 
5,  zählen  können  sie  meist  leider  viel  weiter. 

Bei  der  Prüfung  von  Zahlvorstellungen  benutzt  man  am  besten 
Steine  eines  Damenbrettes  oder  so  etwas,  aber  möglichst  gleichartige 
Dinge,  die  man  in  gleichen  Abständen  auf  den  Tisch  legt.  Nun  läßt 
man  das  Kind  zählen,  erst  mit  den  Augen,  rein  optisch  und  erst 
wenn  das  nicht  geht,  unter  Zuhilfenahme  der  Finger,  optisch  moto- 
risch. Dabei  kontrolliert  und  korrigiert  man  die  Tastempfindungen 
und  die  Augenbewegung.  Das  rein  optische  Zählen  ist  weit  schwieriger, 
weil  es  fertig  ausgebildete,  abstrakte  Zahlvorstellungen  voraussetzt  und 
Idioten  und  Imbecillen  vermögen  dies  nie  und  selbst  leicht  Debile  ver- 
sagen, sobald  man  über  zehn  hinausgeht.  Optisch  motorisch  können  die 
meisten  Imbecillen  zählen  bis  5,  aber  auch  manchmal  bis  zehn.  Idioten 
haben  entweder  gar  keine  Zahlvorstellungen,  oder  nur  sehr  wenig  1,  2 
höchstens  noch  3.  Diese  kann  man  dann  besser  prüfen,  mit  einem  Haufen 
Nüsse,  Apfel,  Steine  etc.,  von  denen  sie  1,  2  oder  drei  wegnehmen 
müssen,  oder  man  läßt  die  Gegenstände  im  Zimmer,  die  mehrmals  vor- 
handen sind,  zählen,  Stühle,  Bilder,  Tische  etc.  Ueberhaupt  ist  es 
bei  allen  Prüfungen  als  Gegenprobe  gut,  wenn  man  die  Dinge  in  natura 
zählen  und  sich  bringen  läßt. 

Gar  manches  schwachsinnige  Kind  kann  zählen  bis  20,  30,  ja  hun- 
dert und  wohl  noch  weiter,  aber  eine  klare  Vorstellung  hat  es  nicht 
einmal  von  2  und  3,  zu  schweigen  ganz  von  einer  großen  Zahl.  Alles 
sind  nur  leere  Worte,  Schalleindrücke,  die  nur  sinnlos  eingeübt  sind. 


-     30    — 

Weiterhin  sind  die  Allgemeinvorstellungen  höherer  Ord- 
nung zu  prüfen,  wie  Stein,  Haus,  Stall,  Fabrik,  Mensch,  Tier,  Pflanze, 
Vogel,  Fisch,  Baum,  Strauch,  Blume  etc.,  jedoch  nicht  zu  prüfen  durch 
Fragen  wie:  was  ist  ein  Baum?  welches  Ding  nenne  ich  einen  Fisch? 
da  die  Antwort  eine  BegrifFserklärung  erheischt,  die  oftmals  nicht  ein- 
mal normale  Kinder  zu  geben  imstande  sind  und  von  Schwachsinnigen 
erst  recht  nicht  zu  erwarten  ist.  Man  lege  vielmehr  viele  Gegenstände 
auf  den  Tisch  und  lasse  unter  allen  die  vorhandenen  Steine,  Blumen  etc. 
heraussuchen,  oder  man  gehe  hinaus  und  stelle  dem  Kinde  dieselben 
Aufgaben.  Oder  aber  man  zeigt  dem  Kinde  nur  gleichartige  Gegen- 
stände, Briefmarken,  Federhalter  etc.  und  fragt  nach  dem  Namen  dieser 
vielen  Dinge.  So  verlangt  man,  daß  das  Kind  alle  nebensächlichen  Zu- 
fälligkeiten, wie  Farbe,  Größe,  Schwere,  Form  etc.  abstrahiert  und  die 
Hauptmerkmale  herausschält  und  alle  dann  gleichartigen  Dinge  unter 
einen  Oberbegriff  zusammenstellt.  Eine  schwere  Aufgabe,  die  daher 
auch  nur  von  den  leichteren  Fällen  des  Schwachsinnes  geleistet  werden 
kann.  Idioten  haben  fast  nie  diese  Art  von  Allgemeinvorstellungen  und 
Imbecille  nur  wenige.  Allerdings  darf  man  sich  nicht  täuschen  lassen 
durch  die  manchmal  erstaunliche  Redegewandtheit  mancher  Imbecillen, 
sie  reden  über  Fische,  Blumen,  Bäume  und  Sträucher,  als  hätten  sie 
diese  Begriife  absolut  sicher  und  doch  sind  es  nur  Einzelvorstellungen 
und  nicht  Allgemeinvorstellungen.  Wenn  sie  von  Fischen  reden,  so 
denken  sie  an  einen  bestimmten  Fisch,  z.  B.  an  einen  Hering  oder  Gold- 
fisch, sprechen  sie  von  Blumen,  so  meinen  sie  nicht  selten  eine  bestimmte, 
ein  Veilchen  oder  eine  andere.  Eine  genaue  Untersuchung  ist  auch  hier 
absolut  unerläßlich. 

Bis  jetzt  haben  sich  alle  unsere  Prüfungen  nur  auf  einfache  Vor- 
stellungen erstreckt,  auf  die  Zahl,  Farbe,  Größe,  Geschmack  u.  s.  w.  der 
Dinge  oder  doch  wenigstens  auf  ein  Ding,  von  dem  mehrere  Merkmale 
erkannt  werden  mußten.  Wenn  wir  nun  einen  Schritt  weiter  gehen,  so 
stehn  kompliziertere  Vorstellungen  zur  Untersuchung,  Vor 
Stellungen ,  die  räumlich  und  zeitlich  aus  mehreren  ein- 
fachen zusammengesetzt  sind,z.  B.  Schule,  Theater,  Kinematho- 
graph,  Schützenfest,  Stadt,  Dorf,  Frühling,  Sommer,  Herbst,  Winter, 
Parade,  Erdbeben,  Feuer-  und  Wassernot,  Gewitter,  Wolkenbroch  etc. 
Man  fragt  die  Kinder,  wie  man  das  nennt,  wenn  es  draußen  warm  ist 
und  Blumen  und  Sträucher  blühen,  die  Wiesen  grün  sind,  die  Vögel 
singen  und  der  Himmel  blau  ist?  oder  wie  nennst  du  das,  wenn  alle 
Soldaten  hinausgehen  aufs  Tempelhofer  Feld  mit  allen  Fahnen,  im  besten 
Anzug  und  der  Kaiser,  die  Kaiserin,  die  Prinzen  und  andere  Fürsten 
dort  sind  und  die  Soldaten  mit  Musik  an  ihnen  vorbeimarschieren?    Die 


—    31    — 

Frage,  was  ist  eine  Parade?  Welche  Zeit  nennt  man  Frühling?  ist  für 
die  meisten  Schwachsinnigen  zu  schwer,  weil  sie  eine  Definition,  eine 
Zusammenfassung  aller  Einzelvorstellungen  in  einem  Satz  verlangt  und 
wird  deshalb  am  besten  vermieden.  Fehlerhafte  Einzelvorstellungen  der 
Farbe,  der  Zahl,  der  Form,  der  Zeit  und  fehlerhafte  Allgemeinvor- 
stellungen zeigen  sich  hierbei  ganz  deutlich. 

Wenn  schon  bisher  der  Verwendung  von  Bildern  nicht  das  Wort 
geredet  ist,  so  muß  es  hier  als  ganz  verfehlt  bezeichnet  werden,  wenn 
man  Schwachsinnigen  ein  Bild  von  einer  Stadt  vorlegt  und  nun  fragt, 
was  ist  das?  Sie  werden  nicht  immer  imstande  sein,  alle  Einzelheiten 
zu  erkennen,  zu  gruppieren  und  unter  einen  Oberbegriff  zu  subsumieren, 
meist  werden  sie  einige  Dinge  nennen,  die  sie  gerade  sehen  und  die  ihre 
Aufmerksamkeit  fesseln.  Dazu  kommt  noch,  daß  Schwachsinnige  die 
dreidimensionalen  Darstellungen  nicht  erkennen,  dazu  gehört  viel  Übung. 

Von  besonderer  Bedeutung  für  die  Diagnose  sind  die  Prüfungen 
der  Vorstellungen,  die  das  Verhältnis  mehrerer  Dinge  zu 
einander  ausdrücken  und  eine  erhöhte  Abstraktion  verlangen,  inso- 
fern als  das  Kind  die  beiden  Dinge  in  Beziehung  setzt  und  wägen, 
abschätzen,  vergleichen,  abmessen  etc.  muß.  Wenn  ein  Kind  schon  die 
Allgemeinvorstellungen  niederer  und  höherer  Art  nicht  ganz  sicher  hat, 
so  ist  es  ihm  einfach  unmöglich,  eine  richtige  Vorstellung  auf  Grund 
falscher  oder  nicht  klarer  anderer  Vorstellungen  zu  bilden.  Wenn  ein 
Kind  keine  klaren  Grrößenvorstellungen  von  einem  Pferd,  einem  Esel 
hat,  so  kann  es  auch  nicht  sagen,  wer  von  beiden  größer  ist  und  so  ist  es 
mit  vielen  Dingen,  auch  bei  andern  Beziehungsvorstellungen  wie 
ähnlich,  gleich,  kleiner,  dicker,  dünner,  breiter,  schmäler,  älter,  jünger, 
Ursache  und  Wirkung,  Grrund  und  Folge  u.  s.  f.  Viele  Schwachsinnige 
wissen  nicht  anzugeben,  wer  älter  ist,  ihr  Vater  oder  sie,  falls  sie  diese 
Frage  beantworten  können,  versagen  sie  meist  bei  der  Gregenfrage,  wer 
jünger  ist.  Diese  doppelte  Gegenüberstellung  ist  den  meisten  Schwach- 
sinnigen schier  unmöglich.  Desgleichen  vermag  es  fast  niemals  ein 
Schwachsinniger  —  höchstens  ein  ganz  leicht  Debiler  —  die  Wechsel- 
wirkung von  Ursache  und  Folge  anzugeben  in  beiden  Möglichkeiten,  das 
eine  Mal  von  veränderter  Ursache  auf  die  Wirkung  und  das  andere 
Mal  von  veränderter  Wirkung  auf  die  Ursache  zu  schließen,  z.  B.  wie- 
viel Geld  bekommst  du  wieder,  wenn  du  für  30  Pfg.  Semmeln  holen 
sollst  und  50  Pfg.  bekommen  hast?  Und  umgekehrt,  wieviel  Geld  hast 
du  gehabt,  wenn  du  für  30  Pfg.  Semmeln  holen  solltest  und  20  Pfg.  zu- 
rückerhalten hast?  Wenn  der  ersten  Aufforderung  manchmal  genügt 
wird,  so  erhält  man  im  2.  Falle  weit  öfter  ein  negatives  Ergebnis.  Oder 
ein  anderes  Beispiel,  das  nicht  große  Rechenkünste  erheischt.     Wie  ist's 


—    32    — 

im  Zimmer,  wenn  man  heizt?     Und  wie  ist  aber  der  Ofen,  wenn  es  im 
Zimmer  nicht  warm  ist? 

Absichtlich  frage  ich  hierbei  niemals  nach  dem  Grund.  Weshalb? 
Warum?  Aus  welchem  Grunde?  Also  nicht:  Warum  ist  es  im  Zimmer 
warm?  Warum  ist  es  im  Zimmer  nicht  warm?  Diese  Fragestellung  ist 
weit  schwieriger,  weil  sie  dem  Kinde  keine  Anhalts-  und  Ausgangs- 
punkte für  seine  Überlegung  gibt.  Erst  nachdem  ich  mich  überzeugt 
habe,  ob  das  Kind  in  oben  genannter  Form  die  Gegenwirkung  von  Grund 
und  Folge  kennt  und  beherrscht,  gehe  ich  zu  den  einfachen  Fragen 
warum,  weshalb  über.  Daß  hier  noch  weit  mehr  Kinder  versagen,  ist 
wohl  zu  verstehen.  Nur  ganz  wenig,  leicht  Debile  vermögen  auch  hier 
zu  folgen. 

Den  Schlußstein  der  Untersuchungen  der  Erinnerungsbilder  der  Vor- 
stellungen bilden  die  komplexen  Vorstellungen,  die  hervor- 
gehen aus  zusammengesetzten  Allgemein  Vorstellungen 
und  Beziehungsvorstellungen.  Hierher  sind  viele  unserer 
ethischen  Vorstellungen  zu  zählen.  Bei  der  Prüfung  derselben  darf  man 
wiederum  nicht  eine  Definition  verlangen:  Was  ist  Dankbarkeit,  Fleiß, 
Liebe,  Ehrfurcht  etc.,  sondern  man  erzählt  eine  Geschichte  und  fordert 
dann  das  Urteil  des  Kindes.  Die  Worte  Diebstahl,  Eigentum,  Fleiß  etc. 
gehören  oft  zu  dem  Wortschatz  vieler  schwachsinniger  Kinder,  aber  daß 
noch  keineswegs  damit  eine  Garantie  für  ihr  diesbezügliches  Verhalten 
gegeben  ist,  sieht  man  alle  Tage.  Die  Kinder  kennen  die  Gebote,  wissen 
auch  oftmals  ganz  nett  über  das  Betragen  eines  braven  Kindes  zu 
reden,  aber  sie  selbst  erachten  sich  nicht  an  diese  einfachen  Grundbe- 
dingungen der  Gesellschaftsordnung  gebunden.  Ganz  prompt  antwortet 
ein  debiles  Kind,  das  gestohlen  hat,  auf  die  Frage  des  Richters:  Wie 
lautet  das  7.  Gebot?  Du  sollst  nicht  stehlen!  Ist  man  dann  berechtigt 
zu  schließen,  daß  der  Begriff  des  Eigentums  geistiger  Besitz  des  Kindes 
ist?  Aus  diesem  Kardinalbeispiel  erweist  sich  zur  Evidenz,  daß  das 
Kennen  des  Wortes  Eigentum,  Diebstahl,  Roheit,  Gemeinheit  etc.  noch 
nicht  die  Einsicht  in  die  Strafbarkeit  einer  Handlung  verbürgt,  sondern 
daß  genau  eruiert  werden  muß,  ob  das  Kind  mit  diesem  Wort  auch  alle 
dazugehörigen  Einzelvorstellungen  verbindet,  um  sein  Handeln  in  Über- 
einstimmung mit  den  Forderungen  der  Sitte  und  des  Rechts  bringen 
zu  können,  ob  es  also  geistig  normal,  oder  geistig  minderwertig  ist.  An- 
stelle des  bisher  gebräuchlichen  „Begriffes"  der  verminderten  Zurech- 
nungsfähigkeit muß  der  der  „geistigen  Minderwertigkeit"  treten,  wenn 
man  die  Möglichkeit  einer  Freisprechung  durch  ein  glänzendes  Plaidoyer 
eines  geschickten  Verteidigers  ausschalten  will  und  das  ist  doch  wohl 
nur  eine  billige  Forderung.     Doch  dies  nur  nebenbei. 


—    33    — 

Bei  sprachungewandten ,  ängstlichen  Kindern  kommt  man  weit 
sicherer  und  schneller  zum  Ziel  unter  Anwendung  von  Unterschieds- 
fragen: Was  ist  der  Unterschied  zwischen  Vogel  und  Biene,  zwischen 
Eis  und  Wasser,  was  ist  schlimmer,  eine  Lüge  oder  ein  Irrtum?  Der 
Schwachsinnige  vermag  es  nicht  zu  sagen,  oft  selbst  dann  nicht,  wenn 
man  ihm  zwei  Beispiele  gibt,  einen  Fehler  beim  Rechnen  und  das  Lügen 
oder  Verdächtigen  eines  andern  bei  einem  Vergehen  seinerseits. 

Gerade  hier  bei  den  komplexen  Vorstellungen  zeigt  sich  der  Defekt 
im  Vorstellungsleben  der  Schwachsinnigen  ganz  deutlich,  jeder  Schwach- 
sinnige weist  Fehler  und  Mängel  dieser  Vorstellungen  auf,  sodaß  sie  das 
beste  Kriterium  für  den  Vorstellungsdefekt  Schwachsinniger  sind. 

An  dieser  Stelle  sei  kurz  noch  der  Schulkenntnisse  gedacht,  deren 
Prüfung  von  manchen  so  hoch  bewertet  wird.  Wer  eine  Untersuchung 
vornimmt,  wie  sie  hier  geschildert  worden  ist,  der  kann  auf  eine  solche 
der  Schulkenntnisse  verzichten.  Ist  doch  dazu  der  größere  oder  kleinere 
Besitz  von  Wissensstoffen  durchaus  nicht  ein  sicheres  untrügliches  Mittel 
zur  Erkennung  des  Schwachsinnes,  da  man  ja  in  den  wenigsten  Fällen 
genau  orientiert  ist  über  die  Bildungsmöglichkeit  des  Schülers,  über  die 
aufgewandte  Zeit  und  Mühe,  über  die  Qualifikation  des  Lehrers  zum 
Unterrichte  Abnormer,  über  die  Richtigkeit  der  angewandten  Methode  u.a.m. 

Auch  gibt  es  eine  ganze  Reihe  leicht  Schwachsinniger,  die  ein  er- 
staunliches Schulwissen  haben,  die  dank  ihres  guten  Gedächtnisses  eine 
Menge  Daten  und  Zahlen  im  Kopfe  haben,  ohne  jedoch  zu  wissen,  was 
sie  damit  anfangen  sollen.  Setzt  man  bei  einem  solchen  Kinde  das 
„Wortwissen"  —  mehr  ist  es  nicht  —  in  Rechnung  bei  seiner  Beurtei- 
lung, so  wird  das  Urteil  nicht  selten  ein  falsches  werden.  Deshalb  ist 
es  geboten,  solche  Fragen  nach  dem  positiven  Schulwissen  zu  unter- 
lassen. 

Prüfung  der  Ideenassoziation. 
Zusammengesetzte  und  komplexe  Vorstellungen  können  sich  nur 
:  bilden  durch  Verknüpfung  mehrerer  einfacher  Vorstellungen,  mithin  ist 
idie  Ideenassoziation  bei  der  Bildung  derselben  wirksam  und  schon  bei 
[der  Untersuchung  der  genannten  Vorstellungen  von  Bedeutung  gewesen 
und  gewertet,  wenn  auch  nicht  zahlenmäßig,  das  geht  nicht,  denn  nie- 
mand kann  sagen,  ob  in  einer  fehlerhaft  zusammengesetzten  Vorstellung 
[der  Grund  des  Mangels  in  der  Ideenassoziation  oder  in  der  äußern  Reiz- 
^sphäre  oder  in  einer  fehlerhaften  Abstraktion  der  unwesentlichen  Merk- 
male oder  irgend  einer  falschen  Einzelvorstellung  zu  suchen  ist.  Sichere 
Ergebnisse  kann  man  nur  erhoffen,  wenn  man  diese  andern  Ursachen 
; ausschaltet,    also   solche  Assoziationen   prüft,   welche  nicht  zur  Bildung 

Meumann    Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  3 


-     34    — 

einer  einzelnen  Vorstellung  notwendig  und  Bedingung  sind,  also  die 
successive  und  die  freie  Assoziation. 

Fehler  in  der  successiven  Ideenassoziation  findet  man  am 
ersten,  wenn  man  das  Kind  Reihen  bilden  läßt.  Die  einfachste  Reihe  ist  die 
natürliche  Zahlenreihe.  Man  glaube  ja  nur  nicht,  daß  es  den  Schwach- 
sinnigen so  leicht  fällt,  flott  weg  zu  zählen.  Bei  den  meisten  gehts 
leidlich,  d.  h.  fleißig  auswendig  gelernt  bis  10,  dann  haperts  schon  und 
je  höher  hinauf  wir  kommen,  desto  langsamer  geht  es.  Deutlicher  schon 
wird  die  Verlangsamung,  wenn  man  rückwärts  zählen  läßt.  Es  gibt 
viele  Schwachsinnige,  welche  das  3-,  ja  4-fache  und  noch  mehr  Zeit 
hierzu  gebrauchen  als  ein  normales  Kind.  Je  tiefer  ein  Kind  steht, 
desto  augenfälliger  ist  die  formale  Störung  der  Ideenassoziation.  Noch 
mehr  zeigen  sich  die  Ausfälle,  wenn  man  eine  Reihe  bilden  läßt,  durch 
stetes  Zuzählen  der  2  oder  3  u.  s.  f.  Je  größer  die  Summen  dann 
werden,  desto  langsamer  gehts. 

Eine  bestimmte  Skala  für  die  Einschätzung  der  betreffenden  Kinder 
nach  der  Schnelligkeit  ihrer  successiven  Assoziation  kann  man  nicht 
aufstellen,  da  die  Norm  nicht  feststeht.  Es  genügt  die  allgemeine  Regel, 
daß  der  Vollzug  der  successiven  Assoziation  sich  zusehends  verlangsamt, 
je  größer  der  Intelligenzdefekt  ist.  Wem  das  einfache  Abschätzen  nach  der 
Taschenuhr  oder  sein  Zeitgefühl  nicht  genügt,  der  verwende  irgend 
einen  der  gebräuchlichen  Chronometer,  z.  B.  eine  Sportuhr  oder  ein  Chro- 
noskop  (Münsterberg). 

Es  gibt  nun  unter  den  Schwachsinnigen  manchmal  sogenannte 
Rechenkünstler,  die  mit  einer  erstaunlichen  Geschwindigkeit  Operationen 
mit  den  größten  Zahlen  ausführen.  Ich  kannte  einen  Knaben,  der  rech- 
nete z.B.  17686  +  763  in  kürzester  Zeit  im  Kopfe  aus  und  war  sonst 
zu  nichts  zu  gebrauchen.  Es  gibt  nun  einmal  solche  Zahlenmenschen, 
die  nur  ein  ausgezeichnetes  Zahlengedächtnis  haben,  diese  kann  man 
dann  natürlich  nicht  auf  oben  genannte  Art  prüfen.  Andere  dagegen 
wieder  vermögen  nur  zu  rechnen,  zu  arbeiten,  zu  denken,  wenn  die 
Aufgabe  zu  irgend  etwas,  das  gerade  sie  besonders  interessiert  in  Be- 
ziehung gesetzt  wird.  So  erinnere  ich  mich  auch  eines  stark  debilen 
Knaben,  der  überhaupt  nicht  antwortete,  wenn  man  nicht  in  irgend 
einer  Weise  auf  eine  Person  zu  sprechen  kam,  die  er  kannte,  und  dann 
konnte  er  glatt  rechnen,  z.B.  A.  sag  mal  wieviel  ist  36+12,  Herr  N. 
möchte  es  gern  wissen.  Sofort  war  die  Antwort  da  und  dann  konnte 
man  sich  mit  ihm  über  gar  manches  unterhalten  und  er  gab  dann 
manchmal  ganz  gescheite  Antworten.  Oder  ein  anderer  Fall.  G.  konnte 
nicht  rechnen,  betätigte  sich  in  der  Schule  fast  nie,  vor  einem  Aufsatz 
konnte  er  stundenlang  sitzen,  ohne  ein  Wort  mehr  als  die  Überschrift 


-     35    — 

zu  schreiben,  sagte  man  ihm  aber,  er  solle  ein  Thema  bearbeiten,  das 
auf  die  Eisenbahn  Bezug  hat,  so  schaffte  er  gern  und  mit  Erfolg  und 
daran  anknüpfend  konnte  man  ihn  weiter  führen. 

A.  E.  war  auch  so  ein  Sonderling,  der  in  der  Geschichte,  Naturge- 
schichte, Geographie  nichts  behalten  konnte,  was  sich  nicht  an  eine  Zahl 
anschloß.  Bekleidete  man  aber  das  zu  Erlernende  mit  etwas  Zahlen, 
so  arbeitete  er  fleißig  und  behielt  gut. 

Daß  man  bei  allen  diesen  Schwachsinnigen  nicht  einfach  mit  Reihen- 
aufgaben aus  dem  Rechenunterricht  die  Zeitdauer  ihrer  successiven  As- 
soziation prüfen  darf,  bedarf  wohl  keines  Wortes  mehr.  Man  achte  da 
vielmehr  auf  die  Zeit,  die  sie  brauchen,  um  irgend  eine  Frage  zu  beant- 
worten, da  wird  sich  ganz  deutlich  zeigen,  daß  sie  weit  mehr  Zeit  nötig 
haben  zur  Verknüpfung  der  Vorstellungen  als  ein  normales  Kind. 

Zu  den  gleichen  Ergebnissen  kommt  man,  wenn  man  die  freie 
Assoziation  einer  Prüfung  unterzieht.  Soll  das  Kind  zu  irgend 
einem  ihm  genannten  Wort  schnell  ein  anderes  sagen,  was  ihm  gerade  dabei 
einfällt,  so  wird  man  auch  finden,  daß  das  schwachsinnige  Kind  hierzu 
viel  mehr  Zeit  braucht,  als  das  normale,  die  Unterschiede  sind  meist 
ganz  bedeutend.  Diese  Reizskalen  zeigen  neben  der  Verlangsamung 
auch  noch  ganz  deutlich  die  Armut  an  Vorstellungen  nnd  die  geistige 
Unbeweglichkeit  des  Schwachsinnigen.     Einige  Beispiele: 

R.  H.,  13  Jahre  alt: 


tanzen 

schön 

Globus 

klein 

Bär 

weiß 

verkaufen 

fein 

Lokomotive 

schwarz 

B.  Z.  am  Mittag 



rufen 

schön 

schlau 

frei 

Luftschiff 

hoch 

handeln 

schlecht 

wenig 

schnell 

Kamel 

groß 

turnen 

schön 

Sparkasse 

schön 

Auto 

groß 

Storch 

groß 

Schilderhaus 

weiß 

Büd 

klein 

exerzieren 

schön 

essen 

schön 

Latemenpfahl 

groß 

rund 

schön 

R.  H.  ist  ein  debiler  Knabe,  der  in  praktischen  Arbeiten  gut  an- 
stellig ist.  Ln  Unterricht  dagegen  leistet  er  wenig.  Er  schwatzt  un- 
endlich viel,  aber  immer  oberflächliches  Zeug.  Er  antwortete  auch  hier 
verhältnismäßig  schnell,  nur  bei  dem  Worte  Kamel  braucht  er  ca.  90  Sek. 
Er  hat  ausschließlich  mit  Eigenschaftswörtern  geantwortet,  trotz  rich- 
tiger Vorübung. 

3* 


^    36    — 


H.  N.,  10  Jahre  alt. 

tanzen 



schreiben 

schnell 

Sparkasse 



blau 

bunt 

verkaufen 



Fenster 

weiß 

handeln 



rufen 



Kamel 



Schilderhaus 



heiß 



schlau 



Luftschiff 

blau 

herumtreiben 



Bär 

schwarz 

laufen 

schnell 

Fisch 

schwimmen 

Kind 

klein 

rund 

grün 

schief 



Kalb 

j^ng 

H.  ist  ein  imbeciller  Knabe  mit  einer  leichten  Denkhemmung.  Die 
Zeitdauer  war  erheblich  verlängert  bis  100  Sek.  Er  bevorzugt  anch 
Eigenschaftswörter  und  ist  infolge  seines  langsamen  Ablaufes  der  Ideen- 
assoziation und  seines  nicht  sehr  großen  geistigen  Besitzstandes  die 
meisten  Antworten  schuldig  geblieben. 


E.  Seh.,  8  Jahre  alt. 

tanzen 

fein 

handeln 



Bär 

läuft 

schlau 



rufen 



nmhertreiben 



turnen 



Kamel 

wild 

Auto 

fahrt 

Sparkasse 



Schilderhaus 

steht 

Wagen 

steht 

heiß 



weich 



exerzieren 



Latemenpfahl 



Lokomotive 

fahrt 

E.  ist  ein  kleiner  imbeciller  Knabe  (mikrocephal),  der  geistig  wenig 
regsam  ist,  nur  beim  Spiel  entwickelt  er  größeres  Interesse  und  etwas 
Phantasie.  Er  antwortet  fast  nur  mit  der  3.  Person  im  Präsens  der 
Tatform.    Sehr  verlangsamte  Ideenassoziation. 


A.  Gr., 

10  Jahre. 

Müch 

die  Milch 

laufen 

rennen 

rnnd 



schief 



schreiben 

klein 

sehen 

bUnd 

Papier 



Kind 

das  Kind 

blühen 

Rose 

Ballon 

groß 

Storch 

klappert 

Fenster 

das  Fenster 

37     — 


Bild  groß  

essen  das  Essen  blau  Soldat 

Frau  die  Frau  heiß  

Mann  der  Mann  schlau  

A.   ist   ein   stark  schwachsinniges  Mädchen,   das  sehr  denkträge  ist. 
An    ihrer  Reizskala  interessiert  besonders,    daß  sie  zu  Eigenschaftswör- 
tern kein  Stichwort  findet,  nur  in  einem  Fall  blau,  Soldat  und  daß  sie 
häufig  das  Wort  nur  ergänzt  durch  den  Artikel. 
A.  G.,  12  Jahre. 


Schule 

Kasten 

lang 

Tinte 

Gold 

Kaiser 

Kies 

Uhr 


schwarz 


schwarz 


schwarz 


Herr  "Wurst 

Deutschland 

Gelb 

Pferd 

Riese 

Geld 

morgen 

Scheere 

Amerika  

A.  ist  idiotisch.  Ganz  offensichtig  ist  der  Ausfall.  Ganz  selten 
hat  sie  auf  die  Reizwörter  reagiert  und  dann  hat  sie  mit  2  Ausnahmen, 
wo  sie  an  bestimmte,  ihr  naheliegende  Dinge  dachte,  nur  Farbenbezeich- 
nungen gebracht. 


schwarz 
schwarz 

weiß 

gelb 


Straße 

weiß 

Himmel 

weiß 

Kalb 

weiß 

Garten 
Schwein 

grau 
weiß 

rot 

Haus  (hat  an  unser) 

Nase 
roh 

weiß   (Haus    ge- 
dacht) 
Kartoffeln 

Schutzmann 

Baum 

schießen 

(Puffer) 
grau 
grün 
weiß 

kaufen 



Gewehr 

gelb 

Kirche 
Musik 

grau 

Soldat 

weiß 

E.  R., 

12  Jahre. 

Tante 



gelb 



Kind 

spielen 

Elektrische 

fahren 

sehen 

sehen 

Gras 



laufen 



Blume 

riechen  schön 

Pferd 

rennen 

Tinte 



springen 



Schule 

lesen 

lacht 



Lehrer 



Soldat 

marschieren 

Lesebuch 



-    38    - 

E.  ist  ein  idiotisches  Kind  mit  starker  Denkhemmung,  es  bedarf 
schon  eines  nicht  geringen  Reizes,  um  es  ans  ihrer  Apathie  aufzu- 
schrecken. Die  Skala  zeigt  sehr  deutlich  seine  geistigen  Defekte.  Von 
16  Reizwörtern  reagiert  es  auf  9  überhaupt  nicht  und  die  andern  7 
beantwortet  es  mit  der  Nennform  des  Tätigkeitswortes,  steht  also  un- 
gefähr auf  der  Stufe  eines  2— 2V2 jährigen  Kindes. 

Wenn  diese  einfachen  Messungen  nicht  genügen,  benutze  man  auch 
hier  die  schon  genannten  Instrumente.  Nötig  ist  es  nicht,  da  meistens 
die  Verlangsamung  so  deutlich  ist,  daß  man  sie  schon  ohne  Uhr  fest- 
stellen kann.  Je  langsamer  ein  Kind  auf  die  Reizwörter  reagiert,  desto 
schwerer  sind  die  Störungen  der  Ideenassoziation  bei  ihm. 

Wichtig  sind  weiterhin  die  andern  Ergebnisse  obiger  Tabellen.  Sie 
zeigen,  daß  von  Schwachsinnigen  gern  eine  Wortart  bevorzugt  wird, 
oder  aber,  daß  sie  das  genannte  Wort  nur  sprachlich  ergänzen  oder  zn 
einer  bestimmten  Wortart  kein  Wort  finden.  Am  tiefsten  stehen  die 
Kinder,  welche  überhaupt  nicht  oder  nur  wenig  auf  die  gegebenen  Reiz- 
wörter reagieren  oder  die  Worte  sinnlos  oder  nur  dem  Wortklang  nach 
aneinander  reihen  oder  dasselbe  Wort  oft  wiederholen;  ihnen  schließen 
sich  diejenigen  an,  welche  mit  der  Nennform  der  Tätigkeitswörter  oder 
mit  der  dritten  Person  des  Präsens  der  Tatform  antworten  oder  sie 
doch  bevorzugen,  dann  kommen  die,  welche  die  Reizwörter  nur  ergänzen 
oder  nur  Farben  nennen  und  endlich  diejenigen,  welche  auf  Eigenschafts- 
wörter nicht  reagieren. 

In  der  Regel  sind  dies  idiotische  oder  stark  imbecille  Kinder,  deren 
Vorstellungsschatz  sehr  arm  und  deren  geistige  Regsamkeit  sehr  ge- 
ring ist. 

Leicht  imbezille  und  debile  Kinder  haben  ebenfalls  eine  größere 
Reaktionszeit  als  normale  Kinder,  aber  eine  kürzere  als  die  schwereren 
Fälle  des  Schwachsinnes,  sie  haben  fast  immer  zum  Reizwort  ein  Reak- 
tionswort, bevorzugen  doch  oftmals  die  Eigenschaftswörter.  Eins  ist 
dazu  allen  schwachsinnigen  Kindern  eigen,  daß  sie  nicht  immer  sinnvolle 
Worte  zu  den  Reizworten  finden. 

Ein  einzelnes  der  angeführten  Ausfallsmomente,  zumal  wenn  es  nicht 
stark  abweichend  von  der  Norm  ist,  rechtfertigt  noch  nicht  die  Diagnose 
Schwachsinn,  gehäufte  und  besonders  auffallende  Abweichungen  jedoch 
legen  den  Verdacht  auf  Schwachsinn  zum  mindesten  sehr  nahe,  wenn 
nicht  andere  äußerliche  körperliche  oder  seelische  Gründe  die  Veran- 
lassung dazu  sind,  als  Unwohlsein,  Erschlaffung,  Magenverstimmung, 
Blutarmut,  adenoide  Vegetation  etc.  Ein  Weckruf  sind  alle  Störungen 
der  Ideenassoziation  aber  stets. 


—    39    — 

Verläuft  so  die  sukzessive,  die  reihenbildende  und  die  freie  Asso- 
ziation, die  durch  ein  Reizwort  ausgelöste  Gedankenverknüpfung  in  allen 
Fällen  langsamer,  so  steht  nicht  selten  die  spontane  Assoziation 
dazu  im  krassesten  Gegensatz.  R.  H.,  der  erste  unter  den  Reiztabellen 
gezeigte  Knabe  ist  so  ein  ewiger  Schwätzer.  Er  weiß  immer  etwas  zu 
erzählen,  aber  immer  oberflächliche,  zusammenhangslose  Dinge,  von  denen 
er  immer  und  immer  wieder  zu  erzählen  weiß.  Seine  Geschwätzigkeit 
ist  ideenflüchtig,  seine  Vorstellung  ist  lose,  rein  äußerlich,  oft  durch  Reim 
und  AUitteration  oder  durch  irgend  ein  Zufälligkeitsmerkmal  an  die 
folgende  geknüpft,  ja  die  Geschwätzigkeit  ist  nur  durch  den  lockern, 
oberflächlichen  Zusammenhang  der  Vorstellungen  und  durch  die  Gleich- 
artigkeit oder  Ähnlichkeit  seiner  Erzählungen  erklärlich  und  bedingt. 

Meht  selten  täuscht  ein  debiles  Kind  seine  Zuhörer  durch  seine 
Redegewandtheit,  nicht  selten  glaubt  man,  daß  das  Kind  sogar  hoch 
befähigt  sein  muß,  da  es  mit  Geschick  und  Leichtigkeit  über  die  Dinge 
der  Umwelt  oder  über  gewisse  Dinge  konventioneller  Art  spricht.  Dies 
Urteil  verkehrt  sich  aber  ins  gerade  Gegenteil,  wenn  die  Betreffenden 
Gelegenheit  haben,  das  Kind  öfter  zu  sehen  und  zu  hören.  Es  ist  diese 
Geschwätzigkeit  nicht  selten  ein  Produkt  falscher  Erziehung,  die  das 
Kind  über  alles  reden  läßt,  auch  im  Beisein  Erwachsener,  sodaß  es  sich 
einen  gewissen  Schatz  konventioneller  Redensarten  aneignet,  der  auf 
den  ersten  Augenblick  stutzig  macht  und  der  dem  Kinde  selbst  eine  hohe 
Meinung  über  sich  und  sein  Können  einimpft. 

Ungleich  schwerer  als  die  formalen  Störungen  der  Ideenassoziation 
sind  die  inhaltlichen  Störungen  derselben.  Diese  haben  schon  bei 
allen  bisherigen  Prüfungen  der  Vorstellungs  Verknüpfungen  als  Quellen 
der  Fehler  mitgewirkt,  denn  es  ist  mehr  als  eine  formale  Störung  der 
Ideenassoziation,  wenn  ein  Kind  auf  die  ihm  genannten  Reizwörter 
überhaupt  absolut  nicht  reagiert  oder  an  dieselben  sinnlos  dem  Wortklang 
nach  Wörter  anfügt,  oder  aber  gewisse  Wörter  ohne  Innern  Zusammen- 
hang immer,  oder  fast  immer  wiederholt,  es  ist  mehr  als  eine  formale  Stö- 
rung, wenn  ein  Kind  in  fabelhafter  Schnelligkeit  der  Rede  immer  und 
immer  wieder  dasselbe  erzählt,  wenn  es  auf  gestellte  Fragen  oftmals 
dieselbe  einförmige  sich  wiederholende  Antwort  gibt,  wenn  es  jeglicher 
Phantasie  entblößt,  trocken,  mit  farblosen  Vorstellungen  antwortet, 
wenn  es  beim  Rechnen  oft  dasselbe  Resultat  bei  verschiedenen  Aufgaben 
angibt.  Phantasiearmut  undUrteilsschwäche  treten  uns  also 
überall   entgegen.     Sie    sind  inhaltliche  Störungen  der  Ideenassoziation. 

Zur  Illustration  gebe  ich  Nacherzählungen  von  2  Kindern  wieder,  die  bis- 
lang noch  niemand  als  schwachsinnig  angesprochen  hatte;  man  hielt  sie 
für   etwas   anders  als   andere  Kinder,  für  faul,  träge,  zerstreut  und  un- 


—    40    — 

aufmerksam  und  hoffte  im  Übrigen  auf  bessere  Zeiten.     Beide  besuchten 
in  Berlin  die  Gemeindescbule. 

Ich  hatte  jedem  einzelnen  3  mal  die  Greschichte  vom  Buben  xind 
Bock  erzählt. 

Es  war  einmal  ein  Bube,  der  wollte  lieber  essen  als  lesen,  hielt 
mehr  von  Nüssen,  als  vom  Wissen,  darum  nannten  ihn  die  Leute  den 
Faulen.  Das  wollte  ihn  aber  sehr  verdrießen,  und  er  dachte:  ;, Wartet, 
ich  will  es  euch  allen  zeigen,  wie  ich  fleißig  bin!",  nahm  sein  Lesebuch 
und  ging  hinab  auf  die  Straße. 

Auf  der  Straße  lag  ein  dicker  Baumstamm,  auf  den  setzte  sich  der 
Knabe.  Dort  mußten  die  Leute  alle  vorbei.  Er  nimmt  das  Buch  auf 
den  Schoß,  hält  es  aber  verkehrt,  so  daß  die  Buchstaben  alle  auf  dem 
Kopfe  stehen.  Da  sitzt  er,  guckt  hinein  und  baumelt  mit  den  Beinen. 
Bald  nickt  er  aber  mit  dem  Kopfe;  denn  er  ist  eingeschlafen. 

Wer  kommt  um  die  Ecke  am  Gartenzaune  ?  Der  Ziegenbock  ist  es, 
ein  munterer  Gesell,  der  seine  Kopfarbeit  wohl  gelernt  hat  und  es  mit 
jedem  darin  aufnimmt;  denn  seine  Hörner  sind  groß  und  seine  Stirn  ist 
hart.  Der  tritt  zu  dem  schnarchenden  Buben  und  sieht  ihn  nicken.  ^Hei", 
denkt  er,  „meinst  du  mich?  Ich  bin  schon  dabei!"  Er  stampft  mit  den 
Vorderbeinen  und  geht  einige  Schritt  zurück.  Der  Junge  nickt  weiter. 
„Gleich!"  meint  der  Bock,  nimmt  einen  Anlauf,  bäumt  auf  den  Hinter- 
beinen empor  und  puff!  gibt  es  einen  Stoß.  Der  Bock  stößt  an  des 
Buben  Kopf;  der  Bube  fliegt  rückwärts  hinunter  vom  Stamm,  das  Buch 
empor,  hoch  in  die  Luft. 

Heulend  rafft  sich  der  Bube  auf  und  eilt  ins  Haus.  Hat  er  keinen 
Buchstaben  im  Kopfe,  hat  er  doch  eine  Beule  daran.  Der  Bock  aber 
steht  verwundert  im  Wege  und  wartet,  ob  wieder  ein  Junge  kommt, 
der  nichts  gelernt  hat,  auf  der  Straße  dann  einschläft. 

A.  erzählt:  Es  war  einmal  ein  Junge,  der  wollte  nicht  lesen.  Der 
Junge  hat  auf  einem  Baum  geschlafen.  Da  kam  ein  Ziegenbock  und 
hat  ihn  gestoßen.    Der  Knabe 

E.,  12  Jahre,  erzählt  folgendermaßen:  Ein  Junge  wollte  einmal 
lesen,  da  saß  er  sich  auf  einen  Baum  und  schlief.  Da  kam  ein  Ziegen- 
bock. Da  nickte  der  Ziegenbock.  Da  dachte  der  Junge,  er  wollte  ihn 
stoßen. 

Oder  die  Geschichte  vom  habgierigen  Hund: 

E.  erzählt: 

Es  war  einmal  ein  Hund.  Er  ging  über  einen  Steg  und  da  hatte  er 
sein  Bild  gesehen  und  dachte,  jetzt  ist  da  ein  anderer  Hund.  Da  dachte 
er,   das  will  ich  ihm  fortnehmen.    Und  da  sprang  er  ins  Wasser  und 


—    41     — 

wollte  es  ihm  wegnehmen,  da  war  sein  Fleisch  verschwunden  und  der 
Hund  war  auch  verschwunden. 

A.  erzählt : 

Es  war  einmal  ein  Hund,  der  lief  über  einen  Steg  und  da  hatte  er 
ein  Stück  Fleisch  gesehen,  da  ließ  er  sein  Stück  fallen  und  er  sah  sein 
Bild.  Da  dachte  er,  er  dürfte  sich  das  holen,  das  Stück  Fleisch.  Da 
ist  er  nun  reingesprungen  und  dann  hat  er  sich  das  Stück  Fleisch  geholt. 

Oder  die  Geschichte  vom  Knaben,  der  gern  mit  Streichhölzern  spielte. 

Karl  spielte  gern  mit  Streichhölzern.  Seine  Mutter  hatte  es  ihm 
verboten.  Als  einmal  die  Mutter  weg  war,  etwas  einholen,  sagte  sie  zu 
Karl :  Spiele  nicht  mit  Streichhölzern,  denn  sonst  kann  dein  Bett  anfangen 
zu  brennen  und  alles  verbrennt.  Dann  haben  wir  kein  Bett  zum  Schlafen. 
Karl  spielte  aber  doch,  als  die  Mutter  fort  war.  Das  Bett  fing  an  zu 
brennen  und  er  verbrannte  sich  die  Hände  und  Füße  und  mußte  ins 
Krankenhaus. 

E.  erzählt: 

Eine  Mutter  sprach :  Es  war  einmal  ein  Junge,  der  spielte  gern  mit 
Feuer.  Da  sprach  die  Mutter :  Ich  will  weggehen,  spiele  nicht  mit  Feuer- 
Und  er  gehorchte  nicht,  da  verbrannte  er  sich  die  Füße  und  war  tot 
und  dann  kam  er  ins  Krankenhaus. 

A  erzählt: 

Es  war  einmal  ein  Junge,  der  hatte  mit  Streichhölzern  gespielt  und 
seine  Mutter  hatte  es  ihm  verboten  und  da  ging  die  Mutter  weg  und 
der  Knabe  hat  doch  gespielt.  Und  wo  die  Mutter  wegging,  da  hat  er 
sich  die  Finger  verbrannt  und  die  Füße  und  da  kam  er  ins  Krankenhaus. 

Die  Erzählungen  sind  bei  beiden  Kindern  lückenhaft  und  die  Pointe 
hatten  beide  Kinder  nicht  erfaßt.     Beide  sind  imbecill. 

Der  Idiot  vermag  in  den  seltensten  Fällen  eigene  Erlebnisse  oder 
kleine  Geschichten  zu  reproduzieren  und  der  Debile  erzählt  leidlich,  er- 
faßte aber  nicht  den  Zusammenhang  der  Handlungen.  Dafür  hier  ein 
Beispiel : 

P.  K.,  13  Jahre  alt,  idiotisch,  erzählt  von  unserer  Dampferfahrt  so: 
Wir  sind  mit  dem  Dampfer  gefahren.  Wir  sind  auch  ausgestiegen  und 
sind  auf  einen  hohen  Berg  gegangen.  Da  stand  ein  Haus  (meint  den 
Kaiser  Wilhelmsturm).  Das  ist  alles,  was  er  von  einer  eintägigen 
Dampferfahrt  weiß. 

Oder  eine  Nacherzählung  der  Geschichte  vom  Wolf  und  Fuchs. 

Der  Fuchs  sprach  einmal  zum  Wolf:  Schaff  mir  was  zu  fressen  an 
oder  ich  fresse  dir,  der  Wolf  sprach:  Komm,  ich  weiß  ein  Haus,  da 
sind  Bauern,  da  steht  ein  Tonne  mit  Fleisch.  Sie  gingen  durchs  Loch. 
Der  Wolf  aß  viel.     Der  Fachs  war  draußen. 


—    42    — 

R.  H.,  13  Jahre  alt.     Debil. 

Es  war  ihm  folgende  Geschichte  erzählt  worden. 

Der  gewissenhafte  Indianer. 

Ein  Indianer  hatte  seinen  Nachbar  um  etwas  Tabak  gebeten.  Dieser 
griff  in  die  Tasche  und  gab  ihm  eine  Hand  voll.  Am  andern  Morgen 
kam  der  erstere  und  brachte  ihm  einen  Vierteltaler,  der  unter  dem 
Tabak  gewesen  war,  zurück.  Als  ihm  einige  raten  wollten,  das  Geld 
zu  behalten,  legte  er  die  Hand  aufs  Herz  und  sagte:  Hier  im  Herzen 
habe  ich  einen  guten  und  einen  bösen  Menschen,  der  gute  hat  gesagt: 
Das  Geld  gehört  dir  nicht,  gib  es  seinem  Herrn  zurück.  Der  böse 
Mensch  sagte  zu  mir :  Alan  hat  es  dir  gegeben,  es  gehört  dir.  Der  gute 
sagte  darauf:  Das  ist  nicht  wahr,  der  Tabak  gehört  dir,  aber  das  Geld 
nicht.     Der  böse  Mensch  sagte  dann  wieder :  Beunruhige  dich  nicht,  gehe 

hin   und  kaufe   dir  Branntwein   dafür. Ich  wußte  nicht,  wozu 

ich  mich  entschließen  sollte,  endlich,  um  zur  Ruhe  zu  kommen,  legte  ich 
mich  ins  Bett,  aber  der  böse  und  der  gute  Mensch  haben  sich  die  ganze 
Nacht  hindurch  gezankt,  sodaß  ich  keine  Ruhe  hatte,  ich  mußte  das 
Geld  wiederbringen. 

R.  erzählt  so  wieder:  Es  war  ein  Mensch,  der  bat  seinen  Nachbar 
um  Tabak  und  in  dem  Tabak  lag  Geld.  Der  Mensch  wollte  das  Geld 
behalten.  Da  erfuhr  es  der  gute  Mensch  und  er  sprach:  Gebe  lieber 
dem  Nachbar  das  Geld  wieder,  der  böse  Mensch  aber  wollte  es  nicht 
hingeben  und  sprach  zu  dem  guten  Mensch:  Beruhige  dich,  kaufe  dir 
lieber  Branntwein.  Der  Nachbar  legte  sich  zur  Ruhe  ins  Bett  und  die 
andern  beiden  zankten  sich  weiter.  Er  wurde  aber  in  der  Ruhe  gestört 
und  konnte  nicht  schlafen. 

Er  hat  den  Widerstreit  der  bösen  und  guten  Gedanken  nicht  erfaßt, 
ein  Zeichen  seiner  Urteilsschwäche. 

Fordert  man  von  den  Kindern  rein  abstrakte  Überlegungen  und 
Urteile,  so  ist  der  Ausfall  ein  noch  größerer,  z.  B.  in  der  Mathematik. 
Kein  schwachsinniges  Kind,  selbst  kein  leicht  debiles,  erlernt  irgend 
einen  Lehrsatz  zu  beweisen.  Hersagen  kann  es  wohl  ganze  Mengen 
solcher,  aber  den  Zusammenhang  und  die  einzelnen  Schlüsse  des  Beweises 
erfaßt  es  nie.  Auch  ist  kein  Debiler  imstande,  eine  Zeichnung  zu  einem 
stereometrischen  Lehrsatz  zu  zeichnen  ohne  vorherige  lange  Übung.  In 
der  Arithmetik  und  Algebra  sind  die  Leistungen  dieser  Kinder  selbst- 
verständlich noch  geringer,  wenn  nicht  vollständig  gleich  Null.  Selbst 
leichte  Aufgaben  stellen  sich  ihnen  als  unüberwindbare  Hindemisse  ent- 
gegen,  z.B.:   Von   zwei  Zahlen   ist   eine   um  10  größer   als  die  andere, 


—    43    — 

beide  zusammen  ergeben  70  Wie  heißen  beide  Zahlen?  Haben  sie 
einige  solche  Gleichungsaufgaben  gerechnet,  so  vermögen  sie  analog 
dieser  weitere  zu  lösen,  aber  jede  leise  Änderung  bringt  wieder 
Schwierigkeiten.  Dasselbe  zeigt  sich  beim  Buchstabenrechnen,  beim 
Wurzelziehen,  in  der  Gresellschaftsrechnung,  bei  der  Regeldetrie,  in  der 
Prozentrechnung  u.  s.  f.  und  ist  begründet  in  der  Schwäche  der  Urteüs- 
bildung  debiler  Kinder. 

Ein  guter  Prüfstein  ist  auch  das  Zusammensetzspiel.  Es  erfordert 
eine  zusammengesetzte  geistige  Tätigkeit,  stellt  Anforderungen  an  die 
Phantasie  und  verlangt  immer  eine  Entscheidung,  ob  der  gesetzte  Würfel 
richtig  steht,  ob  es  der  richtige  ist.  Die  kombinatorische  Tätigkeit  leidet 
aber  bei  dem  Schwachsinnigen.  So  kann  denn  selten  einmal  einer  nach 
der  Vorlage  ein  Bild  zusammensetzen. 

Als  wichtigste  Erkennungs-  und  Unterscheidungsmerkmale  heben 
sich  also  folgende  Sätze  von  selbst  heraus:  Der  Idiot  kann  eigene  Er- 
lebnisse, kleine  Geschichten,  mathematische  Beweise,  algebraische  Auf- 
gaben, schwierige  Rechenoperationen  etc.  nicht  reproduzieren,  die  Im- 
bezillen vermögen  es  nur  lücken-  und  fehlerhaft,  meist  jedoch  erst  nach 
langer  Übung  und  der  Debile  reproduziert  leidlich,  aber  ohne  Erfassung 
des  Zusammenhanges  und  der  Pointe. 

Und  diese  Intelligenzprüfung,  das  Nacherzählen  von  Geschichten, 
sollte  immer  die  letzte  Intelligenzprüfung  sein,  gibt  sie  doch  eine  un- 
trügliche Skala  in  der  Abstufung  der  Auffassung  durch  das  Unterscheiden 
von  Wichtigem  und  Unwichtigem,  in  der  Erfassung  des  Zusammenhanges 
und  der  Pointe.  Reines  Nacherzählen  kommt  hier  garnicht  in  Betracht, 
da  es  keine  zusammengesetzte  kombinatorische  Tätigkeit  erheischt  und 
nur  als  Leistung  des  Gedächtnisses  hier  mithin  belanglos  ist.  Was  läßt 
sich  an  unverstandenem  Zeug  nicht  alles  Kindern  und  selbst  Schwach- 
sinnigen einprägen. 

Wahnvorstellungen. 
Auch  der  gesunde  Mensch  ist  dem  Irrtum  unterlegen,  er  erkennt 
ihn  als  solchen  und  korrigiert  ihn.  Diesem  psychologischen  Irrtum 
[gegenüber  steht  der  pathologische,  welcher  nicht  korrigiert  wird.  Es 
pandelt  sich  um  Vorstellungsverknüpfungen,  welche  den  Tatsachen  der 
fAußenwelt  nicht  entsprechen,  sie  werden  aber  nicht  als  falsch  erkannt 
[■und  nicht  korrigiert. 

Wahnvorstellungen  sind  bei  schwachsinnigen  Kindern  nicht  häufig 
zu  finden.  Sie  unterscheiden  sich  von  denen  Geisteskranker  ganz  deut- 
lich und  können  so  wohl  auch  als  Warnungssignale  gelten.  Während 
idie  Wahnideen  Geisteskranker  fast  immer  einen  testen  innern  Zusammen- 


—    44     - 

hang  erkennen  lassen,  sind  die  der  Schwachsinnigen  immer  lose  anein- 
ander gefügt.  Die  Wahnideen  Geisteskranker  sind  nicht  selten  sehr 
fein,  ja  glänzend  ausgesponnen  und  fortgeführt,  die  der  Schwachsinnigen 
dagegen  fallen  durch  Armut  und  Einförmigkeit  auf.  Geisteskranke 
haben  für  ihre  Wahnideen  oft  eine  verblüffende  Begründung,  der 
Schwachsinnige  vermag  seine  flüchtige  und  oberflächliche  Wahnvor- 
stellung durch  nichts  zu  stützen. 

Am  häufigsten  begegnet  man  hypochondrischen  Wahnvorstellungen. 
So  wollte  ein  13  jähriger  Junge  absolut,  daß  ihm  ein  Finger  abgeschnitten 
würde,  da  er  sich  einmal  daran  gerissen  habe  und  der  Finger  sonst  ab- 
eitem  würde,  auffallender  Weise  klagte  er  aber  nicht  über  Schmerzen 
in  dem  betreffenden  Finger.  Ein  anderer  älterer  Knabe  behauptet,  ein 
großes  Tier  im  Leibe  zu  haben,  das  ihn  ganz  krank  mache  und  das 
müßte  heraus.  Wieder  ein  anderer  glaubte  ganz  fest,  daß  sein  Blut 
vergiftet  sei,  dies  bereitete  ihm  große  Schmerzen.  Es  war  ein  leicht 
erregbarer  Junge,  der  sich  oft  mit  seinen  Kameraden  balgte,  wenn  nun 
das  Blut  schneller  pulsierte,  fühlte  er,  daß  sein  Puls  schneller  schlug 
und  das  Herz  schneller  arbeitete  und  dies  war  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  der  Grund  für  das  vergiftete  Blut. 

Anderseits  trifft  man  auch  Größenwahnvorstellungen  an,  die  aber  meist 
recht  rudimentär  sind.  So  erzählte  ein  Knabe,  er  sei  fürstlicher  Ab- 
stammung und  gab  als  Grund  dafür  an,  daß  sein  Vater  reite.  Ein 
anderer  glaubte  recht  reich  zu  sein  und  war  in  dem  Gedanken  glücklich. 
Fragte  man  ihn,  was  er  denn  soviel  besitze  und  was  er  mit  seinem 
Besitztum  machen  wollte,  so  bekam  man  stets  die  Antwort:  „Ich  bin 
reich,  sehr  reich." 

P.  14  Jahre  alt: 

Ich  habe  keine  Zeit.  Ich  muß  weg.  Der  D-Zug  mit  dem  Speise- 
wagen fährt  ab.  Ich  muß  nach  Japan,  Frieden  schließen.  Da  komme 
ich  mit  meinen  Soldaten,  Kürassieren  und  Husaren  und  steche  die  Kerls 
tot,  alle  tot.  Dann  ist  Friede.  Ich  bin  Soldat,  ein  Fürst,  ein  Graf, 
habe  viel  Kanonen.    Ein  Fürst  wie  ich  kann  alles. 

Hin  und  wieder  trifft  man  auch  Fälle  von  Verfolgungsvorstellungen. 
Ich  habe  einen  solchen  Fall  beobachtet,  wo  ein  etwa  16 jähriger  Knabe 
glaubte,  von  einem  Mann  mit  einem  Beil  verfolgt  zu  werden.  Die  Ur- 
sache lag  in  einem  Vorkommnis  auf  dem  Holzplatz,  wo  ein  älterer 
Patient  diesen  Knaben  fragte,  ob  er  ihn  auch  so  zerhauen  sollte  wie 
sein  Holz. 

In  allen  Fällen  von  Wahnvorstellungen  beziehen  sich  dieselben  fast 
durchgängig  auf  die  leichteren  Formen  des  Schwachsinnes,  auf  die  De- 


-    45    — 

bilität.     Bei  Imbecillen   und  Idioten   stößt   man   sehr   selten  auf  Wahn- 
vorstellungen. 

Zwangsvorstellungen. 

Auch  bei  Zwangsvorstellungen  handelt  es  sich  um  Vorstellungen 
und  Vorstellungsverknüpfungen,  die  den  Tatsachen  der  Außenwelt  nicht 
entsprechen.  Während  bei  den  Wahnideen  korrigierende  Urteilsasso- 
ziationen nicht  oder  doch  nur  teilweise  auftreten,  ist  sich  hier  der 
Patient  der  Falschheit  und  Fehlerhaftigkeit  seiner  Vorstellungen  voll 
bewußt.  Er  ist  überzeugt  von  der  Unrichtigkeit  seiner  Vorstellungen, 
kann  sie  aber  infolge  ihrer  Überwertigkeit  nicht  los  werden.  Durch 
diese  abnorme  Konstellation  oder  abnorme  Gefühlsbetonung  erhält  die 
Vorstellung  oder  Vorstellungsverknüpfung,  welche  zwangsmäßig  auftritt, 
eine  abnorm  gesteigerte  Intensität  oder  Energie .  welche  sie  immer 
wiederkehren  läßt.  Immer  und  immer  wieder  drängen  sie  sich  dem 
Patienten  auf.  Er  weiß,  daß  es  unrichtige  Vorstellungen  sind  und  kann 
doch  nichts  tun,  um  sie  los  zu  werden,  er  ist  in  ihrem  Bann  oder  Zwang, 
daher  Zwangsvorstellungen.  Die  Zwangsvorstellungen  gehen  fast  ständig 
mit  negativen  Gefühlen  einher,  was  ja  auch  schon  in  dem  Wesen  be- 
gründet ist,  was  man  als  Zwang  empfindet,  ist  einem  unangenehm.  Ich 
entsinne  mich  eines  schwachsinnigen  Knaben,  der  bei  der  Werkstatt- 
arbeit kein  Messer  anrührte,  weil  dasselbe  ihn  schnitte.  Er  sah,  daß 
andere  Knaben  ganz  ruhig  mit  dem  Messer  hantierten,  ohne  sich  zu 
verletzen.  Ein  anderer  glaubte,  ertrinken  zu  müssen,  wenn  er  ins 
Schwimmbassin  ginge,  ohne  die  Stange  anzufassen.  Die  Stange  ist  zum 
Anfassen  und  wer  sie  nicht  anfaßt,  der  ertrinkt.  Er  sah,  daß  andere 
Kinder  auch  ins  Bassin  sprangen,  daß  sie  hineingingen,  ohne  anzufassen, 
er  tat's  nicht.  War  er  drin,  so  sprang  er  auch  umher.  Ein  anderer 
mußte  in  alle  Ecken  des  Hauses  spucken.  Er  ärgerte  sich  darüber 
und  nahm  sich  oft  vor,  es  zu  lassen,  tat  es  aber  immer  wieder.  Ein 
Mädchen  mußte  immer,  sobald  sie  aus  dem  Haus  trat,  an  die  Haustür 
klopfen.  Sie  litt  sehr  unter  diesem  Zwange,  weil  andere  Kinder  sie 
wohl  auslachten,  konnte  es  aber  nicht  lassen.  Später  klopfte  sie  auch 
an  jede  Straßenecke. 

Die  Zwangsvorstellungen  verlangen  oft  von  den  Patienten,  daß  sie 
eine  Handlung  ausführen.  In  den  genannten  Fällen  waren  es  immer 
harmlose,  motorische  Aktionen,  aber  nicht  immer  ist  die  ausgelöste  Be- 
wegung eine  schadlose.  Ein  Knabe  kämpfte  lange  gegen  die  überwertige 
Vorstellung,  er  müsse  die  großen  Schaufenster  einwerfen,  er  tat  es  an- 
fänglich nicht,  je  mehr  er  aber  versuchte,  die  Vorstellung  zu  bannen, 
desto  widerstandsloser  wurde  er  und  desto  energischer  trat  daher  die 
Zwangsvorstellung  auf  und  eines  Tages  warf  er  eine  Scheibe  ein. 


—    46    — 

Der  Knabe  unterlag,  weil  die  hemmenden  Vorstellungen  nicht  stark 
genug  waren. 

In  einem  andern  Falle  schenkte  ein  Mädchen  ihrer  Spielgenossin 
ihren  Fingerring,  den  sie  sehr  gern  hatte  und  auf  den  sie  stolz  war, 
aber  sie  mußte  ihn  weggeben.  Das  Mädchen  hatte  keine  Einsicht  und 
Kenntnis  von  der  Krankhaftigkeit  dieser  Vorstellung,  sonst  hätte  sie  es 
nicht  getan. 

Beides,  mangelnde  Krankheitseinsicht  und  fehlende  hemmende  Vor- 
stellungen, können  Kinder  zu  sehr  gefährlichen  Handlungen  treiben, 
z.  B.  zu  Selbstmord,  Selbstverstümmelung,  Brandstiftung,  Tierquälerei 
etc.  Deshalb  erheischen  sie  besondere  Beachtung.  Glücklicherweise 
kommen  sie  bei  Schwachsinnigen  sehr  selten  vor. 

Eine  besondere  Form  der  Zwangsvorstellungen  sind  die,  welche  in 
Frageform  auftreten.  Ganz  deutlich  zeigt  sie  sich  im  folgenden  Fall. 
Ein  15 jähriger  Knabe  konnte  längere  Zeit  eine  Frage  an  die  andere 
reihen,  ohne  die  Antwort  abzuwarten.  Er  wollte  nur  fragen  und  inmier 
wieder  fragen.  Wer  hat  den  japanischen  Krieg  geführt?  Wer  hat  die 
meisten  Truppen?  Wer  hat  die  größten  Soldaten?  Bin  ich  groß? 
Kann  ich  Soldat  werden?  Wer  hat  gewonnen?  Wieviel  Soldaten 
hatten  die  Russen?  Was  trinken  die  Russen?  Wie  hieß  der  General? 
Was  für  ein  Pferd  hatte  er  ?  Wie  pfeifen  die  Kugeln  ?  Wer  will  unter 
die  Soldaten?  Was  haben  die  Japaner  geblasen?  Wie  groß  ist  Japan? 
Kann  man  da  hin  ?  Ich  muß  viel  essen,  daß  ich  dorthin  kann  auf  einem 
Pferd.  Ich  muß  in  den  Krieg.  Wie  lange  dauert  der  Krieg?  Wieviel 
Pferde  xmd  Schiffe  waren  da?  Woraus  baut  man  Schiffe?  Haben  Sie 
schon  ein  Schiff  gesehen?  u.  s.  f.  Die  Patienten  haben  die  völlige  Er- 
kenntnis der  Sinnlosigkeit  dieser  ihrer  Fragen,  können  doch  nicht  davon 
lassen;  so  reiht  sich  die  Frage-  oder  Grübelsucht  den  Zwangsvor- 
stellungen an. 

Aufmerksamkeit. 

Bei  allen  Prüfungen  der  Ideenassoziation  haben  wir  ein  wichtiges 
Moment  absichtlich  ignoriert,  das  für  den  Ablauf  der  Vorstellungs- 
verknüpfungen von  größter  Wichtigkeit  ist:  Die  Aufmerksamkeit.  Be- 
stimmend für  dieselben  wirken  4  Faktoren,  welche  entscheiden,  ob  eine 
Empfindung  der  Gegenstand  der  Aufmerksamkeit  wird.  Die  Intensität 
der  Empfindung,  die  Übereinstimmung  derselben  mit  dem  latenten  Er- 
innerungsbild, die  Stärke  des  begleitenden  Gefühlstones  und  die  zofällige 
Konstellation  der  Vorstellungen.  Sie  zusammengenommen  bestimmen 
den  Verlauf  der  Ideenassoziation.  Wenn  sich  nun  in  den  4  bestimmenden 
Momenten  Abweichungen  von  der  Norm  finden,  so  muß  sich  die  Auf- 
merksamkeit auch  als  anormal  dokumentieren. 


—     47     — 

Bei  der  Prüfung  der  Empfindungen  sahen  wir,  daß  die  Seh-  und 
Hörschärfe  bei  den  Schwachsinnigen  meist  ungefähr  normal  ist,  ebenfalls 
sind  der  Geschmack  und  der  Geruch  meist  leidlich  entwickelt,  nur  bei 
der  Berührungsempfindung  zeigten  sich  häufig  Abweichungen.  Der 
Grund  für  eine  von  der  Norm  abweichende  Aufmerksamkeit  ist  auch 
mithin  nicht  gerade  in  dem  Empfindungsleben  des  Schwachsinnigen  zu 
suchen.  Die  Untersuchungen  der  Erinnerungsbilder  weisen  dagegen 
grobe  Defekte  nach.  Ich  erinnere  an  die  Zeit-,  Raum-  und  Zahlvor- 
stellungen, an  die  konkreten  Allgemeinvorstellungen  höherer  Ordnung, 
an  die  räumlich  und  zeitlich  zusammengesetzten  Vorstellungen,  an  die 
Beziehungsvorstellungen  und  die  daraus  resultierenden  komplexen  Vor- 
stellungen. Überall  Defekte  gröbster  Art.  Die  Gefühlstöne,  sowohl  die 
der  Empfindung,  als  auch  die  der  Vorstellungen,  die  wir  später  einer 
genauen  Prüfung  unterziehen  müssen,  liegen  dazu  jenseits  der  Breite 
der  Gesundheit.  Die  Konstellation  der  Vorstellungen  kann  dank  über- 
wertiger Vorstellungen  eine  ungünstige  sein,  jedoch  kommt  die  hier  gar 
nicht  als  besonders  gravierend  in  Betracht,  da  auch  beim  gesunden 
Menschen  die  Konstellation  der  Vorstellungen  außerhalb  der  Willens- 
herrschaft liegt  und  auch  bei  ihm  das  Suchen,  das  gespannte  Erwarten 
von  langer  Dauer  sein  kann.  Es  bleiben  trotzdem  noch  soviel  Defekte 
und  Abweichungen,  daß  die  Aufmerksamkeit  des  Schwachsinnigen  nicht 
normal   sein   kann.     Am  schwierigsten   sind  wohl  die  Intelligenzdefekte. 

Wo  sich  grobe  Intelligenz  defekte  finden,  wo  die  Gefühlstöne  herab- 
gesetzt sind,  da  muß  die  Weckbarkeit  der  Aufmerksamkeit  verlangsamt 
sein,  die  fördernden  Momente  fehlen.  Und  das  ist  der  Fall  bei  allen 
Fällen  schweren  Schwachsinnes.  Debile  mit  geringen  Ausfällen  in  den 
Erinnerungsbildern  haben  oftmals  gesteigerte  Gefühlstöne.  Da  ist  die 
Aufmerksamkeit  dann  sehr  leicht,  zu  leicht  weckbar.  Ganz  geringe 
Reize  genügen  schon,  die  Aufmerksamkeit  anders  zu  richten. 

Als  zweite  wichtige  Funktion  der  Aufmerksamkeit  ist  die  Haftfähig- 
keit derselben,  die  Konzentrationsfähigkeit,  hier  anzugliedern.  Er- 
schwerend, ja  hemmend  wirken  hier  dieselben  Defekte  wie  bei  der 
Weckbarkeit  der  Aufmerksamkeit.  Die  meisten  Schwachsinnigen,  auch 
die  Debilen,  vermögen  nicht,  ihre  Aufmerksamkeit  anhaltend  auf  gegebene 
Reize  einzustellen,  nur  ganz  wenige  leicht  Debile  bilden  hiervon  eine 
Ausnahme.  Dieser  sensoriellen  Konzentrationsfähigkeit  steht  die  in- 
tellektuelle gegenüber,  die  ein  anhaltendes  Einstellen  der  Aufmerksam- 
keit auf  zu  erwartende  Reize  und  Vorstellungen  erfordert,  sie  liegt  in 
allen  Fällen  gänzlich  darnieder,  so  daß  von  einem  anhaltenden  Einstellen 
garnicht  die  Rede  sein  kann.  Wie  ein  Schmetterling  fliegt  die  Auf- 
merksamkeit von  Blume  zu  Blume,   erschwerend  wirkt  neben  den  schon 


—    48     — 

bekannten  Intelligenzdefekten  und  den  mangelnden  Gefühlstönen  die 
gesteigerte  Ablenkbarkeit  der  Aufmerksamkeit. 

Wie  groß  die  Ausfälle  sein  können,  die  durch  eine  mangelhafte 
Aufmerksamkeit  bedingt  sind,  sollen  einige  Beispiele  demonstrieren. 
H.,  7  Jahre  alt,  hat  recht  wenig  klare  Vorstellungen,  er  artikuliert 
recht  nachlässig,  leidet  an  beschleunigter  Ideenassoziation,  dazu  ist  die 
Weckbarkeit  der  Aufmerksamkeit  erheblich  gesteigert  und  die  Haft- 
fähigkeit bedeutend  herabgesetzt.  Er  schwatzt  über  allerlei,  verfügt 
über  eine  gewisse  Menge  konventioneller  Redewendungen  und  täuscht 
so  seine  Zuhörer.  Raum-,  Zeit-  und  Zahlvorstellungen  und  fast  alle 
andern  höherer  Ordnung  vorab  aber  die  Beziehungsvorstellungen,  liegen 
sehr  darnieder.  Es  kann  ja  auch  nicht  anders  sein.  Wenn  man  sich 
mit  ihm  beschäftigen  will  und  versuchen,  sein  Interesse  für  einen 
fliegenden  Vogel,  eine  honigsuchende  Biene,  einen  fahrenden  Zug  zu  er- 
wecken, so  hört  er  kaum  hin,  er  springt  schnell  nach  etwas  anderm, 
läuft  hierhin,  sagt  dies  oder  jenes.  So  kann  es  nicht  zu  klaren  Vor- 
stellungen kommen.  Ja  selbst  die  Sprache  leidet;  da  er  derselben  fast 
nie  seine  Aufmerksamkeit  zugewandt  hat,  vermag  er  einzelne  Laute 
nicht  richtig  zu  artikulieren,  trotzdem  ein  organischer  Fehler  nicht  vor- 
liegt. In  besonders  schwierigen  Fällen  können  starke  Autmerksamkeits- 
defekte  sogar  zur  Sprachlosigkeit  führen. 

Nach  Treitel  und  Liebmann  ist  die  mangelhafte  Aufmerksamkeit 
ein  Hauptgrund  der  Hörstummheit. 

Aus  einer  andern  Krankengeschichte  entnehme  ich  Folgendes: 

R.,  ein  Mädchen  von  11  Jahren.  Als  hervorstechendstes  Moment 
ist  eine  leichte  Verlangsamung  der  Ideenassoziation  anzusprechen.  Als 
Korollarsymptome  treten  hinzu  herabgesetzte  Weckbarkeit  der  Auf- 
merksamkeit und  herabgesetzte  Haftfähigkeit  derselben.  Sie  hat  wenig 
Interesse  für  die  Dinge  der  Außenwelt.  Sie  hat  wenig  beobachtet, 
kennt  sogar  einige  Dinge  im  Zimmer  nicht. 

Bei  dieser  geistigen  Verfassung  ist  es  leicht  erklärlich,  daß  Reize 
und  daraus  entstehende  Empfindungen  die  Aufmerksamkeit  nicht  be- 
stimmen und  keine  Vorstellungen  wecken.  Wenn  man  ihr  jedoch  die 
Dinge  möglichst  drastisch  vorführt,  bekundet  sie  lebhafte  Freude  und 
Lerneifer.  Man  muß  gar  manches  zwei-  auch  dreimal  fragen  oder  sagen, 
dann  hat  sie  es  erfaßt  und  ist  eifrig  bei  der  Sache.  Sogenannte  Faul- 
heit hat  sie  also  nicht  zurückgehalten,  sie  will  ja  arbeiten,  wenn  sie 
nur  immer  könnte. 

Daß  alle  ihre  unterrichtlichen  Leistungen  und  Kenntnisse  sehr  mäßi«? 
waren,  bedarf  wohl  keiner  besonderen  Erwähnung.  In  der  öflPentlichen 
Schule  kam  sie  trotz  vieler  Nachhilfestunden  nicht  mit,  ein  Unterricht, 


—    49    — 

der  die  Selbsttätigkeit  der  Kinder  als  Grundlage  hat,  vermochte  sie  je- 
doch leidlich  zu  fördern. 

Nach  diesen  beiden  Fällen  mit  starken  Aufmerksamkeitsdefekten 
noch  ein  Beispiel  mit  leichteren  Fehlern: 

S.,  11  Jahre  alt,  leicht  Debil  und  sehr  zarten  Körper,  macht  allge- 
mein den  Eindruck  eines  sehr  intelligenten  Kindes.  Ihre  Schulkenntnisse 
waren  ganz  gut.  Die  Aufmerksamkeit  zeigte  leichte  Defekte.  Die  Haft- 
fähigkeit derselben  war  herabgemindert,  dabei  die  Weckbarkeit  gestei- 
gert. So  wandte  sie  wohl  allem  augenblickliches  Interesse  zu,  verweilte 
aber  nicht  bei  den  Dingen,  sondern  sprang  sofort  zu  etwas  anderm  über. 
So  nur  ist  es  erklärlich,  daß  sie  einen  Soldaten  nicht  von  einem  Schutz- 
mann, einen  Hirsch  nicht  von  einem  Reh  unterscheiden  konnte;  daß  sie 
hellgrün  bald  hellblau,  bald  richtig  bezeichnet,  trotz  sicherer  Farben- 
kenntnis, daß  sie  beim  Rechnen  fehlerhafte  Resultate  angab,  daß  sie 
zeitweise  eine  von  Fehlern  wimmelnde  Orthographie  schrieb,  daß  sie 
nicht  selten  falsch  kalkulierte,  weil  sie  falsche  Prämissen  setzte.  Sie 
hörte  nicht  hin  und  urteilte  lustig  darauf  los  u.  s.  f.  Alles  leichte  Fehler, 
die  nur  in  der  gesteigerten  Weckbarkeit  und  herabgesetzten  Haftfähig- 
keit der  Aufmerksamkeit  begründet  waren. 

Wenn  so  die  Weckbarkeit  der  Aufmerksamkeit  entweder  herabgesetzt 
oder  gesteigert  ist  und  die  Haftfähigkeit  ebenfalls  von  der  Norm  abweicht, 
so  ist  es  sehr  schwer,  diese  Kinder  unterrichtlich  zu  fesseln  und  die 
geringen  Unterrichtsergebnisse  der  öffentlichen  Schule  bei  solchen  Kin- 
dern, die  leider  dieselbe  besuchen,  finden  hier  ihre  Erklärung.  Die  öffent- 
liche Schule  ist  eine  Institution  für  geistig  und  körperlich  gesunde 
Kinder,  sie  kann  sich  der  Schwachen  an  Geist  und  Körper  nicht  an- 
nehmen, sie  kann  sie  nur  noch  kränker  machen.  Also  auch  Debile,  die 
oftmals  ganz  gut  auswendig  lernen,  gehören  infolge  ihrer  Aufmerksam- 
keitsdefekte nicht  in  die  öffentliche  Schule.  Je  größer  und  augenfälliger 
die  Aufmerksamkeitsdefekte  sind,  desto  eher  ist  man  geneigt,  in  ihnen 
den  Grund  der  schlechten  unterrichtlichen  Erfolge  zu  erblicken,  und  die 
Kinder  aus  der  öffentlichen  Schule  herauszunehmen,  anders  aber  bei  den 
leichten  Defekten  leicht  debiler  Kinder.  Da  glaubt  man  es  nur  mit 
kleinen  Flüchtigkeiten  und  Unaufmerksamkeiten  zu  tun  zu  haben,  die 
sich  schon  von  allein  legen  werden,  wenn  der  Junge,  das  Mädchen  größer 
s^'nd.  Gut,  wenn  es  eintrifft,  was  aber,  wenn  es  nicht  geschieht,  oder 
gar  eine  Verschlimmerung  e^'ntrifft,  die  sie  im  Fortkommen  hindert? 
Jede  Abweichung  von  der  Norm  muß  Veranlassung 
sein  zur  Konsultation  eines  Psychiaters  oderNerveu' 
ar  zt  es. 

Meumann,   Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  4 


—    50    — 

Prüfung  der  Gefühlstöne  und  Affekte. 

Wir  sahen,  daß  beim  Schwachsinnigen  die  Empfindungen  verhältnis- 
mäßig am  wenigsten  geschädigt  sind,  die  Erinnerungsbilder  dagegen 
quantitativ  und  qualitativ  erheblich  herabgesetzt  waren.  Daraus  folgt 
nun  mit  Notwendigkeit,  daß  die  Gefühlstöne  der  Empfindungen  über  die 
der  Vorstellungen  überwiegen,  daß  die  intellektuellen  Gefühlstöne,  die  an 
Vorstellungen  und  Reflexionsprozesse  gebunden  sind,  nicht  zur  Entfal- 
tung kommen  können.  Die  sensoriellen  Gefühlstöne  weisen  durchaus 
nicht  immer  Abweichungen  auf.  Es  gibt  Schwachsinnige,  die  mit  sicht- 
lichem Wohlbehagen  gut  zubereitete  Speisen  essen  und  etwas  scharf  ge- 
würzte dagegen  mit  Unlust  genießen.  Ja  nicht  selten  vermögen  sie 
sogar  durch  den  Geruch  die  Konzentration  einer  wohlriechenden  Flüssig- 
keit Kölnisches  Wasser,  Rosenwasser  etc.  zu  unterscheiden.  Diesen  ge- 
genüber stehen  die,  welche  sich  mehr  indifferent  verhalten,  die  wahllos 
ohne  Gefühlsbetonung  alles  hineinschlingen,  was  sich  ihnen  an  Eßbarem 
bietet,  die  ebenso  gern  bittere  und  salzige  Sachen  essen,  als  gesüßte, 
die  keinen  Unterschied  machen  zwischen  dem  Geruch  eines  Veilchens 
und  dem  verwesender  Stoffe.  Die  Empfindungen  der  Haut  sind  gleich- 
falls oft  stark  herabgesetzt.  Wärme,  Kälte  und  Druckempfindung  sind 
nicht  selten  ganz  schwach  negativ  betont.  Daß  diese  Abweichungen 
sich  mehr  bei  den  Schwachsinnigen  höheren  Grades  finden,  bedarf  wohl 
kaum  der  Erwähnung. 

Die  Empfindungen  der  Seh-  und  Hörsphäre  sind  ganz 
selten  mit  einem  Gefühlston  verbunden,  hat  dies  schon  beim  normalen 
Mensch  statt,  wieviel  mehr  erst  hier.  Täglich  hören  und  sehen  wir 
unendlich  viel  und  wie  wenig  ist  von  einem  Gefühlston  begleitet. 
Doch  gibt  es  auch  Schwachsinnige,  die  sich  über  Töne  freuen,  die  an 
schönen  Farben,  nicht  Bildern  Gefallen  haben.  Beim  Betrachten  der 
Bilder  wirkt  immer  die  Vorstellung  des  Dargestellten  mit,  sodaß  wir 
nicht  nur  sensorielle  Gefühlstöne  haben,  das  gleiche  ist  bei  der  Musik. 
Ein  Lied,  ein  Marsch  löst  weit  öfter  positive  Gefühle  aus,  als  ein  ein- 
facher Dreiklang,  weil  sich  mit  ersterem  die  Vorstellungen  des  Singens, 
des  Marschierens  der  Soldaten  etc.  verknüpfen,  also  intellektuelle  Ge- 
fühle mitwirken. 

Die  sexuellen  Gefühle  fehlen  in  der  Regel  beim  Schwach- 
sinnigen schwererer  Art.  Bei  Imbecillen  und  auch  bei  leicht  Debilen 
sind  sie  nicht  selten  gesteigert,  wodurch  die  Onanie,  die  Prostitution 
und  der  außereheliche  Geschlechtsverkehr  vieler  Schwachsinniger  ihre 
Erklärung  finden. 

Die  quantitative  und  qualitative  Armut  der  Vor- 
stellungen    bedingen     wie     schon     erwähnt    ein    Zurück- 


—     51     — 

bleiben  der  sie  begleitenden  Gefüblstöne.  Wenn  das 
Erinnerungsbild  schon  nicht  scharf  umrissen  ist,  so  kann  dasselbe  nicht 
bestimmt  gefühlsbetont  sein.  Wenn  ein  schwachsinniges  Kind  nur 
ganz  verworrene,  verschwommene  Vorstellungen  von  seiner  letzten 
Reise,  von  einem  Konzert,  einer  Dampferpartie,  einem  Besuch  des 
Theaters  hat,  so  können  diese  Vorstellungsrudimente  ganz  unmöglich 
positive  Gefühle  auslösen.  Dasselbe  muß  sich  zeigen,  wenn  wir  mit 
dieser  Erkenntnis  auf  das  ethische  Gebiet  übergehen.  Ein  Kind,  das 
die  blutsverwandtschaftlichen  Beziehungen,  das  innige  Verhältnis  zwischen 
Eltern  und  Kindern  nicht  erkennt,  kann  diesen  Vorstellungen  nicht  an- 
ders als  indifferent  gegenüberstehen,  kann  keine  Liebe  für  Vater,  Mutter 
und  Geschwister  haben,  es  nimmt  alle  Liebeserweisungen  als  notwendige 
Einrichtungen  des  täglichen  Lebens  hin.  Dankbarkeit  kennt  es  nicht. 
Und  weiter.  Ein  Kind,  welches  selbst  ein  abgestumpftes  Schmerzgefühl 
hat,  kann  mit  den  Vorstellungendes  Schiagens,  des  Stechens,  des  Stoßens,  des 
Quälens  kein  Unlustgefühl  verbinden,  kann  sich  mithin  nicht  vorstellen,  daß 
es  einem  andern  weh  tut,  wenn  es  ihn  stößt,  schlägt,  tritt,  quält,  es  ist 
roh,  gefühllos,  nicht  teilnehmend.  Ebenso  erklärt  sich  die  oftmals  er- 
staunliche Furchtlosigkeit  vor  Strafen.  Es  besinnt  sich  wohl  auf  die 
letzte  Strafe,  jedoch  wirkt  dies  durchaus  nicht  hemmend  auf  sein  Han- 
deln ein,  es  tut  dasselbe  wieder  und  immer  wieder.  Für  Lob  und  Tadel 
ist  es  nicht  zugänglich,  es  weiß  wohl  noch  davon,  aber  die  Gefühlstöne 
der  betreffenden  Vorstellung  sind  so  schwach,  daß  sie  nicht  das  Wollen 
und  die  Strebungen  beeinflussen  können. 

Ebenso  wie  die  Gefühlstöne  von  der  Breite  der  Gesundheit  ab- 
weichen, bewegen  sich  die  Affekte  nicht  auf  normaler  Linie. 
Je  tiefer  ein  Kind  steht,  desto  ärmer  ist  es  an  Affekten.  Schwachsinnige 
kennen  keine  Freude,  keine  Trauer,  keine  Lust,  keinen  Schmerz.  Damit 
ist  jedoch  nicht  gesagt,  daß  sie  nicht  lachen  und  weinen,  es  gibt  genug 
Schwachsinnige,  die  lachen,  fortgesetzt  lachen,  aber  ohne  zu  wissen 
warum,  sie  lachen  eben.  Ein  blankes  Stück  Metall,  ein  buntes  Stück 
Papier,  eine  schillernde  Glasscheibe,  eine  Glasperle,  brennendes  Feuer 
sind  wohl  so  die  einzigen  Dinge,  welche  eine  ganz  leise,  unbestimmte 
Freude  auszulösen  imstande  sind,  wenn  man  von  der  Freude  über  das 
Essen  absehen  will.  Über  einen  vollen  Teller  Essen  kann  sich  wohl 
solch  ein  tiefst ehendes  Kind  freuen,  aber  ein  Affekt,  eine  Stimmung  ist 
das  nicht.  Nur  dann,  wenn  innerhalb  eines  Zeitabschnittes  die  vorhan- 
denen Vorstellungen  und  Empfindungen  von  gleichartigen  Gefühlen  be- 
gleitet sind,  darf  man  von  einer  Stimmung  reden.  Dies  setzt  dann  vor- 
aus, daß  sich  ein  Lust-  oder  Schmerzgefühl,  das  zunächst  der  Gefühlston 
einer  Empfindung   oder  Empfindungsgruppe,    oder  eine  Vorstellung  oder 

4* 


-     52    — 

Vorstellangsgruppe  ist,  auf  eine  andere  Empfindungs-  oder  Vorstellungs- 
gruppe übertragen  hat.  Wenn  wir  in  einem  bestimmten  Zeitabschnitt 
eine  oder  einige  stark  betonte  Empfindungen  oder  Vorstellungen  gleichen 
Gefühlstones  haben,  so  werden  alle  andern  in  dieser  Zeiteinheit  auftre- 
tenden Vorstellungen  und  Vorstellungsgruppen,  Empfindungen  und  Emp- 
findungsgruppen, welche  wenig  oder  garnicht  gefühlsbetont  sind,  von 
diesen  ersten  starken  Gefühlstönen  abgestimmt  und  beherrscht.  Die 
Gefühlstöne,  Empfindungen  und  Vorstellungen  eines  Zeitabschnittes  tragen 
so  gleichen  Charakter  und  das  ist  Stimmung.  Stimmung  ist  also  ein 
Produkt  gleichartiger  Gefühlstöne  von  Empfindungen  und  Vorstellungen 
oder  Gruppen  solcher  und  nicht  ein  selbständiger  psychischer  Vorgang. 

Bei  nur  annähernd  normal  sensoriellen,  oder  stark  herabgesetzten 
intellektuellen  Gefühlstönen,  bei  defekten  Erinnerungsbildern  und 
lückenhaften  Vorstellungen  ist  wohl  nicht  zu  erwarten,  daß  die  Emp- 
findungen und  Vorstellungen  einer  Zeiteinheit  von  ersteren  beherrscht 
und  gefärbt  werden  können,  daß  irgend  eine  Stimmung  zu  Stande 
kommt.  Daher  ist  der  Schwachsinnige  tiefster  Stufe  aff'ektlos.  Er 
kennt  nicht  Freude  und  Schmerz,  oftmals  selbst  nicht  Furcht  und 
Angst.  Blindlings  rennt  er  in  sein  Verderben  hinein,  er  kennt  ja  die 
Gefahr  nicht  und  sei  er  ihr  erst  eben  entronnen.  Das  Sprichwort  sagt 
zwar,  daß  das  gebrannte  Kind  das  Feuer  scheut,  aber  es  meint  damit 
nicht  die  Abnormen.  Die  Erinnerungsbilder  der  überstandenen  Gefahr 
sind  sehr  blaß,  der  Gefühlston  derselben  sehr  schwach  und  so  ist  es  zu 
verstehen,  daß  es  sich  immer  wieder  derselben  Gefahr  aussetzt.  Ebenso 
ist  es  mit  der  Angst  und  mit  dem  Schreck.  Kommt  das  schwachsinnige 
Kind  in  Lebenslagen,  die  wirklich  Angst  und  Schreck  einflößen,  z.  B. 
bei  Feuersnot,  Wassersnot,  beim  Verirren  in  einer  großen  Stadt  oder 
im  Walde,  so  erkennt  dasselbe  nicht  die  Gefahr  und  es  können  dadurch 
also  keine  Gefühle  ausgelöst  werden.  So  ist  es  das  erste  Mal  und  das 
zweite  Mal  ist  es  genau  ebenso. 

Wenn  wir  eben  sagten,  daß  der  Idiot  affektlos  sei,  so  be- 
darf es  einer  Einschränkung  insofern,  als  Zorn-  und  Wutäußerungen  bei 
einigen  Patienten  anzutreffen  sind.  Der  Grund  zu  denselben  steht  aber 
niemals  zu  dem  Affekt  im  richtigen  Verhältnis. 

Ganz  anders  tritt  das  Affektleben  der  Imbecillen  ent- 
gegen. Beim  Imbecill,  dessen  Erinnerungsbilder  nicht  so  lückenhaft 
und  fehlerhaft  sind,  fallt  die  Hemmung  durch  mangelhafte  Vorstellungen 
schon  weg,  dazu  sind  die  Empfindungen  und  auch  die  Vorstellungen  von 
Gefühlstönen  begleitet,  sodaß  eine  allgemeine  Gefühls-  oder  Stimmungslage 
wohl  statt  haben  kann.    Freude  und  Trauer,  Luat  und  Leid,  Furcht  und 


—    53    — 

Angst  kennt  der  Imbecille ;  wenn  nun  auch  diese  Affekte  nicht  von  über- 
schwellender  Tiefe  und  Ausdehnung  sind,  so  sind  sie  doch  von  einer  ge- 
wissen Frische  und  Lebhaftigkeit,  nur  nicht  von  langer  Dauer.  Je  mehr 
intellektuelle  Gefühlstöne  zu  verzeichnen  sind,  desto  mehr  nimmt  er  Teil 
am  Ergehen  seiner  Angehörigen,  Anhänglichkeit  und  Dankbarkeit  zeigen 
sich  in  ihren  Anfängen.  Wenn  so  das  Gefühlsleben  der  Imbecillen  sich 
sehr  vorteilhaft  von  dem  der  Idioten  abhebt,  so  darf  aber  doch  eine  ge- 
fährliche Seite  nicht  verschwiegen  werden.  Rachsucht,  Zorn  und  Wut- 
äußerungen treten  hier  weit  stärker  auf.  E,.  H.,  der  schon  vorhin  einmal 
erwähnte  Knabe  kann  bei  den  geringsten  Anlässen  außer  sich  vor  Wut 
geraten,  schlagen  und  werfen  mit  allen  Dingen,  die  ihm  gerade  zur 
Hand  sind.  Auch  der  eingangs  erwähnte  J.  K.  verkehrte  mit  seinen 
Geschwistern  meist  sehr  nett,  konnte  aber  auch  zeitweise  sehr  häßlich 
werden. 

W.  R.,  ein  12jähriger  Knabe,  Sohn  eines  starken  Trinkers,  litt  an 
Schwachsinn  mittleren  Grades.  Er  stand  unterrichtlich  auf  der  Stufe 
eines  10jährigen  Kindes.  Er  war  beim  Spiel  und  bei  der  Arbeit  solange 
verträglich,  als  es  nach  seinem  Sinn  ging,  glaubte  er  sich  aber  irgend- 
wie benachteiligt,  so  kannte  man  ihn  nicht  wieder.  Zitternd,  mit  ge- 
rötetem Gesicht,  geballten  Fäusten  und  aufeinander  gebissenen  Zähnen 
stand  er  da.  Deshalb  wurde  er  oft  von  seinen  Kameraden  geneckt: 
Reg  dir  man  nicht  uff;  Schlag  man  blos  kenen  dot!  konnte  man  oft- 
mals hören.  Weil  er  sich  nun  an  den  größern  Jungen  nicht  rächen 
konnte,  wie  er  gern  wollte,  ließ  er  seine  Wut  an  den  Kleinen  aus,  seine 
Rachsucht  kannte  dann  keine  Grenzen,  er  quälte  sie,  schlug  sie  unbarm- 
herzig, bis  er  nicht  mehr  konnte. 

Eine  ganz  andere  Störung  des  Affektlebens  ist  wie- 
derum bei  den  Debilen  zu  finden.  Während  bei  den  Imbecillen 
die  i^ffekte  meist  einfach  waren,  zeigen  sich  beim  Debilen  sehr  kom- 
plizierte Affekte,  doch  tragen  sie  alle  den  Stempel  des  Egoismus. 
Ihr  gesamtes  Denken  und  Tun  ist  egozentrisch.  Während  bei  den 
mittleren  und  schweren  Graden  des  Schwachsinnes  die  Intelligenzdefekte 
am  stärksten  hervortreten,  dominiert  beim  Debilen  der  ethische  Defekt. 
SoUier  bezeichnete  die  Imbecillen  (deckt  sich  hier  mit  Debilen,  da  er 
nur  2  Gruppen  des  Schwachsinnes  unterscheidet,  Idioten  und  Imbecillen) 
als  Antisoziale  und  die  Idioten  als  Extrasoziale  und  verlangt,  daß 
die  Antisozialen  als  schädliche  und  gefährliche  Geschöpfe  unschädlich 
zu  machen  seien.  Die  Extrasozialen  sind  wirkliche  Kranke,  „die  ebenso 
unterstützt  werden  müssen,  wie  die  mit  chronischen  Krankheiten  Be- 
hafteten". 


-    54    — 

Andere  Autoren  bezeichnen  die  Art  des  Schwachsinnes  mit  beson- 
ders starken  ethischen  Defekten,  die  bei  weitem  die  Mängel  des  Intellekts 
überragen,  als  moral  insanity  oder  als  moralischen  Schwachsinn.  Nach 
unserer  bisherigen  Darlegung  ist  wohl  ersichtlich,  daß  diese  Bezeich- 
nung nicht  ganz  richtig  ist,  besser  ist  moralische  Anästhesie,  weil 
letztere  sagt,  daß  es  sich  um  eine  Abnormität  handelt,  die  nicht  jeder 
Einwirkung  verschlossen  bleibt.  Gute  Lehren  und  ständige  Ermahnungen 
vermögen  hier  nichts  zu  erreichen,  sind  sie  doch  selbst  Normalen  gegen- 
über wirkungslos.  Der  Charakter,  soweit  er  durch  das  Gefühlsleben  be- 
stimmt wird,  läßt  sich  nicht  ummodeln,  zurechtstutzen  und  beeinflussen. 
Gefühle  sind  nicht  anzulehren.  Nur  der  Verstand,  die  Intelli- 
genz, die  stets  überlegt,  schätzt  und  wertet,  verschließt  sich  nicht  gegen 
absichtliche  Einwirkungen  von  außen.  Will  man  mithin  einen  moralischen 
Defekt  abschwächen  oder  ausmerzen,  so  kann  dies  nur  geschehen  auf  dem 
weiten  Umwege  der  Umformung  des  geistigen  Besitzstandes  durch  Aus- 
schaltung asozialer  Elemente  und  Ersetzen  derselben  durch  soziale  al- 
truistische. Mit  diesen  geklärten  normalen  Vorstellungen  können  sich 
dann  Gefühle  verbinden,  die  nicht  mehr  den  Stempel  des  Krankhaft- 
Egoistischen  tragen.  Die  Behandlung  Debiler  mit  ethischen  Defekten 
jst  also  nicht  aussichtslos,  also  muß  der  Ausdruck  moral  insanity  fallen, 
allerdings  muß  die  Zeit  der  zielbewußten  Heilbehandlung  eine  lange 
sein,  um  so  länger,  je  älter  das  Kind  ist,  da  die  Macht  der  Ge- 
wohnheit dort  hindernd  im  Wege  steht. 

Antisozial  ist  ein  wenig  zu  viel  gesagt,  aber  asozial  sind  die  De- 
bilen, insofern  als  sie  sich  nicht  um  die  Gesellschaft,  um  das  Wohl- 
ergehen anderer  bekümmern  und  kein  Teil  daran  nehmen  trotz  recht 
überschwenglicher  Versicherung  ihrer  Teilnahme.  Wenn  nur  ihr  eigenes 
Ich  Beachtung  findet,  sind  sie  zufrieden.  So  finden  wir  denn  hier  alle 
die  Gefühle,  welche  das  Gegenteil  altruistischer  Auffassung  sind:  Un- 
dank, Boshaftigkeit,  Neid,  Haß,  Schadenfreude,  Rachsucht,  Grausamkeit, 
Unkameradschaftlichkeit,  Respektlosigkeit,  mangelndes  Pflichtgefühl,  Be- 
gehrlichkeit, Unwahrheit  u.  a.  m.  Bei  dieser  egozentrischen  Richtung  des 
Gefühlslebens  verlieren  sie  völlig  den  Maßstab  für  gut,  schlecht,  Recht 
und  Unrecht.  Recht  und  gut  ist  das,  was  ihrer  werten  Person  zu  gute 
kommt,  alles  andere  ist  schlecht.  Während  der  Debile  alle  seine  Ge- 
fühle für  berechtigt  hält  und  die  daraus  rekrutierenden  Taten  ebenfalls, 
ist  das  Gefühl  der  Reue  ihm  gänzlich  unbekannt;  Reue  empfindet  nur 
der  Mensch,  dessen  Handeln  einmal  nicht  im  Einklang  stand  mit  seinem 
Wollen,  seinem  innem  Leben. 

Der  eingangs  zergliederte  Fall  L.  C.  zeigte  uns  ein  Mädchen  mit 
ausgesprochener  pathologischer  Eitelkeit  und  Selbstgefälligkeit. 


—    55    — 

Ein  besonders  instruktiver  Fall  von  pathologischer  Lüge  soll  das 
Krankhafte  und  Abnorme  dieses  ethischen  Mangels  erhellen.  Mehrere 
Kinder  unterhalten  sich  über  Jagd  und  Schießen,  da  erzählt  einer,  ein 
zehnjähriger  Bube:  Ach,  das  was  ihr  erzählt  ist  noch  gamichts.  Mein 
Freund  schoß  an  einen  kleinen  Luftballon,  die  Kugeln  flogen  zurück, 
ihm  ins  Ohr  und  da  ist  er  taub  geworden.     Jetzt  ist  er  Student. 

Derselbe  ein  andermal :  Mein  Vater  hat  eine  Doppelflinte  und  schießt 
Hasen.  Wir  essen  jeden  Tag  einen.  (Dabei  war  sein  Vater  blind). 
Oder  ein  Zwiegespräch :  H.  Mein  Vater  hat  sechs  Hunde,  die  nimmt  er 
mit  auf  die  Jagd.  R.  Mein  Grroßvater  hat  32  Hunde,  die  nimmt  er  mit 
auf  die  Jagd.  H.  Mein  Vater  schießt  Rehe,  Hasen  und  Hirsche  und 
Füchse.  Einmal  hat  er  drei  Hirsche  geschossen.  R.  Mein  Großvater 
hat  22  Hirsche  und  33  Hunde  auf  einen  Schuß  getroffen.  Alle  waren  sie 
tot.  H.  So  viel?  R.  Ja  mein  Junge  das  denkst  du  wohl  nicht.  H.  Was 
habt  ihr  denn  damit  gemacht?  R.  Alles  aufgegessen.  H.  Auch  die 
Hunde?  R.  [N'atürlich,  was  denkst  du  denn,  das  hat  fein  geschmeckt, 
mit  feiner  Sauce  und  Kraut  und  Kartoffeln  und  Sekt,  das  schmekt  fein. 

In  allen  Fällen  hat  die  Lüge  kein  einleuchtendes  äußeres  Motiv, 
keine  Aussicht  auf  Vorteil  und  persönlichen  Nutzen,  sie  ist  stets  lebhaft, 
positiv  gefühlsbetont  auf  G-rund  der  gelungenen  Täuschung  oder  Über- 
listung: die  pathologische  Lüge  ist  mithin  etwas  Trieb- 
artiges. Am  häufigsten  tritt  sie  in  den  Jahren  nach  der  Geschlechts- 
reife auf. 

Untersuchung  der  Handlungen. 

Handlungen  werden  ausgelöst  durch  Denken  und  bewußte  Motivie- 
rung und  durch  Gefühle.  Sehen  wir  in  dem  Wollen  die  Zurückgabe 
der  von  der  Außenwelt  empfangenen  Reize,  so  ist  die  Tat  eine  Folge 
des  Intellekts.  Weit  öfter  jedoch  ist  die  Tat  durch  Gefühle  veranlaßt. 
Ist  ein  Gefühl  die  treibende  Kraft,  so  sucht  der  Wille  als  Vorstellung 
einer  gewollten  Zweckhandlung  nach  Motiven  oder  er  handelt  ohne 
solche,  impulsiv.  Bei  unsern  Untersuchungen  haben  wir  es  hauptsächlich 
mit  impulsiven  Handlungen  zu  tun  als  Folge  starker,  über  stark  gefühls- 
betonter Vorstellungen,  z.  B.  Schreck,  Zorn,  Angst  oder  irgend  welche 
dunkeln  sexuellen  Gefühle  u.  a.  m. 

Steht  das  Handeln  in  Parallele  zu  den  auslösenden  Gefühlen,  so 
ist  ohne  weiteres  klar,  daß  gesteigerte  Gefühle  gesteigerte 
Handlungen  und  perverse  Gefühle  perverse  Handlungen 
bedingen.  Pervers  ist  alles,  was  ungewöhnlich,  außergewöhnlich  ist, 
was  niemand  anders  ebenso  macht,  als  nur  einer,  der  an  demselben 
Fehler,  der  gleichen  Perversität  leidet. 


—    56    — 

Beim  Idioten  nun,  beim  Schwachsinnigen  mit  mangelhaften  oder 
völlig  fehlenden  Grefühlen  kann  man  von  vornherein  erwarten, 
daß  eigentliche  Handlungen  sehr  selten  sind.  Schon  die  ein- 
fachsten Geh-  und  Stehbewegungen,  das  Kauen,  Schlucken,  Sichankleiden 
etc.  erlernen  einige  von  ihnen  nur  mangelhaft,  andere  gamicht.  gibt  es 
doch  genug,  die  zeitlebens  gefüttert,  geführt,  angekleidet  werden  müssen. 
Zur  Reinlichkeit  und  Ordnung  sind  sie  sehr  schwer  zu  erziehen.  Je 
weniger  Handlungen,  durch  psychische  Prozesse  ausgelöste  Bewegungen, 
bei  ihnen  zu  verzeichnen  sind,  desto  mehr  automatische  Akte, 
Bewegungen  ohne  psychischen  Parallel  Vorgang,  begegnen  uns.  Der  eine 
schlägt  mit  dem  Zeigefinger  der  einen  Hand  in  die  andere,  der  zweite 
wackelt  mit  dem  Kopf,  der  dritte  wackelt  mit  dem  Oberkörper,  der 
vierte  dreht  den  Kopf  und  Oberkörper  um  die  eigene  Achse,  ein  anderer 
schlenkert  mit  den  Beinen,  bevor  er  sie  aufsetzt  und  wieder  ein  anderer 
mit  den  Armen  u.  s.  f.  Hierher  gehören  auch  der  Beiß-,  Kratztic,  wobei 
sich  die  Kinder  selbst  schmerzhafte  Verletzungen  beibringen,  sich  die 
Nägel  abkauen  und  die  Haut  der  Fingerkuppen  abreißen. 

Andere  wieder  spielen  ständig  mit  kleinen  Holzstückchen,  Stein- 
chen, Papiers chnitzeln  etc.  Endlich  sei  auch  noch  des  Nachahmungstics 
gedacht,  wo  Kinder  Sprache,  Grang,  Haltung,  Bewegung  anderer  täu- 
schend nachahmen,  ohne  davon  selbst  eine  Vorstellung  zu  haben. 

Auch  die  Masturbation  kann  triebartig,  also  ohne  begleitende  Vor- 
stellungen ausgeführt  werden.  Ebenso  wie  ein  Kind  an  seinen  Fingern 
spielt  und  lutscht,  mit  den  Beinchen  spielt,  kann  die  Masturbation  zur 
üblen  Angewohnheit  werden,  von  der  es  später,  nach  erwachtem  Ge- 
schlechtsleben nicht  mehr  lassen  kann.  Auf  Grund  überwertiger, 
sexueller  Gefühle  kann  diese  vielgeübte,  jetzt  bewußte  Onanie  zu  sexu- 
ellen Exzessen  schwerster  Art,  zu  Vergewaltigungen  führen. 

Auf  dieser  Stufe  des  Schwachsinnes  ist  es  ungemein  schwer,  die 
automatischen  Akte  zu  beseitigen,  das  heißt,  die  Bewegung  unter  die 
Herrschaft  des  Willens  zu  bringen,  damit  aus  unbewußten,  unwillkür- 
lichen Handlungen  bewußte  willkürliche  werden.  Unmöglich  ist  es  nicht, 
wenn  recht  früh  dagegen  gearbeitet  wird. 

Dem  unentwickelten,  unkultivierten  Menschen,  dem  Kinde  und  dem 
Wilden  mangelt  es  an  Überlegungen  und  Motivierungen  des  Handelns, 
auf  den  Reiz  folgt  unmittelbar  die  ausgelöste  Muskelbewegung  ohne  die 
Tat  regulierende,  beeinflussende  Vorstellungen  als  Zwischenglieder. 
Ihnen  gleicht  der  Imbecille.  Auch  bei  ihm  fehlt  es  an  genügenden 
Ideen,  an  hemmenden  und  fördernden  Vorstellungen,  sein  Tun  bleibt  ein 
triebartiges,   unüberlegtes,    unmotiviertes.     Er   entläuft   aus   der   elter- 


—     57     — 

liehen  Wohnung,  treibt  sich  herum,  entbehrt  cler  Lagerstatt  und  kehrt 
doch  nicht  um.  Warum  er  entlaufen  ist,  weiß  er  nicht,  schlecht  hatte 
er  es  nicht,  zu  essen  bekam  er  auch,  er  weiß  nicht,  warum  er  nicht 
blieb. 

Oder  ein  anderer  Fall.  Ein  imbecilles  Mädchen,  das  leicht  lenkbar 
und  willig  ist,  geht  auf  den  Waschsaal  und  dreht  sämtliche  Wasser- 
hähne auf,  sodaß  das  Wasser  aus  den  Becken  überfließt  und  in  den 
Waschsaal  läuft.  Nach  einiger  Zeit,  ungefähr  nach  einer  viertel  Stunde 
fällt  es  ihr  ein,  daß  sie  die  Hähne  aufgedreht  hat,  sagt  es  selber  und 
hilft  das  Wasser  aufwischen.  Sie  konnte  aber  keinen  Grund  für  ihr 
Handeln  angeben. 

Das  Triebartige  des  Handelns  ist  auch  nicht  selten  der  Grrund  zu 
schweren  Vergehen  und  Straftaten  Jugendlicher  und  Kinder.  Wenn  ein 
Knabe  eine  Scheune  ansteckt,  nur  um  den  Feuerschein  zu  sehen,  so  ist 
der  Mangel  an  hemmenden  Vorstellungen  offensichtig.  Wenn  ein  Knabe, 
der  zu  Hause  Obst  die  Fülle  hat,  an  einem  Laden  vorbeigeht  und  einen 
rotbäckigen  Apfel  entwendet,  weil  er  so  schön  aussieht,  so  erkennt  man 
das  Triebartige  seines  Tuns  sofort.  Ein  anderer  kauft  sich  einige  Hun- 
dert Karten  mit  Trauerrand,  weil  sie  so  schön  sind,  Verwendung  hat 
er  nicht  dafür.  Wieder  ein  anderer  nimmt  Geld,  weil  es  so  schön 
glänzt  u.  s.  f. 

Ein  kleiner  Kerl  von  7  Jahren  hat  oft  am  Halteplatz  der  Auto- 
mobile gestanden,  ihm  gefällt  das  Tuten  der  Hupe  und  das  Explodieren 
der  Benzingase.  Als  einmal  ein  Wagenlenker  für  kurze  Zeit  absteigt, 
schwingt  er  sich  auf  den  Führersitz,  greift  zum  Rade  und  los  gehts  in 
sausender  Fahrt  zum  Glück  gegen  einen  Laternenpfahl.  Er  sagte  nach- 
her, warum  er  aufgeklettert  sei,  wisse  er  nicht,  er  hätte  gerne  einmal 
tut,  tut  gemacht.  Alles  Handlungen  triebartigen  Cha- 
rakters. 

Ein  anderer  imbeciller  Knabe  geht  hinter  die  Schule,  drückt  auf 
den  Feuermelder,  geht  handeln  oder  betteln  u.  s.  f.,  weil  es  Paul  B.  und 
Hans  M.  auch  gemacht  haben.  In  vielen  Fällen  ist  die  Nachahmung 
der  äußere  Grund  für  das  verkehrte  Handeln. 

Weil  die  oder  der  das  gemacht  haben,  aber  aus  ganz  bestimmten 
Beweggründen,  ahmt  der  Imbecille  kritiklos  dasselbe  nach,  ja  nicht  nur 
einmal,  nein  oftmals.  Und  wenn  es  dem  Ausreißer  noch  so  schlecht  ge- 
gangen ist  auf  seiner  Tournee,  er  entläuft  doch  wieder.  Dieser  ^Mangel 
an  Einsicht,  aus  dem  Erlebten  für  sich  eine  Lehre  zu  ziehen  und  diese 
zur  Richtschnur  für  späteres  Handeln  zu  machen,  ist  für  den  Imbecillen 
charakteristisch. 


—    58    —  \ 

Gefährlich  können  die  Taten  Imbeciller  werden,  wenn  sie  im  Zorn     . 
begangen  werden.     Wir  haben  schon  früher  darauf  hingewiesen,  daß  die 
Rachsucht    und   Zornmütigkeit    derselben    oftmals    erheblich    gesteigert 
sind.     Vor  den   rohesten  Gewaltakten  schreckt  der  Imbecille  nicht   zu- 
zück, er  übersieht  nicht  die  Tragweite  seiner  Handlungen,  zudem  fehlen     \ 
die  Hemmungen. 

Bei  der  Untersuchung  der  Gefühlstöne   fanden  wir  nicht   selten  ge- 
steigerte Sexualgefühle.     Diese   sind  häufig  der  direkte  Anlaß   zur  Pro- 
stitution.    Viele  Prostituierte  sind  schwachsinnig.     Weiter :  Junge  Mäd- 
chen, ja  Schulmädchen   geben   sich  Männern  preis,   verfolgen  sie.  locken 
sie    an   und   sind    so   der   verführende   Teil.     Ich   besinne  mich  auf  ein 
11  jähriges,   gut  entwickeltes  Mädchen,   das  hinter  jedem  Manne  herlief,     ^ 
ihn  anlächelte   und  auf  alle  mögliche  Art   und  Weise  zu   reizen  suchte,     j 
Einmal  muß  sie  es  besonders  auffällig  gemacht  haben,  da  der  betreffende     j 
Mann  mir  sogar  nachher  sagte,    ihm  sei  ganz  unheimlich  geworden,   wie 
sich   das  Mädchen  angestellt   habe.     Ärztliche  Untersuchungen   ergaben, 
daß  ein  Mißbrauch   stattgefunden   hat,   nach   ihrer  Aussage   soll  es   der     ' 
Vater  gewesen  sein. 

Andere  Mädchen   beschuldigten  wieder   infolge   ihrer   sexuellen  Er- 
regbarkeit  einen   irgend   ihnen   bekannten  Mann,    er  habe  sich  an  ihnen     \ 
vergangen.     Ihre  erregte  Phantasie  gaukelte  ihnen  allerhand  Bilder  vor,     I 
an  die  sie  schließlich   selbst  glauben  und  so  zu  den  falschen  Aussagen 
kommen.      So    beschrieb    ein    9jähriges    imbecilles    Mädchen   genau    die     ! 
Wohnung,   in   der   ein  Mann    sich   an   ihr  vergangen  habe.     Sie  erzählt»    | 
daß   er   ihr  Kaffee  und  Kuchen  gegeben  und  sie  auf  das  Sofa  gesetzt    i 
habe,   was   er   ihr  gesagt  habe,  wie  lange  sie  dagewesen  sei  u.  s.  f.,  daß 
er  sie  in  der  Nacht  an  die  Elektrische  gebracht  und  sie  nach  Hanse  ge-    ; 
schickt  habe.     Mehr   als   acht  Tage   kam    sie  erst   nachts    nach    Hause    ; 
und   schlief  auf  der  Treppe,   dem  Boden,  trieb   sich  herum  oder  wurde 
von  der  Polizei  aufgegriffen.     Sie  kam  von  der  Schule  nicht  nach  Hause, 
ihre  Bücher  ließ  sie  dort.     Zunächst  sind  ihr   ihre  Angehörigen  gefolgt,    ■ 
um   zu  sehen,   wohin  sie  ging,   konnten  jedoch  nichts  ermitteln,  da  sie 
dann  in  einem  Eckhause   verschwand,    während  die  Beobachter  noch  in 
einer  andern  Straße  waren.     Einen  Schutzmann  hat  sie  wiederholt  zum    ■ 
Besten  gehabt,  indem  sie  ihn  mitnahm  bis   an  ein  bestimmtes  Haas  und    * 
dann  nichts  sagte  über  die  Wohnung  oder  eine  beliebige  namhaft  machte,    l 
Güte,  Naschwerk,  Strenge,  nichts  konnte  sie  bewegen  zu  einer  Aussage.    ] 
„Ein  andermal   sage   ich   es,   heute  nicht".    Die   ärztliche  Untersuchung    | 
sprach  gegen  ihre  Aussagen.     Nicht  alles,   was  das  Mädchen  tat  und 
sagte,  hat  sie  ohne  Bewußtwerden  und  ohne  Überlegung  gesagt  und  getan; 
denn  wenn  sie  die  Eltern,   die  Beamten  erst  mitlockt  und  dann  die  ge- 


—    59    — 

nauen  Angaben   nicht   macht,    so   ist  doch   ein   gut  Stück  Raffiniertheit 
dabei,  nicht  überführt  werden  zu  können. 

Und  nun  zu  den  Debilen,  zu  ihren  Handlungen  auf  Grund  ge- 
steigerter Gefühle  und  oft  erstaunlich  scharfer  Überlegungen  und  kompli- 
zierter Aöekte.  Er  übertrifft  den  Imbecillen  in  jeder  Beziehung,  Ge- 
fühlsroheit, Jähzorn,  Schamlosigkeit,  Grausamkeit,  Wollust,  Herzlosig- 
keit ,  Leidenschaftlichkeit ,  Egoismus ,  Undankbarkeit ,  Schadenfreude, 
Hochmut,  Haß,  Rachsucht,  Respektlosigkeit,  mangelndes  Pflichtgefühl, 
Herrschsucht,  Eitelkeit  und  Eigenliebe,  das  sind  die  Triebfedern  zu  ihren 
Handlungen.  Antisoziale  und  perverse  Gefühle  und  Affekte  können  nur 
antisoziale  und  perverse  Handlungen  zeitigen.  Im  Gleichnis  vom  ver- 
lorenen Sohn  hat  der  größte  Lehrer  aller  Zeiten  genau  den  Lebensgang 
solcher  Menschen  dargelegt  und  gezeigt,  wohin  Eigennutz,  Undankbar- 
keit, Ungehorsam,  Hochmut,  Genußsucht  führen.  Oftmals  bildet  der 
wirtschaftliche  Ruin  nicht  die  letzten  Stufen.  Ausschweifungen  und 
Exzesse  aller  Art,  liederliches  Leben  mit  Dirnen  lassen  sie  immer  tiefer 
sinken  bis  zum  Dieb  und  Betrüger,  zum  Wechselfälscher,  zum  Menschen- 
quäler, zum  Totschläger,  zum  Mörder  oder  sie  häufen  auf  andere  Weise 
Schmach  über  Schmach  auf  sich  und  die  Ihrigen. 

Die  Verhandlungen  in  den  letzten  Jahren  gegen  Debile  mit  ethischen 
Defekten  sind  wohl  noch  so  lebendig,  daß  hier  verzichtet  werden  kann 
auf  eine  eingehende  Darlegung  der  Sachlage,  mögen  die  Namen  genügen 
Fischer,  Hüssener,  Dippold,  Hau,  Arenberg  u.  a.  Daß  sie  alle  in  ethi- 
scher Beziehung  minderwertig  waren,  beweist,  daß  keiner  von  ihnen 
Reue  bekundet;  ja  keiner  konnte  Reue  bekunden,  da  ihre  Handlungen 
ihrem  Wesen,  ihrer  wahren  Natur,  ihrer  Veranlagung  nicht  zuwider 
waren. 

Nicht  immer  muß  sich  der  Lebensgang  eines  Debilen  so  abspielen. 
Ich  habe  aber  gerade  diese  Fälle  hier  angeführt,  um  zu  zeigen,  wohin 
es  kommen  kann,  wenn  auf  die  psychische  Herabminderung  nicht  ge- 
achtet wird. 

In  allen  diesen  Fällen  ließ  sich  unschwer  feststellen,  daß  Entwick- 
lungsstörungen von  frühester  Jugend  an  vorhanden  waren,  oder  daß  das 
Wesen  und  Tun  der  Kinder  in  auffälligster  Weise  von  der  Norm  ab- 
wich. Grausamkeit  (Quälen  von  Tieren  und  Untergebenen),  Grobheit, 
Respektlosigkeit,  namenlose  Tollkühnheit,  Angst  aus  nichtigen  Anlässen, 
sexuelle  und  alkoholistische  Ausschweifungen,  Schamlosigkeit,  Größen- 
und  Verfolgungswahn,  Selbstüberhebung,  Unvermögen,  Wahrheit  und 
Unwahrheit  zu  unterscheiden,  Jähzorn,  Leidenschaftlichkeit,  Herzlosig- 
keit u.  s.  w.     Alle   diese   pathologischen  Herabminderungen  hätten  nicht 


—    60    — 

zu  solchen  Taten  führen  brauchen,  wenn  man  sie  rechtzeitig  beachtet 
hätte. 

Jedes  debile  Kind  verrät  schon  von  frühester  Kind- 
heit an  seine  Fehler  und  Mängel  in  ethischer  Beziehung. 
Zerstörungssucht,  Zornmütigkeit  lassen  sie  nicht  selten  ihre  Kleider 
zerreißen,  Spielsachen  zerschlagen,  Bilderbücher  beschmieren,  sich  selbst 
verunreinigen;  Gefühllosigkeit  und  Roheit  führen  zum  Quälen  und 
Schlagen  von  Geschwistern,  Dienstboten  und  Tieren;  Herzlosigkeit, 
Eigenliebe  und  Selbstgefälligkeit  sind  die  Veranlassung  zum  Lügen, 
Betrügen,  Stehlen,  Undankbarkeit.  Beim  Spiel  sind  sie  herrschsüchtig 
und  unverträglich,  sie  wollen  immer  die  Tonangebenden  sein,  alle  sollen 
sich  ihren  Anordnungen  fügen  und  sie  selbst  verletzen  fortgesetzt  die 
Spielregeln.  Mit  älteren  Kindern  spielen  sie  nicht,  weil  sie  da  mit 
ihren  Wünschen  nicht  durchkommen  und  für  ihr  rechthaberisches  Wesen 
die  Stärke  des  Armes  fühlen  müssen.  In  der  Schule  sind  sie  verschlagen, 
boshaft,  dabei  wieder  feige,  allen  Unfug  stiften  sie  an  oder  sind  doch 
dabei  beteiligt,  ihre  Arbeiten  sind  nachlässig.  Den  Lehrern  bereiten  sie 
ständig  Sorge  und  Arger,  fälschen  Unterschriften  und  wissen  sich  raffi- 
niert aus  allen  heiklen  Notlagen  herauszulügen,  dabei  können  sie  ander- 
seits sehr  lieb  und  nett  sein,  sodaß  alle  Bekannten  von  dem  Betragen 
desselben  ganz  entzückt  sind,  und  nicht  verstehn,  daß  dies  liebe  Kind 
solche  Untaten  vollführen  soll. 

Mit  beginnender  Pubertät  wirds  noch  schlimmer,  da  jetzt  die  er- 
wachten sexuellen  Gefühle  stark  hervortreten  und  das  Handeln  beein- 
flussen.    Diese  Kinder  sind  rechte  Sorgenkinder. 

Jeder  neue  Tag  bringt  Überraschungen,  neue  Sorgen,  je  älter  die 
Kinder  werden,  desto  schlimmer  wirds.  Von  Stufe  zu  Stufe  sinken  sie 
hinab,  ihre  Ansprüche  steigern  sich  ins  Unermeßliche,  Dirnen  und  Trink- 
kumpane helfen  ihnen  bald  völlig  in  den  Abgrund  des  Verderbens  zu 
versinken  und  bald  kommen  sie  vor  den  Strafrichter  wegen  Unter- 
schlagung, Betrug,  Wechselfälschung,  Diebstahl,  geschlechtlicher  Ver- 
gehen, Roheitsdelikten,  Mißhandlungen,  Vagabondage  u.  s.  f. 

Nach  Verbüßung  ihrer  Strafe  sind  sie  nicht  gebessert,  wie  sollte 
auch  das  Gefängnis  dies  Wunder  vollbringen  ?  Aufraffen,  um  ein  anderer 
Mensch  zu  werden,  können  sie  sich  nicht  aus  eigener  Kraft  jetzt  nicht 
mehr,  da  sie  zu  alt  sind,  die  Gewohnheit  steht  hindernd  im  Wege,  der 
Dämon,  der  alte  Adam  dringt  immer  wieder  durch.  Neue  Vergehungen, 
neuer  Jammer.  Und  doch  wäre  ihnen  zu  helfen  gewesen,  wenn  man  in 
früher  Jugend  die  pathologische  Wurzel  erkannt  und  sie  in  ein  Heil- 
erziehungsheim gegeben  hätte. 


—    61    — 

Dieselben  Vergehungen  und  Straftaten  können  von 
normalen,  moralisch  verkommenen  Menschen  begangen 
werden  und  nicht  jeder,  der  sich  durch  seine  Handlungen 
außerhalb  des  Rahmens  der  Gesellschaft  stellt,  ist  debil. 
Das  sei  hier  recht  nachdrücklich  hervorgehoben.  Bei  der  Untersuchung 
der  einzelnen  psj'chischen  Symptome  ist  schon  immer  das  Krankhafte 
derselben  hervorgehoben,  es  sei  aber  hier  nochmals  eine  Zusammenstellung 
derselben  gegeben,  im  Gregensatz  zu  dem  physiologisch  gesunden  Gesetzes- 
verletzer. 

Der  ethische  Defekt  eines  Debilen  zeigt  sich 
von  frühester  Kindheit  an,  wo  eine  Einwirkung 
durch  äußere  Verhältnisse  noch  ausgeschlossen 
ist.  Der  ethische  Defekt  eines  normalen  Kindes 
entsteht  durch  schlechtes  Vorbild,  mangelhafte 
oder  falsche  Erziehung,  schlechten  Umgang,  Lesen 
schlechter  Lektüre  u.  s.  f. 

Beim  debilen  Kinde  sind  Lob  undStrafe  absolut 
nutzlos,  da  es  keinen  Unterschied  zu  machen  ver- 
steht zwischen  Verbotenem  und  Erlaubtem,  zwi- 
schen Gut  und  Böse.  Sein  Handeln  steht  nicht  im 
Gegensatz  zu  seinem  Wesen,  daher  kann  es  keine 
Reue  empfinden.  Das  normale  Kind  empfindet  über 
seine  Untaten  Schmerz,  hat  Einsehen  in  das  Ver- 
kehrte seiner  Handlungen  und  ist  für  Lob  und 
Tadel  zugänglich. 

Beim  Debilen  finden  sich  neben  den  ethischen 
Mängeln  intellektuelle  Schwächen,  vor  allem  eine 
auffallende  Urteilsschwäche  bei  sonst  guter  In- 
telligenz. Beim  moralisch  verkommenen  Kinde  ist 
die  Intelligenz  intakt. 

Das  debile  Kind  weist  in  seinem  Körperbau 
Anomalien  auf,  wenn  auch  nicht  alle  eingangs  zu- 
sammengestellten Symptome  bei  jedem  Kinde  zu 
finden  sind,  so  sind  doch  fast  ausnahmslos  immer 
einige  vorhanden,  vor  allem  am  Schädel  und  den 
Genitalien.  Zu  achten  ist  auf  epileptische  Anfälle 
und  Lähmung.  Das  normal  entartete  Kind  braucht 
keine  körperlichen  Verbildungen  zu  haben,  hat  sie 
auch  meist  nicht. 

Und  endlich  entsteht  die  Debilität  infolge  he- 
reditärer   oder     erworbener    Ursachen.      Eine    der- 


—    62    — 

artige  Belastung  ist  aber  nicht  die  Grundbedingung 
der  moralischen  Entartung.  Wegen  der  großen 
Bedeutung  dieser  Ursachen  wollen  wir  sie  noch 
kurz  streifen. 

Ursachen  jugendlichen  Schwachsinnes. 

Unter  den  auslösenden  Ursachen  des  Schwachsinnes  steht  die  Erb- 
lichkeit an  erster  Stelle.  Bei  20%  nach  Piper  (Zur  Ätiologie  der 
Idiotie)  sind  die  Eltern  oder  Verwandte  geisteskrank.  Nicht  immer  sind 
die  Eltern  der  schwachsinnigen  Kinder  minderwertig,  oftmals  wird  eine 
Generation  übersprungen,  es  vererben  sich  die  Anlagen  und  Fähigkeiten, 
Fehler  und  Schwächen  der  Großeltern  auf  die  Enkel.  Daß  die  Belastung 
des  Individuums  eine  große  sein  muß,  wenn  beide  Eltern  oder  Großeltern 
krank  waren,  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  weil  sich  die  krankhaften 
Anlagen  zweier  Personen  auf  eine  dritte  übertragen.  In  manchen  Ge- 
schlechtern ist  eine  langsame  Degeneration  von  Generation  zu  Generation 
bemerkbar,  zumal  wenn  die  Lebensbedingungen  schlechte  sind,  der  Ge- 
sundheitszustand kein  guter  ist  und  die  betreffenden  Personen  sich  dem 
Alkoholgenuß  stark  hingeben.  Dann  kann  man  ganz  deutlich  sehen,  wie 
aus  einer  leichten  nervösen  Anlage  schwere  Neurosen,  intellektuelle 
Schwächen,  psychische  Anomalien  und  endlich  Schwachsinn  entstehen. 
Anderseits  ist  eine  Regeneration  unter  günstigen  Lebensbedingungen  und 
vernünftiger  Lebensweise  nicht  ausgeschlossen. 

Der  Alkohol  ist  nicht  selten  der  Grund  geistiger  und  körperlicher 
Degenerationen,  worüber  die  Erhebungen  Bournevilles  sicheren  Aufschluß 
geben.  Er  hat  1000  Fälle  registriert  und  ermittelt,  daß  in  471  Fällen 
der  Vater,  in  84  Fällen  die  Mutter  und  in  65  Fällen  beide  Eltern 
Trinker  waren  und  nur  in  209  Fällen  waren  beide  Eltern  nicht  dem 
Trünke  ergeben.  In  67  Fällen  konnte  er  mit  Sicherheit  ermitteln,  daß 
die  Konzeption  im  Rauschzustande  vor  sich  gegangen  und  in  24  Fällen 
die  Wahrscheinlichkeit  derselben  Annahme  feststeht.  Erstgeborene 
Kinder  sind  nicht  selten  schwachbefähigt,  oder  schwachsinnig,  eine 
Tatsache,  die  beredt  genug  ist,  um  Alkoholgegner  zu  werden.  In  171 
Fällen  konnte  er  über  den  Alkoholismus  der  Eltern  keine  Auskunft  er- 
langen. In  den  ersten  Fällen  muß  der  Alkohol  direkt  als  schädigender 
Faktor  angesprochen  werden,  daneben  gibt  es  aber  doch  noch  sehr  viele 
Fälle,  in  denen  der  Alkohol  indirekt  die  Ursache  bildet  oder  doch  diese 
verstärkt. 

Wieviel  Sorgen,  kummervolle,  schlaflose  Nächte,  angestrengte 
Stunden  der  Arbeit,  hervorgerufen  durch  die  Trunksucht  des  Mannes, 


—    63     - 

erlebt  ein  gravides  Weib  zum  Nachteil  der  Kinder.  Mißhandlungen, 
schlechte  Ernährung  und  seelische  Aufregungen  aller  Art  sind  in  Trinker- 
familien an  der  Tagesordnung  und  bleiben  sicher  nicht  ohne  Einfluß  auf 
die  Nachkommen. 

An  dritterstelle  steht  die  hereditäre  Syphilis.  Piper  fand  sie 
unter  310  Fällen  16  mal  und  Ziehen  konstatiert  bei  17  ^/o  wahrscheinlich 
und  bei  10  ^o  sicher  Erbsyphilis  als  Ursache.  - 

Nicht  so  sicher  ist  die  Wirkung  der  Tuberkulose  auf  die  Ent- 
wicklung des  fötalen  Gehirns.  Piper  verzeichnet  Schwindsucht  der  Eltern 
bei  15  ^/o  und  bei  den  Großeltern  bei  8  ^/o,  zusammen  23  ^/o.  Nach  Ziehen 
läßt  sich  in  wenigstens  15  ^/o  Tuberkulose  bei  den  nächsten  Familien- 
angehörigen normaler  Kinder  nachweisen,  sodaß  diese  Krankheit  nicht 
immer  als  direkte  Ursache  der  Idiotie  angesprochen  werden  darf. 

Daß  die  Schwangerschaft  und  die  Geburt  selbst  nicht  ohne 
Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  Kindes  sind,  weiß  jeder.  Erkrankungen, 
die  mit  hohem  Fieber  einhergehen,  oder  Nervenkrankheiten,  heftige  Ge- 
mütsbewegungen während  der  Schwangerschaft  vermögen  infolge  der 
schlechten  Ernährung  von  Mutter  und  Kind  das  letztere  zu  schädigen, 
insofern  als  das  Gehirn  dadurch  nicht  genügend  ernährt  wird  und  in 
seiner  Entwicklung  zurückbleibt.  Piper  führt  bei  4  ^o  Sorgen  der  Mutter 
während  der  Schwangerschaft  als  Ursache  des  Schwachsinnes  an.  Bei 
3  %  ist  ein  Fall  der  Mutter,  bei  1  7ü  Schreck  der  Mutter,  bei  1  7o 
Krankheit  der  Mutter  während  der  Gravidität  und  bei  1  ^o  Unterleibs- 
leiden der  Mutter  als  schädigender  Einfluß  festgestellt. 

Ebenso  sind  Frühgeburten  die  Veranlassung  zum  Schwachsinn. 
Piper  führt  3  ^/o  an.  Ein  zu  früh  geborenes  Kind  kann  in  seiner  Ent- 
wicklung nicht  einem  vollentwickelten  gleichen.  Wenn  sonst  keine  an- 
deren Momente  erschwerend  hinzutreten,  so  ist  es  nicht  ausgeschlossen, 
daß  eine  sorgfältige  Ernährung  des  Kindes  von  frühester  Kindheit  an 
diesen  Mangel  wett  machen,  denn  das  Kind  ist  ja  nicht  abnorm  ent- 
wickelt, sondern  in  seiner  Entwicklung  aufgehalten,  die  Entwicklung 
ist  nicht  vollendet  und  dies  läßt  sich  nicht  selten  nachholen. 

Als  weitere  erworbene  Ursachen  des  Schwachsinnes  sind  Ver- 
letzungen des  kindlichen  Kopfes  anzusehen.  Es  ist  gleich- 
gültig, ob  die  Verletzung  vor,  während  oder  nach  der  Geburt  statt- 
gefunden hat,  nachteilig  kann  sie  immer  wirken.  Fall  der  Mutter  wäh- 
rend der  Gravidität,  Verletzungen  während  der  Geburt  selber  bei 
Zwangs-  oder  Sturzgeburten,  starkes  Zusammendrücken  des  Kopfes 
durch  ein  zu  enges  Becken  der  Mutter,  Fall  aus  dem  Wagen,  Sturz 
von  der  Treppe  u.  s.  f.,  alles  das  sind  Momente,  die  eine  Verletzung  des 
kindlichen  Gehirns  hervorrufen  können.    Piper  hat  hei  9  %  Kopfverlet- 


—    G4     —  i 

Zungen   festgestellt.     Nach   einer    andern    Statistik    von    WolfF   sind    es    ■ 
sogar  14%,  198  Fälle  von  1436.  i 

In  gleicher  Linie  stehen  verlangsamte  Geburten,  Schwer-  i 
geburten  infolge  von  Enge  des  Beckens,  Nachlassen  der  Wehen,  | 
krampfartige  Wehen,  mangelhafte  Elastizität  des  Uterus  ; 
u.  s.  f.  Durch  ein  zu  langes  Stehen  des  kindlichen  Schädels  im  Durch- 
bruch wird  ein  Druck  auf  denselben  ausgeübt,  der  die  Blutzirkulation  ; 
hemmt  und  die  Ernährung  des  Gehirns  für  diese  Zeit  verhindert  und 
dadurch  kann  eine  Entwicklungsstörung  hervorgerufen  werden.  Hierin  ■. 
findet  auch  die  Tatsache  etwas  ihre  Erklärung,  daß  Erstgeborene  weit  ■ 
öfter  debil  sind  als  die  Nachgeborenen.  Erklärlicher  will  mir  die  i 
Schädigung  Erstgeborener  durch  Alkohol  erscheinen,  genaue  Resultate  i 
darüber  wird  niemand  gewinnen  können.  \ 

Entwicklungsstörungen  nach  der  Geburt  haben  einen  un-  : 
gleich  größern  Einfluß  für  das  Kind.  Auf  die  Rachitis,  eine  Stoff-  ; 
Wechselstörung,  ist  schon  eingangs  Gewicht  gelegt,  auch  der  Erkrankung  \ 
der  Schilddrüse  ist  oben  gedacht.  Andere  Störungen,  denen  man  ' 
leider  viel  zu  wenig  Beachtung  schenkt,  sind  die  Magen-  und  Darm-  ; 
katarrhe  und  die  daraus  entstehende  Darmerschlaffung,  die  oftmals  i 
rachitische  oder  syphilitische  Leiden  darstellen.  Auf  Grund  einer  : 
schlechten  Ernährung  —  die  Kinder  vertragen  fast  nichts  und  leiden  i 
oft  viele  Jahre  lang  an  Diarrhoe  —  wird  das  Gehirn  in  seiner  normalen  ] 
Entwicklung  behindert  und  es  kann  so  wohl  Schwachsinn  in  irgend  einer  ; 
Form  entstehen. 

Unglaublich  wird  von  manchen  unwissenden  Eltern  gesündigt,  die 
da  meinen,  sie  tun  ihrem  Kinde  einen  Dienst,  wenn  sie  ihm  zur  ; 
Kräftigung  oder  Beruhigung  Alkohol  verabreichen.  AI-  i 
kohol  ist  ein  Nervengift  und  schädigt  in  jeder  Form  ge-  j 
geben  das  Gehirn,  vorab  das  kindliche  Gehirn.  Mir  sind 
Fälle  bekannt,  in  denen  gesunde,  kräftige  kleine  Kinder  nach  heimlicher  \ 
Verabreichung  von  Wein  durch  die  Ammen  schwachsinnig  oder  epilep-  J 
tisch  wurden.  In  einem  andern  Falle  wollte  es  ein  Vater  mit  seinem  ] 
2  jährigen  Kinde  recht  gut  meinen,  indem  er  ihm  jeden  Abend  von  seinem 
Bier  „ein  halbes  Glas  oder  etwas  mehr"  zu  trinken  gab,  er  glaubt  es 
heute  noch  nicht,  daß  der  Alkohol  schuld  ist  an  der  Minderwertigkeit 
seines  Kindes.  „Der  Alkohol  hat  noch  niemand  geschadet,  warum  soll 
er  gerade  meinem  Kinde  geschadet  haben." 

Es  ist  überhaupt  ratsam,  das  Tun  und  Treiben  der  Ammen  und 
Mädchen  genau  zu  kontrollieren,  kenne  ich  doch  einen  Fall  von  schwerer 
Epilepsie,  in  der  das  Kind  von  frühester  Kindheit  an  von  der  Amme 
sexuell  mißbraucht  ist  und  einen  andern  Fall  von  schwerer  Idiotie,  mit 


-     65    — 

sehr  früh  aufgetretener  Onanie.  Ob  nun  in  beiden  Fällen  die  Erkran- 
kungen nur  bedingt  sind  durch  die  genannten  Verirrungen  der  Pflege- 
rinnen oder  nur  teilweise,  wer  will  das  bestimmt  sagen,  erschwerend 
sind  sie  sicher  hinzugetreten. 

Daß  eine  ärztliche  Untersuchung  der  Ammen  und  Pflegerinnen  un- 
umgänglich notwendig  ist,  sollte  eigentlich  nicht  der  Erwähnung  bedürfen. 
Und  doch  kommen  immer  wieder  Fälle  von  syphilitischer  Erkrankung 
der  Kinder  durch  Infektion  von  Ammen  etc.  vor.  Auch  die  er- 
worbene Syphilis  kann  zum  Schwachsinn  führen. 

Typhus,  Diphtherie,  Scharlach,  Pocken  in  den  ersten 
Kinder  Jahren  sind  nicht  selten  die  Ursachen  jugendlichen  Schwachsinnes. 
Diese  Infektions  er  krankungen  bedingen  eine  allgemeine  Ernährungsstörung, 
mithin  beeinträchtigen  sie  die  Ernährung  und  das  Wachstum  des  Gehirns, 
weiterhin  wirken  sie  direkt  schädigend  auf  die  Gehirnrinde  und  endlich 
haben  sie  nicht  selten  Herderkrankungen  der  Hirnrinde  zur  Folge,  die 
ihrerseits  dann  Ausfallserscheinungen  zeitigen  können.  Die  Herd- 
erkrankungen der  Großhirnrinde  der  Kinder  mit  ihren  Folgen,  Intelli- 
genzdefekte und  Lähmungen  sind  vom  besprochen  worden.  Desgleichen 
wurde  daselbst  die  Hirnhautentzündung  als  Grund  für  Hydrocephalie 
angegeben. 

Schwachsinn  kann  schon  durch  eine  der  angegebenen  Ursachen  ent- 
stehen, sehr  oft  wirken  jedoch  mehrere  zusammen  und  vergrößern  dadurch 
den  Intelligenzdefekt.  Ausdrücklich  sei  aber  noch  einmal  hervorgehoben, 
daß  durchaus  nicht  immer  das  Vorhandensein  eines  Symptoms  die 
Diagnose  Schwachsinn  rechtfertigt,  nur  wenn  mehrere  zusammentreffen, 
ist  der  Schluß  auf  Schwachsinn  berechtigt.  Und  wenn  diese  Zeilen  den 
Erfolg  haben,  daß  jeder  Vater,  jede  Mutter,  jeder,  dem  die  Kinder  zur 
Erziehung  anvertraut  sind,  genau  die  Entwicklung  seines  Pflegebefohlenen 
verfolgt  und  bei  Abweichungen  einen  Psychiater  befragt,  so  haben  sie 
ihren  Zweck  voll  erfüllt. 


Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band. 


—    66    — 


Name 


Rechen-Bogen 
Kopfrechnen  —  Schriftliches  Rechnen 
Datum Tageszeit . 


Frage 


Antw.  I  Zeit  j Bemerkung 


Frage 


Antw. 


Zeit  I  Bemerkung 


Ix 

3  = 

2x 

4  = 

3x 

5  = 

4x 

6  = 

5x 

7  = 

6x 

8  = 

7x 

9  = 

8x 

10  = 

9x 

11  = 

12  X 

13  = 

2  + 

2  = 

3  + 

4  = 

4-f 

6  = 

6  + 

8  = 

8  + 

14  = 

11  + 

20  = 

14  +  26  — 

17  + 

32  = 

20  + 

38  = 

23  + 

44  = 

X-3  = 

:14;X  = 

X  +  5  = 

:11;X  = 

Xx7  = 

:33;X  = 

X  :  9  = 

=    5;X  = 

H  — 

1  =s 

8- 

3  = 

13- 

5  = 

18- 

7  = 

29- 

■10  = 

40- 

13  = 

51- 

16  = 

62- 

19  = 

73- 

22  = 

84- 

25  = 

2: 

1  _5 

8: 

2  = 

18: 

3  = 

32: 

4  = 

50: 

5  = 

18: 

6  = 

35: 

7  = 

56: 

8  = 

81  : 

9  = 

110:  10 


Fragebogen  betr.  Orientiertheit  etc. 
Name :  Datum : 

Wochentag: 
Tageszeit : 

1.  Wie  heißen  Sie? 

2.  Was  sind  Sie? 

3.  Wie  alt  sind  Sie? 

4.  Wo  sind  Sie  zu  Hause? 

5.  Welches  Jahr  haben  wir  jetzt? 

6.  Welchen  Monat  haben  wir  jetzt? 

7.  Welchen  Tag  im  Monat  haben  wir  heut  ? 

8.  Welchen  Wochentag  haben  wir  heut? 

9.  Wie  lange  sind  Sie  hier? 

10.  In  welcher  Stadt  sind  Sie? 

11.  In  was  für  einem  Hause  sind  Sie? 

12.  Wer  hat  Sie  hierher  gebracht? 

13.  Wer  sind  die  Leute  in  diesem  Hause? 

14.  Wer  bin  ich? 

15.  Wo  waren  Sie  vor  acht  Tagen? 

16.  Wo  waren  Sie  vor  einem  Monat? 

17.  Wo  waren  Sie  vorige  Weihnachten? 

18.  Sind  Sie  traurig? 

19.  Sind  Sie  krank? 

20.  Werden  Sie  verfolgt? 

21.  Werden  Sie  verspottet? 

22.  Hören  Sie  schimpfende  Stimmen? 

23.  Sehen  Sie  schreckhafte  Gestalten? 

24.  Warum  frage  ich  Sie  dies  alles? 


—     67     — 

Schema  zur  Prüfung  der  Schulkenntnisse. 

Name :  Datum :  Tageszeit : 

1.  Alphabet: 

2.  Zahlenreihe: 

3.  Monatsnamen: 

4.  Wochentage: 

5.  Vater  unser: 

6.  Zehn  Gebote: 

7.  :,: Deutschland:,:  über  alles: 

8.  Wie  heißen  die  größten  Flüsse  in  Deutschland  ? 

9.  Wie  heißen  die  Hauptgebirge  in  Deutschland  ? 

10.  Wie  heißen  die  deutschen  Bundesstaaten? 

11.  Wie  heißt  die  Hauptstadt  von: 

a.  Deutschland? 

b.  Preußen? 

c.  Sachsen? 

d.  Bayern? 

e.  Württemberg? 

f.  Hessen? 

12.  Zu  welchem  Staate  gehören  Sie? 

13.  AVer  führte  1870  Krieg? 
l'l.  Wer  führte  1866  Krieg? 

15.  Wie  heißt  der  jetzige  deutsche  Kaiser? 

16.  Wann  starb  Kaiser  Wilhelm  I.  ? 


Sonstige  Fragen: 


Eeizworte  für  Assoziationsversuche  I. 

Name: 

Nr. 

jjatum : 
Tageszeit : 

I.  Licht  und  Farben: 

V.  Temperatur : 

1.  hell 

1.  kalt 

2.  dunkel 

2.  lau 

3.  weiß 

3.  warm 

4.  schwarz 

4.  heiß 

5.  rot 

VL  Gehör: 

6..^elb 

1.  leise 

7.  grün 

2.  laut 

8.  blau 

3.  kreischend 

IL  Ausdehnung  und  Form: 

4.  gellend 

1.  breit 

Vn.  Geruch: 

2.  hoch 

1.  duftig 

3.  tief 

2.  stinkend 

4.  dick 

3.  modrig 

5.  dünn 

VIIL  Geschmack: 

6.  rund 

1.  süß 

7.  eckig 

2.  sauer 

8.  spitz 

3.  bitter 

IIL  Bewegung: 

4.  salzig 

1.  ruhig 

IX.  Schmerz-  und  Gemeingefühl 

2.  langsam 

1.  schmerzhaft 

3.  schnell 

2.  kitzlich 

IV.  Tastsinn: 

3.  hungrig 

1.  rauh 

4.  durstig 

2.  glatt 

3.  fest 

5.  ekelerregend 

X.  Aesthetische  Gefühle: 

4.  hart 

1.  schön 

5.  weich 

2.  häßlich 

—    68    — 


Reizworte  für  Assoziationsversnche  11. 

Name :  Nr. 

Datum: 

Tageszeit : 

XI.  XV 

1.  Kopf  1.  Wurzel 

2.  Hand  2.  Blatt 

3.  Fuß  3.  Stengel 

4.  Gehirn  4.  Blume 

5.  Lunge  5.  Knospe 

6.  Magen  0.  Blüte 

XII.  XVI. 

1.  Tisch  1.  Spinne 

2.  Stuhl  2.  Schmetterling 

3.  Spiegel  3.  Adler 

4.  Lampe  4.  Schaf 

5.  Sofa  5.  Löwe 

6.  Bett  6.  Mensch 
XIIL  XVIL 

1.  Treppe  1.  Mann 

2.  Zimmer  2.  Frau 

S.  Haus  3.  Mädchen 

4.  Palast  4.  Knabe 

5.  Stadt  5.  Kinder 

6.  Straße  6.  Enkel 

XIV.  xvni. 

1.  Berg  1.  Bauer 

2.  Fluß  2.  Bürger 

3.  Tal  3.  Soldat 

4.  Meer  4.  Pfarrer 

5.  Sterne  5.  Arzt 

6.  Sonne  6.  König 

Reizworte  für  Assoziationsversuche  IIL 

Nr. 


Name : 
Datum : 
Tageszeit: 
XIX. 

1.  Krankheit 

2.  Unglück 

3.  Verbrechen 

4.  Not 

5.  Verfolgung 

6.  Elend 
XX. 

L  Glück 
2.  Belohnung 
8.  Wohltat 
4.  Gesundheit 
6.  Friede 
6.  Reichtum 
XXL 

1.  Acht 

2.  Oh! 

3.  Pfui! 

4.  Ha! 

5.  Hailoh! 

6.  Au! 
XXIL 

1.  Zorn 

2.  Liebe 
8.  Haß 

4.  Begeisterung 
6.  Furcht 
6.  Freude 


XXIII. 

1.  Trieb 

2.  Wille 

3.  Befehl 

4.  Wunsch 

5.  Tätigkeit 

6.  Entschluß 
XXIV. 

1.  Verstand 

2.  Einsicht 

3.  Klugheit 

4.  Absicht 

5.  Erkenntnis 

6.  Dummheit 
XXV. 

1.  Bewußtsein 

2.  Schlaf 

3.  Traum 

4.  Erinnerung 
6.  Gedächtnis 
6.  Denken 

XXVI. 

1.  Oesets 

2.  Ordnung 

3.  Sitte 

4.  Recht 

5.  Gericht 

6.  Staat 


—    69    — 
Schema  zur  Untersuchung  von  Geisteskranken. 


Name : 

Diagnose : 

Geburtstag : 
Konfession  : 

Stand : 

Heimat : 

Unterstützungswohnsitz : 
Ort  der  Untersuchung: 
Tag  der  ersten  Untersuchung: 
Weitere  Untersuchung  am : 

A.    Körperlicher  Zustand. 
I.  Körperbau. 

a)  Allgemeine  Charakteristik.  (Zu  beachten 
sind  vor  allem  Körperlänge,  Gewicht,  ferner  Ent- 
wickelungshemmungen,  Asymmetrien,  Verhältnis 
der  Extremitäten  zum  Rumpf.) 

b)  Besondere  Charakteristik  des  Schädelbaues. 
(Asymmetrien  besonders  an  der  Stirn,  Zustand  der 
Nähte.     Folgen  von  Verletzungen.) 

Im  Falle  genauerer  Messung  empfehlen  sich 
folgende  Maße: 

1.  Längsdurchmesser  (L.  D.)  gemessen  von  der 
Mitte  zwischen  den  Arcus  superciliares  bis  zur 
Protuberantia  occipitalis  externa. 

2.  Umfang  (U.)  in  einer  durch  die  gleichen 
Punkte  gehenden  Ebene. 

3.  Sagittalbogen  (S.  B.)  gemessen  von  den  glei- 
chen Punkten. 

4.  Querdurchmesser  (Q.  D.)  gemessen  von  den 
oberen  Ansatzstellen  der  Ohrmuscheln,  bezw.  von 
den  Schnittstellen  des  darüber  errichteten  Frontal- 
bogens  mit  der  Ebene  des  Umfanges. 

5.  Frontalbogen  (F.  B.),  gemessen  von  den  zu- 
letzt genannten  Punkten  bei  horizontaler  Einstel- 
lung des  Längsdurchmessers. 

IL  Hautbeschaffenheit:  Farbe,  Konsi- 
stenz, Ernährungszustand,  Faltenbildung.  Zu  be- 
achten sind  besonders  Ödeme,  Myxödem,  trophische 
Störungen. 

III.  Temperatur:  Verteilung  der  Wärme 
am  Körper. 

IV.  InnereOrgane,  besonders  Verdauungs- 
system. 

V.  Besondere  Untersuchung  des  Zirkula- 
tionssystems. Herz,  arterielles  Gefäßsystem, 
Puls,  Verteilung  und  Füllung  der  Gefäße  an  der 
Haut,  speziell  im  Gesicht.  Blutungen,  besonders 
Menses. 

VI.  Sektionserscheinungen:  Beschaffen- 
heit des  Urins,  Speichelsekretion,  Schweißsekretion. 

VII.  Muskelzustände:  Neurologisch  wich- 
tige Erscheinungen:  Paresen,  Spasmen,  Zuckungen 
etc.  Besonders  Befund  an  den  Kopfnerven.  Psy- 
chisch bedingte  Spannungszustände  (vergl.  Unter- 
suchung des  Willens). 


—     70    — 

YIU.  Ausdrucksbeweguogen  besonders 
im  physiognomischen  Gebiet. 

IX.  Reflexe  (möglichste  Einheit  des  Reizes, 
Prüfung  der  mechanischen  Bedingungen,  scheinbares 
und  wirkliches  Fehlen,  Steigerung). 

Kniephänomene,  Fußklonus.  Pupillen  -Weite. 
Differenzen,  Reaktion  auf  Licht  (gemessen  mit 
welchem  Licht?),  akkomodative  Mitbewegung. 

Andere  Reflexe  (Biceps-,  Triceps-,  Facialis- 
reflexe,  Cremasterreflexe  u.  s.  f.). 

X.  Sonstige  nervöse  Erscheinungen, 
speziell  auch  subjektiver  Natur.  (Anästhesie,  Pa- 
rästhesie  u.  s.  f.) 

B.    Entwicklung  der  Krankheit. 

Name  des  Referenten.  (Es  ist  zu  beachten, 
in  welcher  Beziehung  Referent  zu  dem  Kranken 
steht,  welchen  Eindruck  derselbe  macht,  ob  be- 
stimmte Denkfehler  bei  ihm  wiederkehren,  ob  seine 
Darstellung  nach  einer  Richtung  zugeschnitten  er- 
scheint.) 

Körj)erliche  und  geistige  Beschaffenheit  der 
Eltern,  Krankheiten  derselben,  Infektionskrank- 
heiten, besonders  Lues ;  —  Epilepsie,  Stoffwechsel- 
krankheiten, Tuberkulose.  Psychische  Eigentüm- 
lichkeiten derselben.  Kriminalität,  Geisteskrank- 
heiten, speziell  Anstaltsbehandlung. 

Sonstige  Heredität.  Gesamtzahl  der  Geschwis- 
ter und  Kinder.  Störungen  bei  den  direkten  Ahnen 
des  Kranken.  Stöningen  in  den  Seitenlinien  der 
Vorfahren;  Art  dieser  Störungen. 

Zustand  der  Mutter  bei  der  Gravidität.  Ge- 
burtsverlauf. Besonderheiten  des  Kindes  in  den 
ersten  Lebensjahren,  Krankheiten,  besonders 
Krämpfe  in  frühester  Jugend. 

Schulbesuch,  Pubertät,  Berufswahl,  Militärver- 
hältnis, weitere  Lebensereignisse,  eheliches  Leben. 

Schädigungen  durch  Unfälle,  Überanstrengung, 
schreckhafte  Ereignisse,  Not,  körperliche  Krank- 
heiten, besonders  Infektionen  und  Intoxikationen, 
puerperale  Erkrankungen;  Angaben  über  stattge- 
habte Behandlung. 

Besondere  psychische  Eigentümlichkeiten,  Kri- 
minalität. 

Abnorme  Neigung  zum  Alkohol. 

Erste  Symptome  der  Krankheit. 

Deutlicher  Ausbruch  der  Störung. 

Art  und  Wirkung  therapeutischer  Versuche. 
O.  PsychiBoher  Zustand. 

I.  Sprache:  Nach  Prüfung  des  motorischen 
Gebietes  (Stottern,  Stammeln,  Paresen,  Zuckungen, 
Mitbewegungen  etc.).  Feststellungen  der  Erschei- 
nungen im  sensorischen  Gebiete  (Wortgedächtnis, 
Paraphasie,  Iterativerscheinungen  etc.). 

IL  Bewußtsein,  Selbstbewußtsein  u. 
Orientiertheit.  Genaue  Darstellung  der  Re- 
aktionen in  sprachlicher  und  physiognomischer 
Beziehung  auf  folgende  Fragen: 

1.  Wie  heißen  Sie? 

2.  Was  sind  Sie? 

8.  Wie  alt  sind  Sie  ? 


—    71     —  .   i 

4.  Wo  sind  Sie  zu  Hause?  l 

5.  Welches  Jahr  haben  wir  jetzt?  ] 

6.  Welchen  Monat  haben  wir  jetzt?  : 

7.  Welchen  Tag   im  Monat  haben  wir  heut?  ! 

8.  Welchen  Wochentag  haben  wir  heut? 

9.  Wie  lange  sind  Sie  hier?  > 

10.  In  welcher  Stadt  sind  Sie?  '<\ 

11.  In  was  für  einem  Hause  sind  Sie?  i 

12.  Wer  hat  Sie  hierher  gebracht?  ^ 

13.  Wer  sind  die  Leute  in  diesem  Hause?  j 

14.  Wer  bin  ich?  j 

15.  Wo  waren  Sie  vor  acht  Tagen?  ■ 

16.  Wo  waren  Sie  vor  einem  Monat?  j 

17.  Wo  waren  Sie  vorige  Weihnachten?  i 

18.  Sind  Sie  traurig?  i 

19.  Sind  Sie  krank? 

20.  Werden  Sie  verfolgt?  ] 

21.  Werden  Sie  verspottet?  ^ 

22.  Hören  Sie  schimpfende  Stimmen?  t 

23.  Sehen  Sie  schreckliche  Gestalten?  ! 

24.  Warum  frage  ich  Sie  dies  alles?  \ 

III.  Gedächtnis:  Fähigkeit  der  Reproduk-  : 
tion  a)  für  längst  Erlebtes,  b)  für  jüngst  Ver-  ! 
gangenes.  Gedächtnislücken  ;  Fähigkeit,  neue  Ein-  ■ 
drücke  zu  merken.  i 

IV.  S  c hu Ikenntnisse,  besonders  betreffend  •] 
folgende  Fragen:  ^ 

1.  Alphabet. 

2.  Zahlenreihe.  ; 

3.  Monatsnamen.  i 

4.  Wochentage.  1 

5.  Vater  unser.  ^ 

6.  Zehn  Gebote. 

7.  Deutschland,  Deutschland  über  alles.  • 

8.  Wie  heißen  die  größten  Flüsse  in  Deutsch-  > 
land  ?  i 

9.  Wie  heißen  die  Hauptgebirge  in  Deutsch- 
land? j 

10.  Wie  heißen  die  deutschen  Bundesstaaten? 

11.  Wie  heißt  die  Hauptstadt  von: 

a)  Deutschland?  l 

b)  Preußen?  > 

c)  Sachsen? 

d)  Bayern?  \ 

e)  Württemberg? 

f)  Hessen?  | 

12.  Zu  welchem  Staate  gehören  Sie?  i 

13.  Wer  führte  1870  Krieg?  ] 

14.  Wer  führte  1866  Krieg?  j 

15.  Wie  heißt  der  jetzige  deutsche  Kaiser?  \ 

16.  Wann  starb  Kaiser  Wilhelm  I.?  j 

V.  Rechenvermögen:  Genaue  Darstellung  ■] 
der  Reaktionen  in  rechnerischer  und  sonstiger  ' 
Beziehung  auf  folgende  Fragen.  ) 


Aufgabe 


T 

1X3: 

2x4 


Antwort 


Zeit       Bemerkungen 


—    72    — 


Aufgabe 

Antwort 

Zeit 

Bemerknogen 

3x    5 
4x    6 

5x    7 
6x    8 
7x    9 
8x10 
9X11 
12x13 

II. 

2+    2  =  ? 

3+    4 

4+    6 

5+    8 

8+14 
11  +  20 
14  +  26 
17  +  32 
20  +  38 
23  +  44 

III. 

3-    1  =  ? 

8—    3 
13—5 
18—    7 
29  —  10 
40—13 
51  —  16 
62  —  19 
73  —  22 
84  —  25 

IV. 

2:    1=? 

8:    2 
18:    3 
32:   4 
50:    5 
18:   6 
85:   7 
56:    8 
81:    9 
100 :  10 

(X  — 3  =  14),  X  «  ? 

(X  +  5  =  11),  X  =  ? 

(X  X  7  =  35),  X  =  ? 

(X  :   9  =     5),  X  =  ? 

VI.  Untersuchung  der  Schrift:  Schriftprobe. 
(Womöglich  Name,  Heimat,  Geburtstag,  Stand.) 
Auffallende  Merkmale  der  Schrift,  u.  a.  Beschaffen- 
heit der  einzelnen  Buchstaben  (z.  B.  Zittererschei- 
nungen), Verbindung  derselben  zu  Worten,  z.  B. 
Auslassungen  von  13uchstaben;  Verbindung  von 
Sätzen,  z.  B.  Fehlen  des  grammatikalischen  Zu- 
sammenhanges, Umstellungen. 

VII.  Sinnestäuschungen.  Verursachung 
durch    äußere    Eindrücke    oder    Keizzustünde    im 


—     73     — 

Nervensystem.  Bezeichnung  des  oder  der  Sinnes- 
gebiete. Konstanter  oder  wechselnder  Charakter 
der  Sinnestäuschungen.  Beziehung  zur  Vorstellungs- 
bildung. Elementare  Sinnestäuschungen.  Gedanken- 
lautwerden. 

VIII.  Wahnideen.  Vorsichtige  Prüfung,  ob 
Wahnbildung  überhaupt  vorliegt,  besonders  bei 
Klagen  über  Zurücksetzung ;  Eifersuchtsideen  u.  a. ; 
Qualität  der  Wahnbildung;  Verfoigungs-  u.  Größen- 
wahn; konstanter  oder  wechselnder  Charakter  der 
Wahnbildung;  Art  der  Verknüpfung  der  Ideen; 
Beeinflussung  durch  Stimmungen. 

IX.  Beeinflußbarkeit.  Einfluß  von  psy- 
chischen Momenten,  besonders  Beeinflussung  durch 
Vorstellungen. 

Suggestibilität  im  Gebiet  der  Muskelzustände. 

X.  Associationen.  Associative  Verknüp- 
fung in  den  spontanen  Äußerungen  des  Kranken. 
Prüfung  der  Reaktionen  auf  zugerufene  Seizworte. 

XI.  Urteilsvermögen.  Mangelhafte  Be- 
urteilung der  Umgebung,  Mangel  an  Selbstkritik, 
Mangel  an  Urteil  in  geschäftlichen  Angelegenheiten, 
Zeichen  von  Schwachsinn. 

XII.  Stimmungsanomalien.  Qualität  der 
Stimmung,  innere  und  äußere  Ursachen  derselben, 
Konstanz  oder  Wechsel  der  Stimmung,  physioguo- 
mischer  Ausdruck  der  Stimmung,  sonstige  körper- 
liche Begleiterscheinungen,  z.  B.  bei  Angst.  Ein- 
fluß auf  den  Vorstellungsablauf. 

XIII.  Störung  des  Willens.  Unterschei- 
dung der  psychomotorischen  von  den  unwillkürlichen 
Muskelspannungen.  Erreglichkeit  der  motorischen 
Sphäre,  Ausdauer  der  Innervationen,  Katalepsie, 
Negativismus,  Stereotypie  von  Haltungen  und  Be- 
wegungen. Beziehung  auf  bestimmte  Vorstellungs- 
komplexe. Abnorme  Richtungen  des  Wollens :  Per- 
versitäten. 

XIV.  Zwang  s  vors  t  eilungen.  Art  der 
zwangsmäßig  auftretenden  Antriebe.  Einfache  An- 
triebe bei  Tic  convulsif,  Zwangsbewegungen.  Zwangs- 
handlungen besonders  im  sprachlichen  Gebiet, 
zwangsmäßig  auftretende  Ideen.  Reaktion  des  Be- 
wußtseins auf  die  Zwangsimpulse,  subjektives  Ge- 
fühl des  Zwanges  bei  „Zwangsvorstellungen"  im 
engeren  Sinne.  Beziehung  derselben  zur  sozialen 
Umgebung. 

XV.  Soziales  Verhalten.  Unreinlichkeit, 
Störung  der  Umgebung  durch  Schreien  u.  s.  f.,  ag- 
gressives Verhalten,  Gemeingefährlichkeit. 

D.  Besondere  Wahrnehmungen. 
E.   Wesentliche  Symptome. 
(Unter  Hinweis   auf   obigen  Befund)  Diagnose 
mit  bestimmter  Äußerung,    ob    Geisteskrank- 
heit vorliegt. 

F.  Bisherige  Behandlung. 
Q.  Indikation  der  Anstaltsbehandlung. 
Durch  welche  Momente  ist  die  Indikation  zur 
Anstaltsbehandlung    auch    gegen    den    Willen    des 
Kranken  gegeben? 

Ort  und  Zeit:  Untersuchender  Arzt: 


-     74    — 
Nochmals  das  „Ferngefühl"  (Fernempfindung)  als  Hautsinn. 

Von  M.  Kunz. 

Nachdem  auch  die  Herren  Dr.  Krogius  und  Dr.  Woeliflin,  früher 
Augenarzt  am  kgl.  Central-Blindeninstitut  in  München  und  zur  Zeit  Do- 
zent der  Augenheilkunde  an  der  Universität  Basel,  genügend  nachgewiesen 
haben,  daß  es  sich  beim  „Ferngefühl"  nur  um  Hautsinn  handeln  kann, 
nachdem  ferner  Herr  Truschel,  zuerst  in  den  „Kinderfehlern"  (Aug.  1908)  und 
seither  in  der  Exper.  Pädagogik  die  Existenz  eines  taktilen  und  ther- 
mischen Ferngefühls  zugegeben  hat  und  diese  nie  bestritten  haben 
will  (!),  steht  meines  Erachtens  nur  noch  die  Frage  zur  Erörterung, 
welcher  Hautsinn  allein  oder  wesentlich  in  Betracht  komme,  der 
Dracksinn  allein,  der  Temperatursinn  allein,  beide  zusammen,  oder  end- 
lich, wie  Dr.  Woelfflin  gestützt  auf  bestimmte  Beobachtungen  vermutet, 
eine  Hautempfindung  für  Strahlungen  anderer  Art.  (Zeitschrift  für  Sinnes- 
physiologie 1908  V.  Prof.  Dr.  Nagel).  Dr.  Krogius  schreibt  alles  der  Wärme- 
strahlung zu,  obwohl  er  bei  seinen  (fernfühligen)  Blinden  durchschnittlich 
feineres  Druckgefühl  gefunden  hat,  als  beiden  wohl  nicht  fernfühligen 
Sehenden;  nach  meiner  Ansicht,  die  durch  neue  Versuche  mit  Blinden 
und  Sehenden  nur  befestigt  worden  ist,  beruht  das  Ferngefühl  in  erster 
Linie  auf  dem  Drucksinn,  in  zweiter  auf  dem  Temperatursinn,  falls 
sich  nicht  Dr.  WoelfFlins  Annahme  schließlich  als  richtig  erweist.  Er 
schließt  auch  den  Temperatursinn  aus,  will  sich  aber  ein  endgültiges 
Urteil  über  den  Drucksinn  bis  zum  Abschluß  seiner  diesbezüglichen  Ver- 
suche vorbehalten;  immerhin  anerkennt  er,  daß  ich  eine  auffallende  Pro- 
portionalität zwischen  Drucksinn  und  Ferngefühl  gefunden  habe.  Auch 
hat  er  zwei  pockennarbige  Blinde  entdeckt,  die  sich  durch  besonders 
feines  Ferngefühl  auszeichnen.  Dies  stützt,  wie  neue  „Funde"  hier  in 
der  Nähe,  meine  Ansicht,  daß  gewisse  Erblindungsursachen,  nicht  aber 
die  Blindheit  selbst,  diese  Hautsensibilität  erzeugen.  Da  eine  neue  Ar- 
beit Dr.  Woelff  lins  bald  druckfertig  ist,  werden  wir  nächstens  mehr  darüber 
erfahren.  Unter  allen  Umständen  betrachtet  also  auch  Dr.  Woelftlin 
die  Haut  als  empfindendes  Organ. 

Die  Hautsinne  werden  aber  im  allgemeinen  Sprachgebrauch  (nicht 
in  der  Psychologie)  unter  dem  Ausdruck  Gefühl  zusammengefaßt.  Es 
entspricht  dies  der  ursprünglichen  Bedeutung  von  „fühlen",  d.  h.  tasten 
mit  der  Hand.  Die  Germanisten  Moritz  Heyne  und  Kluge  führten  dies  auf  die 
germanische  Wurzel  fol  zurück,  die  wohl  mit  vola  und  dem  französischen 
voler  (in  der  Hand  verschwinden  lassen,  d.  h.  stehlen)  verwandt  ist. 
Auch  der  Physiologe  Prof.  Dr.  Zoth  redet  im  Lexikon  des  Blinden- 
wesens  von  Wärme-  und  Kältegefühl,  wie  dort  m.  W.  auch  ein  Augen- 


—     75     — 

arzt  über  das  „Ferngefühl"  geschrieben  hat.  Ich  habe  den  Ausdruck 
nicht  geprägt.  Durch  das  Lexikon  hat  er  aber  in  unseren  Kreisen  all- 
gemeinen Kurs  erhalten.  Daß  ich  darunter  nur  eine  Hautempfin- 
dung verstehe,  ist  gesagt  worden.  Die  Bezeichnung  dieser  Empfindung 
durch  „Fernsinn"  halte  ich  für  verfehlt.  „Fernsinne  sind  alle  die- 
jenigen Sinne,  vsrelche  uns  Fern  Wahrnehmungen  ermög- 
lichen. Am  weitesten  trägt  das  Gesicht,  dann  das  Grehör,  dann  der 
Geruchsinn.  Die  Hautsinne  kommen  als  Fernsinne  erst  in  letzter 
Linie  in  Betracht,  weil  ihre  Tragweite  ja  sehr  klein  ist.  Warum 
sollen  denn  gerade  diese  —  und  ausschließlich  diese  —  Haut- 
sinne, einzeln  oder  zusammen,  „Fernsinn"  heißen?  Im  Lexikon  des 
Blindenwesens  werden  alle  Fernsinne  des  Blinden,  Gehör,  Geruch  und 
Ferngefühl  (Hautsinn)  unter  dem  Namen  „Fernsinn"  zusammengefaßt. 
Er  erscheint  dort  also  als  Summe  der  Fernsinne.  Um  Verwechs- 
lungen des  Ganzen  mit  dem  Teil,  d.  h.  mit  dem  eigentlichen  Ferngefühl, 
das  von  manchen  auch  „Fernsinn"  genannt  wird,  zu  vermeiden,  habe  ich 
dafür  den  Ausdruck  Ostentierungsvermögen  oder  Orientation  gewählt. 
Solche  Verwechslungen  und  „Unklarheiten",  auf  die  Dr.  Heller- Wien  in 
Hamburg  gerne  ein  anderes  Wort  gereimt  hätte,  schaffen  nur  Verwir- 
rung, besonders  in  Laienkreisen,  in  welche  sie  durch  die  Tagespresse 
gelangen.  Man  dichtet  dort  den  Blinden  zu  ihrem  Schaden  Kräfte  an, 
welche  sie  nicht  besitzen. 

Dasselbe  gilt  von  der  wohl  noch  unzutreffenderen  Bezeichnung  „6ter 
Sinn",  oder  gar  „x-Sinn".  Man  hat  mir  nun  an  anderer  Stelle  des  be- 
treff'enden  Heftes  entgegengehalten,  daß  gerade  ein  Arzt  wie  Javal  be- 
sonders zur  Verbreitung  des  Ausdrucks  „sixieme  sens"  (sechster  Sinn) 
beigetragen  habe".  Dies  ist  leider  wahr.  Prof.  Javal,  den  ich  persönlich 
kannte  und  hoch  schätzte,  interessierte  sich  für  die  Frage  des  „sixieme 
sens"  erst  nach  seiner  Erblindung,  besonders  als  er  diesen  „sens", 
der  ja  bisher  jedem  Blinden  angedichtet  wurde,  an  sich  nicht 
spürte.  Als  Blinder  hat  er  auch  nicht  selbst  experimentiert,  sondern 
sich  auf  das  Studium  der  einschlägigen  Litteratur  und  eine  Umfrage  bei 
blinden  Laien  beschränkt,  welche  ihm  nur  ihre  subjektiven  Ansichten 
mitteilen  konnten  und  wohl  in  vielen  Fällen  auch  ihr  ganzes  Orien- 
tierungsvermögen mit  dem  eigentlichen  Ferngef ühl ,  das  Ganze 
mit  dem  Teil,  verwechselten.  Auch  Dr.  Woelfflin  weist  darauf 
hin.  Javal  schrieb  übrigens  den  Ausdruck  „sixieme  sens",  wie  er  im 
ersten  Satze  dieses  Kapitels  selbst  sagt,  nur  zagend  oder  zögernd 
nieder,  offenbar,  weil  er  selbst  nicht  daran  glaubte,  aber  in  der  franzö- 
sischen Sprache  nichts  Besseres  fand.  Auch  verstand  er  darunter,  wie 
aus    dem    folgenden    Satze    hervorgeht,    nicht    das,    was    wir   mit  Mells 


—    76    — 

Lexikon  „Ferngefühl"  nennen,  sondern  die  ganze  Orientation. 
Dieser  Satz  lautet:  „Ce  n'est  pas  sans  appre-hension  que  j'ai  inscrit  les 
mots  „sixieme  sens"  en  tete  de  ce  chapitre,  car  il  est  fort  possible  que 
les  faits  dont  il  va  etre  question.  soient  justiciables  de  l'emjÄoi  des  cinq  sens". 
Wenn  die  5  Sinne  nach  seiner  Meinung  zusammen  wirken  können, 
handelt  es  sich  für  ihn  also  nicht  um  das  Femgefühl  allein.  An  einen 
besonderen,  ,,neuen",  ^sechsten"  Sinn  hat  er  also  nicht  geglaubt.  Daß 
nur  Berufsphysiologen  das  Problem  endgültig  lösen  werden,  gebe  ich 
Herrn  Truschel  gerne  zu.  Warum  hat  er  dann  aber  diese  physiolo- 
gische Frage  in  einer  pädagogischen  Zeitschrift  erörtert ?  Warum 
hat  e r  ferner  an  so  vielen  Stellen  kategorisch  behauptet,  es 
gelöst  zu  haben?  Ist  er,  der  als  junger  Seminarabiturient  ca.  2^/2 
Jahre  lang  Blindenlehrer  war  und  dann  zur  Volksschule  überging,  als 
er  die  Dienstprüfung  bestanden  hatte,  wirklich  dieser  „weisere,  ver- 
sprochene Mann",  dieser  Berufsphysiologe?  Lesen  wir  doch  unter  seinem 
Namen  im  III.  Bande,  Heft  3  u.  4  dieser  Zeitschrift :  (Ich  folge  dem  Se- 
paratabdruck). 

1.  S.  126:  „Ich  beanspruche  deshalb  für  die  vorstehenden  Aus- 
führungen vorläufig  nur  bewiesen  zu  haben  etc." 

2.  S.  128:  „Hautreize,  soweit  sie  durch  eine  Binde  ausgeschaltet 
werden  können,  sind  an  den  x-Empfindungen  nicht  beteiligt"; 

3.  S.  130 :  Nach  Ausschluß  der  taktilen  kalorischen  und 
visuellen  Reize  kommen  nur  noch  Gehörreize  in  Betracht" ; 

4.  S.  139 :  „Der  Annäherungsluftstrom  i  s  t  an  den  x-W eilen  nicht 
beteiligt" ; 

5.  141:  „Reflektierte  Schallwellen  sind  der  hauptsächlichste  Reiz- 
faktor der  X-Empfindungen"; 

5.  S.  148:  „Damit  ist  der  Nachweis  gelungen,  daß  auch 
die  angeblich  „andern  Reize" ,  die  nur  auf  ganz  geringe  Entfernung 
wirken,  au8Scblies»Ueh  reflektierte  Schallwellen  sind";  (Man 
beachte  „auch"  und  „sind"). 

6.  S.  149:  „Der  sogenannte  sechste  Sinn  der  Blinden 
beruht  ausschließlich  auf  der  Erregung  der  Grehörsor- 
gane  durch  reflektierte  Schallwellen"!  (Anmerkung:  Die 
man  mit  der  Haut  wahrnimmt!) 

7.  S.  153 :  . . .  „(ich)  wiederhole  nur  die  Feststellung:  „Ver- 
änderungen in  der  Tonhöhe  sind  das  Hauptkriterium  für  die  x-Emp- 
findungen etc."" 

8.  S.  157:  „Von  einem  allgemeinen  Hautsinn  kann  aelbstver- 
ständlich  nicht  mehr  die  Rede  sein,  da  die  Haut  an  den  x-Empfin- 
dungen nicht  beteiligt  ist". 


—    77     — 

Wie  paßt  nun  dazu  die  später  (Kinderfehler  u.  Exp.  Pädag.)  erfolgte 
Anerkennung  zunächst  eines  taktilen  und  dann  auch  eines  ther- 
mischen Ferngefühls,  dessen  Existenz  er  nie  bestritten  haben 
will  ?  (! !)  Wie  paßt  ferner  die  später  wieder  erfolgte  Behauptung,  daß 
er  seinen  Standpunkt  nicht  gewechselt  habe?  Nachdem  den  Blinden 
(allerdings  nicht  allen)  so  das  taktil-thermische  Ferngefühl  ge- 
stattet ist,  hätten  sie  für  sein  x-II  überhaupt  keine  Verwendung  mehr ! 
Sein  x-I  heißt  bei  andern  Leuten  Grehör. 

In  Hamburg  und  in  seinem  „Bericht"  über  den  Hamburger  Blinden- 
lehrerkongreß in  der  Exper.  Pädagogik,  in  welchem  der  Nichtblindenlehrer 
Truschel  nur  ca.  ^/s  des  Raumes  seiner  Person  widmet,  hat  er  dann  verschie- 
dene der  obigen  Behauptungen  in  beleidigender  Form  einfach  bestritten 
und  auch  im  „Bericht"  Behauptungen  aufgestellt,  die  völlig  „unzutref- 
fend" sind.  Ich  verweise  auf  meine  Antwort  im  Hamburger  Kongreßbericht. 
H.  Truschel  polemisierte  in  Hamburg,  allerdings  unter  dem  Vorwande  zu 
Herrn  Dr.  Fischers  Vortrag  (Vortrag  über  die  Raumvorstellungen  der 
Blinden)  zu  sprechen,  schon  gegen  mich,  ehe  ich  als  Referent  ein 
Wort  gesagt  hatte.  Seinen  Ausführungen  schrieb  er  dann  in  der 
Exp.  Pädag.  folgende  Wirkung  zu: 

„Durch  die  unmittelbar  vorausgehenden  Ausführungen  (Truschels)  und 
namentlich  den  Hinweis  auf  das  hinfällige  Fundament  seiner  Arbeit 
veranlaßt,  begnügte  sich  der  Vortragende  (Kunz)  mit  einer  kurzen 
Darstellung  der  Hauptergebnisse  seiner  Untersuchungen,  deren  leitende 
Gedanken  mit  den  Thesen  in  das  Kongreßprogramm  aufgenommen  worden 
waren". 

Dieser  Behauptung  widerspricht,  wie  Herr  Truschel  selbst  weiß,  den 
Tatsachen.  Ich  hatte  seine  Ausführungen  beinahe  ganz  überhört, 
weil  ich  während  desselben  im  Seitenschiffe  des  Saales  stand,  war  also 
nicht  darüber  erschrocken,  sondern  nur  über  die  sonderbare  Handlungs- 
weise erstaunt. 

Dann  hätte  mir  doch  die  Zeit  gefehlt,  um  nach  seinen  unmittel- 
bar vorausgehenden  Äußerungen  meinen  Vortrag  nochmals  umzu- 
arbeiten! Endlich  fühlte  ich  das  Fundament  meiner  Arbeit  durch  seine 
Behauptungen  so  wenig  erschüttert,  daß  ich  dieselben  völlig  ver- 
gaß und  deshalb  in  meiner  „Antwort"  mit  Stillschweigen  überging.  Mit 
seiner  Behauptung  ist  es  also,  wie  schon  oft,  nichts. 

„Die  Raumschwellenmessungen  Griesbachs  bildeten  das  Hauptfunda- 
ment meiner  früheren  Arbeit  „Zur  Blindenphysiologie".  Daß  dieselben 
für  die  Frage  des  Ferngefühls  bedeutungslos  waren,  habe  ich  auf  Seite 
161  meiner  ersten  Arbeit  über  ^Orientierungsvermögen  und  Ferngefühl" 
gesagt.     Sie  haben  mich  aber,  wie  auf  derselben  Seite  zu  lesen  ist  (auch 


-     78    — 

Jubiläumsbuche  Seite  328),  zur  Prüfung  des  Drucksinns  geführt. 
Diese  Prüfung  hat  nun  ergeben,  daß  der  Drucksinn,  das  intensive 
Empfinden,  mit  dem  eigentlichen  Tastvermögen,  dem  extensiven 
Empfinden  (Raumschwellen),  nicht  nur  nicht  im  Zusammenhang 
steht,  sondern  demselben  umgekehrt  proportional  zu  sein 
scheint. 

Diejenigen  Hautstellen  (ich  habe  bei  rund  40  Personen  je  20  Haut- 
stellen geprüft),  welche  von  Natur  kleine  Raum  schwellen,  also  relativ 
feines  Getast  aufweisen,  wie  Lippen  und  Fingerspitzen,  sind  für 
Druck  hart  fühlig;  diejenigen  dagegen,  welche  von  Natur  große 
Raumschwellen,  also  schlechten  Tastsinn  zeigen,  wie  Stirn  und  Wangen, 
erweisen  sich  als  für  Druck  sehr  feinfühlig.  Die  Raumschwellen 
der  Fingerspitzen  schwanken  bei  Vollsinnigen  und  Taubstummen  zwischen 
1  und  2  mm.  Sie  steigen  nur  an  der  abgestumpften  Lesefinger  spitze 
der  Blinden  bis  auf  3  mm.  Auf  der  Stirn  dagegen  betragen  die  Schwellen- 
längen 5 — 10  mm. 

Für  Druck  sind  die  Hände,  besonders  die  Fingerspitzen,  100  bis 
mehr  als  500  mal  hart  fühliger  als  die  Stirn.  Femfühlige  Personen 
spürten  auf  der  Stirn,  die  noch  viel  weniger  druckempfindlich  ist  als 
die  innere  Ohrmuschel  und  besonders  das  freiflattemde  Trommelfell, 
regelmäßig  einen  Druck  von  1  Milligramm  (ohne  daß  Druckpunkte  ge- 
sucht wurden),  während  für  ihre  Fingerspitzen  100 — 500  und  mehr  IVIilli- 
gramm  erforderlich  waren!     (Zu  vergleichen  meine  Drucktabellen  1—8). 

Dr.  Krogius,  der  (nach  Herrn  Truschel)  die  Ergebnisse  Griesbachs 
umgestoßen  haben  soll,  hat  keineRaumschwellen,  sondern  nur  den 
Drucksinn  von  20  Personen  an  je  2  Hautstellen  geprüft;  Griesbach  da- 
gegen hat  keine  Druckversuche  vorgenommen,  aber  bei  98  Personen 
an  je  7  Hauptstellen  die  Raumschwellen  im  Zustand  der  Ruhe  und 
nach  leiblicher  und  geistiger  Ermüdung  gemessen.  Ersterer  hat 
das  intensive,  letzterer  das  extensive  Empfinden  geprüft. 

Die  Forschungen  beider  bewegten  sich  also  auf  ganz  verschie- 
denen Gebieten.  Ihre  Ergebnisse  konnten  einander  weder 
nützen  noch  schaden! 

Griesbachs  Ergebnisse  sind  also  weder  durch  Dr.  Krogius,  noch 
durch  Truschel  erschüttert  worden.  Aber  selbst  wenn  dies  der  Fall 
wäre,  so  hätte  es  für  die  uns  beschäftigende  Frage  keine  Bedeutung, 
weil  sich  meine  Schlüsse  auf  eigene  Versuche  stützen.  Da  Herr  Tru- 
schel von  dem  durch  ihn  erschütterten  Fundament  meiner  Arbeit 
spricht,  wird  es  mir  gestattet  sein,  das  Fundament  seiner  Behaup- 
tungen etwas  näher  anzusehen.  Seine  Schlüsse  stützen  sich  wesentlich 
auf  Gehbeobachtungen,  die  er  zwischen  1901  und  1903  in  unserem 


—    79    — 

Garten,  also  in  einem  Gebiete,  welches  die  Blinden  genau  kannten,  ge- 
macht haben  will.  Er  behauptet  (Band  III,  S.  136),  daß  beim  Gehen 
neben  schräg  zur  Ganglinie  stehenden  Wänden,  die  ersten  Wahrneh- 
mungen „ausschließlich"  „erst  erfolgten,  nachdem  die  Blinden  der 
Reflexionsfläche  rechtwinklig  gegenübergetreten  waren,  d.  h.  erst  dann^ 
wenn  die  von  ihrem  Standort  an  die  Fläche  gezogene  Linie  mit  deren 
Breitenachse  (soll  wohl  heißen  Längenachse)  annähernd  einen  rechten 
Winkel  bildete''.  Daß  dies  nicht  zutrifft,  sondern  daß  die  ersten 
und  letzten  Wahrnehmungen  fast  immer,  bei  der  letzten  Versuchsreihe 
mit  besserer  Einrichtung  überhaupt  immer,  z.  T.  weit  vor  diesem 
Punkt  und  auch  weit  hinter  dem  letzten  möglieben  Lot  auf  die  Wand 
erfolgten,  daß  somit  der  angeblich  rechte  Winkel  bis  auf  30"  ein- 
schrumpft, haben  wir  durch  zahlreiche  Versuche  mit  entsprechender 
Einrichtung  u.  z.  T.  mit  seinen  eigenen  Versuchspersonen,  immer  vor 
Augenzeugen,  genügend  nachgewiesen.  Ich  verweise  auf  das  Internat. 
Archiv  für  Schulhygiene,  Band  IV,  S.  102 — 128  und  auf  das  Jubiläums- 
buch der  Anstalt,  Folioseitn  295 — 310. 

Aus  dieser  Feststellung  konstruiert  dann  Truschel  den  Satz  (Exper. 
Pädag.  Bd.  VII  S.  99),  Kunz  habe  behauptet:  „Nie  sei  bei  diesen  Ver- 
suchen eine  Wahrnehmung  an  dem  Punkt  erfolgt,  an  dem  reflektierte 
Schallwellen  hätten  wirken  müssen". 

Ich  habe  aber  nur  gesagt,  daß  sie  nicht  da  erfolgten,  wo  sie  nach 
Truschels  Behauptung  ausnahmslos  erfolgt  sein  sollten  und  wo  sie 
nach  seiner  Theorie  erfolgen  müßten.  —  Er  verdreht  also 
meine  Worte.  Und  doch  erlaubt  sich  derselbe  Herr  auf  S.  101  die  Be- 
merkung: „Und  was  er  (Kunz)  als  Ergebnis  der  Untersuchungen  T.s 
bezeichnet,  ist  sehr  oft  das  Gegenteil  von  dem,  was  T.  in  Wirklichkeit 
behauptet  hat*.(!!)  Das  Urteil  über  solche  Kunststücke  überlasse  ich 
dem  Leser. 

H.  Truschels  Gehversuche  halte  ich  für  wertlos,  sein  Fundament  ist. 
hinfällig  aus  folgenden  Gründen: 

1.  H.  Truschel  lief  nach  seinen  Angaben  unmittelbar  hinter  deu 
Blinden  her,  weil  diese  auf  dem  Rasen  keine  gerade  Ganglinie  einhalten, 
konnten.  Wenn  wir  auch  annehmen  wollen,  daß  er  sie  in  keiner  Weise 
beeinflußt  habe,  so  konnte  er  doch  nie  wissen,  ob  die  Versuchsper- 
sonen die  von  ihnen  selbst,  oder  aber  die  von  ihrem  Begleiter 
ausgehenden  Wellen  irgend  welcher  Art  spürten. 

2.  Da  ich  von  diesen  diskreten  Versuchen  nichts  wußte,  fehlte  die 
erforderliche  Einrichtung. 

3.  Furcht  vor  Entdeckung  durch  die  Kollegen,  die  aUe  intern  sind^ 
mag  die  „Versuche"  auch  zuweilen  etwas  beschleunigt  haben.  So  erkläre 
ich  mir  wenigstens  teilweise  das  völlig  falsche  Ergebnis. 


—    80    —  \ 

Als  teils  falsch,  teils  einseitig  hat  auch  ein  ärztlicher  Forscher  auf. 
diesem  Gebiete  die  Versuche  bezeichnet. 

Wir  haben  die  Versuche  mit  einer  größeren  Zahl  von  Blinden  auf  i 
unbekanntenGebi'eten,  immer  vor  Augenzeugen,  mit  zweckdienlicher  j 
Einrichtung  gemacht.  Die  Blinden  wurden  nicht  begleitet,  sondern i 
gingen  allein  an  straff  gespannten  Seilen.  Wir  traten  erst  hinzu,  wenn 
sie  die  Wahrnehmung  der  dort  aufgestellten  Bretterwände  markierten. 
(Näheres  darüber  in  meiner  früheren  Schrift  im  Internat.  Archiv  und  im^ 
Jubiläumsbucb). 

Völlig  falsch  ist  femer  Truschels  Behauptung,  daß  bei  absoluter  j 
Stille  nie  Wahrnehmungen  erfolgen.  In  Wirklichkeit  ist  es,  wie  jeder] 
femfühlige  Blinde  weiß,  gerade  umgekehrt. 

Die  Versuche  im  nächtlichen  Zimmer,  die  mit  einigen  Blinden  — ; 
viele  können  es  nicht  gewesen  sein  —  vorgenommen  worden  sein  sollen,^ 
haben  in  meinen  Augen  keinen  Wert  aus  folgenden  Gründen:  : 

Das  Zimmer  war  viel  zu  klein.  Die  Versuchsperson  stand  ein  bis; 
höchstens  2  Meter  von  den  Wänden  entfernt.  Der  Experimentator! 
stand  neben  ihr  und  führte  die  kleinen  Gegenstände  (Buch,  Hut  etc.)  mit 
der  Hand  vor  das  Gesicht.  Was  spürten  nun  die  Blinden?  Die  kleinen; 
Gegenstände,  den  Arm  oder  die  ganze  Person  des  Experimentators,- 
oder  vielleicht  die  viel  größeren  Wände?  Der  Einfluß  der  Größe: 
der  Objekte  ist  ja  bekannt.  Deshalb  haben  wir  immer  im  größten  ver-; 
fügbaren  Eaume  (Turnsaal,  Versamndungssaal)  experimentiert  und  diei 
Objekte  (Filz-,  Glas-,  Holzplatten)  mit  einer  dünnen  Stange  in  die  Nähe^ 
der  Köpfe  der  Versuchspersonen  gebracht.  Der  Experimentator  nähertei 
sich  ihnen  höchstens  auf  2  Meter.  Dr.  Woelfflin  experimentiert  z.  Z.j 
im  größten  Saale  (Musiksaal)  Basels,  weil  ihm  ein  sehr  großer  Raum,; 
den  er  früher  benutzte,  noch  zu  eng  vorkam.  Allerdings  läßt  er  diej 
Versuchspersonen  gegen  1  qm  große  Platten  gehen,  statt  ihnen  diese ^ 
langsam  zu  nähern.  Beim  Gehen  gegen  größere  Hindemisse  (Zimmer-: 
wände,  belaubte  Bäume  etc.)  wirken  diese  großen  Objekte  allerdings  vielj 
weiter,  als  wenn  man  kleinere  Gegenstände  den  Köpfen  langsam  nähert. 
Dies  haben  auch  unsere  Gehversuche  bei  Bäumen  gezeigt.  Wir  haben  j 
Wahrnehmung  belaubter  Bäume  an  7 — 12  Meter  verzeichnet  (Internat.; 
Archiv,  Jubiläumsbuch).  I 

Unter  allen  Umständen  fühlte  ich  in  Hamburg  nicht  mein  Fun- 
dament wankend  oder  gar  hinfällig  werden,  wohl  aber  ein  anderes. 

Truschel  wirft  mir  im  „Berichte"  über  den  Hamburger  Kongreß' 
falsche  Zitate  vor.  Ich  habe  in  meiner  Antwort  (s.  amtlicher  Kongreß-^ 
bericht)  Punkt  für  Punkt  nachgewiesen,  daß  diese  Behauptung  völlig  den  Tat-j 
Sachen  widerspricht.  Dagegen  habe  ich  dort  auch  gezeigt,  wie  Herr  Truschel« 


—    81    — 

Stellen  zitiert,  die  ihm  nicht  recht  passen.  So  führt  er  S.  113  nach  Javal  die 
Aussage  eines  „Dritten"  an,  welcher  glaubt,  diese  Empfindung  (das  Fernge- 
fühl) sei  eher  taktil  als  akustisch.  Es  paßt  ihm  aber  natürlich  nicht  zu 
sagen,  daß  dieser  „Dritte"  ein  erblindeter  Arzt  war,  der  an  einem 
Ohr  auch  das  Grehör  fast  vollständig  verloren  hatte,  ob- 
gleich beide  Trommelfelle  normal  waren,  und  der  doch  die  Gegenstände 
auf  beiden  Seiten  ganz  gleich  wahrnahm!  Aus  dieser  Tat- 
sache hatte  der  betreffende  Arzt  den  Schluß  gezogen,  daß  le  „sens  des 
obstacles",  das  Ferngefühl,  eher  taktiler  als  akustischer  Natur  sein 
müsse.  Das  paßte  natürlich  nicht  zur  Schall  well  enhypothese !  So  zitiert 
er!  Javal  hatte  diese  Mitteilung  dem  Buche  des  Engländers  William 
James  entnommen,  der  den  betreffenden  Arzt  kannte.  —  Dies  beweist 
zugleich  auch,  daß  die  Schallwellenhypothese,  wie  auch  Woelfflin  betont, 
nicht  neu  und  die  Hautsinntheorie  nicht  „alt"  ist,  wie  Herr  Truschel 
immer  behauptet.  Allerdings  habe  ich  sie  nicht  „erfunden^.  Die  Schall- 
hypothese scheint  in  England  entstanden,  dort  aber  auch  völlig  aufge- 
geben zu  sein,  wenn  der  Bericht  des  Blindenfreundes  über  den  Kongreß 
in  Manchester,  wo  diese  Frage  zur  Erörterung  kam,  richtig  ist.  Kein 
Redner  soll  sich  für  dieselbe  ausgesprochen  haben,  so  wenig  als  in  Ham- 
burg (außer  Truschel).  Sie  war  einfach  eine  Folge  der  Verwechslung 
des  Ferngefühls  mit  dem  ganzen  Orientierungsvermögen  (Femsinn), 
bei  welchem  das  Gehör  als  solches  die  Hauptrolle  spielt,  während 
das  Ferngefühl  von  untergeordneter  Bedeutung  ist.  Blinde  ohne  Fern- 
gefühl orientieren  sich  oft  viel  besser  als  andere. 

Herr  Truschel  hat  auch  geschrieben:  „Herr  Kunz  unterschiebt  mir 
femer  die  Ansicht,  ein  starker  Wind  sei  diesen  zarten  Schallwellen  ge- 
genüber macht-  und  harmlos.  Und  ähnliche  Bemerkungen  finden  sich 
bei  Kunz  an  vielen  anderen  Stellen.  Ich  habe  aber  geschrieben  S.  124: 
„Ein  heftiger  geräuschvoller  Windstoß  muß  die  sehr  schwachen  X-Reize 
übertäuben". 

Eine  ähnliche  Stelle  wie  die  letzte  finden  wir  auf  der  unteren 
Hälfte  der  S.  124  des  III.  Bandes.  Ich  hatte  sie  nicht  übersehen.  Zehn 
Zeilen  weiter  unten  folgt  dann  aber  das  Schlußergebnis  seiner  Wind- 
forschung ,  und  dieses  lautet :  „Den  günstig  wirkenden,  d.  h. 
dickeren  und  näher  stehenden  Objekten  gegenüber  kamen 
übrigens,  wie  Tabelle  A  zeigt,  „Fehler"  auch  bei  starkem 
Wind  so  selten  vor,  daß  von  einem  wesentliehen  Einfluß  des 
Windes  schon  aus  diesem  Grunde  keineRede  sein  könnte". 

Gestützt  auf  dieses  Schlußergebnis  Truschels  habe  ich  ge- 
schrieben : 

„Dem  Winde  will   Truschel  „keinen   wesentlichen"  Einfluß 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  6 


—    82    — 

auf  die  Oritation  zugestehen  (als  Prüfung  des  eigentlichen  Ferngefühls 
betrachte  ich  Gehversuche,  bei  denen  alle  Sinne  mitwirken  können, 
nicht).  Dieses  spricht  meines  Erachtens  mehr  gegen  seine  akustische 
Theorie  als  gegen  unsere  Annahme.  Wir  wissen,  daß  starker  Wind  die 
direkten  Schallwellen  des  lautesten  Pfiffes  oder  Rufs  bedeutend  schwächt 
und  ablenkt,  ja  sogar  eine  Flintenkugel  aus  ihrer  Bahn  bringt,  und  diesen 
„schwachen",  „zarten",  nur  „vom  Tagesgeräusch  herrührenden"  reflek- 
tierten Schallwellen  gegenüber  sollte  starker  Wind  macht-  und  harmlos 
sein  ? ! " 

Wer  findet  da  eine  Unterschiebung  von  meiner  Seite? 

Ahnlich  verhält  es  sich  mit  seiner  Behauptung,  nicht  gesagt,  d.  h. 
geschrieben  zu  haben,  „es  sind  Schallwellen".  (Man  vergleiche  Band  IV, 
S.  142.) 

Ich  könnte  noch  eine  lange  Reihe  ähnlicher  „Verwechslungen"  auf- 
zählen, will  aber,  um  den  Leser  nicht  zu  ermüden,  meine  „Antwort"  im 
amtlichen  Kongreßberichte  hier  nicht  wiederholen.  Nur  auf  einen  Punkt 
muß  ich  leider  noch  eingehen.  Da  von  Unterschiebungen  die  Rede  war, 
die  ich  begangen  haben  sollte,  bin  ich  genötigt,  noch  auf  eine  Unter- 
schiebung hinzuweisen,   deren  ich  mich  nicht  schuldig  gemacht  habe. 

Herr  Truschel  hat  sich  in  den  „Kinder fehlem"  und  in  der  Exper. 
Pädagogik  Bd.  VII  S.  107  auf  das  Stenogramm  der  Debatte  im  offi- 
ziellen Kongreßbericht  berufen^),  während  gerade  er  am  allerbesten 
und  zu  allererst,  nämlich  schon  ca.  eine  Viertelstunde  nach  Beginn 
der  Debatte,  wußte,  daß  es  ein  solches  Stenogramm  nicht 
gab  und  nicht  geben  würde!!  Über  die  Entstehung,  dieser  beim 
Kongreßpräsidium  als  Stenogramm  „eingereichten"  Redaktion,  die  zwischen 
dem  27.  Sept.  und  dem  26.  Oktober  1907  in  Straßburg  entstanden  ist, 
spricht  sich  das  Kongreßpräsidium  im  offiziellen  Berichte,  S.  175  sehr 
mild  folgendermaßen  aus: 

S.  175:  Da  der  Stenograph  den  Debattereden  des  Herrn  Truschel 
nicht  folgen  konnte,  traf  er  ohne  Wissen  des  Präsidiums  die  Vereinba- 
rung mit  dem  Redner,  daß  dieser  ihm  nach  den  Verhandlungen  seine 
Notizen  zur  Vervollständigung  des  Stenogramms  übergeben  sollte.  Dies 
ist  aber  nicht  geschehen.  Vielmehr  ist  das  Stenogramm,  wie  sich  nach- 
träglich herausgestellt  hat,  in  der  Weise  zustande  gekommen,  daß  Herr 
Truschel  selbst  die  wenigen  stenographischen  Aufzeichnungen  in  den 
auf  den  Kongreß  folgenden  Wochen  ergänzt  hat.  Daher  können  wir  für 
den  genauen  Wortlaut  der  TruscheVschen  Debattereden  nicht  einstehen. 

1)  Er  schreibt  dort:  „Es  liegt  jener  Behauptung  eben  ein  mehrfacher  Irrtum  zu 
Grunde,  der  (nach  demKongreßstenogramm)  in  der  Debatte  wie  folgt  besprochen 
wurde". 


—    83     — 

Auch  haben  wir  uns  veranlaßt  gesehen,  einige  nicht  rein  sachliche  Be- 
merkungen des  Herrn  Truschel  zu  streichen.         D.  Pr. 

Auf  Seite  181  finden  wir  dann  noch  folgende  auf  die  Sache  sich  be- 
ziehende Bemerkung  des  Präsidiums : 

S.  181 :  Von  den  Erwiderungen  des  Prof.  Kunz,  die  rein  sachlich 
gehalten  waren,  hat  der  Stenograph  so  wenig  wiedergegeben  (22  Zeilen), 
daß  wir  es  diesem  Referenten  anheimstellen  mußten,  nach  freiem  Er- 
messen Truschels  Vorwürfe,  die  sich  wesentlich  nicht  gegen  seinen  Vor- 
trag, sondern  gegen  seine  Schrift  wenden,  zurückzuweisen.  Die  Kunz* 
sehen  Entgegnungen  sind  selbstverständlich  nicht  als  ergänztes  Steno- 
gramm anzusehen  ^)  und  darum  im  Anhang  erschienen.         D.  Pr. 

Nach  einem  Briefe  des  Stenographen  an  die  Kongreßleitung  muß  die 
oben  genannte  Vereinbarung  schon  nach  der  ersten  Debattenrede 
Truschels,  die  10  Minuten  dauerte,  erfolgt  sein,  also,  wie  gesagt,  ca.  eine 
Viertelstunde  nach  Beginn^). 

Höchst  wahrscheinlich  ist  also  von  Herrn  Truschels  erster  Rede  so 
gut  wie  nichts  und  von  den  2  folgenden  garnichts  stenographiert  worden ! 
Sonderbar  ist  nur,  daß  die  „Vereinbarung"  Herrn  Truschels  mit  dem 
Stenographen  ohne  mein  Vorwissen,  vielleicht  nur  durch  letzteren,  auch 
auf  mich  ausgedehnt  worden  zu  sein  scheint.  Denn  auch  über  meine 
erste  Antwort  finden  wir  im  Bericht  nur  eine  kurze  Notiz;  die  zweite 
ist  mit  Stillschweigen  übergangen  und  am  Schlüsse  finden  wir  wieder 
einige  Zeilen,  im  Ganzen  22,  als  Stenogramm  meiner  dreimal  10  Mi- 
nuten in  Anspruch  nehmenden  Antworten.  Ich  wußte  dies  natürlich 
nicht,  wäre  also  im  Kongreßbericht  nicht  zum  Wort  gekommen,  mundtot 
gemacht  worden,  wenn  der  ganze  Hergang  nicht  rechtzeitig  „sich  heraus- 
gestellt" hätte.  Die  paar  Notizen  des  Stenographen  über  Herrn  Truschels 
Reden  haben  sich  dagegen  in  Straßburg  zu  39  Folioseiten  in  Maschinen- 


1)  Das  heißt:  Kunz  hat  seine  nachträgliche  Redaktion  nicht  als  ergänztes  Steno- 
gramm ausgegeben.  —  M.  K. 

2)  In  der  Februarnummer  1909  erschien  dazu  folgende  Erklärung  Truschels :  „Unter 
Bezugnahme  auf  die  »Antwort«  des  Herrn  Professor  Kunz  im  Anhang  zum  Hamburger 
Kongreßbericht  erkläre  ich  hiermit: 

Daß  ich  dem  Stenographen  nicht  mein  Manuskript  in  Aussicht  gestellt  habe, 
sondern  daß  er  mich  gebeten  hat,  mir  seine  Notizen  zur  Vervollständigung  senden  zu 
dürfen,  da  er  »wegen  des  hochwissenschaftlichen  Stoffes,  der  raschen  Sprechweise  und  der 
mehrfachen  Heranziehung  französischer  Autoren«  nicht  wörtlich  hätte  folgen  können".  — 

Dies  ändert  nichts  an  der  Tatsache, 

1.  daß  eine  Vereinbarung  bestand,  von  der  sonst  niemand  etwas  wußte. 

2.  daß  sich  Herr  Truschel  auf  die  so  in  Straßburg  entstandene  Redaktion,  die 
kein  Stenogramm  ist,   als    auf  ein  Stenogramm  berufen  hat.    — 

6* 


—    84    —  \ 

scbrift  ausgewachsen.  —  Und  das  nennt  man  Stenogramm  —  und| 
noch  dazu  in  wissenschaftlichen  Zeitschriftenil  j 

Am  29.  Oktober  1907  wurde  dieses  Pseudostenogramm  im| 
Naturwissenschaftlichen  Verein  Mülhausen  mit  allen  persönlichen  An-j 
würfen,  die  später  z.  T.  durch  das  Kongreßbureau  gestrichen  wurden, : 
durch  einen  Freund  Truschels  als  aus  Hamburg  eingegangene) 
Abschrift  des  Stenogramms  verlesen,  während  es  erst  am: 
30.  Oktober  dem  Kongreßpräsidium  zu  Gesicht  kam!  Ich] 
erfuhr  dies  und  anderes,  weil  ich  am  30.  Oktober  auch  eine  Abschrift; 
verlangte.  —  So  hat  sich  denn,  wie  das  Kongreßpräsidium  milde  sagt,: 
„nachträglich  herausgestellt",  wie  und  wo  das  sogenannte  Steno- 
gramm entstanden  ist.  Seit  dem  Erscheinen  des  Kongreßberichts; 
hat  sich  Herr  Truschel  m.  W.  nicht  mehr  auf  das  „Stenogramm"  berufen.^ 
Leider  verfüge  ich  nicht  über  die  nötige  „parlamentarische*'  Schulung,! 
am  solche  Kunstgriffe  in  passenden  Ausdrücken  zu  würdigen.  i 

Ich  glaube  aus  obigen  und  anderen  Grründen  nur,  daß  es  ihm  schlecht! 
anstehe,  mir  falsche  Zitate,  Entstellungen  und  Unterschiebungen  vorzu-i 
werfen,  ohne  auch  nur  eine  von  seinen  Behauptungen  beweisen  zu  können.j 

Ein  in  der  Erregung  gesprochenes  „unzutreffendes"  und  ungerechtes i 
Wort  kann  übersehen  werden.  Wenn  man  aber  4  Wochen  Zeit  hat,  umi 
ein  „Stenogramm"  anzufertigen,  sollte  es  möglich  sein,  bei  den  »Tat- 
sachen" zu  bleiben. 

(Ich  verweise  nochmals  auf  meine  Antwort  im  Anhange  zum  offi-i 
ziellen  Kongreßbericht,  S.  347 — 382).  Abgesehen  von  dieser  Antwort,; 
die  wohl  fast  nur  in  die  Hände  von  Blindenlehrern  gelangt,  habe  ich] 
bis  jetzt  zu  allen  seinen  Anwürfen  geschwiegen.  Ihre  Fortsetzung  in; 
dem  Archiv  für  gesamte  Psychologie  zwingt  mich  nun  aber  zu  dieser] 
Gegenwehr.  Ich  bin  sie  meiner  Ehre  schuldig!  Mehr  steht  zur  Ver.-! 
fügung.  —  Nun  zur  Sache!  j 

Vorerst  stelle  ich  mit  Vergnügen  fest,  daß  Dr.  Krogius  (wie  Dr.^ 
Woelfflin)  durch  eigene  Versuche  zu  der  Überzeugung  gekommen; 
ist,  daß  reflektierte  Schallwellen  als  Erreger  des  Femgefühls  nicht  an-; 
gesprochen  werden  dürfen,  sondern  daß  dasselbe,  wie  ich  immer  ange*| 
nommen  habe,  auf  dem  Haatsiiin,  d.  h.  auf  einem  dieser  Hautsinne  be- 
ruht. —  Ich  habe  (S.  179,  Band  IV  des  Internat.  Archivs  für  Schul- 
hygiene V.  S.  338  des  Jubiläumsbuchs  unserer  Anstalt)  geschrieben:  „E^ 
(das  Femgefühl)  beruht  also  meines  Erachtens"  —  (es  ist  dies  keine  kate- 
gorische Behauptung)  —  „in  erster  Linie  auftaktilen,  in  zweiter  au£ 
thermischen  Reizen,  also  auf  dem  Haut  sinn".  In  diesem  Punkt  stimmen; 
wir  also  miteinander  und  mit  Dr.  Th.  Heller  und  mit  Dr.  Woelfflin  und! 
den  bewährtesten  Blindenlehrern  überein.  —  • 


—     85    — 

Direktor  Heller -Wien  und  Direktor  Fischer  -  Braunschweig  haben 
diesen  Standpunkt  in  Hamburg  entschieden  und  mit  guten  Gründen 
verteidigt,  wenn  Truschel  auch  in  der  Exper.  Pädag.  behauptet  hat,  es 
sei  außer  ihm  und  dem  Referenten  niemand  auf  den  Kern  der  Sache 
eingegangen.  Kein  Redner  hat  für  Truschels  Ansicht  ein  Wort  gesagt. 
—  Beide  genannten  Kollegen  haben  in  Hamburg,  wie  schon  früher, 
psychologische  Vorträge  gehalten,  sind  also  nicht  Neulinge.  Direktor 
Fischer  sagte  dort  in  der  Debatte: 

„Grehörempiindungen  werden  im  Grehörgang  nicht  lokalisiert, 
(d.  h.  nicht  örtlich  empfunden) ,  ebensowenig  wie  Lichtempfindungen  im 
Sehorgan,  etwa  auf  der  Netzhaut.  Lokalisiert  werden  nur  die  Empfin- 
dungen des  Haut-  oder  Tastsinns  auf  den  gereizten  Hautpartien,  also 
nur  Empfindungen  taktiler  Natur.  Sobald  wie  nun  Empfindungen  im 
Gehörgang  oder  auf  dem  Trommelfell  verspürt  werden,  findet  doch  eine 
Lokalisation  dieser  Empfindungen  statt;  diese  können  daher  nur 
taktiler,  nicht  akustischer  Art  sein.  Gerade  in  der  Lokalisation 
solcher  Empfindungen,  die  viele  Blinde  (Anmerkung:  und  sehr  gebildete 
Sehende)  z.B.  auf  das  Trommelfell  verlegen,  sehe  ich  einen  sichern 
Beweis  dafür,  daß  hier  nur  Tastreize  der  betrefienden  Hautpartien 
im  Ohr  stattfinden  und  nicht  akustische  Reize.  —  Wären  es  akustische 
Reize,  von  Schallwellen  herrührend,  dann  fände  ja  keine  Lokalisation  statt." 

Mir  scheint,   es  treffe  dies,   trotz  Truschel,   den  Kern  der  Sache. 

Truschel  antwortete  Herrn  Fischer  nach  seinem  „Stenogramm": 

„Herrn  Fischer  will  ich  nur  kurz  erwidern,  daß  Krogius  eben  die 
Lokalisationsfähigkeit  der  Gehörsorgane  sehr  sorgfältig  geprüft  und 
darin  eine  doppelte  Überlegenheit  der  Blinden  festgestellt  hat." 

Diese  Antwort,  wenn  sie  so  lautete,  beweist  nur,  daß  H.  Truschel 
Herrn  Fischer  nicht  verstanden  hat.  Dr.  Krogius  hat  die  Lokali- 
sation der  Seliallqaellc,  nicht  aber  die  nicht  existierende  Lokali- 
sation der  Schallreize  im  Trommelfell  geprüft.  Keinem  Menschen,  der 
Musik  hört,  fällt  es  einzusagen:  „Ich  empfinde  Musik  im  Trommelfell", 
oder  gar :  „Ich  spüre  die  Baßgeige  oben,  die  Flöte  unten,  die  Trompete 
links  und  die  große  Pauke  rechts  im  Trommelfell",  wie  auch  kein 
Mensch,  der  einen  Lanzenreiter  vor  sich  hat,  sich  veranlaßt  fühlt  zu 
sagen:  „Ich  spüre  eine  Lanzenspitze  unten  in  der  Netzhaut  und  4  Pferde- 
hufe oben".  —  Schal]reize  werden  im  Trommelfell  ebenso- 
wenig lokalisiert  als  Lichtreize  in  der  Netzhaut.  Auch 
Wilde  und  Tiere  hören  und  sehen,  ohne  von  Trommelfell  und  Netzhaut 
etwas  zu  wissen.  Wenn  sich  aber  ein  Insekt  auf  unser  Gesicht  setzt 
oder  in  ein  Ohr  kriecht,  dann  empfinden  wir  den  Reiz  an  der  be- 
treffenden Stelle.    Die  Haut  lokalisiert  also  Tastreize. 


—    86    - 

Da  nun  alle  fernfühligen  Personen,  mehrere  gebildete  Sehende  voran, 
das  Ferngefühl  auf  der  Haut,  sehr  oft  zuerst  im  Trommelfell 
lokalisieren,  so  kann  es  sich  dabei,  wie  Fischer  trefflich  bemerkt 
hat,  nur  um  taktile  Reize  handeln  —  und  zwar  höchst  wahr- 
scheinlich in  erster  Linie  um  Druckreize;  denn  daß  das  Trommelfell 
thermische  Reize  lokalisiere,  ist  mir  nicht  bekannt.  — 

Es  ist  bedauerlich,  daß  Herr  Truschel  Herrn  Dr.  Fischer  nicht 
verstanden  hat! 

Letzterer  hat  zur  Klärung  fast  so  viel  beigetragen,  als  Herr 
Truschel  durch  seine  vielen  falschen  Behauptungen  und  seine  Verquickung 
des  Gehörs  mit  dem  Ferngefühl  (x  Reize  I  +  x  Reize  11  =  x-Sinn)  zur 
Verdunkelung. 

Dr.  Th.  Heller  hat  schon  in  seiner  Blindenpsychologie,  obwohl  er 
das  heutige  Beobachtungsmaterial  noch  nicht  kannte,  das  Gehör  als 
solches  scharf  vom  Ferngefühl  getrennt.  Dr.  Woelff lin  weist  mit  fol- 
genden Worten  darauf  hin :  „Heller  nimmt  wohl  mit  Recht  an,  daß,  so- 
bald dem  Blinden  durch  sein  Gehörorgan  die  Annäherung  eines  Hinder- 
nisses vermittelt  werde,  er  mit  doppelter  Aufmerksamkeit  auf  kommende 
Druckempfindung  in  der  Stirne  (spezielle  Lokalisationsstelle  des 
Femsinns  (Ferngefühls))  achten  werde".  Er  schreibt  mit  Heller  dem 
Gehör  die  Funktion  eines  „Signalapparats"  zu. 

Ich  selbst  habe  diesem  Gedanken  in  meiner  vor  8  Jahron  entstan- 
denen, heute  in  6  Sprachen  vorliegenden  Schrift  „Zur  Blindenphysiologie" 
folgenden  Ausdruck  gegeben :  „Der  Schall  der  Schritte,  welcher  in  der 
Nähe  einer  Wand  sich  ändert,  hat  als  Warner  vielleicht  größere 
Wichtigkeit,  wenigstens  setzt  er  früher  ein,  als  die  Druck- 
empfindungen der  Gesichtshaut.  Die  Unsicherheit,  welche  bei  unge- 
wohnter Bedeckung  des  Zimmerbodens  oder  des  Erdbodens  (Schnee) 
eintritt,  beweist  dies". 

Truschel  dagegen  behauptet  S.  163:  „Die  Geruchs-  und  die  gewöhn- 
lichen Gehörsempfindungen  sind  hierbei  (nämlich  bei  der  Orientation) 
von  untergeordneter  Bedeutung.     Um  so  wichtiger  ist  der  x-Sinn". 

Sein  x-Sinn  No.  1  soll  aber  auf  der  Unterscheidung  der  Tonhöhe 
(hauptsächlich  in  den  Trittgeräuschen)  beruhen,  die  bei  der  Annäherung 
an  Wände  etc.  angeblich  zwischen  einer  Sekunde  und  einer  Septime 
schwanken  (!).  Wer  solche  Intervalle  zu  unterscheiden  vermag,  der  muß 
also  nach  seiner  Theorie  den  x-Sinn  I  besitzen.  —  Ich  glaube  deshalb, 
daß  es  sehr  viele  x-sinnige  Menschen  gebe.  Diesen  x-Sinn,  bei  dem 
das  X  tiberflüssig  ist,  nennen  andere  Leute  Geli9r  und  seine  »x-Reize 
No.  I"  ^.gewöhnliche  Gehörsempfindungen**,  die  von  untergeord- 
neter Bedeutung  sein  sollen.    Für  seine  x-Reize  11,  welche  die  Gehör- 


—    87    — 

Organe  erregen,  aber  auf  der  Gresichtshaut  lokalisiert  werden 
sollen,  bleibt  dann  eben  nur  noch  das  zur  Erörterung  stehende 
Ferngefühl  (Fernempfindung)  übrig! 

Ich  erlaube  mir  nun,  auf  die  Kritik  meiner  Arbeiten  durch  Dr.  Kro- 
gius  näher  einzugehen  und  im  Interesse  der  Bequemlichkeit  des  Lesers 
seiner  Stoffanordnung  zu  folgen! 

Da  Dr.  Krogius  Schallwellen  als  Erreger  des  Ferngefühls  ausschließt, 
halte  ich  seine  Kritik  der  Grehörprüfungen  Prof.  Dr.  med.  Griesbachs, 
dessen  Ergebnisse  ich  gelegentlich  zum  Vergleich  herangezogen  habe, 
für  überflüssig.  Griesbach  wird  ihm  wohl  selbst  antworten.  Jenen  Prü- 
fungen, die  hier  vor  10  Jahren  zuerst  unter  Assistenz  eines  Ohren- 
arztes stattfanden,  habe  ich  beigewohnt,  so  oft  die  Zeit  es  mir  erlaubte. 
Von  Gehörprüfungen  sollte  ein  Ohrenarzt  doch  auch  etwas  verstehen ! 
Ich  habe  nur  gesehen,  daß  dieselben  mit  der  größten  Gewissenhaftigkeit 
ausgeführt  wurden.  Der  einzige  Fehler ,  der  m.  E.  damals  gemacht 
wurde,  bestand  darin,  daß  man  Blinde,  deren  Gehörorgane  schwere  De- 
fekte aufwiesen,  von  der  weiteren  Prüfung  ausschloß.  (Auch  Dr.  Krogius 
dürfte  seine  Versuchspersonen  ausgewählt  haben.)  Hätte  man  z.  B.  das 
Lokalisationsvermögen  bei  allen  geprüft,  so  wäre  die  Inferiorität  der 
Blinden  viel  bedeutender  gewesen.  Unsere  neuen  Versuche  haben  dies 
deutlich  gezeigt.  Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  Blindheit  und 
Taubheit  oder  Schwerhörigkeit  sehr  oft  Hand  in  Hand  gehen,  d.  h.  auf 
dieselben  Ursachen  zurückzuführen  sind.  —  Wir  haben  hier  seit 
15  Jahren  8  Taubblinde  unterrichtet.  Dr.  Love  hat  am  letzten  Hygieniker- 
k(jngreß  in  London  sogar  behauptet,  daß  von  100  Taubstummen  60  nicht 
normales  Sehvermögen  haben.  Mit  demselben  Rechte  darf  man  behaupten, 
daß  es  unter  den  Schwachsichtigen  und  Blinden  auch  sehr  viele  (der 
genaue  Prozentsatz  ist  mir  nicht  bekannt),  Schwerhörige,  einseitig  Taube 
oder  Stocktaube  gibt.  —  Bei  uns  hat  der  Ohrenarzt  fast  so  viel  zu  tun 
wie  der  Augenarzt.  —  An  eine  Durchschnittsüberlegenheit  des 
Gehörs  der  Blinden  über  das  der  Sehenden  glaube  ich  deshalb  nicht. 
Bei  uns  trifft  das  Gegenteil  zu.  —  Wenn  man  die  Blinden  nicht  nimmt, 
„wie  sie  fallen" ,  d.  h.  wenn  man  die  Versuchspersonen  auswählt  und 
die  Schwerhörigen  von  den  Versuchen  ausschließt,  wird  sich  das  Ergebnis 
natürlich  ändern.  Solche  Resultate  sind  aber  nicht  beweiskräftig.  Wir 
haben  hier  aUe  diejenigen  geprüft,  deren  Alter  und  Intelligenz  sichere 
Angaben  voraussetzen  ließen.    Unser  Ergebnis  ist  also  ungeschminkt. 

Griesbachs  Lokalisationsprüfungen  bei  28  Sehenden  und  28  Blinden 
bei  offenen  und  abwechselnd  verstopften  Ohren  sind  auf  den  Seiten  49 — 51 
des  VII.  Bandes  beschrieben  worden.  Ich  habe  dort  nur  vergessen  zu 
sagen,  daß  nicht  nur  geblasen,    sondern  auch  getrommelt,  gepfiffen  und 


gerufen  wurde,  daß  also  nicht  nur  „Töne",  sondern  auch  „Geräusche"  loka- 
lisiert wurden.  —  „Störende  Obertöne"  waren  also  bei  den  „Geräuschen" 
ausgeschlossen.  — 

Nach  dem  Urteil  von  Sachverständigen  haben  diese  Versuche  vor 
denen  des  H.  Dr.  Krogius  den  Vorzug,  daß  sie  bei  einem  großen 
Radius  (ca.  50  Meter)  vorgenommen  worden  sind,  während  dieser  Eadins 
bei  den  letzten  Versuchsreihen  des  H.  Dr.  Krogius  nur  1,5  Meter  betrug. 

—  Man  hat  nun  das  Zeigen  mit  der  Hand,  das  Griesbach  anwandte, 
beanstandet.  Und  doch  sollen  die  russischen  Blinden  nach  Krogius  den 
sich  nähernden  8  cm  dicken  Glaszylinder  durch  den  Temperatursinn 
allein  „lokalisiert^,  also  wohl  auch  mit  der  Hand  angezeigt  haben.  Loka- 
lisiert der  Temperatursinn  so  genau?  Und  kann  die  Richtung  luft- 
warmer thermischer  Strahlen  mit  der  Hand  genauer  bezeichnet  werden 
als  die  des  Schalls  ?  Ich  habe  mit  mehreren  Stockblinden  derartige  Ver- 
suche bei  warmem  Sonnenschein  gemacht,  indem  ich  sie  einfach  fragte: 
Wo  steht  die  Sonne?  Intelligente,  17 — 20jährige  Blinde  ließen  zuerst 
eine,  dann  die  andere  Gesichtsseite  von  der  Sonne  bescheinen  und  drehten 
dann  das  Gesicht,  bis  es  auf  beiden  Seiten  gleichmäßig  erwärmt  wurde. 
So  vermochten  sie  die  Richtung,  wenn  auch  nicht  die  Höhe,  annähernd 
genau  zu  bezeichnen.  Die  Lokalisation  beruhte  also  wesentlich  auf  Über- 
legung, somit  auf  psychischen  Momenten.  —  Jüngere,  weniger  über- 
legende und  intelligente  Blinde  dagegen  waren  nicht  befähigt,  die  Rich- 
tung der  Sonne  auch  nur  annähernd  zu  bestimmen.  Wenn  aber  Blinde 
nicht  einmal  die  Richtung  der  brennenden  Sonnenstrahlen  auch  nur  an- 
nähernd genau  zu  bestimmen  vermögen,  wird  es  mir  schwer  zu  glauben, 
daß  der  Temperatursinn  allein  zur  Lokalisation  eines  8  cm  dicken,  nur 
luftwarmen  Zylinders  ausreiche.  — 

Um  das  beanstandete  Zeigen  mit  der  Hand  bei  den  S  c  h  a  11  -  Lokali- 
sationsprüfungen  zu  vermeiden,  habe  ich  den  Ort  der  Schallquelle  rasch 
verändert  und  nur  angeben  lassen:  „Mehr  rechts  oder  mehr  links",  oder 
von  rechts  nach  links"  etc.  —  Nun  soll  mein  Verfahren  noch  viel  we- 
niger taugen  als  das  von  Griesbach. 

Daß  der  Radius,  wie  bei  den  Versuchen  von  Krogius,  zu  klein  war, 
gebe  ich  zu ;  er  war  aber  immer  noch  66  %  länger  als  bei  seinen  Klingel- 
versuchen. Dann  soll  die  Nichtbeachtung  der  Obertöne  unser  Ergebnis 
stürzen !  Gibt  es  bei  der  elektrischen  Klingel  mehr  oder  weniger  Ober- 
töne als  bei  der  Stimmgabel?  Wie  viel  besser  oder  schlechter  müßte 
nach  dieser  Theorie  eine  Blechmusik  oder  ein  Orchester  lokalisiert  werden 
als  einPfiif,  weil  die  „Obertöne"  schon  von  vornherein  vorhanden  wären  I 

—  Wenn  aber  „Geräusche*^,  wie  Dr.  Krogius  sagt,  besser  lokalisiert 
werden  als  „Klänge",    dann  müßten  Schläge  auf  den  Tisch,   also  Ge- 


\ 


—    89    — 

rausche,  sicherer  lokalisiert  werden  als  die  Stimmgabel  —  und  die  elek- 
trische Klingel,  die,  wie  der  Name  andeutet,  doch  auch  „Klänge" 
von  sich  gibt. 

Ich  habe  es  zuerst  wirklich  mit  Klopfen  auf  den  Tisch  versucht, 
fand  aber  diese  Geräusche  zu  kurz.  Deshalb  habe  ich  nachher,  d.  h.  bei 
den  aufgezeichneten  Versuchen ,  Geräusche  mit  Tönen  verbunden,  indem 
ich  die  schwere  Stimmgabel  der  Klavierstimmer  immer  fest  aufsetzte, 
d.h.  klopfte.  Die  Versuchspersonen  hörten  also  zuerst  den  Schlag, 
d.  h.  ein  Geräusch,  und  erst  nachher  den  Klang.  Gewöhnlich  erfolgten 
auch  die  Antworten  unmittelbar  nach  dem  zweiten  Schlage,  der  dem 
ersten  nach  ca.  V2  Sekunde  folgte ,  so  daß  die  Stimmgabel  nicht  aus- 
klingen konnte. 

Dieser  Einwand  des  geehrten  Herrn  Gegners  wird  also  wohl  hin- 
fälHg.  — 

Unsere  Blinden  lieferten  bei  einem  Schallquellenabstand  von  12  cm 
und  einem  Radius  von  2,5  m  bei  36  Versuchen  von  vom  und  hinten, 
mit  offenen  und  abwechselnd  verstopften  Ohren  nur  42,7  %  richtige 
Lokalisationen,  die  Sehenden  dagegen  71  %.  —  Ich  habe  dies  sehr  na- 
türlich gefunden,  weil  die  Blinden  nicht,  wie  die  Sehenden,  ihre  Lokali- 
sationen von  Jugend  auf  mit  den  Augen  prüfen  und  berichtigen 
können.  —  Sie  wissen,  wenn  die  Schallquelle  außerhalb  ihres  Berührungs- 
kreises liegt,  nie,  ob  sie  richtig  oder  falsch  lokalisiert  haben.  Darunter 
muß  ihre  Sicherheit  leiden. 

^  Rp.rr  Dr.  Krogius  läßt  auch  durchblicken,  daß  er  mich  im  Verdacht 
hat,  das  Resultat  durch  „hörbares  Aufsetzen  der  Stimmgabel"  zu  Gunsten 
der  Sehenden  ä  la  Riccaut  de  la  Mar  liniere  etwas  „korrigiert"  zu  haben. 
Nein,  mein  Verehrter !  Dies  ist  nicht  geschehen !  Ich  habe ,  wie  schon 
gesagt,  die  Gabel  immer  fest,  klopfend  aufgesetzt.  Augenzeugen 
und  „Konkurrenten"  hätten  sich  solche  Kniffe  übrigens  nicht  gefallen 
lassen.     Warum  sucht  aber  Herr  Dr.  Krogius  mich  „hinter  dem  Ofen"? 

Eher  ließe  sich  annehmen,  die  Blinden  hätten  zwischen  den  Wim- 
pern durch  geblinzelt.  Ich  achtete  aber  darauf ,  daß  die  Augen  fest 
geschlossen  waren.  Übrigens  fanden  ja  mit  jeder  der  40  zu  den  Loka- 
lisationsversuchen  herangezogenen  Personen,  abgesehen  von  der  Vor- 
prüfung, je  36  Versuche  statt,  je  6  von  vorn  mit  offenen  und  abwech- 
selnd verstopften  Ohren,  und  ebenso  3x6  von  hinten.  Sobald  die  Se- 
henden mir  den  Rücken  kehrten,  konnten  sie  doch  meine  Hand  nicht 
sehen!  Und  doch  betrug  der  Unterschied  zwischen  der  Zahl  der  rich- 
tigen Lokalisationen  von  vom  und  von  hinten  bei  den  Sehenden  nur 
2,4^,0,  bei  den  Blinden  aber  4,3  ^/o.  —  So  sehr  stark  kann  also  doch 
nicht  zu  Gunsten  der  Sehenden  „gemogelt"  worden  sein. 


-     90    — 

Für  mich  bleibt  also  die  Tatsache  bestehen,  daß  Dr.  Krogius  seine 
blinden  Versuchspersonen  aasgewählt  hat,  oder  daß  die  russischen 
Blinden  infolge  wesentlich  anderer  Erblindungsursachen 
durchschnittlich  anders  geartet  sind  als  ihre  mitteleuropäischen 
Leidensgefährten.  —  Vielleicht  trifft  auch  beides  zu. 

Ich  verstehe  übrigens  nicht,  warum  sich  Dr.  Krogius  noch  so  sehr 
für  unsere  Schall  -  Lokalisationsprüfung  interessiert,  nachdem  er  zur 
Überzeugung  gekommen  ist,  daß  das  einzig  in  Frage  stehende  Fem- 
gefühl nicht  auf  Schall,  sondern  ausschließlich  auf  ther- 
mischen Reizen  beruhe! 

Herr  Dr.  Krogius  wirft  mir  femer  vor  (S.  164  u.  167),  die  Zeit 
zwischen  Reiz  und  Apperzeption  beim  Gehen  neben  Wänden  nicht  be- 
rücksichtigt zu  haben.  Dieser  Vorwurf  ist  nicht  berechtigt.  Ich  habe 
S.  117  des  Archivs  Band  IV,  Jubiläumsbuch,  S.  303,  unter  No.  31,  aller- 
dings nur  en  passant,  ferner  S.  127,  bezw.  S.  308,  und  in  meiner  Ant- 
wort an  Truschel  (Hamburger  Kongreßbericht)  darauf  hingewiesen.  Wenn 
Dr.  Krogius  übrigens  glaubt,  daß  zwischen  dem  Reiz  und  der  Wahr- 
nehmung oft  „mehrere  Sekunden"  (!)  verstreichen,  so  kann  ich  ihm  nicht 
beistimmen.  —  Wenn  fernfühlige  blinde  Kinder,  besonders  Knaben,  direkt 
gegen  einen  Baum  rennen  und  im  letzten  Augenblick,  20 — 40  cm  vor 
dem  Hindernis  blitzartig  ausweichen,  beträgt  die  Zeit  zwischen  Reiz  und 
Wahmehmung  kaum  ^U  Sekunde.  Allerdings  handelt  es  sich  in  solchen 
Fällen  vielleicht  mehr  um  Reflex  als  um  bewußte  Wahrnehmung.  Solche 
Beobachtungen  hat  Dr.  Krogius  allerdings  mit  den  gesetzten  Damen  des 
Asyls  kaum  machen  können.  Hier  hat  der  erfahrene  Blindenlehrer  vor 
dem  Psychologen  etwas  voraus.  — 

Auf  S.  164  findet  Dr.  Krogius,  daß  meine  Bemerkung  über  die  gün- 
stige Wirkung  absoluter  Stille  unzutreffend  sei,  weil  bei  verhältnis- 
mäßiger Stille  eine  kleine  Veränderung  der  Geräusche  besser  wahr- 
genommen werde  als  bei  Lärm.  Dies  trifft  für  das  eigentliche  Gehör 
als  Orientierungssinn  natürlich  zu.  Es  ist  mir  seit  28  Jahren 
bekannt,  daß  Blinde  sich  bei  ungewohnter  Bedeckung  des  Fußbodens, 
z.  B.  wenn  Schnee  liegt,  auf  altbekanntem  Gebiet  (Hof)  leicht  verirren. 
Ich  habe  dies  vor  langen  Jahren  folgendermaßen  ausgedrückt:  »Der 
Schall  der  Schritte,  der  in  der  Nähe  einer  Wand  sich  ändert,  hat  als 
Wamer  vielleicht  größere  Wichtigkeit  —  wenigstens  setzt  er  früher 
ein  (d.h.  seine  Tragweite  ist  größer)  —  als  die  Druckempfindungen  der 
Gesichtshaut.  Die  Unsicherheit,  welche  bei  ungewohnter  Bedeckung  des 
Zimmerbodens  oder  des  Fußbodens  (Schnee)  eintritt,  beweist  dies^.  — 
In  Fällen  der  Unsicherheit  suchen  feinhörige  Blinde  durch  Husten,  Rufen, 
Klopfen  mit  dem  Stock  oder  dem  Absatz,  Schnalzen  mit  den  Fingern  etc* 


—    91     - 

Schallreflex  zu  erzeugen,  um  die  Größe  eines  Raumes,  die  Nähe  einer 
Wand,  eines  Baumes  etc.  zu  erkennen,  ehe  dies  mit  Hülfe  des  nicht 
weit  tragenden  Ferngefühls  möglich  ist.  Ich  habe  an  vielen  Stellen 
meiner  Schriften  darauf  hingewiesen,  also  dem  Gehör  als  solchem 
für  die  Orientation  die  erste  Stelle  eingeräumt,  es  also  als  wich- 
tigsten „Fernsinn"  der  Blinden  angesehen  und  nirgends  (wie  Truschel 
auf  S.  150  des  III.  Bandes)  behauptet,  daß  die  gewöhnlichen  Gehörs- 
wahrnehmungen von  „untergeordneter  Bedeutung"  seien.  —  Je  ruhiger 
die  Umgebung,  desto  sicherer  ist  die  Wahrnehmung  kleiner  SchalldifFe- 
renzen.  Schon  deshalb  ist  die  Orientation  der  meisten  Blinden  bei 
nächtlicher  Ruhe  sicherer  als  bei  „Tagesgeräusch".  — 

Was  hat  aber  die  Unterscheidung  von  Schalldifferenzen  und 
Tonintervallen,  von  denen  Tr.  redet,  mit  dem  allein  in  Frage  ste- 
henden Ferngefühl  zu  tun,  das  Dr.  Krogius  ausschließlich  auf 
thermische  Strahlung  zurückführt  und  das,  wie  alle  fernfühligen  Per- 
sonen behaupten,  was  auch  Truschel  zugibt,  auf  der  Haut  lokalisiert 
wird?!  Tondifferenzen  werden  doch  gehört  und  nicht  mit 
der  Haut  empfunden!  — 

Es  scheint  mir  aber  aus  dieser  Bemerkung  hervorzugehen,  daß 
auch  Dr.  Krogius  mit  den  Ausdrücken  „Fernsinn"  und  6.  Sinn  bald  das 
eigentliche  Ferngefühl,  das  er  auf  kalorische  Reize  zurückführt, 
bald  die  ganze  Orientation,  d.  h.  das  Zusammenwirken  der  verschiedenen 
Sinne  versteht,  also  die  Summe  von  einem  ihrer  Summanden  nicht  scharf 
genug  trennt.  Denn  das  Gehörlabyrinth  und  die  Haut  können  doch  un- 
möglich zusammen  ein  Sinnesorgan  für  einen  6.  „Sinn"  bilden!  —  Truschel 
hat  diese  Konfusion  konsequent  durchgeführt.  — 

Daß  in  der  Medianlinie ,  also  mit  beiden  Ohren  vor  und  hinter  dem 
Kopf,  besser  lokalisiert  wird  als  mit  je  einem  Ohr ,  weiß  ich.  Dies  hat 
Griesbach  hier  vor  11  Jahren  gezeigt;  andere  haben  dasselbe  gefunden, 
nnd  bei  unseren  Versuchen  sind  richtige  Lokalisationen  geliefert  worden : 


In  der  Medianlinie 

(Mit  beiden  Ohren) 

Durch  Blinde 

Durch  Sehende 

von  vorn 

93    »,o 

von  hinten 

47,8, 

74    „ 

Mit  je  einem  Ohr 

von  vorn 

39,2, 

57,3, 

von  hinten 

37,1, 

66,7, 

Der  Schall  wird  aber  auch  bei  diesen  Versuchen  als  Schall  wahrge- 
nommen und  nicht  als  Druck  oder  als  „Schatten",  wie  Dr.  Krogius 
sagt.  —  Was  hat  denn  „Schatten"   mit  der  Schall-Lokalisation  zu  tun? 


--    92    — 

Daß  auch  Dr.  Krogius  an  fern  fühligen  Personen  trotz  Ohrver- 
schluß immer  Ferngelühl  gefunden  hat,  wie  auch  bei  sehr  Schwer- 
hörigen, freut  mich. 

Die  oft,  aber  nicht  immer,  eintretende  Herabminderung  der  Trag- 
weite durch  Verstopfen  der  Ohren  habe  ich  aber  der  Ausschaltung  des 
für  taktileEeize  äußerst  empfindlichen,  weil  frei  flatternden  Trommel- 
fells zugeschrieben.  Ob  dasselbe  sehr  temperatnrempfindlich  ist,  weiß 
ich  nicht. 

Was  Dr.  Krogius  im  mittleren  Abschnitt  der  S.  166  über  bald 
größeren,  bald  kleineren  Einfluß  akustischer  Reize  auf  den  „Fernsinn" 
sagt,  paßt  wieder  auf  das,  was  wir  Blindenlehrer  allenfalls  nach  dem 
Lexikon  unter  „  Fernsinn  ^ ,  d.h.  der  Summe  der  Fern  Wahrnehmungen 
durch  alle  Fernsinne,  verstehen,  nicht  aber  auf  das,  was  wir  Fem- 
gefühl (Fernempfindung)  nennen  und  welches  er  auschließlich  dem 
Temperatursinn  zuschreibt.  Akustische  Reize  können  doch  wohl 
den  Temperatursinn  nicht  beeinflussen ! 

Es  sollte  also  im  folgenden  Abschnitt  S.  166  nach  der  bei  uns  üb- 
lichen Terminologie,  welcher  sich  auch  die  Herren  Mediziner  anpassen 
dürften,  wenn  sie  über  das  Blindenwesen  schreiben,  heißen  :  „Die  Blinden 
lokalisieren  die  Empfindungen  des  Ferngefühls  im  Gesicht;  denn 
daß  sie  Gehör-  und  Geruchreize  dort  lokalisieren,  glaube  ich  nicht  — 
und  Dr.  Krogius  gewiß  auch  nicht,  sonst  hätte  er  ja  einfach  die  Arbeit 
aufstecken  und  Truschel  folgen  können,  statt  die  reflektierten  Schall- 
wellen No.  II ,  die  ja  auch  im  Gesicht  lokalisiert  werden  sollen ,  zu  be- 
kämpfen. —  Ich  erblicke  darin  wieder  die  weiter  oben  gekennzeichnete 
Verwechslung  des  Ganzen  mit  dem  Teil,  der  Summe  mit  einem  Summanden. 

S.  167,  Abschnitt  3  ist  weiter  oben  schon  beantwortet.  Was  Dr. 
Krogius  im  vorletzten  Abschnitt  dieser  Seite  über  meine  Beobachtungen 
beim  Gehen  neben  Wänden  sagt,  kann  ich  unterschreiben.  Luftwellen 
können  natürlich  auf  den  Temperatursinn  einwirken  wie  auf  den  Druck- 
sinn. Gerade  diese  Beobachtungen  neben  Wänden,  dem  hängenden  Brett 
und  Bäumen  haben  mich  veranlaßt,  die  Mitwirkung  des  Temperatur- 
sinns anzuerkennen,  noch  ehe  ich  von  den  Versuchen  des  Herrn  Dr.  Krogius 
etwas  wußte. 

Die  Zunahme  der  spezifischen  Wärme  infolge  von  Annäherung  an 
Gegenstände,  also  der  Luft  Verdichtung  vor  dem  Gesicht,  welche 
allenfalls  von  Dr.  Krogius  angerufen  werden  könnte,  ist  ofPenbar  so 
gering,  daß  kein  Mensch  sie  spürt.  Dr.  Krogius  schätzt  ja  diese  Ver- 
dichtung 80  gering  ein ,  daß  er  ihr  nicht  einmal  den  mindesten  Einfluß 
auf  das  so  druckempfindliche  Trommelfell  und  die  Drucknerven  der 
oberen  Gesichtshälfte  zuerkennen  willl 


—    93    — 

Nachdem  Dr.  Woelfflin  durcli  sehr  sorgfältige  Versuche  mit  vor- 
züglicher Einrichtung  im  größten  Saale  Basels  zur  Ansicht  gekommen 
ist,  daß  der  Temperatursinn  beim  Ferngefühl  nicht  mitspiele, 
sondern  daß  Emanationen  oder  Radiationen  anderer  Art  mit  in  Betracht 
kommen  könnten,  bleibt  die  Frage  oifen,  ob  wir  nicht  schließlich  solche 
Radiationen  den  Temperatureinflüssen  substituieren  müssen.  Daß  be- 
wußte Temperaturwahrnehmungen  (Wind  und  Windschatten  neben  Gegen- 
ständen, Luftzug,  Xähe  von  sehr  warmen  oder  sehr  kalten  Gegenständen, 
Richtung  der  Wärmestrahlen  der  Sonne)  bei  der  Orientation  eine 
große  Rolle  spielen,  steht  außer  Frage.  — 

Im  letzten  Abschnitt  der  Seite  167  und  auf  S.  168  will  mir  Dr. 
Krogius  einen  Widerspruch  nachweisen,  weil  ich  gesagt  habe,  daß  selbst 
die  fernfühligen  Blinden  im  Zustand  der  Ruhe  (Versuche  mit  Filz-,  Glas- 
und  Holzplatten),  wenigstens  bei  Temperaturen  unter  10^,  hinten  nie 
etwas  wahrnahmen,  während  fernfühlige  Knaben  und  auch  fernfühlige 
Mädchen,  welche  die  Haare  hoch  tragen,  statt  sie  über  den  Nacken 
hängen  zu  lassen,  beim  Gehen  neben  Wänden  und  Bäumen,  also  bei 
starker  Luftbewegung ,  seitlich  nachrückende  Luftwellen  spürten, 
also  seitlich  hinten  mehr  oder  weniger  Ferngefühl  zeigten.  Ich  habe 
die  Unempfindlichkeit  des  Nackens,  welcher  immer  Hartfühligkeit  für 
Druck  entsprach,  bei  Mädchen  mit  hängenden  Haaren  der  fortwährenden 
Reibung  durch  letztere  zugeschrieben.  So  erklärte  ich  mir  auch  die 
Abstumpfung  des  Drucksinns  am  oberen  Ohrmuschelrand,  der  ja  fast 
immer  von  Haaren  berührt  wird.  Es  erinnert  dies  an  die  Abstumpfung 
des  Getasts  am  Lesefinger  durch  das  fortwährende  Reiben  auf  den  er- 
höhten Punkten  der  Blindenschrift.  Die  Haut  wird  dadurch  hart  und 
lederig  und  grade  dadurch  zum  Lesen  befähigt.  Ein  feinfühliger  Finger 
liest  nicht,  weil  er  auch  die  seitlichen  Punkte  der  Nachbarbuchstaben  wahr- 
nimmt und  so  die  Zeichen  verwechselt.  Am  letzten  Internat.  Kongresse 
in  Neapel  erzählte  der  erblindete  Advokat  Landriani,  der  Präsident  des 
ital.  Blindenfürsorgevereins  Margherita,  im  Anschluß  an  meinen  Vortrag, 
daß  er  eine  Dame  kenne,  welche  immer  Lederhandschuhe  anziehe, 
wenn  sie  lesen  wolle.  Sie  hat  offenbar  noch  keine  Leseschwiele. 
(Zu  vergleichen  meine  Schrift  „Zur  Blindenphysiologie",  die  in  6  Sprachen 
erschienen  ist,  z.  T.  mehrmals).  —  Nun  erkennt  Dr.  Krogius  den  Wider- 
spruch darin,  daß  No.  3  (EL),  nachdem  sie  an  schräg  zur  Ganglinie 
stehenden  Bretterwänden  vorbei  gegangen  war,  dieselben  seitlich 
hinten  noch  wahrnahm,  während  sie  beim  Gehen  neben  Bäumen  diese 
nicht  mehr  spürte,  sobald  sie  dieselben  hinter  sich  hatte. 

Dr.  Krogius  übersieht  eben,  daß  die  Ganglinie  neben  schrägstehenden 
Wänden  1 — 3  Meter  von  diesen   entfernt  war,    so  daß  die  nach  meiner 


—    94    — 

Berechnung  nachfolgenden  Luftwellen  die  Blinden  hinten  seitlich 
treffen  mußten  —  und  somit  durch  Ohrmuschel,  Trommelfell  und 
Halsseite  empfunden  werden  konnten,  während  das  Seil  neben  den 
Bäumen  möglichst  nahe  an  den  Stämmen  und  Stämmchen  gespannt  war, 
so  daß  nachrückende  Luftwellen,  die  natürlich  viel  schwächer  und  we- 
niger zahlreich  sind,  als  bei  langen  geraden  "Wänden,  wesentlich  nur 
den  eigentlichen  Nacken  von  hinten  treffen  konnten  und  deshalb 
wirkungslos  blieben,  sobald  dieser  Nacken  mit  Haaren  bedeckt  und  wohl 
durch  die  fortwährende  Reibung  für  Druck  unempfindlich  geworden  war. 
Nun  ist  der  Nacken  von  No.  3  (EL)  außerordentlich  hartfühlig.  Sie 
spürt  dort,  wie  Drucktabelle  3  zeigt,  erst  das  Druckhaar  VII  (500  ]\Iilli- 
gramm)!  Während  bei  den  Knaben  und  bei  Mädchen,  welche  die  Haare 
nicht  hängen  lassen,  die  Druckempfindlichkeit  des  Nackens  meistens  der- 
jenigen der  Stirn  entsprach  [No.  17,  1,  2,  21,  13,  22,  8,  32,  33,  34,  35] 
(Druckhaar  No.  I,  1  mg),  zeigten  die  Mädchen  mit  hängenden  Haaren  im 
Nacken  außerordentliche  Hartfühligkeit.  Es  waren  dort  die  Tast- 
haare VI  und  VII  (100  und  500  Milligramm)  erforderlich.  Z.  B.  No.  29  VI, 
No.  3  VII,  No.  9  VII,  No.  24  VI,  No.  27  VI.  Auch  der  obere  Ohr- 
muschelrand,  der  vielfach  von  Haaren  gerieben  wird,  ist  auch  bei  den 
Knaben  meistens  recht  hartfühlig.  Feinfühlig  scheinen  mir  weit  ab- 
stehende Ohrränder  zu  sein,  die  selten  mit  Haaren  in  Berührung  kommen. 
—  Es  entspricht  dies  der  Abstumpfung  des  Lesefingers  durch  das  fort- 
währende Reiben  auf  den  erhöhten  Punkten  der  Blindenschrift.  Die  ge- 
bildeten Blinden  haben  dies  jetzt  erkannt,  was  ich  kürzlich  auch  in  Neapel 
feststellen  konnte.  —  Wir  haben  nun  immer  gefunden,  daß  Druckempfind- 
lichkeit für  2  Milligramm  (Tasthärchen  II)  an  den  Hautstellen,  auf 
welchen  das  Femgefühl  wesentlich  lokalisiert  wird,  Stirn  etc.,  zu  taktilen 
Fern  Wahrnehmungen  nicht  ausreichte;  es  war  dazu  stets  die  regel- 
mäßige Wahrnehmung  des  Härchens  No.  I  (1  Milligramm  Druckwider- 
stand) erforderlich.  Deshalb  schon  kommt  m.  E.  die  meistens  hartfüh- 
lige  untere  Gesichtshälfte,  wie  auch  Dr.  Krogius  weiß,  nicht  in  Betracht.  — 

Ich  vermag  nicht  einzusehen,  daß  dünne  (3  cm  dicke)  runde  Stämmchen, 
die  bei  unseren  Versuchen  vielfach  wahrgenommen  werden,  welche  aber 
doch  wohl  nur  die  Temperatur  der  Luft  und  des  Rasens  hatten,  sich 
durch  Wärmestrahlung  allein  eher  fühlbar  gemacht  haben  sollen,  als 
durch  Luft- Widerstand  oder  Reflex.  — 

Über  meine  Prüfung  des  Drucksinns,  auf  die  Dr.  Krogius  nun  zu 
sprechen  kommt,  habe  ich  mich  im  letzten  Heft  S.  25—28  geäußert. 
Meine  Drucktabellen  7  und  8,  die  Dr.  Krogius  wohl  noch  nicht  beachtet 
hat,  weil  er  nur  von  22  geprüften  Blinden  spricht,  sind  auf  den  Seiten 
35—36  des  VII.  Bandes  zu  finden. 


—    95    — 

Dr.  Krogius  beanstandet  diese  Druckversuche  u.  a.,  weil  er  meint^ 
fernfühlige  Personen  hätten  die  Annäherung  der  Hand  vor  den  Härchen 
spüren  müssen.  Das  war  doch  bei  seinen  Druckversuchen  mit  der  Wage 
auf  nur  je  einem  Punkt  des  Gresichts  und  der  Hand  auch  der  Fall!  Er 
hatte  ja  vorher  die  Druckpunkte  mit  den  Härchen  bestimmt,  was 
nicht  unbemerkt  geschehen  konnte.  Seine  Personen  wußten  also 
genau,  wo  der  Reiz  erfolgen  mußte. 

Angenommen  auch,  meine  Personen  haben  die  Hand  vor  dem  Gresicbt 
gespürt,  so  konnten  sie  bei  der  Länge  der  Stäbchen  doch  nie  wissen, 
ob  ich  die  Härchen  auf  irgend  einem  Teil  der  Stirn,  die  Augenbrauen, 
Wimpern,  das  Lid,  die  ISTasenspitze,  eine  Wange,  neben  das  Auge,  auf  das 
Ohrläppchen,  in  die  Ohrmuschel,  auf  die  Unterlippe  oder  das  Kinn  setzen 
würde.  Tatsächlich  hat  mir  ein  fernfühliger  Kollege  erklärt:  „Ich  Habe 
die  Hand  vor  dem  Härchen  gefühlt,  glaubte  aber,  Sie  würden  es  auf 
die  rechte  Seite  setzen,  weil  sich  rechts  zwischen  Auge  und  Nase  eine 
gewisse  Schmerz empfindung  fühlbar  machte.  In  Wirklichkeit  saß  aber 
das  Härchen  NI  auf  der  linken  Stirnseite,  wo  es  auch  lokalisiert  wurde. 
—  Solche  Überraschungen  waren  auf  den  2  Druckpunkten  von  Dr.  Kro- 
gius allerdings  nicht  möglich.  Meine  Versuchsmethode  erleichterte  also 
die  Wahrnehmung  nicht.  Oft  genug  kam  es  vor,  daß  die  Blinden  ihre 
ganze  Aufmerksamkeit  auf  die  Kopfhaut  konzentrierten,  während  das 
Haar  auf  der  Hand  saß.  — 

Dr.  Krogius  meint  ferner,  die  Proportionalität  zwischen  Drucksinn 
und  Femgefühl,  von  der  ich  gesprochen  habe,  sei  z.  T.  von  der  Willkür 
des  Forschers  abhängig.  Dies  kann  von  allen  derartigen  Versuchen 
und  von  allen  Forschern  gesagt  werden,  wenn  man,  in  Ermangelung 
besserer  Gründe,  dieses  Bedürfnis  fühlt.  —  Ich  habe  aber  nie  allein, 
sondern  immer  vor  Augenzeugen  experimentiert,  welche  die  Wahr- 
nehmungen notierten,  habe  also  meine  Vorsichtsmaßregeln  getroffen,  — 
nicht  weil  ich  Dr.  Kr  ogius  solcher  Anspielungen  fähig  glaubte.  —  Wenrt 
man  „Streif er"  (Ausgleiten  der  Tasthaare)  mitrechnet,  oder  die  Härchen 
biegt,  bis  sich  ein  längeres  Stück  derselben  auf  die  Haut  legt,  oder 
gar,  wie  Dr.  Krogius,  mit  dem  Härchen  über  die  Haut  streicht,, 
kann  man  allerdings  das  Ergebnis  beeinflussen.  In  solchen  Fällen  wird 
das  feinste  Haar  I  sogar  auf  dem  Handrücken  regelmäßig  empfunden  L 
Ich  habe  dies  nie  getan,  sondern  nur  das  Ende  des  Härchens  auf  die 
Haut  gesetzt  und  gedrückt,  bis  es  sich  leicht  bog. 

]\Ieine  auf  der  analytischen  Wage  geeichten  Härchen  zeigen,  wie- 
früher schon  gesagt,  folgende  Beugungs widerstände :  1 0,001  gr,  II  0,002  gr,. 
III  0,003  gr,  IV  0,01  gr,  V  0,02  gr,  VI  0,1  gr,  VII  0,5  gr. 

Druckpunkte    habe    ich   nicht    ausgewählt ,    gerade    weil    ich    nicht 


—    96    —  1 

wollte,  daß  die  Versuchspersonen  schon  vorher  wissen,  wo  der  Reiz  er- 
folgen müsse.  —  Deshalb  berührte  ich  auch  in  beliebiger  Reihen- 
folge alle  20  geprüften  Hautstellen.  —  '] 

Der  „Zeuge"  notierte  die  Wahrnehmungen  einzeln,  und  die  Prüfung 
war  fertig,  sobald  das  feinste  Härchen  ermittelt  war,    welches  an  jeder    i 
einzelnen  Hautstelle  6  mal  ohne  Fehler  empfunden  wurde.    Um   dies  zu    ] 
finden,  waren  bei  den  meisten  Personen  200 — 300  Versuche  erforderlich. 
Auf  diese  Weise   traf  ich   natürlich  nicht  nur  Druckpunkte;    für  solche 
wäre  wohl  ein  noch  schwächeres  Härchen  ausreichend  gewesen.  — 

Nun    stellte    es    sich    heraus,    daß    nur    diejenigen    Personen 
merkliches  Ferngefühl  besaßen  (dieses  war  vorher  mit  den  Filz-     i 
Glas-  oder  Holzplatten   ermittelt   und  gemessen  worden),  welche  auf    i 
den  Hautstellen,  an  denen  die  „Blinden"  auch  nachKrogius    ] 
das  Ferngefühl  lokalisieren,  das  Härchen  No.  I  regelmäßig     I 
spürten.     Wahrnehmung   des   Härchens  II   an   diesen   Stellen     ] 
reichte  dazu  nicht  aus!   —   Zu  vergleichen  No.  20  (Tab.  1),  No.  29 
(Tab.  2),  No.  3  (Tab.  3),  No.  24  (Tab.  4),  No.  27  (Tab.  5),  No.  42  (Tab.  7), 
No.  43  (Tab.  8).  —  i 

Einseitiges  Druckgefühl  entsprach  einseitigem  Fern-  j 
gefühl,  zuweilen  auch  unsicherer  Lokalisation  vor  dem  Gesicht.  Zu  | 
vergleichen  No.  9  (Tab.  4),  No.  34  (Tab.  6).  [Bei  No.  34  habe  ich  in  j 
der  früheren  Arbeit  auf  die  Unsicherheit  der  Lokalisation  hingewiesen],  ] 
No.  39  (Tab.  7).  — 

Es   ist    wohl    selbstverständlich,    daß   die   Größe   der  Angriff s- 
f  lache  wesentlich  in  Betracht  kommt.    Es  gilt  dies  offenbar  für  Druck-    ] 
reize  wie  für  Wärmestrahlung.      Eine    empfindliche  Stirn  wiegt    \ 
infolge    ihrer   Flächengröße    wohl    50   feinfühlige    Nasen-     j 
spitzen   und   Ohrenläppchen  auf.     Dies  ist  früher  schon  gesagt     i 
worden.      Ich    habe    in    der    letzten    Arbeit,    Band  VII,  S.  30,    unter 
No.  39  (F.  G.)   auf  den  Einfluß   der  Flächengröße  hingewiesen.    (Breite     \ 
Stirn,  die  zur  Hälfte   äußerst  hart  fühlig  ist,    wie  die  ganze  rechte 
Seite.    Femgefühl  rechts  gleich  Null,  links  bedeutend.   Drucktabelle  7). 

Es  ist  deshalb  geradezu  lächerlich,  wenn  Truschel  die  Fünfer  der     ; 
ersten  Kolonne  (Druck  1  mg)  und  sogar  die  der  zweiten  Kolonne     ' 
(Druck  2  mg)  (!)  einfach  addiert,   um  zu  beweisen,   daß  die  von  mir  be-     1 
hauptete    Proportionalität    zwischen    Drucksinn    und    Femgeftihl    nicht 
existieren!     So  rechnet  er   sogar  heraus,   daß  die   sehr   hart  fühlige 
No.  43  (DB),  die  selbst  in  den  Ohrmuscheln  erst  das  Härchen  No.  II 
spürt,  eigentlich  druckempfindlicher  sei  als  solche,  die  an  den  wesentlich 
in  Betracht  kommenden   Stellen  des   hartfühligeren  Gesichts  für  I 
(1  mg)  empfindlich  waren.    (Drucktabelle  8)!  ' 


97    — 


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II  III  IV   V 

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Versu  chs 
Nr.  1  H.  W.  12  Jahre 

1— 1 
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Stirn 

Augenbrauenhaut .     .     . 
Augenbrauen    .... 
Ob.  Augenlid  .... 

Wimpern 

Äuß    Augenwinkel    .     . 

Wange 

Nasenspitze      .... 

Lippenrot 

Kinn 

Ob.  Ohnnuschelrand. 
Ohrläppchen     .... 
Innenseite  d.  Ohrmuschel 
Gehörgangmündung  .     . 
Rückseite  d.  Ohrmuschel 

Nacken 

Handrücken      .... 
Lesefingerspitze     .     .     . 
Ringfingerspitze     .     .     . 
Daumen 

ttlere  Tragweite  des  Fem- 
^efühls  bei  ruhiger  Körper- 
laltung  in  Zentimetern     . 

1                                                                                   ^rHrHTHrHrHrHr-lrHrH(M             ^ 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band. 


1.  Stirn 

:'.  Augenbrauenhaut  .     .     . 
.'•    Augenbrauen    .... 

4.  Ob.  Augenlid  .               . 

5.  Wimpern 

6.  Auß.  Augenwinkel 

7.  Wange 

8.  Nasenspitze      .... 

9.  Lippenrot 

10.  Kinn 

11.  Ob.  Ohrmuschelrand.     . 

12.  Ohrläppchen     .... 

13.  Innenseite  d.  Ohnnuschel 

14.  Gehörgangmündung  .     . 

15.  Rückseite  d.  Ohnnuschel 

16.  Nacken 

17.  Handrücken     .... 

18.  I^esefingerspitze 

19.  Ringfingerspitze    .     .     . 

20.  Daumen 

Mittlere  Tragweite  des  Fem- 
gefühls  bei  nihiger  Körper- 
haltung in  Zentimetern 

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en-Nr. 
V    VI  VII 

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1.  Stirn 

2.  Augenbrauenhaut .     .     . 

3.  Augenbrauen    .... 

4.  Ob.  Augenlid  .... 

5.  Wimpern 

6.  Äuß.  Augenwinkel    .     . 

7.  Wange 

8.  Nasenspitze      .... 

9.  Lippenrot 

10.  Kinn 

11.  Ob.  Ohrmuschelrand.     . 

12.  Ohrläppchen     .     .     .     . 

13.  Innenseite  d.  Ohrmuschel 

14.  Gehörgangmündnng  .     . 

15.  Rückseite  d.  Ohrmuschel 

16.  Nacken 

17.  Handrücken     .     .... 

18.  Lesefinger 

19.  Ringfinger 

20.  Daumen 

Mittleres  Ferngefühl   bei  ru- 
higer Körperhaltung  in  Zen- 
timetern      

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Augenbrauenhaut  .     .     . 
Augenbrauen    .... 
Ob.  Augenlid  .... 

Wimpern 

Äuß.  Augenwinkel    .     . 

Wange 

Nasenspitze      .... 

Lippenrot    

Kinn 

Ob.  Ohrmuschelrand.     . 
Ohrläppchen    .... 
Innenseite  d.  Ohrmuschel 
Gehörgangmündung  .     . 
Rückseite  d.  Ohrmuschel 

Nacken 

Handrücken     .... 

Lesefinger 

Ringfinger   

Daumen 

ttleres  Femgefühl  bei  ru- 
higer Körperhaltung  in  Zen- 
timetern      

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Versuchs 
Nr.  18*  Mag.  Wenuer 
(Taubblind) 

-Nr. 
V  1  VI  VII 

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1.  Stirn 

2.  Augenbrauenhaut .     .     . 

3.  Augenbrauen    .... 

4.  Ob.  Augenlid  .... 

5.  Wimpern 

6.  Äuß.  Augenwinkel    .     . 

7.  Wange 

8.  Nasenspitze       .... 

9.  Lippenrot 

10.  Kinn 

11.  Ob.  Ohrmuschelrand.     . 

12.  Ohrläppchen     .... 

13.  Innenseite  d.  Ohrmuschel 

14.  Gehörgangmündung  .     . 

15.  Rückseite  d.  Ohrmuschel 

16.  Nacken 

17.  Handrücken      .... 

18.  Lesefinger 

19.  Ringfinger 

20.  Daumen       .     .     .     .     , 

Mittleres  Ferngefühl   bei  ru- 
higer Körperhaltung  in  Zen- 
timetern      

102    — 


1.  Stirn 

2.  Augenbrauenhaut .     .     . 

3.  Augenbrauen    .... 

4.  Ob.  Augenlid  .... 

5.  Wimpern 

6.  Äuß.  Augenwinkel    .     . 

7.  Wange  (Jochbein)     .     . 

8.  Nasenspitze      .... 

9.  Lippenrot 

10.  Kinn 

11.  Ob.  Ohrmuschelrand  .     . 

12.  Ohrläppchen     .... 

13.  Innenseite  d.  Ohrmuschel 

14.  Gehörgangmündung  .     . 

15.  Rückseite  d.  Ohrmuschel 

16.  Nackenseiten    .     .     .     . 

17.  Handrücken      .... 

18.  Lesefinger 

19.  Ringfinger 

20.  Daumen 

Mittleres  Femgeftihl  bei  ru- 
higer Körperhaltung  in  Zen- 
timetern      

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103     - 


Nr.  42  G.  K.  20  Jahre 

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Tasthaar-Nr. 

III  IV   V    VI  VII 

1     1     1     1     1     1     1     1     1     1     1     1     1     1     1     1   »c  o  »o  o 

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Versuchs 
Nr.  40  R.  V.   29  Jahre 

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haar-Nr. 
IV    V 

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1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1      1                  ^ 

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Tasthaar-Nr 
III  IV    V 

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Stirn 

Augenbrauenhaut  .     .     . 
Augenbrauen    .... 
Ob.  Augenlid  .... 

Wimpern 

Äuß.  Augenwinkel     .     . 

Wange 

.  Nasenspitze      .... 

Lippenrot 

Kinn 

Ob.  Ohrmuschelrand.     . 
Ohrläppchen     .     ,     .     . 
Innenseite  d.  Ohrmuschel 
Gehörgangmündang  .     . 
Rückseite  d.  Ohrmuschel 

Nacken 

Handrücken     .... 

Lesefinger 

Ringfinger 

Daumen 

ttleres  Ferngefühl   bei  ca. 
1^  Wärme.  Bei  ca.  16-18<^ 
Wärme 

■i-i(Mcc^>^:ot^xajOT-i(Nco^>r:cc!t^aca50         ^ 

104 


1.  Stirn 

2.  Augenbrauenhaut  .     .     . 

3.  Augenbrauen    .... 

4.  Ob.  Augenlid  .... 

5.  Wimpern 

fi.  Auß.  Augenwinkel 

7.  Wange 

8.  Nasenspitze       .... 

9.  Lippenrot 

10    Kinn 

11.  Ob.  Ohrmuschelrand.     . 

12.  Ohrläppchen     .     .     .     . 

13.  Innenseite  d.  Ohrmuschel 

14.  Gehörgangmündung  .     . 

15.  Rückseite  d.  Ohrmuschel 

16.  Nacken 

17.  Handrücken     .     .     .     . 

18.  Lesefinger 

19.  Ringfinger 

20.  Daumen 

*VII  (500mg)noch  zuschwach. 
(Liest  viel).  Mittlere  Trag- 
weite des  Fenigefühls.     . 

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Versuchs 
No.  9  E.  J.  1907 

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—     105    — 

Wir  lesen  in  seinem  Artikel  irgendwo,  ungefähr  ich  erkenne  meine 
Hauptaufgabe  in  der  Bekämpfung  von  „Unsinn"  und  „Dogmen".  — 
Obiges  Ergebnis  gehört  offenbar  in  dieses  Kapitel,  wenn  es  auch  kein 
Dogma  ist.  Ich  kann  nur  bedauern,  daß  er  mir  so  viele  „Auf- 
gaben" gibt;  denn  ich  wüßte  meine  Zeit  besser  zu  verwenden!  —  Er 
sollte  wirklich  etwas  mehr  Mitleid  mit  mir  haben ! 

Ich  habe  ihm  übrigens  schon  vor  einem  Jahr  in  meiner  „Antwort" 
im  Hamburger  Kongreßbericht  S.  380  erklärt,  wie  ich  die  Propor- 
tionalität verstehe.  Es  steht  dort:  „Meine  Druckversuche  haben  immer 
ergeben : 

Feines  Druckgefühl  —  bedeutendes  Ferngefühl, 
Einseitiges  Druckgefühl    —   einseitiges  (zuweilen 

auch  unsicheres)  Ferngefühl, 
Hartes  Druckgefühl   —   Fehlen  des  Ferngefühls, 
Niedrige  Lufttemperatur  —  geringes  Ferngefühl, 
Höhere  Lufttemperatur  —  Steigen  des  Ferngefühls. 
So    verstehe   ich   die  Proportionalität."    —   Da  diese  Ant- 
wort Herrn  Truschel  sehr  nahe  angeht,  wird  er  obiges  wohl  gelesen  haben. 
Warum  hat  er  es  nicht  berücksichtigt  ?    Aus  allem  geht  für  mich  hervor, 
daß   er    seine  Kritik   meiner  Druckversuche  nicht  in  gutem  Griauben  ge- 
schrieben haben  kann.  — 

Die  Unsicherheit  der  Lokalisation  vor  dem  Gresicht,  z.  T.  verbanden 
mit  Einseitigkeit,  die  uns  schon  vor  ca.  2  Jahren  bei  No.  34  (FW) 
(Drucktabelle  6)  und  bei  No.  9  (EJ)  auffiel  [später  kam  noch  No.  39 
(FA,  Drucktabelle  7)  hinzu],  war  uns  damals  unerklärlich,  weil  ich 
noch  keine  Druckversuche  gemacht  hatte  und  noch  nicht  an  solche 
dachte.  Erst  durch  diese  wurde  mir,  d.  h.  uns  allen,  die  Sache  klar.  — 
Die  Druckempfindlichkeit  der  verschiedenen  Hautstellen  ist  indivi- 
duell sehr  verschieden.  So  schwankte  die  Druckempfindlichkeit  der 
Nasenspitze  zwischen  0,001  und  0,1  gr.  An  Normaldruckschwellen  für 
bestimmte  Hautstellen  glaube  ich  deshalb  nicht.  Auch  ist  das  Sensorium 
des  Menschen  abhängig  von  seinem  Befinden ,  von  seiner  Stinmaung, 
seiner  Aufmerksamkeit  und  besonders  von  seiner  Ermüdung,  Druck-  und 
Tastsinn  im  höchsten  Grade  von  der  Lufttemperatur.  Ich  habe  schon 
in  der  Arbeit  für  das  Internationale  Archiv  für  Schulhygiene  auf  Er- 
müdungsmessungen mit  Härchen  hingewiesen.  Absolute  Werte 
wird  man  deshalb  weder  bei  den  Platten  versuchen  (Messung  des  Fern- 
gefühls), noch  bei  der  Prüfung  des  Druck-  und  Temperatursinns  finden 
Sie  ändern  sich  mit  den  genannten  Begleitumständen.  Der  Einfluß  der 
Temperatur  auf  die  Tragweite  des  Ferngefühls  wurde  uns  erst  klar,  als 
wir  mehrere  Personen,  deren  Ferngefühl  an  kalten  Märztagen  1907  mit 


—    106    — 

den  Platten  gemessen  worden  waren,  im  Hochsommer  einer  neuen  Prüfung 
unterzogen.  Es  kamen  aber  auch  immer  neue  Personen  hinzu,  die  im 
Frühjahr  nicht  geprüft  worden  waren. 

Da  ich  aus  guten  Gründen  nur  experimentieren  wollte,  wenn 
mindestens  ein  sehender,  sachverständiger  Zeuge  verfügbar  war  (Geheim- 
versuche habe  ich  nicht  gemacht),  so  konnten  natürlich  nicht  alle  Ver- 
suche, die  sich  durch  lange  Monate  hinzogen,  bei  derselben  Temperatur 
(und  demselben  Ermüdungsgrad  etc.)  gemacht  werden.  Auf  das  kalte 
Frühjahr  war  der  heiße  Sommer  gefolgt.  Bei  höherer  Temperatur  stieg 
die  Tragweite  um  100 — 200  7o.  Wir  mußten  aber  die  Zahlen  benutzen, 
welche  wir  gefunden  hatten.  Unter  allen  Umständen  steht  aber  fest,  daß 
Bünde,  welche  im  Frühjahr  keine  Spur  von  Fernempfindung  gezeigt  hatten, 
auch  bei  hoher  Temperatur  keines  —  oder  höchstens  Spuren  —  bekamen. 

Meine  Zahlen  beziehen  sich  auf  ca.  10  qdm  große  Filz-Glas-  oder 
Holzplatten  etc.  Größere  Objekte  werden  weiter  gespürt.  Dr.  Woelfflin 
experimentiert  mit  1  qm  großen,  also  10  mal  größeren  Platten  und  läßt 
seine  Personen  gegen  dieselben  gehen.  So  hat  er  nach  meiner  Aut- 
fassung aus  2  Gründen  viel  größere  Zahlen  finden  müssen  und  sie  tat- 
sächlich gefunden.  Seine  Platten  sind  viel  größer.  Der  Einfluß  der 
Größe  ist  bekannt.  Beim  Gehen  gegen  Objekte  muß  die  Luft  \del 
rascher  verdrängt,  also  auch  mehr  verdichtet  werden,  als  bei  sehr 
langsamer  Plattenbewegung  gegen  die  Köpfe  der  ruhig  sitzenden 
Versuchspersonen.  Raschere  Bewegung  der  Platten  oder  Schwanken 
derselben  an  der  Stange  erhöhte  auch  bei  unseren  Versuchen  die  Trag- 
weite des  Ferngefühls.  Ich  habe  auch  immer  bemerkt,  daß  Blinde,  wenn 
sie  in  meinem  Arbeitszimmer  unmittelbar  neben  der  Türe  stehen  blieben, 
längere  Zeit  mit  mir  sprachen  und  sich  dann  langsam  umkehrten,  nach- 
dem sie  ihren  Abstand  von  der  Türe  vergessen  hatten,  viel  öfter 
anstießen,  als  wenn  sie  zuerst  2 — 3  Schritte  machen  mußten.  — 

Wird  durch  raschere  Bewegung  oder  Schwanken  der  Platten  die 
Wärmestrahlung  gesteigert,  oder  reizt  der  Lnft-Strom  oder 
Widerstand  außer  dem  Drucksinn  auch  den  Temperatursinn? 

Höhere  Lufttemperatur  erhöht,  wie  gesagt,  die  Tragweite  des  Fem- 
gefühls, weil  die  Haut  bei  Wärme  empfindlicher  wird.  Kalte  Hände 
tasten  bekanntlich  schlecht. 

Ich  glaube  nun  aber,  wie  Dr.  Krogius  doch  wohl  auch,  daß  die 
Wärme-  oder  „Kälte "^-Strahlung  um  so  fühlbarer  wird,  je  größer  der 
Unterschied  zwischen  der  Körpertemperatur  und  derjenigen  des 
strahlenden  Objekts  ist.  Sie  scheint  mir  desto  weniger  fühlbar 
werden  zu  müssen,  je  mehr  sich  die  Lufttemperatur,  also  auch  die  der 
Objekte ,   der  Körpertemperatur  nähert.    Bei  geringer  Differenz ,   d,  h. 


-     107    — 

sobald  sich  die  Lufttemperatur  der  Blutwärme  näherte,  müßte  also  das 
Ferngefühl  schwinden,  wenn  es  nur  auf  Wärmestrahlung  beruhte.  Das 
Gegenteil  war  der  Fall!  Je  kleiner  der  Temperaturunter- 
schied, desto  größer  die  Tragweite  des  Ferngefühls  unter 
sonst  gleichen  Bedingungen.  Aus  Wärmestrahlung  erklärt  sich  dies  m.  E. 
nicht.  — 

Wie  Kälte  den  Tastsinn,  das  extensive  Empfinden,  heruntersetzt, 
so  schädigt  sie  m.  E.  auch  den  Drucksinn,  das  intensive  Empfinden  — 
und  damit  das  Ferngefühl. 

In  dem  Abschnitt  des  Herrn  Dr.  Krogius  über  thermische  Reize 
(S.  170)  finde  ich  zunächst  einige  Ungenau! gkeiten.  Er  sagt,  daß  meine 
wenigen  Experimente  über  den  Temperatursinn  der  Zurückführung  des 
„sechsten  Sinns"  (!)  auf  thermische  Reize  widersprechen.  Sie  wider- 
sprechen nach  meinen  Worten  nur  seiner  Zurückführung  auf  thermische 
Reize  allein.  Ich  habe  S.  160  des  Internationalen  Archivs  und  S.  327 
des  Jubiläumsbuchs  unserer  Anstalt  gesagt  (gesperrt):  „Auf  ther- 
mische Einflüsse  allein  läßt  sich  letzteres  (das  Ferngefühl) 
also  nicht  zurückführen,  obgleich  solche  —  bei  diesem 
mehr,  bei  einem  andern  weniger  —  mitzuwirken  scheinen." 
Das  „allein"  ist  ihm  ofi'enbar  entgangen,  obwohl  es  den  ganzen  Satz 
beherrscht.  Dr.  Krogius  tadelt  es  ferner,  daß  die  Versuchspersonen 
sich  ^/4  Minute  lang  über  einen  Kübel  beugen  mußten,  der  auf  einem 
Tische  stand,  wobei  sie  die  Köpfe  (oberer  Stirnrand)  auf  eine  Querleiste 
stützten,  damit  der  Abstand  von  dem  Wasserniveau  konstant  blieb.  Er 
glaubt,  der  Blutandrang  zum  Kopfe  habe  der  Wahrnehmung  geschadet. 
Ich  habe,  während  ich  die  ca.  200  Druckplatten  zu  Atlanten  und  Bilder- 
tafeln für  Geographie,  Zoologie,  Physik,  Botanik  etc.  gravierte  und 
modellierte,  mindestens  25  Jahre  lang  fast  täglich  und  nächtlich,  während 
langer  Jahre  auch  jeden  Sonntag,  3  bis  10  Stunden,  ohne  den  Kopf 
stützen  zu  können,  in  ähnlicher  Stellung  zugebracht,  ohne  zu  bemerken, 
daß  ich  für  Temperatureinflüsse  unempfindlich  wurde.  So  gefährlich 
scheint  das  also  nicht  zu  sein.  — 

Wenn  Dr.  Krogius  weiter  sagt,  die  Temperatur  des  Wassers  sei 
während  meiner  Versuche  „auf"  10  Grad  gesunken,  so  darf  ich  darin 
nur  einen  Druckfehler  erblicken.  (Einen  ähnlichen  Druckfehler  finde  ich 
weiter  auf  S.  163,  wo  er  von  feinhörigen  „Stotternden",  statt  Blinden, 
spricht.) 

Die  Temperatur  des  ersten  Kübels  fiel  während  der  zweiten  Ver- 
suchsreihe allerdings  um  fast  10^,  d.  h.  von  46^  auf  36,4*^,  die  des 
zweiten  von  46,3^  auf  36,6^  etc.  Es  wurde  aber  darauf  gesehen,  daß 
die  Temperaturdifferenz  zwischen   beiden  Kübeln   möglichst   kon- 


—    108    — 

stant  blieb  (0,3^).  —  Diese  Konstanz  scheint  mir  das  Wesentlichste 
zu  sein. 

Wenn  das  Verfahren  mangelhaft  ist,  so  war  es  eben  für  alle, 
Fernfühlige  und  andere,  Sehende  und  Blinde,  gleich  mangelhaft.  — 
Eine  große  Überlegenheit  der  Blinden  über  die  Sehenden,  falls  bei  uns 
eine  solche  bestände,  hätte  sich  also  doch  zeigen  müssen! 

Ich  finde  übrigens  dieses  Verfahren,  bei  dem  gleichzeitig  die  ganze 
Gesichtshaut  durch  die  aufsteigenden  Dämpfe  getroffen  wird,  für  unser n 
Zweck  besser  als  die  Prüfung  je  eines  Wärme-  und  Kältepunktes,  der 
zufällig  sehr  empfindlich,  oder  auch  weniger  empfindlich  sein  kann.  Ich 
glaube ,  daß  sich  dies ,  wie  beim  Drucksinn ,  von  Person  zu  Person  und 
von  Hautstelle  zu  Hautstelle  ändere.  —  Bei  unserem  Verfahren  werden 
aber  gleichzeitig  alle  Wärmepunkte  der  Gesichtshaut  getroff'en. 

Nun  haben  Blinde  ohne  eine  Spur  von  Femgefühl  die  kleine  Tem- 
peraturdiff'erenz  —  trotz  Blutandrangs  —  richtig  herausgefunden 
(z.  B.  No.  23  (ES)  No.  24  (CS);  Blinde  mit  Femgefühl  haben  sich  geirrt. 
(No.  1  (HW)  2  (JS)  5  (JSch.).  Immer  hat  sich  geirrt  No.  9,  heute  die 
Fernfühligste  von  allen.  —  Zu  den  sichersten  gehörte  die  Taubblinde 
No.  18,  die  auch  den  Geruchsinn  verloren  hat,  und  große  Raumschwellen, 
aber  leidlich  feinen  Drucksinn  zeigte.  Der  Temperatursinn  scheint  von  den 
Tastkreisen  (Raum schwellen)  unabhängig  zu  sein.  Ob  er  mit  dem  Druck- 
sinn steigt  und  fällt,  vermag  ich  nicht  zu  sagen.  Eine  geringe  Durch- 
schnitts Überlegenheit  glaubte  ich  bei  Fernfühligen  Personen  zu  finden. 
Ich  durfte  es  aber  nicht  wagen,  aus  derselben  den  Schluß  zu  ziehen, 
daß  sich  das  Ferngefühl  aus  thermischen  Reizen  „allein"  erklären  lasse. 
Deshalb  unternahm  ich  die  Prüfung  des  Drncksinns  und  fand  zum 
ersten  Mal  eine  augenfällige  Übereinstimmung  desselben  mit 
dem  Ferngefühl.  — 

Über  den  Einfluß  des  Kopfverbandes  gehen  unsere  Ansichten  nicht 
so  weit  auseinander,  wie  Dr.  Krogius  glaubt.  —  Ich  habe  schon  vor 
langen  Jahren  darauf  hingewiesen  (auch  in  der  Schrift  „Zur  Blinden- 
physiologie''),  daß  sich  die  Blinden  in  der  Regel  weniger  gut  orientieren, 
wenn  man  ihnen  aus  irgend  einem  Grunde  die  „Augen",  also  auch  den 
wichtigsten  Teil  der  Stirn,  verbinden  muß.  Der  untere,  sehr  druck- 
empfindliche Teil  derselben ,  sowie  Brauen  und  Wimpern ,  spielen  aber 
nach  meiner  Auff'assung  beim  Ferngefuhl  eine  große  Rolle.  —  Unsere 
Versuche  mit  den  sehr  fernfühligen  No.  1,  2  und  17  haben  aber  ergeben, 
daß  das  vollständige  Umwickeln  des  Kopfes  bei  festverstopften  Ohren 
(Vaselin- Wattepfropfen  etc.)  das  Femgefühl  wohl  meistens  herabminderte, 
nicht  aber  aufhob.  No.  1  nahm  bei  solcher  Vermummung  an  einem 
kalten  windigen  Tage  noch  die  meisten  dünnen  Bäume  wahr,   an  denen 


—    109    — 

er  vorüberging,  und  No.  2  machte  noch  eine  Reihe  von  Wahrnehmungen, 
obwohl  Augen  und  Ohren  auch  noch  mit  Wattepolstern  bedeckt 
waren.  (Ich  verweise  auf  S.  132  bis  134  des  Archivs,  oder  S.  310 — 312 
des  Jubiläumsbuchs).  Dies  stimmt  mit  den  Versuchen  von  Dr.  Krogius 
überein.  — 

Seit  ich  den  Einfluß  der  Temperatur  auf  die  Fernempfindlichkeit 
der  Haut  kenne,  glaube  ich,  daß  die  Erwärmung  der  Gesichtshaut  durch 
die  Umhüllung  an  dem  kalten,  windigen  Märztage  den  Ausfall  wenig- 
stens teilweise  deckte,  welcher  durch  das  Festhalten  der  Brauen  und 
das  Ausschalten  des  Trommelfels,  des  empfindlichsten  taktilen  Or- 
gans, bewirkt  wurde.  Die  Umhüllung  schloß  die  Luft  nicht  hermetisch 
vom  Gesicht  ab;  nur  das  Trommelfell  war  durch  Pfropfen  und  Polster 
vor  dem  Luftzutritt  geschützt.  —  Zuweilen  wurde  aber  ofi'enbar  auch 
mit  Überlegung  aus  plötzlich  eintretendem  Windschatten  auf  Vorhan- 
densein und  Richtung  eines  Baums  geschlossen.  Dies  hat  mit  dem 
Ferngefühl  natürlich  nichts  zu  tun;  es  ist  bewußte  Temperatur-  und 
Druck- Wahrnehmung.  —  Auch  diente,  wie  offenbar  schon  bei  Truschels 
Gehbeobachtungen,  gelegentlich  das  Getast  der  Füße  als  Führer  oder 
Verführer,  sobald  die  Blinden  frei  gingen.  Es  zeigte  sich  dies  be- 
sonders in  einem  Fall  ganz  deutlich.  No.  2  markierte  fest  ein  nicht 
vorhandenes  Hindernis  (Baum),  als  er  an  eine  von  einer  unterirdischen 
Dohle  herrührende,  erhöhte  Stelle  kam.  Er  tastete  dann  mit  den  Füßen 
vor ,  weil  er  offenbar  glaubte ,  den  Erdwulst  am  Fuße  eines  Baum- 
stammes vor  sich  zu  haben.     (Archiv  S.  134.) 

Diese  Versuche  mit  No.  1  und  2  (die  ersten  von  allen)  krankten 
also  an  denselben  Übeln,  die  ich  Truschel  zum  Vorwurf  gemacht  habe.  — 
Sie  fanden  in  genau  bekanntem  Gebiet  statt ,  wo  es ,  wie  wir  bald  er- 
fuhren, ganz  unmöglich  war,  die  Leute  zu  desorientieren.  Letzteres 
hat,  mir  später  auch  eine  von  Truschels  seitherigen  Versuchspersonen  er- 
klärt, mit  den  Worten :  „Im  Anstaltsgebiet  können  Sie  mich  nicht  prü- 
fen, weil  ich  sofort  genau  weiß,  wo  ich  bin".  Und  doch  hatte  dieser  junge 
Mann  die  Anstalt  seit  mehreren  Jahren  verlassen !  —  Sobald  auch  nur 
ein  Baum  richtig  lokalisiert  war,  konnten  die  Blinden  sofort  wissen, 
wo  die  andern  stehen  mußten,  weil  ihnen  die  Richtung  der  Baumreihen 
und  ihre  Abstände  bekannt  waren.  Auch  das  Gehen  im  Zickzack  des- 
orientierte sie  nicht  genügend.  Bei  solchen  Gehversuchen  weiß  man 
nie,  in  welchem  Maße  das  Ortsgedächtnis ,  das  Getast  der  Füße ,  das 
Gehör,  der  Geruchssinn,  bewußte  Temperaturwahrnehmungen  etc. 
(Wind- Windstille)  und  endlich  das  eigentliche  „  Ferngefühl '^  bei  der 
Orientation  beteiligt  sind.  —  Deshalb  haben  wir  unsere  Versuche 
neben  Bretterwänden   und  Bäumen   (nach  diesen  Vorversuchen  mit  nur 


—    110    — 

2  Personen)  auf  ganz  unbekannte  Gebiete  verlegt,  wo  jeder  Anhalts- 
punkt fehlte.  (Die  schweren  Wände  wurden  auf  Wagen  hinausgeführt.) 
—  Die  Blinden  konnten  dort  weder  wissen,  wo  die  Hindernisse  standen, 
noch  in  welcher  Richtung  sie  an  den  straff  gespannten  Seilen  gingen.  — 
Dort  haben  wir  gezeigt,  daß  die  ersten  (und  letzten)  Wahrnehmungen 
der  schräg  zur  Ganglinie  stehenden  Bretterwände  nicht,  wie  Tr.  im 
3.  Bande  behauptet,  bei  dem  ersten  (und  letzten)  möglichen  Lot  von 
der  Ganglinie  auf  die  Wand  erfolgen.  — 

Aber  auch  so  ist  es  bei  Gehversuchen  nicht  möglich,  die  Fem- 
empfindung, welche  bald  als  „Druck",  bald  als  „Berührung"  (Dr.  Woelfflin), 
bald  als  „Schatten"  (Dr.  Krogius),  bald  als  etwas  „ Undefinierbares ^ 
niemals  aber  als  Wärme  bezeichnet  wird,  von  den  Fern  Wahrneh- 
mungen durch  die  anderen  Sinne  scharf  zu  scheiden,  sie  gleichsam  aus 
der  gemeinsamen  Lösung  niederzuschlagen,  zu  fällen,  oder  sie  zur  Kry- 
stallisation  zu  bringen.  — 

Deshalb  haben  wir  unsere  Hauptversuche  in  einen  möglichst 
großen,  geschlossenen  Raum  verlegt,  die  Personen  unbeweglich  sitzen 
lassen  und  die  Objekte  (Filz-Glas-Holz-  und  Pappeplatten)  an  langer, 
dünner  Stange  ihrem  Gesicht  möglichst  langsam  genähert,  um  auch  die 
Einwirkung  durch  den  Körper  des  Experimentators  auszuschließen.  (J. 
A.  F.  Seh.  S.  121—156,  Jubiläumsbuch  Großquartseiten  315—326).  — 

Während  dieser  Plattenversuche  haben  wir  auch  bei  No.  17,  einem 
58jährigen  Musik-  und  Stimmlehrer,  die  Experimente  mit  Kopfverband 
und  Ohrverschluß  wiederholt. 

Bei  fest  mit  den  Fingern  verstopften  Ohren  stieg  sein  Ferngefühl 
im  kalten  Turmsaale  vor  dem  Gesicht  sogar  im  Mittel  von  64  auf 
70  cm,  während  es  sich  seitlich,  infolge  der  Ausschaltung  der  Trommel- 
felle, der  empfindlichsten  Tastorgane,  von  durchschnittlich  41  auf  28  cm 
verminderte,  aber  nicht  aufhörte.  — 

Die  Versuche  wurden  später  bei  verbundenem  Kopf  wiederholt. 
Zuerst  wurden  die  „Augen"  mit  einem  mehrfach  zusammengelegten, 
weißen,  leinenen  Tuch  verbunden.  Die  mittlere  Tragweite  vor  dem  Ge- 
sicht betrug  62  cm.  Dann  umwickelten  wir  ihm  Stirn,  Augen  und 
Ohren  mit  einem  größeren  weißen  Tuche.  Da  erklärte  er:  „So  ist  es 
schön  warm;  so  wird  es  noch  besser  gehen**.  Tatsächlich  stieg  das 
mittlere  Femgefühl  vor  dem  Gesicht  auf  76  cm.  (Er  sagte:  „So  ist  es 
schön  hell'*).  Auf  seinen  Wunsch  wurde  ihm  noch  ein  zweites,  weißes 
Tuch  um  den  Kopf  gebunden.  Es  zeigte  sich  keine  Veränderung.  Er 
verlangte  dann  noch  ein  schwarzes  Tuch,  weil  er  meinte,  seine  (toten) 
Augen  könnten  doch  mitspielen,  obwohl  er  nie  gesehen  hat,  —  da  er  ja 


—   111   — 

alles  in  der  Augengegend  spüre.     Dann   sank    das  Femgefühl   bei   den 
üblichen  5  Versuchen  vorn  wieder  auf  ein  Mittel  von  64  cm. 

Nun  erlaube  ich  mir  die  Frage:  Hätte  das  schwarze  Tuch  für 
Wärmestrahlung  nicht  günstiger  wirken  müssen,  als  weiße  Tücher? 
Das  Gegenteil  war  der  Fall.  Dieselbe  Erscheinung  ist  bei  kürzlich  ge- 
machten Versuchen  etwas  anderer  Art,  von  denen  später  die  Rede  sein 
wird,  zutage  getreten.  Ich  glaube  also  immer  noch  nicht,  daß  nur  die 
strahlende  Wärme  oder  „Kälte''  unserer  Platten,  welche  nur  Lufttem- 
peratur besaßen,  die  von  Dr.  Krogius  vermutete  Wirkung  ausgeübt 
habe.  —  Die  Strahlung  der  lOÜO  bis  1800  mal  größeren  Wände ,  des 
Fußbodens  und  der  Decke  hätte  doch  wohl  wirksamer  sein  müssen  als 
die  der  Platten.  Dr.  Krogius  sagt  femer,  es  sei  bewiesen,  daß  die 
Leitung  durch  die  Tücher  und  nicht  um  dieselben  herum  erfolge.  — 
Bei  unseren  weichen  Tüchern  dürfte  dies  teilweise  zutreffen  —  bei 
seinen,  für  Luft  undurchlässigen  Tüchern  wohl  nicht.  Dieselben  mußten 
doch  etwas  steif  sein.  Es  wird  mit  Tüchern,  besonders  mit  steifen,  oder 
gar  mit  Papierstreifen  niemals  gelingen ,  die  Kopfhaut  mit  Einschluß 
aller  Teile  der  so  druckempfindlichen  Ohrmuschel  und  des  noch  viel  sen- 
sibleren Trommelfells  hermetisch  abzuschließen.  Dies  könnte  nur 
geschehen,  wenn  der  Kopf  eine  glatt  polierte  Walze  wäre !  Es  werden 
neben  der  Nase,  bei  den  Ohrmuscheln  etc.  immer  Lücken  bleiben,  welche 
der  Luft  den  Zutritt  zu  der  Augengegend  und  dem  Trommelfell  ermög- 
lichen, wenn  auch  die  wirklich  feste  Bedeckung  wichtiger  Stellen  (Stirn, 
Brauen,  Wimpern)  eine  meistens  eintretende  Herabminderung  oder 
Schwächung  des  Ferngefühls  erklärt.  Luftdruck  wird  wohl  den  Weg 
um  solche  Binden  herum  finden.  Etwas  anders  verhält  es  sich  mit  nassen 
Kopfverbänden,  die  Dr.  Krogius  Band  VII 178  beschreibt.  Solche  passen 
sich  der  Haut  natürlich  viel  enger  an  und  sind  undurchlässiger,  schließen 
also  Luftreize  von  den  fest  bedeckten  wichtigsten  Stellen  des  Gesichts 
Stirn,  Brauen,  Schläfen)  größtenteils  aus.  Schon  diese  Tatsache  erklärt 
zur  Genüge  die  sehr  bedeutende  Herabminderung  der  Fernempfindung  ^). 
Das  Durchtränken  der  Binden  mit  heißem  Wasser  scheint  mir  von  unter- 
geordneter Bedeutung   zu  sein.     Infolge    der  Verdunstung   des   Wassers 


4)  Die  bei  verschiedenen  Forschern  und  oft  auch  bei  derselben  Versuchsperson 
schwankenden  Folgen  des  Kopfverbandes  scheinen  mir  nicht  nur  von  dessen  Durchlässig- 
keit, sondern  hauptsächlich  von  dessen  Festigkeit  abzuhängen.  Wenn  derselbe  lose 
angelegt  ist,  schaltet  er  Luftdruck  ja  nicht  aus  und  beeinträchtigt  die  Empfindlichkeit  der 
Haut  nicht.  Liegt  der  Verband  aber  so  fest  an,  daß  er  die  Haut  zusammenschnürt,  preßte 
so  wird  dieselbe  natürlich  für  äußerst  schwache  Luftdruckunterschiede  unempfind- 
lich. Man  bewirkt  ja  durch  das  Abschnüren  von  Gliedmaßen  vor  Operationen  sogar 
Anaesthesie!  —  Dies  ist  bis  jetzt  nicht  beachtet  worden.  — 


—    112    — 

mußte  sich  die  Binde  sehr  bald  bis  zur  Hauttemperatur  abkühlen.  Der 
das  Gesicht  bestrahlende,  um  40—60  qcm  große,  luftwarme  Zylinder- 
streifen dürfte  aber  die  Abkühlung  (nur  solche  könnte  er  durch  Strah- 
lung bewirken)  durch  die  Luft  selbst  und  durch  die  unendlich  viel 
größeren  Laboratoriumswände  kaum  wesentlich  beschleunigt  haben.  Seine 
kalorische  Wirkung  kam  offenbar  nicht  in  Betracht  (brennende  Kerze 
vor  heißem  Ofen),  und  der  Einfluß  der  durch  die  Annäherung  bewirkten 
Luftströmung  war  durch  die  nasse  Binde  fast  völlig  aasgeschaltet,  nur 
das  Trommelfell  scheint  unter  solchen  Umständen  taktilen  Einflüssen 
noch  zugänglich  gewesen  zu  sein,  weil  die  Ohren  nicht  verstopft  waren. 
So  erkläre  ich  mir  die  starke  Herabminderung  ohne  Aufhebung.  Der 
an  anderer  Stelle  ausgesprochenen  Behauptung,  daß  femfühlige  Personen 
die  Femempfindung  ausnahmslos  im  Gesicht  lokalisieren,  kann  ich  nur 
zustimmen,  wenn  Dr.  Krogius  das  Trommelfell  zur  Gesichtshaut  rechnet. 
Ich  kenne  mehrere  gebildete  Personen ,  welche  den  Druckreiz  zuerst 
im  empfindlichsten  Trommelfell  und  erst  nachher  bei  weiterer  Annäherung 
des  Objekts  im  Gesicht  wahrnehmen.  —  Wenn  es  auch  solche  gibt, 
welche  die  Wangen  als  empfindende  Stellen  bezeichnen,  so  beweist  die 
m.  E.  nur,  daß  bei  ihnen  die  Wangen  empfindlicher  sind  als  die  Stirn. 
Dies  ist ,  wie  meine  Drucktabellen  zeigen ,  individuell  verschieden.  — 
Dr.  Cohn- Berlin  hat  mir  übrigens  erklärt,  daß  er  alles  am  Oberarm 
spüre.  Unter  allen  Umständen  unterscheiden  diese  Personen  nicht 
Tonintervalle  mit  dem  Arm,  oder  mit  den  Wangen!  Was  ich  von 
den  weichen ,  trockenen  Binden  gesagt  habe ,  gilt  auch  von  der  Ein- 
schaltung luftundurchlässiger  Schirme  zwischen  Objekt  und  Gesicht. 
Wärmestrahlen  verbreiten  sich  wohl  geradlinig.  Wärmestrahlung 
kann  auf  diese  Weise  ausgeschaltet  werden,  nicht  aber  Luftdruck.  Der 
Druck  breitet  sich  in  Flüssigkeiten  —  und  die  Luft  ist  auch  eine  solche  — 
nicht  geradlinig,  sondern  nach  allen  Seiten  aus.  Wenn  eine  volle  Fla- 
sche zu  stark  verkorkt  wird,  so  stößt  der  Druck  auf  die  Flüssigkeit 
nicht  nur  an  dem  gegenüberliegenden  Boden  ein  rundes  Loch  heraus, 
dessen  Durchmesser  dem  des  Zapfens  entspricht.  Ich  glaube  deshalb, 
daß  Luftdruck  auch  den  Weg  um  Schirme  und  steife  Binden  herum 
finde ;  (er  findet  ja  den  Weg  in  den  Körper  hinein).  Diesen  Weg  nehmen 
Wärme  strahlen  allerdings  nicht. 

Dr.  Krogius  schreibt  die  Wirkung  des  kleinen,  leeren,  sich  nä- 
hernden Glaszylinders  der  Wärmestrahlung  zu,  übersieht  aber,  wie 
mir  scheint,  daß  die  unendlich  viel  größeren  Laboratoriums- 
wände  mit  Einschluß  der  Decke  und  des  Fußbodens  doch  sehr  viel 
mehr  Wärme  oder  „Kälte"  anstrahlen  mußten  als  dieser  kleine  8  cm 
dicke,   gleich  warme   oder   kalte  Glaszylinder,  dessen  Wärmestrahlung 


—    113    — 

nach  Krogius  schon  so  intensiv  gewesen  sein  soll,  daß  ihn  die  Blinden 
infolge  derselben  sicher  lokalisierten,  obgleich  ein  Zylinder  die  Strahlen 
zerstreut. 

Wir  spüren  ja,  auch  ohne  „f ernf ühlig''  zu  sein,  die  Nähe  eines 
kalten  Fensters ,  einer  offenen  Türe ,  einer  kalten  Mauer  oder  eines 
warmen  Ofens.  Wenn  aber  zwischen  uns  und  dem  heißen  Ofen  noch 
eine  brennende  Kerze  gestellt  wird,  so  wird  durch  ihre  Ausstrahlung 
doch  wohl  nicht  die  Ofenwärme  derart  ,, übertönt",  daß  letztere  wir- 
kungslos wird  und  wir  nur  noch  die  Kerzenflamme  durch  den  Tempe- 
ratursinn wahrnehmen.  —  So  verhält  es  sich  mit  dem  luftwarmen  kleinen 
Zylinder  und  den  gleich  warmen,  aber  sehr  viel  größeren  Laboratoriums- 
wänden etc.  —  Wenn  die  Blinden  diesen  kleinen,  kalten,  sich  nä- 
hernden Zylinder  doch  auf  kürzere  Entfernung  wahrnahmen,  so  beruhte 
dies  meines  Erachtens  wesentlich  auf  taktilen  Reizen  (Luftstrom), 
und  nur  die  größere  Tragweite  beim  Gebrauch  des  warmen  Zylinders, 
also  die  Differenz,  kann  auf  Rechnung  des  Temperatursinns  gestellt 
werden.  — 

Dr.  Krogius  glaubt,  S.  174,  mich  etwas  mitleidig  daran  erinnern 
zu  müssen ,  daß  wir ,  wenn  von  strahlender  Wärme  die  Rede  sei, 
auch  von  Kältestrahlen  zu  sprechen  haben.  —  Von  Kältepunkten  der 
Haut  hatte  ich  in  Nagels  Physiologie  auch  schon  gelesen.  —  Hier  er- 
laube ich  mir  die  bescheidene  und  bemitleidenswerte  Frage:  Was  ist 
,, Kälte"  im  physiologischen  Sinne,  oder  was  empfinden  wir  als  ,, Kälte"  ? 
Doch  wohl  nur  ein  rasches  Sinken  der  Temperatur!  Im  Sommer  em- 
pfinden wir  als  Kälte,  was  wir  im  Winter  schon  Wärme  nennen.  Wenn 
wir  an  einem  eisigkalten ,  windigen  Wintertage  vom  freien  Felde  in 
einen  Wald  hinein  kommen ,  fühlen  wir  uns  schon  ganz  behaglich. 
„Wärme"  und  „Kälte"  bezeicbnen  also  in  unserem  Falle  sehr  elastische 
Begriffe.  —  Da  unsere  ersten  Plattenversuche  im  kalten  März  1907  im 
ungeheizten  Tumsaale  stattfanden,  konnte  allerdings  eher  von  Kälte- 
als  von  Wärmestrahlen  die  Rede  sein:  Sollten  aber  die  kleinen,  luft- 
kalten Filz-Grias- etc.  Platten  mehr  ,.Kälte''  ausgestrahlt  haben,  als  die  uns 
umgebenden  —  aber  ruhigen  —  Wände,  die  Decke  und  der  Fußboden? 
Und  doch  wurden  diese  Platten  von  fernfühligen  Personen,  trotz  der 
Wände,  wahrgenommen,  wenn  man  sie  gegen  ihre  Köpfe  be- 
wegte. Wurde  ihre  Kältestrahlung  durch  diese  Bewegung  derart  ver- 
stärkt, daß  sie  alles  Andere  überstrahlten? 

Wenn  ich  mich  in  einem  frisch  geheizten  Zimmer  an  eine  noch 
kalte  Mauer  stelle,  empfinde  ich,  ohne  fernfühlig  zu  sein,  die  Kälte  oben 
auf  der  Stirn.  Ist  dies  Kältestrahlung  allein,  oder  Wärmeentzug, 
oder  Luftströmung?     Es  mag  „Kältestrahlung"  im  Spiel   sein;    viel- 

Meuraanh,   Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  8 


—     114     — 

leicht  kommen  aber  doch  auch  die  anderen  Faktoren  in  Betracht.  — 
Sollte  nicht  etwa  das  wärmere  Gesicht  Wärme  ausstrahlen? 
Die  Erde  bewegt  sich  im  kalten  Weltraum.  Während  der  Nacht  kühlt 
sie  sich  gewöhnlich  ab,  besonders  bei  klarem  Himmel.  Ist  dies  aiit 
„Kältestrahlung"  des  Weltraums,  oder  aut  Wärmeausstrahlung  der 
Erde  zurückzuführen?  Wenn  wir  in  einer  Kiste  eine  heiße  Kngf-l 
und  ein  Stück  Eis  neben  einander  legen,  ohne  daß  sie  sich  berühren,  > 
kühlt  sich  die  Kugel  ab  und  das  Eis  schmilzt.  Um  zu  schmelzen  braucht 
das  Eis  Wärme.  Ist  diese  dadurch  entstanden,  daß  das  Eis  seine  Kälte 
ausstrahlte,  oder  dadurch,  daß  es  von  der  Kugel  Wärmestrahlen 
empfing  ?  —  Sollte  es  sich  mit  den  warmen  Köpfen  und  den  kalten  Zy- 
lindern nicht  ähnlich  verhalten,  —  wenn  nun  einmal  alles  auf  Wärme- 
strahlung der  Objekte  (?)  beruhen  muß? 

Neben  der  kalten  Mauer  kommt  aber  vielleicht  doch  auch  Luft- 
strömung, bezw.  Wärmeleitung  in  Betracht,  wenn  Dr.  Krogius 
diese  auch  ausschließt.  —  Warme  Luft  steigt,  kalte  sinkt.  Neben  der 
kalten  Mauer  muß  also  ein  kalter  Strom  in  die  Tiefe  gehen,  und 
dieser  trifft  meine  Stirn  von  oben.  — 

Dies  könnte  auch  mit  Dr.  Woelffiins  Beobachtungen  (S.  193)  in  Ein- 
klang gebracht  werden.  Er  sagt  dort:  „Die  Angabe,  daß  nur  Gegen- 
stände von  Blinden  perzipiert  werden,  welche  mindestens  Achselhöhe 
erreichen,  muß  ich  entschieden  modifizieren.  Wurde  der  Kopf  etwas 
gesenkt  gehalten,  so  fand  auch  die  Wahrnehmung  von  Bänken,  Tischen 
und  ähnlichen  Gegenständen  bei  Blinden  mit  gutem  „Fernsinn"  statt 
Es  scheint  sich  darum  zu  handeln,  daß  die  refiektierten  Luftwellen 
möglichst  senkrecht  auf  die  Stirne  auftreifen,  während  sie  bei  schiefem 
Aufiallen  entsprechend  weniger  perzipiert  werden.  (Druck?)  Es  sei  hier 
noch  der  Tatsache  Erwähnung  getan,  daß  das  Ferngefühl  den  Blinden 
nicht  bloß  von  der  Annäherung  an  das  Hindernis  unterrichtet,  sondern 
ihm  auch  Mitteilung  zukommen  läßt  von  der  Größe  bezw.  Höhe  des- 
selben. So  konnte  fast  immer  mit  Sicherheit  die  Nähe  der  Wand  von 
derjenigen  einer  Holztafel  oder  eines  ähnlichen  Gegenstandes  unterschieden 
werden.  Bei  ersterem  Hindernis  gab  der  Patient  an,  „es  komme  das 
Gefühl  von  oben  herab  auf  seine  Stirn";  bei  letzterem  dagegen 
fühlte  er  die  Empfindung  direkt  auf  sein  Gesicht  einwirken.  — 

Bei  kleinen  Gegenständen,  8  cm  dicken  Glaszylindern  und  kleinen 
Filz-  oder  Glasplatten  wird  von  einer  absteigenden  Strömung  allerdings 
nicht  die  Rede  sein  können ;  auch  nicht  vom  Zerreißen  der  warmen 
Lufthülle,  sobald  Person  und  Objekt  zu  absoluter  Ruhe  gelangt  sind.  — 

Ich  muß  also  wieder  die  Behauptung  des  H.  Dr.  Krogius,  daß  die 
Femempfindung  der  Haut  nur   auf  Wärme-  und  Kältestrahlung  he- 


—     115     — 

ruhe,  in  Zweifel  ziehen,  —  auf  die  Gefahr  hin,  daß  er  mir  auch  künftig 
eigensinniges  Festhalten  an  meiner  Meinung  vorwerfe.  —  Mein  Eigensinn 
beruht  auf  Grründen ;  der  seinige  doch  wohl  auch! 

Dr.  Krogius  rügt  es  weiter,  daß  ich  nicht  angebe,  wie  viele  Platten- 
versuche bei  niedriger  Temperatur  gemacht  worden  seien  und  daß  ich 
auf  die  Schwankungen  bei  den  Versuchspersonen  nicht  genügend  Rück- 
sicht genommen  habe.  —  Er  glaubt  sogar,  daß  ich  durch  Wiederholung 
der  Experimente  meiner  Theorie  selbst  „ein  Loch  gegraben"  hätte. 

Dr.  Krogius  hat  meine  erste  Arbeit  über  diesen  G-egenstand  offenbar 
nicht  aufmerksam  gelesen,  sonst  hätte  er  auf  S.  157  (erster  Satz  des 
Nachtrags)  die  Stelle  finden  müssen :  „Während  der  bisherigen  Versuche 
in  den  kalten  Märztagen  herrschte  im  Turnsaal  eine  Temperatur  von 
7—10"".  Die  Zahl  der  Versuche  hätte  er  auf  den  Seiten  141 — 156  bei 
jeder  Versuchsperson  ablesen  können.  —  Er  findet  schon  dort  mehr  als 
800  Plattenversuche  verzeichnet  —  und  später  noch  rund  300.  —  Dazu 
kommen  die  vielen  Personen,  welche  kein  Ferngefühl  zeigen,  für  die 
also  nichts  notiert  wurde.  In  dieser  Arbeit  werden  weitere  300  ver- 
zeichnet sein.  Daß  ich  das  „Loch"  nicht  fürchtete,  zeigt  die  Wieder- 
holung der  Versuche  mit  den  meisten  verfügbaren  Versuchspersonen. 
Die  Ergebnisse  dieser  Wiederholung  bei  anderer  Temperatur  findet  er 
auf  den  Drucktabellen  1 — 8  bei  20  Personen  verzeichnet,  (15  sind  auf 
S.  157  schon  genannt)  die  im  Erühjahr  1907  schon  hier  waren.  — 

Bei  einer  Reihe  von  Personen  haben  die  angeblich  unterlassenen 
Wiederholungen  schon  damals  stattgefunden.  Dr.  Krogius  zieht  also 
aus  seinem  Versehen  unrichtige  Folgerungen. 

Es  ist  allerdings  wahr,  daß  ich  anfänglich  nicht  für  jede  Versuchs- 
reihe die  Lufttemperatur  einzeln  verzeichnet  habe.  Ich  dachte  damals 
ebensowenig  an  den  großen  Einfluß  der  Lufttemperatur  als  Dr.  Elrogius, 
bei  dem  ich  die  Bekanntgabe  dieser  Temperatur  während  seiner  Ver- 
suche heute  noch  vermisse,  wie  auch  diejenige  der  Erblindungs- 
ursachen seiner  Versuchspersonen.  Dies  sind  wesentlich  Dinge,  um  die 
wir  nicht  herum  kommen !  — 

Gerade  für  die  Beurteilung  seiner  rein  thermischen  Theorie  wäre 
ja  die  Kenntnis  der  jedesmaligen  Laboratoriumstemperatur  sehr 
wichtig  gewesen,  —  und  meiner  von  ihm  nicht  geteilten  Ansicht,  daß 
diese  Hyperaesthesie  der  Haut,  die  sich  in  Fernempfindung  äußert,  ihre 
Wurzel  nicht  in  der  Blindheit  selbst  habe  (weil  es  viele  fernfühlige 
Sehende  gibt),  sondern  in  gewissen  Erblindungsur  sachen ,  meistens 
Infektionskrankheiten  (Blenorrhoe,  Pocken,  Scharlach,  Masern  etc.),  wäre 
er  vielleicht  durch  Bekanntgabe  der  Erblindungsursachen  seiner  fern- 
fühligen  Versuchspersonen  wirksamer  entgegen  getreten ,    als    durch  un- 

8* 


-    116    - 

gläubiges  Kopf  schütteln.  —  Alle  Wurzeln  dieser  abnormen  Sensibilität 
-kennen  wir   allerdings   noch  nicht,    weil  wir  sehr  oft  die  wahren  Er 
Windungsursachen  nicht  erfahren.   — 

Der  Einfluß  anderer  Begleitumstände  (Befinden,  Aufmerksamk<'lt 
Ermüdung  etc.)  auf  die  Femempfindung  ist  uns  schon  recht  bald  auf^r 
fallen.  —  Wenn  wir  die  einmaligen  Angaben  für  absolute  Werte  ge- 
halten hätten,  wären  nicht  je  5—10  Versuche  —  vorn,  rechts,  linl'^ 
hinten  und  oben  —  nötig  gewesen;  auch  die  zahlreichen  Wiedc 
holungen  bei  höherer  Temperatur,  welche  Dr.  Krogius  übersehen 
hat,  hätten  dann  unterlassen  werden  können.  —  Immer  hat  es  sich  ge- 
zeigt, auch  neuerdings  wieder,  daß  höhere  Lufttemperatur  das 
Ferngefühl  steigert.  Wenn  Dr.  Krogius  die  Beschreibung  mein<M 
Technik  bei  der  Prüfung  des  Ferngefühls  mit  Platten  beanstandet,  so 
bedaure  ich  wirklich,  nicht  klarer  sein  zu  können.  Ich  glaube  aber,  daß 
mich  die  meisten  Leser  verstanden  haben.  Schon  1907  und  seither  wie- 
derholt, ist  gesagt  worden,  das  die  ca.  ^jio  qm  großen  Filz-Glas-Hol/.- 
platten  an  einer  langen,  dünnen  Stange  befestigt  waren,  (damit  der  Ex- 
perimentator in  größerer  Entfernung  von  den  Versuchspersonen  bleiben 
konnte.  —  Mittels  dieser  Stange  wurden  die  Platten  den  Köpfen  der 
Versuchspersonen  in  bunter  Reihenfolge  von  allen  Seiten  sehr  langsam 
genähert,  bis  diese  sie  lokalisierten.  Eine  zweite  sehende  Person  maß 
die  Distanzen  mit  dem  Meter  und  schrieb  sie  auf.  Oft  wurde  letzteres 
auch  durch  einen  dritten  Sehenden  besorgt.  Es  waren  also  stets  Augen- 
zeugen dabei;  ich  selbst  dagegen  nicht  immer.  — 

Diese  Versuche  wurden  stets,  bei  hoher  und  niederer  Temperatur, 
auf  dieselbe  Weise  ausgeführt.  Die  Platten  hatten  natürlich  stets  di< 
Temperatur  der  Luft. 

Dr.  Krogius  schreibt  dann  im  Anschluß  an  die  Kritik  meiner  Be- 
schreibung: „Diese  Experimente  beweisen  nämlich,  daß  der  Fernsinn 
in  hohem  Grade  von  der  Temperatur  abhängig  ist".  „Diese 
Tatsache   ergibt   sich  aus  der  Temperaturempfindungstheorie." 

Nun,  diese  Tatsache  habe  ich  ja  auf  Grund  zahlreicher  Versuche 
behauptet.  Daß  sie  sich  aber  der  Temperaturempfindungstheorie,  wie 
Dr.  Krogius  sie  versteht,  erkläre,  bezweifle  ich.  -— 

Je  wärmer  die  uns  umgebende  Luft  ist,  desto  lebhafter  empfinden 
wir  plötzliche  Kälte.  Wenn  wir  aus  einem  sehr  kalten  Gemach  plötzlich 
in  ein  mäßig  warmes  kommen,  so  empfinden  wir  die  Wärme  viel  deut- 
licher, als  wenn  beide  Zimmer  annähernd  dieselbe  Temperatur  besitzen, 
der  Temperaturunterschied  also  kleiner  ist.  — 

Höhere  Lufttemperatur  steigert  wohl  nicht  die  Temperaturem- 


-      117     - 

pfindlichkeit  der  Haut,  wohl  aber,  wie  mir  scheint,  die  Tastem- 
pfindlichkeit.  — 

Nun  bestreitet  aber  Dr.  Krogius  plötzlich  wieder  die  „Tatsache", 
die  sich  aus  seiner  Temperaturempfindungstheorie  ergeben  soll!  Er 
sagt  nämlich:  „aus  meinen  weiter  angeführten  Versuchen  wird  aber  un- 
zweideutig zu  ersehen  sein,  daß  hohe  Umgebungstemperatur  auf  den 
Fernsinn  durchaus  nicht  fördernd  einwirkt,  ja  unter  Umständen  (bei 
Durchtrennung  (Durchtränkung?)  der  Objekte  mit  siedendem  Wasser) 
ihn  bedeutend  beeinträchtigt".  Sonderbar!  Die  „Tatsache",  die  sich  3 
Zeilen  weiter  oben  aus  seiner  Temperatur empfindungstheorie  „ergab", 
soll  nun  schon  keine  Tatsache  mehr  sein!! 

Mir  scheinen  diese  entgegengesetzten  Behauptungen  nur  zu  beweisen, 
daß  Dr.  Krogius  die  Umgebungstemperatur,  das  heißt  diejenige  des  La- 
boratoriums, nicht  nur  nicht  verzeichnet,  sondern  überhaupt 
nicht  berücksichtigt  hat.  —  — 

Das  Durchtränken  der  „Zwischenobjekte"  mit  siedendem  Wasser, 
also  das  Erhitzen  dieser  „Zwischenobjekte",  die  doch  auch  Objekte 
—  und  zwar  näherstehende  Objekte  —  sind,  erhöht  also  die 
Wärme- Strahlung  und  ihre  Wirkung  nicht!  Das  ist  doch  merk- 
würdig!    Wer  gräbt  sich  denn  da  „ein  Loch"? 

Daß  das  Durchtränken  eines  Papierschirms  mit  siedendem  Wasser 
den  Saal,  d.h.  die  Luft  des  Saales,  nicht  heizt,  also  auch  die  Haut- 
sensibilität für  taktile  Reize  nicht  erhöht,  glaube  ich  gerne.  — 

Von  dieser  Lufttemperatur  habe  i'ch  aber  behauptet,  daß  sie 
die  Hautempfindlichkeit  für  Druckreize,  nicht  aber  die  für  Wärmestrahlen, 
steigere.  (Es  dürfte  dies  mit  Ausdehnung  und  Zusammenziehung  der 
Haut  durch  Wärme  und  Kälte  in  Verbindung  stehen).  Das  Wasser  des 
Schirmes  wird  verdunsten  und  Wärme  binden,  statt  viel  solche 
auszustrahlen.  Der  Papierschirm  stand  auch  still  und  die  Zylinder 
bewegten  sich  hinter  demselben.  Die  durch  die  Annäherung  des  kl. 
Zylinders  erzeugte  schwache  Luftbewegung  wurde  durch  den  Schirm, 
welcher  zwischen  Gesicht  und  Zylinder  stand,  natürlich  abgelenkt; 
die  Wirkung  also  notorisch  abgeschwächt,  —  nicht  aber  durch  die  Tem- 
peratur dieses  Schirmes!  Daß  man  durch  Zwischenobjekte  hin- 
durch, kleinere  „Hauptobjekte"  empfinde,  ist  mir  ja  gar  nicht  ein- 
gefallen ! 

Die  „durchtränkten"  Schirme  sollen  aber  das  Ferngefühl  nur  „be- 
einträchtigt", nicht  aufgehoben  haben.  Dies  ist  mehr  als  ich  verlangen 
kann.  Es  beweist  ja  wieder,  daß  Luftdruck  den  Weg,  nicht  nur  um 
steife  Binden,  sondern  auch  um  Schirme  herum  findet.   — 


—    118    — 

Die  Temperaturerhöhung  der  Luft  wirkt  auch  nicht  plötzlich, 
sondern  nur  langsam  fördernd  auf  die  Hautempfindlichkeit  ein.  \rh 
habe  dies  unter  No.  38,  S.  13  dieses  Bandes  besonders  deutlich  gezeigt. 
—  Als  er  mit  bedecktem  Kopf  aus  einem  warmen  Saal  in  einen  kalten 
(8°)  geführt  wurde,  setzte  das  Ferngefühl  (Platten)  zuerst  mit  50  und 
50cm  ein,  sank  aber  mit  dem  Erkalten  des  Gesichts  nach  und  nach 
auf  12  cm.  Als  er  wieder  in  den  warmen  Saal  kam,  setzte  es,  weil  die 
Kopfhaut  noch  kalt  und  unempfindlich  war,  vor  dem  Gewicht  bei  24  cm 
ein,  stieg  aber  nach  und  nach  bei  13  Grad  derart,  daß  trotz  der  ge- 
ringen Anfänge,  ein  Mittel  von  60  cm  und  bei  1 6^  ein  solches  von  63  cm 
erreicht  wurde.  Auf  ähnliche  Erscheinungen  ist  auch  an  mehreren  an- 
deren Stellen  meiner  Schriften  hingewiesen  worden.  Ich  kann  hier  nicht 
alles  wiederholen.  So  plötzlich  ändert  also  ein  heißer  Wasserguß  auf 
einen  Papierschirm  die  Temperatur  des  Saales  und  damit  die  Haut- 
sensibilität nicht!  — 

Wenn  unsere  Finger  durch  große  Kälte  empfindlich  geworden  sind, 
genügt  es  nicht,  sie  einige  Sekunden  an  den  warmen  Ofen  zu  halten, 
um  ihnen  ihre  normale  Tastempfindlichkeit  wieder  zu  geben.  Da  wir. 
wie  gesagt,  über  die  Laboratoriumstemperatur  während  der  Versuche 
von  Dr.  Krogius  nichts  erfahren,  können  wir  also  auch  nicht  beurteilen 
ob  höhere  Temperatur  dem  Ferngefühl  seiner  Versuchspersonen  genützt 
oder  geschadet  hat. 

Wenn  das  Ferngefühl  nur  auf  Wärmestrahlung  beruhte,  müßte 
es,  wie  gesagt,  mit  der  Temperaturdifferenz  zwischen  Gesicht  und 
Objekt  steigen  und  fallen.  — 

Auch  über  die  Versuche  des  Herrn  Dr.  Krogius  möchte  ich  mir 
noch  einige  Bemerkungen  erlauben.  Die  Wärmestrahlung  erfolgt  nach 
den  Gesetzen  der  Lichtstrahlung.  Die  Wärmestrahlen  müssen  also  durch 
einen  Zylinder  radial  zerstreut  werden  —  und  nur  diejenigen  Strahlen 
können  das  Gesicht  treffen,  welche  zwischen  den  von  beiden  Ohren  zur 
Achse  des  Zylinders  gezogenen  Linien  verlaufen.  Wenn  wir  für  das  Gesicht 
mit  Einschluß  der  Ohrmuscheln  eine  Breite  von  18  cm  annehmen,  so  kann 
bei  20  cm  Abstand  des  Zylinders  vom  Kopfe  nur  ein  21  mm  breiter  Streifen 
der  Zylinderoberfläche  das  fast  zehnmal  breitere  Gesicht  bestrahlen 
Bei  40  cm  Abstand  schrumpft  dieser  Streifen  zu  einem  Centimeter  zu- 
sammen. Es  wird  mir  deshalb  recht  schwer  zu  glauben,  daß  so 
schmale,  nur  luftwarme  Streifen  allein  auf  das  so  viel  breitere  Ge- 
sicht die  von  Dr.  Krogius  behauptete  momentane  Wirkung  ausüben 
können.  —  Wie  viel  bedeutender  müßte  sonst  die  Wirkung  der  wohl 
20000  mal   größeren,   gleich   warmen  oder   kalten   Laboratoriums- 


—    119    — 

wände  sein! !  Diese  setzen  doch  nicht  ihre  Strahlung  aus ,  sobald  der 
kleine  Zylinder  sie  beginnen  soll? 

Wir  haben  hier  wieder  die  Kerze  vor  dem  heißen  Ofen.   — 

Den  Apparat,  welchen  Dr.  Krogius  S.  179  beschreibt,  kann  ich  mir 
vielleicht  nicht  recht  vorstellen ;  seine  Beschreibung  ist  für  mich  viel- 
leicht nicht  anschaulich  genug.  Nach  meiner  Auffassung  handelt  es  sich 
um  einen  oben  geschlossenen,  unten  und  hinten  offenen,  über  den  Kopf 
gestülpten  Papierzylinder,  dem  zwei  durch  senkrechte  Stützen  ver- 
bundene Drahtringe  oben  und  unten  die  nötige  Festigkeit  gaben.  Vorn 
war,  der  Atmung  wegen,  ca.  6— 8  cm  vor  dem  Munde  eine  4^2  qcm  große 
Öffnung  im  Papier.  — 

Ich  glaube  nun  nicht,  daß  der  Luftstrom  beim  Ein-  und  Ausatmen 
den  Weg  nur  durch  diese  kleine  Öffnung  genommen  habe,  weil  der 
Zylinder  ja  unten  und  hinten  offen  war.  —  Der  vom  Munde  oder  der 
Nase  aufsteigende  warme  Strom  der  ausgeatmeten  Luft  dürfte  die 
Stirn  erwärmt  und  für  taktile  Reize  günstig  beeinflußt 
haben,  wohl  günstiger  als  die  Strahlung  des  leeren  Zylinders,  welcher 
ja  nur  Lufttemperatur  hatte.  Es  sind  also  auch  in  diesem  Falle  taktile 
Reize  nicht  ausgeschlossen,   sondern  wahrscheinlich.  — 

Dr.  Krogius  hat  auch  hier  festgestellt,  daß  beim  Grehen  die  Trag- 
weite viel  größer  war  als  bei  ruhiger  Lage.  Ich  wiederhole 
deshalb  die  Frage:  Ist  durch  das  Grehen  die  Wärmestrahlung 
vermehrt,    oder   ist  die  Haut  dadurch    sensibler  geworden 

oder   ist   vielleicht  doch  Luftbewegung,    also  Druck, 

vielleicht  verbunden  mit  Abkühlung,  im  Spiel? 

Es  bleibt,  wie  meine  Beispiele  (warmer  Ofen,  offene  Türe,  kaltes 
Fenster  etc.)  gezeigt  haben,  auch  noch  fraglich,  ob  das,  was  die  Blinden 
und  Sehenden  bei  der  Annäherung  des  warmen  Zylinders  im  Gesicht 
spüren,  nicht  b  e  wußte  Temp  er  aturwahrnehmung,  sondern  das 
ist,  was  viele  Fernfühlige  als  undefinierbare  Empfindung  im  Gesicht, 
sehr  viele  als  Druckempfindung,  andere  als  Berührung  und  die 
Russen  nach  Krogius  als  Schatten  bezeichnen  und  das  wir  Ferngefühl 
nennen.  Sollte  nicht  wieder  einer  der  Summanden  des  „Fernsinns", 
d.h.    derOrientation,    mit    der   Summe    verwechselt    worden    sein? 

Dr.  Krogius  legt  Wert  darauf,  daß  die  Blinden  die  Fernemp fin- 
dung im  Gesicht  lokalisieren.  Hier  sind  ihm  die  Blinden  kompetent. 
Warum  berücksichtigt  er  nicht  auch  die  Tatsache,  daß  fernfühlige  Per- 
sonen, sehende  und  blinde,  diese  Empfindung  als  Druck,  Berührung, 
Schatten  etc.  bezeichnen,  aber  nie  von  Wärme  und  Kälte  sprechen? 
Bewußte  Temperaturwahrnehmung  ist  also  das  eigentliche  Fern- 
gefühl   nicht,    während    diese    bei    der  Orientation    oft    eine   führende 


—    120    - 

Rolle  spielt  (oiFene  Tür,  Wind  und  Windschatten,  Keller  oder  Zimmer, 
Lage  der  Sonne,  warmer  Ofen  etc.).  — 

Dr.  Woelfflin  schließt  Temperatureinflüsse  deshalb  aus,  weil  seine 
fernfühligen  Blinden  die  Gegenstände  auf  größere  Entfernungen  wahr- 
nahmen als  Temperaturunterschiede,  also  die  eigentliche  Femempfindung 
von  Temperaturwahmehmungen  zu  trennen  vermochten.  — 

Sind  übrigens  die  Hände  weniger  temperaturempfindlich  als  das 
Gesicht?  Ich  sehe  im  Winter  mehr  Leute  mit  Handschuhen  als  mit 
Masken.  Man  klagt  öfter  über  kalte  Hände  als  über  Kälte  im  Gesicht. 
Dagegen  ist  bei  Personen  mit  erheblichem  Ferngefühl  die  Stirn  100  bis 
500  und  mehr  mal  druckempfindlicher  als  die  Hände,  besonders  als 
die  Fingerspitzen.  Warum  lokalisieren  nun  die  fernfühligen  Personen, 
wie  Dr.  Krogius  auch  feststellt,  diese  Femempfindung  gerade  in  dem 
druckempfindlichen  Gesicht,  und  nicht  in  den  ebenso  tempera- 
turempfindlichen Händen,  oder  auf  dem  entblößten  Oberkörper.  (Siehe 
Versuch  von  Dr.  Woelfflin.) 

Der  Nacken  scheint  nach  allgemeiner  Erfahrung  viel  temperatur- 
empfindlicher zu  sein  als  das  Gesicht.  Fernempfindung  zeigt  er  bei 
ruhiger  Körperhaltung  aber  doch  nicht  —  und  beim  Gehen  (nachrückende, 
seitlich  abgeprallte  Luftwellen)  nur,  wenn  er  gleichzeitig  sehr 
druckempfindlich  ist.    — 

Dr.  Krogius  hat  den  Einfluß  des  heißen  Messingzylinders  auf  einen 
durchsichtigen  und  einen  geschwärzten,  mit  Manometer  ver- 
sehenen Glaszylinder  untersucht  und  damit  die  Diathermanität  gewisser 
Schirme  und  Binden  geprüft.  Was  beweist  dies  aber  für  die  Einwirkung 
der  strahlenden  Wärme  auf  die  Gesichtshaut?  Wenn  er  diese  ge- 
schwärzt oder  gepudert  hätte,  dann  wäre  ein  Rückschluß  auf  den 
Einfluß  oder  die  Einflußlosigkeit  der  Wärmestrahlung  vielleicht  möglich 
gewesen.  Er  hätte  aber  auch  nur  luftwarme  Objekte  verwenden  dürfen, 
denn  heiße  fühlt  jeder  in  der  Nähe  des  Kopfs,  gleichviel,  ob  er  „fern- 
fühlig"  sei  oder  nicht.  Die  Wärmeempfindung  wird  ihm  dann  aber  als 
solche  —  und  nicht  als  „Druck"  oder  „Schatten"  —  bewußt.  Man  wird 
also,  wenn  heiße  Objekte  zur  Verwendung  kommen,  kaum  jemals  genau 
erfahren,  welcher  Anteil  an  der  Wahrnehmung  bewußter  Temperatnr- 
empfindung  und  welcher  dem  eigentlichen  „Ferngefühl"  das  von  fern- 
fühligen Personen  niemals  als  solche  bezeichnet  wird,  zuzuschreiben  sei.  — 

Von  der  bekannten  Tatsache  ausgehend,  daß  schwarze  Gegenstände 
mehr  Wärme  „einsaugen"  als  weiße,  daß  somit  schwarze  Gesichter, 
wenn  die  Fernempfindung  der  Haut  ausschließlich  auf  Wärmestrahlung 
beruhte,  femfühliger  sein  müßten  als  andere,  haben  wir  zwei  blinde 
Mädchen   (No.  9  und  No.  22)    zuerst   bei   natürlicher   Gesichtsfarbe, 


—    121    — 

vorn,  rechts  und  links,  je  6  mal  mit  der  Griasplatte  geprüft  und  ihnen 
dann  die  Gesichter  und  die  Ohrmuscheln  mit  Kienruß  geschwärzt  und 
nachher  mit  Reismehl  gepudert.  Für  die  vierte  Versuchsreihe  mit 
Xo.  1  wurde  die  Griasplatte  mit  Lampenruß  geschwärzt.  Das 
Gresicht  war  wieder  rein.  Für  die  letzte  Reihe  bei  höherer  Temperatur 
wurde  auch  die  Platte  wieder  gereinigt.  —  Während  der  3  ersten 
Reihen  zeigte  das  Thermometer  19^  C;  während  der  beiden  letzten 
Reihen  stieg  es  auf  22^.  — 

Es  ergaben  sich  folgende  Resultate: 

(Siehe  Tabelle  S.  122). 

Aus  umstehender  Tabelle  scheint  mir  wieder  hervorzugehen,  daß 
der  Temperatursinn  (speziell  Wärmestrahlung)  beim  eigentlichen  Fern- 
gefühl nicht  die  Rolle  spiele,  welche  Dr.  Krogius  ihm  zuschreibt.  Ge- 
schwärzte Gesichter  spürten  die  Platte  sogar  weniger  weit  als  die 
reine,  oder  die  weiß  gepuderte  Haut.  Auch  die  mit  Lampenruß  ge- 
schwärzte Glasplatte  wurde  von  der  äußerst  zuverlässigen  und  intelli- 
genten Versuchsperson  No.  9  nicht  weiter  gespürt  (durchschnittlich 
77  cm) ;  als  gleich  nachher  bei  größerer  Ermüdung  und  gleicher  Tempe- 
ratur die  wieder  gereinigte  Platte  (79  cm).  — 

Man  könnte  dieses  negative  Ergebnis  dicker  Bedeckung  mit  einer 
Kienrußkruste  zuschreiben.  Ich  muß  deshalb  gleich  bemerken,  daß  ich 
den  Kienruß  mit  Watte  auf  das  trockene  Gesicht  rieb,  so  daß  keine 
Kruste  entstand.  Auch  ließ  ich  nach  der  Schwärzung  eine  Pause  ein- 
treten, damit  die  Haut  zur  Ruhe  kam,  ehe  die  Experimente  wieder  auf- 
genommen wurden.  —  Diese  Versuche  strengen  aufs  äußerste  an.  Es 
wird  s.  z.  s.  jeder  Nerv  angespannt.  Sobald  infolge  der  Ermüdung  die 
Aufmerksamkeit  nachläßt,  sinken  die  Zahlen.  Ich  habe  deshalb,  wie 
früher,  gelegentlich  auch  innerhalb  der  Versuchsreihen  Pausen  eintreten 
lassen.  Während  einer  solchen  wurde  No.  22  die  Platte  von  vorn  ge- 
nähert, bis  sie  die  Nasenspitze  berührte,  ohne  daß  vorher  eine  Wahr- 
nehmung erfolgt  war.  —  Dies  zeigt  den  Einfluß  der  Aufmerksamkeit. 
Es  entspricht  dem,  was  Dr.  Krogius  S.  183  über  Mangel  an  Wahr- 
nehmung während  eines  Gesprächs  sagt.  Sobald  die  Aufmerksamkeit 
nachläßt,  stößt  ja  auch  der  Fernfühligste  an.  — 

Auch  der  Einfluß  der  Lufttemperatur  tritt  hier  wieder  deutlich  zu 
Tage.  —  Ich  habe  aber  schon  gesagt,  daß  es  nicht  auf  die  absolute 
Temperatur,  den  Thermometerstand,  sondern  auf  die  Wärmeempfin- 
dung ankommt.  Im  Winter  ist  es  bei  14—15  Grad  behaglich,  im  Sommer 
nach  großer  Hitze  aber  nicht ;  im  Sommer  ertragen  wir  leicht  23";  wenn 
aber  im  Winter  die  Zimmertemperatur  über  20^  steigt,  ist  es  „zum  Er- 
sticken."    So   erklärt   es   sich,   daß   die    Tragweite   im  Winter    bei   19^ 


—     122    — 


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—     123    — 

Wärme  diejenige    bei  viel  höherer  Sommertemperatur   übersteigen  kann. 

—  Dies  muß  berücksichtigt  werden.  — 

Bei  No.  9  betrug  im  Frühjahr  1907  an  einem  kalten  Tage  (unter 
10^),  allerdings  ca.  2  Monate  nach  überstandener  Augenoperation,  die 
Tragweite  des  Femgefühls  im  Mittel  nur  19  cm.  Im  Sommer  stieg  sie 
auf  53  cm ,  letzten  Winter  im  überhitzten  Zimmer  auf  70—75  und 
kürzlich  an  einem  kalten  Oktobertage  im  überhitzten  Zimmer  (22 — 23*^) 
bis  auf  ein  Mittel  von  140  cm.  — 

Für  No.  22  haben  diese  Zahlen  folgende  Steigerung  erfahren: 
Bei  7—10«  41  cm 

„     23«  Sommer  61    „ 
„     19«  Winter   70    „ 
Folgende  Zusammenstellung  zeigt  den  Durchschnitt : 
No.  17      Bei  7—10«  Wärme  59  cm       Bei  23«  (Sommer)  91  cm 

1  „         .  .       39     „ 

2  „         .  „       34     „ 

20  4 

21  „  .  .  38  , 
11  ,  ,  ,  32  „ 
29  „  „  ,  0  „ 
14  „  „  .  20*  , 

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41  41 

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27  ,  .  „       12     „ 

9  „  „  „19  (Winter  75)       „         53     , 

22  „  „  „    ^l_         (Winter  70)       „     J^    „ 

385  cm  629  cm. 

Diese  Summen  verhalten  sich  zu  einander  wie  100  zu  163,3.  Die 
Durchschnittstragweite  war  als  im  Sommer  (im  Schatten)  um  63,3 «/o 
gestiegen.  In  einzelnen  Fällen  ist  aber  der  Prozentsatz  viel  höher,  be- 
sonders ,  wenn  wir  die  Ergebnisse  im  künstlich  überhitzten  Zimmer 
(Winter)  berücksichtigen.  In  einem  Falle  steigt  er  auf  700  «/o.  —  Die 
Platten  (Objekte)  hatten  natürlich  immer  nur  die  Temperatur  der  Luft. 

—  Obige  Zahlen  scheinen  mir  denn  doch  den  Einfluß  der  Luft- 
temperatur auf  die  Tragweite  der  Fernempfindung,  den  Dr.  Krogius 
(S.  174)  bald  aus  seiner  Strahlentheorie  erklären  will,  bald  wieder  be- 
streitet, zu  beweisen.  Daß  sich  dieser  Einfluß  aus  Wärmestrahlung 
der   Objekte   nicht    erklären   läßt,   habe   ich   weiter    oben   gezeigt.     Mir 


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—    124    — 

scheint  nur  die  Haut  durch  Wärme  für  taktile  Reize  sensibler  zu 
werden.  —  Wir  wissen  ja  alle,  daß  warme  Finger  besser  tasten  als 
kalte.     Kälte  macht  sie  unempfindlich.  — 

Dr.  Krogius  schreibt  S.  1G9,  es  sei  aus  meinen  Angaben  durchaus 
nicht  zu  ersehen,  daß  eine  „strenge  Proportionalität"  zwischen  der 
Druckempfindung  und  dem  Fernsinn  existiere. 

Eine  solche  Proportionalität,  wie  ich  sie  verstehe  und  in  verschiedenen 
Arbeiten,  die  auch  Dr.  Krogius  zugänglich  waren,  erklärt  habe,  besteht 
aber.     Ich   habe   schon  1907   (Archiv  S.  172)  Jubil.-Bach  S.  334  gesagt: 

„Da  es  mir  ferner  nicht  möglich  gewesen  ist,  ein  Tasthärchen  zu 
finden,  das  auf  Wimpern  —  meistens  auch  Brauen  — ,  auf  der  Innen- 
seite der  Ohrmuschel  und  an  der  Gehörgangsmündung  nicht  auch  von 
den  Hartfühligsten  äußerst  lebhaft  empfunden  worden 
wäre,  so  daß  an  diesen  Körperstellen  ein  Unterschied  zwischen  Em- 
pfindlichen und  Hartfühligen  nicht  festgestellt  werden  konnte,  obgleich 
er  offenbar  vorhanden  ist,  dürfen  die  Ziffern,  welche  sich  auf 
die  genannten  Stellen  beziehen,  nicht  in  Rechnung  ge- 
bracht werden.  Ich  habe  sie  deshalb  eingeklammert*).  — 
Es  zeigt  sich  dann,  daß  für  die  Hartfühligen,  die  auch  kein 
Ferngefühl  haben,  No.  3,  20,  29,  24  (später  42  und  43),  in  Ko- 
lonne I  nichts  oder  so  gut  wie  nichts  mehr  übrig  bleibt. 
Bei  allen  Fernfühligen  dagegen  bleiben  in  Kolonne  I  noch  4  bis  11 
Ziffern  stehen. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  scheint  wohl,  außer  dem  Trommelfell, 
infolge  ihrer  großen  Angriffsfläche,  die  Stirn  zu  sein. 
Woelfflin  bestätigt  dies. 

Alle  diejenigen,  welche  auf  der  Stirn  das  Härchen  I  regelmäßig 
spüren,  haben  Ferngefühl. 

Je  mehr  sich  die  „Fünfer"  nach  rechts  in  den  folgenden 
Kolonnen  zerstreuen,    desto  geringer  ist   das  Ferngefühl. ** 

Dr.  Krogius  scheint  dies  alles  übersehen  zu  haben.  Von  No.  JI, 
das  die  Herren  Gegner,  trotz  obiger  Stelle,  auch  in  Rechnung  gebracht 
haben,  ist  hier  gar  nicht  die  Rede.  — 

Meine  Erklärung  in  der  „Antwort"  habe  ich  weiter  oben  S.  97  zi- 
tiert. Man  findet  sie  auch  im  ersten  Abschnitt  der  Seite  22  dieses 
Bandes.  („Feines  Druckgefühl  —  bedeutendes  Ferngefühl,  Einseitiges 
Druckgefühl  —  einseitiges  Ferngefühl,  Hartes  Druckgofühl  —  Fehlen 
des  Femgefühls  etc.  so  verstehe  ich  die  Proportionalität"). 

Dr.  Ejrogius  berücksichtigt  dies  nicht,  sondern  zählt  einfach  die  Ge- 

1)  Diese  Einklammcrung  ist  auf  den  Drucktabellen  7  und  8,  die  in  dieser  Zeit- 
schrift crscliienen  sind,  allerdings  leider  vergessen  worden.  — 


—     125    — 

biete,  welche  I  empfanden  (auch  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Ausdehnung) 
zusammen!  Nach  meiner  obigen  Erklärung  hätten  vorerst  die  einge- 
klammerten Zahlen  ausgeschieden  werden  müssen.  Bei  No.  5  kommen 
also  nicht  10,  wie  Krogius  „meint",  sondern  nur  10  —  5  =  5  Hautstellen 
in  Betracht;  bei  denen,  welche  kein  oder  nur  minimales  Femgefühl 
zeigen,  bleibt  in  der  ersten  Kolonne  überhaupt  so  gut  wie  nichts  mehr 
übrig  (No.  20,  29,  3,  24,  42  und  43).  — 

Es  ist  nun,  wie  ich  in  der  oben  zitierten  Stelle  angedeutet  und  in 
dieser  Arbeit  schon  gesagt  habe,  klar,  daß  eine  druckempfindliche 
Stirn  infolge  ihrer  Größe  50  unempfindliche  Ohrläppchen  oder  Augen- 
lider aufwiegt.  Dr.  Krogius  zählt  aber  einfach  die  „Grebiete",  ohne 
Rücksicht  auf  ihre  (xröße  und  Wichtigkeit  zusammen  —  und  findet  na- 
türlich 8  sei  mehr  als  6.  — 

Es  gibt  eben  Gebiete  und  Gebiete  wie  fagots  et  fagots.  —  Ein 
Hektar  ist  ein  Gebiet  und  1  Ar  auch.  —  Rußland,  Deutschland,  Öster- 
reich-Ungarn, England,  Frankreich  und  Italien  sind  6  Gebiete ;  Andorra, 
Monaco,  San  Marino,  Luxemburg,  Liechtenstein,  Montenegro  und  Serbien 
sind  aber  8  Gebiete.  8  ist  natürlich  mehr  als  6 1  Folglich  hat  Kunz 
sich  geirrt!  Dr.  Krogius  weiß  dies  alles  natürlich  viel  besser  als  ich; 
er  hat  sich  mit  seiner  Addition  offenbar  nur  einen  mathematischen 
Scherz  erlaubt.  —  Es  ist  wohl  auch  klar,  daß  nicht  alle  Personen, 
welche  z.  B.  auf  der  Stirn  das  Härchen  No.  I  noch  regelmäßig  spürten, 
genau  gleich  druckempfindlich  sind.  —  Für  manche  würde  wohl 
ein  feineres  Härchen  ausreichen.  — 

Wer  im  geschlossenen  Räume  das  Ticken  einer  Taschenuhr  auf 
3  Meter  wahrnimmt,  kann  wohl  als  „feinhörig"  gelten.  Aber  nicht 
alle,  die  es  auf  diese  Entfernung  wahrnehmen,  sind  gleich  feinhörig. 
Bei  unseren  Versuchen  zeigten  15  Personen  größere  (bis  auf  12  Meter) 
und  20  geringere  Hörweite.  Ahnlich  dürfte  es  sich  mit  der  Druck- 
empfindlichkeit verhalten.  Unsere  Druckversuche  haben  nur  ergeben, 
daß  sichere  Wahrnehmung  des  Härchens  I  auf  den  für  das 
Ferngefühl  wesentlich  in  Betracht  kommenden  Hautstellen  mit  mehr 
oder  weniger  Fernempfindung  verbunden  war,  nicht  aber, 
daß  dies  die  Grenze  der  Druckempfindlichkeit  sei.  Noch  feinerer 
Drucksinn  erklärt  wohl  größere  Tragweite  des  Femgefühls.  — 

So  ungleiche  Werte  dürfen  aber  nicht  mechanisch  addiert  werden. 
—  Wenn  dies  angängig  wäre,  hätte  ich  es  wohl  selbst  besorgt.  — 

Daß  die  eingetragenen  Zahlen  für  die  Tragweite  des  Femgefühls 
nicht  absolute  Werte  sind,  ist  schon  durch  die  Wiederholung  der 
Versuchsreihen  anerkannt  und  gezeigt  worden.  Sie  schwanken  je  nach 
der  Aufmerksamkeit,   der  Ermüdung,    dem  Befinden  und   besonders   der 


-     126    — 

Lufttemperatur,  welche  die  Drackempfindlichkeit  augenscheinlich 
heeinflußt.  Annähernd  feste  Zahlen  könnten  nur  gefunden  werden, 
wenn  es  möglich  wäre  alle  Versuche  unter  denselben  Umständen 
und  Bedingungen  auszuführen.  Dies  wird  in  einer  Anstalt,  wo  man 
auch  noch  anderes  zu  tun  hat,  niemals  möglich  sein,  besonders,  wenn 
man  nur  vor  Zeugen  Experimentieren  will  und  die  Heizung  nicht  mit 
absoluter  Sicherheit  zu  regeln  vermag.  (Dies  gilt  aber  auch  von  den 
Herren  Gegnern,  welche  nicht  einmal  die  Lufttemperatur  beachtet  haben). 
Dieselbe  Konstanz  der  Temperatur  wäre  aas  den  eben  angeführten 
Gründen  auch  für  die  Druckversuche  erforderlich.  Unsere  Versuche 
haben  sich  aber  durch  lange  Monate  hingezogen  (März  1907 — Okt.  1909). 
Konstanz  der  Temperatur  war  ausgeschlossen.  Auch  kannten  wir  an- 
fänglich den  EinHuß  derselben  auf  die  Hautsensibilität  noch  nicht.  — 
Neue  Versuchsreihen,  zu  denen  uns  die  Zeit  fehlt,  bei  gleicher  Tem- 
peratur für  alle  Versuche  würden  gewiß  auch  die  Drucktabellen 
etwas  modifizieren,  aber  nach  meiner  Überzeugung  ebenso  sicher  unser 
Hauptergebnis,  die  Übereinstimmung  des  Drucksinns  mit  dem  Ferngefühl 
ergeben.  —  Daß  auch  der  Temperatursinn  mit  dem  Drucksinn  steige 
und  falle  habe  ich  nicht  finden  können.  — 

Wenn  dieselbe  Übereinstimmung  der  Hautsensibilität  für  kalorische 
oder  andere  Reize  mit  dem  Ferngefühl  nachgewiesen  würde,  wie  sie 
zwischen  letzterem  und  dem  Drucksinn  besteht,  dann  müßte  mein  Er- 
gebnis ergänzt  oder  modifiziert  werden. 

Nun  noch  die  Druckversuche  des  Herrn  Dr.  Krogius!  (Zu 
vergleichen  S.  25—28  dieses  Bandes). 

Wenn  ich  auch  mit  Vergnügen  gelesen  habe,  daß  Dr.  Krogius  eine 
Durchschnittsüberlegenheit,  „eine  Vervollkommnung"  des 
Drucksinns  seiner  (fern fühligen)  Blinden  über  den  der  wohl  meistens 
nicht  fernfühligen,  geprüften  Sehenden  gefunden  hat,  was  meine  An- 
nahme stützt,  so  muß  ich  doch  bekennen,  daß  mir  seine  Druckversuche 
mit  der  Wage  bei  ungewohnter  Rückenlage  und  Annahme  eines  „Nor- 
maldrucks" von  4  Gramm  für  Stirn  und  Hand  für  unseren  Zweck 
genau  so  ungeeignet  zu  sein  scheinen  wie  ihm  meine  Temperaturver- 
suche. 

Auch  finde  ich  es  sonderbar,  daß  er  von  einer  „Vervollkomm- 
nung" des  Drucksinns  seiner  Blinden  spricht,  was  so  gedeutet  werden 
könnte,  als  ob  die  Blindheit  sie  bewirkt  habe,  während  er  die  Personen 
doch  vor  ihrer  Erblindung  nicht  geprüft  hatte,  also  auch  nicht  wissen 
konnte,  ob  eine  „Vervollkommnung"  eingetreten  war.  — 

Schon  die  Lage  mußte  die  Frauen  oder  älteren  Mädchen  befangen 
machen.     Dann   wendet  Dr.  Krogius,   wenn   ich    ihn   richtig  verstanden 


—    127    — 

habe,  ja  (sogar  für  Druckpunkte)  auf  Hand  und  Stirn  denselben 
„Normaldruck"  von  4  Gramm  an,  während  von  fernfühligen  Per- 
sonen, sehenden  und  blinden,  auf  der  Stirn  ein  Druckreiz  von  1  Milli- 
gramm regelmäßig  empfunden  wurde,  ohne  daß  ich  Druckpunkte  gesucht 
hatte,  —  wogegen  für  die  Hände  ein  solcher  von  100 — 500  Milligramm 
und  mehr  erforderlich  war !  —  Für  die  Stirn  war  sein  „Normaldruck" 
m.  E.  4000  mal  und  für  die  Hände  80  bis  400  mal  zu  groß.  Durch 
solchen  Druck,  der  einer  Gesamtbelastung  der  Stirn  mit  50 — 60  Kilo- 
gramm entsprechen  möchte,  wenn  er  gleichzeitig  auf  alle  Druckpunkte 
ausgeübt  würde,  müßten  doch  die  zarten  Endigungen  der  Drucknerven 
bis  zur  Unempfindlichkeit  gequetscht  werden.  —  Wohin  kämen  wir  mit 
ähnlich  bemessenen  Normal-Temperaturreizen  ? ! 

Unter  solchen  Umständen  kann  ich  auch  seine  Blinden  nur  be- 
wundern, wenn  sie  noch  kleine  Druckunterscbiede  empfinden! 

Und  doch  hat  ihm  sein  Verfahren  noch  erlaubt  festzustellen,  daß 
bei  den  Blinden  die  Druckempfindlichkeit  der  Stirn  größer  sei  als  die 
der  Hände.  Einen  Maßstab  für  diese  Überlegenheit  der  Stirn,  die  ge- 
rade bei  fernfühligen  Blinden  100 — 500  und  mehr  Prozent  beträgt, 
liefert  es  ihm  allerdings  nicht. 

Bei  den  Sehenden  soll  es  umgekehrt  sein!  (Band  V,  S.  80). 
0,  dieses  „Sinnenvikariat !"  Ich  habe  diese  Umkehrung  nicht 
gefunden.  Gibt  es  denn  besondere  Blinden-Nervensysteme,  die  nach  der 
Erblindung  eingetauscht  werden  können?  Oder  wird  das  Nervensystem 
eines  Menschen,  den  ein  Flintenschuß  des  Sehvermögens  beraubt,  dadurch 
völlig  umgekrempelt? 

Die  Sehenden  verhalten  sich  nach  meinen  Versuchen  ganz  wie  die 
Blinden;  nur  haben  sie  keine  Leseschwielen  an  den  Zeigefingern.  Bei 
ihnen  treffen  wir  durchschnittlich  nicht  den  großen  Unterschied  zwischen 
der  Druckempfindlichkeit  des  Zeigefingers  und  der  anderen  Finger.  Auch 
Griesbachs  Raumschwellenmessungen  zeigten  diesen  Unterschied  weder 
bei  Vollsinnigen,  noch  bei  Taubstummen.  — 

Die  Erblindung  rührt  sehr  oft  von  Krankheiten  der  Sehnerven  oder 
von  Veränderung  und  Zerstörung  der  Sehzentren  in  der  Gehirnrinde 
her.  Sollten  dadurch  andere  Teile  des  Gehirns  günstig  beeinflußt,  gestärkt 
werden??  Veränderung  oder  Zerstörung  anderer  Teile  der  Hirnrinde 
hat  ja,  wie  Dr.  Krogius  besser  weiß  als  ich,  Störung  der  geistigen 
Funktionen  zur  Folge.  Werden  dadurch  andere  Teile  der  Hirnrinde 
derart  gestärkt  oder  „verfeinert",  daß  sie  das  Vikariat  für  die  zerstörten 
Teile  übernehmen  können?  Ich  bin  immer  noch  und  immer  mehr  der 
Meinung:  Wo  ein  „Glied"  leidet,  da  leiden  alle.  —  Von  einem  Vikariat 
im  physiologischen  Sinne   kann  keine  Rede   sein.     Daß   der  Blinde 


-     128    — 

für  sein  Geistesleben  andere  Eingangstore  offen  halten  muß,  weil  ihm 
das  wichtigste  verrammelt  ist,  braucht  wohl  nicht  gesagt  zu  werden.  — 
Der  Psychologe  Volkmann  hat  dies  schon  vor  25  Jahren  richtig  ausge- 
drückt. Er  sagt :  „Die  Frage  nach  dem  Sinnesvikariat  gehört  in  die 
Physiologie  oder  ist  vielmehr  in  der  Physiologi  e  bereits  ziemlich 
antiquiert.  In  der  Psychologie  kann  sie  nur  eine  Stelle  erhalten, 
wenn  man  das  Vikariat  als  Surrogat  auflaßt ,  d.  h.  dia  Frage  nach  dem 
Ersätze  stellt,  den  die  Ausbildung  des  einen  Sinnes  dem  Zurück- 
bleiben oder  Ausfall  anderer  gegenüber  für  die  Entwicklung  des  Seelen- 
lebens zu  gewähren  im  Stande  ist.  In  dieser  Bedeutung  besitzen  im 
allgemeinen  die  Sinne  der  sensoriellen  Nerven  ihr  Surrogat  an  denen  der 
sensitiven  und  besitzt  insbesondere  der  Gesichtssinn  sein  Surrogat  an 
dem  Drucksinn  und  das  Gehör  an  dem  Körpersinn,  so  daß  für  die  beiden 
edelsten,  aber  auch  am  meisten  gefährdeten  Sinne  in  zuverlässigster 
Weise  gesorgt  ist". 

Es  handelt  sich  hier  also  um  den  Gebrauch  der  anderen  Sinne 
als  Ersatz  (Surrogat)  für  das  verlorene  Gesicht.  Daß  der  unausgesetzte 
Gebrauch  ein  Sinnesorgan  nicht  unbedingt  stärkt,  dürfte  bekannt  sein. 
Wäre  es  anders,  so  müßten  die  „Studierten"  durchwegs  bessere  Augen 
haben  als  Bauern,  Förster,  Hirten,  Handwerker  etc.  —  Ich  glaube 
nicht,  daß  es  so  sei. 

Nur  dem  Verfahren  des  Herrn  Dr.  Krogius  kann  ich  das  mindestens 
sonderbare  Ergebnis  zuschreiben,  daß  bei  den  Sehenden  die  Hände 
druckempfindlicher  seien  als  die  Stirn.  Ich  habe  stets,  bei 
Blinden  wie  bei  Sehenden  das  Gegenteil  gefunden.  Die  Hände  sind 
fast  immer  100  bis  500 mal  weniger  druckempfindlich.  Bei  den 
Blinden  fällt  nur  die  durch  das  Reiben  auf  den  Punkten  bewirkte,  be- 
sondere Hartfühligkeit  der  Lesefinger  auf,  während  bei  Sehenden  ein 
solcher  Unterschied  zwischen  Zeigefinger  und  Ringfinger  in  der  Regel 
nicht  besteht.  Es  hängt  dies  vom  Beruf  ab.  Bei  grobem  Handwerk 
und  Feldarbeit  wird  meistens  die  Kuppe  des  Zeigefingers  infolge  seiner 
größeren  Inanspruchnahme  auch  härter  als  die  des  Ringfingers.  Die  Haut 
wird  verdickt;  mit  dem  Nervensystem  als  solchen  hat  dies  wohl  nichts 
zu  tun;  denn  es  ist  nicht  einzusehen,  warum  und  wie  ein  Mensch  durch 
Erblindung  oder  durch  grobe  Handarbeit  ein  anderes  Nervensystem  be- 
kommen sollte.  Dies  aber  wäre  nötig,  wenn  nach  der  Erblindung  eine 
allgemeine  Umkehrung  erfolgte. 

Um  sicher  zu  gehen,  habe  ich  in  den  Weihnachtsferien  10  Sehende 
auf  Druckempfindlichkeit  mit  dem  Tasthärchen  geprüpft  und  zwar  eine 
Lehrerin,  einen  Lehrer,  eine  Näherin,  zwei  Dienstmädchen,  eine  sechzehn- 
jährige Schülerin,  meine  Frau,  den  Werkmeister  für  Seilerei,  den  Fuhr- 


—    129 


mann,  welcher  auch  im  Garten  arbeitet  und  den  Hausdiener,  —  also 
Vertreter  recht  verschiedener  Berufsarten.  Diese  Versuche  haben  das 
Gresagte  vollauf  bestätigt. 

Die  folgende  Tabelle,  auf  welcher  die  auf  jeder  geprüften  Haut- 
stelle (Stirn  und  Hände)  noch  regelmäßig  empfundenen  Härchen  I  bis  VII 
eingetragen   sind,    wird  darüber  Auskunft  geben. 

(Beugungwiderstände.     No.    I  =  0,001  gr 

„  n  =  0,002  „ 

„  III  =  0,003  „ 
„  IV  =  0,01  „ 
„  V  =  0,02  „ 
.  VI  =  0,1      „ 

„vn  =  o,5    „) 


Regelmäßig  empfundenes  Druckhärchen 

Rechte  Hand 

Linke  Hand 

Ferngefühl 

<ü 

ü 

S 

ü 

''ersuchsperson 

Stand 

Stirn 

1 

B 

j3 

-2 

a 
'S 

s 

§0 

1 

(FUzplatte 

von 

9  qdm) 

13 

ci 

s 

c 

'Ö 

s 

S 

1 

n 

Co 

i 

p 

% 

iJX) 

2 

W 

1 

2 

ro.37.  H.?J.L. 

Lehrer 

36 

I 

Meist  VI 
sicherVII 

VH 

VI 

VI 

VI 

VI 

VI 

VI 

ca.  26  cm 

a  36.Frl.R.Il. 

Lehrerin 

34 

I 

VI 

vn 

VI 

VI 

VI 

VI 

VI 

VI 

ca.  24  „ 

„  62.  FrLL.K. 

Schülerin 

16 

I 

VI 

VI 

VI 

V 

V 

V 

V 

V 

ca.  25  „ 

„  63.  B.  T. 

Dienst- 
mädchen 

18 

H 

VII 

VII 

VH 

VII 

vn 

vn 

VII 

vn 

„  58.  M.A. 

Küchen- 
mädchen 

16 

Fast 
immer  I 

VI 

VII 

vn 

VII 

VI 

VII 

VII 

VII 

ca.  10  „ 

„  64.  A.  G. 

Näherin 

28 

1. 1.  r.  n 

VII 

vn 

vn 

vn 

VI 

VI 

VII 

VI 

Spuren 

„  eS.Fr.M.K. 

Hausfrau 

57 

I 

Meist  V 
sicher  VI 

VII 

VII 

VI 

Meist  V 
sicher  VI 

VI 

VII 

VI 

ca.  27  cm 

„  66.  K.  H. 

Seiler- 
meister 

46 

II 

VII 

? 

' 

VI 

VII 

? 

? 

vn 

„  67.  M.  L. 

Fuhrmann 

47 

IV 

vn 

VII 

? 

VII 

vn 

VII 

? 

VII 

«  68.  Ph.  Seh. 

Hausdiener 

26 

II 

VH 

VII 

VII 

vn 

VII 

VII 

vn 

VII 

Zimmertemperatur  12°. 
Wo  ein  ?  steht,  war  auch  VII  nicht  ausreichend. 

Bei  zwei  Sehenden,  dem  Seilermeister  und  dem  Fuhrmann  war  für 
Zeigefinger  und  Daumen,  wie  für  den  Lesefinger  des  Blinden  No.  38, 
das  stärkste  Härchen  noch   zu   schwach.     Sie   sind   aber,    wohl  infolge 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  9 


-     130    — 

ihrer  fortwährenden  Beschäftigung  im  Freien,  auch  auf  der  Stirn  ver- 
hältnismäßig hartfühlig.  No.  66  empfand  dort  noch,  wie  die  meisten 
nicht  fernftthligen  Blinden,  No.  II  (0,002  gr.  Druck),  No.  67  aber 
erst  10 Milligramm  (No.  IV).  Doch  selbst  bei  No.  67  sind  die  Finger- 
spitzen noch  ca.  60mal  hartfühliger  als  die  Stirn!  Bei  den 
meisten  betrug  dieser  Unterschied  100—500  %.  — 

Mit  der  größeren  Druckempfindlichkeit  der  Hände  Se- 
hender gegenüber  der  Stirn  ist  es  also  nichts.  — 

Fünf  von  diesen  10  Sehenden,  d.  h.  alle  diejenigen,  welche  das 
Härchen  I  auf  der  Stirn  empfinden,  haben  Ferngefühl.  Bei  vieren 
beträgt  der  Durchschnitt  26  cm.  Dies  übersteigt  die  Durchschnittstrag- 
weite wie  sie  im  Frühjahr  1907  bei  den  Blinden  ermittelt  wurde.  — 
No.  58  zeigt  es  in  schwächerem  Grade.  Ihre  Stirn  empfindet  I  meistens, 
aber  nicht  immer ;  No.  62  und  65  haben  an  Scharlach  gelitten; 
von  No.  58  weiß  ich  dies  nicht  sicher.  —  (Ausgetreten). 

Auch  No.  64  zeigt  Spuren,  aber  unsichere  Lokalisation,  wie  fast 
alle  unsere  für  Druck  einseitigen  Versuchspersonen.  Sie  empfindet  No.  I 
nur  auf  der  linken  Stirnseite.  — 

Ich  habe  bis  jetzt  hier  15  Sehende  auf  Femgefühl  geprüft,  ohne 
sie  besonders  auszusuchen  (No.  36,  37,  44,  53,  56,  57,  58,  62,  63,  64,  65, 
66,  67  u.  68).  Sechs  von  ihnen  besitzen  es  in  normaler  Stärke  (No.  36, 
37,  44,  53,  62,  63) ;  ohne  daß  sie  es  früher  wußten ;  zwei  zeigen  Spnren ; 
sieben  empfinden  nichts.  —  Außerhalb  der  Anstalt  kenne  ich  z.  Z.  2 
Femfühlige.  Die  Zahl  der  fernfühligen  Sehenden  ist  offenbar  viel  größer, 
als  man  ahnt.  Auch  Dr.  Allers,  von  dem  noch  die  Rede  sein  wird,  hat  solche 
entdeckt.  —  Von  einem  „sechsten  Sinn  der  Blinden"  kann  also  keine 
Rede  sein;  denn  unter  unseren  Blinden  zeigen  sehr  viele  kaum  bemerk- 
bares Ferngefühl,  oder  keine  Spur  desselben,  besonders  alle  dieje- 
nigen, welche  an  Unfällen  (Verletzungen  des  Augapfels)  erblindet 
sind.  Ich  brauchte  also  die  Unempfindlichen  nicht,  wie  Dr.  Krogius 
meint,  herauszusuchen.  Mehrere  solche  wurden  sogar  nicht  in  die 
Liste  aufgenommen,  weil  mir  dies  zwecklos  schien.  — 

Ein  blindgeschossener  Knabe  (No.  20),  welcher  minimales  Femgefühl 
zeigt,  „verdankt"  dieses  offenbar  nicht  seiner  Blindheit.  Er  war  wäh- 
rend seines  Aufenthalts  in  der  Augenklinik  durch  Masemgift  infiziert 
worden.  Er  litt  schwer  an  dieser  Krankheit.  —  Sein  Orientierungs- 
vermögen ist  sehr  gut;  er  verdankt  es  aber  nicht  der  geringen  Fern- 
empfindung. Ich  vermag  also  in  der  Fernfühl igkeit  nur  eine  Übcr- 
cmpfindlichkeit  der  Haut  zu  erkennen  (darin  wird  mir  Dr.  Krogins 
wohl  beistimmen),    die   wohl   in  den   allermeisten  Fällen  auf  infektiöse 


—    131     — 

Krankheiten  zurückzuführen  ist.  (Immer  erfahren  wir  ja  die  wahren 
Erblindungsursachen  nicht.) 

Solche  Krankheiten  dürften  in  Rußland  heute  noch,  wie  bei  uns  vor 
30—50  Jahren,  80  %  der  Anstaltszöglinge  und  Pfleglinge  liefern.  Die 
übrigen  20  %  verschwanden  s.  Z.  auch  bei  uns  in  der  Menge. 

So  konnte  die  Fabel  von  dem  „6.  Sinn  der  Blinden",  d.h.  aller 
Blinden  und  nur  der  Blinden,  entstehen.  (Dr.  Woeliflin  hat  unter 
40  Blinden  nur  9,  also  22,5  °/o,  wirklich  fernfühlige  (mit  fein  entwickeltem 
„Fernsinn")  konstatiert). 

Sie  paßt  nicht  mehr   in   unsere  Zeit   und  in  unser  Land! 

Unter  allen  Umständen  haben  die  Druckversuche  von  Dr.  Krogius 
in  Bezug  auf  die  Fernempfindung  nichts  zu  Tage  gefördert,  das 
meiner  Auffassung  widerspricht.  Die  behauptete  „Vervollkommnung", 
des  Drucksinns  bei  seinen  fernfühligen  Blinden,  gleichviel  ob  sie  be- 
deutend oder  unbedeutend  sei,  stützt  die  Druck-Theorie,  statt  sie  zu 
stürzen. 

Der  Alleinherrschaft  der  Wärmestrahlung  vermag  ich  nicht  zuzu- 
stimmen, obgleich  ich  thermische  Einflüsse  nicht  ausschließe,  wenn  nicht 
Dr.  Woelfl'lin  etwas  Besseres  an  ihre  Stelle  setzt.  Auch  wenn  nach- 
gewiesen würde,  was  mir  nicht  gelungen  ist,  daß  die  Hautsensibilität 
für  kalorische  Reize  mit  der  Druckempfindlichkeit  steigt  und  fällt,  könnte 
erst  von  gleicher  Beteiligung  des  Druck-  und  Temperatursinns 
und  nicht  von  der  Alleinherrschaft  des  letzteren  gesprochen  werden.  — 

Nicht  erklären  kann  ich  aus  Wärmestrahlung  allein  fol- 
gende Tatsachen: 

1.  Beim  Gehen  gegen  Objekte  oder  neben  diesen  (also  bei  rascher 
Luftbewegung)  ist  die  Tragweite  des  Ferngefühls  größer  als  bei 
ruhiger  Körperhaltung  und  langsamer  Bewegung  der  Objekte. 
Dr.  Krogius  hat  dies  auch  gefunden.  (Erhöht  das  Gehen,  die  Wärme- 
strahlung der  Objekte  ?) 

2.  Wenn  die  Platten  (Glas,  Filz  etc.)  bei  den  Versuchen  rascher 
genähert  oder  entfernt  werden,  oder  wenn  sie  an  der  Stange 
schwanken,  werden  sie  in  der  Regel  auf  größere  Entfernung 
wahrgenommen,  als  wenn  sie  sich  sehr  langsam  bewegen  und  ruhig 
hängen.  Dies  könnte  sich  aus  Wellenwirkung,  Druck  und  Abküh- 
lung, aber  nicht  aus  Strahlung  erklären. 

3.  Das  Umwickeln  des  Kopfes  mit  einem  schwarzen  Tuch  bewirkte 
bei  dem  Fernfühligsten  (No.  17)  keine  Erhöhung  der  Fernempfindung, 
eher  das  Gegenteil.  Ein  dicker  weicher  Verband  hatte  sogar  an 
einem  kalten  Tage  günstigere  Wirkung.  (Die  Hautsensibilität  für 
taktile  Reize  war  durch  Warmhaltung    der   Kopfhaut   off'enbar  er- 

9* 


—    132    — 

höht  worden.     Sie  glich  die  Schädigung  durch  Bedeckung  eines  Teils 
der  Gesichtshaut  wieder  aus.) 

4.  Das  Schwärzen  der  Gesichter  mit  Kienruß  steigerte  das  Fem- 
gefühl nicht  nur  nicht,  sondern  setzte  es  bei  unseren  Versuchen 
um  23  Proz.  herunter. 

5.  Weißer  Puder  hob  es  wieder,  aber  nicht  auf  die  normale  Höhe. 

6.  Die  mit  Lampenruß  geschwärzte  Glasplatte  wurde  nicht  weiter  em- 
pfunden als  das  reine  Glas. 

7.  Die  Blinden  lokalisieren  das  Femgefühl  auch  nach  Dr.  Krogius 
im  Gesicht.  (Er  hätte  sagen  müssen:  Die  fernfühligen  Blinden: 
denn  es  gibt  sehr  viele,  die  es  nicht  sind.)  Nun  ist  aber  das  Ge- 
sicht, weil  es  Sommer  und  Winter  unbedeckt  getragen  wird,  wohl 
der  für  Temperatareinflüsse  unempfindlichste  Teil  des  Körpers.  Wir 
gehen  bei  Temperatur  von  10—15^  unter  Null  ins  Freie,  ohne  daß 
das  Gesicht  friert.  Andere  Körperteile  entblößen  wir  aber  schon 
bei  10°  über  Null  nicht,  sondern  stecken  sie  in  den  Überzieher. 
Und  nun  soll  gerade  dieses  Gesicht  die  „Wärmestrahlung'^ 
eines  kalten,  d.  h.  nur  luftwarmem,  Zylinderstreifens  von  V»  qdm 
spüren,  andere  Körperteile  aber  nicht! 

8.  Der  Nacken  ist  aber  für  Temperatureinflüsse  viel  empfindlicher  als 
das  Gesicht.  Bei  ruhiger  Körperhaltung  und  sehr  langsamer 
Annäherung  der  Filz-  oder  Glasplatten  erfolgte  aber  hinten  bei 
Temperatur  unter  10  Grad  nie  eine  Wahrnehmung.  Im  Hoch- 
sommer und  in  überheiztem  Zimmer  zeigten  sich  bei  den  Fern- 
fühligsten  hinten  Spuren. 

9.  Beim  Gehen  neben  Wänden  und  Bäumen  aber,  also  wenn  stär- 
kere Luftbewegung  entstand,  spürten  f ernf ühlige  Blinde  m i t 
freiem  Nacken  die  Wände  und  Bäume,  sogar  im  kalten  März, 
auch  von  hinten,  so  weit  die  an  den  Wänden  und  Bäumen  ab- 
geprallten,  seitlich  nachrückenden  „phantastischen"  Luft  wellen  sie 
treffen  konnten.  —  (Zu  vergleichen  meine  Zeichnungen  und  Berech- 
nungen im  J.  Archiv  für  Schulhygiene.  Band  IV.  S.  100  — 127, 
oder  im  Jubiläumsbuch.     Großquartseiten  295 — 302). 

Ans  Strahlung  läßt  sich  dies  nicht  erklären.  Dagegen  habe  ich 
gerade  in  diesen  Fällen  auch  an  Temperaturwirkung  durch  Wellen, 
nicht  durch  Strahlung  gedacht. 
10.  Je  größer  der  Unterschied  zwischen  der  Temperatur  des  Ob- 
jekts und  derjenigen  des  menschlichen  Köi'pers  ist,  desto  größer 
muß  auch  die  Wirkung  der  Wärme-  oder  »Kälte^-Strah- 
1  u  n  g  sein  ! 


—     133    — 

Wenn  dieser  Unterscliied  26—30^  betrug  (Versuclie  im  kalten  Turn- 
saal) war  aber  die  Tragweite  der  Femempfindung  bei  denselben  Per- 
sonen viel  kleiner,  als  wenn  sieb  die  Lufttemperatur,  also  auch  die 
unserer  Platten ,  der  Körpertemperatur  näherte.  (Versuche  im  Hoch- 
sommer und  in  sehr  warmem  Zimmer.) 

Dr.  Krogius  irrt  sich  also ,  wenn  er  meint,  das  Steigen  des  Fern- 
gefühls mit  der  Lufttemperatur  stütze  seine  Strahlentheorie. 

Es  lassen  sich  somit  sehr  viele  Erscheinungen  nicht  aus  Reizung 
des  Temperatursinns  durch  Wärmestrahlung  erklären,  wohl  aber 
aus  Druckreizen,  wenn  auch  Temperatureinflüsse  in  vielen  Fällen 
mitzuwirken  scheinen,  falls  es  nicht  Radiationen  anderer  Art  sind. — 

Fraglich  bleibt  aber  noch,  ob  immer  von  Wärmestrahlung  ge- 
sprochen werden  muß  und  ob  nicht  auch  von  Leitung  und  Strö- 
mung gesprochen  werden  darf.  —  Ich  erinnere  an  meine  auf  S.  106 
angeführten  Beispiele.  (Kalte  Mauer,  Fenster  etc.).  —  Unsere  Haut 
scheidet  fortwährend  Feuchtigkeit  aus,  sie  perspiriert.  Je  höher  die 
Lufttemperatur,  desto  höher  diese  Perspiration.  Die 
Feuchtigkeit  verdunstet ,  was  Abkühlung  bewirkt.  Der  leiseste 
Luftzug  (auch  meine  phantastischen  Wellen)  erhöht  die  Verdunstung  und 
kühlt  ab,  wie  jeder  weiß,  der  den  Durchzug  fürchtet,  obgleich  das 
Thermometer  nichts  davon  merkt,  ja  im  Sommer  sogar  steigen  kann. 
Kienruß  und  Puder  können  die  durch  die  Haut  abgesonderte  Feuchtig- 
keit aufsaugen,  also  die  Verdunstung  und  somit  die  Abkühlung  ver- 
mindern. So  ließe  sich  wohl  das  durch  Pudern  und  Schwärzen  des 
Gesichts  bewirkte  Sinken  des  Ferngefühls  erklären.  —  (Es  dürfte  sich 
bei  künftigen  Versuchen  empfehlen,  auch  den  Feuchtigkeitsgrad  der 
Luft,  der  die  Verdunstung  beeinflußt,  mit  zu  berücksichtigen)  —  Es 
ist  auch  klar,  daß  sich  infolge  der  Körperwärme  eine  warme  Lufthülle 
um  das  Gesicht  legen  muß  —  und  daß  diese  durch  die  leiseste  Luft- 
bewegung zerrissen  wird.  So  könnte  aus  Strömung  die  Tempe- 
raturwirkung meines  Erachtens  besser  erklärt  werden,  als  aus  Strahlung 
—  und  die  Mitwirkung  des  Temperatursinns  wäre  verständlicher.  — 

An  letztere  Wirkung  der  Luft  wellen  habe  ich  gedacht,  als  mir 
bei  den  Gehversuchen  an  Bäumen,  Bretterwänden  und  hängendem 
Brett  die  Wirkung  der  Temperatureinflüsse  (Luftströmung  und  Wind- 
schatten) auffiel.  Allerdings  handelte  es  sich  dort  jedenfalls  oft  um 
bewußte  Temperaturwahrnehmung.  Deshalb  habe  ich  an  vielen  Stellen 
von  Wind  und  Windschatten  gesprochen.  Auf  die  wahrscheinliche 
Wirkung  der  Feuchtigkeitsabsonderung  der  Haut  hat  mich 
der  berühmte  Dermatologe  Prof.  Dr.  Unna  in  Hamburg  freundlichst 
aufmerksam  gemacht,  dem  ich  an  dieser  Stelle  danke.     Ich  möchte  Herrn 


—    134    — 

Dr.  Krogius  wirklich  bitten,  dieser  Anregung  auch  etwelche  Beachtung 
zu  schenken!  Daß  zuweilen  neben  sehr  kalten  oder  heißen  Ob- 
jekten auch  Strahlung  im  Spiele  sein  mag,  habe  ich  bedingt  zugegeben, 
indem  ich  die  Differenz  der  Tragweite  vor  luft warmen  und  heißen 
Zylindern  als  kalorische  Wirkung  gelten  ließ.  Es  bleibt  aber  auch  in 
diesem  Falle  noch  die  Frage  offen,  ob  nicht  Strömung,  oder  aber  auch 
bewußte  Temperaturwahmehmung  im  Spiele  ist,  die  mit  dem  eigent- 
lichen Ferngefühl  nichts  zu  tun  hat.  Nach  Dr.  Woelfflins  Beobach- 
tungen ist  letztere  mindestens  nicht  ausgeschlossen.  — 

Mich  hat,  außer  den  früher  angeführten  Beobachtungen  (Wind, 
Windschatten  etc.),  auch  eine  gewisse  Persistenz  der  Empfindung,  nach- 
dem die  Platten  zu  relativer  Ruhe  gekommen  waren,  auf  den  Gedanken 
gebracht,  daß  Temperatureinflüsse  wirksam  sein  könnten.  Ich  habe 
Temperaturversuche  gemacht,  ehe  ich  an  Druckversuche  dachte.  Dr. 
Woelfflin  hat  nun  aber  festgestellt,  daß  der  Fernreiz  bei  seinen  großen 
Objekten  wohl  einige  Zeit  (V'2 — 1  Minute)  andauert,  dann  aber  rasch 
abfällt  „bis  zu  einer  Minimalempfindung,   die  weiter  bestehen  bleibt." 

Versuche,  welche  hier  in  letzter  Zeit  gemacht  worden  sind,  haben 
dies  bestätigt.  Ich  muß  aber  bemerken,  daß  es  unmöglich  ist,  die 
Platten  am  Ende  einer  langen  Stange  ganz  unbeweglich  zu  halten. 
Kleine  Bewegungen  gegen  den  Kopf  oder  von  demselben  weg,  sowie 
Schwankungen  der  Platte,  sind  immer  zu  beobachten.  Deshalb  ist  die 
Möglichkeit,  ja  sogar  die  Wahrscheinlichkeit  nicht  ausgeschlossen,  daß 
sich  der  Druckreiz  (vielleicht  auch  Abkühlung)  fortwährend  er- 
neuere. —  Dr.  Woelff'lins  Platten  stehen  allerdings  fest,  sind  aber 
zehnmal  größer  als  die  unsem.  Auch  war  deshalb  der  Abstand  zwischen 
ihnen  und  den  Personen  viel  größer  als  bei  unseren  Versuchen.  Es 
scheint  mir  nun,  daß  der  Ausgleich  des  Drucks  bei  seinen  Objekten 
und  Abständen   viel   länger  dauern   müsse  als  bei   unserer  Einrichtung. 

Genauer  könnte  auch  die  Dauer  des  Reizes  nach  völligem  Still- 
stand der  Personen  und  Platten  nur  durch  Vexier  versuche  geprüft 
werden.  Die  Objekte  müßten  plötzlich,  wenn  möglich  ohne  Luft- 
bewegung, verschwinden.  Ich  vermute  nämlich,  daß  mancher  Blinde, 
auch  ohne  eine  Täuschung  zu  beabsichtigen,  eine  wahrgenommene  Wand 
z.T.  deshalb  immer  noch  zu  spüren  glaubt,  weil  er  weiß,  daß  diese 
Wand  nicht  weicht. 

Nach  den  übereinstimmenden  Angaben  der  Kollegen,  welche  bei 
uns  fast  alle  Versuche  mit  Filz-,  Glas-  etc.  Platten  ausgeführt  haben, 
sind  solche  Trugwahmehmungen  oft  markiert  worden.  —  Die  Versuchs- 
personen behaupteten  öfter,  die  Platten  noch  zu  spüren,  wenn  dieselben 
nicht  mehr  in  ihrer  Nähe  waren.    Der  fernfühlige  Kollege  J.  Lay  hat 


—    135    — 

dies  auch  an  sich  selbst  beobachtet.  Angaben  über  die  Dauer  des 
Eeizes  sind  deshalb  nicht  immer  ganz  zuverlässig.  Die  Autosuggestion 
spielt  in  solchen  Dingen  zuweilen  eine  große  Rolle.  —  Um  Genaueres 
zu  erfahren,  haben  wir  hier  in  letzter  Zeit  solche  Versuche  gemacht. 
Die  Blinden  wurden  aufgefordert  zu  sagen,  wie  lange  sie  die  wahrge- 
nommenen Platten  spürten.  Letztere  wurden  dann  möglichst  sachte  in 
die  Höhe  gehoben  oder  rückwärts  gezogen.  Fünf  bis  sieben  Sekunden  nach 
der  Entfernung  der  Platte  erfolgte  dann  die  Angabe:  „Mcht  mehr  hier" 
etc.  —  Die  Nachwirkung  scheint  also  bei  unseren  Platten  einige  Se- 
kunden zu  dauern.    Bei  größeren  Objekten  wird  sie  länger  anhalten.  — 

Die  Persistenz  von  Gresicht seindrücken,  welche  rasch  auf  einander 
folgende,  aber  unterbrochene  Reize  mit  einander  verbindet  (Kinemato- 
graph,  Photo typie)  ist  bekannt.  Sie  besteht  auch  für  das  Grehör. 
Sollten  die  niederen  Sinne  davon  ausgeschlossen  sein?  Ich  glaube  so- 
gar, daß  sie  beim  Geruch-  und  Geschmackssinn  und  wohl  auch  bei  den 
Hautsinnen  viel  länger  andaure.  Eine  Wärme-  oder  Kälte-Empfindung 
verschwindet  nicht  so  rasch  wie  sie  gekommen  ist,  und  einen  ekel- 
erregenden Geruch  werden  wir  oft  tagelang  nicht  los.  —  Ahnlich  scheint 
es  sich  mit  Druckempfindungen  zu  verhalten.  Ich  habe  die  Härchen- 
versuche, wenn  es  sich  um  Prüfung  nur  einer  Hautstelle  handelte, 
also  wenn  kein  Wechsel  stattfand,  gerade  der  lange  anhaltenden  Nach- 
wirkung wegen  öfter  unterbrechen  müssen,  weil  sich  sonst  Trugwahr- 
nehmungen mit  den  wirklichen  Emfindungen  mischten.  — 

Deshalb  glaube  ich,  auch  bei  einem  gewissen  Andauern  des  Fern- 
gefühls der  Persistenz  der  Hautempfindungen  jeder  Art  eine  bedeutende 
Rolle  zuschreiben  zu  dürfen.  —  Unter  allen  Umständen  läßt  sich  die 
Erscheinung  aus  der  Hautsinntheorie  erklären,  ohne  daß  wir 
Schallwellen  indirekt   auf  die  Haut  wirken  lassen  müssen. 

So  kann  ich  denn  —  unter  den  auf  Dr.  Woelfflin  bezüglichen  Vor- 
behalt —  nur  wiederholen,  was  ich  vor  2  Jahren,  d.  h.  zu  einer  Zeit, 
wo  ich  von  den  Arbeiten  des  Herrn  Dr.  Krogius  noch  keine  Ahnung 
hatte,  über  den  Gegenstand  geschrieben  habe:  „Es  (das  Ferngefühl) 
beruht  also  meines  Erachtens  in  erster  Linie  auf  taktilen,  in  zweiter 
auf  thermischen  Reizen,  also  auf  dem  Hautsinn. 

Ganz  auf  meinen  Standpunkt  stellt  sich  in  einem  längeren  Artikel, 
welcher  im  „Corriere  della  Sera"  erschienen  ist,  der  von  Jugend  auf 
blinde  Dr.  Aug.  Romagnoli,  Professor  der  Philosophie  am  Lyceum  zu 
Massa.  Dieselbe  Ansicht  vertreten  femer  Mac  Kendrik,  emerit.  Professor 
der  Physiologie  an  der  Universität  Glasgow  in  der  engl.  Zeitschrift 
„ Natur e"  und  H.  de  Varigny  im  „Temps".  — 

In  neuester  Zeit  hat  auch  Dr.  Allers  (Psychiater)  in  einer  bedeutenden 


—    136    — 

Arbeit  „Zur  Pathologie  des  Tonuslabyrinths"  im  XXVI.  Band  S.  134  u.a. 
von  Prof.  Dr.  Ziehens  Monatsschrift  für  Psychiatrie  und  Neurologie  diese 
Frage  gestreift,  ohne  zu  beabsichtigen,  das  Problem  zu  lösen.  Er  hat 
deshalb  auch  die  einschlägige  Literatur  nur  unvollständig  zu  Rate  ge- 
zogen. Die  Arbeiten  von  Dr.  Krogius  und  die  meinigen  kannte  er 
nicht.  — 

Er  schreibt  S.  134,  Truschel  habe  in  seiner  Schrift  (Exper.  Päd. 
1906  im  VII.  Band)  „nachgewiesen",  daß  der  „Femsinn",  der  sog.  6.  Sinn 
„der  Blinden",  als  eine  Funktion  der  Halbzirkelkanäle  anzusehen  sei 
und  zwar,  daß  er  eine  Tätigkeit  des  Tonuslabyrinths  vorstelle  und  daß 
sich  als  eigentliches  Organ  des  sechsten  Sinns  der  Vestibularapparat 
ergebe.  —  Nun  finde  ich  aber  in  den  genannten  Abhandlungen  Truschels 
auch  nicht  eimal  einen  Hinweis  auf  das  Tonuslabyrinth  und  den 
ganzen  Vestibularapparat,  geschweige  denn  einen  „Nachweis". 
Ich  lese  dort  immer  nur  die  Behauptungen,  daß  der  x-Sinn  I,  den  andere 
Leute  Gehör  nennen,  auf  der  Unterscheidung  der  Tonhöhe,  besonders 
in  den  Trittgeräuschen,  —  und  der  x- Sinn  II,  der  bei  uns  Ferngefühl 
heißt,  auch  auf  Erregung  oder  Reizung  der  Gehörorgane  durch  reflek- 
tierte, nicht  mehr  als  solche  perzipierte  Schallwellen  beruhe,  oder  daß 
auch  die  x-Reize  No.  II  „ausschließlich  reflektierte  Schall- 
wellen sind".  Diesen  „Nachweis"  behauptet  Truschel  erbracht  zu 
haben.  —  (S.  148).  — 

Es  handelt  sich  für  ihn  also  um  Gehör  und  akastische  Reize.  — 
Auf  die  Möglichkeit,  daß  das  dem  Gehörorgan  benachbarte  stati- 
sche Organ,  der  Vestibularapparat,  unter  Umständen  im  Spiele  sein 
könnte,  hat  ihn  m.  W.  gleich  nach  dem  Erscheinen  seiner  Schrift  und 
dem  Bekanntwerden  von  Cyons  Untersuchungen  gerade  Griesbach  auf- 
merksam gemacht,  dessen  Versuche  ihm  so  wenig  passen.  —  Aber  auch 
in  seinem  Bericht  über  den  Hamburger  Kongreß ,  der  so  viel  Falsches 
enthält,  finde  ich  den  Vestibularapparat  noch  nicht  erwähnt.  Tmschel 
hält  dort  noch  an  der  akustischen  Hypothese,  von  der  bei  James  und 
Javal  etc.  schon  die  Rede  war,  fest  und  hat  noch  kürzlich  behauptet,  seine 
Auffassung  sei  noch  genau  dieselbe,  wie  sie  in  seiner  ersten  Schrift  dar- 
gelegt worden  sei.  — 

Er  schrieb  also  noch  vor  einem  halben  Jahre  die  eigenartige,  durch- 
weg auf  der  unbedeckten  Kopfhaut,  mit  Einschluß  des  TrommelfeUs, 
lokalisierte  Empfindung  der  Erregung  der  Gehörorgane  durch  re- 
flektierte Schallwellen  zu  und  stützte  seine  Behauptungen  auf  Versuchs- 
ergebnisse, die  z.  T.  an  den  von  ihm  genannten  Versuchspersonen  (Zög- 
lingen unserer  Anstalt),  trotz  der  Band  VII  S.  107  angewandten  Spitz- 
findigkeiten,   hier    und   auch  anderswo,    als  falsch   nachgewiesen 


—     137     — 

worden  sind.  Aber  selbst  wenn  das  Tonuslabyrinth,  der  Vestibular- 
apparat  überhaupt,  bei  dem  Ferngefühl  im  Spiele  wäre,  was  durchaus 
nicht  bewiesen  ist,  würde  letzteres  noch  nicht  auf  der  Erregung 
der  Grehörorgane  durch  reflektierte  Schallwellen  beruhen,  weil  das 
Tonuslabyrinth  auch  nach  den  Feststellungen  von  Dr.  Allers  ganz 
anderen  Herren  dient.  (Muskeltonus ,  Gleichgewicht ,  Lage  des 
Körpers  und  seiner  Anhängsel  etc.). 

Möglich  wäre  es  aber  doch,  daß  infolge  des  örtlichen  Beisammen- 
seins der  eigentlichen  Gehörorgane  und  des  statischen  oder  Vesti- 
bularapparats  bei  einer  Erkrankung  des  letzteren  durch  Übergreifen 
der  Eiterung  etc.  auch  erstere  in  Mitleidenschaft  gezogen  würden,  wie 
etwa  bei  starkem  Stockschnupfen  auch  die  Augen  tränen.  Ich  kenne 
Fälle,  wo  der  statische  Apparat  mit  dem  akustischen  gelitten  hat.  So 
ließe  sich  allenfalls  eine  Schwächung  des  Orientierungsvermögens,  d.  h. 
des  „Fernsinns"  nach  Mells  Lexikon,  nicht  aber  eine  Herabminderung 
des  eigentlichen  Ferngefühls  erklären;  denn  das  Gehör  als 
solches  ist  der  wichtigste  Fern-  oder  Orientierungssinn  der 
Blinden ! 

Ich  lasse  hier  die  Krankengeschichte  des  von  Dr.  Allers  behandelten 
Blinden  folgen,  soweit  sie  für  unsere  Frage  Bedeutung  hat : 

Krankengeschichte:  Am  27.  VI.  1908  Avurde  unserer  Ambulanz  der 
20jährige  G.  I.,  Zögling  des  Klarsehen  Blindeninstitutes ,  zugeführt.  Der  be- 
gleitende Wärter  teilte  mit,  daß  der  Kranke  seit  3  Jahren  an  „Nervenschwäche" 
leide,  seiner  eigenen  Angabe  nach  vergeßlich  geworden  sei ,  viel  herumsitze  und 
grüble. 

Bei  der  Untersuchung  des  Kranken  ergab  sich  alsbald,  daß  wir  es  mit  einem 
Menschen  von  bedeutender  Intelligenz  und  vortrefflicher  Beobachtungsgabe  zu  tun 
hatten,  ein  Umstand,  der  die  Klärung  der  eigenartigen  Symptome  wesentlich  er- 
leichterte. 

Pat.  ist  kongenital  blind.  Die  Ursache  sei,  wie  er  selbst  erzählt,  nach  dem 
Befunde  eines  Augenarztes  eine  intrauterine  Neuritis  optica  gewesen. 

Die  folgende  Darstellung  seines  Lebenslaufes  und  seiner  Krankheit  ist  aus 
den  Angaben  bei  den  ambulatorischen  Untersuchungen  und  der  Krankengeschichte 
über  seinen  Aufenthalt  an  der  Klinik  vom  29.  XL  bis  20.  Xlt.  zusammen- 
gestellt. 

Pat.  ist  im  Jahre  1888  geboren ;  Yater  war  Steinmetz,  starb  an  unbekannter 
Krankheit.  Die  Mutter  lebt.  Im  Alter  von  1^/2  Jahren  wurde  die  Diagnose 
auf  Atrophie  infolge  von  Neuritis  gestellt. 

In  seinem  12.  Jahre  kam  er  in  die  Blindenanstalt. 

Pat.  war  als  Kind  sehr  schreckhaft.  Er  litt  an  abendlichen  Angstanfallen, 
welche  in  so  früher  Kindheit  begonnen  hatten,  daß  er  sich  an  den  Beginn  nicht 
mehr  erinnern  kann.  Diese  Anfalle  traten  mit  unüberwindlicher  Gewalt  und  ganz 
plötzlich  ohne  Vorzeichen  mitten  in  guter  Stimmung  auf.  Er  bekam  dann  eine 
intensive  Beklemmung  und  mußte  sich  zusammenkrümmen,  Augen  und  Mund  fest 
schließen ,    die    geballten  Hände   fest    an   sich    drücken ;    auch  die  Zehen  habe  er 


—     138    — 

biegen  müssen.  Es  kam  ihm  die  Vorstellung  einer  haarigen  Gestalt  oder  von 
furchtbaren  Stimmen,  die  ihn  ängstigten.  I>ie  Gestalt  war  die  eines  Menschen, 
aber  von  ungeheurer  Größe,  die  Haare  ähnlich  denen  eines  Hundes,  aber  länger, 
steifer,  klebrig  und  ekelhaft.  Die  Stimmen  waren  zwar  menschenähnlich,  aber 
furchtbar  laut  und  tief,  meist  nur  grunzend,  selten  hat  er  Worte  verstanden.  Er 
erinnert  sich,  einmal  gehört  zu  haben:  „Jetzt  zerreißt  es  dir  die  Seite",  ein  an- 
deres Mal:  „Jetzt  zerreißt  es  dir  die  Kleider". 

Pat.  gibt  ausdrücklich  an,  auch  während  dieser  Angstanfalle  das  deutliche 
Bewußtsein  gehabt  zu  haben ,  daß  diese  Erscheinungen  nicht  wirklich  sind ;  sie 
hätten  nur  in  seiner  „Vorstellungskraft",  wie  er  sich  ausdrückt,  existiert.  Die 
klebrigen  Haare  habe  er  nicht  getastet,  noch  die  Stimmen  mit  den  Ohren  gehört; 
er  habe  vielmehr  mit  seiner  „geistigen  vorgestellten  Hand"  die  vorgestellten  Haare 
der  Gestalt  getastet,  mit  seinem  geistigen  Ohr  die  vorgestellten  Stimmen  gehört. 
Pat.  illustriert  dieses  Verhalten  wörtlich  folgendermaßen :  „Wenn  Sie  jetzt  mit  mir 
sprechen,  und  ich  erinnere  mich  nach  einer  Stunde  daran,  so  höre  ich  dieselben 
Worte  genau  mit  dem  Klang  Ihrer  Stimme,  so  wie  Sie  dieselben  zu  mir  ge- 
sprochen haben.  Wenn  ich  mit  jemandem  Ann  in  Arm  gehe  und  später  daran 
zurückdenke,  so  fühle  ich  geistig  in  der  Vorstellungskraft  den  Druck  des  Armes". 

Auf  genaueres  Befragen  stellt  er  entschieden  in  Abrede,  daß  er  bei  dem 
Erinnern  an  einen  Tasteindruck  etwas  in  der  Hand  spüre;  es  sei  vielmehr  seine 
geistige  (vorgestellte)  Hand,  mit  der  er  glaube,  das,  was  er  früher  angegriffen, 
wieder  zu  betasten.  Bei  den  Schreckgestalten  sei  es  ebenso  nur  die  vorgestellte 
Hand  gewesen,  die  gefühlt,  nur  das  vorgestellte  Ohr,  das  gehört  habe.  „Die 
Haare  waren  so  klebrig,  daß  sich  die  geistige  Hand  mit  Gewalt  davon  abreißen 
mußte". 

Während  dieser  Anfälle  habe  er  niemals  das  Bewußtsein  seiner  Umgebung 
verloren  und  sei  sich  über  die  Unwirklichkeit  der  Erscheinung  immer  klar 
gewesen. 

Solch  ein  Anfall  dauerte  nur  ganz  kurze  Zeit,  wiederholte  sich  aber  an  einem 
Abende  4 — 5  mal  mit  kurzen  Unterbrechungen.  Dieses  Symptom  bestand  bis  zum 
Sommer  d.  J. ,  in  welchem  es  wahrend  einer  Brom-Arsen-Kur  (die  ihm  in  der 
Ambulanz  verordnet  worden  war,  allerdings  uns  anderen  Gründen,  da  er  von  den 
Angstanfällen,  wie  er  später  angab,  aus  Furcht,  verlacht  zu  werden,  nichts  erzählt 
hatte)  verschwand. 

Vor  vielleicht  11  Jahren  erschrak  Pat.  über  einen  Sessel,  der  während  des 
Mittagessens  umfiel,  heftig.  Er  hatte  eben  kalte  Milch  getrunken,  die  ihm,  wie 
kalte  Dinge  überhaupt,  auf  einen  Augenblick  den  Atem  benahm.  Gerade  in 
diesem  Momente  fiel  der  Sessel  unter  lautem  Krachen  um.  Er  erschrak  entsetz- 
lich; das  Herz  schlug  ihm  eine  lange  Weile  so,  daß  er  nicht  atmen  konnte.  Er 
war  etwa  2  Stunden  laug  sehr  aufgeregt.  Angeblich  seit  diesem  Tage  litt  Pat 
an  heftigen  Kopfschmerzen.  Diese  traten  anfangs  in  Inter\'allen  von  14, 
dann  von  8  Tagen  auf.  Es  war  stets  ein  halbseitiger  Schmerz,  haupt^tächlich  in 
der  rechten  Stirn-  und  Schläfengegend,  während  dessen  es  zmu  Erbrechen  kam. 
Schwindel  hatte  er  keinen.  Die  Kopfschmerzen  verschwanden  allmählich.  Seit 
etwa  2  Jahren  ist  nur  ein  ständiges  Brennen  im  Kopf,  speziell  in  der 
Stirne,  zurückgeblieben. 

Dagegen  bestehen  seit  2  oder  8  Jaliren  andere  Erscheinungen.  Pat  begann 
an  Schwindel  zu  leiden  und  beobachtete  an  sich  eine  Reihe  von  Phänomenen, 
die  er  als  „Gefühlstäuschungen"  bezeichnet.     AnfWrdem  klagte  er  über   zeitweiaen 


—    139    — 

Kopfdruck,  ein  kontinuierliches  Brennen  in  der  Stirn e,  über  Ver- 
geßlichkeit und  allgemeine  Mattigkeit.  Der  Schwindel  sowohl  als  die  Gefühls- 
täuschung treten  spontan  auf,  aber  meist  dann,  wenn  er  sich  angestrengt,  mehr 
oder  intensiver  als  gewöhnlich  gearbeitet  hatte. 

Hervorzuheben  ist,  daß  bei  all'  den  angeführten  Störungen  der  „Femsinn 
der  Blinden",  welcher  bei  unserem  Kranken  ziemlich  entwickelt 
war,  vollkommen  wegfiel  und  er  dessen  Unterstützung  ganz  verlor. 

Nach  Schwindelanfällen,  wobei  der  Fernsinn  geschwunden  war  und  er  sich 
daher  nur  tastend  über  die  Stellung  der  Gegenstände  orientieren  konnte,  hatte  er 
häufig  den  Eindruck ,  als  ob  die  sonst  vertikal  stehenden  Gegenstände  geneigt 
wären  und  zwar  nur  in  der  Sagittalebene  —  entweder  auf  ihn  zu  oder  von  ihm 
weg.  Nie  wurde  beobachtet,  daß  der  eine  Gegenstand  etwa  nach  vorne,  der 
andere  nach  hinten  geneigt  war,  auch  niemals,  daß  ein  Wechsel  der  Neigungs- 
richtung stattfand,  sondern  die  Dinge  waren  entweder  nach  vorne  oder  nach 
hinten  geneigt.  Die  Neigungsgröße  betrug  dabei  ca.  30 — 45  ^  von  der  Vertikalen 
gemessen.     Der  Kranke  demonstrierte  dies  mit  Hülfe  eines  großen  Metallschirmes. 

Bemerkenswert  ist,  daß  der  Kranke  angibt,  durch  alle  diese  Störungen  in 
einer  Hinsicht  doch  behindert  zu  werden  —  die  Sicherheit  und  Schnelligkeit 
seiner  Bewegungen  beim  Arbeiten  ist  wesentlich  beeinträchtigt. 

Nochmals  sei  darauf  hingewiesen ,  daß  bei  sämtlichen  angeführten  Erschei- 
nungen immer  zugleich  der  „Fernsinn"  schwand  oder  bedeutend  herabgesetzt  war. 
Auch  scheint  es  nicht  unwichtig,  daß  Fat.  angibt,  die  Schärfe  dieses  Fernsinnes 
habe  seit  dem  Bestehen  der  Störungen  beträchtlich  abgenommen. 

Während  seines  Aufenthaltes  auf  der  Klinik  traten  die  Symptome  spontan 
fast  überhaupt  nicht  auf.  Der  Kranke  gab  auch  an,  daß  zu  Zeiten  der  Ruhe  die 
Erscheinungen  sehr  zurückgingen  und  sich  nur  im  Gefolge  körperlicher  Anstrengung 
wieder  einstellten;  nach  Turnübungen,  besonders  mit  Hanteln,  traten  sie  am  hef- 
tigsten auf 

Unter  einer  leichten  hydrotherapeutischen  Behandlung  und  diätetischen  Maß- 
regeln zusammen  mit  einer  Arseneisenmedikation  gingen  die  Störungen  zurück. 
Gegen  das  kontinuierliche  Brennen  in  der  Stirn e  verwendete  Pat.  mit 
Erfolg  Mentholpinselungen. 

Da  der  Prager  Blinde  vor  seiner  Labyrintherkrankung  nicht  auf 
Ferngefühl  geprüft  worden  ist,  weil  Dr.  Allers  denselben  erst  ca.  3  Jahre 
nach  deren  Beginn  zu  Gesicht  bekam,  wäre  es  möglich,  daß  auch  dieser 
Blinde  das  Ferngefühl  nicht  von  der  Summe  der  ihn  leitenden  Fern- 
wahmehmungen  zu  trennen  vermöchte  und  daß  er  die  schlechter  gewor- 
dene Orientation  zu  Unrecht  dem  Schwinden  des  Ferngefühls  allein  zu- 
schriebe. Es  gibt  viele  Blinde ,  besonders  traumatische ,  die ,  wie  die 
meisten  Sehenden,  welche  immer  von  dem  „Fernsinn  der  Bünden''  reden 
hören,  das  Ferngefühl  als  obligatorische  Zugabe  zur  Blindheit 
betrachten,  ohne  zu  wissen  was  es  ist.  —  So  sagte  mir  vor  einiger  Zeit 
ein  vor  ca.  4  Jahren  durch  Schuß  in  den  Kopf  erblindeter  junger  Mann : 
,,Ich  fühle  die  Gegenstände  jetzt  doch  schon  etwas  besser".  Tatsächlich 
hat  er  heute  noch  keine  Spur  von  Ferngefühl.    (Zu  vergleichen  Druck- 


—     140    — 

tabelle  7  No.  42.  GK  im  ersten  Heft  des  VII.  Bandes.  Sein  Drnck- 
sinn  ist,  wie  diese  Tabelle  zeigt,  außerordentlich  hart).  — 

Wie  schwer  es  auch  für  gebildete  Leute  zu  halten  scheint,  die  ver- 
schiedenen Komponenten  des  Orientierungsvermögens  scharf  von  ein- 
ander zu  trennen,  habe  ich  in  diesen  Tagen  wieder  erfahren.  Ein  hoch- 
gebildeter französischer  Blinder,  mit  dem  ich  früher  nicht  über  diesen 
Gegenstand  gesprochen  hatte,  sagt  mir  über  den  „sens  des  obstacles" : 
—  „Das  kommt  von  dem  Rückstoß  der  Luft  her.  Das  Gehör  scheint 
aber  doch  beteiligt  zu  sein ;  denn  wenn  wir  Gummischuhe  tragen,  finden 
wir  uns  viel  weniger  gut  zurecht."  Auf  meine  Frage:  „Ja  spüren  Sie 
das  im  Gesicht?  —  antwortete  er:  Nein  das  höre  ich! 

Auch  er  verstand  also  unter  „sens  des  obstacles"  die  ganze  Orien- 
tation. 

Auf  die  prädominierende  Rolle,  welche  das  Gehör  bei  derselben 
spielt,  habe  ich  oft  genug  und  schon  vor  langen  Jahren  hingewiesen.  — 

Diese  Bemerkung  ist  allgemeiner  Natur.  Sie  bezieht  sich  nicht  nur 
anf  den  uns  beschäftigenden  Fall;  denn  aus  einem  letzter  Tage  einge- 
gangenen Briefe  geht  hervor,  daß  Dr.  AUers  an  das  eigentliche  Fern- 
gefühl gedacht  hat.  Auch  scheint  das  Gehör  dieses  Blinden  nicht 
gelitten  zu  haben. 

Dr.  Allers  schreibt  darüber  S.  122: 

„Der  Schwindel  wies  auf  eine  labyrinthäre  Störung  hin.  Eine  ge- 
naue Untersuchung  des  Patienten  auf  der  hiesigen  Ohrenklinik  er- 
gab zunächst  ein  vollkommenes  Intaktsein  des  akustischen 
Apparats.  Patient  hörte  Töne  bis  zu  46000  Schwingungen  (Galton- 
Pfeife)  beiderseits.  Er  verfügt  über  ein  nahezu  absolutes 
Gehör,  indem  er  sich  bei  der  Prüfung  nur  ein  einzigesmal  bei  der 
Angabe  des  Tones  irrte,  da  er  das  h"  für  c"  ansprach;  er  gab  an, 
jetzt  außer  Übung  zu  sein,  weil  er  lange  kein  Instrument  gespielt  habe; 
80  lange  er  Geige  spielte,  konnte  er  sich  auf  die  Exaktheit  seines 
Gehörs  vollkommen  verlassen." 

Dies  zeigt  aufs  neue,  daß  das  Tonuslabyrinth,  der  statische 
Apparat  überhaupt,  mit  den  Gehörorganen,  also  auch  mit  der 
Erregung  derselben  durch  Schallwellen  und  der  Unterschei- 
dung von  Tonintervallen,  nichts  zu  tun  hat,  wenn  nicht  die 
Krankheit  (Entzündung ,  Eiterung)  auch  den  akustischen  ergreift ; 
sonst  hätte  ja  in  diesem  Falle  durch  die  Labyrintherkrankung  auch 
das  Gehör  leiden  müsssen!  — 

Wenn  das  Ferngefühl  auf  Erregung  der  Gehörorgane  beruhte, 
müßte  es  also  gerade  bei  diesem  Blinden  bedeutend  sein  und  bleiben. 


—    141     — 

Als  Folgen  dieser  Erkrankung  nennt  Dr.  Allers  in  übersiclitliclLer 
Zusammenstellung  S.  122  aber  nur  folgende  Syptome. 

1.  „Spontaner  Schwindel,  der  im  Stehen  oder  Sitzen  auftritt,  wobei  sich 
der  Fußboden  dreht ; 

2.  dem  vorigen  gleichartiger  Schwindel,  der  auftritt,  wenn  Pat.  mit  vor- 
oder  seitlich  geneigtem  Kopfe  geht,  nicht  aber,  wenn  er  den  Kopf  nach  hinten 
beugt ; 

3.  Pendelbewegung  des  Bettes,  zuweilen  um  eine  vertikale  Achse  am  Kopf- 
ende, zuweilen  um  eine  querverlaufende,  horizontale; 

4.  plötzliches  Ansteigen  oder  Abfallen  des  horizontalen  Fußbodens  während 
des  Gehens; 

5.  Stellungsänderung  vertikal  stehender  Gegenstände  im  Sinne  der  Vor-  oder 
Eückwärtsneigung ; 

6.  Größer-  und  Kleiner-Erscheinen  solcher  Gegenstände,  die  mit  der  Hand 
umfaßt  werden  können,  zugleich  Schwerer-  bezw.  Leichterwerden  derselben; 

7.  Schwerer-  und  Leichterw^erden  langer,  mit  der  Hand  nicht  umgreifbarer 
Gegenstände ; 

8.  Verlust  der  Richtungs-  und  Distanzbemessung  beim  Gehen;  dadurch  Des- 
orientiertheit in  vertrauten  Räumlichkeiten; 

9.  zeitweises  objektiv    festgestelltes  Taumeln  ohne  subjektive  Empfindungen; 
10.    Schwinden  der  Wahrnehmungen  des  Fernsinnes." 

Daß  das  Gehör  intakt  blieb,  haben  wir  gesehen.  Von  diesem  spricht 
er  also  nicht.  Wenn  Truschel  heute  wirklich  (auch  morgen?)  den  sta- 
tischen oder  Vorhof- Apparat,  speziell  das  Tonuslabyrinth,  und 
nicht  mehr,  wie  früher,  den  Hörapparat  als  Organ  des  „Fern- 
sinns" der  Blinden  (nicht  auch  der  Sehenden?)  ansieht,  dann  hat  er  m.  E. 
nicht  nur,  wie  Dr.  Allers  sich  euphemistisch  ausdrückt,  seine  frühere 
Ansicht  „etwas  modifiziert",  sondern  die  Schallwellen- 
theorie, deren  Unhaltbarkeit  durch  Dr.  Krogius,  Dr.  Woelfflin  und 
uns  wohl  genügend  nachgewiesen  worden  ist,  TÖllig  aufgegeben,  — 
obwohl  er  in  der  Februarnummer  1909  des  „Blindenfreund"  sagt: 
„Meine  Auffassung  vom  Wesen  des  sog.  sechsten  Sinnes  der  Blinden  ist 
heute  noch  genau  dieselbe,  wie  sie  in  meiner  ersten  Arbeit  dargelegt 
wurde." 

Diese  Behauptung  ist  dann  eben  wieder  „unzutreffend."  — 

Die  Nachbarschaft  des  akustischen  und  des  statischen  Apparats 
hilft  ihm  nicht,  weil  deren  Funktionen  nach  dem  heutigen 
Stande  der  Forschung  völlig  getrennt  sind.  — 

Ich  kann  nicht,  sobald  es  mir  paßt,  den  G-eruch  dem  Gesicht  sub- 
stituieren, weil  die  Augenwinkel  die  Nasenwurzel  berühren,  —  und 
dann  behaupten,  es  sei  dies  dasselbe. 

Und  wenn  ich  es  nach  „berühmt"  werden  wollenden  Mustern  doch 
täte,  so  würde  mir  kein  vernünftiger  Mensch  Griauben  schenken. 


—     142     — 

Truschel  anerkennt  ja  jetzt  auch  zunächst  ein  taktiles  („Kinder- 
fehler", April  1908)  und  dann  ein  thermisch-taktiles  Ferngefühl 
(Ex.  Päd.  Bd.  VIII,  S.  192)  und  will  dessen  Existenz  nie  in  Abrede 
gestellt  haben,  während  er  sie  in  seiner  ersten  Schrift  und  noch  in 
Hamburg  nach  allgemeiner  Auffassung  fanatisch  bestritt!  — 

In  dem  Archiv  für  Psj^chologie  zieht  er  sich  allerdings  wieder  mehr 
auf  die  Reizung  der  Gehörorgane  zurück.  — 

Wenn  man  bald  „weiß"  und  bald  „schwarz"  schreibt,  kann 
man  ja  immer  behaupten,  man  habe  stets  ;,grau"  gemeint.  Hasen- 
haken! 

Herr  Truschel  wundert  sich  u.  a.  auch  darüber ,  daß  ich  in  der 
letzten  Arbeit  im  VII.  Bande  die  in  meiner  früheren  Abhandlung  und 
auch  in  Hamburg  aufgestellten  Thesen  wiederholt  habe,  obgleich  sie  von 
ihm  in  Hamburg  „Punkt  für  Punkt  widerlegt"  worden  seien.  Wenn 
dies  geschehen  wäre,  hätte  ich  nichts  wiederholt!  Er  hatte  aber 
weder  einen  Punkt,  noch  ein  Pünktchen  „widerlegt",  sondern 
nur  alles  bestritten,  z.T.  auch  seine  eigenen  früheren  Behauptungen. 
(S.  S.  81 — 83  und  meine  Antwort  im  offiziellen  Kongreßbericht).  Sonder- 
abdrücke stehen  noch  zur  Verfügung.  Herr  Truschel  scheint  eben  die 
sonderbare  Gewohnheit  zu  haben,  seine  ungereimtesten  Behauptungen 
als  Beweise  anzusehen.  — 

Der  besprochene  Einzelfall  spricht  also  nicht  für,  sondern  ent- 
schieden gegen  die  Schallwellenhypothese. 

Es  stellt  sich  nun  die  Frage,  wie  nach  meiner  Auffassung,  sagen 
wir  nach  der  Hautsinntheorie,  im  vorliegenden  Falle  die  dauernde 
Abnahme  des  Ferngefühls  oder  das  Schwinden  desselben  während  der 
Krisen  zu  erklären  sei.  — 

Nach  dem  Krankenbericht  klagt  der  Blinde  über  Druck  in  den 
Schläfen  und  über  seit  2  Jahren  andauerndes,  ständiges  Brennen  in 
der  Stirn,  das  er  durch  Mentholeinpinselungen  zu  lindern 
sucht.  —  Die  Fernempfindung  lokalisiert  er  hauptsächlich  in  der 
Ohrengegend  (wohl  im  Trommelfell).  —  Gerade  weil  er  sie  dort  loka- 
lisiert, kann  sie  m.  E.  nur  taktiler  Natur,  Haut  sinn  sein;  da  die 
Haut  niemals  akustische  Reize  lokalisiert.  —  Wenn  ein  starker  Knall 
das  Trommelfell  erschüttert,  handelt  es  sich  nicht  um  Schall-,  sondern 
um  Druckreize.  — 

Entscheidend  ist  für  mich  —  neben  dem  Druck  in  den  Schläfen  - 
das  ständige  Brennen  in  der  Stirnhaut,  also  die  Schmerzem- 
pfindung in  denjenigen  Teilen  der  Kopfhaut,  auf  welchen 
—  neben  dem  noch  viel  empfindlicheren  Trommelfell  — 
das    Ferngefühl    durchweg    lokalisiert   wird.      Letzteres   ist 


—     143     — 

eine  sehr  schwache  Hautempfindung.  Der  Druck  in  den  Schläfen 
und  das  quälende  Brennen  müssen  doch  diese  schwache  Em- 
pfindung übertönen,  völlig  verwischen. 

Wenn  das  Femgefühl  des  Blinden  vor  der  Erkrankung  des  Tonus- 
labyrinths wirklich  viel  feiner  gewesen  ist,  was  nicht  festgestellt  werden 
kann,  so  darf  wohl  angenommen  werden,  daß  durch  das  unauf- 
hörliche Brennen  und  die  Mentholeinpinselungen  die  Empfindlichkeit 
der  betreffenden  Hautpartien  für  taktile  oder  andere  Reize  herab- 
gemindert worden  sei  —  und  daß  nur  noch  das  empfindlichste 
Tastorgan,  das  Trommelfell,  diese  zarten  Reize  wahrnehme.  So  er- 
klärt sich  die  Lokalisation  in  der  Ohrengegend. 

Ich  kenne  drei  gebildete  Sehende,  welche  die  Annäherung  der  Platten 
etc.  zuerst  im  Trommelfell  empfinden  (nicht  hören)  und  erst  nach- 
her im  Gresicht,  wenn  die  Reize  infolge  größerer  Annäherung  der 
Platten  stärker  werden.  Die  leisesten  Druckschwankungen  müssen 
m.  E.  durch  das  wie  in  einem  Rahmen  festgehaltene,  nur  an  einer 
Stelle  (Hammer)  gestützte  Trommelfell  und  dessen  Umgebung  früher 
empfunden  werden  als  durch  die  fest  aufliegende  Gresichtshaut.  Es  kann 
also  wohl  noch  Reize  wahrnehmen,  welche  für  die  durch  Schmerzen  und 
Gegenmittel  abgestumpfte  Stirnhaut  zu  schwach  sind.  —  Ich  denke  da 
an  eine  mit  einer  Tapete  überspannte  Türöfi'nung.  Die  leiseste  Luft- 
bewegung bringt  das  Papier  zum  Zittern,  während  die  auf  die  Wand 
geklebte  Tapete  nichts  von  der  Bewegung  „spürt."  — 

Wenn  das  Brennen  in  der  Stirn  wirklich  eine  primäre  Folge  der 
labyrinthären  Erkrankung  ist  (Reflex  durch  Neuronenkontakt  von  der 
vorderen  Hirnrinde  auf  die  Stirnhaut),  dann  kann  m.  E.  die  Abnahme 
des  Ferngefühls  nur  eine  Folge  dieses  Brennens,  d.  h.  nur  eine  indi- 
rekte,  sekundäre   Folge  der  Erkrankung   des  Tonuslabyrinths    sein. 

Und  diese  primäre  Folge,  das  Brennen  ist  in  diesem  Falle  wohl 
rein  individuell.  Ehe  nachgewiesen  ist,  daß  jede  Erkrankung  des  Tonus- 
labyrinths dieselbe  Wirkung  auf  die  Stirnhaut  ausübt,  dürfen  allgemeine 
Schlüsse  nicht  gezogen  werden. 

Wenn  labyrinthäre  Erkrankungen  stets  das  Ferngefühl 
aufhöben,  müßte  wohl  auch  jedes  gesunde  Labyrinth  Organ 
des  „Fernsinns  der  Blinden^^,  sagen  wir  lieber  des  Fern- 
gefühls, sein.  Jeder  Mensch,  ob  sehend  oder  blind,  der 
nicht  an  Schwindel  leidet  und  Herr  seiner  Bewegungen 
ist,  müßte  also  m.  E.  auch  fernfühlig  sein!  Nun  wissen  wir 
aber,  daß  sehr  viele  Blinde,  besonders  traumatische,  und  noch  mehr 
Sehende,  deren  statischer  Sinn  völlig  normal,  deren  Vestibularapparat 
also  gesund  ist,  kein  Ferngefühl  besitzen.  — 


—    144    — 

Daß  unter  Umständen  auch  der  statische  oder  Vorhof- Apparat, 
wohl  infolge  örtlichen  Beisammenseins,  mit  dem  akustischen  und  mit 
dem  Sehorgan  erkranken  kann,  d.  h.  daß  Blindheit,  Taubheit  und  Störung 
des  Gleichgewichts  sekundäre  Folgen  einer  und  derselben  Krankheit 
(Scharlach,  Masern,  Pocken  etc.)  sein  können,  glaube  ich  längst  ge- 
wußt zu  haben.  Schon  vor  langen  Jahren  habe  ich  w^iederholt  darauf 
hingewiesen,  daß  Blindheit  und  Taubheit  oder  Schwerhörigkeit  sehr  oft 
Hand  in  Hand  gehen  und  daß  bei  Taubblinden  meistens  auch  der  sta- 
tische Sinn  gelitten  habe.  —  In  meiner  Schrift  „Zur  Blindenphysiologie" 
ist  S.  33  (Sonderabzug  aus  der  Wiener  Mediz.  Wochenschrift)  zu  lesen: 
„Der  unsichere,  wackelige  Gang  der  meisten  Taubblinden  (sie  gehen^ 
meistens  wie  Betrunkene)  dürfte  darauf  hinweisen,  daß  auch  der  sechste, 
der  Grleichgewichtssinn,  gelitten  hat,  das  heißt,  daß  auch  die  Wasser- 
wage ^)  im  Ohrenlabyrinth  nicht  in  Ordnung  ist"  etc.  — 

Es  ist  aber  wohl  nicht  der  Verlust  des  einen  oder  anderen  dieser 
Sinne,  welcher  den  Nachbarsinn  schädigt  —  oder,  wie  viele  heute  noch 
zu  glauben  scheinen,  sogar  stärkt !  (Sinnen vikariat).  Eine  gemein- 
same Ursache  hat  diese  verschiedenen  Wirkungen  hervorgebracht. 

Eine  Scharlacherkältung  kann  Erblindung  bewirken  und  eine  Ohren- 
eiterung hervorrufen ,  welche  das  akustische  wie  das  statische 
Organ  schädigt.  —  Ob  dadurch  die  Femfühligkeit ,  wo  sie  vorhanden 
war,  direkt  beeinflußt  wird,  ist  noch  mehr  als  zweifelhaft.  In  dem  uns 
beschäftigenden,  absonderlichen  Einzelfall  läßt  sich  dessen  Abnahme 
ganz  gut  aus  der  Hautsinntheorie  erklären.  — 

Wir  wissen  ja  auch,  daß  starker  Schnupfen  das  Ferngefühl 
herabsetzt  oder  aufhebt.  Es  könnte  also  leicht  noch  jemand  für 
den  Geruchsinn  eine  Lanze  brechen.  Oder  wirkt  die  Entzündung  der 
Nasenschleimhaut,  die  sich  oft  auf  ihre  Umgebung  fortpflanzt  (gerötete 
Nase,  rotes  Gesicht,  tränende  Augen  etc.)  auch  auf  das  Tonuslabyrinth 
und  durch  dieses  auf  die  Gesichtshaut  —  und  nicht  etwa  direkt 
auf  den  Trigeminus,  welcher  in  diesen  Hautpartien  sich 
verästelt  —  und  den  Dr.  Heller,  Dr.  Krogius,  Dr.  Woelfflin  und  ich 
als  Träger  des  Ferngefühls  betrachten?  Ich  glaube  letzteres.  —  Auch 
Dr.  Allers  anerkennt  übrigens  den  Trigeminus  (also  nicht  den  Hör- 
apparat) als  Perzeptionsorgan  der  Fernwahrnehmungen, 
glaubt  aber,  daß  dies  die  Mitwirkung  des  Vestibularapparats  (wohl 
als  Reflex,  weil  die  Bahnen  des  Trigeminus  und  des  Vestibulamervs 
neben  einander  verlaufen)  nicht  auszuschließen  brauche.    £r  glaubt  nicht, 


1)  Da  die  Schrift  auch  als  Beilage  zu  meinem  Jahresberichte  Verwendung  finden 
sollte,  habe  ich  diesen  populären  Ausdruck  gewählt  — 


—     145    — 

daß  ein  gesunder  Vestibularapparat  Ferngefühl  schaffe,  nimmt  aber, 
gestützt  auf  den  vorliegenden  Einzelfall  an,  daß  dessen  Erkrankung 
dasselbe  zu  scbwäclien  oder  aufzuheben  vermöge.  — 

Ich  fühle  mich  natürlich  nicht  kompetent,  um  diese  Frage  zu  ent- 
scheiden, glaube  aber,  daß  ein  solcher  Schluß  erst  gezogen  werden  dürfte, 
wenn  nachgewiesen  wäre,  daß  jede  Erkrankung  des  Tonuslabyrinths, 
auch  ohne  Druck  in  den  Schläfen  und  Brennen  in  der  Stirn- 
haut zu  verursachen,  dieselben  Folgen  hat.  Es  müßte  ferner  in 
solchen  Fällen  durch  die  Sektion  nachgewiesen  werden,  daß  das  Laby- 
rinth selbst  erkrankt  ist  und  nicht  die  es  beherrschenden  Nerven- 
zentren im  Gehirn.  — 

Unter  allen  Umständen  hätte  aber  das  Femgefühl,  selbst  wenn  es 
bei  Erkrankungen  des  Tonuslabyrinths  immer  schwände,  mit  Schall- 
wellen nichts  zu  tun;  denn  der  Trigeminus  perzipiert  keinen  Schall 
—  und  unterscheidet  nicht  Tonhöhen,  Intervalle  etc. 

„Veränderungen  der  Tonhöhe,  besonders  in  den  Trittgeräuschen", 
sollen  aber  nach  Truschel  „das  Hauptkriterium  der  x-Empfindungen 
sein."  — 

Diese  Schalldifferenzen  in  den  Trittgeräuschen  sollen  nach  ihm 
zwischen  einer  Sekunde  und  einer  Septime  schwanken.  —  Daß  es  auch 
Sehende  gibt,  die  solche  Intervalle,  sogar  halbe  und  Yiertelstöne  zu 
unterscheiden  vermögen,  habe  ich  längst  gewußt.  Sonderbar  ist  nur, 
daß  der  einzige  wirklich  musikalische  Blinde  unter  seinen  15 
Versuchspersonen  (seine  No.  10,  meine  No.  34  F.  W.)  solche  Intervalle 
nicht  herauszufinden  vermochte,  während  die  absolut  unmusikali- 
schen Blinden,  darunter  mehrere  Halb-  und  Ganz-Idioten,  sich  wohl 
willig  ^belehren"  ließen,  so  lange  H.  Truschel  die  Aufsicht  bei 
Tisch  führte  und  über  Brotkorb  und  Weinglas  verfügte.  — 

Einige  Jahre  nach  dem  Austritt  aus  der  Anstalt  haben  gerade  die 
intelligentesten  und  unabhängigsten  unter  ihnen  meine  Frage,  ob 
sie  wirklich  an  diese  Wirkung  der  Schallwellen  auf  ihr  Gesicht  geglaubt 
hätten,  einzeln,  aber  übereinstimmend  folgendermaßen  beantwortet: 
„Ja,  es  war  halt  so  schwer  zu  widersprechen!"     Gewiß! 

Dr.  Acker knechts  Hypothese,  daß  der  in  seiner  Wirkung  aufs 
Hörlabyrinth  Gehörqualitäten  erzeugende  Reiz  (Schallwellen)  in  seiner 
Wirkung  auf  das  Tonuslabyrinth  (also  den  Vestibulär- Apparat  des  sta- 
tischen Sinns)  Raumqualitäten,  eben  die  eigentlichen  x-Empfindungen 
auslöse,  scheint  mir  denn  doch  nach  dem  Stande  der  heutigen  Forschung 
noch  etwas  zu  hypothetisch  zu  sein,  um  zu  einem  „Nachweis^  oder 
Beweis  auszureichen.  —  Ob  Dr.  Ackerknecht  selbst  mit  Blinden  ex- 
perimentiert hat,   weiß  ich  nicht.     Wahrscheinlich   hat   er   sich   einfach 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  10 


—     146    — 

auf  Tmschels  Behauptungen  gestützt.  Andere  einschlägige  Arbeiten 
hatte  er  wohl  noch  nicht  gelesen,  als  er  dies  schrieb.  — 

Daß  das  Ferngefühl  mit  keiner  bekannten  Funktion  des  Hör- 
apparats (Hörweite,  Musikgehör,  Lokalisation  der  Schallquelle  und 
Knochenleitung  des  Schalls)  in  irgendwelchem  Zusammenhang  steht,  ist 
in  der  früheren  Arbeit  im  VII.  Band  gezeigt  worden.  Ich  verweise 
besonders  auf  Tabellen  und  Farbentafeln,  die  sich  leider  ohne  meinen 
Namen  am  Ende  des  betreffenden  Hefts  befinden.  — 

Über  weitere  Versuche  mit  den  neuen  Versuchspersonen  No.  69 — 80 
werde  ich  nächstens  berichten.  Bis  jetzt  haben  diese  das  früher  Gesagte 
vollauf  bestätigt.  — 


Bemerkungen  zu  der  obigen  Abhandlung  von  M.  Kunz. 

Von  £.  Meumann. 

Die  obige  Abhandlung  von  Herrn  Direktor  Kunz  nötigt  mich  zu 
folgenden  Bemerkungen.  Zunächst  muß  ich  dem  Herrn  Verfasser  die 
volle  Verantwortung  für  den  Ton  überlassen ,  in  welchem  er  sich  mit 
seinen  Gegnern,  insbesondere  mit  Herrn  Truschel,  auseinandersetzt.  Ich 
habe  aber  die  möglichste  Objektivität  in  der  solange  schon  geführten 
Diskussion  über  den  Fernsinn  der  Blinden  wahren  wollen  und  habe 
daher  Herrn  Kunz  in  seiner  Abhandlung  volle  Kedefreiheit  gelassen. 

Sodann  muß  ich  auf  einige  Irrtümer  des  Herrn  Kunz  aufmerksam 
machen,  die  so  offen  zu  Tage  liegen,  daß  ich  es  seinen  Gegnern  wohl 
ersparen  kann  auf  sie  einzugehen.  Was  zuerst  die  Terminologie  der 
Begriffe  „Sinn"  und  „Gefühl"  betrifft  so  kann  über  diese  für  den  Psy- 
chologen von  Fach  kein  Zweifel  sein.  Seit  dem  achtzehnten  Jahrhundert 
hat  die  Psychologie  die  Ausdrücke  Empfindung  und  Gefühl  fest  geprägt 
und  sei  mit  bestimmten  Definitionen  gestützt.  Damach  sind  Empfin- 
dungen für  uns  durch  die  Merkmale  ausgezeichnet,  daß  sie  immer 
„Sinnesempfindungen"  sind;  sie  sind  diejenigen  elementaren  Bewußt- 
seinsinhalte, deren  Auftreten  an  die  Funktion  eines  bestimmten  Sinnes- 
organs und  an  die  Einwirkung  äußerer  Reize  gebunden  ist.  Gefühle 
dagegen  sind  immer  Lust  und  Unlust.  Es  besteht  also  für  den  Psy- 
chologen eine  scharfe  Unterscheidung  zwischen  Empfindungen  unsrer 
Sinne  einerseits  und  Gefühlen  der  Lust  oder  Unlust  anderseits.  Beides 
zu  verwechseln,  wie  es  die  populäre  Sprechweise  noch  heute  tut,  ist 
ein  verhängnisvoller   sachlicher  Fehler   und   diese  Terminologie   zu  ver- 


—     147     — 

mengen,  wie  es  Herr  Kunz  —  und  ebenso  auch  mancher  der  Psychologie 
femstehende  Physiologe  —  tut,  das  kann  nur  Verwirrung  stiften. 

Es  ist  nicht  erlaubt,  wie  das  von  Herrn  Kunz  geschieht,  sich  auf 
den  allgemeinen  Sprachgebrauch  zu  berufen,  gegenüber  der  feststehenden 
Terminologie  einer  Wissenschaft,  ebenso  wenig  kann  man  sich  darauf 
berufen ,  daß  Vertreter  einer  anderen  Wissenschaft,  die  in  der  Psycho- 
logie nicht  genügend  gebildet  sind  und  deren  bestimmte  Terminologie 
nicht  kennen,  gewisse  Begriffe  nicht  auseinander  halten.  Jede  Wissen- 
schaft prägt  ihre  eigene  Terminologie  und  muß  verlangen,  daß  diese 
beibehalten  wird,  zumal  wenn  es  sich  um  toto  genere  verschiedene  Tat- 
sachen handelt,  wie  bei  der  Bezeichnung  der  Empfindungen  und  der 
Gefühle.  Der  allgemeine  Sprachgebrauch  ist  für  keine  Wissenschaft 
maßgebend,  wenn  sie  ihn  irgendwo  als  ungenügend  erkannt  hat  und 
wenn  sie  Unterscheidungen  eingeführt  hat,  die  der  allgemeine  Sprach- 
gebrauch nicht  zu  machen  pflegt.  Was  würde  wohl  ein  Mediziner 
dazu  sagen,  wenn  man  die  zahlreichen  ungenauen  und  irre- 
führenden Bezeichnungen  der  Krankheiten,  die  in  dem 
allgemeinen  Sprachgebrauch  üblich  sind  in  der  wissen- 
schaftlichen Diskussion  über  medizinische  Probleme  bei- 
behalten wollte  unter  Berufung  auf  irgend  ein  „Lexikon" 
des  allgemeinen  Sprachgebrauches!  Die  allgemeine  Sprech- 
weise bezeichnet  z.  B.  (um  nur  eine  Probe  aus  hundert  Fällen  heraus- 
zugreifen) den  Geisteskranken  durchweg  als  „gemütskrank"  und  man 
würde  sich  zweifellos  in  der  Erörterung  psychiatrischer  Fragen  lächer- 
lich machen,  wenn  man  diesen  Ausdruck  gemütskrank  in  der  wissen- 
schaftlichen Diskussion  beibehalten  wollte  unter  Berufung  auf  den 
allgemeinen  Sprachgebrauch;  etwa  mit  der  Wendung:  weil  die  Geistes- 
kranken „im  allgemeinen  Sprachgebrauch  (nicht  in  der  Psychiatrie)  unter 
dem  Ausdruck  Gemütskranke"  zusammengefaßt  werden.  Genau  so  urteilt 
(mutatis  mutandis)  wörtlich  auf  S.  74  der  obigen  Abhandlung  in  dem 
zweiten  Absatz  Herr  Kunz! 

Die  Ausdrücke  „Ferngefühl"  und  erst  recht  der  Ausdruck  „Druck- 
gefühl", „Temperaturgefühl"  u.  s.  w.  sind  also  unwissenschaftliche  und 
irreführende  Wortbildungen,  die  jeder  Psychologe,  der  auf  korrekte  und 
konsequente  Ausdrucksweise  und  begriffliche  Unterscheidung  drängt, 
verwerfen  muß. 

Herr  Kunz  sieht  ferner  nicht,  daß  der  Ausdruck  „Femsinn"  gar 
nicht  verwendet  wird  um  die  Empfindungsgrundlage  der  Fem- 
wahrnehmung der  Blinden  zu  bezeichnen.  Den  Ausdruck  „Sinn"  ge- 
brauchen wir  im  Deutschen,  sowohl  im  allgemeinen  Sprachgebrach  wie 
damit  übereinstimmend  in   der  psychologischen  Forschung,    ebenso    wie 

10* 


—    148    — 

den  Ausdruck  Wahrnehmung  für  komplizierte  Wahrnehmungs-  und 
Erkennungsakte,  und  niemand  vermutet  überall  da  ein  besonderes  Sinnes- 
organ, wo  wir  von  einem  Sinn  sprachen.  So  spricht  man  in  der  Psy- 
chologie im  Deutseben  (und  ähnlich  im  Englischen  und  Französischen)  oft 
von  einem  Raum-  und  Zeitsinn  ohne  daß  es  einem  Psychologen  in  den 
Sinn  kommt,  auf  Grund  dessen  ein  einzelnes  bestimmtes  Sinnesorgan 
anzunehmen,  das  ausschließlich  für  die  Raum-  und  Zeitwahmehmimg  zu 
dienen  hätte.  Der  Ausdruck  „Sinn"  ist  in  allen  diesen  Fällen  eine  zu- 
sammenfassende Bezeichnung  für  einen  komplexen  Wahrnehmungsvor- 
gang, der  damit  noch  keinem  besonderen  Sinn  zugeschrieben  wird.  Der 
Ausdruck  „Fernsinn  der  Blinden**  bezeichnet  also  nichts  weiter  als  die 
zusammengesetzten  Vorgänge,  mit  denen  Blinde  Objekte  in  der  Feme 
wahrnehmen  und  jeder  Psychologe  weiß,  daß  damit  noch  keine  be- 
stimmte Empfindungsgrundlage  für  diesen  komplexen  Vorgang  angedeutet 
wird.  Man  würde  aber  besser  den  Ausdruck  „Fernwahrneh- 
mung** der  Blinden  gebrauchen,  um  den  Schein  zu  vermeiden,  daß 
man  bei  der  Bezeichnung  dieses  Vorganges  irgend  etwas  über  einen  beson- 
deren Sinn  sagen  will. 

Auf  alle  Fälle  ist  es  aber  noch  immer  besser  von  einem  „Femsinn*' 
der  Blinden  zu  reden,  als  von  einem  ,,Ferngeführ*,  ein  „Femgefühl" 
wäre  eine  Lust  oder  Unlust,  die  die  Ferne  wahrnimmt!  Alles  das  sind 
Ausführungen,  die  keinem  Psychologen  etwas  neues  sagen. 

Es  würde  ferner  die  Verständigung  des  Herrn  Kunz  mit  seinen 
Gegnern  sehr  erleichtern ,  wenn  Herr  Kunz  in  den  einschlägigen  psy- 
chologischen Fragen  überhaupt  etwas  besser  bewandert  wäre.  Fort- 
gesetzt stößt  man  bei  ihm  auf  Vermutungen  und  Hypothesen  über  Fragen, 
über  welche  längst  bestimmte  psychologische  Untersuchungen  vorliegen 
und  deren  Beantwortung  Herr  Kunz  in  jeder  größeren  experimentellen 
Psychologie  finden  könnte.  So  spricht  Herr  Kunz  z.  B.  auf  S.  127  der 
obigen  Abhandlung  über  die  „Persistenz**  von  Eindrücken  verschiedener 
Sinne  und  stellt  darüber  Vermutungen  auf,  während  er  sich  in  jedem 
Handbuch,  das  die  Ergebnisse  der  experimentellen  Psychologie  berück- 
sichtigt, darüber  bestimmte  Zahlenangaben  verschaffen  konnte  (z.  B.  bei 
Külpe  und  Wundt).  Ferner  sind  die  S.  123  unter  Nr.  1  und  2  auf- 
geführten Erscheinungen  für  jeden  Psychologen  leicht  erklärlich,  der 
die  Psychologie  der  Veränderungsauffassung  kennt.  (Vgl.  z.  B.  die  Ver- 
suche von  Stratton,  und  dazu  Wundt,  Physiolog.  Psycho!.,  Bd.  1,  S.  537 
u.  öfter;  5.  Anfl.).  Nach  den  bekannten  Gesetzen  der  Veränderungs- 
empfindlichkeit muß  die  schneller  angenäherte  Platte  eine  rascher  an- 
steigende Empfindung  der  Veränderung  bewirken,  die  nach  Strattons 
Versuchen  leichter  bemerkt  wird  als  die  langsam  ansteigende.     Dazu 


—     149    — 

bedarf  es  also  niclit  gewagter  Hypothesen  über  bis  jetzt  noch  unbe- 
kannte „Wellen^'. 

Um  so  merkwürdiger  muten  die  Belehrungen  an,  die  Herr  Kunz 
Herrn  Dr.  Krogius  über  Wärme-  und  Kälteempfindung  erteilt,  das  sind 
Dinge,  die  sich  Herr  Dr.  Krogius  an  den  Kinderschuhen  abgelaufen  hat 
und  die  jeder  Student  im  ersten  Kolleg  über  Psychologie  erfährt.  Wohl 
aber  ist  es  kein  gutes  Zeugnis  von  den  physikalischen  Kenntnissen  des 
Herrn  Direktors  Kunz,  wenn  er  in  Anführungszeichen  von  „Kälte- 
strahlen" spricht,  und  die  polemische  Bemerkung  des  Herrn  Dr.  Krogius 
gegen  diesen  Punkt  war  vollständig  berechtigt. 

Ich  hofi'e,  daß  Herr  Kunz  sich  durch  diese  Bemerkungen  veranlaßt 
sieht,  bei  den  einschlägigen  Fragen  nicht  Hypothesen  aufzustellen,  ehe 
er  sich  über  den  Stand  unsrer  psychologischen  Kenntnisse  orientiert 
hat;  wie  weit  ähnliche  Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Schalllokali- 
sation  am  Platze  sind,  darauf  komme  ich  vielleicht  zurück,  wenn  die 
Gegner  der  Auffassung  des  Herrn  Kunz  noch  einmal  gesprochen  haben. 


Zeichnen,  Sprechen,  Rechnen. 

Von  F.  Graberg- Zürich. 

Neben  der  Werkstattlehre  sind  Zeichnen,  Sprechen  und  Rechnen 
die  wichtigsten  Übungen  des  gewerblichen  Berufsunterrichtes.  Sie  sollen 
den  Handwerker  zu  zielbewußter  Teilnahme  am  geschäftlichen  Verkehre 
befähigen.  Zeichenübungen  gewöhnen  nämlich  den  Arbeiter  an  über- 
sichtliches Auffassen  und  Darstellen  von  Körperformen  zur  raschen  Ver- 
ständigung mit  den  Mitarbeitern  über  die  zweckmäßige  Regelung  der 
technischen  Verfahren.  Sprech-  und  Aufsatzübungen  setzen  den  Hand- 
werker instand,  sich  im  mündlichen  und  schriftlichen  Geschäftsverkehr 
verständlich  und  genau  auszudrücken.  Das  Rechnen  und  die  Buchhaltung 
machen  denselben  vertraut  mit  dem  Werte  der  Raumgrößen,  der  Zeit- 
maße und  Gewichte  und  halten  ihn  an  zum  raschen  und  sichern  Vollzug 
der  Rechenverfahren,    welche  die  Verhältnisse   der  Zahlwerte  ermitteln. 

Zeichen-,  Sprach-  und  Rechenunterricht  leiten  aus  Erlebnissen  der 
mechanisch-technischen  Arbeit  die  Sachbegriffe  und  Tätigkeits- 
formen ab,  welche  man  zeichnend  durch  Flächenumrisse  darstellt, 
sprechend  und  schreibend  in  Sätzen  aufeinander  bezieht,  rechnend  nach 
Zahlen  wertet  und  nach  Ziffernfolgen  aneinanderreiht.  Dabei  dienen  die 
Flächenumrisse,  Worte  und  Ziffern  als  Sinnbilder  von  Tast-  und 
Sprechbewegungen,  welche  die  Erinnerungen  an  äußere  Wahrnehmungen 


-     150    — 

zusammenfassen,  die  Einbildungen  von  Verrichtungen  regeln.  Auf  dem 
genauen  Verständnis  und  der  zweckmäßigen  Verwendung  dieser  Sinn- 
bilder beruht  die  klare  Auffassung  der  Sach Verhältnisse  und  der  geistige 
Verkehr.  Dazu  müssen  die  Organtätigkeiten  der  Sinne  und  Muskeln 
mit  Erinnerungen  und  Einbildungen  zusammenwirken.  Prüfen  wir  dieses 
Zusammenwirken  beim  Zeichnen,  Sprechen  und  Rechnen. 

I.    Zeichnen. 

1.  Tastbewegungen.  Begrenzte  Strecken  und  unbegrenzte  Strahlen, 
mit  dem  Stift  längs  gerade  gehobelten  Linealkanten  gezogen,  sind  Sinn- 
bilder von  Reihen  benachbarter  Punkte  des  Zeichenfeldes,  welche  in 
gleicher  Richtung  nebeneinanderliegen  und  gelten  deshalb  als  Sinn- 
bilder von  Richtungen.  Augenmaß  und  Erinnerung  erfassen  die  Länge 
der  Strecken  nach  Vergleichung  mit  vorgezeichneten  Strecken.  Die  Ein- 
bildung bestimmt  die  Richtung  eines  Strahles  von  gegebenem  Ansatz- 
punkte aus  nach  Erinnerung  kinästhetischer  Empfindungen'),  welche  bei 
Tastbewegungen  nach  gleicher  Richtung  erlebt  werden.  Der  Strahl 
dient  der  Einbildung  als  Sinnbild  des  Gleitens  eines  Punktes  in  der 
angedeuteten  Richtung.  Soll  eine  Strecke  zwischen  zwei  vorgezeichneten 
Punkten  ohne  Führung  des  Lineales  gezogen  werden,  so  muß  man  jede 
Abweichung  von  der  nach  Erinnerung  des  Zielpunktes  eingebildeten 
Richtung  vermeiden,  indem  man  störende  Triebregungen  des  Handmuskels 
hemmt.  Ebenso  dient  der  Kreisumriß  als  Maßzeichen  der  Drehung 
wirklich  erst,  wenn  es  gelingt,  denselben  von  freier  Hand  zu  ziehen. 
Dazu  müssen  Augenmaß  und  Erinnerung  die  gleichen  wagerechten  und 
senkrechten  Abstände  der  4  Scheitelpunkte  vom  Mittelpunkt  feststellen, 
Einbildung  und  Handführung  das  Gleichmaß  der  Verschiebungen  des 
Stiftes  nach  den  Zugrichtungen  (Tangenten)  und  der  Drehungen  dieser 
Zugrichtungen  regeln. 

2.  Flächenumrisse.  Der  Streckenumriß  wird  durch  Ein- 
stellpunkte gegliedert.  Beim  Zeichnen  wechseln  Einstellen  des  Blickes 
zum  Merken  der  Punkte,  Einbilden  der  einzuhaltenden  Streckenrichtungen 
und  Handführung  mit  dem  Auffassen  der  Längen  und  Flächenweiten  zum 
Prüfen  derselben  nach  der  Erinnerung  und  dem  Tastmaß  ab.  Die  Ge- 
samtform solchen  Umrisses  wird  vollständig  aufgefaßt  und  kann  genau 
dargestellt  werden,  wenn  die  Prüfungen  durch  Augenmaß,  Erinnerung 
und  Tastmaß  die  Ergebnisse  der  Einbildung  und  Handführung  bestätigen. 
Beim  Zeichnen  von  Bogenumrissen  (Schleifen,  Ovale)  bezeugt  zunächst 
die  Rückkehr  zum  Ausgangspunkt  oder  der  Ausgangsrichtung  das  über- 
einstimmende  Zusammenwirken   der  Einbildung   und   Handführung    mit 

1)  Ebbinghaus,  Systemat.  Philosophie,  S.  197,  LeipEJg  1908,  B.  0.  Teubner. 


—    151    — 

dem  Augenmaß  und  der  Erinnerung.  Im  weiteren  bedingen  die  Form 
solcher  Bogenumrisse  die  Maßverhältnisse  der  Hauptrichtungen  und 
-krümmungen  für  Einbildung  und  Handführung,  der  Längen-  und  Flächen- 
weiten für  Augenmaß  und  Erinnerung.  Dabei  soll  die  Einbildung  den 
Wechsel  der  Richtungen  mit  genauer  Einfühlung  der  wechselnden  Müskel- 
spannungen  vergegenwärtigen,  wie  die  Erinnerung  die  gegenseitige  Ab- 
hängigkeit aller  Maßverhältnisse.  Dann  erfassen  Verständnis  und  Takt- 
gefühl zusammen  die  Form  des  Bogenumrisses  und  dient  dieselbe  als 
Maßzeichen  dem  geistigen  Verkehre.  Tastend  wird  das  Einhalten 
der  Maßverhältnisse  mittelst  Berührstrahlen ,  Kreisbogen  und  Strecken 
geprüft,  welche  nach  geregelter  Reihenfolge  an  die  Bogen-  und  Haupt- 
richtungen gelegt  werden.  Das  übereinstimmende  Zusammenwirken  von 
Einbildung  und  Handführung  mit  dem  Augenmaß  und  der  Erinnerung 
zur  vollständigen  Auffassung  und  richtigen  Darstellung  bestätigt  wiederum 
die  Prüfung  durch  Vergleichung  mit  dem  Vorbild  und  mittelst  der  Meß- 
werkzeuge. 

3.  Körperumrisse.  Zuverlässige  Gresamtansichten  von  Bauteilen 
und  mechanischen  Vorrichtungen  verschafft  sich  der  Techniker  nur,  wenn 
er  fähig  ist,  deren  Auf-  und  Grundrisse  nach  dem  Augenmaß  von 
freier  Hand  nach  den  geforderten  Maß  Verhältnissen  zu  entwerfen.  Dazu 
muß  er  sich  einbilden,  daß  die  Zeichenebenen  dieser  Umrisse  in  ihre 
rechtwinklige  Lage  zusammengestellt  werden  und  nach  dieser  Anordnung 
mittelst  der  Richtebenen  (Kreuz-,  Wag-  und  Stirnebenen)  aus  den  Rissen 
die  Lage  und  Gestalt  der  Grenflächen  der  Werkstücke,  den  Bau  des 
Gesamtwerkes  und  die  Bewegungen  der  einzelnen  Glieder  ableiten.  Beim 
Gestalten  und  Zeichnen  müssen  die  Schätzungen  des  Augenmaßes  nach 
Erinnerung  der  Maßverhältnisse  stattfinden,  die  Bewegungen  und  die 
Reihenfolge  der  Verrichtungen  nach  Einbildung  der  Richtungen  und 
Fahrzeiten  geregelt  werden. 

4.  Erinnerung  und  Einbildung.  So  gehen  aus  dem  überein- 
stimmenden Zusammenwirken  der  Einbildung  und  Handführung  mit  dem 
Augenmaß  und  der  Erinnerung  die  Sinnbilder  räumlicher  Vorstellungen 
hervor.  Als  „gleichartige  Zeichen  in  regelmäßiger  Verknüpfung"^)  dienen 
sie  zur  Verständigung  über  die  mannigfaltigen  Erscheinungen  der  Natur 
und  die  Gestalten  der  Werktätigkeit.  Wohl  liegen  den  Regungen  der 
Einbildung  „funktionelle  Dispositionen"  ^)  der  Nervenzellen  zugrunde, 
wie  auch  die  Erinnerungen  aus  der  Verknüpfung  (Assoziation)  simultaner 
nnd   verwandter  Empfindungsinhalte    erwachsen.      Aber   man   kann   sich 


1)  Ebbinghaus,  a.  a.  0.,  S.  220. 

2)  Offner,  Gedächtnis,  S.  17,  Berlin  1909,  Reuther  &  Reichard. 


—    152    — 

die  Zeichenvorgänge  rascher  vergegenwärtigen,  wenn  man  sich  beim 
Beobachten  und  Prüfen  der  Zeichen tätigkeit  der  Namen  von  Wirkungen 
erinnert,  die  man  sich  analog  dem  äußeren  Bilden  vorstellen  kann,  als 
wenn  man  die  Namen  vermuteter  innerer  Zustände  einführt. 

Die  Einbildungen  sind  überdies  nicht  nur  Nachwirkungen  von  äußern 
Reizen  und  von  Erinnerungen.  Sie  gehen,  gleich  den  Tastbewegungen, 
aus  ursprünglichen  Triebregungen  hervor*).  Darum  können  sie  den 
feinsten  Veränderungen  der  Tastbewegungen  folgen  und  solche  bestinmien. 
Zeichner  und  Kupferstecher  treffen  die  naturgetreuen  und  scharfen  Um- 
risse der  Bergketten,  des  Baumschlages,  der  Gesichtszüge  nur  dann  mit 
freien  und  sichern  Strichen,  wenn  sie  sich  die  Wechselwirkung  der 
Wahrnehmungsinhalte  von  Umrissen  mit  den  kinäs  thetisch  en 
Empfindungen  einbilden  können,  welche  die  Tastbewegungen  aus 
eigenem  Triebe  begleiten.  Bekanntlich  folgen  die  Kinder  bei  spielenden 
Bild-  und  Zeichenversuchen  viel  mehr  ihren  Einbildungen  als  ihren  lücken- 
haften sachlichen  Erinnerungen,  weil  die  Einbildungen  sich  nach  den 
ursprünglichen  Trieben  und  Gewöhnungen  richten.  Auch  die  Kinder 
müssen  die  Wechselwirkung  zwischen  den  sichtbaren  Spuren  ihrer  trieb- 
artigen Tastbewegungen  und  den  kinäs  thetischen  Empfindungen  erleben, 
bevor  sie  fähig  sind,  solche  Tastbewegungen  ihren  Erinnerungen  an 
wahrgenommene  Umrisse  anzupassen.  Stets  hat  der  Werk-  und  Zeichen- 
unterricht nicht  nur  gegen  lückenhafte  Erinnerungen,  sondern  auch 
gegen  voreilige  Einbildungen  zu  kämpfen,  weil  die  Schüler  nach  rascher 
Ausführung  ihrer  Verrichtungen  drängen.  Neben  dem  Gefühl  des  Be- 
kanntseins mit  dem  Inhalt  der  Wahrnehmungen,  der  Verschmelzung 
neuer  Wahrnehmungen  mit  Erinnerungen  bestimmt  das  Interesse,  die 
innere  Stellungnahme  zu  einer  Zeichenaufgabe  das  Gefühl  des  Zustande- 
bringens  in  einer  dem  natürlichen  Takt  angemessenen  Zeit,  der  Kraft- 
ersparnis, welche  sich  an  den  steten  Verlauf  der  Vorstellungen  und 
Verrichtungen  knüpft. 

5.  Taktgefühl.  Gliedert  man  nämlich  einen  Streckenzug  durch 
Einstellpunkte  in  Teilstrecken,  so  merkt  man  nicht  nur  auf  die  Länge 
der  Teilstrecken,  sondern  auch  auf  die  Gliederung  der  Fahrzeit  in  eine 
Eolge  von  Einstellungen  und  Zügen.  Die  Wirkung  dieses  Wechsels  von 
Triebregungen  auf  die  Betätigung  des  Nervensystemes  wird  man  durch 
das  Taktgefühl  inne*),    wie  die  Wirkung  des  Wechsels  von  Tönen  und 

1)  Bewegung  geht  sinnlicher  Wahrnehmung  voraus  und  tritt  anfangs  von  äußeren 
Reizungen  unabhängig  auf.  Sie  ist  inniger  und  untrennbarer  mit  unserer  Natur  ver- 
bunden als  sinnliche  Wahrnehmung.  Höffding,  Psychologie  in  Umrissen.  Deutsch  v.  Ben- 
dixen,  S.  427,  Leipzig  1892,  R.  Reisland. 

2)  Zeitschrift  f.  exp.  Päd.,  VII,  S.  73. 


—    153    — 

Schritten.  Überhaupt  wird  man  die  Wechselwirkung  der  Wahrneh- 
mungsinhalte von  Strecken,  Flächen  und  Körpern  mit  den  Bewe- 
gungsformen nach  Richtungen  und  Ebenen,  Bogen  und  Rundflächen 
durch  das  Taktgefühl  inne,  wenn  Inhalts-  und  Formelemente  reihen- 
weise gleichzeitig  sich  wiederholen  oder  wechseln,  wie  es  bei  den 
zirkulären  Wiederholungen  von  Bewegungen  oder  Lauten  der  Kinder 
geschieht.  Solche  Taktreihen  steigern  indessen  die  Geisteskraft  nur  in 
dem  Grade,  wie  sie  zugleich  die  Wechselwirkung  zwischen  sachlichen 
Erinnerungen  und  persönlichen  Einbildungen  regeln. 

6.  Richtlinien  und  Richtflächen.  Das  spielende  Kind  freut 
sich  nur  der  Striche  oder  Töne,  die  es  hervorbringen  kann  und  diese 
Lust  treibt  zur  Erneuerung  der  Versuche,  die  sich  gleichförmig  wieder- 
holen und  zur  Gewohnheit  werden.  Wenn  das  Kind  aber  die  Begierde 
nach  einer  Frucht  stillen  oder  einen  Stuhl  verschieben  will,  dann  haben 
seine  Versuche  einen  Zweck  und  nach  der  größeren  oder  geringeren 
Anstrengung ,  mit  der  seine  Versuche  diesen  Zweck  erfüllen ,  haben  die 
Versuchsbewegungen  für  das  Kind  geringeren  oder  größeren  Wert. 
Dann  fordern  die  mißlungenen  Versuche  nicht  nur  zu  erneuter  Anstren- 
gung, sondern  auch  zur  Abänderung  der  Bewegungen  auf  und  führen 
dadurch  möglicherweise  zur  zweckmäßigeren  Ausführung  derselben,  zum 
genaueren  Anpassen  der  Bewegungen  und  der  Einbildungen  an  die  sach- 
lichen Bedingungen  und  Erinnerungen. 

Auch  der  Zeichner,  der  es  nur  darauf  anlegt,  ein  gegebenes  Vorbild 
getreu  nachzuahmen,  vervollständigt  zwar  seine  Erinnerungen  und  erlangt 
formale  Zeichenfertigkeit,  aber  dadurch  allein  wird  er  noch  nicht  fähig, 
Zeichenaufgaben  nach  gestellten  Bedingungen  zu  lösen.  Denn  er  gewöhnt 
sich  beim  Nachzeichnen  nur  die  Punkte  als  Grenzpunkte  gemessener 
Längen,  nicht  dieselben  als  Zielpunkte  angedeuteter  Richtungen  von  dem 
sichtbaren  Zusammenhang  mit  seinen  Nachbar  punkten  zu  sondern  (abstra- 
hieren). Ebenso  lernt  er  Strecken  und  Bogen  nur  als  Grenzumrisse  von 
Flächen  auffassen,  nicht  aber  als  von  der  Zeichenfläche  gesonderten  Ort 
für  die  Kreuzung  von  Richtungsparen,  welche  vorgeschriebene  Bedin- 
gungen erfüllen ;  wie  z.  B.  auf  der  winkelhälftenden  Richtlinie  alle  Pa- 
rallelen zu  den  Schenkeln  sich  kreuzen,  welche  von  diesen  gleich  weit 
abstehen.  Durch  das  Zeichnen  nach  Modellen  lernt  man  wohl  deren 
Grenzflächen  im  Zusammenhang  mit  der  Körpermasse  aufi*assen,  nicht 
aber  als  gesonderte  Ebenen  oder  Rundflächen,  welche  durch  Verschiebung 
von  Strahlen  längs  gegebener  Richtung  oder  durch  Drehung  von  solchen 
um  feste  Punkte  erzeugt  werden.  Diese  von  dem  Zusammenhang  mit 
den  sichtbaren  Strecken,  Flächen  und  Körpern  gesonderten  Zielpunkte, 
Richtlinien  und  Rieht  flächen  sind  die  maßgebenden  Raumelemente, 


—    154    - 

welcher  sich  die  Einbildung  beim  übersichtlichen  Anordnen  und  Gestalten 
von  Flach-  und  Körperformen  bedient.  Man  erwirbt  sich  deren  Kenntnis 
nicht  durch  Zeichnen  nach  Augenmaß  und  Handführung  allein,  sondern 
dazu  ist  die  genaue  Feststellung  von  Richtungen,  Bogen  und  Körper- 
umrissen und  die  Prüfung  der  Maßverhältnisse  mit  Tastwerk- 
zeugen unentbehrlich,  weil  solche  Feststellung  und  Prüfung  den  zuver- 
lässigen Zeichenverkehr  zwischen  den  Zusammenwirkenden  an  größeren 
Werken  gestattet,  während  die  Schätzungen  des  Augenmaßes  und  die 
Erzeugnisse  der  Handführung  stets  von  dem  Grade  persönlicher  Begabung 
und  momentaner  Aufmerksamkeit  abhängen,  darum  nicht  allgemeine 
Geltung  erlangen.  Wohl  verwendet  das  frei  nachbildende  Zeichnen  ein- 
zelne Merkpunkte,  Hauptaxen  und  Hauptumrisse  zur  Anordnung  der 
Formen  im  Zeichenfelde.  Sein  Ziel  bleibt  aber  die  anschauliche 
Wiedergabe  der  wirklichen  Erscheinungen,  während  die  Aufgabe  des 
messenden  Werkzeichnens  in  dem  regelmäßigen  Gestalten  von 
Werkstücken  besteht,   die  weiteren   technischen  Zwecken  dienen  sollen. 

7.  Zeichenverkehr.  Bei  diesem  regelmäßigen  Gestalten  dienen 
die  Grenzpunkte,  Grenzlinien  und  -flächen  als  Merkzeichen  der  Vorstellungs- 
inhalte, die  Richtzeiehen  zum  Regeln  von  Einbildungen  und  Verrichtungen. 
Die  zweckmäßige  Verwendung  der  Merk-  und  Richtzeichen  leitet  der 
Lehrer  durch  den  Zeichenverkehr  mit  dem  Schüler  ein,  indem  er,  das 
sachliche  Vorbild  mit  seiner  Vorzeichnung  vergleichend ,  auf  die  maß- 
gebenden Merkzeichen  hinweist,  die  Reihenfolge  der  Verrichtungen  an 
Hand  der  Richtzeichen  erklärt  und  die  Zeichnung  des  Schülers  mit 
diesem  nachmessend  prüft. 

Der  Geolog,  Prof.  A.  Heim,  schon  früh  ein  gewandter  Panoramen- 
zeichner, erzählt,  er  habe  als  Knabe  auf  den  Karten  mit  dem  Finger 
die  Küsten  der  Kontinente  verfolgt.  Solange  man  eine  Zeichnung  nur 
anschaut,  prägt  sich  nur  die  Flächenausdehnung  der  Erinnerung  ein. 
Wenn  man  aber  mit  dem  tastenden  Finger  den  Umrissen  nachfährt,  dann 
löst  sich  von  der  Flächenanschauung,  nicht  die  Erinnerung  der  Blick- 
bewegung, sondern  die  Einbildung  von  den  Richtungen  der 
Linienzüge  ab.  Damit  also  der  Schüler  sich  die  Umrisse  des  Vor- 
bildes und  der  Vorzeichnung  wirklich  einbilde,  muß  der  Lehrer  dieselben 
mit  Zeigebewegungen  verfolgen  und  vom  Schüler  verfolgen 
lassen.  Die  Worte  dienen  dann  nur  dazu,  die  Einbildungen  durch 
Klangbilder,  die  Namen  der  Linien,  zu  gliedern  und  zeitlich  zu  regeln. 
Durch  regelmäßige  Zeigebewegungen  regt  (suggeriert)  also  der  Lehrer 
den  Schüler  zu  solchen  Einbildungen  an.  Durch  passende  Benennungen 
werden  die  Inhalte  der  Sehwahrnehmungen  befestigt.  Wer  aber  un- 
nütze Fragen  stellt,   der  stört  die  Entwicklung  der  visuell-motorischen 


—    155    — 

Einbildungen  durch  akustisch  -  motorische.  Nur  solche  Begleitworte 
fördern  die  Einbildung  von  Bewegungsrichtungen,  deren  Bedeutung  mit 
den  Sehwahrnehmungen  verknüpft  ist. 

8.  Die  Vorzeichnung  ist  eine  sichtbare  Spur  der  Zeigebewe^ 
gungen  und  soll  dem  Schüler  schrittweise  die  Anordnung  der  Merk- 
punkte und  Richtlinien  im  Zeichenfeld  veranschaulichen,  damit  er  beob- 
achten lernt  in  welcher  Reihenfolge  die  maßgebenden  Grrundlinien 
anzuordnen,  die  Ansatz-  und  Zielpunkte  der  Richtungen  zu  merken,  die 
Richtstrahlen  und  Richtebenen  einzubilden  und  zu  verwenden  sind,  um 
die  Zeichenform  auf  dem  kürzestenWege  genau  herzustellen.  Die 
Vorzeichnung  regelmäßiger  Streckenumrisse  weist  die  winkelhälftenden 
Richtlinien  an,  welche  die  Grrenzpunkte  der  ähnlichen  Umrisse  mit  pa- 
rallelen Seiten  enthalten,  weil  die  Angabe  einer  solchen  Seite  genügt, 
um  auch  die  Lage  der  übrigen  nach  dem  Augenmaße  zu  schätzen  und 
die  geforderten  Strecken  mittelst  Winkel  Verschiebung  zu  zeichnen.  Nach 
der  Vorzeichnung  konzentrischer  Umrisse  soll  sich  der  Schüler  den 
Mittelpunkt  merken,  in  dem  sich  die  Durchmesser  kreuzen,  weil  dieser 
Punkt  die  Prüfung  der  in  den  Durchmessern  liegenden  Grenzpunkte 
der  Umrisse  gestattet,  deren  Lage  auf  anderem  Wege  bestimmt  ist.  Ein 
Bogenumriß  wird  vorgezeichnet  durch  die  Richtungen  der  größten  und 
kleinsten  Ausdehnung,  die  Tangenten  zu  den  Grrenzpunkten  derselben 
und  Zwischentangenten.  Solche  Tangenten  leiten  das  Augenmaß,  das 
Tastmaß  der  Handführung  und  die  Einbildung  der  Bogenteile  sicherer 
als  Grenzpunkte.  Denn  die  Strecken  zwischen  den  Berühr-  und  Scheitel- 
punkten der  Tangenten winkel  lassen  die  Abweichungen  der  Bogen  von 
den  Tangentenrichtungen  schätzen  und  die  längeren  Bogenstücke  ge- 
statten genauere  Vergleichung  und  Prüfung  der  Krümmungen  als  die 
Verbindung  benachbarter  Grenzpunkte.  Der  stehende  prismatische  Voll- 
körper wird  durch  seinen  Grundriß  vorgezeichnet  mit  den  Wagebenen, 
welche  seine  senkrechte  Höhe  begrenzen.  Durch  den  Umriß  einer  Stirn- 
ebene sind  die  Umrisse  aller  Lotebenen  vorgezeichnet,  welche  sich  um 
eine  senkrechte  Axe  der  Stirnebene  drehen. 

9.  Lesen  der  Zeichnung.  Die  Vorzeichnungen  ergänzen  die 
wörtliche  Erklärung  der  Zeichenvorgänge,  indem  sie  die  Anordnung  der 
Richtungen,  die  Stellungen  der  Ansatz-  und  Zielpunkte,  die  Richtungs- 
wechsel der  Tangenten,  die  Stellungen  der  Kreuz-,  Wag-  und  Stirn- 
ebenen zu  den  Zeichenebenen  im  Zusammenhang  veranschaulichen 
und  dadurch  die  Aufmerksamkeit  des  Schülers  auf  die  Seh  Wahrnehmungen, 
die  Reihenfolge  der  Einstellungen  des  Blickes  und  die  Zugrichtungen 
beschränken,  die  Wechselwirkung  zwischen  visuellen  Erinnerungen  und 
motorischen  Einbildungen  in  stetigem  Fluß  erhalten. 


—    156    — 

Wenn  der  Lehrer  die  Erinnerung  des  Schülers  weder  an  wörtlich 
überlieferte  Zeichenregeln  noch  an  Maßzahlen  bindet,  die  dem  Zweck 
der  Darstellung  fern  liegen,  sondern  dessen  Aufmerksamkeit  auf  die 
maßgebenden  Merk  punkte,  Richtlinien  und  Richtebenen  hinweist,  so  lernt 
der  Schüler  die  Bedingungen  zur  Lösung  der  Zeichen-  oder  Gestaltungs- 
aufgaben in  den  vorgezeichneten  Raumelementen  erkennen,  An- 
lage und  schrittweise  Ausführung  einer  Zeichnung  prüfend  verfolgen, 
nicht  nur  das  Endergebnis  betrachten.  Er  lernt  die  Zeichnung  lesen 
und  dadurch  deren  Vorstellungsinhalt  im  ganzen  Umfang  erfassen,  die 
Art  der  Ausführung  nach  allen  Richtungen  würdigen. 

10.  Zerlegen  der  Sach-  und  Zeichenformen.  Das  Erkennen 
der  Zeichen-  und  Gestaltungsbedingungen  aus  den  vorgezeichneten  Raum- 
elementen fordert  die  Zerlegung  der  vorbildlichen  Sach-  und  der  Zeichen- 
formen, die  Unterscheidung  der  Merk-  und  Richtzeichen  von  den  Grenz - 
umrissen.  Die  Vorzeichnung  erleichtert  diese  Zerlegung,  wenn  sie  schwarze 
Sachumrisse  von  roten  Richtzeichen  unterscheidet  und  die  Merkpunkte 
nach  der  Reihenfolge  ihrer  Verwendung  beziffert. 

Wohl  stellt  die  Beobachtung  maßgebender  Merkpunkte  der  Zeichen- 
aufgabe strengere  Forderungen  an  die  Erinnerung  als  das  mechanische 
Bestimmen  von  Kreuzungen  nach  der  Regel.  Das  Einbilden  einer  zweck- 
mäßigen Folge  von  Verrichtungen  setzt  freieren  Überblick  über  die 
Zeichnung  voraus  als  das  Befolgen  einer  gebräuchlichen  Regel.  Aber 
das  Beobachten  der  Merkpunkte  in  der  Vorzeichnung,  das  Einhalten  der 
Richtlinien  nach  Vorschrift  derselben  setzen  Augenmaß  und  Handführung, 
Erinnerung  nnd  Einbildung  unmittelbarer  in  Wechselwirkung  als  die 
Erinnerung  an  Regeln,  die  in  Worten  überliefert  sind. 

Auch  die  Betrachtung  des  Körpers  ersetzt  die  Mitwirkung  des  Vor- 
zeichnens bei  der  Erklärung  nicht,  weil  dieses  die  Zerlegung  der  Körper- 
form in  ihre  Zeichenelemente  vermittelt.  Zu  diesen  gehören  näm- 
lich nebst  den  Umrissen  der  Grenzebenen  die  Maßzeichen  der  Merk- 
punkte und  Richtlinien,  welche  die  Körperform  und  die  Zeichenvorgänge 
gliedern.  Zur  Vergleichung  der  gezeichneten  Flächenumrisse  mit  ihrer 
Erscheinung  am  Körper  und  zum  Verständnis  des  körperlichen  Zusam- 
menhanges von  Kanten  und  Grenzflächen  muß  allerdings  das  Modell 
herangezogen  werden.  Dann  lenkt  man  aber  die  Aufmerksamkeit  des 
Schülers  auf  bestimmte  Ziele  und  überläßt  ihn  nicht  seiner  oberfläch- 
lichen Anschauungsweise. 

11.  Stufenfolge  der  Maßzeichen.  Doch  das  AofiPassen  und 
Einüben  der  Zeichenvorgänge  müssen  sich  stufenweise  steigern,  damit 
Augenmaß  und  Erinnerung  in  geregelter  Wechselwirkung  mit  der  Hand- 
führung und  Einbildung  sich  ausbilden.    Dazu  soll  die  Vorzeichnung  für 


—     157    — 

jeden  Zeichenvorgang  und  für  jede  Stufe  der  Ausführung  einer  Zeichen- 
form die  Anordnung  der  Merkpunkte  überblicken  lassen,  welche  die  Züge 
miteinander  verbinden,  während  Erklärung  und  Bezifferung  die  Reihen- 
folge der  Züge  andeuten. 

Dem  Anfänger  müssen  die  Verbindungslinien :  die  Umrisse  und  Richt- 
linien in  voller  Ausdehnung  vorgezeichnet  sein.  Er  soll  aber  lernen 
solche  Umrisse  und  Richtlinien  in  der  Einbildung  zu  ergänzen,  wenn 
deren  Richtungen  nur  durch  Grrenz-  oder  Kreuzstriche  angedeutet  sind. 
Er  soll  lernen  nach  vorgezeichneten  Umrissen  und  Richtlinien  Parallele 
oder  Rechtwinklige  ziehen  mittelst  Verschiebung  oder  Drehung  des 
Rechtwinkelmaßes,  nach  vorgezeichneten  Umrissen  und  Axen  symmetrische 
Umrisse  mittelst  der  Merkpunkte  auf  der  Axe  und  der  Parallelen  zu 
dieser  bestimmen.  Aus  vorgezeichneten  Grund-  und  Aufrissen  soll  er 
die  Kreuzrisse  und  Lotschnitte  ableiten  lernen  bei  recht-  oder  schief- 
winkliger Stellung  der  Schnittebene  zur  Wand. 

Mit  den  maßgebenden  Richtlinien  der  Flächenumrisse  sind  deren 
Maß  Verhältnisse  vorgezeichnet,  sie  dienen  dem  Augenmaß  und  der  Zeichen- 
erinnerung als  Maßzeichen  zur  zweckmäßigen  Gliederung  des  Zeichen- 
feldes, wie  die  Teilstriche  des  Maßstabes  zur  Teilung  der  Längen.  Mit 
den  Sachformen,  welche  die  Umrisse  andeuten,  steigert  sich  stufenweise 
der  Vorstellungsinhalt  der  Maßzeichen  und  vervielfältigen  sich  die  Maß- 
verhältnisse, die  aus  der  Verbindung  der  Merkpunkte  und  Richtlinien  er- 
wachsen. In  gleichem  Grade  sollte  sich  deshalb  auch  der  Überblick  über  die 
Maßzeichen  erweitern,  die  Einbildung  der  Verrichtungen  entwickeln.  Die 
Vorzeichnung,  welche  den  Zusammenhang  der  Umrisse  und  Richtzeichen 
vergegenwärtigt  und  die  wörtliche  Erklärung  der  Zeichenvorgänge  sind  die 
Mittel,  durch  welche  der  Lehrer  den  Überblick  des  Schülers  stufenweise 
erweitert,  dessen  Einbildungen  regelt  und  dessen  Taktgefühl  verfeinert. 

12.  Freies  und  messendes  Werk  zeichnen.  Nach  den  Maß- 
zeichen regelt  die  Einbildung  die  Handführung  und  die  Reihenfolge  der 
Verrichtungen  beim  frei  gestaltenden  wie  beim  messenden  Werkzeichnen. 
Denn  auch  die  Naturformen  dienen  den  Zwecken  des  gestaltenden  Zeichnens 
nur  in  dem  Grade,  wie  das  Augenmaß  und  die  Zeichenerinnerung  frei 
über  die  Maßverhältnisse  der  sichtbaren  Formen  verfügen.  Je  mehr  die 
Bautätigkeit  und  das  Kunstgewerbe  den  sachlich  begründeten  Zwecken: 
Materialeigenschaften,  Arbeitsverfahren  und  Verwendung  der  Erzeug- 
nisse ,  zu  genügen  suchen ,  umso  mehr  müssen  auch  Natur-  und  Zier- 
formen sich  diesen  Zwecken  anpassen.  Es  müssen  deshalb  ihre  Maß- 
verhältnisse bei  deren  Gestaltung  über  die  individuelle  Erscheinung  vor- 
herrschen. Nicht  die  Formähnlichkeit  mit  einzelnen  Blättern  und  Blüten 
entscheidet  über  deren  Verwendung,  sondern  die  typischen  Kennzeichen 


—    158    — 

der  Gattung  fügen  sich  den  baulichen  Zwecken  ein.  Zu  diesen  gehören 
auch  die  allgemeinen  Maßverhältnisse. 

13.  Vorzeichnen  und  Erklären.  Beim  freien  wie  beim  mes- 
senden Zeichnen  vermittelt  der  persönliche  Zeichenverkehr  die  genaue 
Anpassung  der  Zeichenvorgänge  an  die  Fassungskraft  und  das  Takt- 
gefühl des  einzelnen  Schülers  durch  individuelles  Vorzeichnen  und  wört- 
liches Erklären.  Dabei  tritt  das  Vorzeichnen  der  sichtbaren  Merk-  und 
Richtzeichen  in  Wechselwirkung  mit  dem  hörbaren  Aufzählen  der  Zeichen- 
vorgänge, ihrer  einzelnen  Bewegungen  und  zusammenhängenden  Ver- 
richtungen. Stetig  ist  solche  Wechselwirkung,  wenn  der  Schüler  auf 
die  Zeichen  merkt  und  die  Bewegungen  nach  der  in  Worten  angedeuteten 
Reihenfolge  vollzieht.  Dem  Anfänger  gelingt  das  nur  schrittweise, 
indem  er  seine  Wahrnehmungen  und  Erinnerungen  an  Merk-  und  Richt- 
zeichen selbst  aufzeichnet  und  einprägt,  die  Bewegungen  und  Verrich- 
tungen einübt  und  deren  Ergebnisse  nach  der  Vorzeichnung  prüft.  Dieser 
schrittweisen  Ausführung  der  Zeichenvorgänge  müssen  die  erklärenden 
Sätze  folgen,  damit  sie  sich  der  Fassungskraft  und  dem  Taktgefühl 
des  Schülers  anpassen.  Je  leichter  der  Schüler  die  gleichartigen  Merk- 
zeichen wiedererkennt,  je  sicherer  derselbe  die  Bewegungen  nach  eigenem 
Taktgefühl  ausführt,  die  Richtzeichen  einhält  und  verwendet,  umso  mehr 
darf  die  Erklärung  der  Zeichenvorgänge  neben  der  Vorzeichnung  zurück- 
treten, indem  der  Lehrer  dem  Augenmaß  und  der  Erinnerung  des  Schülers 
das  Auffassen  der  Maßzeichen,  dessen  Einbildung  und  Handführung  das 
Einhalten  der  Maßverhältnisse  überläßt.  Wenn  dann  an  die  Vorzeich- 
nung sich  beim  Schüler  zwanglos  Erinnerungen  an  eigene  Erlebnisse  aus 
seiner  Berufstätigkeit  knüpfen,  so  kann  der  Lehrer  mehr  und  mehr  die 
sachliche  Bedeutung  der  Maßzeichen  besprechen  und  begründen.  Damit 
hat  der  formal  vorbereitende  Unterricht  zum  Verständnis  und  zur  Dar- 
stellung der  Werkformen  sein  Ziel  erreicht.  Er  hat  als  Grundlage  des 
beruflichen  Zeichnens  gedient. 

Vermöge  geregelter  Wechselwirkung  zwischen  Augenmaß  und  Hand- 
führung, Erinnerung  äußerer  Anregungen  und  Einbildung  kraft  innerer 
Triebregungen  erwirbt  der  Zeichner  die  Kenntnis  der  Maßverhältnisse 
von  Gegenständen  und  die  Fähigkeit  solche  zielbewußt  zu  verwenden 
zur  Darstellung  des  Gesehenen,  zur  Verwirklichung  technischer 
Zwecke  und  zur  Verwertung  im  geistigen  Verkehre. 

II.    Sprechen. 

Die  Zeichnung  stellt  den  räumlichen  Zusammenhang  und  die  Maß- 
verhältnisse der  Richtungen  und  Flächenausdehnungen  übersichtlich  dar. 
Aber  die  Reihenfolge  der  Vorgänge  und  die  Zahlwerte  der  Maßverhält- 


—     159     — 

nisse  müssen  in  W  o  r  t  e  n  erklärt  und  in  Ziffern  beigeschrieben  werden. 
Die  Worte  der  Sprache  sind  hörbare  Sinnbilder  für  Merkmale  und  Vor- 
gänge, welche  man  teils  selbst  erlebt,  teils  durch  Überlieferung  erworben 
hat.  Die  sichtbaren  Umrisse  der  Zeichnung  stimmen  dem  Inhalte  nach 
mit  den  Sehwahrnehmungen  an  den  Gregenständen  überein.  Ebenso  geben 
die  Tastbewegungen  des  Stiftes  der  Form  nach  ähnliche  Zeigebewegungen 
an  den  Dingen  wieder.  Aber  hörbare  Worte  sind  mit  den  Wahrneh- 
mungen anderer  Sinne  nur  durch  gleichzeitige  Erinnerungen  verknüpft 
und  die  Sprechbewegungen  geben  andere  Bewegungen  nur  nach  gleicher 
Zeitfolge  wieder.  Sprechend  kann  man  deshalb  die  Beziehungen  zwischen 
Sachen  und  Tätigkeiten  nur  andeuten.  Dafür  werden  die  Einbildungen, 
welche  beim  Zeichnen  im  Wechsel  des  Beobachtens  und  Ziehens  schritt- 
weise von  den  Erinnerungen  der  sichtbaren  Umrisse  sich  ablösen,  beim 
Hören  und  Sprechen  der  Sachnahmen  und  Tätigkeitsworte  im  fließenden 
Zusammenhang  von  Ursachen  und  Wirkungen  geregelt. 

1.  Wortinhalt  und  Satzfor  m.  Solcher  Zusammenhang  genügt 
indessen  den  Forderungen  der  Wirklichkeit  nur,  wenn  die  Erinnerungs- 
inhalte der  Worte  sachgemäß  geordnet  sind,  die  Einbildungen  der  Satz- 
formen den  tatsächlichen  Vorgängen  gerecht  werden,  wenn  die  Sätze 
sagen,  was  tatsächlich  geschieht.  Darum  fordert  R.  Hildebrand ^) 
mit  Recht,  daß  der  Sprachunterricht  „mit  der  Sprache  zugleich  den 
Inhalt  der  Sprache,  deren  Lebensgehalt  voll  und  frisch  und  warm  er- 
fassen sollte".  Wenn  er  aber  glaubt,  daß  zum  Verständnis  des  Wortes 
„Berg^^  die  besondere  Betonung  und  eine  leichte  Handbewegung  nach 
oben  genügen,  so  sind  wir  der  Ansicht,  daß  dieses  Verständnis  weit 
besser  begründet  sei,  wenn  der  Schüler  die  Umrisse  von  angeschauten 
oder  erstiegenen  Bergen  gezeichnet  oder  modelliert  hat.  Ebensowenig 
wird  der  Lebensgehalt  von  Tätigkeitsworten ,  wie :  sägen ,  hobeln  voll 
und  frisch  erinnert,  wenn  man  blos  deren  Handbewegungen  andeutet. 
Sondern  dazu  ist  notwendig,  daß  der  Knabe  die  Wirkungen  solcher 
Tätigkeit  erfahre.  Handarbeit  und  Zeichnen  ergänzen  überhaupt  den 
sprachlichen  Unterricht  nicht  nur  in  der  Hinsicht,  daß  durch  ihre  Er- 
zeugnisse der  Vorstellungsinhalt  vervollständigt  wird,  den  die  Sinnbilder 
der  Sprache,  die  Worte,  andeuten,  sondern  auch  insofern  die  Tastbe- 
wegungen die  Bedeutung  der  formalen  Einbildungen  sichern  und  damit 
die  Beziehungen  zwischen  Sachbegriffen  und  Tätigkeitsformen,  zwischen 
Ursachen  und  Wirkungen  klarstellen,  welche  jeder  Satz  aussagt.  So 
sichern  auch  physikalische  und  chemische  Versuche  die  Einsicht  in  Ur- 
sachen und  Wirkungen  der  Naturerscheinungen  und  -Vorgänge. 


1)  Vom  deutschen  Sprachunterrichte,  10.  Aufl.,  Leipzig  1906,  J.  Klinkhardt, 


~     160    — 

2.  Wortform  und  Bedeutung.  Das  Bestreben,  den  sprach- 
lichen Ausdruck  mit  dem  wirklich  erlebten  Vorstellungsinhalt  in  Ein- 
klang zu  bringen ,  führt  femer  zu  genauer  Prüfung  der  überlieferten 
Wortformen  hinsichtlich  ihrer  Bildung  und  Bedeutung.  Dies  gilt  be- 
sonders bei  den  Fremdwörtern.  So  macht  Hildebrand  *)  darauf  auf- 
merksam, daß  das  Wort  „Zusammenhang"  viel  genauer  die  lebendige 
Entwickelung  der  Sprache  andeutet  als  das  altüberlieferte  „System". 
Denn  alle  Sprache,  nämlich  die  dem  einzelnen  innewohnende,  ist  im 
Grunde  schon  ein  Zusammenhang  von  in  lebendiger  Selbsttätigkeit  er- 
worbenen Worten  und  Sätzen,  ein  wunderbar  verflochtenes  und  doch 
geordnetes  Gewebe ,  wenn  auch  nur  dunkel  gefühlt  und  voller  Stellen, 
die  der  Ergänzung  und  Berichtigung  bedürfen.  Auf  die  Fremdsprachen 
näher  einzutreten,  gestattet  der  Zweck  dieser  Arbeit  nicht. 

3.  Einbildung  ein  Erlebnis  inneren  Bildens.  Eben- 
sowenig hält  der  Name  „Phantasie"  vor  der  genaueren  sachlichen  Prü- 
fung stand.  Von  (paivetv,  ans  Licht  bringen  abgeleitet,  weist  der  Name 
auf  das  äußerlich  erscheinende  hin,  gegenüber  dem  in  abgeleiteten  Sinn- 
bildern Erdachten.  Mit  dem  Namen  „Einbildung"  verbinden  wir  aber, 
wie  das  Vorausgegangene  zeigt,  die  Vorstellung  der  persönlichen  Selbst- 
tätigkeit die  sich  in  Bewegungen,  in  geregelten  Verrichtungen,  in  freiem 
Schaifen  nach  eigenem  Taktgefühl  kundgibt,  aus  den  ursprünglichen 
Triebregungen  in  der  Lebensgemeinschaft  der  Nervenzellen  stammt  und 
den  individuellen  Charakter  bestimmt.  Wer  freilich  diese  Bewegungen 
nur  als  Gegenwirkungen  gegen  die  Eindrücke  der  Außenwelt  auffaßt*), 
denkt  weniger  an  die  ursprünglichen  Triebregungen  des  Seelenlebens. 
Für  den  beruht  die  Phantasie  nur  auf  den  „Ausdeutungen  und  Umge- 
staltungen der  Erinnerungsbilder  durch  hineinassoziierte  und  neben  ihnen 
bestehende  Vorstellungen  und  kann  nicht  als  neue  von  den  andern  ab- 
zulösende Grundfunktion  der  Seele  gelten,  sondern  als  ein  Resultat  der- 
selben elementaren  Betätigungen,  die  ihr  insgemein  entgegengesetzte  Er- 
innerungen liefern".  So  schreibt  der  Forscher,  für  den  Erinnerungen 
und  Erkenntnisse  den  größten  Wert  besitzen.  Für  den  Lehrer  aber, 
der  die  Schüler  zu  freier  Selbsttätigkeit  erzieht ,  die  ursprünglich  zu- 
fälligen Triebregungen  der  Jugend  in  geregelte  Verrichtungen  über- 
führen und  doch  die  persönlichen  Taktgefühle  wahren  soll,  für  diesen 
sind  Einbildungen  als  Erlebnisse  inneren  Bildens  ein  wichtiger 
Faktor  des  Seelenlebens.  Sie  erwachen  mit  dem  Spieltrieb  in  frühester 
Jugend,  wirken  mit  und  gegen  die  Erinnerungen  fort  und  erlangen,  von 


1)  A.  a.  0.  S.  17. 

2)  Ebbingbaus  a.  a.  0.  S.  211  u.  f. 


—     161     — 

diesen  gemäßigt ,    als  zielbewußte  Tätigkeit  im  geistigen  Verkehr   einen 
bestimmten  Wert. 

4.  Selbst  finden.  Von  Erlebnissen  inneren  Bildens  redet  auch 
der  erfahrene  Sprachlehrer  Hildebrand,  wenn  er  fordert,  daß  „der  Lehrer 
des  Deutschen  nichts  lehren  sollte,  was  die  Schüler  selbst  aus  sich  finden 
können  ^y.  Dieses  Selbstfinden  ist  von  höchster  Wichtigkeit,  weil  da- 
durch der  Unterricht  dem  Leben  vorarbeitet,  indem  er  die  Schüler  an 
eigenen  Spracherlebnissen  die  logischen  Beziehungen  prüfen  lehrt.  Die 
Freude  am  Selbstfinden  regt  in  dem  Schüler  den  Trieb  zum  Selbst- 
beobachten seiner  Umgebung  und  zur  Selbsttätigkeit  an.  Denn  das 
Selbsterkannte  und  durch  eigene  Prüfung  bestätigte  weiß  er  besser  nach 
seinem  Werte  zu  schätzen  als  das  in  Zeichen  oder  Worten  überlieferte 
Wissen ,  das  mit  seinen  ursprünglichen  Erinnerungen  und  Einbildungen 
nur  äußerlich  durch  Licht-  oder  Klangbilder  zusammenhängt.  Solche 
Selbstbeobachtung  und  Selbstprüfung  muß  indessen  an  sachlichen  und 
sprachlichen  Erlebnissen  übereinstimmend  geübt  werden,  damit  die  Be- 
deutung der  sichtbaren  Zeichen  räumlicher  Dinge  und  von  hörbaren  Be- 
nennungen der  Vorgänge  sich  in  zeitgemäßer  Folge  verknüpfen. 

5.  Schriftzeichen  stellen  die  Sachnamen  und  Tätigkeitsworte 
der  Rede  nach  zeitgemäßer  Reihenfolge  übersichtlich  dar.  Gleich  den 
Umrissen  der  Zeichnung  und  den  Worten  der  Rede  sind  die  Schrift- 
zeichen gleichartige  Sinnbilder  in  regelmäßiger  Verknüpfung  und  dienen 
deshalb  dem  geistigen  Verkehr  als  Sammelstelle  der  sachlichen  Erin- 
nerungen und  der  motorischen  Einbildungen.  Faulmann  bietet  in 
seiner  illustrierten  Geschichte  der  Schrift  ^)  einen  reichen  Überblick  über 
die  Schriftsysteme  der  Völker :  Aus  diesem  ersieht  man,  wie  im  Norden 
Europas,  wo  nur  Holzstäbe  zum  einschneiden  von  Rissen  nach  verschie- 
denen Richtungen  dienten ,  sich  auch  die  Schriftzeichen  mit  den  ein- 
fachsten Elementen  der  Rede,  den  Lauten,  verknüpften,  während  in 
Egypten  an  Felswänden  und  Tempelbauten  eine  farbenreiche  Bilderschrift 
sich  entfalten  konnte.  Auch  diese  flächenhafte  Bilderschrift  verdichtet 
sich  durch  den  Gebrauch,  zu  linearen  Zeichen  der  Handführung,  wie  sich 
mit  den  Zeichen  nach  und  nach  statt  der  verschiedenen  Lesarten  durch 
den  Verkehr  herrschende  Bedeutungen  verknüpfen. 

6.  Satz  bau.  Während  die  Laute  der  mündlichen  Rede  nach  dem 
Gehör  sich  fortpflanzen,  die  Züge  der  freien  Hand  nach  dem  Augen- 
maße geregelt  werden,  überliefert  die  Schrift  die  Worte  in  Sätzen, 
welche  nach  allgemein  gültigen  Regeln  gebaut  sind,  wie  die  Maßzeichen 


1)  A.  a.  0.  S.  20. 

2)  Wien  1880  A.  Hartleben. 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  11 


—     162    - 

nach  allgemein  verwendbaren  Tastmaßen  geprüft  werden  können.  Wie 
die  Zeichenformen  werden  anch  Satzformen  als  richtig  erkannt,  wenn 
deren  Inhalt  mit  den  erlebten  Tatsachen  übereinstimmt  und  das  läßt 
sich  nach  schriftlichen  Darstellungen  genauer  prüfen  als  nach  fließenden 
Aussagen.  Aber  die  Zeichen  formen  sollen  übersichtlich,  die  Satzformen 
faßlich  sein,  damit  sie  vom  Leser  oder  Hörer  rasch  verstanden  werden. 
Ohne  Zweifel  muß  darum  beim  Prüfen  geschriebener  Sätze  das  Sprach- 
gehör, beim  Prüfen  der  Zeichenformen  das  Augenmaß  mitwirken.  Bei 
der  schriftlichen  Fassung  eigener  Erlebnisse  sind  grammatische  Über- 
legung und  Sprachgehör  mit  mehr  Übersicht  wirksam  als  beim  geläu- 
figen Reden  und  Lesen  fremder  Schriftstücke.  Darum  muß  man  die 
Schüler  anhalten  eigene  Erlebnisse  wie  mit  eigenen  Zeichen,  mit  selbst- 
gewählten Worten  in  selbstgebildeten  Sätzen  schriftlich  mitzuteilen. 
Dann  lernen  sie  ihre  persönlichen  Erinnerungen  und  Einbildungen 
in  allgemein  verständlichen  Sprach-  und  Zeichenformen  zur  Gel- 
tung bringen. 

III.    Rechnen. 

1.  Zuordnen.  Wenn  das  Kind  Knöpfe,  Stäbchen  oder  Bauhölzer 
in  Reihen  oder  Gruppen  zusammenlegt,  so  ordnet  es  diese  greifbaren 
Stücke  einander  zu.  Ebenso  ordnet  man  beim  Zeichnen  Punkte  und 
Striche  einander  zu,  wenn  man  sie  in  Reihen  oder  Umrissen  im  Zeichen- 
feld zusammenstellt.  Beim  Sprechen  ordnet  man  einander  Sachen  und 
Tätigkeiten  zu.  Endlich  werden  Schritte,  Züge  der  Hand  oder  Töne 
einander  zugeordnet,  wenn  man  Takte  zählt. 

2.  Maßzahlen.  Die  Anzahl  gleicher  Strecken  -  Einheiten  einer 
vorgezeichneten  Richtung  zählt  man  auf  einem  Maßstab,  den  man 
tastend  an  diese  Richtung  anlegt.  Da  die  Teile  des  Maßstabes  allgemein 
gültigen  Wert  im  Verkehre  besitzen,  kommt  auch  der  Anzahl  solcher 
Maßeinheiten  und  der  damit  gemessenen  Länge  ein  allgemein  gültiger 
Wert  zu.  Die  nach  dem  Augenmaß  entworfene  Werkskizze  erhält  durch 
die  Ausführung  nach  den  eingeschriebenen  Maßzahlen  technischen  Wert 
für  den  Verkehr  zwischen  Werkführer  und  Arbeiter.  Durch  beige- 
zeichnete Maßstäbe  und  eingeschriebene  Höhenzahlen  bieten  Pläne  und 
Panoramen  eine  sichere  Grundlage  zur  genauen  Auffassung  der  wirk- 
lichen Flächenausdehnung  und  Bodengestalt,  sowie  zur  wirtschaftlich 
geregelten  Bodenkultur  und  Bautätigkeit.  Die  Ziffern  und  Namen  der 
Zahlwerte  ergänzen  also  die  Zeichen  der  Werkrisse,  Pläne  und  Dia- 
gramme durch  die  Ergebnisse,  welche  genaue  Messungen  von  Wegen, 
die  Zählungen  von  Mengen  der  Bevölkerung,  die  Wägungen  von  Kräften, 


—    163    — 

die  Schätzungen  von  Arbeitsleistungen  und  Tauschmitteln  nach  gleichen 
Zeitabschnitten  ergeben  haben.  Desgleichen  veranschaulichen  Schichten- 
umrisse die  flächenweise  Verbreitung  gleicher  Höhenzahlen ,  gleicher 
Temperaturgrade  und  Luftdruckverhältnisse.  Sie  bieten  so  einen  zu- 
sammenhängenden Überblick  über  die  Maßzahlen  der  Bodenerhebung  und 
Luftströmung.  Dieser  zusammenhängende  Überblick  wird  zum  Sinnbild 
für  die  Gesamtheit  der  Zahlwerte,  welche  durch  einzelne  Messungen 
nach  gleichen  Zeitabschnitten  oder  an  verschiedenen  Stellen  der  Erd- 
oberfläche erhoben  werden,  vermöge  der  Einbildung  von  Wegen, 
welche  ein  Punkt  nach  den  Zeitabschnitten  oder  von  Stelle  zu  Stelle 
beschreibt. 

3.  Weg  und  Zeit.  Wenn  man  ferner  im  Quadratnetz  auf  der 
wagrechten  Grundlinie  die  Einheiten  der  Zeitabschnitte  bezeichnet,  auf 
jeder  der  Senkrechten,  welche  diesen  Einheiten  zugeordnet  sind,  die 
Anzahl  der  Wegeinheiten  eines  Punktes  anmerkt  und  die  obern  oder 
untern  Grenzpunkte  der  Senkrechten  durch  Strecken  verbindet,  so  bildet 
man  sich  ein ,  der  Punkt  durchlaufe  in  den  gleichen  Zeitabschnitten 
diese  Strecken ,  deren  Richtung  sich  nach  dem  Verhältnis  zwischen 
Wegen  und  Zeiten,  nach  der  Geschwindigkeit  des  ursprünglich  beobach- 
teten Punktes  verändert  und  erhält  durch  die  Einbildung  des  ganzen 
Verlaufes  jener  Strecken  eine  Gesamtvorstellung  von  dem  Wechsel  der 
Geschwindigkeiten  des  ursprünglichen  Punktes,  welchen  die  Maßzahlen 
seiner  Wege  andeuten. 

4.  Bei  Rechenvorgängen  verschmilzt  die  Einbildung 
Zählakte  gleicher  Einheiten.  Der  visuell -motorische  Zeichen- 
vorgang zur  Ableitung  der  Geschwindigkeitsänderung  aus  den  wech- 
selnden Verhältnissen  von  Weg  und  Zeit  eines  Punktes  vergegenwärtigt 
die  visuell-  oder  akustisch  numerischen  Rechen  Vorgänge  zur  Ableitung 
von  Zahlwerten  aus  der  Verbindung  von  in  Ziffern  vorgeschriebenen 
oder  in  Zahlwort en  vorgesprochenen  Zahlen.  Bei  jenem  visuell-mo- 
torischen Zeichenvorgang  verschmilzt  nämlich  die  Einbildung  die  ein- 
ander folgenden  Akte  der  wagrechten  und  der  senkrechten  Stiftführung 
zu  einem  Bewegungsakte  in  schiefer  auf-  oder  absteigender  Richtung. 
So  verschmilzt  die  Einbildung  beim  Zusammenzählen  von  je  vier  in  ver- 
schiedener Anordnung  vorgezeichneten  Punkten  oder  von  je  vier  nach 
wechselnder  Folge  gezählten  Münzen  die  gleichen  Zählakte  zu  einem 
Zählakt  von  vier  gleichen  Einheiten.  Ebenso  verschmilzt  die  Einbildung 
beim  Vervielfältigen  einer  Reihe  vergezeichneter  Punkte  oder  einer 
Anzahl  gewerteter  Münzen  im  ersten  Fall  die  Reihenzahl  mit  der  An- 
zahl von  Punkten  jeder  Reihe,  im  zweiten  die  Wertzahl  der  Münzen 
mit  der  Anzahl  der  Stücke.     Die  Prozentzahl  gilt  als  einheitlicher  Zahl- 


—    164    — 

wert  für  die  Schätzung  des  Wertes  von  Reihen  gleichartiger  Vorgänge 
z.  B.  der  Zu-  oder  Abnahme  der  Bevölkerung,  der  Gewinne  aus  dem 
Geschäftsbetriebe,  der  Zinsen  von  geliehenem  Kapital.  Überhaupt  ist 
jeder  Rechenvorgang  aufzufassen  als  Verschmelzung  vorgezeichneter 
Größen  oder  vorgezählter  Werte  vermöge  der  geregelten  Einbildung 
einer  Kette  von  Verrichtungen. 

IV.    Zusammenwirken  von  Zeichnen,  Sprechen,  Rechnen  im  Geistesleben. 

1.  Einklang  zwischen  persönlicher  Einbildung  und 
sachlichen  Forderungen.  Die  Verschmelzung  von  Zügen  za 
Strecken  von  gleicher,  zu  Bogen  von  wechselnder  Richtung  gelingt  der 
Einbildung  erst  nach  einer  Anzahl  von  Versuchen  die  spontanen  Trieb- 
regungen nach  Maßgabe  der  Erinnerungen  gleicher  oder  wechselnder 
Richtung  mit  den  geforderten  Maßverhältnissen  der  Strecken  oder  Bogen 
in  Übereinstimmung  zu  bringen  und  diese  mit  dem  Augenmaß  oder  mit 
den  Tastmaßen  zu  prüfen.  Die  Übereinstimmung  zwischen  der  Ein- 
bildung und  den  geforderten  Maßverhältnissen  ist  gesichert,  wenn  die 
Prüfung  nach  Augen-  und  Tastmaß  bestätigt,  daß  Strecken  und  Bogen 
nach  dem  Taktgefühl  in  stetem  Zuge  genau  ausgeführt  werden.  Ebenso 
ist  die  Übereinstimmung  zwischen  der  Einbildung  einer  Folge  von 
Zeichen  Vorgängen  und  den  sachlichen  Maßverhältnissen  der  Zeichenform 
gesichert ,  wenn  diese  Vorgänge  ohne  Anstoß  nach  dem  Taktgefühl  in 
zweckmäßigem  Wechsel  von  Einstellungen  und  Zügen  einander  ablösen 
und  deren  Ergebnisse  einander  wechselseitig  bestätigen.  Der  Einklang 
zwischen  der  Einbildung  einer  Folge  von  Sprach-  oder  Rechenvorgängen 
und  den  Beziehungen,  welche  die  Sprach-  oder  Rechensätze  andeuten,  ist 
gesichert,  wenn  diese  Vorgänge  ohne  Besinnen  über  einzelne  Worte  oder 
Zahl  werte  nach  dem  Taktgefühl  in  zweckmäßiger  Folge  der  Aussagen 
oder  Verrichtungen  einander  ablösen  und  die  sachliche  Prüfung  deren 
Schlüsse  bestätigt.  Zeichen-,  Sprach-  und  Rechenformen  sind  sinnbild- 
liche Träger  des  geistigen  Verkehres.  Ihr  Verkehrswert  richtet  sich 
nach  der  Sachgemäßheit  ihres  Erinnerungsinbaltes  und  nach  der  Zweck- 
mäßigkeit ihrer  Einbildungsform. 

2.  Die  Erzeugnisse  der  wissenschaftlichen  Literatur  und  des  ge- 
schäftlichen Verkehres,  die  natur-  und  völkerkundlichen  Vorträge  mit 
ihren  Vorweisungen  und  Sammlungen ,  die  Verhandlungen  der  Parla- 
mente mit  dem  Geleit  ihrer  wirtschaftlichen  Ausweise  zeigen,  wie  in 
dem  Geistesleben  der  Gegenwart  technische  Arbeit,  Zeichen-, 
Sprach-  und  Rechenverkehr  zusammen  die  wirkliche  Fort- 
bildung des  Einzelnen  und  der  Gemeinschaften  bestimmen.     Bei  tech- 


—    165    — 

nischer  Arbeit  erlebt  der  Mensch  die  Eigenschaften  der  Stoffe,  die  Wir- 
kungen der  Naturkräfte  und  seiner  Tastbewegungen.  Durch  sichtbare 
Zeichen  hält  er  sich  die  räumlichen  Maßverhältnisse  gegenwärtig,  deutet 
durch  solche  die  Ziele  seines  räumlichen  Gestaltens  an.  In  fließender 
Kede  und  schriftlicher  Darstellung  gibt  er  seine  Beziehungen  zwischen 
Sachbegriffen  und  Tätigkeiten  kund.  Durch  den  Rechenverkehr  regelt 
er  das  wirtschaftliche  Walten  mit  Stoffen  und  Kräften,  mit  Besitz  und 
Arbeit. 

Weder  Worte  noch  Zeichen  allein  fassen  den  Inhalt  der  sachlichen 
Erinnerungen  und  die  Formen  der  Einbildungen  vollständig.  Bei  den 
Worten  fehlen  die  Anschauungen  und  aus  den  Zeichen  erkennt  man  die 
Zeitfolge  der  Vorgänge  nicht.  Wenn  man  aber  die  fließenden  Worte  im 
richtigen  Takt  mit  Zeichen  begleitet,  stellen  diese  bestimmte  Anschau- 
ungen fest.  Wenn  man  die  Zeichen  mit  treffenden  Worten  erklärt,  so 
erwecken  diese  aus  den  sachlichen  Erinnerungen  folgerichtige  Einbil- 
dungen, wie  die  Zeigebewegung  den  Blick  von  Stelle  zu  Stelle  führt. 
Das  gilt  für  den  formalen  Sprach-  und  Rechen-,  wie  für  den  sachlichen 
Zeichenunterricht. 

Durch  zielsicheres  Vorzeichnen  und  Vorsprechen  regt 
also  der  sachkundige  Lehrer  im  persönlichen  Verkehr  mit  dem  Schüler 
die  zweckmäßigen  Erlebnisse  inneren  Bildens  an,  welche  aus 
sachgemäßen  Erinnerungen  erwachsen  und  in  zeitgemäßem 
Takte  fortschreiten.  Dann  wird  der  Schüler  durch  zusammenwir- 
kende Zeichen-,  Sprech-  und  ßechenübungen  belähigt  zur  zielbewußten 
Teilnahme  an  den  Kulturaufgaben  der  Zeit. 


Literaturbericht. 


Schule,  Leben  und  Bildung  heißt  der  Titel  eines  Vortrages, ^)  den  Herr 
Dr.  A.  Schräg,  Kektor  der  Mädchenschule  St.  Gallen,  in  der  Pauluskirche  zu  Bern 
gehalten  hat. 

„Die  Lernschule  muß  zur  Arbeitsschule  werden" ,  hatte  Herr  Stadtschulrat  Dr. 
Kerschensteiner  aus  München  am  Pestalozzitage  in  Zürich  erklärt.  Der  Verfasser  dieses 
Vortrages  sagt  dagegen:  „Die  Arbeitsschule  muß  auch  Lernschule  bleiben".  Denn  das 
Hauptziel  der  Schule  soll  klares  Denken  und  zweckmäßiges  Wollen 
sein. 

Der  Satz,  daß  das  Kind  Anspruch  erheben  dürfe  auf  Berücksichtigung  seiner  Indi- 


1)  Bern  1908.  A.  Franke. 


—    166    — 

vidualität,  scheint  dem  Vortragenden  von  hervorragender  Bedeutung  zunächst  für  die 
ersten  Kinderjahre,  für  die  Erziehung  im  Elternhaus.  Wir  müssen  uns  daran  gewöhnen 
im  Kind  ein  Wesen  für  sich  zu  erblicken,  nicht  unsere  Anschauungs-  und  Denkweise  von 
ihm  zu  verlangen.  Femer  ist  die  indirekte  Einwirkung  durch  das  Beispiel  ein  vornehm- 
ster erzieherischer  Faktor.  Das  schließt  aber  direkte  Einwirkung  der  Älteren,  Erfah- 
renen in  einem  vernünftigen  Erziehungssyssteme  nicht  aus.  Educare:  ernähren  und  pflegen, 
leiblich  und  geistig,  ist  Naturpflicht  der  Eltern  und  der  Schule.  Das  Kind  hat  ein  Recht 
auf  natürliche  Entwickelung  seiner  Geisteskräfte  und  dazu  darf  die  Nachhülfe  anknüpfen 
an  den  Bewegungstrieb. 

Schon  beim  zweijährigen  Knirps  kann  die  Mutter  den  Bewegungstrieb  zweckmäßig 
betätigen,  wenn  sie  diesen  zur  Mithülfe  bei  ihren  Hausarbeiten  heranzieht.^)  So  lernt 
das  Kind  die  bewegten  Dinge  mit  den  festen  Stellen  in  Beziehung  bringen.  Später  gibt 
man  dem  Kinde  das  Bilderbuch  und  läßt  es  die  abgebildeten  Gegenstände  benennen,  ohne 
immer  gleich  zu  korrigieren.  Dann  Spiel  und  Beschäftigung  im  Freien,  mit  Schaufel  und 
Spaten. 

Die  Lebensgemeinschaft  der  Schule  erschließt  dem  Kinde  schon  ein  Stück  öffent- 
liches Leben.  Dieses  fordert  als  Gegenleistung  für  seine  vielseitigere  Anregung  das 
Lernen.  Aber  es  gibt  auch  lehrreiche  Spiele ,  wie  die  Beschäftigungsspiele  Fröbels. 
Der  Anschauungsunterricht  muß  durch  darstellende  Arbeiten  unterstützt  werden.  Die  An- 
wendung des  Arbeitsprinzips  soll  auf  jeglichen  Unterricht  ausgedehnt  werden.  Doch 
darf  man  dabei  nicht  unterlassen  die  Einzelanschauungen  maßgebenden  Hauptformen  unter- 
zuordnen und  aus  den  Reihenfolgen  von  Verrichtungen  allgemein  gültige  Regeln  abzu- 
leiten. Die  Handfertigkeit  soll  der  Raum-  und  Naturlehre  die  sichere  Grundlage  schaffen. 
Aber  dabei  müssen  die  räumlichen  Maßverhältnisse  und  physikalischen  Gesetze  eine  prak> 
tische  Formulierung  linden,  damit  das  Auffassungsvermögen  gestärkt  werde. 

Schon  bisher  hat  die  Schule  die  Pflege  des  Arbeitsprinzipes  nicht  völlig  außeracht 
gelassen.  Seit  Jahren  werden  in  vielen  Schulen  die  Schüler  zum  Anlegen  von  Herbarien 
ermuntert.  Doch  hat  man  vorwiegend  Pflanzen  getrocknet  und  aufgezogen,  um  ihre  Namen 
zu  behalten.  Formen  sind  aber  mindestens  ebenso  bildend  wie  Namen.  Man  sammle 
deshalb  auch  nach  biologischen  Gesichtspunkten:  Wurzeln,  Stengelformen,  Rinden,  Holz- 
arten, Blatt-  und  Blütenformen,  Fruchtarten,  biologische  Beobachtungen,  alles  nach  dem 
Prinzip  der  Arbeitsteilung.  Eine  Ausstellung  der  gruppenweise  von  jedem  Schüler 
zusammengestellten  Formen  führe  allen  Schülern  das  Gesamtergebnis  der  Klassenarbeit 
vor.  Vergleichende  Besprechungen  und  Zeichenübungen  fassen  die  Einzelbeobachtungen 
zusammen  und  prägen  die  Formen  dem  Gedächtnis   ein. 

In  den  obem  Mädchenklassen,  namentlich  in  der  weiblichen  Fortbildungsschule  und 
in  der  Töchterschule,  einschließlich  Lehrerseminar  zu  St.  Gallen  findet  das  Arbeitsprinzip 
Berücksichtigung  in  der  Physik,  mehr  noch  in  der  Chemie  mit  Laboratorium  und  in  der 
praktischen  Haushaltungskunde.  In  der  Literar-  und  Handelsabteilung  setzt  die 
Hauswirtschaft  erst  mit  der  3.  Klasse  ein.  Daneben  besteht  eine  Hauswirtschaftabteilung. 
Deutsch  und  Französisch  sind  obligatorische  Sprachfächer,  Englisch  ist  fakultativ  für  die 
sprachlich  gut  Veranlagten.  Das  Rechnen  stellt  sich  ganz  in  den  Dienst  der  Hauswirt- 
schaft. Für  weibliche  Handarbeit  und  Hauswirtschaft  sind  je  6  Wochenstunden  angesetzt, 
nämlich  2  Stunden  Lebensmittellehre  neben  einem  2—3  stündigen  Kurs  in  Chemie  der 
Küche  und  des  Haushalts,  4  Stunden  Übungen  in  der  Schulküche. 


1)  Sie  kann  den  Kleinen  leichte  Dinge  (Kleider,  Qer&t)  von  Stelle  zu  Stelle  tragen 
heißen,  ihm  lehren  Brosamen  mit  dem  Wischer  auf  die  Schaufel  zu  sammeln. 


—    167    - 

Die  Eltern  wollten  diese  Abteilung  anfänglich  als  Versorgungsstelle  für  Schwach- 
begabte taxieren  und  erhoben  die  Einwendung,  die  Mädchen  seien  im  15.  Jahre  noch  zu 
jung  zum  Kochen  lernen,  sie  hätten  vorerst  für  ihre  geistige  Ausbildung  zu  sorgen.  Da- 
gegen wurde  erklärt,  daß  die  geistige  Ausbildung  eben  durch  diesen  Unterricht  wirksam 
begründet  werde.  Da  die  manuelle  Fertigkeit  mit  der  wissenschaftlichen  Grundlage 
—  der  Chemie  —  in  ein  förderndes  Wechselverhältnis  trete.  Auf  das  kommende  Schul- 
jahr liegen  für  die  hauswirtschaftliche  Abteilung  40  Anmeldungen  vor,  unter  denen  sich 
eine  große  Anzahl  hervorragend  Begabter  befindet. 

Im  weitern  stimmen  wir  mit  dem  Verfasser  überein,  wenn  er  die  Schüler  durch 
Selbsttätigkeit  zur  Selbständigkeit  erziehen  will.  Nur  sei  gestattet  daran  zu  erinnern, 
daß  im  geschäftlichen  Verkehre,  der  doch  die  Mehrzahl  der  Gebildeten  miteinander  in 
Beziehung  bringt,  neben  dem  sprachlichen  Austausch  der  Gedanken  auch  das  technische 
Schaffen  und  die  wirtschaftliche  Verwaltung  einen  großen  Teil  an  der  Berufstätigkeit  und 
dem  sozialen  Leben  haben.  Daß  also  neben  der  Vertiefung  in  die  Werke  der  Schrift- 
steller auch  die  Einsicht  in  die  Wirkungen  der  technischen  Erfindungen  und  der  wirt- 
schaftlichen Vorgänge  mehr  und  mehr  zu  den  unabweislichen  Forderungen  an  das  Geistes- 
leben der  Gebildeten  gehören. 

F.  Graberg,  Zürich. 

Namen  und  Zeichen  der  Naturkunde.  G.  Niemann  und  W.  Wurthe, 
Präparationen  für  den  naturgeschichtlichen  Unterricht  1.  Teil  Mittelstufe.  Osterwieck 
1907.  A.  W.  Zickfeldt. 

Im  Anschluß  an  Rude's  Methodik  des  gesamten  Volksschulunterrichts  ^)  wenden 
die  Verfasser  die  in  dem  verbreiteten  Lehrbuche  niedergelegten  Grundsätze  auf  den  Un- 
terricht in  der  Naturkunde  an.  Um  die  häusliche  Arbeit  des  Lehrers  zu  erleichtem, 
stellen  sie  die  Lehre  von  den  Lebensformen,  von  Pflanzen  und  Tieren,  in  Garten  und 
Feld,  Haus  und  Hof  anschaulich  dar,  indem  sie  dieselben  durch  den  Wechsel  der  Jahres- 
zeiten verfolgen. 

Beobachtungen  bilden  den  Ausgangspunkt  einer  jeden  Lektion,  leichte  experimentelle 
Demonstrationen  begleiten  die  Besprechungen.  Die  Darstellung  will  die  Naturerschei- 
nungen nur  begründen,  nicht  deren  Zwecke  nachweisen,  weil  diese  Vorgänge  aus  dem  Zu- 
sammenwirken vielseitiger  Ursachen  sich  ergeben,  nicht  Erzeugnisse  einheitlichen  Willens 
sind. 

Die  Verfasser  wünschen,  daß  die  Lehrer  über  den  übersichtlich  dargestellten  Lehr- 
stoff nach  den  Zeitumständen  und  der  Fassungskraft  der  Schüler  frei  verfügen. 

Die  dem  Texte  beigegebenen  Schemabilder  sollen  nicht  dem  Lehrer  zur  Erklärung 
oder  Verdeutlichung  des  Lehrstoffes  dienen,  wohl  aber  Beispiele  für  das  naturkundliche 
Zeichnen  der  Schüler  sein.  Sie  sollen  in  gemeinsamer  Arbeit  des  Lehrers  mit  den  Schülern 
an  der  Tafel  entstehen  oder  von  den  Schülern  selbständig  entworfen  werden.  Sie  sind 
so  ausgewählt,  daß  sie  entweder  wichtige  morphologische  Verhältnisse  zum  Ausdruck  oder 
biologische  Momente  zur  Darstellung  bringen. 

Im  Sinn  einer  engeren  Verbindung  zwischen  sprachlichem  Ausdruck  und  Zeichnen, 
wie  sie  Elssner  andeutet  und  bei  den  Amerikanern  gepflegt  wird,  wäre  aber  zu  wünschen, 
daß  schon  Darbietungen  und  dann  auch  Zusammenfassungen  von  Zeichenversuchen  be- 
gleitet  würden.     Denn   die  Namen    der  Gesamtvorstellungen   und   der  Teilvorstellungen, 


1)  5.  Aufl.  Osterwieck/Harz.  1907.  Zickfeldt. 


—    168     - 

der  Bestandteile  werden  durch  schematische  Umrisse  nicht  nur  ergänzt,  sondern  auch 
deren  Bedeutung  im  Gedächtnis  vertieft.  Erkennt  man  doch  in  Garten,  Feld  und  Wald 
die  Pflanzen  und  Tiere  zunächst  aus  ihrer  sichtbaren  Erscheinung  und  erinnert  sich  erst 
nachher  der  Benennungen.  Richtige  Einsicht  in  Entwickelang  und  Pflege  verschafft  zu 
dem  das  genaue  Vergegenwärtigen  der  wechselnden  Zustände  ihres  Baues. 

Auch  im  naturkundlichen  Unterrichte  kann  der  Lehrer  die  Klasse  zur  Abwechslung, 
statt  mit  Erzählen  und  Liedern,  mit  Zeichnungen  erfreuen  und  seinen  Unterricht  durch 
den  Wechsel  der  Betätigungen  beleben.  Gleich  den  Aufsätzen,  veranschaulicht  die  Aus- 
führung der  Zeichnungen,  Erlebnisse  des  Kindes  unter  neuen  Gesichtspunkten  und  fördert 
dadurch  dessen  Selbsttätigkeit. 

Möge  solcher  Weise  der  in  vorliegendem  Buch  gebotene  planmäßige  Überblick  über 
den  naturkundlichen  Lehrstoff  in  reger  Betätigung  der  Jugend  nicht  nur  deren  Kennt- 
nisse vermehren,  sondern  auch  deren  Fertigkeit  in  Darstellung  und  Verwendung  ihres 
Wissens  steigern. 

F.  Graberg,  Zürich. 


.A-bhaiidluiigeii. 

Die  wichtigsten  Ergebnisse  der  experimentellen  Untersuchungen 

über  das  Lesen. 

Von  Oberlehrer  Dr.  Jak.  Schwender,  Biebrich  a.  Rh. 

Einleitung. 


In  der  Geschiclite  der  experimentellen  Untersucliiingen  über  das 
Lesen  können  wir  deutlich  drei  Perioden  unterscheiden.  Die  erste  Pe- 
riode reicht  von  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  bis  ungefähr  zum 
Jahr  1885.  Sie  umfaßt  die  Arbeiten  zur  physiologischen  Optik  und  die 
Untersuchungen  der  Ophthalmologen,  in  denen  gelegentlich  einzelne 
Seiten  des  Leseproblems  gestreift  werden. 

Eingehendere  und  mehr  spezielle  Untersuchungen  über  die  Be- 
dingungen des  Erkennens  der  Schriftzeichen  hat  zuerst  Cattel  angestellt. 
Fast  gleichzeitig  mit  ihm  hat  Grashey  seine  Ergebnisse,  zu  denen  er 
auf  ganz  anderem  Wege  gekommen  ist,  veröffentlicht.  Neben  und  nach 
den  beiden  Forschern  haben  Männer  wie  Pillsbury,  Wernicke,  Gold- 
scheider  und  Müller  weitere  Untersuchungen  angestellt,  ohne  in  den 
wichtigsten  Fragen  der  psychophysiologischen  Vorgänge  des  Lesens  be- 
friedigende Resultate  zu  erzielen. 

Einen  neuen  Fortschritt  bedeuten  die  „Psychologischen  Unter- 
suchungen über  das  Lesen",  die  Erdmann  und  Dodge  1898  veröffentlichten. 
Die  Resultate  dieser  Autoren  blieben  nicht  unbestritten.  Sie  gaben 
Veranlassung  zu  vielfachen  psychologischen  Erörterungen  und  Unter- 
suchungen, die  zum  Teil  die  Erdmann-Dodgeschen  Ergebnisse  bestätigten, 
zum  Teil  andere  Resultate  zeitigten. 

In  der  nachfolgenden  Abhandlung  sollen  nur  die  beiden  letzten  Pe- 
rioden, also  die  Zeit  von  1885—1907,  berücksichtigt  werden.  Von  dem 
erstem  Zeitabschnitte  glaubten  wir  absehen  zu  dürfen,  da  die  Ergebnisse 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.      X.  Band.  12 


—     170    — 

bereits  von  Erdmann-Dodge  gewürdigt  sind,  zum  andern  aber  auch,  weil 
die  Resultate,  soweit  sich  dieselben  als  richtig  erwiesen  haben,  in  spätere 
Werke  übergegangen  sind.  Aber  auch  von  den  beiden  letzten  Zeit- 
abschnitten konnten  nur  die  wichtigsten  Veröffentlichungen  herangezogen 
werden.  Einige  Werke  wie  Judd,  McAlister  und  Steale,  Introduction 
to  a  Series  of  Studies  of  Eye  Movements,  Yale  Psych.  Studies  1905/6, 
waren  dem  Verfasser  erst  nach  Abschluß  dieser  Arbeit  erreichbar  und 
konnten  nur  nachträglich  berücksichtigt  werden. 

Den  verschiedenen  Untersuchungen  entsprechend  können  wir  unsere 
Darstellung  in  zwei  große  Abschnitte  gliedern. 

I.  Zunächst  haben  wir  von  der  optischen  Seite  des  Leseaktes,  den 
physiologischen  Untersuchungen  über  die  Augenbewegungen  zu  sprechen. 

II.  In  einem  zweiten  Abschnitt  sollen  sodann  die  psychologischen 
Vorgänge  genauer  gewürdigt  werden.  Die  Untersuchungen  hierüber 
lassen  drei  Methoden  erkennen. 

a)  Die  erste  Methode  studiert  den  Leseprozeß,  wie  er  sich  darstellt, 
wenn  Buchstabenreihen  und  Wörter  für  kleine,  aber  fest  bestimmte 
Augenblicke  sichtbar  sind. 

b)  Die  zweite  knüpft  an  die  physiologischen  Untersuchungen  an 
und  schließt  von  den  Augenbewegungen  auf  den  inneren  Vorgang. 

c)  Die  dritte  endlich  geht  von  Zeitmessungen  aus  und  sucht  durch 
mannigfache  Variierung  der  Versuche  genauere  Kenntnisse  über  die 
inneren  Vorgänge  zu  ermitteln. 

Wir  wollen  in  Abschnitt  II  die  Untersuchungen  nach  den  drei  Me- 
thoden ordnen  und  am  Schlüsse  eine  kurze  Zusammenfassung  über  das 
Lesen  des  Bandes  geben,  so  daß  wir  folgende  Punkte  zu  besprechen 
haben : 

A.  Die  tachistoskopische  Methode. 

B.  Die  physiologische  Methode. 

C.  Die  Methoden,  welche  von  Zeitmessungen  ausgehen. 

D.  Das  Lesen  des  Kindes. 

Ein  III.  Abschnitt,  der  die  pathologischen  Untersuchungen  des 
Lesens  darstellen  sollte,  blieb  unausgeführt,  um  den  Umfang  der  Arbeit 
nicht  noch  mehr  zu  erweitern. 


171     — 


I.  Abschnitt. 


Die  physiologischen  Untersuchungen  über  die  Augen- 
bewegungen. 

"  (Optischer  Teil  des  Leseaktes). 


1.  Kapitel. 

Allgemeines  (Methode  und  Apparate.) 

Die  Angenbewegungen  beim  Lesen  lassen  sich  subjektiv  nicht  er- 
kennen. Darum  war  man  lange  über  die  Art  dieser  Bewegungen  nicht 
unterrichtet.  Die  frühesten  für  uns  wichtigen  objektiven  Beobachtungen 
rühren  von  Javal  und  Lamare^).  Sie  scheinen  die  ersten  gewesen  zu 
sein,  welche  erkannt  haben,  daß  das  Auge  beim  Lesen  keine  kontinuier- 
lichen Bewegungen  ausführt,  sondern  sich  ruckweise  über  die  Zeile  fort- 
bewegt. Mit  Hilfe  einer  kleinen  Kontakt- Vorrichtung,  welche  sie  am 
obem  Augenlide  befestigten  und  mit  einem  Mikrophon  in  Verbindung 
stellten,  machten  sie  die  Bewegung  des  Auges  für  das  Ohr  wahrnehm- 
bar. Jedesmal,  wenn  der  Augapfel  sich  bewegte,  vernahmen  sie  einen 
leisen  Ton,  der  um  so  länger  andauerte,  je  ausgedehnter  die  Bewegung  war. 

Späterhin  haben  Landolt,  Erdmann,  Dodge,  Huey  und  Dearborn  in 
der  Hauptsache  nach  drei  Methoden  die  Augenbewegungen  studiert. 

1.  Nach  der  direkten  Methode  verfuhren  Landolt^)  und  Erd- 
mann-Dodge^).  Sie  beobachteten  das  Auge  der  lesenden  Versuchsperson 
und  zählten  die  ausgeführten  Bewegungen.  Landolt  kam  dabei  zu  dem 
Ergebnis,  daß  bei  einer  Leseentfernung  von  30  cm  im  Durchschnitt  ca. 
1^2  Wort  pro  Fixation  gelesen  werden  kann.  Erdmann  und  Dodge  be- 
trachteten das  Auge  des  Lesenden  im  Spiegel.  Auf  die  Ergebnisse 
ihrer  Untersuchungen  werden  wir  im  Verlauf  unserer  Darstellung  zu- 
rückkommen. 


1)  Verschiedene  Artikel  in  der  Rev.  Scientifique  1879/1881  und:  Javal,  Die  Phy- 
siologie des  Lesens  und  Schreibens.  Deutsch  von  F.  Haas,  Leipzig,  Engelmann  1907. 
Vergl.  E.  B.  Huey,  On  the  Psychology  and  Physiology  of  Reading  I.  Americ.  Journal 
of  Psychology  11  1889/1890,  ferner  von  dems.  Verf.  The  psychology  and  pedagogy  of 
reading,  New  York,  Macmillan  1908. 

2)  Landolt,  Nouvelles  recherches  sur  la  physiologie  des  mouvements  des  yeux. 
Archives  d'Opthalmologie  XI,  1891,  S.  385  ff. 

3)  B.  Erdmann  und  R.  Dodge,  Psychologische  Untersuchungen  über  das  Lesen. 
Halle  1898. 

12* 


Die  direkte  Methode  ist  unzulänglich.  Sie  gestattet  keinerlei 
Messungen  über  die  Ausdehnung  der  Bewegungen  und  die  Schnelligkeit, 
mit  der  sie  sich  vollziehen.  Zur  Messung  der  Zeitgrößen  bedienten  sich 
Erdmann  und  Dodge  einer  Methode,  die  schon  Lamanski  *)  bei  seinen  Unter- 
suchungen benützt  hat^).  Nach  derselben  fanden  sie,  daß  das  Auge 
einen  Winkel  von  3—5°  in  0,015"  durchläuft,  während  es  zu  einem 
Winkel  von  10°  =  0,02"  braucht.  Um  allen  Fehlem  vorzubeugen,  haben 
nun  Erdmann  und  Dodge  für  jede  Bewegung  nach  rechts  und  ebenso  für  die 
längere  Bewegung  nach  links  eine  durchschnittliche  Zeitdauer  von  0,02" 
angenonmien.  Mit  Hilfe  dieser  Zahl  und  der  gefundenen  Anzahl  der 
Fixationspunkte  ließ  sich  die  Gesamtdauer  der  Augenbewegungen  pro 
Zeile  durch  eine  einfache  Multiplikation  [(Anzahl  der  Fixationen  — 1).0,02] 
berechnen.  Subtrahiert  man  die  so  gefundene  Größe  von  der  Zeit,  die 
zum  Lesen  einer  Zeile  nötig  ist,  so  bleibt  als  restierender  Betrag  die 
Gesamtzeit  für  die  auf  eine  Zeile  fallenden  Ruhepausen*). 

2.  Der  Amerikaner  Huey*)  untersuchte  die  Augenbewegungen  nach 
der  sogenannten  ßegistriermethode.  Er  befestigte  auf  der  Horn- 
haut des  linken  Auges   eine   in  der   Mitte   durchbohrte,   leichte  Kappe 


1)  Lamanski,  Über  die  Winkelgeschwindigkeit  der  Blickbewegungen.  Pflügers  Archiv 
1869  IL  S.  418  fr. 

2)  Die  Methode  geht  von  folgender  Erwägung  aus :  „Wenn  das  Auge  während  einer 
Bewegung  der  Reizung  eines  intermittierenden  Lichtes  ausgesetzt  wird,  so  wird  die  Zahl 
der  hierbei  gesehenen  Nachbilder  von  der  Zeit  abhängen,  in  der  die  einzelnen  Lichtreize 
nacheinander  folgen,  sowie  von  der  Geschwindigkeit,  mit  der  das  Auge  seinen  Weg  zu- 
rücklegt." (Erdmann-Dodge,  a.  a.  0.,  S.  349).  Eine  gleichmäßig  rotierende  Scheibe  trug 
am  Ende  eine  Anzahl  gleichgroßer  und  gleich  entfernter  Einschnitte.  Bei  der  Bewegung 
dieser  Scheibe  wurde  ein  hinter  ihr  aufgestelltes  Licht  abwechselnd  verdeckt  und  ex- 
poniert Fixierte  die  Versuchsperson  den  Mittelpunkt  der  Scheibe,  so  erschienen  die 
aufeinander  folgenden  „Expositionsblitze"  als  Lichtpunkte.  Bewegte  sie  aber  ihr  Auge, 
80  fielen  die  sukzessiven  Expositionen  auf  verschiedene  Stellen  der  Netzhaut  und  wurden 
demgemäß  als  eine  Reihe  von  Punkten  gesehen.  Die  Zeitintervalle  zwischen  den  aufein- 
ander folgenden  Expositionen  konnten  aus  der  Zahl  der  Umdrehungen  und  der  Anzahl 
der  Einschnitte  berechnet  werden  und  geben  mit  der  Anzahl  der  gesehenen  Nachbilder 
ein  Mittel  die  Geschwindigkeit  der  Bewegung  zu  bestimmen. 

3)  W.  Wundt  (Philosophische  Studien  XVI  S.  65)  hält  die  Berechnungen  der  Ver- 
fasser über  die  Dauer  der  Fixationspausen  für  völlig  illusorisch,  weil 

einmal   die  von  Lamanski  angewandte   subjektive  Methode  zur  Messung  der  Ge- 
schwindigkeit der  Augenbewegungen  ziemlich  unsicher  sei,  und 

cum  andern,  weil  es  nicht  möglich  sei,  aus  der  Geschwindigkeit,  mit  der  eine 
Strecke  in  kontinuierlicher  Bewegung  durchlaufen  werde,  auf  die  Geschwindigkeits- 
verh&ltnisse  einer  durch  mehrere  Pausen  unterbrochenen  Bewegung  und  aaf  die  Dauer 
dieser  Ruhepausen  zu  schließen. 

4)  E.  B.  Huey,  Americ.  Joum.  S.  286—302. 


173     — 


und  verband  dieselbe  mit  Hilfe  eines  feinen  Aluminiumfadens  mit  einer 
Schreibvorrichtung,  die  auf  der  berußten  Trommel  eines  Kymographen 
jede  Bewegung  des  Auges  verzeichnete.  Auf  der  entgegengesetzten 
Trommelseite  vermerkte  eine  Viertelsekundenuhr  die  verstrichene  Zeit. 
Um  auch  für  die  kurzen  Bewegungen  genaue  Zeitangaben  zu  erlangen, 
stellte  fluey  den  Äluminiumdraht  des  Registrierapparates  mit  den  Polen 
eines  Induktionsapparates  in  Verbindung  und  leitete  den  anderen  Pol 
zur  Trommel  hin.  In  Zeitintervallen  von  -~"  sprangen  Funken  vom 
Aluminiumzeiger  zur  Trommel  über  und  hinterließen  auf  dem  berußten 
Papier  helle  Punkte,  die  sich  zu  hellen  Elecken  erweiterten,  wenn  das 
Auge  ruhig  stand.  Die  nachfolgende  Figur  stellt  in  schematischer  Form 
eine  solche  Aufzeichnuno;  dar. 


Fixationspausen. 


Fig.  1. 

Die  dunkeln  Flecken  bedeuten  Ruhepausen,  während  die  kleinen 
Punkte  die  durch  die  überspringenden  Funken  geschaffenen  hellen  Stellen 
bezeichnen  sollen.  Die  drei  ersten  Linien  geben  die  Länge  der  Zeilen 
an.  Es  mag  noch  vermerkt  werden,  daß  der  Kopf  während  des  Ver- 
suches ruhig  blieb  und  die  Augenlider  getrennt  gehalten  wurden. 

Hueys  Messungen  bedeuteten  ohne  Zweifel  einen  Fortschritt.  Indes 
auch  sie  sind  nicht  vollkommen  einwandfrei  ^).  Die  Bewegung  des  langen 
Zeigers  an  dem  Hebelwerk  verlangte  unstreitig  eine  gewisse  Muskel- 
anstrengung, die  sicherlich  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Geschwindigkeiten, 
der  Bewegungen  geblieben  ist. 

3.  Die  dritte  Methode  suchte  diesem  Fehler  zu  begegnen.  Sie 
benutzte  als  registrierendes  Mittel  einen  vom  Auge  reflektierten  Licht- 
strahl. Von  einer  elektrischen  Bogenlampe  fiel  ein  Lichtbündel  unter 
einem  Winkel  von  30^  auf  die  Hornhaut  des  Auges.  Er  wurde  hier 
unter  gleichem  Winkel  reflektiert  und  traf  auf  eine  photographisch 
wirksame  Platte,  die  sich  in  einer  Dunkelkammer  in  senkrechter  Richtung 


1)  R.  Dodge,  The  Angle  Velocity  of  Eye  Movements.    The  Psych.  Review  8.  1901, 
S.  147. 


L 


—    174    — 

nach  unten  bewegte.  Vor  der  Versuchsperson  befand  sich  in  der  üb- 
lichen Leseentfernung  und  genau  in  der  Mitte  zwischen  dem  auffallenden 
und  dem  reflektierten  Strahlenbündel  eine  zur  Aufnahme  des  Leseobjekts 
geeignete  Vorrichtung.  Stand  das  Auge  der  Versuchsperson  still,  war 
es  also  unverwandt  auf  einen  Punkt  des  Leseobjekts  gerichtet,  so  er- 
zeugte der  gleichbleibende,  ruhende  Strahl  auf  der  abwärts  ziehenden 
Platte  eine  vollkommen  oder  nahezu  vollkommen  gerade,  senkrechte 
Linie.  Bewegte  sich  aber  das  Auge  nach  rechts  oder  links,  so  ent- 
standen auf  der  Platte  seitlich  gerichtete  Linien,  die  den  senkrechten 
Zug  unterbrachen  und  ihn  nach  rechts  und  links  verschoben.  Die  bei- 
gefügte Zeichnung,  die  von  unten  nach  oben  zu  lesen  ist,  ist  einer 
solchen  photographischen  Darstellung  entnommen. 


1)  Rückläufige  Bewegung 

2)  Schiebebewegung. 


Fig.  2. 

Auf  derselben  stellen  die  senkrechten  Linien  die  Ruhepausen  dar, 
während  die  kleineren  Striche  nach  rechts  und  die  größeren  nach  links 
die  entsprechenden  Augenbewegungen  vermerken.  Die  Zeiten  für  die 
Bewegungen  und  Pausen  wurden  mit  Hilfe  eines  „spring  pendulums" 
und  einer  schwingenden  Stimmgabel  gemessen. 

Einige  Schwierigkeit  verursachte  die  Behandlung  und  Deutung  der 


—    175    - 

photographischen  Aufnahmen,  aber  dafür  gestatteten  sie  auch  die  Grröße 
und  Dauer  der  Augenbewegungen  und  die  Dauer  und  Lagen  der  Fixations- 
pausen  für  die  gelesenen  Texte  aufs  genaueste  zu  bestimmen. 

Aus  den  verschiedenen  Versuchen  ging  einhellig  hervor ,  daß  das 
Auge  sich  beim  Lesen  nicht  kontinuierlich  durch  die  Reihe  fortbewegt, 
sondern  in  kleinen  Absätzen,  ruckweise  also,  die  Linie  durchzieht.  Auf 
schnelle  Bewegungen  folgen  Momente,  in  denen  das  Auge  verhältnismäßig 
ruhig  steht  und  die  man  deswegen  auch  Ruhepausen  oder  Fixations- 
pausen  bezeichnet  hat.  In  diesen  Pausen  vollzieht  sich  das  Lesen.  Dabei 
umspannt  das  Auge  Teile  der  Linie,  die  links  und  rechts  von  dem  fixierten 
Punkte  liegen.  Man  hat  dieses  Gebiet  allgemein  als  Lesefeld  bezeichnet. 
Im  nachfolgenden  werden  wir  die  einzelnen  Punkte  nacheinander  zu 
würdigen  haben,  wir  werden  also  zunächst  von  den  Augenbewegungen, 
dann  von  den  Ruhepausen  und  zuletzt  von  dem  Lesefeld  reden. 


2.  Kapitel. 

Angenbewegungen  beim  Lesen. 

Die  mannigfachen  Bewegungen,  die  das  Auge  beim  Lesen  ausführt, 
lassen  sich,  wenn  wir  von  minimalen  Schwankungen  der  Blicklinie  ab- 
sehen, in  drei  große  Gruppen  bringen. 

1.  Die  erste  und  zugleich  wichtigste  Gruppe  bilden  die  sogenannten 
Interfixationsbewegungen.  Sie  leiten  die  Blicklinie  von  einer 
Fixation  zur  andern  und  werden  sowohl  von  links  nach  rechts  als  um- 
gekehrt von  rechts  nach  links  vollzogen.  Die  nach  rechts  gerichteten 
Bewegungen  sind  kurz.  Sie  beginnen  bei  dem  ersten  Fixationspunkt, 
wiederholen  sich  mehrfach  im  Innern  der  Zeile  und  endigen  schließlich 
mit  der  letzten  Ruhepause.  Die  nach  links  gerichteten  Bewegungen 
ziehen  von  der  Endfixation  der  einen  zur  Anfangsfixation  der  nächsten 
Zeile   hin.      Die   nachfolgende   Figar   stellt   den   ganzen  Vorgang   sche- 


Fig.  3. 

matisch  dar.     Sie  zeigt  zugleich,  daß  die  Bewegung  nur  den  innern  Teil 
der  Zeile  umspannt.     Huey  ^)  hat  die  so  durchlaufene  Strecke  auf  82  ^lo 

1)  a.  a.  0.,  S.  290. 


—    176 


der  ganzen  Zeile  berechnet;  auch  Dearborn')  hat  bei  einer  Zeilenlänge 
von  56,8  nun  ein  ähnliches  Ergebnis,  80,3  %,  erhalten. 

Die  Größe  des  durchlaufenen  ßogens  ist  selbst  bei  gleichgerichteten 
Bewegungen  durchaus  verschieden.  Zuweilen  kommt  es  vor,  daß  eine 
Vorwärtsbewegung  nur  2—3  Buchstaben  umfaßt,  während  sie  ein  ander- 
mal über  mehrere  Wörter  sich  ausdehnt  *).  Für  die  nach  links  gerich- 
teten Bewegungen  übrigens  scheint  es,  als  ob  sich  leichter  eine  gewisse 
Gleichheit  herauszubilden  vermöchte. 

Die  Zeitdauer  dieser  Bewegungen  wurde  von  verschiedenen  Forschem 
bestimmt.  Wir  haben  die  gefundenen  Resultate  in  Tabelle  I  zusammen- 
gestellt. 

Tabelle  1. 


Augenbewegung  nach  rechts 

Augenbewegung  nach  links 

Verfasser 

Aus- 
dehnung in 
Bogenmaß 

Zeitdauer 
in  jM' 

Mittlere 
Variation 
in  iihz" 

Ausdeh- 
nung in 
Bogenmaß 

Zeitdauer 

in  iM' 
(=  0) 

Mittlere 
Variation 
in  Wzz" 

Erdmann-Dodge .    . 

3,50—4,60 

20 

-- 

— 

50-60 

— 

Huey 

3046' 

43,9 

2,7 

120  12' 

57,9 

— 

Dodge-Cline»)     .    . 

20-70 

22,9 

4,61 

120—140 

40,7 

2,8 

Dearborn  .... 

— 

— 

9,80 

39 

— 

Sie  zeigt  zunächst  den  großen  Unterschied,  der  zwischen  den  Angaben 
Hueys  und  denjenigen  Erdmann  -  Dodges  und  Dodge-Clines  andrerseits 
besteht.  Hneys  Zeitbestimmung  ist  offenbar  unzutreffend.  Oben  haben  wir 
schon  erwähnt,  daß  die  ungewohnten  Leseumstände,  die  Bewegung  des 
mit  den  Augen  verbundenen  Hebelwerkes,  eine  Verzögerung  der  Zeiten 
herbeigeführt  haben  dürfte.  Richtiger  sind  vielleicht  die  auf  Grund 
sorgfältiger  Untersuchungen  gewonnenen  Resultate  Dodge-Clines,  der 
für  die  rechtsseitigen  Bewegungen  eine  durchschnittliche  Dauer  von 
22,9  6f  für  die  nach  links  gerichteten  von  40,7  6  fand.  Seine  Angaben 
stimmen  im  ersten  Teil  mit  den  Resultaten  Erdmann-Dodges,  im  zweiten 
Teil  aber  nahezu  mit  dem  von  Dearborn  gefundenen  "Werte  (39  6  für 
9,8«)  überein. 

1)  W.  F.  Dearborn,  The  Psychology  of  Reading.    Archives  of  Philosopby,  Psycbo- 
logy  and  Scientific  Methods.    New  York  1906. 

2)  Vergl.  Dearborn,  a.  a.  0.,  S.  78  Zeüe  5 ;  S.  79  Zeüe  12 ;  S.  81  ZeUe  6  etc.,  femer 
Huey,  a.  a.  0.,  I,  S.  290. 

3)  R.  Dodgc  and  Tb.  Cline,   The  Angle  Velocity  of  Eye  Movements.     Tbe  Psycb. 
Review  8,  1901,  S.  146  flf. 


—     177     — 

Die  Dauer  bleibt  für  die  verschiedenen  gleichgerichteten  Bogen 
nahezu  gleich ,  was  um  so  mehr  auffallen  muß ,  als  die  Bogen  selbst  in 
so  verschiedener  Grröße  erscheinen.  Huey^)  berichtet,  daß  bei  einer  ge- 
lesenen Stelle,  in  der  der  kürzeste  zum  breitesten  Interfixationsbogen 
sich  wie  7,5  zu  26  verhielt,  die  Zeiten  nur  im  Verhältnis  wie  6  zu  7 
schwankten.  Im  allgemeinen  dürfte  die  mittlere  Schwankung  kaum 
mehr  als  5 — 6  ^/o  betragen.  Damit  hängt  vielleicht  zusammen,  daß  die 
Versuchspersonen  auch  bei  schnellem  Lesen  kaum  imstande  sind,  die 
Zeit  für  die  Bewegung  zu  verkürzen.  Die  Zeitdauer  der  Bewegung, 
22,9  6,  ist  so  kurz ,  daß  eine  deutliche  Wahrnehmung  während  der  Be- 
wegung unmöglich  ist.  Eine  Wahrnehmung  aber  findet  immerhin  statt. 
Die  Untersuchungen  Dodges  ^)  haben  gezeigt ,  daß  das  Auge ,  wenn  es 
sich  über  das  Gesichtsfeld  hinbewegt,  verschwommene,  neutrale  Eindrücke 
der  gesehenen  Objekte  bekommen  kann.  Eine  auf  weißem  Felde  expo- 
nierte Druckzeile  erscheint  dem  vorüberziehenden  Auge  als  eine  Reihe 
nicht  unterscheidbarer  grauer  Striche ,  die  bei  hinreichender  Schnellig- 
keit dieser  Willkürbewegung  in  einen  grauen  Streifen  zusammenfließen. 
Beim  normalen  Lesen  können  wir  nun  allerdings  niemals  eine  ähnliche 
Erscheinung  beobachten,  niemals  erscheinen  uns  Buchstaben  verschwommen. 
Die  Ursache  dürfte  vielleicht  darin  zu  suchen  sein,  daß  wir  beim  Lesen 
unsere  Aufmerksamkeit  niemals  einer  ähnlichen  Erscheinung  zuwenden, 
zum  andern  aber  scheint  die  starke  INTachwirkung  des  Reizes  der  voraus- 
gegangenen Lesepause  und  die  Interfererenz  mit  den  intensiven  Reizen 
der  nachfolgenden  Fixation  die  an  und  für  sich  schwachen  Reize  wäh- 
rend der  Bewegung  des  Auges  vollkommen  zu  unterdrücken^). 

Es  erübrigt  uns  noch  zu  zeigen,  wem  das  Auge  bei  dieser  raschen 
Bewegung  die  richtige  Führung  verdankt.  Nach  Javal  bewegt  sich  die 
Blicklinie  in  der  oberen  Hälfte  der  mittelzeiligen  Buchstaben  ^).  Ob  die 
Behauptung  den  wirklichen  Verhältnissen  entspricht,  ist  unseres  Wissens 
nicht  weiter  nachgeprüft  worden.  Aber  sollten  selbst  kleine  Schwan- 
kungen nach  oben  und  unten  stattfinden,  so  muß  es  immerhin  auffallen, 
daß  es  dem  Auge  verhältnismäßig  leicht  fällt,  eine  genaue  Richtung  zu 
wahren.      Nach  Meumann^)    ist   diese   Sicherheit   im  indirekten   Sehen  ^) 

1)  Huey,  Americ.  Journ.  I,  S.  292.  The  forward  movement  of  the  eye  in  reading  are 
found  to  occupy  a  tolerably  constant  time,  almost  irrespective  of  the  arc  traversed. 

2)  B,.  Dodge,  Visual  Perception  during  Eye  Movemement.  The  Psych.  Review  7,  1900, 
S.  454  ff. 

3)  R.  Dodge,  Visual  Perception  etc.,  a.  a.  0.,  S.  465. 

4)  E.  Javal-F.  Haas,  a.  a.  0.,  S.  214. 

5)  E.  Meumann,  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik.  1907, 
S.  240.     Bd.  IL 

6)  „Man   versteht  unter  indirekten  Sehen  alles   dasjenige  Sehen,    bei  welchem  die 


—     178    — 

begründet,  wenigstens  hat  er  gefanden,  daß  Personen,  bei  denen  durch 
eine  geeignete  Brillenvorrichtang  das  indirekte  Sehen  vollkommen  aus- 
geschaltet war,  nur  unbeholfen  gelesen  und  fortwährend  die  Zeilen  ver- 
loren haben. 

2.  Die  zweite  G-rappe  von  Bewegungen  bilden  die  kleinen  rückläu- 
figen Bewegungen^).  Sie  erfolgen  stets  von  rechts  nach  links  und 
treten  ein,  wenn  das  Auge  einen  ungünstigen  Fixationspunkt  gewählt  hat, 
von  dem  aus  nicht  alle  Objekte  des  Lesefeldes  deutlich  erkannt  werden 
können.  Besonders  häufig  erscheinen  sie  nach  den  langen  Rückwärtsbe- 
wegungen  von  einer  Zeile  zur  andern,  also  am  Anfang  der  Linie.  Das  Auge 
unterschätzt  die  weite  Entfernung,  macht  den  Bogen  zu  klein  und  ist  nach 
kurzer  Rast  gezwungen  aufs  neue  „randwärts"  zu  wandern.  Diese  kleinen 
Bewegungen  erfolgen  in  der  Richtung  der  ersten,  ergänzen  und  ver- 
längern dieselben^).  Im  Innern  der  Zeile  wird  umgekehrt  die  Entfer- 
nung manchmal  überschätzt.  Jetzt  wird  der  Bogen  zu  groß  und  das 
Auge  muß  eine  kleine,  der  ursprünglichen  Richtung  entgegengesetzte 
Bewegung  vollführen. 

Auch  hier  wollen  wir  wieder  in  einer  Figur  die  wirklichen  Verhält- 
nisse darlegen.  Die  Beispiele  sind  den  Dearbomschen  Tabellen  ent- 
nommen und  geben  genau  die  Größe  der  Zeilen  und  die  Lage  der  Punkte 
wieder. 

Dearboni,  S.  76,  Z.  8  l-'-X^"^^^ X- X----| 

2  1  3  i 


ff 


\.  78,  Z.  14.        I-* X X X^^^ X--I 

1  2  3  Sie 


S.  76IB,  Z.  2         xx^ x-.-X*^^--—^^ X )f- 

12  SS  St  6  7 


Fig.  4. 

Die  mit  Zahlen  bezeichneten  Stellen  geben  die  neuen  Fixationen  an, 
während  die  Pfeile  die  Richtung  der  Rückwärtsbewegung  andeuten.  Wir 
sehen,  daß  diese  letzteren  oft  größer  als  die  nach  rechts  gerichteten  Inter- 
Eindrücke nicht  genau  im  Zentrum  der  Netzhaut,  auf  der  sog.  Zentralgrube,  sondern  aaf 
den  seitlichen  Partien  abgebildet  werden**.    Meumann,  a.  a.  0.,  S.  240. 

1)  Bearbeitet  nach  Dearborn,  a.  a.  0.,  S.  30  ff.  Wir  wollen  unter  „rOckl&ofigen  Be- 
wegungen**  die  kleinen  Korrekturbewegungen,  unter  „Rückwärtsbewegangen"  aber  die 
großen  Bewegungen  von  einer  Zeile  zur  anderen  verstehen. 

2)  Dearborn,  a.  a.  0.,  hat  die  ergänzenden  Bewegungen  am  Anfang  der  Zeile  Supple- 
mentärbewegungen (supplementary  movements)  und  die  riickläufigen  Bewegungen  im  Innern 
der  Reihe  Regressivbewegungen  (regressive  movements)  benannt. 


-     179     — 

fixationsbewegnngen  sein  können.  Vielleicht  könnte  man  aus  diesem 
Grrunde  auch  von  „nach  links  gerichteten  Interfixationsbewegungen" 
sprechen.  Die  kleinen  rückläufigen  Bewegungen  sind  keineswegs  gleich- 
mäßig über  das  Lesegebiet  verteilt.  Sie  erscheinen,  wie  wir  bereits 
erwähnt  haben,  sehr  häufig  am  Anfang  der  Linie.  Und  in  verschiedenen 
Leseabschnitten  sind  es  immer  wieder  die  ersten,  zuweilen  auch  noch 
die  zweiten  Zeilen,  welchen  prozentual  die  meisten  rückläufigen  Bewe- 
gungen zukommen. 

Von  großem  Einfluß  auf  die  Anzahl  dieser  Bewegungen  ist  die  Länge 
der  Zeilen.  Längere  Zeilen  haben  im  Verhältnis  mehr  rückläufige  Be- 
wegungen als  kurze.  Dearborn  hat  bei  einem  gelesenen  Abschnitte,  der 
aus  Zeilen  von  107  mm  Länge  bestand ,  gefunden ,  daß  im  Durchschnitt 
58  ^/o  aller  Linien  rückläufige  Bewegungen  zeigten,  während  für  die- 
selben Personen  in  einem  Abschnitte  von  56,5  mm  langen  Zeilen  nur  ca. 
16  %  der  Linien  rückläufige  Bewegungen  vermerkten.  Da  nun  diese 
rückläufigen  Bewegungen  die  Exaktheit  der  Vorwärtsbewegung  beein- 
trächtigen und  einen  verzögernden  Einfluß  auf  die  Schnelligkeit  der 
Wahrnehmung  ausüben,  so  darf  man  wohl  annehmen,  daß  kürzere  Linien 
leichter  und  schneller  zu  lesen  sind  als  längere. 

Auch  individuelle  Unterschiede  machen  sich  in  bezug  auf  die  rück- 
läufigen Bewegungen  geltend.  Doch  kommen  sie  mehr  bei  den  längeren 
als  bei  den  kürzeren  Zeilen  zum  Ausdruck. 

Um  die  Ursache  dieser  eigenartigen  Erscheinungen  zu  finden,  hat 
Dearborn  (34  und  35)  in  einem  Versuch  den  Lesestoff*  so  geordnet,  daß 
die  einzelnen  Zeilen  in  verschiedener  Länge  erschienen  und  mehr  oder 
weniger  über  den  Leserand  vorstießen.  Er  wollte  dabei  die  Rückwärts- 
bewegung ^)  des  Auges  in  verschiedener  Weise  variieren. 

Aus  diesem  Versuche  ging  hervor,  daß  die  ungünstige  Wahl  der 
Fixation  und  damit  die  rückläufige^)  Bewegung  in  erster  Linie  ihr 
Entstehen  der  undeutlichen  Wahrnehmung  zu  verdanken  haben.  Während 
das  Auge  an  einem  Punkte  weilt,  nimmt  es  zugleich  den  Rest  der  Zeile 
wahr.  Und  diese  Wahrnehmung  wird  um  so  undeutlicher,  die  lokale 
Unterscheidung  um  so  schwerer  und  demgemäß  die  Abschätzung  der 
Entfernung  um  so  unsicherer,  je  weiter  eine  Stelle  vom  Eixationspunkt 
entfernt  liegt.  Das  ist  nun  aber  besonders  für  den  Anfang  der  Zeile 
der  Fall,  wenn  das  Auge  auf  dem  letzten  Eixationspunkt  der  vorher- 
gehenden Zeile  weilt.  Darum  zeigen  gerade  die  Anfänge  der  Linien  die 
meisten  rückläufigen  Bewegungen,  darum  auch  begegnen  uns  diese  in 
langzeiligen  Texten  öfter  als  in  Texten  mit  kurzen  Linien.      Im  Innern 


1)  Siehe  die  Anmerkung  1,  S.  178.. 


^    180    — 

der  Zeile  beschreibt  das  Auge  nur  kleine  Bogen.  Darum  wird  die  neu 
zu  fixierende  Stelle  deutlicher  gesehen  und  falsche  Entfernungsschätzungen, 
ungünstige  Fixationswahlen,  kommen  seltener  vor. 

Ein  anderer  Faktor,  der  gleichfalls  eine  bedeutende  Rolle  spielt, 
liegt  in  der  Tendenz  eine  ein-  oder  zweimal  ausgeführte  Bewegung  auch 
für  die  Folge  in  derselben  Ausdehnung  beizubehalten.  Nach  großen 
weiten  Bewegungen  wollen  ebenso  große,  nach  kurzen  Bewegungen 
ebenso  kurze  folgen.  So  bilden  sich  für  das  Auge  Bewegungsgewohn- 
heiten, die  zuweilen  zu  falschen  Fixationen  und  damit  zu  rückläufigen 
Bewegungen  führen.  Vielleicht  ist  ein  Teil  der  rückläufigen  Bewegungen 
im  Innern  der  Zeile  diesen  Bewegungsimpulsen  zuzuschreiben. 

Die  große  Anzahl  der  rückläufigen  Bewegungen  am  Anfang  eines 
Textes  zeigt,  daß  die  Abschätzung  der  linearen  Entfernung  noch  un- 
sicher ist  und  daß  die  motorischen  Impulse  dem  neuen  Texte  noch  nicht 
angepaßt  sind. 

Wir  haben  oben  gehört,  daß  die  kürzeren  Zeilen  leichter  zu  lesen 
sind  als  die  langen  ^) ;  unter  Bezugnahme  auf  das  soeben  Gesagte  können 
wir  anfügen,  daß  diejenige  Textanordnung  die  beste  ist,  bei  der  die 
Zeilenlänge  durch  die  ganze  Stelle  hindurch  gleichbleibt.  Nur  so  stellt 
sich  eine  gewisse  Gleichmäßigkeit  der  Bewegung  ein,  die  namentlich 
beim  Übergang  von  einer  Zeile  zur  andern  eine  sichere  Fixation  er- 
leichtert. 

3.  Eine  dritte  Gruppe  von  Bewegungen  sind  die  sogenannten 
Schiebebewegungen  (shifting  movements).  Es  sind  dies  äußerst  lang- 
sam verlaufende  Änderungen  in  der  Lage  des  Fixationspunktes.  Nehmen 
wir  an ,   unser  Auge  schließe  eine  Interfixationsbewegung  bei  2  (Fig.  5). 

1 M 1 


fr^ 1 h^ 


Fig.  5. 

Nach  unseren  bisherigen  Erörterungen  sollten  wir  erwarten,  daß  für 
die  Dauer  der  Fixation  der  Blick  auf  diesem  Punkte  weilt  Das  ist 
auch  meistens  der  Fall.  Zuweilen  aber  kommt  es  vor,  daß  die  Blick- 
linie in  dieser  Zeit  eine  langsame  Bewegung  nach  rechts  Zeile  1  [ ))  oder 
nach  links  (Zeile  2  ( ])  vollführt,  um  dann  aufs  neue  wieder  in  eine  rasche 
Interfixationsbewegung  überzugehen.    Die  Geschwindigkeit  dieser  Schiebe- 


1)  S.  179,  Abschn.  2. 


—    181     — 

bewegung  ist  so  klein,  daß  eine  deutliche  Wahrnehmung  möglich  ist. 
Dearborn  hat  darum  die  „shifting  movements"  den  Fixationspausen  zu- 
gezählt ,  obwohl  sie  bisweilen  einen  Umfang  von  1 — 2  Interfixations- 
bewegungen  annehmen. 

Auffallend  ist  dabei  der  große  Unterschied,  der  sich  hinsichtlich 
dieser  Bewegungen  bei  den  verschiedenen  Personen  geltend  macht.  Es 
gibt  wohl  keinen  Leser,  bei  dem  sie  gänzlich  fehlen;  aber  während  sie 
bei  dem  einen  mir  selten  und  dann  mir  in  geringem  Umfange  sich  zeigen, 
sind  sie  bei  anderen  eine  ausgedehnte  Erscheinung.  Im  engsten  Zu- 
sammenhang damit  lassen  sich  noch  andere  Unterschiede  in  den  Augen- 
bewegungen erkennen,  sodaß  es  angängig  erscheinen  dürfte,  bei  den 
Lesern  nach  der  Art  der  Augenbewegungen  beim  Lesen  zwei  Typen 
zu  unterscheiden,  zwischen  denen  sich  allerdings  eine  Reihe  von  Über- 
gängen finden. 

Bei  Typus  I  sind  die  Augenbewegungen  schnell  und  präzis.  Während 
der  Fixation  kommt  das  Auge  auch  wirklich  zur  Ruhe,  so  daß  zwischen 
jedem  Haltepunkt  eine  scharfe  Bewegung  deutlich  erkennbar  ist.  Direkt 
umgekehrte  Erscheinungen  zeigt  Typus  IL  Seine  Augenbewegungen 
sind  weniger  exakt.  In  den  Fixationen  bleibt  das  Auge  nicht  immer 
still  auf  einen  Punkt  geheftet,  sondern  bewegt  sich  langsam  nach  rechts 
oder  langsam  nach  links  (shifting  movements).  Es  ist  bei  diesem  Typus 
darum  oft  schwer  zu  erkennen,  wo  die  eine  Interfixationsbewegung  auf- 
hört und  die  andere  anfängt. 


3.  Kapitel. 

Die  Fixationspausen. 

Die  Augenbewegungen  werden  unterbrochen  durch  die  Fixations- 
pausen, durch  Momente  also,  in  denen  das  Auge  fest  auf  einen  Punkt, 
den  sogen.  Fixationspunkt ,  gerichtet  ist.  Vollkommen  ruhig  allerdings 
bleibt  es  auch  dann  nicht.  Dodge^)  hat  gezeigt,  daß  das  ruhende, 
scheinbar  auf  einen  Punkt  geheftete  Auge  mannigfache,  unbewußte,  un- 
regelmäßige Bewegungen  ausführt.  Diese  aber  dürfen  durchaus  nicht 
mit  den  oben  erwähnten  rückläufigen  Bewegungen  und  den  Schiebebewe- 
gungen des  Blickpunktes  verwechselt  werden.  Sie  sind  sehr  klein,  werden 
rasch  vollzogen  und  scheinen  mit  der  Ermüdung  des  Auges  zu  wachsen  *). 
Zum  Teil  sind  diese  kleinen  Unregelmäßigkeiten  in  körperlichen  Zuständen 

1)  R.  Dodge,  An  Experimental  Study  of  Visual  Fixation.  The  Psych.  Review.  Mono- 
graph.  Suppl.  No.  35.  1907. 

2)  Vergl.  Kapitel  9. 


—     182    -~ 

begründet.  Pnlsschläge  und  Atemstöße  veranlassen  leichte  Bewegungen 
des  Kopfes,  die  eine  passive  Verschiebung  der  Augen  herbeiführen.  Nun 
werden  allerdings  diese  schwachen  Erschütterungen  durch  geeignete, 
nach  entgegengesetzter  Seite  gerichtete  Augenbewegungen  zum  Teil 
kompensiert.     Ganz  beseitigt  aber  werden  sie  nie. 

Eine  weitere  Ursache  solch  unwillkürlicher  Aagenbewegungen  dürfte 
in  der  Ermüdung  der  Netzhautelemente  zu  suchen  sein.  Bei  starrer 
Fixation  fällt  ein  Lichtpunkt  ständig  auf  ein  und  dasselbe  Netzhaut- 
element. Die  Ermüdung  desselben  aber  muß  eine  Abschwächung  des 
Eindruckes  bis  zum  Verschwinden  zur  Folge  haben.  Es  wäre  darum 
nicht  unmöglich,  daß,  um  die  Klarheit  der  Wahrnehmung  zu  wahren, 
der  Reiz  von  dem  ermüdeten  Netzhautelement  zum  benachbarten  nicht 
ermüdeten  überspränge  und  so  eine  leichte  Augenbewegung  hervorriefe  ^). 

Kann  sonach  auch  von  einer  absoluten  Euhe  der  Augen  nicht  die 
Rede  sein,  so  kann  man  immerhin  die  Momente,  in  denen  die  Blicklinie 
nur  diese  kleinen  Schwankungen  ausführt,  als  Momente  der  Ruhe,  als 
Ruhe-  oder  Fixationspausen  jenen  großen  nach  rechts  und  links  gerich- 
teten Bewegungen,  von  denen  im  vorigen  Kapitel  die  Rede  war,  gegen- 
überstellen. 

1.  Die  Zahl  der  Fixationspausen  pro  Zeile  ist  durchaus  ver- 
schieden. Im  allgemeinen  können  wir  sagen,  daß  auf  eine  Zeile  gewöhn- 
licher Länge  eines  leichtverständlichen  Textes  3—5  Ruhepausen  treffen; 
aber  auch  7,  8,  ja  sogar  9  Haltepunkte  sind  bisweilen  beobachtet  worden. 
Die  untere  Grenze  liegt  naturgemäß  bei  eins.  Die  Anzahl  wechselt  mit 
der  Leseübung.  Das  Kind  macht  im  allgemeinen  mehr  Haltepunkte  pro 
Zeile  als  der  Erwachsene,  der  ungeübte  Leser  mehr  als  der  geübte. 
Beide,  das  Kind  und  der  Ungeübte,  haften  mehr  an  der  optischen  Form 
der  Buchstaben  und  können  darum,  wie  später  klar  werden  wird*),  nur 
kleine  Gebiete  auf  einmal  bewältigen. 

Zum  andern  ist  die  Anzahl  der  Ruhepausen  abhängig  vom  Lesestoff*. 
Je  schwieriger  die  zu  lesende  Materie  ist,  um  so  mehr  Fixationen  ent- 
fallen auf  die  Zeile.  Und  umgekehrt  läßt  die  größere  Vertrautheit  mit 
der  Lesematerie  ein  deutliches  Abnehmen  der  Zahl  der  Ruhepausen  er- 
kennen. Damit  hängt  aufs  engste  zusammen,  daß  bei  fremdsprachlichen 
Texten  mehr  Fixationen  auftreten,  als  wenn  muttersprachliche  Abschnitte 
gelesen  werden. 

TjT)engröße  und  Leseentfemung  scheinen  keinen  großen  Einfloß  auf 
die  Anzahl  der  Lesepausen  auszuüben  ^).    Dagegen  macht  sich  eine  ganz 

1)  R.  Dodge.  Visual  Fixation  etc.,  a.  a.  0.,  S.  10. 

2)  Vgl.  den  übernächsten  Abschnitt  des  gleichen  Kapitels. 
8)  Vgl.  E.  Javal-F.  Haas,  a.  a.  0.,  S.  185—143. 


—    183     - 

bedeutende  Zunahme  geltend,  wenn  die  Aufmerksamkeit  des  Lesenden 
niclit  auf  den  Inhalt  des  Gelesenen,  sondern  auf  den  Bestand  der  Schrift- 
zeichen gerichtet  ist,  wie  dies  beim  Korrekturlesen,  beim  Entziffern  von 
Urkunden  etc.  der  Fall  ist.  Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  über 
die  Zahl  der  Fixationspunkte  wollen  wir  an  der  Hand  der  Dearbomschen 
Abhandlung  die  Verteilung  der  Ruhepausen  auf  die  einzelnen  Linien 
und  die  Bedingungen  ihrer  wechselnden  Zahl  genauer  verfolgen.  Wir 
geben  zunächst  (S.  16)  eine  Tabelle,  welche  die  Anzahl  der  Ruhepausen 
für  die  aufeinanderfolgenden  Zeilen  eines  leichtverständlichen  Textes 
darstellt. 

Die  Angaben  in  dieser  Tabelle  beziehen  sich  auf  vier  Personen,  von 
denen  H  und  T  schnelle,  S  und  M  aber  langsame  Leser  sind.  Fürs 
erste  läßt  sich  ersehen,  daß  die  schnellen  Leser  für  eine  Zeile  weniger 
Fixationen  benötigen  als  die  langsamen.  Die  durchschnittliche  Zahl  der 
Haltestellen  beträgt  für  sie,  wenn  wir  die  2.  Lesung  in  Betracht  ziehen, 
nur  3,9  bez.  3,7,  während  sie  bei  den  langsamen  Lesern  auf  5,5—6  bez. 
6,1  für  eine  Zeile  ansteigt.  Aber  auch  ein  anderer  Unterschied  macht 
sich  zwischen  diesen  beiden  Gruppen  von  Lesern  geltend.  H  und  ebenso 
auch  T  lesen  die  einzelnen  Zeilen  fast  mit  der  gleichen  Pausenzahl,  für 
mehrere  Reihen  bleibt  die  Anzahl  der  Fixationen  konstant.  Dadurch 
kommt  eine  gewisse  rhythmische  Gliederung  in  die  Bewegung,  die  wir 
bei  S  und  M  nicht  finden.  Bei  ihnen  wird  umgekehrt  fast  jede  Zeile  in 
anderer  Weise  geteilt. 

Läßt  man  den  einmal  gelesenen  Text  des  öftern  lesen,  so  wird  die 
Zahl  der  auf  ihn  entfallenden  Pausen  geringer  und  eine  größere  Präzi- 
sität  und  Exaktheit  der  Bewegung  tritt  ein.  So  stellte  sich  bei  der 
oben  angegebenen  Versuchsperson  S  die  mittlere  Durchschnittszahl  der 
Pausen  pro  Zeile  in  der  15.  Lesung  auf  3,4,  während  sie  in  der  ersten 
Lesung  5,4  betrug.  Ein  ähnlicher  Unterschied  ist  bei  H  für  die  erste 
und  zweite  Lesung  erkennbar.  Immerhin  scheint  es,  als  ob  die  Vorteile 
der  Wiederholung  sich  mehr  bei  den  langsamen  Lesern  geltend  machten. 

Auch  mit  der  Verlängerung  und  Verkürzung  der  Zeilen  tritt  eine 
Änderung  in  der  Zahl  der  Fixationen  ein.  Schon  Huey  und  Erdmann- 
Dodge  haben  darauf  hingewiesen.  Aus  den  von  diesen  Männern  ge- 
wonnenen Angaben,  die  wir  in  Tabelle  III  zusammengestellt  haben,  läßt 
sich  ersehen,  daß  mit  der  Verkürzung  der  Zeilen  wohl  eine  Verminderung 
der  Pausen  eintritt,  daß  aber  für  gleiche  lineare  Strecken  die  kürzeren 
Zeilen  mehr  Pausen  besitzen  als  die  längeren. 


—    184 


TabeUe  IV). 

Zahl 

der 

Worte 

pro 

ZeUe 

Schnelle  Leser 

Langsame  Leser 

Zeilen 

Versuchsperson 

Versuchsperson 
T 

Versuchsperson 

S 

Versuchsperson 
M 

1. 
Lesung 

2. 
Lesung 

1.           2. 
Lesung  Lesung 

Lesung 

2. 
Lesung 

1. 
Lesung 

2. 
Lesung 

1 

6 

7 

4 

— 

4 

5 

4 

9 

8 

2 

8 

6 

4 

— 

3 

5 

8 

6 

5 

3 

9 

6 

4 

3 

5 

5—6 

6-7 

9 

8 

4 

8 

6 

4 

4 

5 

8-9 

7 

7 

7 

6 

8 

6 

4 

4 

4 

4 

5 

7 

7 

6 

7 

— 

6 

3 

5 

5—6 

6 

7 

7 

6 

4 

— 

— 

4 

5 

4 

6 

5 

8 

4,5 

4 

4 

— 

3 

— 

5—7 

-             5 

9 

7,5 

— 

4 

4 

4 

— 

6 

— 

4 

10 

8 

— 

4 

4 

4 

— 

— 

— 

6 

11, 

6 

— 

5 

4 

4 

— 

— 

— 

— 

12 

9 

— 

5 

3 

4 

— 

— 

— 

— 

13 

8 

— 

4 

3 

4 

— 

— 

— 

— 

14 

6,5 

— 

4 

3 

3 

— 

— 

— 

— 

16 

8 

— 

2 

3 

- 

— 

— 

— 

16 

8,5 

— 

— 

3 

- 

— 

— 

— 

17 

6 

— 

— 

4 

- 

— 

— 

— 

18 

8 

— 

— 

4 

— 

— 

— 

— 

19 

7 

- 

— 

3 

— 

— 

— 

— 

20 

7 

1     " 

— 

3 

— 

— 

— 

— 

Durch- 
schnitt 

7.1 

r,,4 

3,9 

3,8 

3,7 

|6,3— 5,G 

5,5-6 

1 

7.1 

6,1 

1)  Dearbom,  a.  a.  0..  S.  27. 


—    185    — 
Tabelle  III. 


Verfasser 

Ver- 
suchs- 
person 

Lesestoff 

Zeilenlänge 
in  cm 

Zahl  der 
Fixationen 

Zahl  der 
Fixationen 

für  eine 
Zeilenstrecke 
von  100  cm 

Erdmann-Dodge 

Dt 

Helmholtz,  Optik 

12,2 

^> 

46  7 

E 

»              » 

12,2 

Huey 

Hu 
Ho 

Am.  Journal  of  Psych. 

V             n            n          r) 

9,8 
9,8 

Z\'- 

48,4 

Erdmann-Dodge 

D 

Locke,  Essay 

8,3 

4 

48,2 

Huey 

X 

Cosmopolitan  Magazin 

6,05 

3,6 

59,5 

Y 
Z 

Newspaper 

5,2 

5,2 

3,8 

69,2 

Nun  aber  dürfen  wir  dieser  Tabelle  nicht  allzu  große  Bedeutung  bei- 
legen, weil  zu  einer  richtigen  Vergleichung  die  notwendigen  Vorbe- 
dingungen, gleicher  Stoff,  gleicher  Druck,  gleiche  Personen  etc.  fehlen. 
Dearborn  hat  dieser  Frage  ein  längeres  Kapitel  gewidmet.  Er  fand, 
daß  ein  und  derselbe  Lesestoff  für  ein  und  dieselbe  Person  mehr  Fixa- 
tionen benötigt,  wenn  er  in  kurzen,  als  wenn  er  in  langen  Zeilen  gedruckt 
ist.     Zur  Illustration  seiner  Behauptung  führt  er  folgende  Tabelle  an^). 


Tabelle  IV. 

Länge  der  Zeilen 
in  mm 

Verhältnis 

der  langen 

zu  den 

kurzen  Zeilen 

Zahl  der  Fixationen 

Bemerkungen 

I 

II 

I 

II 

179—190 
179—190 

86-98 
86—98 

1    -^ 

40 
44 

47 
50 

I  =  lange     „  „ 
-_        1             Zeilen 
II  =  kurze) 

179—183 

97—106 

5:3 

35 

46 

179—183 

97—106 

41 

47 

113,5 

87,5 

IVa:! 

51 

53 

Die  von  Dearborn  gewonnenen  Ergebnisse  stimmen  sonach  mit  den 
in  Tabelle  III  dargestellten  überein.  Es  fragt  sich  nur,  wie  diese  ver- 
hältnismäßige Zunahme   der  Fixationen  mit   der  Verkürzung  der  Zeilen 


1)  Dearborn,  a.  a.  0.,  S.  107. 
Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band. 


13 


—    186    — 

zu  erklären  ist.  Im  nachfolgenden  Kapitel  werden  wir  hören,  daß  das 
Lesefeld,  also  die  Anzahl  der  Buchstaben,  die  man  während  einer  Fixation 
erkennen  kann,  am  Anfang  und  am  Ende  der  Zeile  vielfach  verkürzt 
erscheint,  weil  der  Fixationspunkt  zu  nahe  an  den  Rand  der  Zeile  rückt. 
Am  Anfang  der  Linie  ist  es  die  linke,  am  Ende  die  rechte  Hälfte  des 
Feldes,  der  dieser  Abbruch  geschieht.  Nun  bietet,  wie  leicht  einzusehen 
ist,  gerade  ein  kurzzeiliger  Text  einer  Verkürzung  des  Feldes  besondere 
Chancen,  eben  weil  er  in  einer  größeren  Zahl  von  Reihen  erscheint,  weil 
Anfang  und  Ende  bei  ihm  häufiger  auftreten.  Je  größer  nun  in  einem 
Texte  die  Anzahl  der  verkürzten  Lesefelder  ist,  um  so  größer  muß  natur- 
gemäß auch  die  Zahl  der  Fixationen  sein.  Schon  Lamare  hat  diese  Er- 
scheinung beobachtet  und  ihr  eine  ähnliche  Deutung  gegeben^). 

2.  Für  die  Dauer  der  Fixationspausen  lassen  sich  schwer 
einheitliche  Zahlen  geben.  Sie  sind  nach  den  einzelnen  Personen  ver- 
schieden. Nach  Erdmann-Dodge  ^)  beträgt  die  durchschnittliche  Dauer 
für  drei  Versuchspersonen  226  bez.  374  und  387  6,  Huey  hat  für  zwei 
Personen  183  bez.  290,9  6  gefunden.  Nach  Dearborn  steht  die  Dauer 
der  Fixationspausen  im  engsten  Zusammenhang  mit  der  Lesegeschwin- 
digkeit. So  stellt  sich  für  die  in  Tabelle  II  S.  184  erwähnten  Versuchs- 
personen T,  H,  S  und  F,  von  denen  die  beiden  ersten  schnelle,  die  beiden 
letzten  aber  langsame  Leser  sind,  die  mittlere  Dauer  der  Fixationen  in 
folgenden  Zahlen  dar:  T  =  160,82  <y;  H  =  216  s;  S  =  255,5  ö  und 
F  =  401,9  6,  Mit  der  Schwierigkeit  und  Unbekanntheit  der  Materie 
nimmt  naturgemäß  auch  die  Dauer  der  Pausen  zn.  Und  ebenso  ändern 
sich  die  Werte  mit  der  Zeilenlänge.  Daß  kleinere  Zeilen  im  allgemeinen 
auch  kürzere  Pausen  haben,  durfte  wohl  erwartet  werden,  nachdem  wir 
oben  erwähnten,  daß  mit  der  Verkürzung  der  Zeilen  eine  relative  Meh- 
rung der  Pausen  sich  einstellt.  Aber  auch  für  die  Gesamtheit  der  Pausen 
eines  bestimmten  Textes  läßt  sich  mit  der  Verkürzung  der  Reihen  viel- 
fach eine  Verkürzung  der  Gesamtlesedauer  erkennen. 

Interessant  ist  die  Verteilung  der  Lesezeiten  in  den  einzelnen  Zeilen. 


1)  E.  Javal-F.  Haas,  a.  a.  0.,  S.  139 :  „ZeUen  von  verschiedener  Länge  werden  mit 
derselben  Zahl  von  Abschnitten  gelesen:  ein  Abschnitt  nimmt  daher  nicht  immer  den- 
selben Raum  ein.  In  dem  Augenblicke,  wo  der  Abschnitt  eine  gewisse  Größe  erreicht, 
hat  das  Auge  das  Bestreben,  auf  die  Zeile  einen  Abschnitt  mehr  zu  machen  and  folglich 
die  Länge  der  Abschnitte  so  zu  verkleinern,  daß  er  nicht  mehr  als  12  bis  13,6  mm  beträgt. 
Außerdem  ergeben  die  Zeilen,  je  länger  sie  sind,  um  so  weniger  leicht  neue  Abschnitte, 
indem  diese  dann  um  so  leichter  die  maximalen  Größen  einzunehmen  geneigt  sind". 

2)  Erdmann-Dodge,  a.  a.  0.,  8.  67.  Diese  drei  Zahlen  sind  aus  den  von  Erdmann- 
Dodge  für  die  Gesamtpausen  einer  Zeüe  beim  Lesen  eines  ungeläufigen  muttersprachlichen 
Textes  gegebenen  Zahlen  berechnet. 


—    187    — 

Die  erste  Pause  ist  gewöhnlich  am  längsten.  In  vollem  Umfange  aller- 
dings gilt  dies  nur  für  die  schnellen  Leser  und  wiederum  nur  für  kür- 
zere Zeilen.  Bei  langsamen  Lesern  wechseln  längere  und  kürzere  Pausen 
in  mehr  unregelmäßiger  Weise  ab.  Und  auch  bei  langen  Zeilen  scheint 
ebenso  eine  gewisse  Regellosigkeit  zu  bestehen.  Indes  auch  hier  trifft 
der  Schwerpunkt  vielfach  auf  den  Anfang  der  Zeile,  wenn  wir  die 
Doppelpausen  (nahe  zusammenfallende  Pausen)  und  ebenso  die  Fixationen 
und  Eefixationen  (die  Pause  nach  einer  rückläufigen  Bewegung)  als 
eine  Pause  betrachten.  Die  Ursache  dieser  eigenartigen  Erscheinung 
liegt  wohl  darin,  daß  das  Auge  am  Anfang  der  Zeile  eine  allgemeine 
Übersicht  über  die  ganze  Zeile  gewinnt,  was  bei  den  folgenden  Fixationen 
nicht  mehr  in  gleichem  Umfange  notwendig  erscheint.  Eine  solche  Über- 
sicht aber  läßt  sich  für  kleinere  Zeilen  leichter  gewinnen  als  für  längere, 
die  durch  ihre  Ausdehnung  eine  peripherische  Wahrnehmung  weniger 
deutlich  hervortreten  lassen.  Daß  für  schnelle  Leser  diese  Übersicht 
leichter  zu  nehmen  ist  als  für  langsame,  hängt  wohl  damit  zusammen, 
daß  jene  einen  größeren  Aufmerksamkeitsumfang  besitzen  als  diese. 

Ein  zweiter  Höhepunkt  in  der  Zeitdauer  der  Pausen  tritt  vielfach 
am  Ende  der  Zeile  ein.  Auch  diese  Erscheinung  ist  insbesondere  bei 
schnellen  Lesern  und  für  kurze  Zeilen  zu  beobachten.  Sie  zeigt,  daß 
für  das  Ende  der  Zeile  die  zuerst  gewonnene  allgemeine  Übersicht  nur 
oberflächlich  erreicht  wurde. 

Ein  ähnlicher  Unterschied,  wie  wir  ihn  hier  für  verschiedene  Per- 
sonen fanden,  läßt  sich  auch  bei  einzelnen  Personen  erkennen,  wenn  wir 
vom  normalen  zum  schnellen  Lesen  übergehen.  Die  Gesamtdauer  der 
Pausen  wird  kleiner,  aber  die  Verkürzung  ist  nicht  gleichmäßig  über 
die  Zeile  verteilt.  Am  meisten  ist  sie  in  der  letzten  Hälfte  bemerkbar; 
für  die  erste  Pause  aber  tritt  vielfach  eine  leichte  Vergrößerung  ein. 
Aus  allem  aber  folgt,  daß  ähnlich  wie  in  der  Verteilung  der  Pausen 
auch  in  der  Verteilung  der  Zeiten  eine  gewisse  Rhythmik  beim  Lesen 
hervortritt.  Sie  wird  am  klarsten  bei  schnellen  Lesern  und  beim  Lesen 
von  kürzeren  Zeilen  erkannt  und  besteht  darin,  daß  auf  eine  große  Pause 
am  Anfang,  kleinere  Pausen  in  der  Mitte  und  wiederum  größere  Pausen 
am  Ende  der  Zeilen  folgen. 

3.  Es  erübrigt  uns  noch  mit  einigen  Worten  auf  die  Lage  des 
Fixationspunktes  einzugehen,  hauptsächlich  deshalb,  weil  er  den 
Punkt  bildet,  um  welchen  beim  Lesen  die  Aufmerksamkeit  sich  verteilt. 
Allgemeine  Gesetze  lassen  sich  hier  allerdings  nicht  geben.  Die  Fixation 
hängt  aufs  engste  mit  dem  Apperzeptionsumfang  zusammen.  Ist  das 
Gebiet,  das  wir  auf  einmal  zu  lesen  vermögen  groß,  so  rücken  die 
Fixationen  weit  auseinander ,    werden  aus   irgend   einem  Grunde  kleine 

13* 


—    188     - 

Leseumfänge  nötig,  so  kommen  sich  naturgemäß  die  Fixationen  nahe. 
So  kommt  es,  daß  die  Fixationspunkte  sich  vollkommen  regellos  über  die 
Wort-  und  Satzgebiete  verteilen.  Dodge  *)  hat  mit  Hilfe  der  Nachbilder- 
methode gezeigt,  daß  in  aufeinander  folgenden  Expositionen  der  Fixations- 
punkt  jedesmal  auf  einen  andern  Wortteil  fällt.  Als  Beispiele  mögen 
folgende  Worte  angegeben  werden. 

1  I  2 

plojpililar,   th(l)|ug|hts ;   paj|5es|th|at  foUow. 

8  2  3  2      d      1 

Die  Zahlen  und  Striche  geben  die  Fixationspunkte  in  drei  aufeinander- 
folgenden Expositionen  an.  Für  zusammenhängende  Texte  hat  Dearborn 
gezeigt,  daß  bei  wiederholten  Lesungen  und  ebenso  wenn  Wörter  in 
einer  andern  Verbindung  auftreten,  die  Lage  des  Fixationspunktes  sich 
ändert.  So  hatte,  um  auch  hier  einige  Beispiele  zu  erwähnen,  das  Wort 
Ad|miralty  einmal  nur  eine,  ein  andermal  für  dieselbe  Person  aber  zwei 
Fixationen  (Adm|iralt|y).  Und  ähnlich  verhielt  sich  das  Wort  Evolutio- 
nary,  das  im  gleichen  Text  von  derselben  Person  mit  folgenden  Fixationen 
gelesen  wurde. 

1)  |Evolu|tiona|ry.    2)  Evolutionar|y.    3)  evolultionary*). 

2  8  1 

Indes  auch  hier  lassen  sich  einige  charakteristische  Merkmale  er- 
kennen. Zunächst  fand  man,  daß  die  Anfangs-  und  Endfixation  fast 
immer  im  Innern  der  Zeile  liegen  und  daß  diese  innere  Abweichung  am 
Anfang  der  Zeile  größer  als  am  Ende  ist. 

Zum  andern  hat  man  bemerkt,  daß  kleinere  Worte,  Konjunktionen, 
Adverbien,  Präpositionen  etc.  oder,  allgemein  gesagt,  Worte,  die  sich 
nicht  leicht  zu  einer  Einheit  zusammenschließen  lassen,  die  Fixationen 
anziehen.  Es  dürfte  dies  wohl  darauf  zurückzuführen  sein,  daß  sie  in- 
folge ihrer  mehr  isolierten  Stellung  eine  deutlichere  Wahrnehmung  ver- 
langen. Auch  die  Interpunktionszeichen,  die  Lücken,  die  sich  zwischen 
den  Wörtern  finden,  scheinen  für  die  Augenbewegung  gewisse  Hinder- 
nisse zu  bieten,  so  daß  die  Bewegung  öfters  an  ihnen  abbricht  und  eine 
Fixation  einsetzt. 

Innerhalb  kleiner  Grenzen  endlich  haben  sicherlich  auch  die  domi- 
nierenden Buchstaben  einen  gewissen  Einfluß.  Sie  drängen  sich  zur 
Wahrnehmung  und  ziehen  so  die  Aufmerksamkeit  auf  sich. 


1)  Dodge,  Visual  Fixation,  a.  a.  0.,  S.  32. 

2)  Dearborn,  a.  a.  0.,  6.  81. 


-    189 


4.  Kapitel. 
Über  Lesefeld,  Lesetypen  und  die  Bedeutung  der  Zeilenlänge. 

Unter  Lesefeld  verstehen  wir  die  Anzahl  der  Buchstaben  und  Wörter, 
die  man  während  einer  Fixationspause  zu.  erkennen  imstande  ist.  Die 
durchschnittliche  Grröße  desselben  wird  annähernd  erhalten,  wenn  man 
die  Länge  der  Zeilen  oder  die  Zahl  der  anf  sie  entfallenden  Worte  durch 
die  Anzahl  der  Fixationen  teilt.  Nach  den  Berechnungen  Erdmann- 
Dodges  beträgt  sie  2,44  cm  oder  13  Buchstaben.  Dearborn  hat  gefunden, 
daß  seine  Personen  im  Durchschnitt  1,68  Worte  pro  Fixation  zu  lesen 
vermochten.  Vollkommen  richtig  ist  allerdings  diese  Abgrenzung  nicht, 
weil  am  Anfang  und  am  Ende  der  Zeile  der  Fixationspunkt  so  häufig 
an  den  Eand  der  Linie  rückt,  daß  nur  ein  Bruchstück  des  Feldes  für 
eine  solche  erste  oder  letzte  Fixation  vorhanden  ist.  Die  Angaben 
bleiben  darum  immer  etwas  hinter  den  wirklichen  Grrößen  zurück. 

Wie  das  Lesefeld  sich  in  den  aufeinander  folgenden  Lesungen  und 
mit  der  Verkürzung  der  Zeilen  ändert,  möge  die  nachfolgende  Tabelle 
zeigen. 

Tabelle  V^). 


Versuchs- 

1.  Anzahl  der  ge- 
lesenen Wörter  für 
schnelle  und  lang- 
same Leser. 

(Lange  Zeüen) 

2.  Anzahl  der  gelesenen 
Wörter  bei  der 

3.  Anzahl  der  gele- 
senen Wörter  in  der 

personen 

1. 
Lesung 

2.                 3. 
Lesung       Lesung 

langen 
Zeile 

kurzen 
ZeUe 

Schnelle  Leser 

H 

1,2 

1,9 

2,1 

2,3 

1,2 

T.  Exakte  Augen- 
bewegungen 

[             1,9 

1,9 

1,9 

1,9 

1,5 

1,9 

Langrsame  Leser 

S 

F.  Exakte  Augen- 
bewegungen 

1             1,25 

1,35 

1,25 
1,4 

[2,1] 
15.  Lesung 

1,4 
1,09 

1,35 

1,57 

1,48 

1,74 

2 

1,57 

1,46 

1)  Zusammengestellt  aus  den  Angaben  Dearborns  S.  25  u.  26. 


—    190    — 

Aus  ihr  geht  zunächst  hervor,  daß  die  schnellen  Leser  ein  größeres 
Gebiet  umspannen  als  die  langsamen  und  daß  das  Lesefeld  sich  mit  den 
aufeinander  folgenden  Lesungen  erweitert  (1,48  bez.  1,74  und  2).  Für 
die  einzelnen  Personen  kommt  diese  Erweiterung  nicht  immer  klar  zum 
Ausdruck.  So  nimmt  das  Lesefeld  bei  H  rasch  zu,  bleibt  aber  für  die 
folgende  Lesung  nahezu  gleich.  Bei  S  zeigt  es  erst  in  der  15.  Lesung 
einen  merklichen  Zuwachs,  und  für  T  läßt  es  keinerlei  Veränderung  er- 
kennen. 

Beachtenswert  sind  die  Zahlen  unter  3.  Sie  zeigen,  daß  mit  der 
Verkürzung  der  Zeilen  im  allgemeinen  eine  Einschränkung  des  Lese- 
feldes verbunden  ist  (1,57 — 1,46),  daß  aber  die  einzelnen  Personen  sich 
nicht  immer  in  ähnlicher  Weise  verhalten.  Es  ist  vielleicht  kein  Zufall, 
daß  bei  T  und  F,  welche  beide  eine  exakte  Augenbewegung  zeigen,  das 
Lesefeld  mit  der  Verkürzung  der  Zeilen  zunimmt,  während  es  bei  H 
und  S,  welche  mehr  unexakte  Bewegungen  ausführen,  abnimmt. 

Daß  ferner  die  Größe  des  Lesefeldes  auch  mit  schwierigen  Texten 
abnimmt,  daß  es  bei  fremdsprachlichen  Stoffen  kleiner  als  bei  mutter- 
sprachlichen ist,  braucht  wohl  nach  dem  Gesagten  nicht  weiter  betont 
zu  werden. 

Noch  wichtig  ist  aber  die  Frage,  welchen  Einfluß  Wörter  und  Buch- 
staben auf  die  Ausdehnung  des  Lesefeldes  ausüben.  Huey  und  Dearbom 
haben  darüber  Untersuchungen  angestellt.  Sie  haben  einmal  gefunden, 
daß  schwierige  und  unbekannte  Wörter  das  Lesefeld  einengen.  Und 
ähnlich  wirken  auch  die  kleinen  Wörter,  die  Präpositionen,  Konjunktionen, 
Pronomen  etc. ,  wenn  sie  in  größerer  Zahl  sich  häufen.  Die  Ursache 
ist  klar.  Alle  diese  Wörtchen  haben  keine  engere  assoziative  Verbin- 
dung, sie  stehen  mehr  isoliert  nebeneinander  und  verlangen  demgemäß 
eine  genauere  Wahrnehmung.  Auch  die  Interpunktionszeichen  scheinen 
hemmend  auf  die  Ausdehnung  des  Lesefeldes  zu  wirken.  Li  bezug  auf 
die  Buchstaben  bemerken  Erdmann  -  Dodge ,  „daß  die  kleinen  innerhalb 
der  Zeile  verbleibenden  Buchstaben  deutlich  einschränkend  wirken,  wäh- 
rend große  Anfangsbuchstaben  oder  Buchstaben,  die  über  die  Zeüe 
hinausragen,  die  Felder  vergrößern  helfen^). 

Zum  Schlüsse  möge  noch  erwähnt  werden,  daß  der  Fixationspunkt 
das  Lesefeld  in  zwei  ungleiche  Teile  zerlegt.  Der  Unterschied  zwischen 
beiden  ist  oft  beträchtlich^). 


1)  Krdmann-Dodge,  a.  a.  0.,  S.  82  haben  diese  Bemerkung  mit  Bezug  auf  die  Blick- 
felder (Gebiete  des  deutlichen  Wabrnehmens)  geschrieben.  Sie  dürften  aber  auch  für  die 
Lesefelder  Geltung  haben. 

2)  Näheres  darüber  bei  Huey  I,  a.  a.  0.,  S.  SOG. 


—    191    — 

Es  dürfte  sich  zum  Schluß  empfehlen,  die  zerstreuten  Bemerkungen 
über  individuelle  Unterschiede  beim  Lesen  und  über  den  Einfluß  der 
Zeilenlänge  auf  die  Geschwindigkeit  des  Lesens  nochmals  im  Zusammen- 
hange darzustellen. 

1.  Wir  unterscheiden  zunächst  rasche  und  langsame  Leser.  „Der  rasche 
Leser  liest  sowohl  sinnloses  wie  sinnvolles  Material  viel  schneller  als 
der  langsame  und  erfaßt  auch  den  Sinn  des  Gelesenen  schneller"  ^).  So- 
viel im  allgemeinen.  Im  einzelnen  läßt  sich  ein  vierfacher  Unterschied 
zwischen  beiden  Typen  erkennen. 

a)  Der  schnelle  Leser  vermag  ein  größeres  Gebiet  auf  einmal  zu 
umspannen;  sein  Aufmerksamkeitsumfang  ist  groß.  Darum  ist  die  Zahl 
der  Fixationspausen  pro  Zeile  verhältnismäßig  klein,  und  die  Anfangs- 
und Endfixationen  bleiben  stets  eine  kleine  Strecke  vom  Rande  entfernt. 
Beim  langsamen  Leser  machen  sich  genau  die  gegenteiligen  Erschei- 
nungen geltend.  Er  besitzt  nur  einen  kleinen  Aufmerksamkeitsumfang, 
so  daß  er  für  die  Zeile  eine  größere  Zahl  von  Fixationen  benötigt.  An- 
fangs- und  Endfixati on    treten  bei   ihm  näher   an   den  Zeilenrand  heran. 

b)  Die  durchschnittliche  Dauer  der  Ruhepausen  ist  für  den  schnellen 
Leser  kürzer  als  für  den  langsamen. 

c)  Beim  schnellen  Leser  bildet  sich  leicht  eine  gewisse  Rhythmik  in 
der  Bewegung  der  Augen.  Er  liest  die  aufeinander  folgenden  Zeilen 
annähernd  mit  der  gleichen  Pausenzahl  und  verteilt  die  für  die  Zeile 
notwendige  Lesezeit  in  der  Weise,  daß  auf  eine  lange  Initialpause  zwei 
oder  drei  kleinere  und  am  Ende  wiederum  längere  Pausen  folgen.  Auch 
hierin  zeigt  sich  der  langsame  Leser  wiederum  verschieden.  Die  Zahl 
der  Pausen  variiert  für  eine  Reihe  von  Zeilen  in  weiteren  Grenzen,  und 
längere  und  kürzere  Pausen  wechseln  in  mehr  unregelmäßiger  Weise  ab. 

d)  Auf  einen  vierten  Unterschied  endlich  kommen  wir  in  Kapitel  9 
zu  sprechen.  Er  besteht  darin,  daß  der  schnelle  Leser  mehr  in  Wort- 
bildern liest,  während  beim  langsamen  Leser  der  Wortteil,  die  Wortsilbe 
vielfach  die  Einheit  bildet. 

2.  Im  Verlaufe  unserer  Darstellung  sind  wir  des  öftern  auf  die 
Bedeutung  der  Zeilenlänge  für  schnelles  und  langsames  Lesen  gekommen. 
Allgemein  haben  wir  gehört,  daß  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  kleinere 
Zeilen  leichter  und  schneller  gelesen  werden  können  als  lange.  Dieser 
Vorteil  ist  im  folgenden  begründet. 

a)  Kleinere  Zeilen  ermöglichen  leicht  die  Bildung  rhythmischer  Be- 
w^egungen,  welche  darin  besteht,  daß  die  aufeinander  folgenden  Zeilen  in 
annähernd   der   gleichen  Pausenzahl   gelesen   werden   und   daß   die  Zeit- 


1)  Meumann,  a.  a.  0.,  S.  250, 


—     192    — 

dauer  für  die  Anfangspause  groß,  für  die  mittelzeiligen  Pausen  geringer 
und  für  die  Endpausen  wiederum  größer  ist. 

b)  Kleinere  Zeilen  lassen  wenig  Unregelmäßigkeiten  in  den  Augen- 
bewegungen erkennen.  Rückläufige  Bewegungen  sind  seltener  als  in  den 
längeren  Linien,  und  "Worte ,  welche  in  benachbarten  Zeilen  zuweilen 
gesehen  werden,  vermögen  nicht  wie  in  langen  Zeilen  den  Fortgang  des 
Gedankens  zu  stören. 

c)  Und  drittens  hat  Dearbom  nachgewiesen,  daß  Ermüdungserschei- 
nungen sich  weniger  bei  kurzen  als  bei  langen  Zeilen  zeigen.  Er  maß 
für  lange  und  kurze  Zeilen  die  Dauer  der  1.,  2.,  3.  etc.  Rückwärtsbe- 
wegung von  einer  Zeile  zur  andern.  Dabei  fand  er,  daß  bei  den  langen 
Zeilen  die  Dauer  der  Rückwärtsbewegung  mit  jeder  folgenden  Zeile  zu- 
nahm, eine  Erscheinung,  die  sich  bei  kurzen  Zeilen  nicht  beobachten  ließ. 


IL  Abschnitt. 

Die  psychologische  Analyse  des  Lesevorgangs. 
(Innerer  Leseakt). 


A.   Tachistoskopische  Methode. 

5.  Kapitel. 
Allgemeines  (Methode  und  Apparate). 

Die  tachistoskopischen  Untersuchungen  gehen  von  sehr  kleinen  Ex- 
positionszeiten aus.  Gewöhnlich  wird  das  Leseobjekt  nur  10  oder  100  tf 
(Itf  =  ^")  dargeboten.  Der  Leseakt  wird  auf  diese  Weise  unter- 
brochen, in  einzelne  Teile  aufgelöst  und  läßt  sich  in  seinem  Verlaufe 
leicht  verfolgen. 

Zur  Ausfuhr ung  dieser  Versuche  bedient  man  sich  gewöhnlich  des 
Tachistoskops.  Dasselbe  kommt  in  mehreren  Formen  vor.  Cattel,  Erdmann- 
Dodge,  Zeitler,  Meumann  und  Messmer  gebrauchten  das  Falltachistoskop, 
das  folgende  Einrichtung  zeigt.  Zwischen  zwei  senkrechten  Messingsäulen, 
die  auf  den  einander  zugekehrten  Seiten  kleine  Rinnen  tragen,  läßt 
sich  eine  aus  schwarzem  Eisenblech  gefertigte  Fallscheibe  auf-  und  ab- 
bewegen. Vom  obern  Rahmen  der  Scheibe  führt  ein  dünner  Faden  auf- 
wärts über  ein  Rad  und  trägt  am   andern  Ende   ein  Gewicht,   das  es 


—     193    — 

möglich  maclit,  der  fallenden  Scheibe  bald  eine  größere,  bald  eine  ge- 
ringere Greschwindigkeit  zu  geben.  In  die  Mitte  der  Fallscheibe  ist 
eine  variable  Öffnung  geschnitten,  durch  die  das  hinter  der  Säule  auf 
einem  Karton  aufgedruckte  Leseobjekt  sichtbar  gemacht  werden  kann. 
Im  Zustande  der  Ruhe  ist  die  Fallscheibe  durch  einen  in  der  Höhe  an- 
gebrachten Elektromagneten  festgehalten,  während  gleichzeitig  ein 
schwarzes  Blech,  das  in  der  Mitte  eine  helle  Fixiermarke  trägt,  das 
Objekt  verdeckt.  Wird  der  Strom  unterbrochen,  so  fällt  der  Schirm, 
stößt  das  Blech  herab  und  enthüllt  das  Leseobjekt  für  einen  bestimmten 
Augenblick.  Die  Dauer  der  Exposition  wird  durch  die  Aufzeichnungen 
einer  Stimmgabel  auf  berußtem  Papier  erhalten  ^). 

Schumann,  teilweise  auch  Erdmann-Dodge  benützten  zu  den  Unter- 
suchungen das  sogenannte  Rotationstachistoskop,  eine  rotierende  Scheibe, 
die  am  Rande  einen  kleinen  Sektorausschnitt  hat,  der  das  hinter  der 
Scheibe  befindliche  Leseobjekt  auf  Sekundenteile  sichtbar  macht.  Der 
Apparat  arbeitet  geräuschlos,  aber  die  Notwendigkeit  eines  Elektro- 
motors zum  Antrieb  der  Scheibe  und  die  etwas  schwierige  Lösung  der 
Lesezeiten  stellen  ihn  hinter   das  Falltachistoskop  zurück. 

Einen  ähnlichen  Apparat  haben  auch  Goldscheider  und  Müller  ver- 
wendet. Bei  ihnen  aber  drehte  sich  die  Scheibe  in  horizontaler  Richtung, 
und  die  Versuchsperson  blickte  von  oben  auf  das  zu  lesende  Objekt  herab. 

Beim  Lesen  in  kurzen  Zeiten  werden  die  Objekte  entweder  in  rich- 
tiger oder  in  veränderter  Grestalt  exponiert.  Als  richtig  bezeichnen 
wir  sie,  wenn  sinnlose  Buchstabenverbindungen,  Wörter  und  Sätze  auf 
der  Bildfläche  erscheinen.  Verändert  ist  das  Objekt,  wenn  der  Ex- 
perimentator bei  der  Exposition  Wortteile  wegläßt ,  oder  im  Objekt 
Buchstaben  durch  andere  ersetzt,  so  daß  auf  den  flüchtigen  Blick  wohl 
ein  ähnliches  Gebilde,  aber  im  Grunde  ein  ganz  neues  Leseobjekt  ent- 
steht. Wir  wollen  in  unserer  nachfolgenden  Darstellung  diese  beiden 
Versuchsreihen  trennen  und  zunächst  von  den  Erscheinungen  bei  der 
Exposition  der  Objekte  in  richtiger  Gestalt  und  dann  von  den  Er- 
scheinungen bei  der  Exposition  veränderter  Objekte  sprechen.  An- 
schließend daran  soll  in  einem  eigenen  Kapitel  die  Interpretation  der 
Erscheinungen  im  Zusammenhang  dargestellt  werden. 


1)  Abbildungen  des  Tachistoskops :  Wundt,  Völkerpsychologie  1.  Bd.,  I.Teil,  S.  568, 
0,  Messmer,  a.  a.  0.,  S.  6  und  Meumann,  Vorlesungen  z.  E.  i.  d.  exp.  Pädag.  IT,  S.  243. 
Neuerdings  ist  das Fallblech  durch  ein  geräuschlos  arbeitendes  Blatt  aus  schwarzem 
Samt  ersetzt  worden. 


—    194    — 

6.  Kapitel. 
Erscheinungen  beim  tachistoskopischen  Lesen  „richtiger  Objekte." 

Am  Taciiistoskop  werden  für  gewöhnlich  Buchstaben,  Wörter  und 
Sätze  exponiert.  Bei  der  ersten  Lesung  wird  dabei  vielfach  nur  ein 
kleiner  Teil  des  Bestandes  erkannt.  Der  übrige  Teil  wird  falsch  ge- 
lesen oder  bleibt  vollständig  fremd.  Erst  in  den  sich  wiederholenden 
Expositionen  wird  nach  und  nach  auch  der  Rest  des  Objektes  gelesen. 
Der  Experimentator  hat  nun  bei  diesen  Versuchen  auf  drei  Reihen  von 
Erscheinungen  zu  achten.  Einmal  muß  er  die  Anzahl  der  richtig  ge- 
lesenen Buchstaben  feststellen,  um  den  Leseumfang  (Aufmerksamkeits- 
umfang)  zu  erkennen.  Dabei  ist  es  vorteilhaft,  psychologisch  richtig, 
nur  die  ersten  Expositionen  in  Betracht  zu  ziehen.  Zum  andern  hat 
er  sein  Augenmerk  auf  alle  Erscheinungen  zu  richten,  welche  in  den 
aufeinander  folgenden  Expositionen  auftreten,  und  endlich  sind  die  sub- 
jektiven Eindrücke  der  Versuchsperson  zu  befragen  und  darzustellen. 

1.  Unter  Leseumfang  verstehen  wir  die  Maximalzahl  der  bei  einer 
einmaligen  Exposition  gelesenen  Buchstaben.  Er  ist  gewöhnlich  aus 
einer  Reihe  von  ersten  Lesungen  gewonnen.  In  der  nachfolgenden  Tabelle 
(S.  195)  haben  wir  die  gefundenen  Ergebnisse  übersichtlich  zusammen- 
gestellt. Ein  eingehender  Vergleich  ist  kaum  möglich ;  denn  einmal  sind 
die  benützten  Apparate,  zum  andern  die  angewandten  Zeiten  verschieden. 
E.  Becher^)  hat  seine  Ergebnisse  bei  Funkenbeleuchtung  gewonnen, 
während  CattelP),  Goldscheider -  Müller  ^),  Zeitler*)  und  Messmer*)  die 
Leseobjekte  10  6,  Erdmann-Dodge^)  sogar  100  <y  sichtbar  lassen.  Auch 
die  Buchstaben  sind  nicht  von  der  gleichen  Beschaifenheit,  und  endlich 
haben  selbst  die  Zahlenwerte  nicht  die  gleiche  Bedeutung.  Cattels  Er- 
gebnisse sind  Schlußergebnisse.  „Er  exponierte  in  der  Regel  fünfmal 
nacheinander  d.  h.  wenn   bis   zur   fünften  Exposition   nichts   oder  nicht 


1)  £.  Becher,  Experimentelle  und  kritische  Beiträge  zur  Psychologie  des  Lesens 
in  kurzen  Expositionszeiten.  Zeitschr.  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane 
3<;.     1904. 

2)  J.  M.  K.  Cattell,  Über  die  Trägheit  der  Netzhaut  und  des  Sehzentrums.  WuAdt, 
Philos.  Studien  III,  S.  126. 

8)  A.  Goldscheider  u.  F.  Müller,  Zur  Psychologie  und  Pathologie  des  Lesens. 
Zeitschrift  für  klinische  Medizin  XIII,  S.  142. 

4)  .1.  Zeitler,  Tachistoskopische  Untersuchungen  über  das  Losen.  Wundt,  Philos. 
Studien  16,  S.  410  ff. 

5)  0.  Meßmer,  Zur  Psychologie  des  Lesens.    Ltii./i  ^.  ...ff, 

6)  Krdraann-Dodge,  a.  a.  0.,  Kap.  5,  0,  7. 


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Anmerkungen  zu  Tabelle  VI. 

1)  J.  Cattel,  a.  a.  0.,  S.  127.  „Man  kann  dreimal  soviel  Buchstaben  auffassen,  wenn 
sie  Worte  bilden,  als  wenn  das  nicht  der  Fall  ist.  Bilden  die  Wörter  einen  Satz,  so 
kann  man  die  doppelte  Zahl  derselben  auffassen,  als  wenn  sie  ohne  Zusammenbang 
nebeneinander  stehen." 

2)  Diese  Zeit  brauchte  die  ganze  aus  drei  Zeilen  bestehende  Leseprobe,  um  das 
Gesichtsfeld  zu  passieren.     Die  einzelne  Zeile  blieb  nur  0,02"  sichtbar. 

3)  A.  Goldscheider  u.  R.  Müller,  a.  a.  0.,  S.  146.  „Wörter  die  aus  fünf  Buchstaben 
bestehen,  werden  nicht  ausnahmslos  richtig  gelesen.  Ein  aus  sechs  Buchstaben  zusammen- 
gesetztes Wort  wurde  indes  von  einem  Beobachter  richtig  erkannt." 

4)  Aus  Zeitlers  Angaben  ist  die  Zeit  der  Exposition  nicht  deutlich  erkennbar. 
Wundt,  Physiologische  Psychologie  III,  S,  603  nimmt  l(X)tf  an,  während  Schumann,  Be- 
richt über   den   2.   Kongreß   für   experimentelle  Psychologie,   Leipzig  1907,   S.  166  mit 

,01"  rechnet. 

5)  Zeitler,  a.  a.  0.,  S.  412.  „Je  nach  dem  Grade  der  Bekanntheit  und  Geläufigkeit 
eines  Wortes  variiert  der  umfang  zwischen  15  und  25  Buchstaben. 

6)  0.  Messmer,  a.  a.  0.,  S.  77.  „Beim  Lesen  von  ganzen  Sätzen  bei  einer  Expo- 
sitionszeit von  U)i)a  werden  trotz  der  langen  Reizdauer  nicht  mehr  Wörter  gelesen,  als 
ungefähr  in  den  maximalen  Umfang  der  betreffenden  Versuchsperson  fallen."  Diese  Be- 
merkung bezieht  sich  auf  das  Lesen  bei  der  Fixation  des  Satzanfanges. 

Viel  erkannt  wurde,  so  nahm  er  an,  daß  eine  weitere  Wiederholung 
nutzlos  sein  würde."  Die  Ergebnisse  der  andern  Forscher  sind,  wofern 
wir  richtig  verstanden  haben,  auf  die  erste  Exposition  zu  beziehen. 

Immerbin  lassen  sich  aus  der  Betrachtung  der  Zahlen  manche 
Schlußfolgerungen  ableiten.  Zunächst  sehen  wir,  daß  im  allgemeinen 
3—4  Buchstaben  auf  einmal  wahrgenommen  werden.  Erdmann  und  Dodge 
haben  Buchstabenverbindungen  bei  0,00025"  (=  -^  der  gewöhnlichen 
Expositionszeit)  exponiert,  aber  die  Zahl  der  simultan  wahrgenommenen 
Schriftzeichen  hat  sich  kaum  merklich  geändert.  Andrerseits  haben 
anch  die  mannigfachsten  Verbindungen,  Verbindungen  von  unterzeiligen, 
oder  nur  oberzeiligen  Konsonanten,  von  Konsonanten  und  Vokalen,  ja 
selbst  von  Verbindungen,  in  denen  die  Buchstaben  eine  gewisse  rhyth- 
mische Anordnung  zeigten,  kaum  höhere  Resultate  gebracht.  Nur  Zeitler 
hat  bei  der  Exposition  von  Konsonanten  und  Vokalen,  Messmer  für  den 
subjektiven  Lesetypus  ein  etwas  günstigeres  Ergebnis  erzielt.  Werden 
sinnlose  Silben  exponiert,    so  wird  der  Umfang  des  Gelesenen  größer. 

Noch  mehr  aber  erweitert  sich  das  Gebiet,  wenn  wir  Buchstaben 
zu  Wörtern  zusammenlügen.  Sehen  wir  von  den  Ergebnissen,  die  Gold- 
scheider und  Müller  gefunden  haben,  ab,  so  zeigen  auch  hier  die 
gewonnenen  Werte  nicht  allzu  große  Differenzen.  Sie  bewegen  sich 
um  20.  Dabei  wurde  des  öftem  die  Beobachtung  gemacht,  daß  der 
Leseumfang  von  der  Schwierigkeit  des  Wortes  abhängt.  Völlig  unbe- 
kannte Wörter   stehen   sinnlosen  Silbenverbindungen  nahe,  lassen  also 


—    197    — 

kaum  mehr  als  6 — 10  Buchstaben  erkennen.  Bei  fremdsprachlichen 
Wörtern  erzielte  Dodge  nur  einen  Maximalumfang  von  9—11  Wort- 
elementen. Bei  allzu  langen  Wörtern  bleibt  die  Zahl  der  erkannten 
Buchstaben  hinter  dem  Maximalwert  des  Erkennens  zurück. 

Wiederum  größer  wird  das  Grebiet  der  erkannten  Buchstaben  bei 
der  Exposition  von  Sätzen.  Wenn  Messmer  hier  ein  weniger  günstiges 
Resultat  verzeichnet,  so  liegt  dies  wohl  daran,  daß  der  Anfang  des 
Satzes  fixiert  wurde.  Auch  hier  wiederum  spielten  die  mehr  oder  mindere 
Bekanntheit  mit  dem  Texte,  „der  geläufige  oder  weniger  geläufige  Sinn 
des  Satzzusammenhanges"  eine  bedeutende  Rolle.  Bekannte  Sätze  oder 
Sprichwörter  brauchten  nur  in  einem  dominierenden  Worte  erkannt  zu 
werden.  Dabei  ist  bemerkenswert,  daß  der  Beobachter  alle,  auch  die- 
jenigen Schriftzeichen  deutlich  gesehen  zu  haben  glaubte,  welche  be- 
trächtlich über  das  Gebiet  des  deutlichen  Wahrnehmens  hinausragten. 
Auf  eine  andere  Eigentümlichkeit  beim  Lesen  von  exponierten  Sätzen 
weist  Zeitler  hin  ^).  Er  fand,  daß  das  Lesegebiet  sich  verkleinerte, 
wenn  in  der  Mitte  desselben  bedeutungslose  Worte  standen,  daß  es  aber 
wuchs,  wenn  daselbst  ein  für  den  Satzzusammenhang  charakteristisches 
Wort  sich  befand. 

2.  Der  Leseumfang  bedeutet  einen  Grrenzwert.  Für  gewöhnlich 
werden,  wie  wir  bereits  erwähnt  haben,  nur  wenige  Buchstaben  wahr- 
genommen. Erst  in  den  darauffolgenden  Expositionen  wird  der  ganze 
Buchstabenbestand  erfaßt.  Die  Zahl  der  dazu  notwendigen  Wieder- 
holungen ist  bei  den  einzelnen  Leseobjekten  durchaus  verschieden. 
Längere  Wörter  brauchen  im  allgemeinen  mehr  Expositionen  als  kurze, 
unbekannte  mehr  als  bekannte.  Granz  geläufige  Wörter  werden  vielfach 
schon  in  der  ersten  Lesung  erkannt.  Wörter  von  gleichmäßiger  Konfi- 
guration sind  schwerer  erkennbar  als  solche  mit  optisch  charakteristi- 
schen Formen^).  Kinder  und  ungeschulte  Personen  oder,  allgemein  aus- 
gedrückt, Leute  mit  engbegrenztem  Wortvorrat  verlangen  öftere  Ein- 
wirkungen als  Erwachsene  und  Gebildete,  als  Personen  also,  die  über 
einen  großen  Sprachschatz  verfügen. 

Interessant  ist  die  Art  und  Weise,  wie  das  Wortganze  sich  all- 
mählich entwickelt.  Wir  haben  dabei  zwei  extreme  Eälle  zu  behandeln, 
die  durch  eine  Reihe  von  Abstufungen  ineinander  übergehen. 

Einmal  kann  es  vorkommen,  daß  neben  den  richtig  erkannten  Buch- 
staben kein  weiteres  Wortelement  gelesen  wird.  Sukzessiv  reihen  sich 
in  den  aufeinander   folgenden  Lesungen   kleine  Buchstabenkomplexe   an, 


1)  Zeitler,  a.  a.  0.,  S.  420. 

2)  Erdmann-Dodge,  a.  a.  0.,  S.  157. 


—    198    — 

bis  schließlich  das  ganze  Wort  erkannt  ist.  Das  Erkennen  vollzieht 
sich  langsam,  aber  alle  Lesungen  zeigen  eine  gewisse  objektive  Treue. 
So  wurden  die  Wörter,  „goldrand"  und  „Kastanien  verkauf  er"  in  folgender 
Weise  sukzessiv  bestimmt. 


1.  E 

xposi 

tion                      and ') 

2. 

n 

and 

3. 

it 

drand 

4. 

n 

goldrand 

3. 

» 

kauf  er  ^ 

4. 

n 

Verkäufer 

5. 

f) 

astanienverkäufer 

6. 

n 

Kastanienverkäufer. 

In  den  angeführten  Beispielen  bildete  das  Wortende  den  Ausgangs- 
punkt des  Erkennens.  Ganz  in  derselben  Weise  aber  können  auch  Wort- 
anfang und  Wortmitte  den  Ausgangspunkt  bilden.  Dabei  läßt  sich  stets 
die  Beobachtung  machen,  daß  besonders  charakteristische  Buchstaben, 
die  durch  ihre  Länge  oder  eine  ausgeprägte  geometrische  Form  hervor- 
stehen, sich  zuerst  zur  Wahrnehmung  drängen. 

Für  die  andere  Leseart  soll  das  gleiche  Wort  Kastanienverkäufer 
als  typisches  Beispiel  gelten. 

1.  Exposition    Kleinverkäuferin 

2.  „  Kleinverkäufer 

3.  „  Kannenverkäufer 

4.  „  Kastanienverkäufer. 

Hier  werden  jedesmal  ganze  Wörter  gelesen.  Lesungen  bloßer  Teile 
oder  einzelner  Buchstaben  sind  selten.  Dafür  aber  fehlt  auch  den  Le- 
sungen die  objektive  Treue;  Buchstaben,  besonders  mittel-  und  unter- 
zeilige,  werden  in  mannigfacher  Weise  verwechselt.  Vergleicht  man 
aber  das  gelesene  Wort  mit  dem  exponierten,  so  zeigt  sich,  daß  die 
Länge  des  Wortes  im  großen  und  ganzen  gewahrt  bleibt.  (Hast  für 
Habe,  Einsam  für  Eisbaum),  obwohl  es  nicht  selten  vorkommt,  daß 
kurze  Wörter  in  längere  hineingelesen  werden,  wie  „einfallen"  in  »ein- 
gefallen'^ oder  „bundische"*)  in  „burgundische" *).  Auch  die  optischen 
Formen  oder  besser  gesagt,   die  Umgrenzungslinien  beider  Wörter   sind 

1)  Goldscheider  und  Müller,  a.  a.  0.,  S.  147. 

2)  Messmer,  a.a.O.,  S.  14. 
8)  Messmer,  a.a.O.,  8.  18. 
4)  Messmer,  a.a.O.,  S.  69. 


—    199    — 

im  allgemeinen  gleich.  Es  bleibt  uns  noch  übrig,  auch  einige  andere 
Erscheinungen  zu  erwähnen,  die  sich  beim  tachistoskopischen  Lesen  auf- 
drängten. Der  Bedeutungsinhalt  eines  Wortes  tritt  immer  plötzlich 
auf.  Dann  aber  erscheint  das  Wort  in  voller  Klarheit.  Selbst  falsch 
gelesene  Wortteile,  ja  sogar  Buchstaben,  die  außerhalb  des  Gebietes  des 
deutlichen  Sehens  liegen,  also  gar  nicht  gesehen  werden  können,  werden 
aufs  deutlichste  wahrgenommen.  Die  Bedeutung  ist  es  auch,  die  das 
Wort  zusammenhält.  Ist  das  gelesene  Wort  unbekannt,  so  zerfällt  es 
beim  Lesen  vielfach  wieder  in  Buchstaben  und  Silben.  Zeigen  dabei  die 
Buchstabenkomplexe  Ähnlichkeit  mit  bekannten  Silben,  so  treten  diese 
für  die  Buchstaben  ein.  Beim  Lesen  von  Sätzen  zeigt  sich  stets,  daß 
der  Sinn  des  Satzes  das  nachfolgende  Wort  schon  mehr  oder  weniger 
determiniert,  so  daß  das  Erkennen  eintritt,  ohne  daß  die  Wörter  deutlich 
gesehen  werden. 

3.  Die  subjektiven  Beobachtungen  der  Versuchspersonen  sind  nicht 
immer  zuverlässig,  da  namentlich  ungeübte  Leser'  sich  durch  die  Frage- 
stellung stark  beeinflussen  lassen.  Einiges  läßt  sich  indes  immerhin  er- 
kennen. Zunächst  hat  man  feststellen  können,  daß  einzelne  Personen 
imstande  sind,  noch  lange  nach  der  Exposition  das  visuelle  Bild  in  der 
Erinnerung  festzuhalten,  während  bei  andern  das  optische  Bild  sofort 
hinter  dem  entsprechenden  Klang-  und  motorischen  Bilde  zurücktritt. 
Man  hat  nach  diesem  verschiedenen  Verhalten  zwei  Typen,  einen  visu- 
ellen und  einen  akustischen  oder  akustisch -motorischen  Typus  unter- 
schieden. Dies  ist  jedoch  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  bei  den  Per- 
sonen des  visuellen  Typus  gar  kein  Klangbild  sich  auslöse.  Vielfach 
sind  sie  sich  dessen  allerdings  nicht  bewußt.  Doch  scheint  es  nach 
Schumann^)  wahrscheinlich,  daß  ein  flüchtiges  Klangbild  sich  häufiger 
einstellt,  als  die  Versuchspersonen  selbst  vermuten.  Es  entgeht  aber 
der  inneren  Wahrnehmung,  weil  die  Aufmerksamkeit  dem  Gesichtsbilde 
sich  zuwendet.  Zwischen  beiden  Typen  gibt  es  eine  Eeihe  von  Ab- 
stufungen, Übergängen,  denn  bei  den  meisten  Personen  wirken  optische, 
akustische  und  motorische  Bilder  zusammen. 

Ein  weiteres  Problem,  das  man  durch  subjektive  Beobachtung 
zu  fördern  suchte,  betrifi't  die  Frage  nach  der  Sukzession  oder  Simul- 
taneität  des  Leseaktes.  Erdmann  und  Dodge  haben  stets  betont,  daß  ihre 
Versuchspersonen  den  Eindruck  der  simultanen  Wahrnehmung  gehabt 
hätten.     Man  hat   ihnen  entgegnet,   daß  bei  ihrer  hohen  Expositionszeit 

1)  Schumann,  Bericht  über  den  2.  Kongreß  für  experimentelle  Psychologie.  Leipzig 
1907,  S.  172.  Seh.  und  Wiegandt  bestreiten  mit  unzureichenden  Gründen  den  Unterschied 
des  objektiven  und  subjektiven  Lesers.  In  Wiegandts  eigenen  Versuchen  tritt  dieser 
Unterschied  deutlich  hervor. 


—    200    — 

(100  (?)  die  rasch  aufeinander  folgenden  Teilakte  beim  Lesen  sich  nur 
scheinbar  als  simultanes  Wahrnehmen  dargestellt  hätten  und  daß  eine 
innere  Wahrnehmung  der  Sukzession  wohl  deshalb  nicht  erfolgt  sei, 
weil  man  von  vornherein  nicht  darauf  geachtet  habe.  Im  Gegensatz 
zu  ihnen  haben  Zeitler,  Messmer  und  Schumann  ein  sukzessives  Er- 
kennen durch  innere  Wahrnehmung  konstatieren  können,  das  bei  Wörtern 
über  15  Buchstaben  sich  schon  deutlich  darstelle. 

Daß  die  Versuchspersonen  auch  die  außerhalb  des  Gebietes  der 
deutlichen  Wahrnehmung  gelegenen  Buchstaben  deutlich  gesehen  zu 
haben  glaubten,  ja  daß  selbst  ganz  fremde  Bestandteile  sich  deutlich 
vor  dem  geistigen  Auge  abbildeten,  haben  wir  bereits  des  öfteren  er- 
wähnt. 


7.  Kapitel. 
Erscheinungen  beim  Lesen  veränderter  Objekte  in  kurzen  Expositionszeiten. 

Die  Versuche,  von  welchen  wir  in  Kapitel  7  sprechen  wollen,  gehen 
von  veränderten  Objekten  aus,  also  von  Objekten,  in  denen  entweder 
Buchstaben  fehlen,  oder  Buchstaben  durch  andere,  ähnliche  substituiert 
sind.  Sie  schließen  sich  nicht  alle  ans  Tachistoskop  an,  aber  sie  gehen 
in  ihrer  großen  Mehrzahl  von  kurzen  Expositionszeiten  aus.  Die  we- 
nigen Versuche,  in  denen  andere  Zeiten  in  Betracht  kommen,  haben  wir 
hier  eingefügt,  weil  sie  sich  inhaltlich  mit  den  Versuchen  des  Kapitels 
decken. 

Die  veränderten  Objekte  lassen  zwei  Lesungen  zu,  sie  können  in 
ihrer  ursprünglichen  oder  in  ihrer  neuen  Gestalt,  in  unveränderter  oder 
veränderter  Form  gelesen  werden,  je  nachdem  die  Abänderung  über- 
sehen oder  erkannt  wird.  Dieses  tritt  ein,  wenn  die  Abänderung  do- 
minierende Buchstaben,  oder  Buchstaben  in  bevorzugter  Stellung  be- 
trifft, jenes  haben  wir  zu  gewärtigen,  wenn  die  Abänderung  sich  nur 
auf  neutrale  Buchstaben  bezieht,  oder  wenn  der  Bewußtseinszustand 
eine  zur  Wahrnehmung  des  ursprünglichen  Bildes  günstige  Beeinflussxmg 
erfährt.  Aus  dem  Gesagten  geht  schon  hervor,  daß  diese  Leseversuche 
an  veränderten  Objekten  einem  doppelten  oder  besser  gesagt  einem  drei- 
fachen Zwecke  dienen. 

Objektiv  stellen  sie  fest,  welche  Bedeutung  den  Buchstaben 

a)  nach  ihrer  Stellung  im  Worte, 

b)  nach  ihrem  Charakter  zukommt. 
Subjektiv  aber  zeigen  sie, 

c)  welche  inneren  Faktoren  im  Leseprozeß  mitspielen. 


—    201    — 

1.  Die  Lage  der  Buclistaben  ist  in  den  einzelnen  Wörtern  durchaus 
verschieden.  Sie  stehen  bald  am  Anfang,  bald  am  Ende,  bald  in  der 
Nachbarschaft  von  Vokalen,  oder  umgeben  von  ober-  mittel-  und  unter- 
zeiligen  Konsonanten.  Es  ist  klar,  daß  alle  diese  Umstände  nicht  ohne 
Einfluß  auf  ihre  Bedeutung  im  Wortbilde  sein  können.  Aber  die  Unter- 
suchung begegnet  manchen  Schwierigkeiten,  sie  hat  darum  bis  jetzt  nur 
die  verschiedene  Stellung  im  Worte  ohne  Rücksicht  auf  benachbarte 
Buchstaben  betont. 

Zuerst  hat  Pillsbury  ^)  sich  mit  der  Frage  beschäftigt.  Er  ließ  in 
seinen  exponierten  Wörtern  am  Anfang,  in  der  Mitte  oder  am  Ende 
einen  oder  mehrere  Buchstaben  verändern  und  stellte  fest,  wie  oft  die 
Versuchsperson  imstande  war,  den  Fehler  zu  erkennen.  Dabei  war  aufs 
deutlichste  eine  Abnahme  von  links  nach  rechts  wahrzunehmen.  Am 
Wortanfang  wurde  der  Fehler  häufiger  als  in  der  Wortmitte  und  hier 
wiederum  häufiger  als  am  Wortende  erkannt.  Das  Verhältnis^)  stellt 
sich  etwa  wie  13  (Anfang)  zu  8  (Mitte)  zu  6  (Ende).  Eine  andere  Er- 
scheinung bestätigt  diese  Entdeckung.  Waren  in  einem  Worte  zwei 
Buchstaben  verändert  und  blieb  der  eine  unerkannt,  während  der  andere 
erkannt  wurde,  so  war  der  erkannte  Buchstabe  in  den  meisten  Fällen 
der  erste. 

Auch  Huey ')  hat  festgestellt,  daß  die  erste  Worthälfte  für  das  Er- 
kennen des  Wortganzen  wichtiger  ist  als  die  letzte.  Ein  sinnvoller 
aber  durch  Fortlassen  von  Worthälften  verstümmelter  Text  konnte 
schneller  und  sicherer  aus  den  ersten  als  aus  den  zweiten  Worthälften 
wieder  hergestellt  werden.  Fehlten  die  ersten  Partien  eines  Wortes, 
so  wurde  ein  Wort  des  Textes  in  2,44"  gelesen,  und  nur  69.9  ^/o  aller 
Wörter  waren  korrekt;  fehlten  die  zweiten  Partien,  so  brauchte  man 
pro  Wort  nur  eine  durchschnittliche  Dauer  von  2,21",  und  trotzdem 
waren  mehr  als  85  ^/o  aller  Wörter  richtig  erkannt. 

2.  Etwas  zahlreicher  sind  die  Arbeiten,  welche  über  die  Wichtig- 
keit des  Charakters  eines  Buchstabens  für  das  Erkennen  berichten.  Sie 
rühren  von  Goldscheider  und  Müller,  von  Zeitler  und  von  0.  Messmer 
her.  Letzterer  hat  nun  allerdings  seine  Ergebnisse  auf  rein  theore- 
tischem Wege  erhalten,  aber  wir  schließen  sie  hier  an,  weil  sie  inhalt- 
lich zu  diesem  Abschnitte  gehören. 


1)  W.  B.  Pillsbury,  A  Study  in  Apperception.    Am.  Journal  of  Psychology  8.  1897, 
S.  315  ff. 

2)  W.  B.  Pillsbury,  a.  a.  0.     Aus  Tabelle  IV,  S.  350. 

3)  E.  B.  Huey,  Preliminary  Experiments  in  the  Physiology  and  Psychology  of  Rea- 
ding  Am.  Journal  of  Psych.  9.  S.  580  u.  581. 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  14 


—    202    — 

Aus  den  Versuchen  der  genannten  Forscher  geht  hen^or,  daß  es 
Buchstaben  gibt,  die  determinierenden  nach  Goldscheider  und  Müller, 
die  dominierenden  nach  Zeitler  und  nach  Messmer,  welche  vermöge 
ihrer  Größe,  ihrer  Gestalt  etc.  für  das  Erkennen  des  Wortbildes  be- 
sonders wichtig  sind,  während  andere  nahezu  ohne  Einfluß  bleiben.  Sie 
werden  beim  tachistoskopischen  Lesen  vielfach  zuerst  und  deutlich  er- 
kannt. Sind  sie  im  Leseobjekt  vertauscht,  oder  hat  man  sie  gänzlich 
beseitigt,  so  wird  das  exponierte  Wort  nur  selten  in  seiner  ursprüng- 
lichen Form  gelesen.  In  den  meisten  Fällen  tritt  der  Buchstabe  so 
stark  hervor,  oder  wird  das  Fehlen  so  deutlich  bemerkt,  daß  die  ge- 
wollte Assimilation  nicht  eintritt. 

Zuweilen  ereignet  es  sich  gar,  daß  diese  dominierenden  Buchstaben 
zu  ganz  anderen  Wortgebilden  führen  wie 

Physik  in  Plagwitz  ^) 
Malerei  in  Materie  ^). 

Direkt  umgekehrt  verhalten  sich  die  unbetonten  (optisch)  Buch- 
staben. Sie  treten  im  Wortbilde  weniger  deutlich  hervor,  darum  werden 
sie  auch  leicht  verwechselt  und  können,  ohne  das  Erkennen  des  Wortes 
zu  stören,  in  größerer  Anzahl  ausfallen. 

Damit  aber  sind  nur  im  allgemeinen  die  beiden  Gruppen  charakte- 
risiert. Wie  die  Buchstaben  auf  die  eine  oder  die  andere  Abteilung  zu 
verteilen  sind,  ist  im  einzelnen  nicht  leicht  zu  bestimmen.  Die  Stellung 
im  Worte,  von  der  wir  bereits  gesprochen  haben,  hat  dabei  einen  nicht 
zu  unterschätzenden  Einfluß. 

Vielleicht  hängt  es  auch  damit  zusammen,  daß  die  Verfasser  unklar 
lassen,  welchen  Buchstaben  sie  eine  so  hervorragende  Rolle  zuschreiben. 

Goldscheider  und  Müller  zählen  zu  den  determinierenden  Buchstaben 
die  Anfangsbuchstaben.  Im  übrigen  aber  sind  ihre  Bemerkungen  undeutlich. 
Die  determinierenden  Buchstaben  „sind  durchaus  nicht  immer  Konso- 
nanten, wenn  auch  diese  dadurch,  daß  sie  zum  Teil  die  Schriftlinien 
nach  oben  und  unten  überragen,  vornehmlich  dazu  beitragen,  dem  Wort 
sein  charakteristisches  Gepräge  zu  geben"  ^).  ^Sie  erwecken*',  schreiben 
die  Verfasser  an  einer  anderen  Stelle,  „die  zu  ihnen  gehörigen  Buch- 
stabenklangerinnerungen, welche  ihrerseits  das  vollständige  Wortklang- 
bild hervorrufen".  Daraus  aber  dürfte  hervorgehen,  daß  sie  neben  der 
äußeren  Form  oder  vielmehr  neben  der  Länge  der  Buchstaben  auch 
deren  Klangwirkung  als  bestimmtes  Merkmal  der  determinierenden 
Buchstaben  ansehen. 


I 


1)  Zeitler,  a.  a.  0.,  S.  449. 

2)  Goldscheider  and  Müller,  a.  a.  0.,  S.  161. 


—    203    — 

Zeitler  scheint  unter  den  dominierenden  Buchstaben  die  ober-  und  unter- 
zeiligen  Konsonanten  zu  verstehen.  Wenigstens  dürfte  dies  aus  den  für  Assi- 
milationsversuche zusammengestellten  Beispielen,  in  denen  die  Verände- 
rungen gerade  dominierende  Buchstaben  betrafen  (Sculgtur  —  Sckichsal)  ^), 
hervorgehen.  Als  besondere  Merkmale  der  dominierenden  Buchstaben  führt 
er  an,  daß  sie  beim  tachistoskopischen  Lesen  stets  zuerst  und  am  klarsten 
erkannt  würden  und  daß  sie  am  wenigsten  den  Verlesungen  ausgesetzt  wären. 

Eine  genaue  und  eingehende  Grruppierung  der  Buchstaben  nach  ihrer 
optischen  Bedeutung  hat  Messmer  ^)  gegeben.  Er  hat  die  einzelnen  Buch- 
staben nach  ihren  Maßverhältnissen  (ihrer  Höhe,  ihrer  Breite)  und  nach 
ihrer  speziellen  geometrischen  Form  untersucht.  Dabei  hat  er  nachge- 
wiesen, daß  die  Buchstaben  zuerst  ihre  Typenbreite,  dann  ihre  Höhe  und 
erst  in  dritter  Linie  ihre  geometrische  Form  an  die  Gresamtform  ab- 
geben. Darum  kommt  die  Breite  als  charakteristisches  Merkmal  nicht 
in  Betracht.  Auch  die  Höhe  ist  nur  für  die  großen  ^)  und  hier  wiederum 
nur  für  die  oberzeiligen  Konsonanten  eine  hervorstechende  Eigenschaft. 
Die  unterzeiligen  Konsonanten  haben  weniger  Bedeutung,  sie  werden 
vielfach  auch  mit  mittelz eiligen  Buchstaben  verwechselt,  was  wohl  darauf 
zurückzuführen  ist,  daß  unser  Auge  beim  Lesen  sich  in  der  Nähe  des 
oberen  Randes  der  mittelzeiligen  Buchstaben  hinbewegt  ^).  In  bezug 
auf  die  geometrische  Form  unterscheidet  Messmer  vier  Kategorien  von 
Buchstaben ,  Buchstaben ,  die  im  wesentlichen  aus  senkrechten  Strichen, 
aus  gebogenen  Linien,  aus  einer  Kombination  von  senkrechten  und  ge- 
bogenen Linien  und  endlich  aus  schrägen  Strichen  bestehen.  Am  meisten 
kommen  hier  die  drei  letzten  Gruppen  zur  Geltung,  und  da  sie  außerdem 
am  seltensten  auftreten,  dürften  sie  iu  bezug  auf  die  geometrische  Form 
die  wichtigsten  Buchstaben  bilden.  Werden  nun  nach  den  beiden  Ge- 
sichtspunkten, der  Typenhöhe  und  der  geometrischen  Form,  die  Buch- 
staben gruppiert,  und  wird  dann  die  Typenhöhe  als  oberstes  Einteilungs- 
prinzip benutzt,  so  erhalten  wir  nach  Messmer  folgendes  Büd: 

L 

optisch  dominierende  Buchstaben 
(große  Buchstaben) 

n. 

nicht  dominierende  Buchstaben 
(kleine  Buchstaben). 

1)  Zeitler,  a.  a.  0.,  S.  447. 

2)  Messmer,  a.  a.  0.,  S.  28  ff. 

3)  Vergl.  die  folgende  Buchstabenzusammenstellung  I. 

4)  Vergl.  Abschnitt  2  S.  177. 

14* 


1. 

2. 
3. 

k 

bd 

hjtlf 

4. 
5. 
6. 

w,  V,  y,  X,  z 
0,  e,  c,  a,  sgpq 
rin,  m,  u 

—    204    — 

Nan  müssen  wir  allerdings  bemerken,  daß  hier  rein  optische  Verhältnisse 
in  Betracht  kommen.  Es  fragt  sich  nun  aber,  ob  beim  Lesen  die  Buch- 
staben sich  auch  in  dieser  Rangordnung  ins  Bewußtsein  drängen.  Messmer 
hat  hierüber  Untersuchungen  angestellt  und  gefunden ,  daß  wohl  im  all- 
gemeinen die  Buchstaben  den  Grad  ihres  optischen  Wertes  auch  im  Er- 
kennungsakte beibehalten,  daß  aber  im  einzelnen  Falle  optischer  Wert 
und  Erkennungswert  sich  nicht  decken,  daß  also  die  optisch  dominie- 
renden Buchstaben  nicht  notwendigerweise  auch  psychologisch  bevor- 
zugte sind.  Er  sieht  die  Hauptursache  darin,  daß  der  Aufmerksamkeits- 
punkt im  Momente  der  Exposition  für  alle  Leser  sich  bereits  in  Be- 
wegung befinde  und  daß  es  dann  nur  ein  Zufall  sei,  ob  die  Bewegungs- 
tendenz mehr  nach  dieser  oder  nach  jener  Richtung  verlaufe. 

3.  Um  die  inneren  Faktoren,  die  beim  Lesen  mitspielen,  kennen  zu 
lernen,  hat  man  vor  oder  während  der  Exposition  den  Bewußtseins- 
zustand der  Versuchsperson  in  bestimmter  Richtung  beeinflußt.  Der 
Zweck  war,  die  Assimilation  zu  erleichtern  oder  in  irgend  einer  Weise 
zu  henmien. 

Das  erste  wurde  durch  folgende  Versuche  erreicht.  Vor  der  Expo- 
sition eines  in  einem  oder  in  mehreren  Buchstaben  abgeänderten  Wortes 
wurde  der  Versuchsperson  ein  Wort  zugerufen,  das  mit  dem  exponierten 
in  irgend  einem  associativem  Zusammenhang  stand,  wie  style,  wenn 
fashxon.  oder  son,  wenn  fathex  exponiert  war.  Unter  dem  Einfluß  des 
zugerufenen  Wortes  wurde  das  exponierte  Wort  gelesen.  Dabei  wurde 
der  Fehler  häufig  übersehen ,  die  Assimilation  stellte  sich  also  leichter 
ein,  als  wenn  das  Wort  ohne  Associationshilfen  gelesen  worden  wäre. 
Nach  der  von  Pillsbury  ^)  angeführten  Tabelle  dürfte  sich  das  Verhältnis 
für  die  Zahlen  der  richtig  und  falsch  gelesenen  Fälle  wie  3  :  2  gestalten. 
Zuweüen  allerdings  zeigte  sich  die  Suggestion  so  stark ,  daß  der  Ge- 
sichtseindruck vollkommen  wirkungslos  blieb  und  ein  ganz  anderes  Wort 
nicht  nur  gelesen  sondern  auch  tatsächlich  gesehen  wurde.  So  las  eine 
Versuchsperson  scholar  und  glaubte  auch  genau  die  Buchstaben  des 
Wortes  gesehen  zu  haben,  als  vor  der  Exposition  von  teocher  das  asso- 
ciative  Wort  pupil  zugerufen  worden  war;  ein  anderer  las  unter  dem 
Einfluß  des  zugerufenen  Wortes  prison  für  Xrixoner  das  Wort  dungeon. 
Zeitler  ist  zu  ähnlichen  Resultaten  gekommen,  als  er  in  stark  abgeän- 
derten Wörtern  die  Assimilation  dadurch  zu  beeinflussen  suchte,  daß  er 
die  Exposition  richtiger  Wörter  derjenigen  der  falschen  vorausschickte. 
Auch  er  fand,  daß  die  richtige  Reproduktion,  die  Assimilation,  unter 
dem  Zwang  der  Association  sich  leichter  vollzog  als  ohne  dieselbe. 

1)  Pülsbury,  a.  a.  0.,  S.  869. 


—    205    — 

Ging  bei  der  Exposition  einer  Serie  von  Wörtern  dem  zu  le- 
senden, abgeänderten  Worte  ein  inhaltlich  nicht  mit  ihm  zusammen- 
hängendes Wort  voraus,  so  zeigte  das  gelesene  Wort  oft  Bestandteile 
seines  unmittelbaren  Vorgängers.  Die  nachfolgenden  Lesungen  geben 
davon  ein  Beispiel:        ^ 

1.    es  ging  voraus  2.  es  war  exponiert  3.  es  wurde  gelesen 
whatevea                          whenevxer  whatever 

kommonly  strijight  straightly 

outright  downwark  downright. 

Auch  die  vorausgegangene  Beschäftigung  zeigte  ihre  Wirkung.  Hatten 
sich  Pillsburys  Versuchspersonen  unmittelbar  vor  der  Exposition  mit 
deutscher  Sprache  beschäftigt,  so  wurden  vielfach  englische  Wörter  als 
deutsche  gelesen  (schrecklich  als  shredly  exponiert  war),  ging  der  Ex- 
position eine  französische  Lektüre  voraus ,  so  sah  man  oft  englische 
Wörter  für  französische  an,  wie  souvenage  für  ovenage. 

Aus  alledem  aber  geht  hervor,  daß  beim  Lesen  neben  dem  expo- 
nierten Wort  der  Bewußtseinsinhalt  des  Lesenden  eine  große  EoUe 
spielt.  Es  können  infolge  assoziativen  Zusammenhangs  Wörter  gelesen 
werden ,  welche  gar  nicht  vorhanden  sind  und  ebenso  können  vom  gei- 
stigen Auge  Wörter  wirklich  gesehen  werden ,  von  denen  nur  einzelne 
Buchstaben  im  exponierten  Wort  zu  finden  sind. 


8.  Kapitel. 
Interpretation  der  Erscheinungen. 

In  Kapitel  6  und  7  haben  wir  gesehen,  daß  beim  Lesen  von  sinn- 
vollen Buchstab env erbindungen ,  von  Wörtern  und  Sätzen  die  Leseum- 
fänge  in  immer  steigendem  Verhältnis  wachsen.  Grieichzeitig  haben  wir 
eine  Eeihe  von  Erscheinungen  beobachtet,  die  darauf  hindeuten,  daß 
äußere  und  innere  Faktoren  beim  Lesen  mitwirken  und  daß  individuelle 
Unterschiede  sich  geltend  machen.  Im  nachfolgenden  wollen  wir  nun 
zeigen,  wie  diese  wechselnden  Umfang  Verhältnisse  und  die  mannigfachen 
Erscheinungen,  die  man  beim  Lesen  von  sinnlosen  Buchstabenverbindungen, 
von  Wörtern  und  Sätzen  kennen  gelernt  hat,  erklärt  werden. 

1)  Bei  der  Exposition  sinnloser  Buchstabenverbindungen  wurden  in 
der  Eegel  vier  Buchstaben  auf  einmal  wahrgenommen.  Auch  bei  den 
Versuchen,  die  Erdmann -Dodge  bei  einer  Expositionszeit  von  0,00025" 
anstellten,  hat  sich  die  Zahl  der  simultan  erfaßten  Buchstaben  kaum  ver- 
ringert.    Es  scheint  sonach,  daß  wir  für  gewöhnlich  vier  Buchstaben  zu 


—    206    — 

erfassen  vermögen.  D  amit  stimmen  auch  die  Ergebnisse  von  Goldscheider- 
Müller  überein,  nach  welchen  vier  Striche,  vier  Zahlen*)  auf  einmal  er- 
kannt werden  können.  Auffallen  aber  muß,  daß  mit  vier  Buchstaben 
zugleich  das  Maximum  [des  Leseumfangs  für  sinnlose  Buchstabenverbin- 
dungen nahezu  erreicht  ist.  Erdmann  -  Dodge  haben  nachgewiesen ,  daß 
man  in  der  Tat  6—7  Buchstaben  optisch  auf  einmal  zu  erkennen  ver- 
mag. Wenn  nun  aber  trotzdem  eine  kleinere  Anzahl  von  Buchstaben 
gelesen  wird,  so  kann  die  Ursache  nicht  im  Gebiet  der  optischen  Wahr- 
nehmung liegen,  sondern  dürfte  vielmehr  in  der  zweiten  Phase  des 
Lesens,  im  Hersagen  der  Buchstaben,  zu  suchen  sein.  Nun  ist  das  Er- 
kennen ein  simultaner  Vorgang,  während  das  Hersagen  sukzessiv  verläuft. 
Das  Zeitintervall  zwischen  Erkennen  und  Hersagen  eines  Buchstabens 
wird  darum  umso  größer,  je  weiter  derselbe  in  der  Eeihe  nach  rechts 
steht.  Da  nun  die  Buchstabenreihen  weder  nach  innen  noch  nach  außen 
einen  wirksamen  assoziativen  Zusammenhang  haben,  lassen  sich  die  Ver- 
bindungen nur  schwer  zusammenhalten.  Sie  fallen  auseinander,  wir  ver- 
gessen sie.  Und  ganz  besonders  sind  es  die  letzten  Buchstaben  der  ex- 
ponierten Reihe ,  die  diesem  Schicksal  verfallen.  Die  Tabellen ,  welche 
Erdmann-Dodge  in  ihrem  Werke  geben ^),  zeigen  aufs  deutlichste,  daß 
gerade  die  letzten  Wortelemente  am  meisten  unerkannt  bleiben.  Sobald 
sinnlose  Silben  exponiert  werden,  wird  der  Umfang  des  Gelesenen  größer, 
weil  nunmehr  ein  fester  assoziativer  Zusammenhang  gegeben  ist,  der 
das  Auffassen,  insbesondere  aber  das  Hersagen  erleichtert.  Schon  die 
Einschaltung  von  Vokalen  in  exponierten  Konsonantenreihen  zeigt  eine 
Erweiterung  des  Leseumfangs  ,  weil  durch  Anklänge  an  bekannte  Silben 
das  Aufzählen  der  Buchstaben  etwas  erleichtert  wird. 

2)  Wir  haben  oben  gehört,  daß  beim  Lesen  von  Wörtern  der  Lese- 
umfang zuweilen  bis  25  Buchstaben  ansteigt  und  daß  Buchstaben  weit 
über  die  Grenze  des  deutlichen  Sehens  vom  Lesenden  noch  klar  erkannt 
werden  können.  Daraus  geht  hervor ,  daß  neben  dem  unmittelbaren  Ge- 
sichtseindruck die  „Reproduktion  der  ganzen  Wort  Vorstellung  eine  be- 
deutende Rolle  spielt".  (Vergl.  Kap.  7,  3).  Es  fragt  sich  nun  aber,  wie 
diese  Wortvorstellung  hervorgerufen  wird ,  ob  das  exponierte  Wort  als 
Ganzes,  in  seiner  Gesamt  form,  wirksam  ist,  oder  ob  einzelne  hervor- 
stechende Buchstaben  schon  ausreichen,  die  Wortvorstellung  zu  repro- 
duzieren. 

a)  Cattel,  Erdmann-Dodge  und  neuerdings  auch  E.  Becher  neigen 
zur  ersten  Erklärung.     Cattel  hat  seine  Ansicht  nicht  weiter  ausgeführt, 


1)  Siehe  TabeUe  VI.  S.  195  und  vergl.  Kapitel  9. 

2)  KrdmaDD-Dodge,  a.  a.  0.,  S.  831. 


^     207     — 

er  betont  nur,  daß  das  Schriftwort  als  Ganzes  aufgefaßt  wird.  Dabei 
aber  läßt  er  unklar,  ob  er  dieses  Ganze  optisch,  akustisch  oder  mo- 
torisch versteht. 

Ausführlicher  sind  Erdmann-Dodge.  Nach  ihnen  geht  alles  Wort- 
erkennen vom  optischen  Wortbild,  von  der  Gesamtform  aus.  Sie  ver- 
stehen darunter  ,,den  Inbegriff  der  gröberen  Züge  eines  Wortes,  welche 
deutlich  bleiben  können,  auch  wenn  kein  einzelner  von  den  Buchstaben 
erkennbar  ist,  die  das  Wort  konstruieren.  In  weiterer  Bedeutung  schließt 
sie  alle  die  Einzelheiten  ein,  in  denen  die  schwarze  Zeichnung  der  Buch- 
staben mit  den  weißen  Flächen  des  Untergrundes  konstrastiert''.  Die 
Verfasser  machen  sonach  einen  Unterschied  zwischen  einer  gröbern  und 
einer  feinem  Gesamtform  oder,  anders  gesagt,  zwischen  der  äußern  Um- 
grenzungslinie und  den  innerhalb  derselben  gegebenen  Buchstaben.  Auf 
Grund  ihrer  tachistoskopischen  Untersuchungen,  bei  denen  sie  stets 
beobachtet  zu  haben  glaubten,  daß  das  Wortbild  simultan  deutlich  er- 
faßt werde ,  schlössen  sie ,  daß  für  das  Erkennen  lediglich  die  gröbere 
Gesamtform  in  Betracht  komme,  daß  sie  allein,  ohne  Mithilfe  der  ein- 
zelnen Buchstaben  die  Reproduktion  des  gesehenen  Wortes  auslöse.  Zur 
Unterstützung  ihrer  Behauptung  machten  sie  folgenden  Versuch.  Sie  ex- 
ponierten Wörter  in  einer  solchen  Entfernung  vom  Lesenden ,  oder 
machten  bei  gewöhnlicher  Leseentfernung  die  Typen  der  Buchstaben  so 
klein,  daß  es  vollkommen  unmöglich  war,  einzelne  Buchstaben  zu  be- 
stimmen. Dennoch  konnten  sie  die  dargebotenen  Worte  etwa  bis  zur 
Hälfte  der  Expositionen  erkennen.  Die  Anschauungen  Erdmann-Dodges 
sind  nicht  ohne  Widerspruch  geblieben  ^).  Man  betonte,  daß  die  äußeren 
Bedingungen,  unter  denen  die  Verfasser  gearbeitet  hätten,  die  Zuver- 
lässigkeit ihrer  Resultate  in  Frage  stellten.  Ein  richtiges  Erkennen 
der  Teilvorgänge  sei  nur  bei  sehr  kleinen  Expositionszeiten  möglich,  die 
alle  jene  Faktoren  ausschlössen,  die  zu  ihrer  Mitwirkung  längere  Zeiten 
bedürften^).  Auch  die  erwähnten  Versuche,  welche  als  wichtige  Be- 
weise für  das  simultane  Erfassen  ins  Feld  geführt  werden,  sind  von 
Zeitler  ^)  und  neuerdings  von  Schumann  *)  stark  angezweifelt  worden. 

E.  Becher^)  hat  späterhin  durch  seine  Versuche  bei  Funkenbeleuchtung 
die  Erdmann'sche  Ansicht  zu  verteidigen  gesucht.     Daß   wir   aber   auch 


1)  W.  Wundt ,    Zur    Kritik    tachistoskopischer    Versuche    Philosoph.   Studien  XV 
S.  287—317  und  XVI  S.  62—70. 

2)  Messmer,  a.  a.  0.,  S.  1. 

3)  Zeitler,  a.  a.  0. 

4)  Schumann,  a.  a.  0.,  S.  174, 

5)  E.  Becher,  a.  a.  0.,  Bd.  36,  S.  19, 


—    208    — 

bei  ihm  nach  der  kurzen  Expositionszeit  mit  einer  erheblich  langen  Dauer 
des  Bildes  im  Bewußtsein  zu  reebnen  haben,  hat  Schumann  in  seinem 
bereits  angeführten  Werke  ebenfalls  erwähnt. 

b)  Eine  direkt  entgegengesetzte  Anschauung  wird  durch  Gold- 
scheider  -  Müller  und  Zeitler  vertreten.  Sie  gehen  von  dem  Gedanken 
aus,  daß  zur  Hervorbringung  der  Erinnerungsbilder  nicht  alle  Teile  des 
Leseobjekts  notwendigerweise  erkannt  werden  müssen.  Nach  ihnen  bilden 
die  determinierenden  (Goldscheider-Müller)  bez.  die  dominierenden  Buch- 
staben (Zeitler)  die  für  das  Erkennen  der  Schriftzeichen  wichtigsten 
äußeren  Faktoren.  In  der  Art  aber,  wie  diese  charakteristischen  Buch- 
staben sich  wirksam  erweisen,  gehen  die  beiden  Autoren  auseinander. 

Nach  Goldscheider-Müller  erwecken  die  determinierenden  Buchstaben 
die  zu  ihnen  gehörigen  phonetischen  Buchstabenklangerinnerungen.  Und 
diese  erst  rufen  die  durch  Assoziation  mit  ihnen  verbundenen  Buch- 
stabenklänge, also  die  Buchstabenklänge  der  nicht  dominierenden  Buch- 
staben und  damit  das  vollständige  Wortgebilde  hervor.  „Außer  diesem 
Vorgange  scheint  es  uns  dann  vorzukommen,  daß  von  den  determinie- 
renden Buchstaben  aus  die  Wortklangerinnerung  ausgelöst  wird ,  wäh- 
rend der  Weg  via  Ergänzung  des  optischen  Wortbildes  wohl  am  sel- 
tensten eingeschlagen  wird".  „Auch  ein  Lesen  in  Wortbildern  kommt 
vor;  da  mehrere  Buchstaben  gleichzeitig  erkannt  werden,  so  kann  zu- 
nächst schon  ein  sehr  kurzes  Wort  sofort  erkannt  werden".  Die  Ver- 
fasser verlegen  sonach  einen  großen  Teil  des  Leseaktes  in  die  aku- 
stische Sphäre.  Es  ist  unzweifelhaft,  daß  die  Wortklangerinnerung  für 
akustisch  -  motorisch  veranlagte  Personen  nicht  ohne  Bedeutung  ist;  es 
gibt  sicherlich  Buchstaben  und  Buchstabenkomplexe,  die  eine  Wortklang- 
erinnerung erwecken,  aber  in  der  Goldscheider - Müllerschen  Verallge- 
meinerung dürfte  die  Erklärung  falsch  sein. 

Zeitler  bleibt  der  optischen  Sphäre  treu.  Nach  ihm  bilden  die 
Wörter  gewissermaßen  Reliefe,  in  denen  die  dominierenden  Buchstaben 
die  Erhöhungen ,  die  neutralen  aber  die  Vertiefungen  darstellen.  Die 
Erhöhungen,  die  dominierenden  Buchstaben,  werden  zuerst  erkannt ;  aber 
das  Erkennen  geschieht  nicht  gleichzeitig,  sondern,  wenn  wir  Zeitler 
richtig  verstehen ,  nach  einer  doppelten  Abstufung ,  einmal  nach  der 
Stellung  im  Wortbilde  von  links  nach  rechts  und  zum  andern  nach  dem 
Grade  der  Domination  *). 


1)  Zeitler,  a.  a.  0.,  S.  402  „bietet  sich  der  Apperzeption  ein  Hindernis  in  Ge- 
stalt eines  falschen  Buchstabens,  so  kann  der  ganze  Prozeß  stocken.  In  der  Unmög- 
lichkeit die  weiter  nach  rechts  liegenden  Wortbestandteüe  richtig  aufzufassen,  liegt  ein 
klarer  objektiver  Beweis  für  die  Succession".  .  .  .  „aber  im  Grunde  reihen   wir  die  do- 


—    209    — 

Neben  den  dominierenden  Buchstaben  sind  es  vor  allem  die  mit 
ihnen  unmittelbar  verbundenen  Komplexe,  welche  sich  zur  Auffassung 
drängen.  „Diese  dominierenden  Elemente  und  Gebilde,  als  die  bevor- 
zugtesten Merkmale  des  Schriftzeichens,  erwecken  mit  ihnen  überein- 
stimmende reproduktive  Elemente". 

Zeitler  hat  diesen  ^eil  des  Lesevorgangs  als  apperzipierendes  Lesen 
bezeichnet.  In  ihm  überwiegt  der  Einfluß  der  direkten  Eindrücke.  Die 
Aufmerksamkeit  ist  mehr  nach  außen  gerichtet  und  läßt  eine  gewisse 
Spannung  erkennen. 

Diese  reproduktiven  Elemente  rufen  andere  Elemente ,  mit  denen 
sie  häufig  verbunden  waren,  ins  Bewußtsein;  aus  dem  Innern  heraus 
treten  zu  den  erkannten  Elementen  neue  Elemente  hinzu,  „mit  denen 
sich  die  unbetonten  und  nur  dunkel  percipierten  Strecken  des  Wort- 
bildes verbinden".  In  diesem  zweiten  Teil  des  Leseaktes  überwiegen  die 
sekundär  reproduzierten  Elemente  vor  den  direkten.  Die  Aufmerksamkeit 
verhält  sich  dem  äußern  Eindruck  gegenüber  mehr  passiv.  Diesen 
zweiten  Teilprozeß  nennt  Zeitler  assimilierendes  Lesen. 

Nun  lassen  sich  in  Wirklichkeit  diese  beiden  Teilvorgänge  nicht 
scharf  trennen.  Sie  laufen  vielmehr  parallel,  denn  mit  dem  Erkennen 
eines  dominierenden  Buchstabens  setzt  auch  sofort  der  Assimilations- 
prozeß ein. 

Goldscheider  -  Müller  und  Zeitler  betonen  zu  einseitig  die  Wirkung 
der  dominierenden  Buchstaben,  während  sie  den  Einfluß  der  Gesamtform 
vollkommen  verneinen,  oder  ihn  höchstens  nur  für  ganz  kleine  Wörter 
gelten  lassen  (Goldscheider-Müller). 

c)  Eine  vermittelnde  Stellung  nimmt  Messmer  ein.  Er  unterscheidet 
zunächt  zwei  Typen  von  Lesern ,  den  objektiven  und  den  subjektiven 
Typus.  Beim  objektiven  Leser  hält  sich  der  Aufmerksamkeitspunkt 
stets  in  unmittelbarer  Nachbarschaft  des  physiologischen  Fixations- 
punktes.      Er   fluktuiert   nur   wenig,    darum   ist    der  Aufmerksamkeits- 


minierenden  Komplexe  ähnlich  successiv  aneinander,  wie  beim  primitivsten  buchstabie- 
renden Lesen  der  Buchstaben"  (403).  Hier  ist  also  von  einer  Aufeinanderfolge  von  links 
nach  rechts  die  Rede.  An  einer  anderen  Stelle  (403)  schreibt  Zeitler:  „Zuerst  tauchen 
die  einzelnen  Buchstabengruppen  in  verschiedener  zeitlicher  Abstufung  auf,  wofür  we- 
niger ihre  räumliche  Reihenfolge  als  vielmehr  die  Gliederung  nach  ihrer  determinierenden 
Beschaffenheit  in  Frage  kommt".  In  dieser  Stelle  legt  Zeitler  wiederum  mehr  Gewicht 
auf  die  Abstufung  nach  der  Domination. 

S.  404  endlich  befindet  sich  folgende  Stelle :  „die  beiden  Componenten,    auf  deren 
Grundlage  die  Succession  sich  aufbaut,  sind : 

a)  die  Gliederung  der  dominierenden  Buchstaben  von  links  nach  rechts, 

b)  die  verschiedene  Höhenlage  der  Buchstaben  im  Wortbilde  in  der  Vertikalrichtung. 


—     210    — 

umfang  klein  *).  Das  tachistoskopische  Lesen  vollzieht  sich  genau  in  der 
S.  198  angegebenen  Weise.  Bei  der  ersten  Exposition  werden  nur  we- 
nige Buchstaben  erkannt,  und  erst  in  den  folgenden  Wiederholungen 
wird  nach  und  nach  der  ganze  Buchstabenbestand  gelesen.  Dabei  muß 
jedesmal  die  Fixation  eine  neue  Lage  wählen.  Die  Aufmerksamkeit  ist 
beim  objektiven  Leser  mehr  nach  außen  gerichtet,  darum  ist  das  Er- 
kannte objektiv  treu.  Zwischen  Wahrnehmung  und  subjektiver  Ergän- 
zung vermag  er  genau  zu  unterscheiden. 

Der  subjektive  Leser  zeigt  direkt  umgekehrte  Merkmale.  Seine 
Aufmerksamkeit  ist  nicht  an  den  physiologischen  Fixationspunkt  ge- 
bunden, sie  kann  sich  weiter  von  diesem  entfernen  und  über  das  Wort 
hinwandern.  Darum  vermag  er  Buchstaben  zu  lesen ,  die  weit  vom 
Fixationspunkt  entfernt  sind.  Sein  Aufmerksamkeitsumfang  ist  groß. 
Er  beträgt  für  sinnlose  Buchstabenverbindungen  7,  für  Wörter  sogar 
22—25  Buchstaben.  Am  Tachistoskop  liest  der  subjektive  Leser  in 
ganzen  Wörtern,  ein  Lesen  bloßer  Wortteile  findet  nur  selten  statt. 
Aber  dafür  fehlt  dem  Gelesenen  die  objektive  Treue ;  nicht  selten  treten 
falsche  Lesungen  ein ,  weil  oft  mehr  erraten  als  wirklich  beobachtet 
wird.  Die  Aufmerksamkeit  ist  mehr  nach  innen  gerichtet ;  „der  fluktuie- 
rende Leser  sieht  und  analysiert  eben  weniger  die  dargebotenen  Worte, 
als  seinen  eigenen  früher  erworbenen  Wortschatz,  mit  welchem  er  den 
ganz  flüchtig  aufgefaßten  Eindruck  des  Wortbildes  zu  interpretieren 
sucht  ^)".  Zwischen  objektiver  Wahrnehmung  und  subjektiver  Zutat  ver- 
mag er  nicht  mit  Sicherheit  zu  unterscheiden  ^). 

Was  den  Vorgang  des  Erkennens  betrifft,  so  wirken  nach  Messmer 
die  beiden  äußeren  Faktoren,  die  Wortform  und  die  dominierenden  Buch- 
staben, zusammen. 

a)  Wenn  die  Aufmerksamkeit  über  das  Wortbild  hinzieht ,  so 
bietet  sich  ihr  einmal  die  optische  Gesamtform  dar.  Messmer  hat 
zum  erstenmale  eine  genaue  Definition  des  Begriffes  Gesamtform  ge- 
geben. Li  seinem  mehrfach  erwähnten  Werke  hat  er  gezeigt,  daß  in 
die  Gesamtform  drei  Faktoren  eingehen,  die  Typenbreite,  die  Typenhöhe 
und  die  optische  Form  der  Typen.     Die  Typenbreite  geht  in  die  Wort- 


1)  Vergl.  Tabelle  VI  S.  195.  Er  beträgt  bei  der  Exposition  sinnloser  BuchsUben- 
verbindungen  3  und  steigt  bei  der  Exposition  von  Wörtern  auf  12—15  Bncbstaben  an. 

2)  Meumann,  a.  a.  0.,  S.  253. 

3)  Schumann,  a.  a.  0.,  S.  169  hat  die  beiden  Versuchspersonen,  die  Messmer  lor 
Aufstellung  dieser  Typen  Veranlassung  gaben ,  zu  psychologischen  Untersuchungen  be- 
nutzt. Er  ist  dabei  zu  andern  Resultaten  als  Messmer  gekommen  und  glaubt,  daß  die 
Unterscheidung  der  Leser  in  objektive  und  subjektive  Leser  sich  nicht  aufrecht  er- 
balten lasse.     Vgl.  oben  Anm.  1,  S.  199. 


—    211     — 

länge  ein.  Die  Typenhöhe  liefert  den  Eindruck  des  schwarzen  Streifens 
mit  dominierend-rythmisier enden  Teilen.  Die  geometrische  Form  liefert 
den  Eindruck  relativer  Starrheit.  Demnach  ist  die  Gresamtform  folgen- 
dermaßen zu  beschreiben:  „Das  Wortbild  besteht  seinem  optischen  Ge- 
samtcharakter nach  aus  einem  schwarzen  Streifen  von  relativ  abschätz- 
barer Länge,  über  den  einzelne  rhythmisierende  Gipfel  dominieren  und 
der  seinem  Hauptcharakter  nach  aus  senkrechten  Strichen  besteht,  deren 
Starrheit  belebt  wird  durch  mehr  oder  weniger  häufige  Zeichen  von 
gebogener  Form"  (33).  Die  Wortform  kann  allein  schon  zur  Erkennung 
des  Wortes  ausreichen.  Sie  wird  dies  um  so  leichter  tun,  je  einheit- 
licher sie  gestaltet  ist,  je  weniger  sie  Elemente  besitzt,  die  eine  Glie- 
derung (dominierende  Buchstaben)  und  Belebung  (Buchstaben  von  rund- 
lichen Formen)  herbeiführen.  Ein  Beispiel  möge  das  Gesagte  illustrieren. 
Die  Wörter 

wimmern ,  nennen ,  weinen , 
bestehen  zumeist  aus  Buchstaben ,  die  keine  „individuell  geometrische 
Form"  besitzen.  Darum  kommt  l)ei  ihnen  mehr  die  Gesamtform  zur 
Geltung,  und  die  Wörter  werden  simultan,  auf  Grund  ihrer  Gesamtform 
erkannt.  Allerdings  hat  die  gleichförmige  Konfiguration  aber  auch  an- 
drerseits wiederum  den  Nachteil,  daß  gerade  die  so  beschaffenen  Wörter 
leicht  Verwechselungen  und  Verschmelzungen  ausgesetzt  sind.  Umge- 
kehrt verhalten  sich  die  Wörter: 

physiologisch ,         psychologisch ,         philologisch. 
Sie  sind   durch   dominierende  Buchstaben   und  Buchstaben    von  rundlich 
geometrischen  Formen   gegliedert   und    belebt.     Darum   werden    sie   nur 
analysierend ,    in   Stücken ,    also    successiv   gelesen ,   aber   die   Lesungen 
sind  genau  ^). 

ß)  Den  zweiten  Faktor  im  Erkennen  des  Wortbildes  bilden  wie  gesagt 
einzelne  Buchstaben,  die  im  optischen  Bilde  ungleich  dominieren.  Sie  treten 
sukzessiv  ins  Bewußtsein  und  zwar  so,  „daß  zuerst  die  höchsten  Gipfel 
und  dann  die  kleineren  folgen".  Nicht  selten  kommt  es  auch  vor,  daß 
die  mit  den  Buchstaben  benachbarten  Elemente  ins  Bewußtsein  eintreten. 
Dies  geschieht  namentlich  dann ,  „wenn  sie  infolge  einer  individuellen 
Konfiguration  mit  den  dominierenden  Buchstaben  sich  zu  einer  Gruppe 
vereinigen  wie  sw,  kt,  schw  etc.".  Aber  das  prinzipielle  Verfahren  be- 
deutet dieses  letztere  Lesen,  das  Lesen  in  Komplexen,  nicht. 

Je  nach  der  Art  des  Zusammenwirkens  der  beiden  Faktoren  lassen 
sich  drei  Erkennungsbedingungen  feststellen: 


1)  Messmer,  a.  a.  0.,  S.  35  und  Dearborn,  a.  a.  0.,  S.  51. 


—    212    — 

Einmal  können  sie  beide  in  gleichmäßiger  Weise  zur  Geltung  kom- 
men, ^das  ist  der  günstigste  Fall  für  die  beiden  Typen". 

Zum  andern  tritt  die  Gesamtform  allein  als  wirksamer  Faktor 
hervor,  während  die  dominierenden  Buchstaben  sich  aus  ihr  fast  nicht 
herauslösen.     „Das  ist  der  gewöhnliche  Fall  für  den  subjektiven  Typus-. 

Und  drittens  endlich  werden  in  erster  Linie  die  dominierenden  Buch- 
staben erkannt,  aber  der  Gesamtcharakter  tritt  in  seiner  Wirkung  zu- 
rück.    „Das  ist  der  gewöhnliche  Fall  für  den*^ objektiven  Typus". 

Aus  der  bisherigen  Darstellung  ergibt  sich,  daß  die  Gesamtform 
des  Wortes  beim  Lesen  eine  bedeutende  Rolle  spielt,  daß  aber  daneben 
auch  einzelne  Buchstaben  und  Buchstabenkomplexe,  die  dominierenden, 
wirksam  sind.  Sie  treten  von  allen  Buchstaben  zuerst  ins  Bewußtsein 
und  helfen  durch  Reproduktion  der  übrigen  Wortteile  die  anfangs  nur 
dunkel  perzipierten  Stellen  deutlich  erkennen.  Ob  aber  dabei  eine  Wan- 
derung der  Aufmerksamkeit  stattfindet,  wie  Zeitler  und  Messmer  an- 
nehmen, dürfte  fraglich  sein. 

E.  Becher  *)  und  Dearborn  ^)  haben  gezeigt ,  daß  bei  einer  Exposi- 
tionszeit von  100  6  keinerlei  Auf merksamkeits Wanderungen  vorkommen. 
Der  erste  ließ  am  Tachistoskop  von  einander  entfernte  Buchstaben 

a  b 

in  der  Weise  lesen,  daß  einmal  der  Fixationspunkt  und  der  Aufmerk- 
samkeitspunkt auf  „b"  fielen,  während  ein  andermal  der  Fixationspunkt 
in  „b"  verblieb  und  die  Aufmerksamkeit  sich  auf  „a"  richtete.  Es  zeigte 
sich  dabei,  daß  jedesmal  derjenige  Buchstabe  am  häufigsten  gelesen 
wurde,  auf  welchem  die  Aufmerksamkeit  ruhte,  also  im  ersten  Fall  „b'^, 
im  zweiten  Fall  „a".  Eine  Aufmerksamkeits Wanderung  fand  also  beide- 
mal nicht  statt.  Denn  wäre  die  Aufmerksamkeit  gewandert,  so  hätten 
beide  Punkte  jedesmal  in  gleich  starker  Anzahl  gelesen  werden  müssen. 

Dearborn  hat  nach  seiner  in  Abschnitt  I  dargestellten  Methode 
Photographien  von  Augenbewegungen  während  einer  Lesezeit  von  100  6 
hergestellt.  Ausgehend  von  dem  Gedanken,  daß  jede  Aufmerksamkeits- 
wanderung auch  eine  Augenbewegung  nach  sich  ziehe,  untersuchte  er 
die  auf  der  Photographie  gegebenen  senkrechten  Linien,  die  den  Ruhe- 
pausen beim  Lesen  entsprechen.  Unter  vier  Versuchspersonen  ließen 
zwei  gar  keine  Bewegung  des  Auges  erkennen,  zwei  andere  zeigten  wohl 
Bewegimgen,  aber  dieselben  konnten  keineswegs  auf  Aufmerksamkeits- 
wanderongen  zurückgeführt  werden.     Sie  hingen  vielmehr  von  der  Er- 


1)  K.  Becher,  t.  a.  0.,  S.  87  ff. 

2)  Dearborn,  a.  a.  0.,  8.  64  ff. 


—    213    — 

müdung  des  Auges  ab  und  setzten  schon  ein ,  bevor  die  zu  lesenden 
Wörter  auf  der  Expositionsfläche  erschienen. 

3)  Auch  das  Lesen  der  Sätze  vollzieht  sich  in  ähnlicher  Weise  wie 
das  Lesen  der  Wörter;  nur  daß  hier  manchmal  kleinere  Satzteile  auf 
Grund  ihrer  Gesamtkonfiguration  erkannt  werden  können.  Die  äußere 
Assoziation  der  Wörter  und  ebenso  der  Bedeutungszusammenhang  spielen 
hier  eine  so  bedeutende  Rolle ,  daß  oft  geläufige  Sätze  an  einem  Wort 
erkannt  werden  oder  aber  Wörter  gelesen  werden,  bevor  sie  im  Gesichts- 
feld erscheinen. 

Es  erübrigt  noch  in  aller  Kürze  auf  die  Bedeutung  der  akustisch- 
motorischen Eaktoren  beim  Lesen  einzugehen.  Wir  haben  oben  bereits 
erwähnt,  daß  nach  der  Anschauung  Goldscheider-Müllers  jeder  deter- 
minierende Buchstabe  sein  entsprechendes  Klangbild  auslöse.  Diese  An- 
nahme aber  haben  spätere  Untersuchungen  nicht  bestätigt.  Nach  Messmer 
schließt  sich  das  Klangbild  eines  Wortes  erst  an  das  fertige,  apper- 
zipierte  optische  Bild  an  und  mit  ihm,  dem  Klangbild,  verläuft  gleich- 
zeitig das  Sprachbewegungsbild.  Es  wäre  sonach  für  das  Erkennen 
des  einzelnen  Wortes  vollkommen  bedeutungslos.  Eine  größere  Rolle 
übrigens  scheint  das  Klangbild  beim  Lesen  eines  Satzes,  oder  im  zu- 
sammenhängenden Lesen  zu  spielen,  wenigstens  dürfte  es  vorkommen, 
daß  im  Verlaufe  des  Lesens  schon  das  Klangbild  eines  nachfolgenden 
Wortes  reproduziert  wird. 


B.    Die  physiologische  Methode. 

9.  Kapitel. 

Dearborns  Hypothese  über  den  inneren  Leseakt  M- 

Die  Untersuchungen  nach  der  zweiten  Methode  gehen  ähnlich  wie 
die  tachistoskopischen  Untersuchungen  von  sinnlosen  Buchstabenverbin- 
dungen, von  Wörtern,  Sätzen  und  Zahlenreihen  aus.  In  der  Anordnung 
des  Lesestoffes  aber  halten  sie  die  Mitte  zwischen  den  isolierten  Dar- 
bietungen der  ersten  und  den  zusanamenhängenden  Reihen  vieler  Ver- 
suche der  dritten  Methode  ein.  Dearborn  hat  nach  kleinen  Buchstaben- 
(Zahlen-)gruppen  immer  wieder  größere  Lücken  gelassen ,  so  daß  eine 
Anordnung  entstand ,  wie  sie  die  nachfolgende  Serie  sinnloser  Silben 
verdeutlicht. 

SEAG        TUIE        WERQ        TIOE        ERSA. 

1)  Dearborn,  a.  a.  0.,  S.  65  flf. 


—    214    — 

Diese  Aufeinanderfolge  ließ  nur  für  die  fixierte  Gruppe  eine  deut- 
liche Wahrnehmung  zu,  aber  sie  gestattete  zugleich  —  und  darin  kommt 
dieser  Versuch  dem  normalen  Lesen  nahe  — ,  den  ganzen  Rest  der  Zeile 
peripherisch  zu  erblicken.  Außerdem  hob  sie  jede  Störung  durch  be- 
nachbarte Buchstaben,  benachbarte  Reihen  auf.  Die  Untersuchungen 
selbst  waren  doppelter  Art  : 

1)  An  der  Hand  der  gewonnenen  Photographien  stellte  Dearbom 
zunächst  für  jedes  einzelne  Leseobjekt  die  Dauer  der  Fixationspause 
fest.  Er  machte  dabei  die  Beobachtung,  daß  in  sinnlosen  Silbenverbin- 
dungen die  Dauer  der  Pausen,  also  die  Dauer  der  Lesezeit  abnahm,  so- 
bald die  Buchstabenverbindung  sich  bekannten  und  geläufigen  Wörtern 
näherte.  So  wurden,  um  bei  Dearborns  Beispielen  zu  bleiben,  Verbin- 
dungen wie  werq ,  enfa  etc.  viel  leichter  und  schneller  gelesen  als  die 
Silbenzusammensetzungen  dpiu ,  weao  etc.  Zum  großen  Teil  ist  nun 
allerdings  diese  Kürze  auf  eine  leichtere  Sprechweise  zurückzuführen. 

In  bezug  auf  die  Wörter  konnte  Dearbom  aufs  neue  bestätigen, 
daß  größere  Wörter  nicht  notwendigerweise  auch  längere  Lesezeiten 
bedürften.  Zehnbuchs tabige  Wörter  verlangten  vielfach  nicht  mehr 
Zeit  als  solche ,  die  nur  drei  Buchstaben  hatten.  Ja  zuweilen  kam 
es  vor,  daß  längere  Wörter  in  kürzeren  Zeiten  bewältigt  wurden  als 
kurze. 

Ganz  anders  zeigten  sich  die  Verhältnisse  bei  den  Zahlen.  Einmal 
beanspruchte  ihr  Lesen  mehr  Zeit  als  eine  gleichzahlige  Buchstabenreihe, 
und  zum  andern  wuchs  die  Dauer  der  Pausen  (Lesezeiten)  im  direkten 
Verhältnis  mit  der  Vergrößerung  der  Gruppe.  Bestand  eine  Gruppe 
aus  vier  Elementen,  so  überstieg  die  Lesezeit  um  mehr  als  die  Hälfte 
die  Zeit,  die  für  eine  dreigliedrige  Gruppe  notwendig  war.  (Mittlerer 
Durchschnitt  der  Lesezeiten  für  eine  viergliederige  Gruppe  =  955  tf,  für 
eine  dreigliederige  452  6  S.  69). 

Auf  Grund  der  beschriebenen  Erscheinungen  nahm  Dearbom  wie- 
derum an,  daß  die  Wahrnehmung  der  Wörter  simultan  erfolge,  während 
die  Wahrnehmung  der  Zahlen  in  sukzessiver  Weise  stattfinde  ^).  Die  Ur- 
sache dieser  Erscheinung  liegt,  wie  auch  aus  den  Versuchen  nach  der 
ersten  Methode  hervorgeht,  in  der  Assoziation.  In  Wörtern  erscheinen 
die  Buchstaben  stets  an  derselben  Stelle,  stets  in  der  gleichen  Ver- 
bindung.   Darum  kann   sich  gleich  ein  Gesamtbild  entwickeln,   das   das 

1)  Dearbom,  a.  a.  0.,  S.  70.  „This  seems  to  justify  but  one  conclusion,  the 
words  are  read  as  wholes,  and  the  fact  that  there  is  a  constantly  increasing  ratio 
of  time  taken  in  reading  the  larger  numbers  shows  that  the  latter  are  not  so  read.  The 
Innervation  is  split  up  and,  as  said,  it  is  first  necessary  to  analyse  and  than  combine 
into  wholes". 


I 


1 


-     215    — 

simultane  Erfassen  ermöglicht.  Die  Zahlengruppen  aber  erscheinen  sehr 
häufig  in  anderer  Zusammensetzung,  die  Gesamtinnervation  wird  ver- 
eitelt ,  weil  die  einzelnen  Elemente  immer  wieder  in  ihrer  Stellung 
wechseln.  Mehrstellige  Zahlen  können  darum  in  ihrer  Gesamtheit  erst 
erkannt  werden,  wenn  sie  nach  und  nach  in  ihren  einzelnen  Ziffern 
wahrgenommen  sind.  Zwischen  beiden  Extremen  bewegen  sich  die  sinn- 
losen Silbenverbindungen,  die  je  nach  ihrer  Buchstabenfolge  bald  mehr 
den  Zahlenreihen,  bald  mehr  den  Wörtern  sich  nähern^). 

2.  In  zweiter  Linie  untersuchte  Dearborn  die  kleinen  Schwankungen 
der  Blicklinie,  die  sich  während  der  Fixationspausen  einstellten.  Sie 
waren  beim  Lesen  zusammenhängender  Stoffe  nur  selten  zu  sehen,  zeigten 
sich  aber  in  größerer  Anzahl  beim  Lesen  von  Zahlen.  In  den  meisten 
Fällen  konnten  2 — 5  kurze,  scharfe  Bewegungen  während  einer  Fixation 
beobachtet  werden.  Nun  wissen  wir  allerdings  aus  Kapitel  3,  daß  das 
Auge  nie  vollkommen  ruhig  ist,  daß  es  vielmehr  während  der  Fixation 
mannigfache  Bewegungen  ausführt,  dia  mit  der  Ermüdung  des  Auges 
zunehmen.  Wenn  aber  für  ein  und  dieselbe  Person  unter  sonst  gleich- 
bleibenden äußeren  Umständen  ein  so  bedeutender  Unterschied  in  der 
Fixationssch wankung  hervortritt,  wie  er  beim  Lesen  von  Wörtern  und 
Zahlen  sich  geltend  macht ,  so  dürfte  doch  daraus  folgen ,  daß  beide  in 
durchaus  verschiedener  Weise  gelesen  werden^). 

Beim  Lesen  bekannter  Wörter  und  Sätze  bleibt  das  Auge  ruhig,  die 
Aufmerksamkeit  ist  über  das  ganze  Gebiet  verteilt,  und  die  Wahrneh- 
mung erfolgt  simultan.  Beim  Lesen  von  Zahlen  bewegt  sich,  das  Auge 
vor-  und  rückwärts,  die  Aufmerksamkeit  umfaßt  nur  einen  kleinen  Raum 
und  ist  gezwungen,  das  ganze  Gebiet  zu  durchwandern. 

Dearborn  unterscheidet  demnach  zwischen  Verteilung  und  Schwanken 
der  Aufmerksamkeit.  Eine  Verteilung  der  Aufmerksamkeit  und  dem- 
gemäß ein  simultanes  Erfassen  ist  überall  da  vorhanden,  wo  die  einzelnen 


1)  Dearborn,  a.  a.  0.,  S.  71.  „Groups  of  numerals  (except  in  the  case  of  familiär 
dates.  as  1905,  which  are  exceptions  that  prove  the  rule)  are  so  seldom  made  up  of 
the  same  series  of  digits  that  they  never  acquire  a  „Gesamtbild",  and  are  therefore 
recognized  as  totals  only  after  a  successive  perception  of  the  digits  has  taken  place. 

The  case  is  exactly  similar  in  the  reading  of  groups  or  lines  of  consonants ;  where 
vowels  are  added  as  in  nonsense  words ,  the  span  of  attention  is  somewhat  widened  by 
the  occasional  recognition  of  a  familiär  syllable". 

2)  Dearborn,  a.  a.  0.,  S.  71 :  „These  differences  (in  der  P'ixationssch wankung)  appear 
in  the  reading  of  numerals  only  because  the  process  of  perception  in  the  latter  case  is 
materially  different  from  that  which  takes  place  in  the  reading  of  words.  In  reading^ 
groups  of  three  or  more  numerals  the  process  of  innervation  is  broken  into  smaller  di- 
visions ;  in  the  reading  of  familiär  words  and  phrases ,  it  is  a  unit  coextensive  with  the 
whole  immediate  area  of  the  fixation". 


—    216     — 

Elemente  in  inniger  assoziativer  Verbindung  stehen,  während  ein  Auf- 
merksamkeitsschwanken  und  sohin  ein  sukzessives  Lesen  überall  da  statt- 
findet, wo  zwischen  den  einzelnen  Elementen  eine  assoziative  Verbindung 
fehlt  oder  wenigstens  für  den  betreffenden  Leser  nicht  vorhanden  ist 
(fremdsprachliches,  unbekanntes  Wort)*). 

Dies  scheint  jedoch  in  vollem  Umfang  nur  für  den  schnellen  Leser 
zu  gelten,  der,  wie  wir  gehört  haben,  einen  großen  Aufmerksamkeits- 
umfang  besitzt  und  darum  wohl  meistens  in  ganzen  Wörtern  liest,  für 
den  langsamen  Leser  dagegen  bildet  sehr  oft  die  Einheit  die  Silbe,  also 
nur  ein  kleinerer  Wortteil. 

Die  beiden  Untersuchungen  Dearboms  führen  zum  gleichen  Resul- 
tate. Beidemal  ergibt  sich,  daß  je  nach  dem  assoziativen  Zusammenhang 
der  Leseelemente  ein  simultanes  oder  sukzessives  Erkennen  erfolgt. 

Simultan  werden  bekannte  Wörter  gelesen,  weil  ihre  Teile  asso- 
ziativ zusammenhängen;  successiv  werden  Zahlengruppen  erfaßt,  weil 
die  Ziffern  in  stets  wechselnder  Anordnung  sich  finden.  Von  einem 
simultan-successiven  Lesen  könnte  man  beim  Lesen  von  Buchstaben- 
verbindungen, von  Silben  und  fremden  Wörtern  sprechen,  weil  hier  der 
assoziative  Zusammenhang  nur  bis  zu  bekannten  Silben  ansteigt,  weil 
nicht  das  ganze  Objekt,  sondern  nur  ein  Teil  desselben  auf  einmal  in 
unser  Bewußtsein  eintritt. 

Diese  Gesetzmäßigkeit  erfährt  nun  insofern  eine  Einschränkung,  als 
schnelle  Leser  auch  größere  Wörter  simultan  zu  erfassen  vermögen, 
während  langsame  Leser  nur   kleinere  Wortteile  auf  einmal  erkennen*). 


1)  Dearborn,  a.  a.  0.:  „The  question  of  the  distribution  or  fluctuation  of  attention 
simply  resolves  then  into  one  of  the  success  or  failure  in  forming  unitary  groups"  (S.  72). 
„The  general  conclusion  is  that  there  is  strictly  no  such  thing  as  a  distribution  of  atten- 
tion to  disparate  and  unassociated  things,  and  that  such  distribution  is  a  psychological 
and  logical  impossibüity.  When  things  are  isolated  in  association  there  is  a  finctaation 
of  attention  between  them.  "W'hen  by  means  of  the  many  tricks  of  association  they 
are  groaped  into  a  conscious  unity,  this  fluctuation  is  no  longer  necessary"  (S.  73). 

2)  Es  wäre  interessant  zu  erfahren,  ob  nicht  der  Charakter  der  Wortform  (versl. 
Messmers  Definition)  die  von  Dearborn  gefundene  Gesetzmäßigkeit  gleichfalls  l)eeintriuh- 
tigt,  ob  nicht  Wörter  mit  einfacher  Gesamtform  andere  Ergebnisse  liefern  wie  solche, 
bei  denen  dominierende  Buchstaben  und  Buchstaben  von  rundlich  geometrischen  Formen 
die  Gesamtform  gliedern  und  beleben.  Dearboms  Beobachtungen  führten  zu  einem  ne- 
gativen Ergebnis.    (Vergl.  Dearborn,  a.  a.  0.,  S.  51.) 


217 


C.    Methoden,  welche  von  Zeitmessungen  ausgehen. 

10.  Kapitel. 
Allgemeines. 

Die  dritte  Methode  oder,  besser  gesagt,  die  dritte  Gruppe  von  Me- 
thoden sucht  die  psychologischen  Vorgänge  dadurch  zu  beleuchten,  daß 
sie  Zeitmessungen  ausführt.     Dieselben  können  dreierlei  Art  sein. 

Zunächst  läßt  sich  bestimmen,  wie  lange  man  braucht,  um  Buch- 
staben und  Wörter  zu  1  e  s  e  n,  wenn  sie  im  Zusammenhang  gegeben 
sind.  Diese  Untersuchungen  schließen  sich  an  gewöhnliche  Texte  an 
und  lassen  sich  in  mannigfacher  "Weise,  unter  starker  Variation  der 
äußeren  Verhältnisse  ausführen. 

Sodann  kann  die  Zeit  gemessen  werden,  welche  man  braucht,  um 
einzelne  Buchstaben  oder  einzelne  Wörter  zu  erkennen.  Dabei  wird 
gewöhnlich  in  der  Weise  verfahren ,  daß  die  Versuchsperson  auf  einen 
Buchstaben-  oder  einen  Wortreiz  mit  einer  Hand-  oder  Lippenbewegung 
reagiert.  Durch  eine  geeignete  Vorrichtung  wird  dann  die  Zeit  vom 
Beginn  des  Reizes  bis  zum  Beginn  der  reagierenden  Bewegung  gemessen. 
Sie  heißt  Reaktionszeit.  Hierher  zählen  auch  die  Versuche,  welche 
Teilvorgänge  der  Reaktion,  die  einfache  Reaktionszeit,  die  Unterschei- 
dungs-  und  die  Wahlzeit,  messen. 

In  dritter  Linie  endlich  kann  die  kleinste  Expositionszeit 
für  ein  Schrift  zeichen  ermittelt  werden.  Man  versteht  darunter  die- 
jenige Zeit,  die  ein  Buchstaben-  oder  ein  Wortreiz  wirken  muß,  um  er- 
kannt zu  werden.  Grewöhnlich  beginnt  man  dabei  mit  sehr  kurzen  Ex- 
positionszeiten und  variiert  dieselben  solange,  bis  das  Objekt  in  seinem 
ganzen  Umfange  erkannt  wird. 

Diesen  Methoden  wollen  wir  auch  noch  diejenigen  Messungen  bei- 
zählen, welche  bei  festgehaltener  Zeit  bestimmen,  wie  oft  in  einer  Reihe 
von  Versuchen  ein  Buchstabe  oder  ein  Wort  erkannt  wird.  Formell 
schließen  sich  diese  Versuche  mehr  an  die  Methode  A  an,  aber  in  ihren 
Ergebnissen  rücken  sie  den  „C-Methoden"  näher. 

Es  läge  nun  nahe,  die  folgende  Darstellung  nach  den  verschiedenen 
Versuchsreihen  zu  gliedern.  Indes  es  erscheint  vorteilhafter,  mehr  nach 
den  Aufgaben,  denen  diese  Versuche  dienen,  die  Behandlung  einzurichten. 

In  einem  1.  Kapitel  (Kap.  11)  haben  wir  sonach  von  den  Versuchen 
zu  berichten ,    welche  die  Zeit  bestimmen ,    die  man  braucht ,    um  Buch- 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  15 


—    218    — 

staben  nnd  Wörter  zu  lesen  oder  zn  erkennen  (Lese-  and  Reaktionszeit). 
Sie  wollen  durch  Festlegung  der  Zeiten  einen  tiefern  Einblick  in  den 
innem  Lesevorgang  vermitteln. 

Eine  zweite  Gruppe  umschließt  Versuche,  welche  außerhalb  unseres 
Körpers  liegende  Faktoren,  die  beim  Lesen  eine  Rolle  spielen,  beleuchten. 
Sie  suchen  günstigere  Lesebedingungen  zu  erforschen  und  dienen  somit 
praktischen  Zwecken. 

Zu  einer  dritten  Gruppe  endlich  gehören  Versuche,  welche  indivi- 
duelle Unterschiede  beim  Lesen  zu  ermitteln  suchen.  Huey  *)  und  Quantz  ^) 
haben  nach  dieser  Richtung  geforscht ;  aber  ihre  Resultate  sind  unsicher^). 
Wir  haben  darum  von  einer  Besprechung  desselben  abgesehen  und  wollen 
hier  nur  erwähnen,  daß  nach  Quantz  Personen  von  visuellem  Typus  ein 
wenig  rascher  als  solche  von  akustischem  Typus  lesen  und  femer,  daß 
die  ausgesprochenen  Vertreter  dieser  Typen  im  Erfassen  der  Leseobjekte 
oft  gehemmt  werden,  wenn  beide  Sinne,  also  Auge  und  Ohr  zusammen- 
wirken, wie  es  beim  eignen  lauten  Lesen  geschieht. 


11.  Kapitel. 
Lese-  und  Reaktionszeit. 

Die  Messungen,  welche  man  unternommen  hat,  um  die  Zeitdauer  des 
Lesegangs  zu  bestimmen,  gehen  in  der  Hauptsache  auf  Cattell*)  und 
Erdmann-Dodge '^)  zurück.  Sie  lassen  sich,  wie  wir  oben  gehört  haben, 
nach  drei  Richtungen  ausführen. 

1.  Zunächst  wurde  die  Zeit  gemessen ,  die  man  zum  Erkennen  und 
Benennen  der  Schrift  zeichen  braucht  und  die  man  gemeinhin  als  Lesezeit 
bezeichnen  könnte.  Man  ging  dabei  von  bestimmten  mutter-  oder  fremd- 
sprachlichen Texten  aus.  Cattell  und  Messmer^)  ließen  jedesmal  100  oder 
500   Buchstaben    und  Wörter    in   normaler    und    schneller  Weise    lesen. 


1)  a.  a.  0. 

2)  J.  0.  Quantz,  Problems  in  the  Psychology  of  Reading.     The  Psychological  Review. 
2,  8.  1—60. 

8)  Schumann,  a.  a.  0.,  S.  160. 

4)  a)  .1.  M.  K.  Cattell,    Über  die  Zeit  der  Erkennung  und  Benennung  der  Schrift- 

zeichen etc.    Wundt,  Philos.  Studien,  II,  S.  635  fr. 

b)  J.  M.  K.  Cattell,  Über  die  Trägheit  der  Netzhaut  und  des  Sehzentrums.    Wundt, 
Philos.  Studien,  III,  S.  94—127. 

c)  J.  M.  K.  Cattell,  Psychometrische  Untersuchungen.    Wundt,  Philos.  Studien,  III 
S.  305—385  u.  452—485. 

5)  Erdmann-Dodge,  a.  a.  C,  Kapitel  9,  10  u.  11. 

6)  Messmer,  a.  a.  0.,  S.  79  ff. 


—    219    — 

Las  man  wie  gewöhnlich  von  links  nach  rechts,  so  waren  Buchstaben 
und  Wörter  in  sinnvollem  Zusammenhang  gegeben;  um  sie  beide  auch 
in  sinnloser  Aneinanderreihung  zu  bekommen,  wurde  die  gleiche  Anzahl 
der  Schriftzeichen  von  rechts  nach  links,  also  rückwärts  gelesen.  Die 
Versuchspersonen  gewöhnten  sich  rasch  an  die  anfangs  fremdartige  Lese- 
weise. Mit  Hilfe  eines  Taschenchronoskops  bestimmten  die  beiden  Forscher 
zuerst  die  Gresamtlesedauer  und  berechneten  aus  ihr  die  durchschnittliche 
Zeit,  die  zum  Erkennen  und  Benennen  eines  Buchstabens  oder  eines 
Wortes  nötig  ist.  Dabei  ist  allerdings  zu  beachten,  daß  die  so  gewon- 
nenen Werte  hinter  den  wirklichen  Zeitgrößen  zurückstehen,  da  das  Aus- 
sprechen eines  Schriftzeichens  noch  in  die  Wahrnehmung  des  nächstfol- 
genden hineinreicht. 

Die  Versuche  ergaben  zunächst,  daß  sinnvolle  Buchstaben  Verbin- 
dungen (Wörter)  und  sinnvolle  Wortverbindungen  (Sätze)  in  viel  kür- 
zerer Zeit  gelesen  werden  als  Buchstaben,  die  keine  Wörter  und  Wörter, 
die  keine  Sätze  bilden.  Dieser  Unterschied  tritt  namentlich  beim  ge- 
übten Leser  hervor,  der  zum  Vorwärtslesen  nur  etwa  die  Hälfte  der 
Zeit  beansprucht,  die  zum  Bückwärtslesen  nötig  ist.  Gewiß  spielt  dabei 
die  Grewohnheit,  von  links  nach  rechts  zu  lesen,  eine  Rolle,  aber  die 
Hauptursache  dieser  Verschiedenheit  liegt  oiFenbar  darin,  daß  der  Sinn 
die  Schnelligkeit  des  Lesens  bedeutend  fördert.  Darum  ist  auch  der 
Unterschied  geringer  beim  Lesen  der  Anfänger  und  geringer,  wenn  völlig 
unbekannte  oder  fremdsprachliche  Stoffe  gelesen  werden.  Ein  anderes 
Ergebnis  bezieht  sich  auf  Buchstaben-  und  Wortlesen.  Cattel  fand,  daß 
die  Zeit  des  Erkennens  und  Aussprechens  für  Buchstaben  ein  wenig, 
aber  nicht  beträchtlich  kürzer  sei  als  für  Wörter.  Messmer  konnte  sogar 
feststellen,  daß  bei  geübten  Lesern  die  Buchstabenzeiten  die  Wortzeiten 
bedeutend  überragten.  Mag  dem  nun  sein,  wie  es  will,  eines  steht  wohl 
fest,  daß  die  Wörter  im  allgemeinen  keine  höhere  Zeitdauer  zum  Lesen 
verlangen  als  die  Buchstaben.  Ob  aber  darum  die  Folgerung  Cattels, 
daß  die  Wörter  als  Ganzes,  also  simultan  gelesen  werden,  in  dieser  All- 
gemeinheit richtig  ist,  darf  nach  den  Untersuchungen  am  Tachistoskop 
bezweifelt  werden.  Auch  dieses  Ergebnis  ist  nur  in  seinem  vollen  Um- 
fang für  den  geübten  Leser  gültig,  „für  den  Anfänger  im  Lesen  sind 
die  Buchstabenzeiten  meistens  kleiner  als  die  Wortzeiten". 

Als  letztes  für  uns  wichtiges  Ergebnis  möge  noch  angeführt  werden, 
daß  die  Zeiten  zum  Erkennen  und  Benennen  der  Schriftzeichen  größer 
sind,  wenn  längere  (500  Buchstaben  bez.  Wörter)  als  wenn  kürzere 
Stellen  (100  Buchstaben  bez.  Wörter)  gelesen  werden.  Dieser  Einfluß 
der  Ermüdung  macht  sich  insbesondere  beim  schnellen  Lesen  und  beson- 
ders beim  Lesen  von  Buchstaben   bemerkbar.     Er    tritt   weniger   scharf 

15* 


—     -220    — 

beim  normalen  Lesen  hervor.  Messmer  hat  sogar  nachweisen  können, 
daß  sich  bei  manchen  Personen  eine  Verminderung  der  Zeitwerte  ein- 
stellte, wenn  sie  die  längeren  Texte  lasen.  Er  schloß  daraus,  daß  für 
fortgeschrittene  Leser  sich  beim  normalen  Lesen  Ermüdung  und  Übung 
(darunter  versteht  er  alle  günstigen  Momente,  welche  eine  kürzere  Lese- 
zeit verursachen)  die  Wage  hielten. 

2.  Die  zweite  Grappe  von  Messungen  bezieht  sich  auf  die  Reaktions- 
zeit, also  die  Zeit,  die  notwendig  ist,  um  Buchstaben  und  Wörter  zu 
erkennen.  Die  zur  Aussprache  erforderliche  Zeit  ist  dabei  nicht  in 
Betracht  gezogen.  Bei  diesen  Versuchen  hat  sich  gezeigt,  daß  vierbuch- 
stabige  Wörter  eine  etwas  geringere  Zeit  beanspruchen  als  Buchstaben 
und  daß  mit  der  Verlängerung  der  Wörter  die  Erkennungszeiten  um 
geringe  Beträge  zunehmen.  Auffallend  ist  namentlich  das  erste  Ergebnis. 
Es  beruht  darauf,  daß  bei  Wörtern  zwischen  Vorstellung  und  Name  eine 
innigere  Beziehung  besteht  als  bei  Buchstaben.  Und  darum,  so  folgern 
Erdmann-Dodge,  kann  das  Wortlesen  in  keinem  Sinne  buchstabierend  er- 
folgen. Die  Zeitverschiebungen  mit  der  Verlängerung  der  Wörter  sind  auf 
zunehmende  motorische  und  sensorische  Komplikationen  zurückzuführen. 

3.  Auf  die  Untersuchungen  Cattells  über  einfache  Reaktionszeit. 
Unterscheidungs-  und  Wahlzeit  wollen  wir  hier  nicht  näher  eingehen. 
Sie  sind  von  Erdmann-Dodge  in  einem  längeren  Abschnitte  (Kap.  9  u.  1<») 
eingehend  erörtert  worden. 


12.  Kapitel. 
Praktische  Fragen  des  Leseproblems  ^). 

Wie  in  Kapitel  10  bereits  erwähnt  wurde,  sollen  im  nachfolgenden 
alle  Versuche  behandelt  werden,  welche  sich  mehr  der  Lösung  prak- 
tischer Fragen  des  Leseproblems  zuwenden.  Welche  Typen  am  leich- 
testen zu  lesen  sind,  welche  Druckanordnung  die  günstigsten  Lesebedin- 
gungen bietet,  welche  Beleuchtung,  welches  Papier  am  wenigsten  er- 
müdend wirkt,  auf  alle  die  Punkte  hat  man  eine  Antwort  zu  geben 
versucht. 

Die  Buchstabentypen  sind  verschieden  nach  ihrer  Struktur,  nach 
ihrer  Größe  und  nach  der  Dicke  der  sie  zußammensetzenden  Linien.    Sie 


1)  a.  J.  M.  K.  Cattell,  Über  die  Trägheit  der  Netzhaut  und  des  Sehzentrums.    Wundt, 
Philosoph.  Studien,  II,  S.  107  ff. 

b.  II.  Qrifflng  and  B.  Franz,  Conditions  ofFatique  in  Reading.   The  Psych.  Review, 
8,  1896,  8.  618—630. 

c.  Messmer,  a.  a.  0.,  S.  84.  86. 


I 


—    221    — 

sind  umso  leichter  zu  lesen,  je  einfacher  sie  gestaltet  sind,  je  weniger 
Verzierungen  sie  zeigen.  Darum  sind  die  deutschen  Buchstaben  weniger 
vorteilhaft  als  die  lateinischen  und  die  großen  deutschen  Buchstaben 
wiederum  weniger  empfehlenswert  als  die  kleinen.  Aber  auch  innerhalb 
eines  und  desselben  Alphabetes  sind  die  Buchstaben  nicht  alle  gleich 
gut  zu  lesen.  Cattell  hat  nach  dieser  Richtung  die  verschiedenen  Buch- 
staben des  Alphabets  untersucht.  Er  benützte  zu  dem  Zwecke  sein 
Fallchronoskop ,  exponierte  darin  die  Buchstaben  in  wechselnder  Folge 
für  sehr  kurze  Zeiten  (0,75 — 1,25  (?)  und  stellte  fest,  wie  oft  in  einer 
Reihe  von  Versuchen  ein  Buchstabe  erkannt  werden  konnte.  Dabei 
machte  sich  für  die  einzelnen  Zeichen  ein  bedeutender  Unterschied  geltend. 
So  wurden  unter  270  Versuchen  W  =  241  mal,  E  aber  nur  63  mal  richtig 
erkannt.  Und  ähnlich  ist  das  Verhältnis  für  die  kleinen  Buchstaben, 
wo  unter  100  Versuchen  „d"  =  87  mal,  s  aber  nur  28  mal  sicher  gelesen 
wurden.  Für  viele  Buchstaben  liegt  diese  schwere  Lesbarkeit  in  ihrer 
Ähnlichkeit  mit  andern  begründet,  wodurch  leicht  Verwechslungen  ent- 
stehen, wie  bei  X  und  IST,  J  und  F,  Q  und  0,  G  und  C,  V  und  Y,  F 
und  E,  oder  bei  i,  j,  t  und  1;  bei  c  und  e,  h  und  b,  u  und  n  und  vielen 
andern.  Die  Lesbarkeit  der  einzelnen  Buchstaben  stellt  sich  nach  dieser 
Untersuchung  in  folgender  Ordnung  dar. 

1.  G-roße  Buchstaben: 

W,  Z,  M,  D,  H,  K,  N,  H,  A,  Y,  0,  G,  L,  Q,  I,  S,  C,  T,  R,  P,  B,  V, 

F,  U,  J,  E. 

2.  Kleine  Buchstaben: 

d,   k,   m,   q,   h,   b,   p,  w,   u,  1,  j,  t,  v,  z,  r,  o,  f,  n,  a,  x,  y,  e,  i,  g,  c,  s. 

Um  sicheres  Erkennen  der  Buchstaben  zu  fördern ,  macht  Javal  ^)  ver- 
schiedene Abänderungsvorschläge,  die  in  der  Hauptsache  die  obere  Hälfte 
der  Buchstaben  betreffen,  und  zwar  deshalb,  weil  das  lesende  Auge  gerade 
diese  Stellen  beim  Durchwandern  der  Zeilen  passiert.  Den  Einfluß  der 
Typengröße  haben  Griffing  und  Franz  nach  drei  Richtungen  geprüft. 
Sie  ließen  Stellen ,  die  in  großen  und  kleinen  Typen  (1,8  mm  bez. 
0,9  mm  Höhe)  gedruckt  waren,  mit  größter  Geschwindigkeit  lesen.  Dabei 
zeigte  sich,  daß  die  großen  Typen  nur  etwa  7io  der  Zeit  verlangten, 
die  zum  Lesen  des  kleintypigen  Textes  nötig  war.  Noch  schärfer  kam 
der  Vorteil  der  großen  Typen  in  den  beiden  andern  Versuchsreihen 
zur  Geltung,  von  denen  die  eine  eine  Wiederholung  oder,  besser  gesagt, 
eine  Ergänzung  der  soeben  erwähnten  Cattelschen  Versuche  darstellte, 
während    die    andere    für   jedes   Wort    die    kleinste   Expositionszeit   er- 


1)  E.  Javal-F.  Haas,  a.  a.  0.,  S.  201  ff. 


—    222    — 

mittelte.  Die  letztere  betrug  für  breitere  Typen  (1,6  mm)  1,5  <y,  für  schmälere 
(0,8  mm)  2  <y,  so  daß  das  gegenseitige  Verhältnis  der  notwendigen  ge- 
ringsten Expositionszeiten  lür  die  beiden  Typen  sich  wie  3  : 4  gestaltete. 

Auch  die  Breite,  die  Dicke  der  Buchstabenstriche  macht  sich  beim  Lesen 
bemerkbar.  Fettgedruckte  Buchstaben  sind  bis  zu  einer  gewissen  Grenze 
viel  leichter  als  Buchstaben  mit  dünnen  Linien  zu  lesen.  Doch  vermögen 
selbst  zahlreiche  Haarstriche,  die  sich  zwischen  dicken,  breiten  Strichen 
im  Buchstaben  finden,  die  Lesegeschwindigkeit  kaum  zu  beeinflussen. 

Über  die  vorteilhafteste  Anordnung  der  Buchstaben  und  Wörter  hat 
Huey  Untersuchungen  mit  sinnlosen  und  sinnvollen  Lesestoffen  angestellt. 
Er  hat  dabei  gefunden,  daß  für  sinnvolle  Stellen  die  horizontale  Anord- 
nung in  allen  Fällen  die  geeignetere  ist.  Doch  würde  eine  etwas  größere 
Buchstabenentfernung  einen  leichten  Vorteil  bewirken^). 

Bezüglich  der  Beleuchtung  sei  bemerkt,  daß  Intensitätsänderungen, 
wie  sie  beim  Tageslicht  vorkommen ,  für  die  Lesetätigkeit  vollkommen 
belanglos  sind.  Sinkt  jedoch  die  Beleuchtung  unter  drei  Kerzenmeter, 
80  macht  sich  rasch  eine  negative  Einwirkung  bemerkbar. 

Unter  den  künstlichen  Lichtsorten  ist  das  weiße  Licht  entschieden 
vorzuziehen.  Damit  hängt  aufs  engste  zusammen,  daß  weißes  Papier 
eine  vorteilhaftere  Wirkung  ausübt  als  braunes,  graues  oder  gelbes.  Die 
letzteren  Papiersorten  absorbieren  zudem  einen  Teil  der  Lichtstrahlen 
und  beeinträchtigen  somit  eine  günstige  Beleuchtung. 

Javal  *)  ist  in  diesem  Punkte  anderer  Meinung.  Er  verlangt  gerade 
gelbes  Papier  in  der  Farbe  der  Holzpapiermasse  (ein  Gelb,  das  aus  der 
Abwesenheit  der  blauen  und  violetten  Strahlen  entsteht),  weil  der 
Kontrast,  der  durch  die  schwarzen  Buchstaben  auf  weißem  Grunde  ent- 
steht, für  die  Augen  nachteilig  wirke. 


D. 

13.  Kapitel. 
Das  Lesen  des  Kindes  ^). 

Die  psychologischen  Untersuchungen  über  das  Lesen  beziehen  sich 
großenteils  auf  Erwachsene.  Erst  in  den  letzten  Jahren  hat  man  be- 
gonnen,  auch  dem  Lesen   des  Kindes   eine  größere  Aufmerksamkeit  zu 

1)  Oriffing  and  Franz,  a.  a.  0.,  S.  525. 

2)  Javal,  a.a.O.,  S.  201. 

8)  a)  Mcssmer,  a.  a.  O.  S.  20  ff. 

b)  Dearborn,  a.  a.  0.,  S.  96. 

c)  Meumann,  a.  a.  0.,  S.  254  ff. 


—    223    — 

schenken.  So  lückenhaft  die  gewonnenen  Resultate  auch  sind,  so  zeigen 
sie  doch,  daß  das  Lesen  des  Kindes  in  vieler  Beziehung  von  demjenigen 
des  Erwachsenen  abweicht. 

Granz  besonders  tritt  dieser  Unterschied  bei  Anfängern,  also  bei 
Kindern  des  zweiten  und  dritten  Schuljahres  zu  Tage.  Ihr  Aufmerk- 
samkeitsumfang  ist  eng,  darum  sind  die  Augenbewegungen  klein,  aber 
die  Zahl  der  Eixationen  ist  groß.  Von  einem  simultanen  Erfassen  des 
ganzen  Wortbildes  kann  bei  ihnen  keine  Rede  sein.  Sie  lesen  vielmehr 
Buchstabe  um  Buchstabe,  sprechen  Laut  um  Laut.  Ihr  Lesen  erfolgt, 
nach  Messmer  und  Meumann,  in  optisch  und  entsprechend  in  lautmotorisch 
geteilten  Innervationen.  Damit  hängt  aufs  engste  zusammen,  daß  das 
Kind  beim  Lesen  eines  zusammenhängenden,  seinem  Verständnis  ange- 
paßten Abschnittes  eine  viel  größere  Zeit  beansprucht  als  Erwachsene. 
Auffallend  aber  ist,  daß  sich  die  Zeit  zum  Erkennen  xmd  Benennen  eines 
Wortes  wesentlich  vermindert,  wenn  das  Kind  längere  Abschnitte  in 
normaler  Weise  liest,  eine  Erscheinung,  die  wir  bei  Erwachsenen  nur 
teilweise  beobachten  konnten.  Es  scheint  sonach,  daß  die  Übung,  welche 
das  Eand  beim  Lesen  längerer  Stellen  erwirbt,  die  Müdigkeitserschei- 
nungen vollkommen  beseitigt.  Aus  diesem  Buchstabenlesen  des  Anfän- 
gers erklärt  es  sich  ferner,  daß  das  Kind  die  Buchstaben  in  kürzerer 
Zeit  als  die  Wörter  liest,  daß  bei  ihm  das  Lesen  sinnloser  Texte  dem 
Lesen  sinnvoller  Texte  nahesteht  und  endlich,  daß  der  Anfänger  beim 
raschen  Lesen  das  schnellste  Tempo  am  Anfang  entwickelt,  aber  später- 
hin unberechenbare  Schwankungen  zeigt. 

Mit  fortschreitendem  Alter  kommt  das  Kind  immer  mehr  dem  Lese- 
typus des  Erwachsenen  nahe.  Die  Augenbewegungen  werden  ausge- 
dehnter, die  Zahl  der  Fixationen  wird  geringer  und  die  Aufmerksamkeit 
spannt  sich  über  ein  weiteres  Grebiet.  Das  Buchstabenlesen  tritt  immer 
mehr  hinter  dem  Lesen  in  Worteinheiten  zurück,  und  schon  vom  11.  Jahre 
ab  scheint  das  buchstabierende  Lesen  bei  guten  Schülern  nicht  mehr 
aufzutreten.  Während  also  der  Anfänger  noch  in  geteilten  Innervationen 
liest,  vermag  der  Geübte  mehr  inGresamtinnervationen  zu  lesen,  also 
in  einem  psychischen  Akte  ein  Wortbild  optisch  und  akustisch-motorisch 
zu  erfassen. 

Immerhin  lassen  sich  auch  zwischen  dem  Lesen  des  geübten  Kindes 
und  dem  des  Erwachsenen  manche  Verschiedenheiten  bemerken. 

1.  Einmal  treten  beim  Kinde  individuelle  Unterschiede  weniger 
hervor.  Die  meisten  Kinder  stehen  in  ihrem  Lesen  dem  subjektiven 
Typus  ^)  nahe.     Objektive  Leser   sind    selten.     Die  Kinder  haben   einen 


1)  Vergl.  Kap.  8,  2  c. 


—    224    — 

weiten  Anfmerksamkeitsumfang  und  vermögen  in  sinnlosen  ßuchstaben- 
verbindungen  4 — 7,  in  Wörtern  13 — 18  Buchstaben  bei  einer  Fixation 
zu  erfassen.  Am  Tachistoskop  lesen  sie  meistens  in  Wörtern,  bedürfen 
aber,  da  sie  lange  auf  einem  vermeintlichen  Wortbilde  verharren,  oft 
eine  lange  Reihe  von  Expositionen,  um  ein  ihrem  Sprachschatz  entnom- 
menes Wort  in  allen  seinen  Teilen  zu  erkennen. 

2.  Die  Ursache  dieser  Erscheinung  liegt  nicht  in  einer  nach  innen 
gerichteten  Aufmerksamkeit  ^),  sondern  darin ,  daß  dem  Kinde  nur  eine 
geringe  Beobachtungsschärfe  zukommt  und  daß  sein  Wortschatz  nur 
klein  und  wenig  mobil  ist. 

3.  Auch  Augenbewegungen  und  Fixation  sind  zwischen  Erwach- 
senen und  geübten  Kindern  verschieden.  So  scheinen  die  Augenbewe- 
gungen in  ihrer  Ausdehnung  viel  stärker  zu  schwanken  und  reicher  an 
rückläufigen  Bewegungen  zu  sein.  Die  Fixationen  treten  oft  über  die 
Reihen  hinaus  und  zeigen  in  ihrer  Dauer  größere  Verschiedenheit. 


1)  Vergl.  Kap.  8,  2  c. 


—    225    — 

Pädagogik  und  Psychologie  der  Mathematik. 

Von  Dr.  Theodor  Lessing. 
Privatdozent  der  Philosophie  und  Pädagogik  in  Hannover. 

Durch  unser  Schal-  und  Bildungwesen  klafft  ein  Zwiespalt,  der 
vielen  Schulmännern  in  der  Natur  menschlichen  Wissens  oder  mensch- 
licher Seele  begründet  zu  sein  scheint:  der  Unterschied  zwischen  „hu- 
manistischer" und  „realistischer"  Bildung!  — 

Wenn  man  Gegenstände  des  Unterrichts  in  „Wissenschaften  des 
Geistes"  und  „Wissenschaften  der  Natur"  sauber  einteilt,  dann  glaubt 
man  wohl,  „über  das  Wesen  aller  Bildung"  Klarheit  zu  besitzen.  In 
Wirklichkeit  aber  hält  man  an  einem  alten  Vorurteil  fest,  welches  aus 
zufälligen  historischen  Konstellationen  sich  entwickelte.  Man  setzt  bei 
der  Unterscheidung  von  Gymnasium  und  Eealschule  eine  begriffliche 
Tradition  voraus,  die  erkenntniskritischer  Analyse  nicht  im  mindesten 
standhält.  .  .  .  Als  „realistische"  Unterrichtsfächer  bezeichnete  die  neue 
Schulpraxis  alle  das,  „was  fürs  Leben  nützlich  ist".  Die  Ausbildung 
der  alten  Klassiker-  und  Gelehrtenschule,  in  deren  Mittelpunkt  formal 
die  lateinische  Sprache,  inhaltlich  die  Überlieferung  griechischer 
Schriftsteller  stand,  erwies  sich  für  die  völlig  veränderten  wirtschaftlich- 
technischen Bedingungen  modernen  Lebens  als  unzweckmäßig  und 
veraltet.  —  ,.Real",  „aktuell"  aber  heißt  man,  was  just  für  den  Augen- 
blick nützlich  und  notwendig  scheint,  ohne  daß  darum  im  mindesten 
Gewähr  gegeben  ist,  daß  etwa  die  „moderne  Entwickelungslehre"  we- 
niger „Scholastik"  oder  weniger  „Ideologie"  enthält,  als  irgend  ein 
klassischer  Autor  des  Altertums.  Der  Unterschied  von  Humanismus  und 
Realismus  ist  in  der  Schulpraxis  der  Gegenwart  somit  in  zahllosen 
Fällen  nichts  anderes,  als  ein  Unterschied  von  Unnötigem  und  (mo- 
mentan) Nützlichem.  Das  Unnötige  erhält  seine  Würde  für  die- 
jenigen, die  es  noch  nicht  entbehren  gelernt  haben,  dadurch  daß  man 
es  mit  den  schönen  Worten  „Ideal"  und  „Idealismus"  ausschmückt.  Der 
Kampf  der  Eealschulmänner  gegen  die  Anhänger  der  „gymnasialen 
Bildung"  scheint  manchmal  ein  Kampf  der  Utilitarier  gegen  die  Idea- 
listen zu  sein!  In  Wahrheit  aber  ist  der  ganze  Streit  ein  rein  histo- 
risches Faktum!  Man  sucht  es  gedanklich  zu  rechtfertigen  durch 
scheinbare  „Prinzipien",  hinter  denen  garnichts  gesacht  werden  darf, 
als  Mangel  philosophischen  Denkens  und  psychologischer  Erfahrung. 
.  .  Dies  soll  im  folgenden  an  einem  Gebiete  dar  getan  werden,  das  mitten 
inne  steht  zwischen  Geisteswissenschaft  und  Naturwissenschaft,  an  der 
Mathematik,  deren  Wesen  unendlich  verkannt  wird,  wenn  man  die 
gleiche    geistige   Konstitution,    die    für    die    Entwickelung    der    Natur- 


—    226    — 

Wissenschaft  entscheidend  ist,  auch  auf  die  mathematische,  aller  Er- 
fahrbarkeit  weit  entrückte  Forschung  übertragen  will.  Die  Wort- 
verbindung „Naturwissenschaft  und  Mathematik"  gehört  zu  jenen  ge- 
dankenlosen „Unds"  über  die  Nietzsche  weidlich  spottet!  Aber  die 
Redewendung  „Schiller  und  Göthe",  „Beethoven  und  Mozart"  erscheint 
im  Zusammenhange  deutscher  Kultur  ungleich  begründeter,  als  die 
völlig  absurde  unpsychologische  Heiratsstiftung  zwischen 
den  beiden  Begriffen  „Naturwissenschaft"  und  „Mathe- 
matik". Solange  diese  höchst  ungleiche  Ehe  nicht  geschieden  wird, 
kann  die  moderne  Schulreform  nicht  zur  Klarheit  kommen.  Es  scheint 
mir  schon  viel  erreicht,  wenn  ich  mit  den  folgenden  vorläufigen  Er- 
wägungen einsichtige  Pädagogen  stutzig  machen  und  zu  der  Überlegung 
verleiten  kann,  ob  denn  wirklich  die  Verbindung  zwischen  Naturwissen- 
schaft und  Mathematik,  die  beute  überall  naiv  hingenommen  wird,  für 
ewige  Zeiten  unlösbar  sei,  ob  es  denn  wirklich  klug  und  zweckmäßig 
ist,  den  Schnitt  zwischen  zwei  verschiedenen  Typen  der  Ausbildung  und 
Didaktik  just  so  zu  legen,  daß  Mathematik  und  Naturwissenschaft  auf 
die  eine  Seite,  Sprachen,  Literatur  und  Geschichte  auf  die  andere  Seite 
fallen. 

2. 

Blicken  wir  einen  Augenblick  rückwärts,  um  uns  zu  vergewissern, 
wie  denn  eigentlich  diese  falsche  Zweiteilung  der  Wissensfächer,  an  der 
wir  kranken,  entstanden  ist.  Die  letzten  50  Jahre  des  19.  Jahrhunderts 
waren  von  einem  naturwissenschaftlichen  Taumel  beherrscht!  Die  Natur- 
wissenschaft,  (und  zwar  nicht  die  reine  Naturwissenschaft  im  Sinne 
Kants,  sondern  Naturwissenschaft  in  ihrer  Anwendung  auf  mensch- 
liche Wohlfahrt  und  menschlichen  Naturfortschritt),  zog  alle  Interessen 
des  Geistes  in  ihre  Dienste.  Gerade  diejenigen  Wissenschaften,  die 
sich  mit  Vorliebe  als  „Geisteswissenschaften"  bezeichnen,  wie  die  Sprach- 
forschung oder  die  Geschichte  koquettieren  seither  aufs  eifrigste  mit 
der  sogenannten  „naturwissenschaftlichen  Methode". 

„Tatsache"  und  „Erfahrung"  sind  seit  dreißig  Jahren  die  Lieblings- 
worte aller  lesenden  und  schreibenden  Männer  und  Frauen.  Ja,  manche 
Wissenschaft,  die  in  dem  beliebten  Gegenspiel  von  Natur  und  Geist  auf 
die  Seite  des  Geistes  gestellt  wird,  wie  zum  Beispiel  die  Psychologie 
oder  die  Soziologie,  würde  doch  andererseits  sehr  beleidigt  tun,  wenn  man 
sie  heute  nicht  als  besondere  Art  von  Erfahrung  —  Tatsachen  —  Natur 
—  Wissenschaft  respektieren  wollte.  Am  schlimmsten  in  dieser  all- 
gemeinen Begriffsunklarheit  scheint  die  Lage  der  Mathematik.  Da  selbst 
der  unkritischste  Kopf  nicht  darauf  verfallt,  in  der  heutigen  Mathematik 
„ Erfahrung s Wissenschaft"    zu   suchen,    so    sucht   man   die   festgehaltene 


—     227     — 

Verbindung  zwischen  Mathematik  und  Naturwissenschaft  nicht  aus  dem 
Wesen  der  Mathematik  zu  rechtfertigen,  sondern  aus  ihren  Effekten, 
aus  der  Nützlichkeit  für  die  moderne  Naturforschung,  als  „angewandte" 
Mathematik.  Damit  aber  bringt  man  zwei  ganz  verschiedene  Ein- 
teilungsprinzipien durcheinander.  Bei  den  sogenannten  Natur- 
wissenschaften, die  auf  den  Worten  „Erfahrung",  „Empirie",  „Konkret- 
heit", „Sinnlichkeit",  „Anschauung"  herumreiten,  hat  man  die  eigne 
Natur  des  Wissensgebietes  selber  vor  Augen.  Indem  man  ihnen  aber 
die  Mathematik  zugesellt,  blickt  man  viel  weniger  auf  das  Eigen- 
wesen der  Mathematik  hin,  als  auf  ihre  Erfolge  und  Nützlichkeiten  im 
Dienste  von  Prinzipien,  die  der  mathematischen  Forschung  selber  ganz 
ferne  stehen.  Es  war  die  Tat  der  (für  die  Form  des  ganzen  natur- 
wissenschaftlichen Unterrichts,  ja  für  die  ganze  moderne  Pädagogik  in 
Deutschland  und  speziell  in  Preußen  ungemein  einflußreichen)  Göttinger 
Mathematikerschule,  daß  überall  angewandte  Mathematik  in  den  Vorder- 
grund trat,  während  doch  grade  von  den  großen  Mathematikern  dieser 
Schule  die  Erforschung  der  nichteuklidischen  Verhältnisse  im  dreidimen- 
sionalen Eaum,  die  Begründung  der  elliptischen  Geometrie  und  damit 
eine  neue  Wertung  vom  „Wesen"  der  Mathematik  vor  mehr  als  einem 
Menschenalter  ausging. 

Es  handelt  sich  hier  nicht  um  die  mathematische  Bedeutung  des 
Lebenswerkes  von  Felix  Klein.  Sie  gehört  der  Geschichte  menschlichen 
Erkennens  für  alle  Zeiten  an.  Aber  es  ist  ja  nichts  gegen  die  Größe 
Leibnizeus,  gegen  Hallers  Größe  nichts  gesagt,  wenn  jemand  etwa  die 
Überzeugung  äußert,  daß  die  schulpolitische  Wirksamkeit  dieser  beiden 
anderen  unsterblichen  hannoverschen  Organisatoren  kein  Glück  für 
deutsche  „Kultur"  gewesen  ist.  Erziehungswesen  und  Wissenschaft, 
seelische  Kultur  der  Deutschen  und  Geistesleistung  auf  deutschen 
Schulen,  das  ist  Zweierlei,  —  mag  auch  immer  das  eine  die  Funktion 
des  andern  sein.  —  Von  Göttingen  aus  entfaltete  sich  unsere  theore- 
tische Paschawirtschaft !  Wenn  aber  die  autorative  Sanktion  eines  in 
seiner  Art  noch  so  ehrwürdigen,  noch  so  großen  Mannes  die  päda- 
gogische Theorie  zum  Monopol  der  Gruppe,  die  praktische  Besetzung 
aller,  für  deutsche  Kultur  entscheidender  Professuren  der  rein  geistigen 
und  theoretischen  Fächer  zum  Privileg  engumgrenzter  Schulen  macht, 
dann  ist  um  so  notwendiger,  ist  es  um  so  mehr  an  der  Zeit,  daß  Männer 
leben,  die  um  jeden  Preis  Unabhängigkeit  wahren,  und  auch  ehrfürchtig 
Widerstand  leisten,  wo  schlechterdings  keine  noch  so  gerechtfertigte 
Fachautorität  entscheiden  darf. 

Erziehungswesen,    Kunst,  Philosophie,    das  sind  die  großen   sozialen 


—     228     — 

Angelegenheiten.  Das  sind  Angelegenheiten  der  Kultur,  nicht  aber  eines 
Kreises  von  Fachmännern.  Alle  „Philosophie"  insbesondere  ist  Sache 
der  „Taf^,  der  gesamten  Weltgesinnung  und  Lebenshaltung,  nicht  aber 
theoretisches  Übungsfeld  intellektueller  Gymnastik  unserer  speziellen 
theoretischen  Schulprobleme.  Wir  weben  nicht  Filigranspitzen,  sondern 
wir  bekämpfen  des  Menschen  Teufel.  Es  geriet  noch  allemal  zum  Unglück, 
wenn  die  Kompetenz  eines  bestimmten  Greistesgebietes  zum  Ministerium 
der  Kultur  und  insbesondere  zum  Ministerium  für  die  Hauptangelegenheit 
aller  Kultur,  für  das  nationale  Erziehungswesen  erweitert  wurde. 
Heute  aber,  wo  wir  uns  von  der  didaktisch  orientierten  alten  Pädagogik 
der  „Unterrichtsfächer"  zu  einer  wahren  „Erziehungswissenschaft"  des 
Menschen,  zu  einer  auf  Psychologie  oder  Sozialwissenschaft  basierten 
„Eugenetik"  durchkämpfen,  da  wird  die  Macht  des  einzelnen  Gelehrten 
für  die  Gestaltung  der  künftigen  deutschen  Schule  und  Universität  zur 
schweren  Gefahr.  Denn  die  nicht  kontrollierbare  Autorität  des  Faches 
erdrückt  und  lähmt  alle  die  kleineren  Geister,  welche  nicht  die  Kraft 
finden,  so  gut  oder  so  schlecht  es  eben  geht,  „aus  dem  eigenen  kleinen 
Glase  zu  trinken".  Wenn  aber  der  größte  lebende  Mathematiker  das 
Unterrichtsprogramm  für  die  Mittelschulen  der  Knaben  und  Mädchen 
gestaltet,  so  ist  klar,  daß  diesem  Programm  so  wenig  widersprochen 
werden  kann,  als  ein  kleiner  katholischer  Pfarrer  dem  Urteil  der 
Kurie  widerspricht.  Dennoch  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  „der  Narr 
im  eigenen  Hause  besser  Bescheid  weiß  als  der  Weise  im  fremden" ; 
und  so  sei  denn  an  dieser  Stelle  die  Narrenweisheit  gesagt,  daß  die  von 
Felix  Klein  im  Verein  mit  E.  Ricke  und  R.  Schimmack  verwaltete  neue 
Organisation  des  Unterrichts  in  Naturwissenschaft  und  Mathematik 
praktisch  nicht  taugt.  Sie  taugt  uns  deswegen  nicht,  weil  sie  zwei 
Sphären  starr  zusammenbringt,  auf  deren  Unterscheidung  der  Pädagoge 
gar  nicht  genug  drängen  kann. 

Es  sei  eine  Behauptung  gewagt,  die  vielleicht  manch  einem  paradox, 
verletzend,  verstimmend,  ja  vielleicht  völlig  absurd  erscheint,  die  sich 
aber  ans  immer  neuen  und  neuen  Erfahrungen  in  mir  befestigt  hat: 
Die  großen  Naturwissenschaftler  sind  typisch  unmathematische 
Köpfe!  Es  herrscht  ein  gewisses  Liebäugeln  der  Naturforschung 
mit  der  Mathematik,  das  uns  über  den  wahren  psychologischen  Sach- 
verhalt hinwegtäuscht.  Alle  Chemiker,  Physiologen,  Psychologen,  Bio- 
logen, die  man  über  Notwendigkeit  der  Mathematik  im  naturwissen- 
schaftlichen Unterricht  befragt,  sprechen  sich  zu  Gunsten  der  Mathe- 
matik aus.  Denn  einmal  gehört  es  zu  den  Gewohnheiten  unseres  Fach- 
bildungswesens, daß  der  mathematische  und  naturwissenschaftliche  Unter- 


—    229     - 

rieht  von  den  selben  Lehrkräften  getragen  wird,  obwohl  keineswegs 
feststeht,  daß  ein  bedeutender  Lehrer  in  Zoologie  oder  Botanik  nun 
auch  ein  bedeutender  Lehrer  in  Arithmetik  oder  Analysis  sein  muß. 
Sodann  braucht  man  nur  ein  physiologisches  oder  psychologisches  Lehr- 
buch aufzuschlagen,  um  zu  sehen,  daß  jeder  Naturforscher  sein  Wissens- 
gebiet ungemein  gern  mit  einigen  meist  sehr  billig  bezogenen  mathe- 
matischen Formeln  ausstattet.  Wenn  man  die  Herbartsche  Psychologie, 
die  Wundtsche  Logik,  die  Hartmannsche  Naturphilosophie  vornimmt,  dann 
gewinnt  man  den  Eindruck  eines  profunden  mathematischen  Tiefsinns. 
Dringt  man  tiefer,  dann  kann  man  den  Verdacht  nicht  los  werden,  als 
ob  die  mathematische  Einkleidung  Maskerade  sei,  genau  so  wie  bei  Spi- 
noza die  Mathematik  (sehr  zum  Schaden  der  Philosophie)  bloße  Kulisse 
ist.  Am  peinlichsten  wird  das  Problem,  wenn  die  starke  Akzentuierung 
des  Mathematischen  von  solchen  empirischen  Wissenschaften  ausgeht, 
deren  ganze  Konstitution  mathematischer  Denkart  entgegengesetzt 
ist.  —  Bernstein  und  Fick,  bedeutende  Physiologen  führten  Klage  über 
den  Mangel  mathematischer  Kenntnisse  bei  den  jungen  Medizinern.  Das 
hat  nicht  gehindert,  daß  ein  Gegner  Bernstein  sogar  vorwerfen  konnte, 
daß  er  —  keine  Logarithmentafeln  richtig  zu  gebrauchen  verstünde. 
Die  medizinische  Fakultät  der  Universität  Bonn  gibt  das  Gutachten  ab, 
daß  eine  Spezial-Vorlesung  über  Physiologie  der  Sinnesorgane  nicht  ab- 
gehalten werden  könne,  weil  den  Medizinern  die  mathematischen  Vor- 
kenntnisse fehlen.  Diese  Spezialvorlesung  wurde ,  als  ich  in  Bonn 
studierte ,  von  dem  Physiologen  Kochs  abgehalten ,  der  jedenfalls 
aller  Mathematik  völlig  fem  stand.  Aber  auch  von  sämtlichen 
übrigen  Mitgliedern  der  medizinischen  Fakultät  hätte  ich  seinerzeit 
beschwören  können,  daß  kein  einziger  spezial-mathematische  Studien  be- 
trieben hat.  Alles,  was  an  Mathematik  in  den  Arbeiten  Pflügers,  eines 
der  größten  deutschen  Physiologen,  vorkommen  mag,  kann  einem  gut 
vorgebildeten  Primaner  nicht  unerschwinglich  sein.  Vollends  aber 
möge  man  sich  doch  fragen,  was  wohl  August  Weismann,  oder  Häckel, 
oder  was  Darwin  selber  an  mathematischen  Spezialkenntnissen  verwenden 
oder  an  mathematischem  Interesse  besitzen  mögen.  Ich  habe  mehrfach 
Physiologie  gehört,  bei  Pflüger,  Voit,  Verworn,  Chemie  bei  Kekule, 
Bayer,  Fischer,  Baumann,  Biologie  bei  Weismann.  Ich  behaupte  seelen- 
ruhig, daß  ich  seinerzeit  weit  mehr  Mathematik  gewußt  habe,  als  ich  je 
in  einem  physiologischen,  chemischen,  biologischen  oder  gar  in  einem  spe- 
ziell medizinischen  Kolleg  zu  hören  bekam.  Um  die  primitiven  Vor- 
stellungen der  medizinischen  Kurven,  der  Pulskurve,  der  Zuckungskurve 
des  Muskels,  die  Verhältnisse  des  Blutdrucks,  der  Temperaturschwan- 
kungen, oder  um  die  einfachen  Experimente  der  Psycbyphysiker  zu  ver- 


-     230    — 

stehen,  genügen  die  Anfangsgründe  der  Differentialrechnung.  Ja,  ich 
behaupte,  daß  selbst  auf  dem  ganz  speziellen  Gebiete  mathematisch 
orientierter  Mechanik,  etwa  bei  Physikern,  wie  Heinrich  Herz,  den  ich 
als  meinen  Lehrer  verehre,  oder  bei  Lennartz,  von  dem  ich  geprüft 
bin,  eine  andere  Konstitution  wissenschaftlichen  Denkens  sich  darstellte, 
als  den  großen  Förderern  der  reinen  Mathematik,  etwa  einem  Hubert 
oder  auch  einem  Gauß  zu  eigen  ist.  Vollends  aber,  was  hat  die 
Psychologie  oder  die  Philosophie  in  ihren  Formen  als  Naturphilo- 
sophie oder  als  Ethik,  was  hat  schließlich  Soziologie  oder  Wirtschafts- 
Wissenschaft  mit  Mathematik  zu  tun?  Wilhelm  Wundt  spricht  in  seiner 
Logik  über  Mathematik  oft  in  einer  Weise,  daß  man  argwöhnt,  er 
könne  seit  einem  Jahrzehnt  keine  Mathematik  (im  engeren  Sinne)  mehr 
getrieben  haben.  In  den  Werken  von  Theodor  Lipps  findet  sich  nicht 
eine  einzige  mathematisch  interessierte  Zeile.  In  den  Werken  der 
großen  Sozialwissenschaftler,  etwa  Georg  Simmeis,  spürt  man  deutlich, 
daß  die  vollkommen  andersartige  Welt  mathematischer  Fragestellungen 
ihnen  niemals  nahe  gekommen  ist.  Warum  also  diese  allgemeine  Be- 
geisterung der  Wissenschaftler  äußerer  oder  innerer  Erfahrung  für 
Mathematik?  Warum  die  Unehrlichkeit,  die  sich  davor  fürchtet,  ehrlich 
zu  sagen,  mir  liegt  mathematische  Denkungsart  femer  als  naturwissen- 
schaftliche ?  .  .  .  Zuweilen  taucht  in  mir  ein  fürchterlicher  Verdacht  auf ! 
Hat  vielleicht  die  Tatsache,  daß  Mathematiker  und  Naturforscher  alle 
Jahre  zusammen  tagen,  daß  sie  einmal  im  Jahre  gemeinsam  in  den  ver- 
schiedenen europäischen  Hauptstädten  „zweckessen"  den  anderen  Um- 
stand zur  Folge  gehabt,  daß  Männer  aus  beiden  Lagern  ohne  besonderes 
Bedürfnis  nach  erkenntnistheoretischer  Klärung  sich  zusammenfanden 
und  Mathematik  und  Naturwissenschaft  mit  einander  verheirateten  ?  .  . . 
Ist  die  zufällige  Eingliederung  der  Mathematik  in  die  „naturwissen- 
schaftliche Fakultät"  daran  Schuld,  daß  man  über  das  eigene  Wesen 
der  Mathematik  sich  wenig  Gedanken  machte  und  die  Unvergleichlichkeit 
ihrer  kontemplativen  Denkart  gröblich  verkennt?  Oder  erfolgte  die 
Verknüpfung  nur  auf  Konto  jener  engeren  Diszipline  der  mathematischen 
Naturwissenschaft,  der  theoretischen  Physik,  der  Astronomie,  der  phy- 
sikalischen Chemie,  die  allerdings  nichts  anderes  sind,  als  Übertragung 
rein  mathematischer  Spekulation  auf  ein  ganz  anderes  Genus  von  Wissen- 
schaftsbetrieb. Man  bedenke  zunächst,  daß  diese  Naturwissenschaft  im 
engeren  Sinne  nicht  das  ist,  was  Zeitalter,  Volk  und  Schule  im  Sinne 
hat,  wenn  man  von  „naturwissenschaftlicher  Bildung"  redet.  Man  be- 
rücksichtige sodann  die  eigentümliche  Zwitterstellung,  der  abstrakten 
Naturwissenschaft.  Wenn  schon  der  physikalische  Chemiker  so  einsam 
ist,  daß  zweifellos   zahllose  Professoren  der  Chemie  existieren,   die  sich 


I 


—     231     — 

niemals  über  die  Prinzipien  und  Axiome  ihres  Arbeitsgebietes  graue 
Haare  wachsen  ließen,  so  ist  vollends  Physik  als  naturwissenschaftliche 
Prinzipienlehre  ein  rein  wissenschaftliches  Gebiet,  das  man  analog  reiner 
Mathematik  oder  reiner  Logik  von  allem  sogenannten  Erfahrungswissen 
vollkommen  abtrennen  und  isoliert  anbauen  kann.  —  Im  übrigen  handelt 
es  sich  hier  ja  aber  nicht  darum,  ob  es  Naturwissenschaften  ohne  Ma- 
thematik geben  könne.  Alle  Wissenschaft  ist  Wissenschaft  im  engeren 
Sinne  gerade  so  weit,  als  sie  mathematisch  begründbar  ist.  Hier 
aber  steht  in  Frage,  ob  Naturwissenschaft  und  Mathematik  im  prak- 
tischen Unterricht  verknüpft  werden  sollen  und  ob  ein  Schüler,  der 
„Naturwissenschaft  studieren"  will,  zugleich  auch  auf  höhere  Mathematik 
verpflichtet  werden  muß.  Und  diese  Frage  verneine  ich.  Eben  darum, 
weil  die  prinzipielle  Vereinigung  naturwissenschaftlichen  und  mathe- 
matischen Unterrichts  dem  Lehrer  das  Individualisieren  gemäß  der  Be- 
gabung des  Kindes  abschneidet.  Ich  behaupte,  daß  im  Klassenunterricht 
es  keinen  auffallenderen  und  klareren  charakterischen  Gegensatz  gibt, 
als  den  zwischen  Kindern,  die  mehr  mathematisch  oder  mehr  natur- 
wissenschaftlich veranlagt  sind. 

Dieser  Gegensatz  geht  bis  ins  graue  Altertum  zurück.  Die  älteste 
philosophische  Antithese,  von  der  wir  wissen,  der  Gegensatz  der  grie- 
chischen Naturphilosophen  und  Eleaten,  der  Atomistiker  und  Pythagoräer 
war  ein  Gegensatz  zwischen  mathematisch  und  naturwissenschaftlich 
interessierten  Gruppen.  Die  schärfste,  klarste  Ausprägung  dieses  Kon- 
trastes offenbarte  sich  in  dem  Jahrhundertelangen  Streit  zweier  großen 
Philosophen  und  Philosophenschulen,  an  dem  Gegensatz  zwischen  Plato 
und  Aristoteles.  Alles,  was  die  Schriften  des  Aristoteles  gegen  die 
„Ideenlehre"  und  den  Piatonismus  vorzubringen  wissen,  zeugt  von  dem 
erstaunlichen  Unverständnis,  das  der  „Vater  der  Logik"  gegenüber  dem 
Wesen  rein  logischer  und  mathematischer  Erkenntnis  offenbar  bewiesen 
hat.  Aristoteles  ist  durch  und  durch  Genetiker,  Plato  durch  und  durch 
Aprioriker.  Wo  Aristoteles  den  Wesenszusammenhang  der  Erkenntnis 
zu  untersuchen  glaubt,  da  steht  für  ihn  in  Wahrheit  die  Frage  ihrer 
Existenz,  ihres  Werdens  oder  ihrer  Entwicklung  im  Mittelpunkt.  So 
sehr  ist  er  auf  den  Kausalzusammenhang  erfahrbarer  Gegenstandswelten 
erpicht,  daß  er  nicht  einmal  das  Problem  der  Ideenlehre,  nicht  einmal 
jenen  tiefen  Unterschied  zwischen  Wissenschaft  und  Erkenntnis  £7ti,6t7]^rj 
und  ^d&7]6Lg  verstanden  hat,  der  für  Plato  eine  fundamentale  Entdeckung 
war.  Wie  tief  Plato  von  diesem  Gegensatz  zwischen  Erfahrungswissen  und 
reiner  Mathesis  durchdrungen  ist,  das  zeigt  vor  allem  sein  Theätet.  Die 
Überschrift  aber  über  seinem  Hörsaal :  „niemand  möge  hier  ohne  Geometrie 


—    232     — 

eintreten",  beweist,  auf  welcher  Seite  er  selber  gestanden  hat.  In 
allen  folgenden  Jahrhunderten  zeigt  sich  immer  wieder,  daß  das  gröbste 
Mißverstehen  der  Mathematik,  die  größte  Unfähigkeit,  in  mathe- 
matischen Vorstellungen  zu  leben,  sich  mit  den  stärksten  Pathos  der 
Naturforschurg  und  des  Erfahrungswissens  verknüpft.  .  .  .  Jener  enra- 
gierte  Naturforscher,  der  sich  ausdrücklich  den  Beinamen  „Empirikus" 
beilegte,  hat  die  wütendsten  Angriffe  „gegen  die  Mathematiker"  gerichtet 
und  in  drei  Büchern,  „in  mathematicos"  mit  zahllosen  Argumenten  die  Evi- 
denz mathematischen  Erkennens  zu  bestreiten  versucht.  So  oft  die  Mensch- 
heit einen  neuen  Aufschwung  der  Naturwissenschaft  und  Technik  erlebte, 
war  immer  das  erste,  daß  die  reine  Mathematik  in  Mißkredit  kam. 
Die  großen  Naturforscher  der  Renaissance  hatten  oöenbar  zur  logischen 
und  mathematischen  Spekulation  ein  viel  weniger  inniges  Verhältnis,  als 
die  viel  geschmähten  Scholastiker.  Am  auffallendsten  aber  war  diese 
Gegensätzlich lichkeit  zwischen  Naturwissenschaft  und  Mathematik  bei 
dem  Manne,  den  man  so  gern  als  den  Begründer  der  modernen  natur- 
wissenschaftlichen Methodenlehre,  als  den  Vater  der  induktiven  Logik 
und  Wissenschaftslehre  zu  bezeichnen  liebt.  Bei  Baco  von  Verulam. 
Es  ist  nicht  zu  viel  gesagt,  wenn  ich  behaupte,  daß  das  große  Selbst- 
bewußtsein Bacos  wesentlich  aus  dem  negativen  Pathos  floß,  das  die 
Mathematik  als  schädlich,  kraftabsorbierend  und  unnötig  bekämpft,  so- 
weit sie  nicht  technisch  anwendbar  ist  und  in  den  Dienst  menschlicher 
Nützlichkeiten  gezogen  werden  kann.  Einer  der  merkwürdigsten  Baco- 
schen  Aussprüche  dieser  Art  ist  der  folgende :  fastidio  delicias  et  super- 
biam  mathematicorum,  usui  et  commodis  hominum  consulimus  (wir  ver- 
achten den  Hochmut  und  die  Ergötzungen  der  Mathematiker,  denn  wir 
dienen  dem  Nutzen  und  Vorteil  des  Menschengeschlechtes).  Die  ganze 
Reihe  der  großen  Erfahrungsphilosophen  Englands  und  Frankreichs 
steht  der  Naturwissenschaft  eben  so  nahe,  als  die  Mathematik  ihnen 
innerlich  fern  bleibt.  Eine  ganz  neue  Entwickelung  mathematischer 
Erkenntnis  erwächst  erst  aus  Völkern  und  Rassen,  deren  Anlage  von 
früh  auf  introspektiv  geartet  war,  aus  niederdeutschem,  nordischem 
und  jüdischem  Geiste.  Descartes,  Spinoza  und  Leibniz  bringen  eine 
völlig  neue  Wertung  der  Mathematik  im  Gegensatz  zur  Natur- 
wissenschaft auf.  Am  klarsten  wird  dieser  Kontrast  bei  Leibniz,  als 
dem  ersten  großen  deutschen  Denker,  der  sich  auf  beiden  Gebieten 
gleich  sicher  und  gleich  zu  Hause  fühlt  und  darum  auch  ihre  fundamen-^ 
tale  Verschiedenheit  am  tiefsten  durchschaut,  eine  Verschiedenheit,  diJ§ 
bei  ihm  in  dem  prinzipiellem  Gegensatz  der  verit^  de  fait  und  der  v^ 
t'M  de  raison  ihren  Aasdruck  fand. 


-     235    — 

Erst  mit  dem  Auftreten  und  der  Wirkung  der  nichteuklidischen 
Geometrie  konnte  die  prinzipielle  Loslösung  der  Mathematik  von  der 
Naturwissenschaft  sich  vollenden.  Es  war  nicht  zum  wenigsten  die 
Lebensarbeit  Kleins ,  daß  diese  Yerselbständigung  einer  rein  mathe- 
matischen Erkenntnis  klar  bewußt  wurde.  Es  ist  um  so  widerspruchs- 
voller, daß  schließlich  der  praktische  Pädagoge  und  Organisator  Felix 
Klein,  diesen  notwendigen  Dualismus  wieder  vernichtet  oder  verwirrt  hat. 
Eine  wirkliche  Einsicht  in  das  Wesen  der  Mathematik  wurde  erst  mög- 
lich, mit  dem  Auftauchen  der  neuen  Diszipline,  der  reinen  Mengenlehre 
und  Zahlentheorie.  Die  erkenntnistheoretische  Begründung,  die  schließ- 
lich Hilbert  einer  reinen  Wissenschaft  der  Mathematik  schaffen  konnte 
ist  der  äußerste  Gegensatz  zu  jenen  erkenntnistheoretischen  Voraus- 
setzungen, die  der  moderne  Naturforscher  mit  sich  herumträgt.  Das 
ganze  Menschenalter  berauschte  sich  an  der  Evolutionsphrase. 
Man  kann  aber  getrost  sagen,  daß  jene  mystische  Naturphilosophie  der 
Hegel  und  Schelling,  deren  Verpönung  das  beliebteste  Steckenpferd  aller 
vermeintlich  exakten  Naturforscher  ist,  dem  Geiste  „wissenschaftlicher 
Exaktheit"  im  Sinne  der  Mathematik  viel  näher  stand,  als  die  ganze 
„moderne  Entwickelungslehre".  Ein  Phantast,  ein  Dichter  wie  Novalis, 
der  die  schönsten  Worte  über  Mathematik  schrieb,  die  wohl  je  ge- 
schrieben sind,  stand  seiner  ganzen  Geistesart  nach  mathematischem 
Denken  näher,  als  der  Naturforscher  moderner  Richtung  von  der  Art 
Spencers  oder  Häckels,  bei  denen,  wo  immer  nur  ein  Hinweis  auf  Ma- 
thematik in  Frage  kommt,  die  größte  Hilflosigkeit  und  Unfähigkeit  ma- 
thematischer Überlegung  zu  Tage  tritt. 

Diesem  Gegensatz  nun  zwischen  introspektiven  und  extrospektiven 
Naturen  findet  man  im  Schulunterricht  schon  bei  ganz  jungen  Kindern 
ausgeprägt.  Es  zeigt  sich  dem  psychologisch  interessierten  Lehrer  klar, 
daß  Kinder,  die  früh  zur  Naturbeobachtung  neigen,  zum  Sammeln  von 
Pflanzen,  Steinen,  Zerlegen  und  Beobachten  der  Tiere  keineswegs  die- 
selben sind,  die  in  mathematischer  Kombination  und  Spekulation  ihre 
Stärke  haben.  Ich  möchte  aber  keineswegs  diesen  fundamentalen  cha- 
rakterischen Gegensatz  als  einen  Gegensatz  zwischen  „konkreten"  und 
„abstrakten"  Naturen  ausgedeutet  sehen.  Diese  Entgegensetzung  von 
Konkretheit  und  Abstraktheit  ist  unendlich  grob  und  unklar.  Es 
gilt  vielmehr  erst  die  verschiedenen  Arten  des  Generellen  oder  Ab- 
strakten zu  analysieren  und  voneinander  unterscheiden  lernen!  Man 
bezeichnet  mit  dem  Worte  ;,abstrakt"  gewöhnlich  alle  das,  worin  man 
zufällig  nicht  zu  leben  gewöhnt  ist,  und  was  man  selber  nicht  zu 
durchbluten    vermag.     Es    ist   insbesondere  eine   völlig   falsche  Be* 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  16 


—    234    — 

Zeichnung,  wenn  man  die  Mathematik  „abstrakt^  nennt.  Im  Gegenteil 
ist  die  Unfähigkeit  zum  Vollziehen  von  Abstraktionen  im  Gebiete  täg- 
licher Erfahrung  eine  bei  mathematisch  veranlagten  Naturen  ungemein 
häufige  Erscheinung.  Man  könnte  beinah  glauben,  daß  ein  Mathematiker 
viel  zu  konkret  und  anschaulich  denkt,  um  etwa  in  der  Art  der  re- 
flektierenden Philosophen  „Abstraktionen  vorzunehmen".  Es  stehtauch  ein 
großer  Unterschied  der  Veranlagung  hinter  dem  Vollziehen  von  Abstrak- 
tionen im  Sinne  des  Begriffs-Allgemeinen  oder  im  Sinne  des  Typus.  Es 
ist  ein  großer  Unterschied  ob  der  Geist  auf  den  „Begriff"  oder  auf  dem 
„Inbegriff"  der  Erscheinungen  gerichtet  ist.  So  ist  zum  Beispiel  die 
ganze  Denkungsart  Göthes  charakteristisch  für  die  Richtung  aufs  Uni- 
verselle im  Sinne  des,  aus  einzelnen  Erfahrungen  „herausgeschauten" 
Allgemeinen.  Dagegen  liegt  das  Verallgemeinern  im  Sinne  begriff- 
lichen Zusammenschauens  und  Zusammendenkens  der  Goetheschen 
Seelenart  unendlich  fern.  Es  gilt  hier  zunächst  feinere  charakterolo- 
gische  Orientierungen  zu  schaffen.  Hier  hat  die  Psychologie  und  die 
psychologische  Pädagogik  Brachland  vor  sich.  Man  könnte  z.  B.  glauben, 
daß  hinter  den  Streitigkeiten  der  Scholastiker  über  die  verschiedenen 
Arten  von  „Universalia"  (hinter  den  Dingen,  vor  allen  Dingen  und  in 
den  Dingen  selbst)  ganz  verschiedene  Modalitäten  geistigen  Erlebens 
durcheinander  geworfen  sind.  Man  müßte  versuchen,  die  verschiedenen 
Formen  von  „Allgemeinheit^  scharf  gegeneinander  abzugrenzen.  Man  lerne 
scheiden  das  Generelle  vom  Universellen  im  Sinne  Kants,  das  Typische  vom 
Gesetzmäßigen  oder  Gesetzlichen  im  Sinne  der  Mathematik,  das  heraus- 
geschaute  Allgemeine,  von  jenem  anderen  Allgemeinen,  das  durch  einen 
Akt  des  Zusammenschauens  gestaltet  wird.  Erst  solche  Untersuchungen 
könnten  uns  einige  Klarheit  darüber  geben,  warum  Anschaulichkeit  der 
Naturforschung  und  mathematische  Anschauung  (etwa  im  Sinne  der 
Zahlenspekulation)  zwei  ganz  verschiedenen  Welten  zugehören,  und 
warum  ein  Mensch,  der  mit  festen  mathematischen  Größen  konkret  zu 
operieren  vermag,  dennoch  für  die  Konkretheit  im  Sinne  des  Natur- 
gegenstandes keinerlei  Sinn  hat,  oder  warum  (ein  FaU,  den  man  unge- 
mein häufig  erlebt),  ein  Mensch,  der  über  das  Gesetzmäßige  und  Ty- 
pische in  jeder  neuen  Erfahrung  die  sichersten  Worte  und  Begriffe  be- 
sitzt, dennoch  gegenüber  dem  einzelnen  individuellen  Erlebnis  voll- 
kommen versagt  und  danebentappt. 

Für  die  Anfänge  einer  didaktischen  Psychologie  der  Mathematik, 
«u  der  bisher  noch  nicht  einmal  die  gröbsten  Vorarbeiten  geleistet  sind, 
scheint  mir  die  Beobachtung  spezieller  Eigenarten  der  Völker  und 
Rassen  von  einigem  Wert  zu  sein.    Von  allen  geistigen  Typen  stellt 


—    235    - 

sich  aber  kein  anderer  uns  übersichtlicher  und  charakteristischer  dar,  wie 
der  des  Juden  in  seiner  spezifischen  mathematischen  Begabung.  In  ihm 
sehen  wir  eine  besondere  Form  der  Vergeistigung,  die  aus  Jahrtausende 
langem  Insichhineingetriebenwerden  und  aus  der  Tragik  der  „SchoUen- 
losigkeit"  erwachsen  ist.  Es  ist  nun  zunächst  eine  typische  Erfahrung, 
daß  der  jüdische  Einschlag  in  den  Naturwissenschaften  sich  entweder 
auf  die  rein  abstrakte  Wissenschaft,  oder  auf  die  praktische  Verwendung 
der  Naturwissenschaft,  etwa  in  Medizin  oder  Astronomie  bezieht.  Da- 
gegen hat  der  Jude  wenig  Fähigkeit  für  deskriptive  Fächer,  etwa  be- 
schreibende Botanik,  beschreibende  Zoologie.  Er  strebt  überall  danach, 
Relationen  zwischen  einzelnen  Objekten  und  Objektgebieten  herzustellen. 
Im  mathematischen  Unterricht  sehen  wir  etwas  Verwandtes.  Einem 
Kinde  jüdischer  Abkunft  fällt  im  allgemeinen  schwer,  konkrete  Haum- 
vorstellungen ,  etwa  die  Vorstellungen  der  Stereometrie  festzuhalten, 
dagegen  zeigt  sich  eine  geistige  Überlegenheit,  sobald  die  Verknüpfung 
und  Beziehung  verschiedener  Elemente  des  Vorstellens  in  Frage  steht. 
Es  ist  somit  klar,  daß  die  Eigenart  jüdischer  Veranlagung  gerade  den 
Notwendigkeiten  der  modernen  Mathematik  entgegenkommen  mußte. 
Für  eine  Geistigkeit,  der  das  optische  Element  der  Raumvorstellung 
ermangelt,  mußte  die  Arithmetisierung  der  Geometrie  naheliegend  sein. 
Der  ungemein  große  Prozentsatz  von  Gelehrten  jüdischer  Abkunft  unter 
den  Gründern  der  nichteuklidischen  Geometrie  und  der  reinen  Anzahlen- 
lehre ist  denn  auch  kein  Zufall.  Die  „Arithmetisierung  der  Geometrie" 
wurde  wesentlich  ein  Werk  der  Gelehrten  jüdischer  Abkunft,  wie 
Hanckel,  Cantor,  Schönfließ,  Minkowski,  Wellstein,  Wiener,  Pringsheim 
und  auch  bei  Weierstraß,  Riemann  und  Klein  darf  man  aus  rein  psycho- 
logischen Gründen  irgend  einen  jüdischen  Bluteinschlag  in  der  Deszendenz 
vermuten.  Das  wesentliche  charakterologische  Moment,  das  hier  in 
Frage  steht,  kann  man  am  besten  als  die  Tendenz  des  Geistes  zur 
Fluxibilität  und  Agilität  kann  man  als  Versabilität  und  SchoUenlosigkeit 
der  Denkkonstitution  bezeichnen.  Es  handelt  sich  nicht  um  Unkonkretheit 
und  Un Wirklichkeit  des  Denkens  in  d  e  m  Sinne,  als  ob  irgend  eine  Art  von 
Mystik,  Irrealität  oder  Irrationalität  für  die  Denkart  charakteristisch  wäre, 
sondern  nur  in  dem  Sinne,  daß  das  Spezifische  des  einzelnen  Falles  das 
„Jetzt  und  Hier^  das  tödstL,  die  haecceitas  zu  Gunsten  allgemeiner  und 
idealer  Relation  übersehen  wird.  —  Einen  ganz  ähnlichen  Unterschied 
kann  nun  auch  der  Pädagoge  bei  verschieden  veranlagten  Kindern  sehr 
scharf  wahrnehmen.  Es  gibt  „sinnliche"  Typen,  die  sich  mit  Vorliebe 
in  die  qualitativen  Einzelheiten  und  einmalige  Besonderheit  des  konkreten 
Falles  versenken.  Es  gibt  „geistige"  Typen,  die  von  vorn  herein  vom 
konkreten  Erlebnis  zu  reflektieren  pflegen,  sei  es,  daß  sie  das  „Generelle", 

16* 


—    236    — 

das  „Typische"  oder  das  „Abstrakt- Allgemeine"  suchen.  Solche  Unter- 
schiede hängen  wiederum  zusammen  mit  dem  Gegensatz  des  visuellen, 
durch  Raumeindrücke  und  optische  Vorstellungen  orientierten  Lebenstyps 
und  des  vorwiegend  akustisch  -  motorischen  Typus  des  Seelenlebens. 
Der  Gegensatz  der  Begabung  für  Naturwissenschaft  oder  für  Mathe- 
matik fällt  nun  freilich  nicht  glatt  mit  dem  Gegensatz  zweier  solcher 
psychischen  Dispositionen  zusammen.  Dieser  Kontrast  von  Naturwissen- 
schaft und  Mathematik,  von  Erfahrungswissen  und  Vernunftwissen,  von 
Wissenschaft  im  engeren  Sinne  und  Erkenntnis  im  engeren  Sinne  ist 
zunächst  nur  eine  menschliche  Tatsache,  deren  psychologische  Fundierung 
untersucht  werden  müßte.  In  dieser  Richtung  liegen  vielleicht  einige 
wertvolle  Erkenntnisse  in  den  Schriften  der  vielgeschmähten  Graphologen, 
Physiognomiker  und  Psycho-Diagnosten  verborgen.  Es  bleibt  auf  diesem 
Gebiete  noch  unendlich  viel  zu  tun,  — 

Es  wird  die  große  Aufgabe  des  mathematischen  Unterrichts  für  die 
Mittelschulen  bleiben,  die  richtige  Mitte  zwischen  Mathematik  als  Wissen- 
schaft und  Mathematik  als  Erkenntnis  einzuhalten.  Es  braucht  nicht 
erst  gesagt  zu  werden,  daß  der  Koordinationsbegriff  mit  seinen  unend- 
lich mannigfaltigen  Anwendungen  auf  alle  praktischen  Wissenschaften 
der  Menschen,  daß  ferner  die  Elemente  der  Infinitesimalrechnung,  daß 
der  Funktions-  und  Grenzbegriff  jedem  Schüler,  der  auf  höhere  Bildung 
Anspruch  erhebt,  unbedingt  geläufig  werden  muß.  Andererseits  aber 
erscheint  mir  die  Mathematik  in  ihren  speziellen  Teilen  für  das  Bildungs- 
wesen genau  so  viel  und  genau  so  wenig  zu  bedeuten,  wie  etwa  Griechisch, 
Sanskrit  oder  Sinologie.  Das  alles  ist  Wissenschaft  und  Erkenntnis  im 
engsten  Sinne,  ganz  unabhängig  vom  Wesen  der  seelischen  oder  geistigen 
Bildung.  Die  Schule,  wie  die  Universität  hat  weder  die  Aufgabe  eine 
Sammlung  fachwissenschaftlicher  Institute  zu  sein,  noch  die  ganz  anders- 
artige Aufgabe,  die  erkenntnistheoretische  Durchdringung  und  mathe- 
matische Auswertung  menschlicher  Wissenschaften  zu  verwalten.  Sie 
haben  vielmehr  die  Aufgabe,  ein  bestimmtes  und  beständig  steigendes 
Niveau  der  Kultur  für  die  Nation  zu  erhalten,  von  dem  aus  dann  inmier 
wieder  einzelne  große  Leistungen  der  Erkenntnis  oder  der  Wissenschaft 
möglich  sind.  Man  verwirrt  und  mißkennt  aber  den  ganzen  Sinn  von 
Schule  und  Universität,  wenn  man  ihre  Aufgabe  der  persönlichen  Bildung  in 
eine  wissenschaftliche  oder  erkenntnistheoretische  Leistung  verwandelt. 
Heute  arbeiten  wir  daran,  die  Unterrichtsschulen  der  alten  Art  in  mo- 
derne Erziehungsschulen  umzuwandeln!  Für  die  Erziehungsschule  aber 
besteht  nicht  mehr  der  falsche  Schnitt  zwischen  humanistischer  und 
alistischer   Bildung.    Ich   besuchte   als  Knabe   ein  Gymnasium,   das 


—    237    — 

gleichen  Gebäude  mit  der  Realschule  untergebracht  war.  Über  dem 
Portal  des  linken  Flügels,  der  das  Gymnasium  beherbergte,  befand  sich 
die  Statue  Göthes.  Über  dem  rechten  Portal,  das  zur  Realschule  führte, 
stand  die  Statue  Alexander  Humboldts.  Schon  als  Knabe  schien  mir 
dieser  Gegensatz  ganz  unbegreiflich,  da  ich  in  der  ganzen  Literatur 
keine  zwei  Männer  fand,  die  in  Denkart  und  Seelentypus  einander  so 
verwandt  schienen,  wie  Göthe  und  Humboldt.  Heute  weiß  ich,  daß  der 
Schnitt  zwischen  zwei  Bildungswelten,  deren  eine  man  humanistisch, 
deren  andere  man  realistisch  nennt,  auf  einem  falschen  gedankenlosen 
Prinzip  beruht.  Eine  richtige  Gabelung  der  Schulen,  eine  vernünftige 
Einteilung  der  Bildungstypen  wird  man  erst  dann  erreichen,  wenn  man 
die  pädagogische  Psychologie  zur  Grundlage  der  praktischen  Schul- 
organisation macht.  Heute  kommt  es  nicht  mehr  darauf  an,  die  Wissen- 
schaften gegeneinander  zu  klassifizieren,  sondern  darauf,  den  Menschen 
schon  im  Kindesalter  zu  verstehen,  und  zu  ergründen.  Achtet  man 
aber  eifriger  als  bisher  geschah  auf  die  ungemein  große  Spannweite 
kindlicher  Anlagen  und  auf  die  Differenzen  der  Denkart  und  Geistes- 
haltung schon  im  ersten  Unterricht,  dann  wird  man  finden,  daß  die 
Zusammenstellung  Naturwissenschaft  und  Mathematik  recht  nichtssagend 
und  unglücklich  ist.  Man  wird  schließlich  gezwungen  sein,  diese  schein- 
bar glückliche  Ehe  wieder  zu  scheiden,  und  da  Göthe  gesagt  hat,  daß 
der  Mensch  sich  schließlich  immer  nur  auf  die  eine  Seite  legen  kann,  so 
wird  man  den  Mut  finden  und  nicht  für  ein  Manko  erachten,  ruhig  ein- 
zugestehen, daß  man  nur  für  eine  dieser  beiden  Sphären  interessiert  und 
begabt  ist,  oder  daß  innerhalb  der  Naturwissenschaften  und  der  Mathe- 
matik jeder  von  uns  nur  ein  ganz  bestimmtes  Gebiet  und  ein  eng  um- 
grenztes Feld  von  Problemen  besitzt,  auf  das  ihn  seine  ganz  spezielle 
Eigenart  und  Veranlagung  hinweist.  Diese  spezielle  Veranlagung  gilt 
es  zu  finden.  Es  ist  ganz  selbstverständlich,  daß  jede  Stärke  nach  der 
einen  Seite  hin  immer  einen  Verlust  in  irgend  einer  anderen  Richtung 
in  sich  schließt.  Die  moderne  Erziehungsschule  aber  und  die  Reform 
der  Universität  aus  einer  Sammlung  von  Fachschulen  zur  Stätte  na- 
tionaler Kultur  hat  andere  Ziele,  als  die  äußerliche  Reform  des  „mathe- 
matisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts".  — 


^    238    — 

Der  Stand  der  Heilpädagogik  in  Ungarn')  im  Jahre  1907/08. 

Von  Fräulein  Helene  Goldbaum  in  Wien. 

Wie  Prof.  Berkes  Janos  in  der  Dezembernummer  des  „Gjermek" 
mitteilt,  haben  die  heilpädagogischen  Bestrebungen  in  Ungarn,  nament- 
lich der  Unterricht  der  Taubstummen,  der  Blinden  und  der  Schwach- 
sinnigen, in  den  letzten  zehn  Jahren  einen  erfreulichen  Aufschwung  ge- 
nommen. 

^Die  Zahl  der  in  Ungarn  bestehenden  heilpädagogischen  Institute 
ist  16,  mit  einer  Schüleranzahl  von  1232  im  Schuljahre  1907/08.  In 
zwei  Instituten  erhalten  207  blinde  Kinder  Unterricht.  Ein  drittes  Er- 
ziehungsinstitut —  das  Wechselmannsche  —  hat  seine  Tätigkeit  im  lau- 
fenden Schuljahre  (es  wurde  am  20.  Dezember  08  eröffnet)  mit  30  Zög- 
lingen begonnen." 

Für  arbeitsfähige  Blinde  gibt  es  sechs  Beschäftigungsanstalten  mit 
289  blinden  Arbeitern.  Für  269  Schwachsinnige  existieren  drei  staat- 
liche und  ein  privates  Institut.  Außerdem  besitzt  die  Residenz  einige 
Schulen  für  den  Unterricht  der  Schwachsinnigen;  zu  Beginn  des  lau- 
fenden Schuljahres  wurden  auch  in  Eger  und  Szongrad  eine  Hilfsschule 
errichtet. 

„Wenn  wir  die  bis  heute  erreichten  Resultate  mit  jenen  des  Jahres 
1900  vergleichen,  so  müssen  wir  uns  sagen,  daß  wir  auf  diesem  Gebiete 
noch  manches  zu  vollführen  haben.  Laut  Volkszählung  vom  Jahre  1900 
betrug  die  Zahl  der  Schwachsinnigen  in  Ungarn  65266.  Unter  diesen 
befanden  sich  12344  sechs  bis  vierzehnjährige  Kinder,  also  schulpflichtige 
Schwachsinnige.  Ziehen  wir  nun  von  dieser  Summe  die  im  Jahre  1907/08 
Unterricht  genießenden  Schwachsinnigen  ab,  so  müssen  wir  konstatieren, 
daß  10347  Schwachsinnige  noch  ohne  jedem  Unterricht  heranwachsen 
und  die  Zahl  der  teils  Arbeitsunfähigen  und  teils  Gemeingefährlichen 
vermehren. 

Ein  Teil  der  bestehenden  Institute  hat  mit  materiellen  Sorgen  zu 
kämpfen.  Der  Staat  hat  in  seiner  Opferwilligkeit  die  Bezahlung  sämt- 
licher in  heilpädagogischen  Instituten  angestellten  Lehrkräfte  sowie  die 
totale  Erhaltung  von  sechs  derartigen  Instituten  auf  sich  genommen." 

In  seinem  interessanten  Referat  weist  Prof.  Berkes  darauf  hin,  daß 
der  Unterricht  der  Schwachsinnigen  nicht  bloß  Aufgabe  des  Staates, 
nicht  bloß  eine  Frage  allgemeiner  Wohltätigkeit,  sondern  vielmehr  eine 
Gemeinde-,  Konfessions-  und  Gesellschaftsfrage  sein  sollte.  Die  nicht 
staatlichen  Institute  sammeln  daher  die  zu  ihrer  Erhaltung  notwendigen 


1)  Nach  einem  im  Ojermek    (Dez.  1908)  enthaltenen  Referate  des  Ilerm  Prof. 
Berkes  Janos. 


—    239    — 

Büttel  aus  verschiedenen  staatlichen  und  privaten  Quellen.  Die  Ge- 
sellschaft opfert  gerne  für  den  Unterricht  der  Schwachsinnigen;  doch 
verringern  sich  durch  die  Vermehrung  und  Entwicklung  dieser  Institute 
von  Jahr  zu  Jahr  die  ihr  zur  Verfügung  stehenden  Mittel;  die  Aus- 
gaben sind  durch  die  Vermehrung  der  Zöglinge  im  Steigen  begriffen, 
und  dieser  Umstand  gefährdet  das  weitere  Bestehen  mehrerer  heil- 
pädagogischer Institute. 

Prof.  Berkes  betont,  daß  die  Errichtung  neuer  Anstalten  nicht  an 
dem  schlechten  Willen,  sondern  lediglich  an  der  Unzulänglichkeit  aller 
Mittel  scheitert.  Aber  noch  ein  zweiter  Umstand  wirkt  hemmend  auf 
die  Fortschritte  der  heilpädagogischen  Bestrebungen:  Viele  Eltern 
schwachsinniger  Kinder  wollen  nicht  anerkennen,  daß  es  eigentlich  ihre 
elterliche  Pflicht  ist,  ihre  Kinder  durch  Überweisung  in  eine  Hilfsschule 
der  gänzlichen  Hilfslosigkeit  zu  retten. 

Auch  die  im  schulpflichtigen  Alter  stehenden  Blinden  und  Taub- 
stummen bleiben  oft  ohne  Unterricht  und  werden  von  den  Eltern  —  die 
meisten  Blinden  und  Taubstummen  entstammen  armen  Familien  —  zu 
einer  die  menschliche  Würde  erniedrigenden  Bettelei  angehalten,  statt 
einem  ehrlichen  Broterwerb  zugeführt  zu  werden. 

Prof.  Berkes  meint,  daß  nur  eine  allgemeine  Aktion  aller  Gesell- 
schaftsklassen diesem  Übel  abhelfen  könnte.  Das  beste  und  sicherste 
Mittel  zur  Bekämpfung  desselben  wäre  aber  in  erster  Linie :  die  Ein- 
führung der  Schulpflicht  für  Schwachsinnige. 


Ein  Bedenken  über  „Einige  Gedanicen"  von  Frau  Dr.  L.  Hösch-Ernst. 

Von  Alexander  Netschajeff  (St.  Petersburg). 

Der  Artikel  von  Frau  Dr.  L.  Hösch-Emst  ,, Einige  Gredanken  zur 
Frage  der  Körperstrafe"  (Exp.  Pädag.,  Bd.  VIH,  H.  1  u.  2,  S.  95)  gibt 
mir  die  Gelegenheit  ein  paar  Fragen  an  die  Verfasserin  zu  richten,  da 
ohne  Antwort  auf  diese  Fragen  der  Grundgedanke  dieses^  Artikels  mir 
völlig  dunkel  erscheint. 

1)  Frau  Dr.  L.  Hösch-Ernst  findet  die  Körperstrafe  „sicher  am  Platz 
bei  vorgefaßtem  wiederholtem  Auflehnen  gegen  den  Willen  der  Eltern 
(eine  sehr  unbestimmte  Formel),  bei  hartnäckigem  Trotz  (wobei  genau 
auf  die  Motive  des  Trotzes  zu  achten  ist),  bei  wiederholter  Lüge,  vor 
allem  aber  und  am  längsten  bei  Grausamkeit  gegen  Tiere  oder  bei  Ge- 
walthandlungen gegen  jüngere  und  schwächere  Genossen,  auch  gegen 
Untergebene  der  Eltern  (G.  100).  Aber  spricht  Frau  Doktor  weiter; 
„als  Mittel  gegen  Faulheit  würde  ich  nie  Körperstrafen  gebrauchen* 


—    240    — 

Zunächst  gilt  es  hier  zu  prüfen,  wo  die  Faulheit  ihren  Ursprung  nimmt. 
Sie  beruht  sehr  oft  auf  physiologischen  und  gar  pathologischen  Gründen" 
(105).  Läßt  Frau  Doktor  nicht  zu,  daß  der  Ursprung  eines  hartnäckigen 
Trotzes,  wiederholter  Lüge,  Grausamkeit  u.  s.  w.  auch  sehr  oft  auf  phy- 
siologischen und  gar  pathologischen  Gründen  beruht? 

2)  Frau  Dr.  Hösch-Ernst  sieht,  wie  es  scheint,  die  große  pädagogische 
Bedeutung  des  Gefühls  des  sich  Schämens  ein.  Was  für  einen  Einfluß 
auf  die  Entwicklung  dieses  Gefühls  bei  Kindern  soll  das  Beispiel  des  Er- 
ziehers erweisen,  der  selbst  eine  schamlose  Strafe  „auf  das  entblöste 
Sitzteil"  ausübt,  und  in  einigen  Fällen  keine  Altersgrenze  kennen  will? 

3)  Indem  die  Verfasserin  als  belehrendes  Beispiel  den  Fall  des  eigen- 
händigen Prügeins  des  4jährigen  „schwachen  Mädchens",  das  sie  für  die 
Sommerzeit  zu  sich  genommen  hat,  um  es  ;,ein  wenig  aufzufüttern"  be- 
schreibt, sucht  sie  zu  beweisen,  daß  dieses  Kind  ohne  Rute  nicht  im- 
stande gewesen  sei  sich  ernst  gegen  die  Worte  und  andere  pädagogischen 
Maßregeln  seiner  Erzieherin  zu  verhalten.  Es  ist  sehr  schade,  daß  Frau 
Hösch,  die  ziemlich  eingehend  die  Szene  des  wirksamen  Prügeins  be- 
schreibt*), sehr  wenig  von  den  andern  positiven  Erziehungsmaßregeln 
spricht,  die  sie  gegen  das  arme  schwache  Kind  angewandt  hat.  Ist  sie 
denn  wirklich  so  vollständig  überzeugt,  daß  alle  ihre  pädagogischen 
Mittel  (das  Prügeln  ausgenommen)  so  rechtzeitig  vorgenommen  wurden 
und  daß  an  ihrem  Platze  kein  noch  so  talentvoller  Pädagoge  die  vor- 
liegende Aufgabe  besser  lösen  könnte?  Wenn  das  geprügelte  Kind  nach 
dreistündigem  Geschrei  und  Weinen  endlich  „zur  Ruhe  kam"  und  „ganz 
artig  mit  noch  etwas  stockender  schluchzender  Stimme"  die  geforderte 
Entschuldigung  stammelte,  so  könnte  man  hier  nicht  statt  des  wert- 
vollen logischen  Prozesses  (Böse  gewesen  —  Nelly  weh  getan  —  selbst 
weh)  eine  natürliche  Lösung  des  Affektes  erblicken,  der  durch  die  Rute 
schnell  seinen  Höhepunkt  erreicht  haben  soll?  Wenn  dem  so  wäre,  so 
ist  dies  alles  eine  Illusion  der  Erziehung! 

4)  Zu  dem  Grundsatz  Sylvius  „Schläge  sind  für  Sklaven  —  nicht 
für  Kinder"  fügt  Frau  Dr.  Hösch  hinzu  „und  ich  gehe  noch  weiter,  wenn 
ich  sage:  aus  Kindern  wird  man  Sklaven  und  Sklavennaturen  züchten, 
wenn  (nach  einem  gewissen  Alter)  das  Hauptmittel  die  Rute  ist"  (105). 
Heißt  es  denn  weiter  gehen,  wenn  man  den  oben  erwähnten  Grandsatz 
einschränkt? 


1)  Hier  darf  ich  gelegentlich  eine  Frage  stellen:  als  Frau  Hösch-Ernst  ihren  Zücht- 
img „ziemlich  gründlich,  nach  der  alten  Weise,  auf  das  entblöste  Sitzteü**  prügelte,  hat 
sie  dabei  nicht  vergessen,  die  Kute  zu  desinfizieren,  wie  sie  es  mit  der  Stecknadel  getan 
hat,  mit  der  sie  zur  Strafe  dem  Knaben  der  einen  Maikäfer  quälte  den  Fuß  durch- 
-Btochen  hat? 


—    241    — 

Das  städtische  pädologische  Laboratorium  Antwerpens. 

Von  Direktor  Dr.  M.  C.  Schuyten. 

Wenn  ich  der  freundlichen  Einladung  der  Eedaktion  dieser  Zeitschrift  *),  eine 
Mitteilung  zu  schreiben  über  dieses  Thema,  gern  Gehör  gebe,  so  tue  ich  es  aus- 
schließlich des  Nutzens  wegen,  den  ein  Aufsatz  dieser  Natur,  für  die  Entstehung 
analoger  Einrichtungen  als  das  Antwerpner  kinderkundige  Laboratorium,  hervor- 
rufen kann.  jVlit  meiner  Darlegung  vom  Urspining,  Ziel  und  Arbeitsmethode  des 
Laboratoriums  sind  in  der  Tat  Schwierigkeiten  verbunden  welche  ich  glaube  erst 
nach  langem  Denken  überwunden  zu  haben.  Habe  ich  doch  unbewußt  die  unver- 
meidliche Neigung,  die  Sache  an  deren  Entwicklung  ich  persönlich  direkt  beteiligt 
bin,  im  schönsten  Lichte  darzustellen,  demnach  Gefahr  zulaufen  solche  heutige 
Zustände,  welche  ich  nicht  mehr  billigen  kann,  und  denen  ich  nicht  im  Stande 
bin  abzuhelfen,  in  den  Schatten  zu  stellen  oder  nur  schwach  zu  beleuchten.  Ich 
kann  sie  auch,  wenn  ich  z.  B.  pessimistisch  gestimmt  bin,  zu  schwarz  malen  und 
dann  bin  ich  wieder  unwahr  im  entgegengesetzten  Sinne.  Endlich  ist  eine  beliebige 
Verwaltung  ungemein  empfindlich  was  ihre  Schöpfungen  betrifft  und  es  wird  eine 
ev.  nicht  beistimmende  Kritik  von  Seite  ihrer  Beamten  nicht  selten  höchst  übel 
aufgenommen.  Ich  will  es  aber  versuchen,  im  Interesse  der  Sache  allein  und 
ganz  abgesehen  von  allen  etwaigen  tendenziösen  Nebenabsichten,  eine  genaue 
Beschreibung  von  der  bis  jetzt  einzigartigen  wissenschaftlichen,  im  Interesse  des 
Kinderstudiums  gestifteten  Einrichtung  meiner  Vaterstadt  zu  geben;  nachdem  ich 
auch  noch  den  Umstand,  verpflichtet  zu  sein  so  fortwährend  über  mich  selbst 
reden  zu  müssen,  mutig  zur  Seite  geschoben  habe.  Ist  doch  die  Geschichte  des 
Laboratoriums  bis  jetzt  nur  diejenige  Schuytens. 

Das  Laboratorium  besteht  nun  genau  zehn  Jahre.  "Wenn  ich  am  1.  Januar 
1909  wie  gewöhnlich  am  fi'ühen  Morgen  in  das  Gebäude  trat  —  meine  AVohnung 
ist  nur  5  Minuten  davon  entfernt  —  bemerkte  ich  auf  meinem  persönlichen  Arbeits- 
zimmer, daß  Guido  Gezelle's  ^)  Bisskalander  ^)  sein  letztes  Stichwort  gab.  Der 
Gedanke:  „Heute  beginnt  ein  neues  Jahr"  gab  Anstoß  zur  Erinnerung  an  08,  07 
06  .  .  .;  ich  murmelte  ungefähr  unbewußt  etwas  über  meine  wissenschaftliche 
Tätigkeit,  zählte  zurück  an  meinen  Fingern.  ...  Ist  es  möglich?  Bereits  10  Jahre 
Ich  setzte  mich  nieder,  schloß  die  Augen.    Ich  übersah  die  vergangenen  Zeiten.  .  . 

1885.  Gemeindeschullehrer.  Ernennung  1886.  Acht  Jahre  ununterbrochener  — 
zugleich  privatim,  eigene,  fieberhafte  naturwissenschaftliche  Bildung  —  Klassenarbeit 

1893  Juli.  Genehmigung  von  Seiten  der  Behörden^),  während  der  Stunden 
und  ohne  Schaden  für  den  Unterricht,  mit  meinen  kleinen  Schülern  psychologische 
Versuche    zu    machen;    AVidersetzung    von    Seiten    des    Schuldirektors;    Spötterei 


1)  Vlämischer  Dichter. 

2)  Niederländisch:  Duikalmanak. 

3)  Unterrichtsschöffe:  Dr.  V.  Desguin. 

*)  Anm.  der  Redaktion:  Wir  veröffentlichen  gern  diesen  interessanten  persönlichen 
Bericht  von  Herrn  M.  C.  Schuyten  über  die  Gründung  des  pädologischen  Laboratoriums 
in  Antwerpen.  Er  ist  typisch  für  die  Schwierigkeiten,  welche  die  experimentelle  Päda- 
gogik überhaupt  zu  überwinden  hat,  wir  können  in  Deutschland  von  ähnlichen  Er- 
fahrungen leider  nicht  auch  von  den  gleichen  Resultaten  berichten.  Ganz  be- 
sonders vorteilhaft  sticht  das  tatkräftige  Vorgehen  Schuytens  von  den  papierenen  Be- 
strebungen mancher  Paedagogen  ab,  die  sich  damit  beschäftigen,  die  „Möglichkeit  und 
Notwendigkeit"  paedagogischer  Laboratorien  „theoretisch  zu  zeigen.    E.  M. 


—    242    — 

der  Herren  Kollegen.  Erste  Kurve  der  jährlichen  Aufmerksamkeits- 
schwankungen. 

1894.  Promotion  zum  Doktor  in  der  Chemie  und  Gymnasialprofessor  an  der 
Universität  Gent*)  mit  einer  Dissertation  „Neue  Derivate  von  Phenyldimethyl- 
pyrazolon"  und  zwei  öffentliche  Vorlesungen  (eine  Über  Säuren,  Basen,  Salze", 
eine  „Über  die  Blumen"  ^. 

1895  Februar.  Genehmigung  meine  Untersuchungen,  über  die  Aufmerksam- 
keitsschwankungen im  großen  auszudehnen.  Ich  verlasse  vorläufig  die  Schule, 
bekomme  ohne  offiziellen  Charakter  den  Auftrag,  mich  mit  den  Schulen  überhaupt 
für  meine  neuen  Arbeiten  zu  verständigen. 

1896.  Giündung  einer  wissenschaftlichen  Fakultät  an  der  Neuen  Universität 
Brüssel  —  entstanden  1893  durch  den  Bemühungen  von  Elis^  Reclus,  Degreef  und 
Picard,  nachdem  diese  Professoren  sich  von  der  Freien  Universität  ihrer  Pinzipien 
wegen  losgerissen  hatten.  Ich  wm*de  mit  den  Vorlesungen  über  organische  Chemie 
(ai'omatischc  Reihe)  beaufti-agt.     (Seit  1899  aufgegeben). 

1898.  Mein  Vorschlag  an  Dr.  Desguin,  einen  Plan  zum  Aufbau  einer  Organi- 
sation zur  Kinderforschung  zu  studieren,  wird  angenommen.  30.  Dezember.  Offizielle 
Ernennung  zum  Direktor  des  „Pädologischen  Schuldienstes"  mit  einem  Minimum- 
gehalt von  3100  Fr.  und  ein  Maximum  von  4200  Fr.  nach  12  Jahrenzu  erreichen  *). 

1899  Auf  meinen  Vorschlag  wird  in  der  Fakultät  für  soziale  Wissenschaften 
der  Brüsseler  N.  Universität  ein  pädologischer  Km's  mit  Laboratorium  gegründet. 
Ich  wurde  zum  Ordinarius  ernannt.  Bis  jetzt  habe  ich  dauernd  die  Vorlesungen 
aufrecht  gehalten  jedes  Jahr  von  Mai  bis  Juli,  aber  nur  wenn  meine  amtlichen 
Verpflichtungen  in  Antwerpen  solches  gestatteten.  In  dem  übrigen  macht  die  Stadt 
nie  Schwierigkeiten.  Auch  haben  die  Studenten  Erlaubnis,  das  städtische  Labora- 
torium zu  besuchen. 

1899  I.Januar.  Theoretische  Eimichtung  eines  „pädologischen  Laboratoriums" 
mit  einem  jährlichen  Kredit  von  1500  Fr.,  im  Jahre  1901  auf  2500  Fr.,  im 
Jahre  1906  auf  3500  Fr.  gebracht.  Das  „Laboratorium"  wurde  verbunden  mit 
dem  „Dienst"  gedacht,  immer  auf  meine  Anregungen.  Ich  suchte  das  Lokal  in  einer 
städtischen  Schule  und  fand  etwas  —  eine  verlassene  enge  Klasse  —  in  der 
Mädchen-Mittelschule  der  Lange  Leemstr.  wobei  ich  noch  eine  der  Mauerfeuchtig- 
keit wegen  verlassene  Kellerküche  bekam.  Aber  bereits  nach  wenigen  Monaten 
wurde  diese  Vorrichtung  als  unzureichend  anerkannt;  jedoch  erst  im  Jahre  1903 
wiu*de  meine  Bitte,  ein  selbständiges  geräumiges  Unterkommen  zu  erlangen,  nach 
reifer  Überlegung  zugestanden.    Dafür  wurde  mii'  ein  städtisches  Gebäude,  Privat- 


1)  Besondere  Genehmigung  der  wissenschaftlichen  Fakultät,  welche  wußte,  daß  ich 
nie  im  Stande  gewesen  war,  einer  einzigen  Vorlesung  beizuwohnen.  Laboratoriums- 
arbeiteu  im  Hause,  während  der  Ferien  aber  an  der  Universität. 

2)  Hier  widme  ich  eine  dankbare  Erinnerung  an  die  Professoren  Th.  Swarts, 
Plateau,  E.  Van  Beneden,  H.  Denis,  J.  Mac  Leod,  Renard  die  mir,  überhaupt  bei  meinem 
ersten  Schritte  ein  liebenswürdiges  Entgegenkommen  zu  sichern  wußten;  an  die  Ant- 
werpner  Verwaltung,  welche  in  der  Person  ihrer  succ.  Unterrichtsschöffen  Jan  Van 
llyswyck  und  Victor  Desguin  stetig  die  amtlichen  Schwierigkeiten,  die  durch  meine  Privat- 
studien erzeugt  wurden,  am  vorteilhaftesten  zu  lösen  versuchten. 

3)  Gehalt  der  Gemeindeschuldirektoren,  welche  überdies  eine  Entschädigung  für 
Wohnung,  Licht  und  Feuer  bekommen  (zu  5000  Fr.);  die  meisten  haben  dann  noch  in 
ihrer  Schule  Abendkurse,  wofür  sie  ebenfalls  entschädigt  werden  (zu  GOO  Fr.  Sonstige 
Lehrer  erreichen  mit  ihren  Nebenverdienst  6250  Fr.).  Diese  Vorteile  bekomme  ich  nie.  Über 
drei  Jahre  wiude  das  Gehalt  auf  4400  Fr.  gebracht.  Ich  wurde  1JSU9  als  Professor  der 
Chemie  an  der  Gewerbeschule  mit  10  wöchentlichen  Abendstunden  ernannt  (Gehalt  2200  Fr.). 


—    243    — 

Wohnung  mit  zwei  Etagen  Brederodestr.  141,  zur  Verfügung  gestellt  mit  dem 
Auftrag  die  neue  materielle  Eimichtung  in  Verband  mit  dem  städtischen  Bau- 
meister persönlich  aufzunehmen.  Nachdem  Wasser-,  Gas-  und  Stromleitung  nach 
einem  gut  durchdachten  Plan  in  Ordnung  gebracht  wai'en,  wurde  überall  repariert, 
desinfiziert,  angestrichen.  Dann  kam  im  Juli  ohne  Entgelt  eine  Hauswärterin 
und  endlich  die  definitive  Möbelierung: 

1.  Im  Erdgeschoß.  Das  Vorzinuner  bekam  an  beiden  Seiten  des  Schornsteins 
eine  eichene  Bibliothek,  einen  dito  Tisch  in  der  Mitte  und  sechs  Stühle.  Elek- 
trische Beleuchtung  und  Klingel,  zwei  Auerbrenner  an  der  Mauer.  Auf  Wand- 
platen  sind  die  Resultate  meiner  wichtigsten  Untersuchungen  gi'aphisch  dar- 
gestellt ^).  Auf  den  marmornen  Schornsteinplatten  und  der  Lade  der  Bibliotheken 
sind  die  laufenden  Nummern  der  Zeitschriften  geordnet.  Die  Hinterstube  mit 
kleiner  Veranda  gibt  Aussicht  auf  einen  kleinen  Hofraum  mit  einem  Streifchen 
Garten.  Rechts  lange  Arbeitstische  (3.68  X  0,68)  versehen  mit  Wasser-,  Gas- 
und  Stromquelle  (110  Volt);  links  zwei  Pulte,  jedes  für  eine  Person.  5  elektrische 
Lampen,  2  Auerbrenner,  Gasfeuer,  Waschvorrichtung,  2  Stühle.  Die  wichtigsten 
anthropometrischen  Apparate,  verstellbare  schwarze  Tafel.  Die  zwei  Pulte  müssen 
hauptsächlich  für  die  interessierten  Pädagogen  und  Arzte  dienen,  welche  die  Zeit- 
schriften und  eingekommenen  Drucksachen  konsultieren  wollen.  Auch  ist  es  dies 
Zimmer,  in  welches  ich  die  Kinder  für  individuelle  Untersuchungen  kommen  lasse. 
—  Die  Küche  und  die  Keller  wm^den  der  Hauswärterin  überlassen. 

2.  Zwischenstock  (oben  die  Küche).  —  Geräumiges  Zimmer  für  dunkle 
Kammer  eingerichtet  mit  elektrischer  Beleuchtung  (rot  und  weiß),  Gas,  Wasser, 
Projektionsapparat,  Planken  an  den  Wänden,  Gasheizung. 

3.  Erster  Stock  (Privat- Aufenthalt).  —  Vorzimmer;  geräumig,  drei  Fenster 
mit  Balkon,  lange  Schreibtische  (2.5  X  0.78)  mit  Pult,  hohe  viereckige  Zeichen- 
und  Schreibtische  (1.00  x  0.98)  mit  Pult.  An  beiden  Seiten  des  Schornsteins 
zwei  große  Bibliotheken  (3.20  X  1.54)  mit  40  verstellbaren  Planken  (von  0.75  m). 
Rechts  am  Eintritt  kleine  Tische  mit  zwei  chemischen  Wagen  (eine  technische 
auf  0,001  g  und  eine  analytische  auf  0,0001  g  sensibel).  Gasheizung  (Siemens- 
feuer). Elektrische  Beleuchtung  und  Klingel,  Auerbrenner,  vier  Stühle  und  ein 
Schreibsitz.    —   Hinterstube:   Komplettes  chemisches   Laboratoriimi   (siehe   unten). 

4.  Zweiter  Stock.  —  Hinterstube.  Ausschließlich  für  Archive  (meine  Manu- 
skripte, Separate,  Versuchsmaterial  u.  s.  w.)  eingerichtet.  Zwei  ganz  die  Wände 
in  der  Länge  bekleidende  Gerüste  mit  verstellbaren  Planken;  Auerbrenner.  — 
Vorzimmer  und  5.  Drittes  Stock,  Privatwohnung  der  Hauswärterin.  6.  Im  ganzen 
Haus  Bodenbekleidung  Linoleum. 

Wie  ersichtlich,  ist  die  materielle  Gestaltung  des  Laboratoriums  eine  ziemlich 
hübsche.  Nur  muß  erwähnt  werden,  daß  die  Unterhaltung  des  Gebäudes,  abhängig 
vom  Dienste  der  Stadtgebäude,  ungemein  schwierig  und  langsam  von  statten  geht. 
Man  nennt  so  etwas  ein  „detail" !  Aber  davon  können  nur  diejenigen  einen 
Begi'iff  haben,  die  an  dergleichen  Mächte  gebunden  zu  sein,  noch  nicht  gelernt 
haben,  leider  zum  Schaden  des  allgemeinen  Interesses,  „Gottes  Wasser  über  Gottes 
Deich"  laufen  zu  lassen. 

In  Bezug  auf  die  Appai'ate  habe  ich  dieses  mitzuteilen:  Immer  kaufte  ich 
nur  dasjenige,    was  ich   unmittelbar   füi*   meine  Untersuchungen   nötig   hatte.     Ich 


1)  Jetzt  ist  auch  schon  die  Hinterstube  mit  Wandplatten  besetzt  und  ich  suche  für 
diese  neue  angepaßte  Stellen. 


—    244    — 

kaufte  nicht,  wie  es  Läufig  der  Fall  ist,  alles  was  in  einem  päd ologiscben  Labo- 
ratorium zu  gebrauchen  ist,  z.  B.  mit  der  Absicht  auf  den  neugierigen  Besucher 
Eindruck  zu  machen.  Ich  habe  nur  die  Sammlung  von  allem,  was  ich  brauchte. 
Ich  kann  diese  Arbeitemethode  leicht  aufrecht  erhalten,  da  ich  stets  ganz  allein 
im  Betriebe  bin.  In  der  Tat  habe  ich  keinen  Assistenten,  keinen  Diener,  nur 
gelegentlich  darf  ich  einem  Lehrer  oder  einer  Lehrerin  umfangreiche  bezahlte 
Kcchen-  oder  Kopienarbeiten  auftragen.  Aber  der  Mangel  eines  elementaren 
Personals  macht  sich  sonst  recht  schmerzlich  geltend.  Habe  ich  doch  im  Auslande 
allein  etwa  400  Korrespondenten!  Dies  abgesehen  von  meinen  wissenschaftlichen 
Bestrebungen. 

Nie  wurde  mir  gesagt  was  ich  tun  muß.  Schöffe  Dr.  Desguin  gab  mir 
anfangs  „carte  blanche"  und  sofort  konnte  ich  dem  neuen  Organismus  den  wahren 
Ton  geben:  Er  würde  streng  wissenschaftlich  sein.  Von  meiner  Person 
aus  betrachtet,  wäre  eine  andere  Organisation  bestimmt  unmöglich  gewesen.  Wäre 
ich  an  ein  bm'caukratisches  Regime  unterworfen  gewesen,  ich  glaube  die  ganze 
Sache  wüi*de  verloren  gewesen  sein.  Aber  etwas  ähnliches  ist  nicht  vorgekommen. 
Immer  möchte  ich  mich  erfreuen  an  der  idealen  Freiheit,  nicht  nur  in  meinem 
persönlichen  Tun  und  Lassen,  sondern  auch  in  meinen  Veröffentlichungen.  Big 
jetzt  wurde  mir  nie  eine  etwaige  Bemerkung  über  das  Pädologische  Jahrbuch  oder 
meine  sonstigen  Schriften  gemacht,  obwohl  mir  von  Zeit  zu  Zeit  aus  bestimmten 
Milieus  der  Stadtobrigkeit  Nachklänge  ohne  Bedeutung  zukommen. 

Demnach  sind  die  Bestrebungen  des  Laboratoriums  ziemlich  abgerundet:  ich 
untersuche  die  Phänomene  des  Schulkindes  nach  meinem  freien  Gedankenlauf, 
dabei  angeregt  durch  die  gelegentlichen  Beobachtungen  in  den  Schulen  *),  —  ich 
habe  unbedingt  alle  städtischen  Schulen  zur  Verfügung  —  und  die  große  Zahl 
von  Zeitschriften,  welche  dem  Laboratorium  zukommen. 

Aber  daneben  liegt  noch  ein  anderes  Arbeitsfeld,  das  sich  hauptsächlich  in 
der  chemischen  Abteilung  des  Laboratoriums  lokalisiei-te.  Dort  beschäftige  ich 
mich  seit  langen  Jahren  mit  dem  Studium  der  chemischen  Reaktionsgeschwindig- 
keiten mit  dem  Zweck,  diese  mit  den  psychischen  vergleichen  zu  können.  Ist 
Ermüdung  wie  eine  Sättigung  zu  betrachten,  mit  Zerfallpro- 
dukten des  Milieus,  worin  sich  diese  anhäufen?  Die  ersten  positiven 
Resultate  könnte  ich  erst  jetzt  sammeln.  Die  gi-oße  Wichtigkeit  dieses  Haupt- 
problems der  geistigen  Tätigkeit  ist  durch  niemanden  zu  leugnen.  Wir  müssen 
einmal  wissen,  ob  die  Gehirnzelle  ihre  geheime  Macht  ausübt  einfach  und  aus- 
schließlich im  Sinne  eines  molekulai-en  Gleichgewichts,  oder  ob  hierbei  ein  unln»- 
kanntes  Moment  eine  Rolle  spielt  In  andern  Worten:  Wird  die  mathematische 
Integi-alformel,  welche  die  chemische  Reaktionsgeschwindigkeit  regiert,  auch  die- 
jenige der  psychischen  Tätigkeit  sein?  An  dieses  Problem  verwende  ich  nicht 
Bclten  meine  schönsten  Kräfte  mit  einer  ungeahnten  Seelenfreude.  Muß  ich  sagen, 
daß  ich  auch  hier  keiner  einzigen  philosophischen  Schule  Rechnung  trage? 

Nun  ein  Wort  über  das  Pädologische  Jahrbuch.  Sobald  das  Labora- 
torium zustande  kam,  wurde  der  Gedanke,  ein  wissenschaftliches  kindcrkundliches 
Organ  zu  schöpfen,  geboi-en.  Es  lag  auf  der  Hand,  ein  Jahrbuch  zu  wählen, 
statt  eine  Zeitschrift,  die  verechiedene  Male  in  einem  Jaliro  ci*8choinen  würde,  da 
ich  nur  Original-Untersuchungen  publizieren  wollte  und  auf  keine  Mit- 
arbeiter, wenigstens  am  Anfange,  zu  i-echnon  hatte.    Diese  Richtung  habe  ich  bis  jetit 

1)  Psychologische,  physiologische,  hygienische,  pädagogische  u.  s.  w. 


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leicht  halten  können,  indem  ich  schon  mehr  Probleme  gesammelt  habe,  als  ich 
in  meinem  Leben  zu  lösen  vermag.  Meine  Schüler  aus  der  Neuen  Universität 
Brüssel,  alle  Ausländer,  machen  keine  pädologische  Dissertationen  *),  obwohl  sie 
dafür  in  Antwerpen  Gelegenheit  genug  haben;  und  hier,  in  meiner  Vaterstadt, 
gibt  es  niemand,  der  ohne  Nebeninteresse  mit  mir  mitgehen  will.  Höchstens 
kommt  dann  und  wann  ein  Student  einer  ausländischen  Universität  zur  Prüfung 
seiner  Dissertation  für  eine  kurze  Zeit  „unter  Dach"  ^)  fragen.  Von  Seiten  der 
Lehrer  habe  ich  nichts  zu  erwarten,  darüber  habe  ich  zu  vieles  erfahren.  Nur 
eine  kleine  Schar,  für  die  Mehrzahl  Damen,  bleibt  mir  treu  und  folgt  sympathisch 
den  zweimonatlichen  Sitzungen  der  Pädologischen  Gesellschaft,  welche  am  1.  Jan. 
1902  gegründet  ist  und  konstant  rund  130  Mitglieder  (ungefähr  40  Ausländer) 
zählt,  seit  1905  ein  eigenes  „Bulletin"  veröffentlicht^).  Aber  auch  hier  ist  von 
Mitarbeit  natürlich  nicht  die  Rede.  Ich  habe  es  dann  endlich  aufgegeben,  aus 
der  Schulwelt  Antwerpens  ein  Zentrum  von  wissenschaftlicher  Tätigkeit  aufzu 
bauen.  Ich  ziehe  mich  mehr  und  mehr  in  mein  Laboratorium  zurück.  Außerhalb 
Antwerpens  ist  im  Gegenteil  mein  Beispiel  in  Belgien  —  und  selbstverständlich 
auch  im  Auslande  —  sehr  ansteckend  und  fruchtbar  gewesen  ^).  Aber  das  Jahr- 
buch ist,  trotz  meinen  rastlosen  Bestrebungen,  mit  nur  meinen  eigenen  Veröffent- 
lichungen gefüllt,  allein  geblieben.  Nicht  weil  die  Mitwirkung  z.  B.  aus  Holland 
ausgeblieben,  ist  aber  weil  von  Amts  wegen  auf  nicht  von  meiner  Hand  ge- 
schriebene Veröffentlichungen  ein  Verbot  gelegt  wurde.  Das  Jahrbuch  wird 
assimiliert  an  die  Bulletins  der  übrigen  städtischen  Dienste!  Ich  muß  mich 
natürlich  unterwerfen,  bin  aber  darüber  sehr  betrübt.  Antwerpen  wird  kein 
pädologisches  Weltorgan  besitzen.  Es  sei  denn,  daß  ich  ohne  offizielles  Ent- 
gegenkommen eine  eigene  Zeitschrift  gründe.  Die  Haltung  der  Antwerpner  Ver- 
waltung in  dieser  Sache  mag  eine  ziemlich  rätselhafte  heißen  —  obwohl  ich  sie 
nicht  zu  beurteilen  habe  —  da  sie  doch  in  anderen  Umständen  so  außerordentlich 
liberal  reagiert.  Ich  zitiere  nur  ihre  stark  ausgesprochene  Tendenz  nie  fremd 
zu  bleiben  für  die  wichtigsten  ausländischen  Bestrebungen  auf  jedem  Gebiet. 
Dafür  sendet  sie  jährlich  ihre  Beamten-Spezialisten  nach  Ausstellungen,  Kongressen, 
Fabriken  u.  s.  w.,  wo  vermutlich  Nutzen  und  neue  Gedanken  zu  ernten  sind.  Ich 
gebe  mich  selbst  als  Beispiel:  Seit  1900  ging  ich  zwei  Mal  nach  Paris  (das 
erste  Mal  im  Jahre  1900  als  Vertreter  der  Stadt  auf  dem  IV.  Internationalen 
Kongreß  für  Psychologie,  das  zweite  Mal  im  Jahre  1906  mit  dem  Zweck,  im 
chemischen  Laboratorium  von  Montsouris  die  neuen  Apparate  zur  Luftanalyse  von 
Levi-Pecoult  zu  prüfen),  nach  Nürnberg  (I.  Internationaler  Kongreß  für  Schul- 
hygiene 1904);  Berlin  (I.  Deutscher  Kongreß  für  Kinderforschung,  1906); 
Amsterdam  (I.  Internationaler  Kongreß  für  Psychiatrie  u.  s.  w.  1907);  Rundreise  in 
Holland  mit  Schöffe  Desguin  um  die  Einrichtungen  für  den  Unterricht  der  fehlerhaft 
sprechenden  Kinder  zu  besuchen,  1908;  London  (II.  Internationaler  Kongreß  für 
Schulhygiene,  1907;  Besuch  mit  Schöffe  Desguin  am  I.  Internationalen  Kongreß 
für  moralische  Erziehung,  1908);  Deutscher  Schulhyg.  Kongreß  in  Darmstadt  1908; 


1)  Es  scheint,  ich  setze  die  wissenschaftlichen  Forderungen  zu  hoch! 

2)  Siehe  z.  B.  Abelson  (A.R.):  Mental  Fatigue  and  its  Measurements  by 
the  Aesthesiometer.     Diss.  Engelmann.    Leipzig  1908. 

3)  Die  zwei  ersten  Jahre   sind   publiziert   im   pädologischen  Jahrbuch  III— IV  u.  V. 
Von  1909  ab  bekommt  die  Gesellschaft  von  der  Stadt  eine  jährliche  Zulage  von  200  Fr. 

4)  Siehe  Meumanns.  Vorlesungen   zur  Einführung   in  die  Experimen- 
telle Pädagogik.    Vorwort  Seite  11. 


—    246    — 

u.  in  Dessau  1909  mit  Schöffe  Desguin.  Genf  (VI.  Internationaler  Kongreß  für 
Psychologie,  August  1909).  Man  erinnere  sich  auch  der  Schöpfung,  des  Ehren- 
titels „Korrespondent  van  den  Antwerpschen  paedologischen  Schooldienst",  welche 
auf  meine  Anregung  geschaffen  wurde  und  nur  an  bedeutende  ausländische  Kinder- 
kundige verliehen  wird  ^). 

Die  wichtigsten  im  Laboratorium  benutzten  Ztntschriften  sind  folgende  in  will- 
kürlicher Keihe.    Die  mit  Stern  versehenen  sind  in  vollständiger  Sammlung  voirätig. 

1.  *  Zeitschrift  für  Experimentelle  Pädagogik.     Nemnich,  Leipzig. 

2.  *  Journal  de  Psych,  norm,  et  pathologique.     Alcan,  Paris. 

3.  ^Gesunde  Jugend.     Teubner,  Leipzig. 

4.  *Eos.     Pichler's  Ww.  &  Sohn,  "Wien  und  Leipzig. 

5.  *Arcliiv  für  die  gesamte  Psychologie.     Engelmann,  Leipzig. 

6.  *Rivista  di  Psicöl.  applicata.     Bologna. 

7.  *  Zeitschrift    für    angeivandte     Psychologie    und    psydiologisdie    Sammelforsehung. 
Barth,  Leipzig. 

8.  *  Internationales  Archiv  für  Schulhygiene.     Engelmann,  Leipzig. 

9.  *Sammlung  von  AhJtandlungen  aus  dem  Gebiete  der  Pädagogik^   Psychologie  und 
Physiologie.     Reuther  &  Reichard,  Berlin. 

10.  American  Journal  of  Psyclwlogy.     Chandler,  Worester,  Mass. 

11.  *Gesond}ieid  in  de  School.     Van  Kampen,  Amsterdam. 

12.  *J7ie  British  Journal  of  Psychdogy.     University  Press,  Cambridge. 

13.  *  Zeitschrift  für  Psycfwlogie   und  Physiologie  der  Sinnesorgane.     Barth,    Leipzig. 

14.  *Zeitsdirift  für  ScHiuJgestmdheitspßege.     Voß,  Hamburg  und  Tjeipzig. 

15.  *Zeitsc}irift  für  Kinder forsdiung.     Beyer,  Langensalza. 

16.  *  Zeitschrift  für  pädagogisdie  Psyctiölogie^  PcUhdlogie  und  Hygiene.  Walther,  Berlin. 

17.  Revue  Sdentifique.     Paris. 

18.  ^Pädagogisüi-psychölogisclic  Studien.     Brahn,  Leipzig. 

19.  The  Pedagogicdl  Seminary.     Chandler,  AVorcester,  Mass. 

20.  Psycfiiatrische  en  Neurologische  Bladen.     Van  Rossen,  Amsterdam. 

21.  *Arclnvos   de    Pedagogia   y  Ciencias   afines.     Universidad    National.     La   Plata 
(R.  Arg.). 

22.  *Vannie  psycJwlogique.     Masson,  Paris. 

23.  Onderzockingen  gedaan  in  het  Physid.  Lahoi'atorium  der  Utrechtsdie  IJoogeschod. 
Oosthoek,  Utrecht. 

24.  *Archive8  de  Psychdogie.     Kundig,  Geneve. 

25.  *La  Revue  Psyclwlogique.     35,  Avenue  Paul  de  Jaer,  Bruxelles. 

26.  *.B.  A.  P.  G.    (BuUetyn    v.    h.    Algemoen    paedol.    Gezelschap).      Paedolog. 
Laborat.  Antwerpen. 

27.  *Paeddogisch  Jaarhoek,     Ibid. 

28.  *Bulletin  de  la  SHi  lihre  p<mr   VHude  psycJtdogiqtU  de   fenfant.     Alcan,    Paris. 

29.  * Psychciogiche  Arbeiten.     Engelmann,  Leipzig. 

30.  Mind.     Mc  Millan.  London,  New  York. 

31.  *  Beiträge  ».  Psychd.  d.  Aussage.     Barth,  Leipzig. 
Hierbei  sind  noch  zu  erwähnen: 


1)  Siehe  die  Jahrbücher.  Bis  jetzt  wurden  ernannt:  Binet-Paris,  Burgerstein-Wien, 
Chabot-Lyon,  Chrisman-Emporia,  Ebbinpliaus-Halle,  Fletcber-Beach-London,  Qriesbach- 
Mühlhansen,  Mac-Donald-Washington,  Mcumannllallc,  Notschajeff-St.  Petersburg,  Scbmid- 
Monnard-Ualle,  Stanley-Ilall-Worccster,  Yaschidc-Paris,  Warner-London. 


—    247    — 

1.  GyermeJcvedelmi  Lap  (Budapest),  TJie  Training  School  (Vineland  N.  Y.), 
L' Lducateur  moderne  (Paris),  L'Ecöle  Nationale  (Bruxelles),  Tijdsclirift  vom-  Armen- 
zorg  en  Kinderhescherming  (Haarlem),  Vaktydschrift  van  Onderwyzers  (Groningen), 
V.  E.  0.  Berichten  an  Mededeelingen  van  de  Vereeniging  tot  vereenvoudiging  en  ver- 
betering  van  Examens  en  Ondemys  (Arnhem)  und  sonstige  wissenschaftlich  wenig 
bedeutungsvolle  pädagogische  Blätter,  welche  einen  mehr  praktischen,  nicht 
experimentellen  Charakter  besitzen,  aber  nicht  selten  wertvolle  Anregungen  zum 
Studium,  insbesondere  des  Schulwesens,  hervorrufen. 

2.  Die  „Memoires"  und  „Bulletins"  von  einigen  wissenschaftlichen  Aka- 
demien, welche  ich  wegen  ihres  nicht  pädologischen  Charakters  hier  nicht  zu 
erwähnen  brauche. 

3.  Einige  wichtige,  für  mich  nicht  zu  entbehrende  chemische  Zeitschriften: 
CJiemisches  Zentralblatt  (Berlin),  Chemiker- Zeitung  (Cöthen,  Anhalt),  Chemical  News 
(London)  u.  s.  w. 

AVas  Bücher,  Dissertationen,  Gelegenheitsschriften,  u.  s.  w.  betrifft,  so  glaube 
ich  alles  zu  besitzen  was  wichtiges  in  der  Welt  erschien. 

Vielleicht  ist  nun  noch  die  Liste  meiner  Veröffentlichungen  (bis  Ende  Mai 
1909)  erwünscht.  So  gebe  ich  ein  Bild  der  Tätigkeit  des  Laboratoriums.  Dabei 
sind  die  Arbeiten  chemischer  Natur  (ca.  50  Nummern)  nicht  erwähnt. 


A.   Einderstudium. 

I.    Experimentelle    Beiträge. 

1893 

1.  Contribution  ä  Tetvde  des  essais  d'education  experimentäle.  Sur  un  nouveau 
moyen  d'observer  les  enfants  en  vue  de  la  d^termination  approximative  du 
degre  de  la  force  intellectuelle.     Impr.  Van  Tendeloo,  Anvers,   1893. 

2.  Quels  sont  les  rayons  du  spedre  dont  Vexdtation  sur  la  retine  des  enfants  est  Ja 
joius  i7itense?     Belgique  medicale,  II,  1893,  n°  38. 

1896 

3.  Influence  des  variations  de  la  temperature  atmospherique  sur  V attention  vdlontaire 
des  eleves.  Premiere  communication.  Bul.  de  l'Acad.  roy.  de  Belg.  Classe  des 
Sciences.  3'»«  serie.  XXXII,  1896. 

1897 

4.  Ibid.  Deuxieme  communication.  Bull,  de  l'Acad.  roy.  de  Belg.  Classe  des 
Sciences.  3™®  sörie.  XXXIV,  1897.  Zusammenfassung  in  Paedol.  Jaarb.  11, 
1901. 

1900 

5.  Over  de  toename  der  spierkracht  bij  hinderen  gedurende  het  schooljaar.  Paedol. 
Jaarb.  I,  1900.     Auszug  in  Handel,    van   het  3®  Vlaamsch  Natuur-   en  Ge- 


1)  Den  Niederländischen  Verhandlungen  im  Jahrbuch  sind  immer  fremdsprachliche 
(hauptsächlich  französische)  Auszüge  beigelegt. 


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neesk.  Congres  gehouden  te  Antwerpen  in  1899  imd  in  Zeitschr.  für  Psych, 
u.  Phys.  der  Sinnesorgane,  Bd.  28. 
ü.  In  hoeverre  is  het  gezicht  der  meisjes  aangepast  hij  het  verrichten  van  handwerk 
in  de  gewone  onderrichtsldassen  der  Antwerpsche  gemeenteschölen?  Paedol. 
Jaarb.  I,  1900.  Handel,  van  het  3®  VI.  Natuur-  en  Geueesk.  Congres  ge- 
houden te  Antwerpen  in  1899. 

1901 

7.  Over  de  veranderlijkheid  der  spierkracht  hij  kinderen  geduzende  het  kniender-  en 
het  tchodljaar.  Paedol.  Jaarb.  II,  1901.  Französisch  auf  dein  4.  Congrös 
intern,  de  Psychologie,  tenu  k  Paris,  Aoüt  1900. 

8.  Het  oorspronkdijk  teekenen  als  bijdrage  tot  kinderanalyse.    Paedol.  jaarb.  II,  1901. 

9.  Steilschrift  of  Sdminschriß?     Paedol.  jaarb.  II,   1901. 

10.  Experimentacd  te  ontmkkden  thesen.     Paedol.  jaarb.  II,   1901. 

1903 

11.  Zijn  de  sdiodkinderen  der  weist  eilende  Antwerpsdie  hurgers  spierkradUiger  dun 
die  der  min  gegoede  hevdking?  Paedol.  Jaarb.  III — IV,  1903.  Handel,  van 
het  6®  VI.  Natuur-  en  Gen.  Congres,  gehouden  te  Kortrijk-  in  1902. 

12.  Knijpkraditvariatie  en  Verstatidsontwikkding  der  Sdwoikinderen.  Paedol.  Jaarb. 
III— IV,  1903.  Handel,  van  het  6®  VI.  Natuur-  en  Geneesk.  Congres,  ge- 
houden te  Kortrijk  in  1902. 

13.  Klassenhoogte  en  ouderdorn  der  normale  sdioolgaande  jeugd.  Paedol.  Jaarb. 
III— IV,  1903. 

14.  Over  geheugenvariatie  hij  schodkinderen.  Paedol.  Jaarb.  III — IV,  1903.  Handel 
van  het  6*^  VI.  Natuur-  en  Geneesk.  Congres,  gehouden  te  Kortijk  in  1902. 

15.  Eene  proeve  ran  vdledige  kinderanalyse.     Paedol.  jaarb.  III — IV,   1903. 

IC.  Sur  les  metlwdes  de  la  viensuration  de  la  fatigue  diez  les  ecdiers.  Compte- 
rendu  du  Congres  intern.  d'Hygiene  et  de  Demographie,  1903.  Arch.  de 
Psychologie,  II,  1903.  Niederländische  Übersetzung  in  Medisch  Weekblad. 
Dec.  1903  und  Handel,  van  het  7«  VI.  Natuur-  en  Geneesk.  Congres,  geh. 
te  Gent  in  1903. 

1904 

17.  De  oorspronkdijke  „ventjes"^  der  Antiverpsche  sdiodkinderen.  Paedol.  Jaarb.  V,  1904. 

18.  JYu5e«,  de  geestesnevd  der  normale  sdwdgaande  jeugd.    Paedol.  Jaarb.  V,  1904. 

19.  Over  de  toename  der  spierkradd  hij  kinderen  gedurende  het  schodjaar  (Tweede 
mededeeling).     Paedol.  Jaai-b.  V,  1904. 

20.  Over  redUs-  en  UnksJiandigheid  hij  kinderen,     Paedol.  Jaarb.  V,  1904. 

21.  Comment  doit-on  mesurer  la  fatigue  des  icdiers?    Rapport  fait  au  1*'  C 
intern.  d'Hygiene  scolaire  t\  Nurenberg  en  1904.     Arch.    de   Psycholo^ 
1904,  113.    Handel,  van  het  S*  VI.  Natuur-  en  Geneesk.  Gongree  gehoudtn 
te  Antwerpen  in  1904. 

22.  Over  de  leidende  faktoren  der  spierhradUvariatie»     Paedol.  Jaarb.  V,  1904. 

1906 

23.  ExperimenteBes  mim  Studium  der  gehräudüid^sten  M    ' 

UnterridU.     Die   Experimentelle    Pädagogik,   111.    1,      .      \.   i.    -i.-..    : 
B.  A.  P.  G.  n,  1906,  25. 


J 


—    249     - 

24.  Über  den  Farhensinn  bei  Schulkindern.  Die  Experimentelle  Pädagogik,  III, 
1906  (Siehe  n'*  2). 

25.  Sur  la  vcdidite  de  Venseignement  intuitif  primaire.  Arch.  de  Psych.  Y,  1906. 
Niederländisch  in  B.  A.  P.  G.  II,  1906,  61. 

26.  Onderzoekingen  wer  Esthesiometrische  variatie  bij  hinderen  gedurende  het  schodl- 
jaar.  Paedol.  Jaarb.  VI,  1906/07.  Spanische  Übersetzung  von  V.  Mercante 
in  Archivos  di  Pedagogia  y  Ciencias  afines,  III,  186. 

1907 

27.  Over    Geheugenvariatie    bij  ScJioolkinderen.     Paedol.  Jaarb.  VI,   1906 — 07,   91. 

28.  De  Oppervlakte  van  het  geschrift.     Paedol.  Jaarb.  VI,   1906  —  07,  129. 

29.  Over   Vom--  en  Namiddagonderwijs.     Paedol.  Jaarb.  VI,  1906 — 07,   159. 

1908—09 

30.  Over  Broodopname  bij  hinderen  en  de  Jaarcurve  der  Levensenergie.  Paedol. 
Jaarb.  Vn,  1908—09. 

31.  La  anirbe  annueüe  de  T Energie  vitale.    Eevue  de  Psychol.  I,  1908.  (Zie  n' 30). 

32.  Esthesiometrische  onderzoekingen  op  volicassen  leerlingen  die  een  avondcursus  vdlgen. 
(Bijdrage  tot  de  studie  der  dagverdeeling  in  de  school).  Paedol.  Jaarb  YII, 
1908—09. 

33.  Linkshandigheid  der  hovenste  ledematen  en  verstanddijke  hoogte  bij  kinderen. 
Paedol.  Jaarb.  VH,   1908—09. 

34.  Bijdrage  tot  de  kennis  der  Hechts-  en  Linkshandigheid  van  de  onderste  ledematen. 
Paedol.  Jaarb.  YII,  1908—09. 

35.  Onderzoekingen  over  Verstandelijke  Indeeling  van  normale  Schölieren.  Paedol. 
Jaarb.  YII,   1908—09. 

36.  Onderzockingon  over  Ononderbroken  Veranderlijkheid  van  het  kinderlijke  Psyche. 
Paedol.  YII,  1908—09. 

n.    Synthesen    und    Artikel. 

37.  Een  kijkje  in  de  Paedologie.     Paedol.  Jaarb.  III— lY,  1903,  438. 

38.  Quelle  est  Vinfluence  psychique  des  alienes  d^une  colonie  sur  les  individus  et  les 
enfants  norviaux  qui  les  entourent?  Compte-rendu  du  Congres  intern,  de 
l'assistance  des  alienes  tenu  ä  Anvers  en  1902.  Paedol.  Jaarb.  III — lY,  1903, 
467.    Handel,  van  het  7®  Yl.  Natuur-  en  Geneesk.  Gongres  te  Gent,  in  1903. 

39.  Gelegenheidsrede.     Paedol.  jaarb.  III — lY,  1903. 

40.  A  quel  dge  doit-on  mettre  Venfant  ä  Vecole?    L'Ecole  nationale,  lY,  1904 — 05,  2. 

41.  Kwäjongensstreken  en  geestrijke  zetten.  B.  A.  P.  G.  (Bull,  van  het  Algem.  PaedoL 
Gezelschap),  I,  1905,  14. 

42.  lets  over  het  Congres  van  Nurenberg.     B.  A.  P.  G.,  I,   1905,   18. 

43.  Vinstructicm  obligatoire.     L'Ecole  Nationale,  YI,  1906—07,  388,  387. 

44.  Note  pedagogique  sur  le  dessin  des  enfants.     Arch.  de  Psych.  YL  1907. 

45.  Het  eerste  Duitsch  paeddogisch  Congres,  te  Berlijn  1906.    B.  A.  P.  G.,  III,  1907,  7. 

46.  Over  de  methodiek  van  het  aanvankdijk  Chemie-onderwijs.  Openingsrede.  Handel, 
van  het  XI®  Yl.    Natuur-  en  Geneek.  Congres  gehouden  te  Mechelen  in  1907. 

47.  Some  synthetic  Mesults  of  my  Paedological  investigations  in  Antwerp  during  ten 
Years  (1896 — 1906).  Second  Int.  Congress  on  School  Hygiene  held  in 
London,  1907. 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  17 


—    250    — 

48.  Quelques  pröblemes  de  la  Peddogie  actueüe.  Congr^s  intern.  Psychiatrie,  Neuro- 
logie et  Psychol.  tenu  a  Amsterdam  en   1907. 

49.  Wat  is  Overlading?  Omtaat  zij  door  een  te  ved  of  door  eenzijdige  lading? 
V.  E.  0.,  n'  15,  1908.  Paedol.  Jaarb.  VII,  1908—09.  Französische  Über- 
setzung von  Mevr.  Lievevrouw-Coopman  in  La  Revue  Psychologique  (loteyko), 
I,  1908. 

50.  Mesure  de  la  fatigue  inteUectueUe  chez  les  enfants  des  deux  sexes  aoec  Festhisio- 
metre.     Revue  de  Psychiatrie,  Avril  1908  (20  p.  1  fig.). 

51.  Der  gegenwärtige  Stand  der  angewandten  Psychologie  in  den  einzelnen  KuUur- 
Hindern.  Vll.  Belgien.  Zeitschr.  f.  angew.  Psych,  u.  psychol.  Sammelforschung, 
I,  1907,  278.  Französische  Übersetzung  in  la  Revue  Psychologique  (loteyko), 
I,  1908. 

52.  L'^ßducation  de  la  femme.   1  vol.  in  18°  de  Xu  +  458  p.  Doin,  Paris,  1908. 

53.  Etüde  critique  des  MHliodes  americaines  d^Education.  Discours  public  prononc^ 
k  rUniversitd  Nouvelle  de  Bruxelles  le  2.  Dec.  1908.  Rev.  Psych.  I,  1908, 
263—274.     Niederl.  Übersetzung  in  V.  E.  0.,  No.  21,  1908. 


B.  Physiologie. 

1898 

54.  Over  den  invloed  der  atmosferische  toestanden  op  de  levende  wezens  der  gematigde 
luchtstreken.  Handel,  van  het  I®  VI.  Natuur-  en  Geneesk.  Congres,  gehonden 
te  Gent  in  1897. 

55.  Over  de  metingen  der  gezichtsscherpte  uitgevoerd  op  de  Antwerpsche  schocHkinderen 
door  Dr.  De  Mets.  Handel,  van  het  II®  VI.  Natuur-  en  Geneesk.  Congres 
gehouden  te  Gent  in  1898. 

1899 

56.  Contribution  ä  nos  connaissances  du  chimisme  stomacal.  Bull,  de  l'Aead.  roy. 
de  Belg.  (Classe  des  Sciences)  1899,  776.  Deutsch  in  Chem.  Ztg.,  XXTV, 
1900,  n"  23.  Niederl.  in  Handel,  van  het  3«  VI.  Natuur-  en  Geneesk. 
Congres  gehouden  te  Antwerpen  in  1899  (mit  1  fig.). 

1903 

57.  Over  de  sndheid  der  uitstraJingswarinte  van  het  lichaam.  Handel,  van  het  ♦>*' 
VI.  Natuur-  en  Geneesk.  Congres  gehouden  te  Kortrijk  in  1902.  Paedol. 
Jaarb.  V,  1904  (recenzion). 

1904 

58.  Over  de  densiteit  van  takjes,  Handel,  van  het  7«  Yi  Natuur-  en  GFeneesk. 
Congres  gehouden  te  Gent  in  1903. 

1905 

59.  Over  cijferfrequentie  in  het  proefondervindelijk  massaonderzoek.  Handel,  van  het 
8*  VI.  Natuur-  en  Geneesk.  Congres  gehouden  te  Antwerpen  in  1904. 


1 


251 


Zur  physiologischen  und  pathologischen  Psychologie  der  elementaren 

Rechenarten. 

Von  Dr.  Paul  Ranschburg,  Nervenarzt. 
Leiter  des  königL  ungar.  heilpädagogisch-psychologischen  Laboratoriums  zu  Budapest. 

Zweiter,  abschließender  TeiP). 
IL    Zur  pathologischen  Psychologie  der  elementaren 

Rechenarten. 

Im  I.  Teile  dieser  Arbeit  versuchte  ich  auf  Grundlage  ziemlich  aus- 
gedehnter Untersuchungen,  die  ich  mit  Hülfe  der  experim.  Sektion  des 
Ungar.  Vereins  für  Kinderforschung  an  normalen  Kindern  verschiedener 
Volksschulen  zu  Budapest  angestellt  hatte,  einen  Einblick  in  die  Natur 
der  verschiedenen  elementaren  Eechenarten  zu  gewinnen.  Auch  die 
Normalwerte  des  TJmfanges,  der  Dauer  und  der  objektiven  Sicherheit 
des  normalen  Schülers  innerhalb  der  Rechenarten  der  ersten  und  zweiten 
Stufe  in  ihrer  Abhängigkeit  vom  Alter  und  von  der  Befähigung  der 
Zöglinge  versuchten  wir  zu  bestimmen. 

Nunmehr  wollen  wir  uns  ein  vergleichendes  Bild  von  der  Rechen- 
fähigkeit des  pathologisch-schwachen  Endes,  dessen  intellektuelle 
Minderwertigkeit  sich  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  vor  allem  in  seiner 
Unfähigkeit  oder  Schwäche  im  Rechnen  zu  äußern  pflegt,  verschaifen. 

Hierbei  wollen  wir  jedoch  nicht  nur  das  schwachbefähigte  Kind  mit 
dem  normalbefähigten  Kinde  vergleichen,  sondern  innerhalb  der  Schwan- 
kungsgebiete der  Normalität  hauptsächlich  die  unteren  Grrenzen  der 
Normalität  zum  Vergleich  heranziehen. 

Um  jedoch  unsere  Untersuchungen  nicht  ins  Unendliche  auszudehnen, 
wählte  ich  zu  diesen  Untersuchungen  bloß  eine  einzige  Rechenart,  und 
zwar  die  schwierigste  (s.  Bd.  VII  S.  160),  nämKch  die  Subtraktion, 
und  führte  meine  Untersuchungen  persönlich  an  29  Schülern  der  11. 
und  IV.  Klasse    unserer  Budapester   staatlichen  Hilfsschule   aus, 


1)  Die  ursprüngliche  Absicht,  die  ganze  Arbeit  in  dieser  Zeitschrift  zu  veröffent- 
lichen, habe  ich  infolge  übermäßigen  Anwachsens  des  Materials  im  Einvernehmen  mit 
dem  Herrn  Herausgeber  und  Verleger  der  Zeitschrift  dahin  geändert,  hier  in  gegen- 
wärtiger Mtteilung  bloß  das  Wichtigste  über  das  pathologische  Verhalten  der  Bechen- 
fähigkeit,  als  Gegenstück  der  im  TeUe  I  (Bd.  VII.  S.  135—162)  mitgeteilten  Normen  zu 
geben,  die  ausführliche  Aufarbeitung  des  ganzen,  wohl  auch  weitere  Kreise  interessierenden 
Stoffes  hingegen  als  „Psychologie  des  Einmaleins",  Experimentelle  Beiträge  zur 
physiologischen  und  pathologischen  Psychologie  der  elementaren  Eechenarten"  in  einem 
selbständigen  Hefte  zu  veröffentlichen.  Der  Verfasser. 

17* 


—    252    — 


wozu  noch  die  Werte  von  18  schon  vorher  von  meinem  gew.  Assistenten 
Dr.  Margit  Rev^'sz  untersuchten  Zöglinge  der  III.,  je  9  Zöglinge  der 
V.  und  VI.  Hilfschulklasse  hinzukamen,  insgesamt  also  Subtraktions- 
werte von  67  schwachbefähigten  Zöglingen  der  II.— VI.  Hilfsklasse  im 
Alter  von  8 — 16  Jahren. 

"Wir  werden  nunmehr  gesondert  den  Umfang  und  sodann  die 
Schnelligkeit  der  Subtraktionen  bei  sämtlichen  Normalen,  bei  den  aller- 
schwächsten  Normalen  und  endlich  bei  den  pathologisch  Schwachbegabten 
mit  einander  vergleichen.  Um  jedoch  aus  den  Normalen  die  eventuellen, 
noch  nicht  als  pathologisch  erkannten  Schwachen  mit  möglichster  Sicher- 
heit auszuscheiden,  ziehen  wir  zum  Vergleich  —  abweichend  von  unseren 
vorhergehenden  Untersuchungen  —  bloß  die  II. — IV.  Klassen  der  Volks- 
schule heran,  und  zwar  insgesamt  117  normale,  verschieden  befähigte, 
hiervon  46  als  die  schwächsten  Rechner  der  untersuchten  Klassen 
bezeichnete  Schüler. 

1.    Der  Umfang  der  Rechenleistung. 

Tabelle  XH. 

Der    Umfang     der    Subtraktionsfähigkeit     bei     normalen 

Volksschülern  und  bei  den  allerschwächsten  Rechnern  der 

Volksschule  im  Alter  von  7—10  Jahren. 


1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

80,1—100 

60,1—80,0 

40,1—60,0 

20,1—40,0 

0,1—20,0 

Prozent 

.  der  Subtr 

aktionen  h 

aben  richtig  gelöst 

aus  den  13  schwächsten  Rechnern 
der  IL  Klasse: 

100,0  «/o 

0,0  o/o 

0,00/0 

0,00/0 

0,0% 

aus  den  18  schwächsten  Rechnern 
der  III.  Klasse: 

89,0  o/o 

11,0% 

0.00/0 

0,00/0 

0,00;. 

aas  den  15  schwächsten  Rechnern 
der  IV.  Klasse: 

100,0  o/o 

0,0  o/o 

0,00/0 

0,00/0 

0,0  0, 

aus  den  46  schwächsten  Rechnern 
der  II.-IV.  Klasse: 

95,6  0/0 

4,4  0/0 

0,00/0 

0,00/0 

0,0  •/, 

aus  sämtlichen  117  öchülern  der 
II.— IV.  Klasse: 

97,6  o/o 

2.40/0 

0.00/0 

0.00/0 

0,0  o/o 

Es  haben  also  sämtliche  schwächsten  Rechner  der  11.  und 
Klasse  die  Subtraktionen  in  mehr  als  */6  der  Fälle  richtig  gelöst  un< 
bloß  in  der  III.  Klasse  fanden  sich  11  °/o  der  Schwachen,  d.  h.  2  zu  W 
schwache  Rechner,  deren  Werte  unterhalb  80  °/o  betrugen.    Es  ist  nicht 


253 


ohne  Interesse   zu   erfahren,    daß   die  Werte  dieser  beiden  Schwächsten 

5,0 


unter  46  Schwachen:    75,0,  resp.  75,0 


=  77,5  7o  betrugen. 


Demnach  fand  sich  unter  den  117  Normalschülern  der 
II.— IV.  Klassen  im  Alter  von  7 — 10  Jahren,  eingerechnet 
die  46  schwächsten  Rechner  dieser  Jahrgänge,  kein  ein- 
ziger Schüler,  der  aus  20  unbenannten  Subtraktionen  des 
Zehnerzahlenkreises  weniger  als  15,  d.h.  weniger  als  75  ^/o 
richtig  gelöst  hätte. 

Und  es  geht  aus  derselben  Berechnung  klar  hervor,  daß  unter  den 
Normalen  schon  im  Alter  von  7 — 8  Jahren  auch  der  beschränkteste 
Rechner  aus  den  Rechnungen  genannter  Art  mit  der  Wahrscheinlichkeit 
von  97 :  100  einen  Umfang  von  mindestens  */5  richtiger  Lösungen  ergibt, 
daß  es  also  innerhalb  der  Normalität  in  dieser  Hinsicht 
keine  unberechenbaren  und  auch  keine  exzessiven  Schwan- 
kungen gibt. 

Hingegen  fanden  sich  in  der  IL — VI.  Hilfsschulklasse  unter 
67  schwachbefähigten  Schülern,  auf  die  zumeist  eine  größere  Zahl 
von  Schuljahren  entfällt,  als  der  lOassenstufe  entsprächen,  und  die  im 
Alter  von  8  —  16  Jahren  stehen,  in  der  IL  und  IV.  Klasse  ein  Viertel, 
in  der  III.  ungefähr  ein  Zehntel  der  Schüler,  die  nicht  mehr  als  0 — 60  ^/o 
der  Aufgaben  richtig  gelöst  hatten  und  innerhalb  der  IL — IV.  Klasse 
fanden  sich  durchschnittlich  70  ®/o,  die  die  Aufgaben  zu  */5— Vs  richtig 
gelöst  haben. 

Tabelle  XIII. 

Der  Umfang  der  Subtraktionsfähigkeit  bei  8 — 16jährigen 

Schwachbefähigten  der  Hilfsschule. 


80,1—100 


2. 


60,1—80,0 


3. 


40,1—60,0 


4. 


20,1—40,0 


5. 


0.0—20,0 


Prozent  der  Subtraktionen  haben  völlig  gelöst 


Aus  17  Schülern  der  II.  Hilfs- 
schulklasse : 


Aus  20  Schülern  der  III.  Klasse: 


Aus  12  Schülern  der  IV.  Klasse: 

Aus  insgesamt  18  Schülern  der 
V.  und  VI.  Klasse : 


70,0  7o 

6,0  o/o 

6,00/0 

12,0  o/„ 

65,0  «/o 

15,0  o/o 

5,00/0 

0,00/0 

75,0  o/o 

0,0  o/o 

8,00/0 

0,00/0 

94,4  0/, 

5,6  o/o 

0,00/0 

0,0% 

76,0  0/0 

7,50/0 

4,50/0 

3,00/0 

6,00/0 


15,00/0 


17,00/0 


0.00/, 


Aus  67  Schülern  der  II.— VI. 
Hilfsschulklasse : 


9,00/0 


—    254    — 

Im  Dorchsclinitt  fanden  sich  demnach  unter  67  schwachbefähigten 
8— 16  jährigen  Schülern,  gegenüber  den  95,6  °/o  der  schwächsten  Rechner 
der  Normalen,  bloß  76,0  %,  die  mehr  als  80  7o  richtige  Losungen  lieferten. 

Hingegen  befinden  sich  unter  denjenigen  16  Schwachbefähigten,  die 
weniger  als  *!&  Lösungen  lieferten,  13  Schüler,  d.  h.  ungefähr  20°/o 
sämtlicher  Untersuchten,  deren  Umfang  weniger  als  75%,  also  weniger 
als  das  Minimum  der  normalen  Schwachen  beträgt. 

Diese   unterhalb   der  Minimalwerte   der  Normalen   stehenden  Werte 
der  Hilfsschulen   waren   innerhalb    der  einzelnen  Klassen  die  folgenden: 
IL  Klasse:  0,0,  25,0,  29,0,  58,8; 
in.  Klasse:  0,0,  0,0,  20,0,  57,5,  70; 

IV.  Klasse:  2,5,  15,0,  45,0; 

V.  und  VL  Klasse:  70,0. 

Vergleichen  wir  demnach  den  Umfang  der  Subtraktionsfähigkeit 
bei  normalen  Rechenschwachen  und  bei  pathologisch  Schwachbefähigten, 
so  finden  wir,  daß  bei  ungefähr  ein  Fünftel  der  letzteren  (13  :  67)  das 
Ergebnis  ein  derartig  schwaches  ist,  daß  es  unterhalb  der  Mindestleistung 
der  normal  Schwachen  bleibt.  Erst  bei  den  Schülern  der  V.  und  VI. 
Hilfsschulklasse  zeigen  sich  Werte,  welche  dem  Durchschnitt  der  nor- 
malen Schwachen  ganz  nahe  stehen. 

Diese  Eeststellungen  zeigen  schon  an  und  für  sich,  daß  es  zwischen 
der  Leistungsfähigkeit  der  normalen  Schwachen  und  der  Schwach- 
befähigten nicht  nur  den  komplizierten,  sondern  auch  den  elemen- 
tarsten Rechenaufgaben  gegenüber  schon  bezüglich 
des  Umfanges  der  Leistung  gewisse  Unterschiede 
geben  kann,  und  daß  es  gewisse  Grenzen  gibt,  welche 
auch  von  den  schwächsten  Normalen  schon  im  Alter  von 
8  Jahren  überschritten  werden,  während  die  patholo- 
gisch Schwachbefähigten  zum  Teil  erst  nach  mehr- 
jährigem speziellem  Unterricht,  mit  bedeutender  Ver- 
spätung, zum  Teil  jedoch  überhaupt  nicht  über  die- 
selben hinwegkommen. 

Ein  wirklicher  prinzipieller  Unterschied  bezüglich  des  Wissens - 
umfanges  der  physiologisch  und  der  pathologisch  schwachen  Rechner 
läßt  sich  trotz  allem  dennoch  nicht  nachweisen. 

Von  praktischem  Standpunkt  hingegen  läßt  sich  den  erhaltenen 
Ergebnissen  ein  gewisser  Wert  dennoch  nicht  absprechen.  So  manches, 
was  bisher  im  besten  Fall  vermutet  werden  konnte,  ist  nunmehr  als 
bewiesen  zu  betrachten. 

So  ist  es,  wenigstens  für  Kinder,  welche  städtische  Schalen  absol- 
vieren, als  erwiesen  zu  betrachten,  daß 


—    255    — 

a)  Um  fangswerte,  die  tief  unterhalb  75  ^/o  stehen, 
entschieden  stark  auf  pathologische  Schwachbefähi- 
gung verdächtig  sind. 

b)  Vielleicht  noch  wichtiger  ist  die  Feststellung  der  Tatsache,  daß 
die  Lösung  der  Subtraktionen  des  Zehnerzahl enkreises 
selbst  bei  100  Prozent  richtiger  Lösungen  überhaupt 
kein  Beweis  normaler  Befähigung  ist  und  auch  nichts 
gegen  die  Annahme  pathologischer  Schwachbefähigung 
beweist. 

c)  Von  forensischem  und  psychiatrischem  Stand- 
punkte aus  kann  es  ferner  in  gewissen  Fällen  wichtig  sein,  zu  wissen, 
daß  es  relativ  leichte  Fälle  von  Schwachbefähigung  gibt,  wo  trotz  mehr- 
jährigem Unterricht  das  Ergebnis,  besonders  bei  den  reziproken  Rechen- 
arten gleich  Null  ist,  daß  also  in  diesem  Punkte  absolutes  Unwissen 
nicht  als  Zeichen  von  Simulation  gedeutet  werden  kann. 

b)  Die  ßaschheit  der  Subtraktionsleistung. 
Einen  besseren  Einblick  in  die  Differenzen  der  Eechenfähigkeit  der 
normalen  Schwachen  und  der  pathologisch  Schwachbefähigten  bietet  uns 
der  zeitliche  Verlauf  der  Subtraktionsleistungen  beider  Gruppen,  deren 
Häufigkeitswerte  wir  in  Prozenten  ausgedrückt  in  den  beiden  hier  fol- 
genden Tabellen  finden. 

TabeUe  XIV. 

Der  zeitliche  Verlauf  der  Subtraktionsleistung  bei  den 

schwächsten  Rechnern  der  Volksschule. 


Mit  einer  mittleren  Geschwindigkeit  von 

1,0—2,0  Sek. 

2,1—3,0  Sek.  3,1-4,0  Sek.  4,1— X  Sek. 

lösten  die  Subtraktionen  in  Prozenten  der  Schüler: 

Aus    13   Schülern   der  II.  Volks- 
schulklasse : 

7,7 

30,8 

38,5 

23,0 

Aus  18  Schülern  der  III.  Klasse : 

88,9 

11,1 

0,0 

0,0 

Aus  15  Schülern  der  IV.  Klasse : 

73,3 

13,3 

6,7 

6,7 

Aus   insgesamt   46  Schülern    der 
IL— IV.  Klasse: 

60,9 

17,4 

13,0 

8,7 

-     256    — 

Wie  aus  einer  Vergleichung  dieser  Tabellen  mit  denjenigen  der 
Tabellen  VI.,  VII.  und  VIII.  ersichtlich  ist,  sind  die  Unterschiede  bezüg- 
lich des  zeitlichen  Verlaufes  der  Subtraktionsleistung  tatsächlich  bedeu- 
tend größer,  als  diejenigen,  die  wir  bezüglich  des  Leistungsumfanges  der 
beiden  Gruppen  nachweisen  konnten. 

Untersuchen  wir  vorerst  die  Zeitwerte  der  normalen  schwachen 
Rechner,  so  fällt  vor  allem  auf,  daß  die  Zahl  der  besonders  langsam 
rechnenden  Schüler  in  der  II.  Klasse  eine  verhältnismäßig  sehr  große 
ist,  und  daß  dieses  Verhalten  sich  von  der  U.  zur  III.  Klasse  auffallend 

TabeUe  XV. 
Der    zeitliche    Verlauf    der     Subtraktionsleistung    bei 
67   (64)    schwachbefähigten   Schülern    der    IL — VI.  Hilfs- 
schulklasse. 


Mit  einer  mittleren  Geschwindigkeit  von 

1,0—2,0  Sek. 

2,1—3,0  Sek. 

3,1—4,0  Sek.  4,1— X  Sek. 

lösten  die  Subtraktionen 

n  Prozenten  der  Schüler: 

Aus    17    (16)    Schülern    der    II. 
Hiltsschulklasse : 

0 

41 

12 

47 

Aus   20   (18)   Schülern    der    III. 
Klasse: 

5 

17 

17 

61 

Aus  12  Schülern  der  IV.  Klasse: 

25 

33 

0 

42 

Aus  18  Schülern  der  V.  und  VI. 
Klasse: 

28 

33 

22 

17 

Aus  insgesamt  67  (64)  Schülern 
der  II.— VI.  mifsschulklasse: 

14,0 

31,3 

14,0 

40,7 

Die  in  Klammem  befindlichen  Schülerzahlen  geben  die  Zahl  derjenigen  Schüler  an, 
deren  Zeitdauer  in  Berechnung  kam.  Da  bei  einem  Schüler  der  II.  und  2  Schülern  der 
III.  Klasse  A  =  O  war,  konnte  die  Zeitdauer  dieser  3  Schüler  nicht  berechnet  werden, 
während  der  Umfang  ihrer  Leistung  in  den  Berechnungen  der  Tabelle  XIII  eine  Rolle  spielt. 

ändert.    So  ist  die  Prozentzahl  derjenigen  Schüler,   deren  durchschnitt- 
liche Subtraktionsdauer  länger   als  3  Sekunden  ist,  in  der  11.  Klasse 
61,5  zu  Hundert,  während  wir  in   der  III.  Klasse  keinen  einzigen,    i^^ 
der  IV.  IClasse  13,4  zu  Hundert  Schüler  mit  einer  derartig  langen  Rc 
Produktionszeit  finden. 


—    257    — 

Die  Erklärung  dieses  Verhaltens  wird  wohl  z.  T.  die  wachsende 
Reife  der  Schüler  von  der  U.  bis  III.  Klasse  sein,  infolge  deren  die 
empirischen  Grundlagen  der  elementaren  Subtraktionen  sich  infolge  der 
stetigen  Übung  befestigen  und  der  Verlauf  der  zahllose  Male  eingeübten 
und  aufgefrischten  Assoziationen  teils  eben  infolge  der  stets  wachsenden 
Übung,  teils  infolge  der  zunehmenden  physiologischen  Reifung  ein 
rascherer  wird.  Andererseits  aber  werden  die  allerschwächsten  Rechner 
zur  Wiederholung  der  Klasse  verhalten,  kommen  daher  nicht  in  die 
III.  Klasse  hinüber,  werden  auch  hie  und  da  als  pathologisch  Schwach- 
befähigte erst  in  der  II.  Klasse  endgültig  erkannt  und  der  Hilfsschule 
überwiesen,  wogegen  es  durchaus  nicht  ausgeschlossen  erscheint,  daß  es 
zwischen  den  auffallend  langen  Werten  der  II.  Klasse  auch  einige  wirk- 
lich Schwachbefähigte  geben  mag. 

Unter  sämtlichen  (33)  Schülern  der  III.  und  IV.  Klasse  fand  sich 
ein  einziger,  10  Jahre  alter  Knabe,  D.  Zs.,  dessen  Subtraktionsdauer  mehr 
als  4  Sekunden,  und  zwar  4,3  Sekunden,  betrug.  Dieser  Knabe  war 
von  seinem  Klassenlehrer  schon  ein  Jahr  vorher  mittels  meiner  Methode 
untersucht  worden.  Seine  Subtraktionsdauer  hatte  damals  7,8  Sekunden 
betragen.  Im  Untersuchungsprotokoll  dieses  vergangenen  Jahres  steht 
folgendes:  „In  den  2  ersten  Schuljahren  hatte  der  Knabe  keine  Idee 
von  einer  Zahl,  doch  nahm  ihn  sein  Klassenlehrer,  da  er  in  den 
übrigen  Lehrgegenständen  Erträgliches  leistete,  in  die  III.  Klasse  mit 
sich.  Hier  löste  er  schon  die  Aufgaben  des  Zehnerzahlenkreises,  ja  auch 
einfachere  Beispiele  aus  höheren  Zahlenkreisen.  Er  rechnet  an 
seinen  Fingern." 

In  der  IV.  Klasse  steht  in  seinem  Protokoll  folgendes:  Zensur: 
aus  Rechnen:  befriedigend;  durchschnittliche  Zensur:  gut.  Er  denkt 
sehr  langsam.     Im  Notfall  rechnet  er  an  den  Fingern." 

Da  also  auch  dieses  Protokoll  gleich  demjenigen  der  III.  Klasse 
aus  den  übrigen  Lehrstoffen  über  einen  durchschnittlich  guten  Fortschritt 
des  Knaben  berichtet,  ist  anzunehmen,  daß  es  sich  hier  anscheinend  um 
einen  Fall  isolierter  Schwachbefähigung  im  Alter  von  10  Jahren 
handelt.  Der  Knabe  ist  —  trotzdem  seine  Note  „befriedigend"  lautet, 
nach  unseren  objektiven  Untersuchungen  nicht  nur  aus  der  Subtraktion, 
sondern  auch  auf  dem  Gebiete  der  3  übrigen  elementaren  Rechenarten 
der  allerlangsamste  der  3  Schulen  zugehörigen  37  untersuchten  Schüler 
der  IV.  Klasse.  Seine  Zeitwerte  (Multiplikationsdauer  2,0,  Additions- 
dauer 3,1,  Divisionsdauer  4,2)  muten  an,  als  wäre  er  irrtümlich  aus  der 
n.  in  die  IV.  Klasse  hinübergeraten. 

Hingegen  wird  die  Behauptung  des  Lehrers,  daß  der  Knabe  höchst 
langsam  denke,  aber  befriedigend  rechne,  durch  den  Umstand  bekräftigt, 


—    258    — 

daß  er  wohl  als  der  langsamste  unter  seinen  Genossen,  aber,  wenn  auch 
nicht  immer  sofort  präzise,  dennoch  sämtliche  Aufgaben  aller  Rechenarten 
richtig  löst.  Sein  Leistungsumfang  ist  aus  der  Addition  A  =  100  ^/o, 
aus  der  Multiplikation  90  +  10/2^0,  aus  der  Division  70  +  30/2%,  aus 
der  Subtraktion  93  +  7/2  °/o ,  d.  h.  er  rechnet  fehlerhaft,  korrigiert  aber, 
aufmerksam  gemacht,  sämtliche  Fehler  ohne  Ausnahme. 

Diese  isolierte  Schwachbefähigung  im  Eechnen  unterscheidet  sich 
also  von  der  pathologischen  Schwachbefähigang  auch  in  dem  Verhalten, 
daß  sie  sich,  wenigstens  bezüglich  unseres  Prüfungsstoffes,  ausschließlich 
auf  den  zeitlichen  Verlauf  des  Rechenvorganges  beschränkt. 

Unter  den  15  schwachen,  und  zugleich  unter  den  37  genannten 
Rechnern  der  IV.  Volksschulklasse  fand  sich  noch  ein  zweiter  Schüler, 
dessen  Rechendauer  die  3  Sekunden  überschritt,  und  zwar  war  dies  ein 
12  Jahre  alter  Schüler  namens  Gr.  Gz.,  der  die  Klasse  wiederholt,  den 
sein  Klassenlehrer  als  „nicht  besonders  intelligent"  charakterisiert,  und 
der  nicht  bei  seinen  Eltern,  sondern  bei  der  Familie  eines  Kellners  ge- 
pflegt wird.  Auch  die  Rechenzeiten  dieses  Schülers  sind,  wenn  auch 
kürzer,  als  diejenigen  des  vorangehend  besprochenen  D.  Zs.,  mit  Aus- 
nahme der  Multiplikation  die  längsten  von  16  untersuchten  Schülern 
seiner  Klasse.  Hingegen  ist  sein  Wissensumfang  aus  sämtlichen  vier 
Rechenfonktionen  rund  A  =  100,  d.  h.  er  löste  sämtliche  Operationen 
des  Zehnerzahlenkreises,  obwohl  sehr  langsam,  aber  ohne  Ausnahme  so- 
fort richtig.     Seine  Zensur  aus  Rechnen  ist:  ungenügend. 

Wie  ersichtlich,  ist  bei  den  schwach  rechnenden  Normalen 
schon  die  Subtraktionsdauer  von  3,0  Sekunden  von  der  3.  Klasse,  also 
vom  7. — S.Lebensjahre  an  eine  seltene  Ausnahme ;  die  Subtraktions- 
dauer beträgt  bei  mehr  als  80^/o  der  Schüler  1,0 — 2,0  Sek. 

Hingegen  entfallen  unter  den  pathologisch  Schwachbefähig- 
ten in  der  zweiten  Klasse  auf  17  Schüler  7,  in  der  III.  Klasse  auf  18 
Schüler  11,  in  der  IV.  auf  12  Schüler  5,  in  der  V. — VI.,  also  auf  der 
höchsten  Stufe,  auf  18  Schüler  noch  immer  3  (insgesamt  also  26  auf  65) 
solche,  deren  Subtraktionsdauer  mehr  als  4  Sekunden  beträgt, 
und  ist  die  Subtraktionsdauer  bei  25  von  diesen  26 
Schülern  eine  längere,  als  die  bei  den  schwächsten  Nor- 
malen überhaupt  vorkommende  Subtraktionsdauer. 

Übrigens  folgen  hier  die  mittleren  Subtraktionszeiten  der  schwächsten 
Normalen  und  der  Schwachbefahigten. 


I 


259    — 


Tabelle  XVI. 

Die  Subtraktionszeiten  der  schwächsten  normalen 

Rechner. 


1,0—2,0  Sek. 


2,1—3,0  Sek.       3,1—4,0  Sek. 


4,1— X  Sek. 


II.  Klasse 

(13  Schüler) 

m.  Klasse 

(18  Schüler) 


lY.  Klasse 

(15  Schüler) 


1,8 


1,0,  1,4,  1,4,  1,4, 

1,4,  1,6,  1,6,  1,7, 

1.8,  1,8,  1,8,  1,9, 

1.9,  2,0,  2,0,  2,0 

1,2,  1,2,  1,3,  1,4, 

1,4,  1,4,  1,4,  1,6, 

1,8,  1,9,  2,0 


2,2,  2,4,  2,9 


2,1,  2,8 


2,2,  2,3 


3,1,  3,2,  3,2,  3,8, 
3,8 


4,3,  6,7,  9,9 


3,4 


4,3 


TabeUe  XVII. 
Die  Subtraktionszeiten  der  Schwachbefähigten. 


1,0—2,0  Sek. 


2,1—3,0  Sek. 


3,1—4,0  Sek. 


4,1— X  Sek. 


II.  Klasse 

(17  Schüler) 

III.  Klasse 

(18  Schüler) 


IV.  Klasse 

(12  Schüler) 

V.— VI.  Klasse 
(18  Schüler) 


2,0 


1,8,  1,8,  1,8 


1,4,  1,6,  1,8,  2,0, 
2,0 


2,2,  2,6,  2,7,  2,8, 
2,8,  3,0,  3,0 

2,4,  2,4,  3,0 


2,1,  2,2,  2,4,  3,0 


2,1,  2,1,  2,2,  2,2, 
2,4,  3,0 


3,4,  3,6 


3,2,  3,8,  3,9 


3,1,  3,2,  3,4,  3,9 


4,2,  5,0,  5,6,  5,8, 
7,4,  12,0,  14,6 

4,4,  4,7,  4,8,  5,0, 

5,0,  5,1,  5,6,  5,6, 

6,8,  8,1,  12,0 

4,6,  4,7,  5,6, 
12,6,  15,0 

5,6,  11,7,  14,1 


Wie  ersichtlich,  finden  wir  auch  bei  der  intellektuellen  Schwach- 
befähigung die  Besserung  der  Resultate  von  Jahr  zu  Jahr,  parallel  mit 
der  langsam  steigenden  Reife  der  assoziativen  JBahnen  und  der  stets 
wachsenden  Übungj  eine  Besserung,  die  sich  in  der  steten  Häufung  der 
kürzeren,  und  Abnahme  der  abnorm  langen  Reproduktionswerte  kundgibt. 

Dennoch  finden  wir  zwischen  normalen  Schwachen  und  pathologisch 
schwachbefähigten  Rechnern  einen  wesentlichen,  wenngleich  bloß  quan- 
titativen   Unterschied.      Bei    den    normalen    Schwachen    über- 


—    260    — 

schreitet  nämlich  die  Subtraktionsdauer  vom  8. — 9.  Jahre 
an  in  mehr  als  70°/o  der  Fälle  die  Zeitgrenze  von  zwei 
Sekunden  nicht,  wogegen  wir  in  Fällen  pathologischer 
Schwachbefähigung  im  Alter  von  8  — 10  Jahren  (II.  Klasse 
der  Hilfsschule)  keinen  einzigen,  im  Alter  von  9  — 12  Jahren 
(III.  Klasse  der  Hilfsschule)  insgesamt  5°/o,  und  im  Alter  von 
12  —  16  Jahren  (IV.,  V.  und  VI.  Hilfsschulklasse)  ebenfalls  bloß 
26%  Fälle  finden,  in  welchen  die  Subtraktionsdauer  nicht 
über  2,0  Sekunden  hinausginge*). 

Umgekehrt  finden  sich  bei  den  schwächsten  Rechnern 
der  Normalen  im  Alter  von  8  —  9  Jahren  (III.  und  IV.  Klasse) 
insgesamt  6,6%  mit  einer  die  3  Sekunden  überragenden 
Rechendauer,  wachsend  die  Zahl  der  Schüler  mit  einer 
mehr  als  3,0  Sekunden  betragenden  Subtraktionszeit  bei 
den  wirklich  Schwachbefähigten  55%  beträgt. 

Während  endlich  unter  den  normalen  Schwachen  von  der  III.  Klasse 
angefangen  die  Zahl  derjenigen,  deren  Subtraktionszeit  mehr  als  4,0 
Sekunden  beträgt,  sich  insgesamt  auf  3,31  %  (1  :  33)  beläuft,  ist  die 
Zahl  der  Schüler  mit  einer  Rechenzeit  von  mehr  als  4  Sekunden  in  der 
II.  Klasse  der  Hilfsschule  fast  50  ®/o,  in  der  III.  Hilfsschulklasse  mehr 
als  60  %,  in  der  IV. — VI.  Hilfsschulklasse  durchschnittlich  mehr  als  20  ^/o. 

Bei  den  pathologisch  Schwachbefähigten  erreicht  also  die  Mehrzahl 
im  Alter  von  13 — 14  Jahren  nicht  die  bescheidene  Geschwindigkeit, 
welche  wir  bei  der  Mehrzahl  der  schwächsten  Rechner  der  Normalen  im 
Alter  von  8 — 9  Jahren  vorfinden. 

Von  praktischem  (pädagogischem,  psychiatrischem,  forensischem) 
Standpunkte  aus  lassen  sich  aus  der  Untersuchung  der  Subtraktions- 
dauer innerhalb  des  Zehnerzahlenkreises  folgende  Sätze  feststellen: 

a)  Subtraktionszeiten  von  2  Sekunden  und  weniger 
sprechen  imAlter  von  9  — 12  Jahren  mit  einer  Wahrschein- 
lichkeit von  mehr  als  90%  gegen  intellektuelle  Schwach- 
befähigung, während  im  Alter  von  12  — 17  Jahren  die  Be- 
deutung dieser  kurzen  Rechendauer  —  angenommen,  daß  das 
Kind  ständig  speziellen  Unterricht  genießt  —  stets  abnimmt,  d.h. 
ungefähr  mit  einer  Wahrscheinlichkeit  von  25:100  ver- 
wertet werden  kann. 


1)  Vergleichen   wir  die  Werte  der  Schwachbefähigten   mit  denen   der  Nor 
sämtlicher  Begabungsstufen,  so  finden  wir  (Teil  I.,  S.  151.  Bd.  VII)  schon  in  der  11.  Volksi- 
schnlklasse  48,8 o;©,  in  der  III.  Klasse  93,7,  in  der  IV.  Klasse  86,6 «o  der  Schüler  inner- 
halb der  Zeitgrenze  von  2,0  Sekunden. 


—    261    — 

b)  Subtraktionszeiten  von  mehr  als  3  Sekunden  Dauer 
können  im  Falle  normalen  Schulbesuches  höchstens  bis 
zum  Alter  von  7 — 8  Jahren  (IL  Klasse)  als  normal  betrachtet 
werden.  Im  Alter  von  über  8  Jahren  sprechen  Subtrak- 
tionswerte von  mehr  als  3  Sekunden  Dauer  mit  einer 
Wahrscheinlichkeit  von  mehr  als  90%,  die  4  Sekunden 
übersteigenden  Subtraktionszeiten  mit  einer  Wahrschein- 
lichkeit von  fast  100%  gegen  eine  normale  geistige  Ent- 
wicklung. 


—    262    - 
Literaturbericht. 


William  Douglas  Morrison,  Jugendliche  Übeltäter.  (Mit  be- 
sonderer Beriicksichtigung  Englands).  Autorisierte  deutsche  Ausgabe,  frei  bearbeitet  von 
Leopold  Katscher,  Leipzig.    Verlag  von  Freund  und  Wittig  Leipzig  1899.     146  S. 

Morrison  stellt  sich  die  Aufgabe,  zu  erforschen,  welche  Ursachen  die  große  Zahl 
der  Jugendverbrechen  hervorrufen  und  welche  Mittel  dagegen  anzuwenden  wären.  Er 
beherrscht  nicht  nur  alles  einschlägige  Material  Englands  und  der  übrigen  Kulturstaaten, 
sondern  er  bietet  auch  ein  Muster  in  der  sorgfältigen  Verwertung  desselben.  Seine 
Methode  ist  die  des  modernen  Experiments :  in  einem  Komplex  von  Faktoren  ist  dem  ein- 
zelnen nur  soviel  Wirkung  zuzuschreiben  als  sich  bei  einer  Variation  desselben  und  beim 
völligen  Gleichbleiben  der  übrigen  an  Änderung  ergibt.  Das  Buch  ist  jedem,  der  die 
hier  behandelte  Frage  studieren  will,  aufs  angelegenste  zu  empfehlen. 

Dr.  Ludwig  Pfeiffer,  Schweinfurt. 

R.  Schulze,  Aus  der  Werkstatt  der  experimentellen  Psychologie 
und  Pädagogik.    Leipzig,  R.  Voigtländer,  1909.  —  292  Seiten.  —  Preis  5  Mark. 

Verfasser  bestimmt  sein  Buch  für  solche,  die  ohne  besondere  Vorstudien  gemacht 
zu  haben,  die  experimentellen  Methoden  der  Psychologie  und  Pädagogik  kennen  lernen 
wollen,  sodann  aber  auch  zur  Belebung  des  Unterrichts  in  der  Psychologie  an  Seminaren 
und  anderen  höheren  Schulen.  Da  er  nur  einführen  und  Interesse  wecken  will,  ver- 
zichtet er  auf  Vollständigkeit  der  Darstellung  und  bietet  in  möglichst  verständlicher  Form 
und  unter  Heranziehung  reichlichen  Anschauungsmaterials  sozusagen  nur  Werkstatt- 
proben. Als  Grundlage  für  die  mitgeteilten  Forschungsergebnisse  dienten  dem  Ver- 
fasser die  „Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie  von  Wundt,  an  dessen  Termi- 
nologie er,  um  Unklarheiten  zu  vermeiden,  konsequent  festhält,  —  dazu  Meumanns 
„Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik  und  ihre  psychologischen 
Grundlagen". 

Da  das  Buch,  trotzdem  sich  hinsichtlich  der  Wahl  der  gebotenen  Paradigmata  im 
einzelnen  streiten  ließe,  wohl  imstande  ist,  manchen  bisher  Fernstehenden 
zum  Nähertreten  und  Verweilen  zu  veranlassen,  so  sei  sein  Hauptinhalt 
zwecks  allgemeiner  Orientierung  hier  mitgeteilt :  Grundregeln  experimenteller  Untersuchung. 
Richtungen  der  experimentellen  Psychologie  und  Pädagogik.  Anthropometrische  Messungen. 
—  Maßbestimmungen  in  der  Physik,  Biologie,  Psychologie,  Kinderpsychologie  und  Päda- 
gogik. —  Psychische  Maßmethoden  der  Empfindungsmessung.  Analyse  eines  Empfindungs- 
gebietes. Webersches  Gesetz.  —  Räumliche  und  zeitliche  Vorstellungen.  Statistik  der 
Vorstellungen.  —  Die  Ausdrucksmethode  zur  Untersuchung  der  Gefühle.  Untersuchung 
von  Ausdruckssymptomen  und  -bewegungen.  —  Zeitfehler  bei  astronomischen  Beobach- 
tungen. Reaktionsversuche  zwecks  Untersuchung  der  Willensvorgänge  nach  graphischer 
und  registrierender  Methode.  Einschaltungsmethode.  Muskuläre,  sensorielle  und  natür- 
liche Reaktion.  Pädagogische  Beeinflussung  des  Willensvorgangs.  —  Mimik  und  Umfang 
der  Aufmerksamkeit.  Umfang  des  Bewußtseins.  —  Assimilation  durch  einzelne  Vor- 
stellungen, Gruppen  von  solchen  und  deren  formale  Verhältnisse.  —  Grundsätrliches  fur 
Methodik  der  Gedächtnisversuche.  Gedächtnisapparate.  Wiedererkennungs-  und  Repro- 
duktionsmethoden. —  Grundsätzliches  über  die  experimentelle  Untersuchung  der  Apper- 
zeptionsverbindungen.   Tachistoskopische  Versuche.     Statistik   des  VorstellungSTerlaufes 


I 


—    263     — 

und  der  Reproduktionszeiten.  Methodik  der  Zeitmessung  bei  Reproduktionsversuchen.  — 
Analyse  der  Sprachlaute  und  Sprachmelodie.  Statistik  der  Wortformen  und  -Verbindungen, 
Die  Sprache  als  Ausdrucksmittel.  —  Der  Ergograph  zur  Untersuchung  körperlicher  Ar- 
beit. Maß  der  Arbeitsleistung.  Rhythmus  und  Arbeit.  Symmetrie  der  Bewegung.  —  Me- 
thoden der  Untersuchung  geistiger  Arbeit.  Deutung  der  Arbeitskurve.  —  Korrelations- 
rechnung und  ihre  Anwendung  in  Psychologie  und  Pädagogik. 

Im  Anhang  bringt  Verfasser  ein  von  ihm  erfundenes  Chronoskop  zur  Darstellung, 
nachdem  er  den  Leser  schon  vorher  mit  einem  von  ihm  konstruierten,  anscheinend  recht 
brauchbaren  „Gedächtnisapparat"  bekannt  gemacht  hat.  Für  diejenigen  Seminare  und 
höheren  Lehranstalten,  die  geneigt  wären,  ihre  physikalischen  Cabinette  mit  den  für 
psychologische  Experimente  nötigsten  Apparaten  zu  bereichern,  gibt  Verfasser  schließlich 
noch  zwei  Instrumentarien  an,  von  denen  das  größere  reichlich  900  Mk.  kosten  würde. 
Das  sorgfältig  hergestellte  Register  erleichtert  den  Gebrauch  des  empfehlenswerten 
Buches  bedeutend. 

Dr.  Ernst  Ebert-Zürich. 

Gertrud  Salin g,  Assoziative  Massenversuche.  (Aus  dem  Psycholo- 
gischen Institut  der  Akademie  zu  Frankfurt  a.  M.).  Zeitschrift  für  Psychologie,  Bd.  49. 
1908.     S.  238  If. 

Die  Verfasserin  erwähnt  zunächst  die  Möglichkeit,  die  geläufigsten  und  die  gegen- 
seitigen Assoziationen  bei  einer  Anzahl  von  Menschen  nachzuweisen.  Wenn  man  einer 
größeren  Zahl  Versuchspersonen,  z.  B.  Verwandtschaftsnamen  zuruft,  so  reagieren  die 
meisten  wieder  mit  Verwandtschaftsnamen.  Auf  „Vater"  z.  B.  wird  vorwiegend  mit 
„Mutter"  reagiert,  auf  Adjektiva,  Förwörter,  Orts-  und  Zeitadverbien  und  Zahlwörter  wird 
vorwiegend  mit  Wörtern  derselben  Klasse  reagiert  und  für  jedes  zugerufene  Reizwort 
gibt  es  innerhalb  dieser  Klasse  eine  geläufigste  Assoziation.  Hierbei  nennt  die  Ver- 
fasserin im  Anschluß  an  frühere  Autoren  eine  Assoziation  um  so  geläufiger,  bei  je  mehr 
Personen  sie  eintritt.  So  ist  z.B.  die  Assoziation  Vater-Mutter  geläufiger,  als  irgend 
eine  andere  Reproduktion,  die  sich  an  das  Wort  Vater  anschließen  kann. 

Diese  Erscheinungen  lassen  sich  auch  leicht  vor  einem  größeren  Auditorium  de- 
monstrieren, wie  das  von  Dr.  Otto  Schultze  in  der  Frankfurter  Akademie  ausgeführt 
worden  ist. 

Die  Verfasserin  hat  nun  Versuche  mit  solchen  Klassen  von  Reizwörtern  an  34 
Schulkindern  von  sieben  bis  acht  Jahren  angestellt  (welche  sämtlich  Mädchen  waren), 
wobei  sie  sich  an  die  Versuche  von  Thumb  und  Marbe  anschließt,  um  deren  Ergebnisse 
an  Erwachsenen  mit  ihren  eigenen,  an  Kindern  gewonnenen,  zu  vergleichen.  Sie  rief 
also  den  Kindern  zum  Teil  die  gleichen  Reizworte  zu,  welche  Thumb  und  Marbe  ver- 
wendeten, um  das  Vorhandensein  geläufigster  Assoziationen  nachzuweisen. 

Es  ergab  sich,  daß  „die  Geläufigkeit  der  bevorzugtesten  Reaktionen  bei  Kindern 
hinter  derjenigen  bei  Erwachsenen  im  Allgemeinen  wesentlich  zurückbleibt",  d.  h.  der 
Prozentsatz  geläufigster  Reaktionen  der  auf  Verwandtschaftsnamen,  Eigenschaftswörter, 
Fürwörter,  Ortsadverbien,  Zeitadverbien  und  Zahlen  eintritt,  ist  bei  Erwachsenen  immer 
größer,  zum  Teil  beträchtlich  größer,  als  bei  Kindern. 

Nachdem  die  Verfasserin  noch  darauf  hingewiesen  hat,  daß  sich  aus  Versuchen  von 
Watt  dieselbe  Erscheinung  bei  optisch  dargebotenen  Reizworten  zeigt,  macht  sie  An- 
wendungen aus  diesen  Versuchen  auf  die  sogenannten  Komplex  -  Reaktionen  und  deren 
Verwendung  in  der  Kriminalpsychologie.  Man  hat  in  der  Kriminalpsychologie  bekanntlich 
Versuche  darüber  gemacht,  ob  sich  aus  den  Reproduktionen  einer  Versuchsperson  darauf 


—    264    — 

schließen  läßt,  daß  sie  mit  einem  Tatsachenkomplex  bekannt  oder  unbekannt  ist.  Sind 
z.  B.  einer  Versuchsperson  die  Bestandteile  einer  Zimmereinrichtung  bekannt,  so  kann 
sie  auf  ein  zugerufenes  Wort  möglicher  Weise  anders  reagieren,  als  wenn  sie  ihr  unbe- 
kannt sind.  „Ist  die  Reaktion  durch  die  Bekanntheit  der  Versuchsperson  mit  einem 
Vorstellungskomplex  beeinflußt,  so  liegt,  wie  wir  nach  Wertheimer  sagen  wollen,  eine 
Komplexreaktion  vor.  Man  hat  nun  versucht,  das  Fehlen  oder  Vorhandensein 
solcher  Komplexreaktionen  in  kriminalistischem  Interesse  auszuwerten.  Komplexreaktionen 
Sollen  auf  die  Bekanntheit  von  Angeklagten  mit  den  fraglichen  Komplexen  hinweisen". 
Mit  Recht  bemerkt  die  Verfasserin,  daß  dieses  Beweismittel  niemals  unbedingt  zuver- 
lässig sein  kann,  denn  in  dem  Einfluß  der  Bekanntheit  eines  Tatsachenkomplexes  wird 
die  sogenannte  Konstellation  wirksam  für  die  Reproduktion,  man  darf  aber  keines- 
wegs aus  der  Gleichheit  der  Reproduktion  auf  eine  Gleichheit  der  Konstellation  schließen. 
Dieser  Schluß  wird  natürlich  noch  besonders  unsicher,  wenn  man  die  Tatsache  beachtet, 
daß  es  für  zahlreiche  Reizworte  solche  geläufigste  Reaktionen  gibt,  denn  bei  diesen 
kann  man  immer  annehmen,  daß  sie  auch  bei  unbeteiligten  Personen  vorkommen.  Mit 
Recht  fordert  daher  die  Verfasserin,  daß  man  in  der  kriminalistischen  Praxis  keine  Asso- 
ziationsversuche machen  soll,  ohne  sich  zunächst  ein  Bild  von  den  Reaktionen  bei  unbe- 
teiligten Personen  zu  machen.  Dazu  sind  Massenversuche,  wie  die  der  Verfasserin  sehr 
geeignet.  So  verwandte  sie  z.  B.  bei  den  genannten  34  Schulmädchen  solche  Reizworte, 
auf  die  früher  Wertheimer  nach  seiner  Meinung  Komplexreaktionen  erhalten  hatte.  Es 
zeigte  sich  hierbei,  daß  auf  «  unter  den  zugerufenen  43  Reizworten  mit  den  vermeint- 
lichen Komplexreaktionen  von  Wertheimer  reagiert  wurde.  In  einem  Falle  war  die  ver- 
meintliche Komplexreaktion  sogar  die  geläuflgste  Reaktion  (nämlich  bei  Ständer:  Noten- 
ständer). 

Hierauf  bildete  die  Verfasserin  neues  Material,  indem  sie  Reizworte  verwendete, 
aus  welchen  sowohl  Wertheimer,  wie  Alfred  Groß  auf  Kenntnis  eines  bestimmten  Tatsachen- 
komplexes geschlossen  hatte.  Diese  Reizworte  wurden  von  Herrn  Dr.  Otto  Schnitze  in 
einem  psychologischen  Kursus  achtzehn  Personen  zugerufen.  Dabei  ergaben  sich  Re- 
aktionsworte, die  auch  Wertheimer  und  Groß  erhielten  und  die  von  diesen  Autoren  als 
Komplexreaktionen  aufgefaßt  worden  waren.  Mit  Recht  bemerkt  die  Verfasserin: 
„Offenbar  hätten  Wertheimer  und  Groß  manche  Reaktionen  nicht  als  Komplexreaktionen 
oder  als  kriminalistisch  verwendbar  angesehen,  wenn  ihnen  die  Ergebnisse  unserer  Massen- 
versuche vorgelegen  hätten." 

Sodann  macht  die  Verfasserin  noch  den  interessanten  Vorschlag,  auf  Gnmd  von 
Massenversuchen  ein  Assoziationslexikon  anzulegen,  in  welchem  man  die  bei  Massenver- 
suchen erhaltenen  geläufigsten  Reaktionen  zusammenstellt.  „Das  Lexikon  könnte  viel- 
leicht verschiedene  Abteilungen  umfassen".  Z.  B.  eine  Abteilung  für  Ergebnisse  bei  er- 
wachsenen männlichen  und  weiblichen  Personen  und  für  Ergebnisse  mit  Kindern  beiderlei 
Geschlechts  und  verschiedener  Altersstufen,  es  könnte  femer  auch  als  wertvolles  Material 
für  rein  psychologische  Untersuchungen  dienen  und  zugleich  von  Sprachforschem  benutzt 
werden.    Ein  Entwurf  eines  solchen  Lexikons  wird  von  der  Verfasserin  mitgeteilt. 

In  einem  letzten  Paragraphen  teilt  die  Verfasserin  noch  einzelne  Reproduktionen 
mit,  die  aus  einer  Kontamination  (Verschmelzung)  zweier  Worte  entstanden  sind.  So 
ergab  sich  auf  das  Reizwort  Herz  das  Reaktionswort  Sc  harz  (verschmolzen  aus 
Schmerz  und  Harz),  auf  Ofen  ergab  sich  Höfner  (verschmolzen  aus  Oefen  und  H&fner), 
auf  Mund  wurde  reproduziert  M  a  n  d  (verschmolzen  aus  Mund  und  Hand),  auf  dünn 
wurde  zweimal  reproduziert  duck  (verschmolzen  aus  dünn  und  dick),  auf  M&rz  wurde 
reproduziert  Monart  (verschmolzen  aus  M&rz  und  Monat). 


I 


—    265    — 

Man  vergleiche  zu  dieser  Abhandlung  noch  ThumbOund  Marbe  experimentelle  Unter- 
suchungen über  die  psychologischen  Grundlagen  der  sprachlichen  Analogiebildung  Leipzig 
1901,  ferner  Thumb,  indogermanische  Forschungen  Band  22  1907,  Seite  36  If.,  ferner 
Zeitschrift  für  Psychologie,  Band  28,  Seite  84  ff.  1902  und  Band  36  Seite  417  ff.  1904. 
Wertheimer  und  Klein  Archiv  für  Kriminalantropologie,  Band  15,  Seite  72  ff.,  1904, 
Wertheimer,  Archiv  f.  d.  ges.  Psychol.  1906,  Band  6,  Seite  59  ff.  Alfred  Groß,  Zeitschrift 
für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft,  Band  27,  Seite  175  ff.,  1907.  Heilbronner,  ebenda, 
Seite  601  ff.    Wreschner  Ergänzungsband  3  der  Zeitschrift  für  Psychologie  1907. 

Zu  bemerken  ist  noch,  daß  der  Begriff  der  geläufigsten  Reaktionen  nach  der  Aus- 
drucksweise der  genannten  Autoren  und  der  Verfasserin  keineswegs  einwandfrei  ist.  Er 
macht  die  Voraussetzung,  daß  die  verbreitetsten  Assoziationen  auch  für  ein  bestimmtes 
Individium  die  geläufigsten  sind,  was  keineswegs  sicher  erwiesen  ist. 

E.  Meumann. 

Die  Technik  des  Tafelzeichnens. 

Im  Verlage  von  B.  G.  Teubner,  Leipzig  und  Berlin,  ist  unlängst  ein  Werk  erschienen, 
das  den  Titel  führt:  „Die  Technik  des  Tafelzeichnens".  Von  Dr.  E.  Weber,  München. 
Das  Werk  besteht  aus  40,  größtenteils  farbigen  Tafeln  und  einem  Textheft  mit  Illu- 
strationen in  einer  Mappe.     (Preis  6  Mk.) 

Da  das  Webersche  Werk  ganz  eigenartig  und  interessant  ist,  dürfte  es  sich  wohl 
lohnen,  es  zum  Gegenstand  einer  kleinen  Betrachtung  zu  machen. 

Die  alte  pädagogische  Forderung:  „Unterrichte  mit  der  Kreide  in  der  Hand"  ist 
jedem  Lehrer  bekannt,  aber  sie  wird  in  Wirklichkeit  nur  selten  erfüllt.  Die  Lehrer 
können  zwar  an  der  Tafel  schreiben,  aber  wollte  man  von  ihnen  irgend  eine  bildliche 
Darstellung  ihres  Unterrichtsstoffes  verlangen,  so  würden  sie  versagen.  Das  ist  nicht 
zu  verwundern,  denn  bei  ihrer  Ausbildung  wurde  auf  Wandtafelzeichnen  kein  Wert 
gelegt.  Der  Verfasser  zeigt  nun  im  vorliegenden  Werke,  wie  tief  dieser  Mangel  an 
zeichnerischer  Ausbildung  seitens  der  Lehrer  zu  beklagen  ist,  er  hebt  hervor,  daß 
„ethische  und  wissenschaftliche  Qualitäten  allein  wohl  einen  braven  Mann,  einen  gewissen- 
haften und  scharfsinnigen  Sammler,  Sichter  und  Anwender,  aber  noch  lange  keinen 
idealen  Lehrer  verbürgen".  „Der  Lehrer  sei  ein  Künstler!"  —  Es  ist  eine  bekannte 
Tatsache,  daß  das,  was  wir  einmal  wirklich  erlebt  haben,  einen  unauslöschlichen  Ein- 
druck bei  uns  hinterläßt.  Von  dieser  Erkenntnis  ausgehend  wollte  ein  Teil  der  Päda- 
gogen nur  das  Wirklichkeitserlebnis,  als  für  die  Schule  in  Betracht  kommend,  hin- 
gestellt wissen.  Mit  Recht  weist  W.  darauf  hin,  daß  diese  Forderung  über  das  Ziel 
hinausschießt  und  in  allen  Konsequenzen  in  der  Schule  undurchführbar  ist.  „Kein 
Mensch  verdankt  seine  Erfahrungen  nur  dem  unmittelbaren  Verkehr  mit  der  Natur, 
sondern  der  Natur  und  Kunst".  Der  Lehrer  der  künstlerisch  gestalten  kann,  kann 
seinen  Schülern  „das  Leben  des  Menschlichen  und  Außermenschlichen  vorführen".  Hier 
bieten  sich,  so  fährt  der  Autor  fort,  dem  Lehrer  zwei  Wege:  „Entweder  greift  der 
Pädagoge  zu  fertigen  Kunstwerken,  zu  Dichtungen,  Gemälden,  Liedern,  Skulpturen  u.  a. 
und  bietet  sie  seinen  Schülern.  In  solchen  Fällen  wird  er  zum  vermittelnden  Künstler. 
Oder  er  sucht,  da  ihm  die  geeigneten  Kunstwerke  fehlen,  selbst  zu  gestalten;  er  wird 
zum  schaffenden  Künstler".  Das  selbsttätige  künstlerische  Schaffen  des  Lehrers  ist  dem 
Vorzeigen  fertiger  Kunstwerke  vorzuziehen.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  hier  keine 
künstlerischen  Gipfelleistungen  vom  Lehrer  gefordert  werden  sollen.  Wie  der  Lehrer 
aber  zu  befriedigenden  Leistungen  an  der  Tafel  gelangen  kann,  das  will  „die  Technik 
Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  18 


—    266    — 

des  Tafelzeichnens"  lehren.  Wir  werden  bekannt  gemacht  mit  den  verschiedenen  Dar- 
stellungsmöglichkeiten und  Darstellungsweisen,  mit  der  Behandlung  der  Kreide,  der  Psy- 
chologie des  Wandtafelbildes  und  mit  dem  technischen  Problem.  Was  man  bei  all  diesen 
Ausführungen  vermißt  ist  ein  Eingehen  auf  die  schöpferische  Tätigkeit  der  Schüler.  W. 
beschäftigt  sich  nur  mit  dem  Schaffen  des  Lehrers  an  der  Tafel,  die  Kinder  sind  dabei 
müssige  Zuschauer  und  doch  wie  gerne  schaffen  die  Kinder  selbst.  Sagt  der  Verfasser 
doch  selbst  an  einer  Stelle:  „Der  jugendliche  Mensch  ist  stoflfhungrig.  Er  braucht 
Material  für  seine  Selbsttätigkeit.  Eine  bloße  Schaffensfreude  reicht  nicht  aus".  Wir 
werden  später  auf  diesen  Punkt  noch  einmal  besonders  zurückkommen  müssen.  In  meiner 
Abhandlung:  „Gedanken  und  Anregungen  über  Zeichen-  und  Kunstunterricht  in  der 
Kinderstube"  *)  habe  ich  versucht  eingehend  auszuführen,  wie  jeder  Lehrer  und  Erzieher, 
jeder  Vater  und  jede  Mutter  imstande  sein  kann,  den  künstlerischen  Gestaltungstrieb  in 
den  Kindern  zu  erwecken  und  weiter  zu  bilden.  —  Der  Verfasser  unterscheidet  zwei 
Arten  von  Tafelzeichnen:  das  wissenschaftliche  Schema  und  die  künstlerische  Skizze. 
Die  erstere  Art  will  er  angewendet  wissen,  wenn  es  gilt  etwas  zu  erklären,  die  letztere, 
wenn  es  gilt  ein  Stück  der  Außenwelt  zur  Erscheinung  zu  bringen.  „Das  wissenschaft- 
liche Schema  ist  Mittel  zum  Zweck,  das  künstlerische  Bild  in  gewissem  Sinne  Selbst- 
zweck". „Das  wissenschaftliche  Schema  muß  vor  allen  Dingen  klar,  ungekünstelt  and 
übersichtlich  sein".  Beide  Arten  von  Zeichnungen  müssen  rasch  vor  den  Augen  der 
Schüler  entstehen.  Das  wissenschaftliche  Schema  kann  in  jeder  Stunde  und  in  jedem 
Fache  Verwendung  finden.  Es  ist  besser  als  der  Anblick  der  Natur  selbst,  weil  es  den 
ganzen  Aufbau  des  Objektes  Stück  um  Stück  vor  den  Augen  der  Schüler  erscheinen 
läßt.  Über  die  Richtigkeit  der  letzteren  Ansicht  des  Verfassers  läßt  sich  streiten,  denn 
das  zeichnerische  Bild  an  der  Tafel  entwickelt  sich  nicht  nach  der  inneren,  organischen 
Entwicklung  des  betreffenden  Objektes  heraus,  sondern  nach  den  technischen  Gesichts- 
punkten des  Zeichnens ;  das  Bild  wächst  nicht.  W.  verwahrt  sich  deshalb  auch  dagegen, 
als  ob  er  einen  von  der  Natur  losgelösten  Bildunterricht  das  Wort  reden  wolle.  „Das 
Studium  der  Natur  gilt  mir  als  schlechterdings  unersetzlich.  Wo  Natur,  wo  Wirklichkeit 
gezeigt  werden  kann,  soll  sie  vorgeführt  werden".  —  „Das  wissenschaftliche  Schema 
sollte  jeder  Lehrer  zustande  bringen  können ;  es  erfordert  keine  besondere  Höhe  zeich- 
nerischen Könnens.  Das  künstlerische  Bild  erfordert  eine  gewisse  Begabung,  die  nicht 
jedem  Pädagogen  eigen  ist".  Der  Verfasser  bespricht  dann  eingehend  die  Darstellungs- 
möglichkeiten  an  der  Wandtafel.  Die  Kreide  ist  nach  seiner  Ansicht  das  beste  Dar- 
stellungsmaterial;  Wasserfarben  werden  von  ihm  verworfen,  weil  sie  „an  der  senkrecht 
oder  schräg  stehenden  Tafel  abfließen,  auch  erfordert  ihre  Zubereitung  eine  verhältsnis- 
mäßig  lange  Zeit".  Hierzu  möchten  wir  bemerken,  daß  mit  einzelnen  Farben,  dick  auf- 
getragen, sich  doch  bei  weitem  bessere  Töne  erzielen  lassen,  als  mit  Kreide.  Wir  denken 
in  erster  Linie  an  Deckweiß.  Die  grünen  Farben  sind  in  Kreide  zumeist  sehr  mangelhaft. 
Durch  geringen  Zusatz  eines  Bindemittels  z.  B.  Dextrin  kann  man,  wo  es  nötig  sein 
sollte,  das  Abfließen  der  Farben  verhindern  und  mit  einem  breiten  Pinsel  l&ßt  sich  mit 
Farbe  eine  Fläche  viel  schneller  zudecken,  als  mit  Kreide.  Ebenso  lassen  sich  Glanz- 
lichter  mit  dem  Pinsel  ungleich  kecker  und  brillanter  aufsetzen,  als  mit  Kreide.  Ist  dio 
Wandtafel  nicht  in  tadellosem  Zustand,  so  bleibt  farbige  Kreide  oft  nur  mangelhaft 
haften,  da  sie  als  Bindemittel  immer  mehr  oder  weniger  ölige  Bestandteile  enth&lt   Wir 


1)  F.  Meumann-Celle,  Gedanken  und  Anregungen  aber  Zeichen-  u.  Kunstunterricht 
in   der  Kinderstube.    Deutsche  Blätter  für  Zeichen-  a.  Kunstunterricht.    XU.  Jahrgan i; 


—     267    — 

meinen ,   will  man  einmal   farbig   darstellen ,   so  wäre  es  unvorteilhaft  auf  Wasserfarben 
gänzlich  verzichten  zu  wollen.    Weber  unterscheidet  5  Darstellungsarten: 

1)  Die  reine  Kreidetechnik. 

2)  Die  trockene  Wischtechnik. 

3)  Die  feuchte  Wischtechnik. 

4)  Die  Technik  mit  aufgeklebtem  Papier. 

5)  Die  Technik  mit  angeheftetem  Papier. 

Diese  fünf  verschiedenen  Techniken  können  auch  untereinander  kombiniert  werden. 
Am  besten  lassen  sich  die  Techniken  an  der  Hand  der  hier  wiedergegebenen  Tafeln 
erklären.  Leider  mußte  in  unseren  Reproduktionen  auf  die  Wiedergabe  der  Farben 
verzichtet  werden;  es  konnten  daher  verschiedene  sehr  charakteristische  Tafeln  nicht 
zur  Darstellung  gelangen.  Von  den  einfarbigen  Tafeln  sind  einige  der  charakteristischsten 
hier  wiedergegeben.  Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  nicht  unerwähnt  lassen,  daß  die 
Herstellung  der  Originaltafeln  äußerst  sorgfältig  und  fein  ist.  Unter  den  40  Tafeln  ist 
keine  einzige,  die  mißlungen  oder  nur  fehlerhaft  wäre.  Manche  Stücke  sind  kleine 
Kunstwerke,  sowohl  technisch,  wie  nach  der  Wahl  des  Motivs  und  entbehren  nicht  des 
Reizes  der  individuellen  Stimmung.  Besonders  beachtenswert  ist,  mit  wie  wenig  Mitteln 
stellenweise  ein  feiner  Effekt  erzielt  worden  ist.  Bei  den  komplizierteren  Bildern  kann 
man  allerdings  den  Gedanken  nicht  zurückdrängen,  daß  wer  diese  und  ähnliche  Zeich- 
nungen wirklich  schnell  an  der  Tafel  entstehen  lassen  kann,  ein  Meister  der  Tafel- 
technik sein  muß.  Sämtliche  Tafeln  sind  mit  schwarzem  Hintergrund  gedruckt,  sodaß 
man  den  Effekt  der  Wandtafel  hat.  —  Was  unter  der  „reinen  Kreidetechnik"  zu  ver- 
stehen ist,  dürfte  ohne  weiteres  verständlich  sein.  Die  trockene  Wischtechnik  besteht 
darin,  daß  man  erst  Kreide  aufträgt  und  sie  dann  mit  dem  Wischer  etc.  verwischt, 
wodurch  die  Farbe  matter  wird  und  ermöglicht  mit  kräftigeren  Tönen  wieder  hinein- 
arbeiten zu  können.  Trübe  Stimmungen  können  auch  so  vorteilhaft  hergestellt  werden. 
Die  feuchte  Wischtechnik  ist  ähnlich,  nur  tritt  hier  der  nasse  Schwamm  statt  des 
trockenen  Wischers  in  Tätigkeit.  Tafel  S.  271  ist  ein  Beispiel  für  das  „wissenschaftliche 
Schema".  Unserer  Meinung  nach  ist  in  diesen  Darstellungen  des  „wissenschaftlichen 
Schemas"  die  größte  Bedeutung  des  ganzen  Weberschen  Werkes  für  den  Schulgebrauch 
zu   erblicken.     Alle  Anforderungen,    die   an  Tafeldarstellungen   in   dieser  Art   gestellt 


werden  können,  werden  hier  erfüllt.    Die  Zeichnungen  können  schnell  ausgeführt  werden, 
sie   sind  übersichtlich,    einfach  und   klar  und  bedürfen   keiner  großen  Vorbereitungen. 

18* 


L 


—    268     - 

Die  Tafel  4  des  Originals  ist  ein  Beispiel,  wie  aufgeklebtes  Papier  als  Mittel 
schnellster  Vervielfachung  Verwendung  finden  kann  •).  Die  Blüten  sind  aus  Papier  aus- 
geschnitten. Man  nimmt  beim  Ausschneiden  mehrere  Blätter  Papier  übereinander  und 
hat  mit  einem  Ausschnitt  gleich  eine  Menge  Blätter  zur  Verfügung.  Diese  werden  auf 
die  Tafel  aufgeklebt  und  nur  die  Stengel  mit  Kreide  gezeichnet.  (Technik  mit  auf- 
geklebtem Papier.)  Sie  veranschaulichen  verschiedene  Blütenstände.  —  Tafel  5  ver- 
anschaulicht die  Tätigkeit  des  Schwamms  (feuchte  Wischtechnik)  als  „Motivveränderer''. 
Die  in  erster  Reihe  oben  auf  der  Tafel  stehende  Abbildung  gibt  den  Vertikalschnitt 
einer  Küste  wieder;  auf  der  linken  Hälfte  hat  der  nasse  Schwamm  die  Küste  verändert, 
abgewaschen.  In  gleicher  Weise  ist  die  Abbildung  in  der  zweiten  Reihe  behandelt.  Bei 
den  Spechtbildern  schuf  der  nasse  Schwamm  die  Nesthöhle,  beim  Apfel  den  Gang  der 
Made.  Die  Abbildungen  rechts  zeigen,  wie  die  Brandung  den  Fels  aushöhlt.  Die  Skizzen 
auf  Tafel  10  bringen  charakteristische  Erscheinungen  in  wenigen  Kreidestrichen.  Man 
beachte  den  gotischen  Turm;   wie  primitiv  und  doch  wie  anschaulich!     Beim  Segelschiff 


sind  die  Segel   flott   und  fein   gegeben.     Mehr  Zeit  und  Mühe  erfordert  schon  die  ]>ar- 
stellung  der  Bäume  auf  Tafel  11.     Es   wird  sich    den  Kindern   nur   hierbei   immer   die 


Frage  aufdrängen :  „Warum  sind  die  Bäume  weiß  V**    Will  man  einmal  auf  farbige  Kreide 
1)  Diese  und  die  folgenden  Tafeln  sind  leider  nicht  reproduziert  worden.    (M.) 


I 


—    269    — 

nicht  verzichten,  so  können  diese  Zeichnungen  gerade  so  gut  in  einer  einfachen  Ding- 
farbe dargestellt  werden.  (Pinseltechnik.)  Bezüglich  der  Technik  „mit  angeheftetem 
Papier"  sei  bemerkt,    daß  hier  mit  beweglichem  Papier  innerhalb  einer  Zeichnung  gear- 


beitet  wird.     Es   ist   z.  B.   auf  einer  Tafel   die  Tätigkeit   der  Saugpumpe    dargestellt. 
Kolben  und  Ventile   sind   aus   beweglichem  Papier   und   können   also    die   verschiedenen 


Stellungen   bei   der  Tätigkeit   der  Pumpe  einnehmen.   —  Tafel  19   bringt  Beispiele   für 
die  malerische  Skizze.    Man  beachte,  wie  geschickt  die  weiße  Kreide  benutzt  ist,  um  auf 


—    270    — 


dem  schwarzen  Untergrund  ein  positives  Bild  zu  schafifen,  statt  des  sonst  üblichen  nega- 
tiven. (Vergl.  auch  Tafel  39  Dürerkopf.)  Ein 
schönes  Beispiel  wie  der  schwarze  Grund  zu 
silhouettenhafter  Darstellung,  mit  Verwendung 
von  nur  einer  Farbe,  benutzt  werden  kann, 
zeigt  Tafel  21  rechte  Hälfte.  In  gleicher 
Weise  ist  der  Schillerkopf  auf  Tafel  39  her- 
gestellt, während  der  Bismark  wieder  die 
Technik  der  Tafel  19  zeigt.  — 

Es  fragt  sich  nun,  ob  die  Tafeltechnik 
W.s  in  der  Schule  eingehende  Verwendung 
finden  kann.  Von  den  schematischen  Darstel- 
stellungen  sagten  wir  schon,  daß  sie  jedenfalls 
in  der  Schule  reiche  Verwendung  finden  kön- 
nen. Bei  den  eigentlich  malerischen  Dar- 
stellungen stoßen  wir  aber  auf  verschiedene 
Schwierigkeiten.  Gewiß,  ein  geschickter  Zeich- 
ner wird  diese  und  verwandte  Darstellungen 
an  der  Tafel  entstehen  lassen  können,  wenn- 
gleich einige  Beispiele  doch  recht  kompliziert 
sind,  viel  Übung  verlangen  und  dann  kaum 
lohnen,  an  der  Tafel  dargestellt  zu  werden, 
über  die  vielleicht  schon  in  der  nächsten 
Stunde  der  Schwamm  fahren  muß.  Wie  gesagt,  der  Lehrer  kann  die  Bilder  an  der 
Tafel  entstehen  lassen,  aber  das  ist  nur  eine  halbe  Sache,  wenn  die  Schüler  nicht  mit- 
arbeiten können.  Selbst  wenn  die  Schüler  schwarze  Tafeln  zur  Verfügung  haben,  wird 
es  ihnen  wenig  Freude  machen,  auf  diesen  Tafeln  mit  vieler  Mühe  Arbeiten  entstehen 
zu  lassen,  die  sie  später  wieder  wegwischen  müssen.  Das  Kind  will  etwas  mit  nach 
Hause  nehmen  können,  es  will  ein  bleibendes  Zeugnis  seines  Könnens  vor  Augen  haben. 
Auf  weißem  Papier  läßt  sich  die  Technik  natürlich  nicht  ausführen;  aber  nehmen 
wir    selbst    den     günstigsten    Fall    an,     die    Kinder    hätten    dunkeles   Tonpapier    zur 


Verfügung,  so  kann  die  nasse  Wischtechnik  z.  B.  garnicht  in  Anwendung  kommen. 
Außerdem  würden  die  meisten  der  Weberschen  Techniken  für  die  Schüler  viel  zu  viel 
Zeit  erfordern,  jedenfalls  viel  mehr,   als  dem  Lehrer  zur  Verfügung  steht.     In  der  von 


—    271    — 

mir  vorher  erwähnten  Abhandlung  über  den  Zeichenunterricht  in  der  Kinderstube  habe 
ich  dem  Wunsche  Ausdruck  gegeben,  daß  in  keiner  Kinderstube  eine  Wandtafel  fehlen 
möchte.  An  ihr  werden  die  kleinen  Erlebnisse  der  Kinder  (Weihnachten,  Ostern,  auf 
Spaziergängen  Gesehenes  u.  s.  w.)  zur  Darstellung  gebracht.  Hier,  in  der  Kinderstube, 
denke  ich  mir  das  Webersche  Werk  von  der  größten  Bedeutung.  Im  Hause,  weniger  in 
der  Schule,   ist  sein  eigentlicher  Platz.    Viele  Mütter  und  Erzieher  klagen  darüber,   daß 


sie  den  Kleinen  nichts  vorzeichnen  können.  Ihnen  wird  das  W.sche  Werk  ein  unschätz- 
barer Helfer  sein.  Zu  wirklich  künstlerischen  Leistungen  braucht  man  es  in  der  Kinder- 
stube nicht  zu  bringen,  die  Kleinen  sind  für  die  minimalsten  Leistungen  unendlich 
dankbar.  Und  was  macht  wohl  mehr  Freude,  als  vor  einem  dankbaren  Publikum  zu 
arbeiten?  Ich  habe  in  meiner  Kinderstube  selbst  den  Versuch  mit  den  Weberschen 
Tafeln  gemacht  und  meinen  Kindern  schon  viele  frohe  Stunden  damit  bereitet.  Anfangs 
zeichnet  man  den  Kindern  vor,  später  läßt  sich  ihnen  unmerklich  der  Stift  in  die  Hände 
spielen,  sie  arbeiten  selbst  und  „die  Technik  des  Tafelzeichnens"  regt  sie  zu  unendlicher 
Schaifensfreude  an. 

Zum  Schluß  sei  hier  noch  erwähnt,  daß  es  hellgraue,  gekörnte  Metallwandtafeln  gibt, 
auf  denen  sich  in  jeder  Technik  brillant  arbeiten  läßt,  namentlich  mit  Kohle  und  far- 
bigen Kreiden.  Auch  die  Darstellung  mit  Wasserfarben  kann  mit  Erfolg  angewandt 
werden.  Alles  ist  mit  nassem  Schwamm  leicht  wegwischbar.  Die  Schwierigkeit  des 
schwarzen  Untergrundes  fällt  hier  weg,  das  Korn  der  Tafel  ermöglicht  ein  feines  abtönen 
vom  dunklen  zum  hellen  und  der  Lehrer  kann  genau  so  zeichnen,  wie  der  Schüler  auf 
seinem  Papier.  Die  Tafel  braucht  nie  angestrichen  zu  werden  und  ist  immer  in  einem 
tadellosen  Zustande.    Ich  kann  nach  langjähriger  Erfahrung  solche  Tafeln  sehr  empfehlen. 

Fr.  Me um ann- Celle. 


Bericht  über  den  3.  schweizerischen  Informationskurs  in  Jugend- 
fürsorge vom  31.  August  bis  12.  September  1908  in  Zürich,  veranstaltet  von  der 
Schweizerischen  Gesellschaft  für  Schulgesundheitspflege.  Zürich,  Zürcher  &  Furrer  1909. 
832  Seiten.    Preis  15  Franken. 

Nach  kurzer  Darstellung  von  Einrichtung  und  Verlauf  der  Veranstaltung  sind  auf 
gegen  700  Seiten  mit  wohltuender  Knappheit  sämtliche  fünfunddreißig  Vorträge  —  nebst 
den  dazu  gehörigen  Diskussionen  —  wiedergegeben,  die  den  Kursteilnehmern  geboten 
wurden.  Sodann  bringt  der  rührige  Leiter  jenes  Informationskurses,  Herr  Erziehungs- 
sekretär Dr.  Zollinger,   noch  eine  Reihe  Einzeldarstellungen  von  Fürsorge-Einrichtungen 


—    272    — 

im  Kanton  Zürich,  —  über  Wöchnerinnen-  und  Säuglingsfürsorge,  Fürsorge-Einrichtungen 
zur  Ergänzung  der  häuslichen  Erziehung,  Ernährung  und  Bekleidung  bedürftiger  Schul- 
kinder, Ferienkolonien,  Anstalten  für  physisch  anormale,  gebrechliche  und  kranke 
Kinder,  Erziehungsanstalten  für  sittlich  gefährdete  und  verwahrloste  Kinder  u.  dergl.  m. 
Literatur-Angaben  über  Jugendfürsorge,  sowie  ein  Sach-  und  Autorenregister  bilden  den 
Schluß. 

Der  Bericht  kann  Behörden,  gemeinnützigen  Gesellschaften  und  Lehrervereins- 
bibliotheken  aufs  beste  empfohlen  werden,  da  er  zuverlässige  Unterlagen  über  den  Stand 
der  gegenwärtigen  Bestrebungen  und  Ausgangspunkte  für  die  Praxis  auf  dem  Gebiete 
der  Jugendfürsorge  gewährt.  Bei  der  vortrefflichen  Ausstattung  des  Buches  erscheint 
der  Preis  nicht  zu  hoch.  Immerhin  wäre  zu  wünschen,  daß  künftige  Berichte  im  In- 
teresse ihrer  Verbreitung  wohlfeiler  hergestellt  werden  möchten,  —  zunächst  durch  Weg- 
lassung einer  Menge  von  Illustrationen,  die  im  Grunde  genommen  nur  eine  leicht  ent- 
behrliche Dekoration  darstellen. 

Dr.  Ernst  Ebert,  Zürich. 


Dr.  0.  Pfister,  Religionspädagogisches  Neuland.  Zürich  19o«j, 
Schulthess  &  Co. 

Der  Pfarrer  in  Zürich  berichtet  über  eine  Reihe  von  Versuchen  zur  Umgestaltung 
des  Religionsunterrichtes  in  dem  Sinne,  daß  „die  Selbstbetätigung  des  Einzelnen 
gemäß  seiner  besonderen  Eigenart  hervorgelockt  wird,  der  Nachhülfe  zu  freiem  religiösem 
Erlebnis,  zu  individueller  Glaubenstat  und  damit  Verinnerlichung  der  ganzen  religions- 
pädagogischen Arbeit".  Die  Schüler  zählen  13 — IG  Jahre  und  die  Versuche  verteilen 
sich  auf  4  Jahrgänge. 

Um  die  Kinder  daran  zu  erinnern,  daß  es  sich  im  Religionsunterricht  nicht  um 
ein  bloßes  Schulfach  handle,  ist  es  ratsam,  dem  Schulzimmer  zu  entfliehen.  Der  Pfarrer 
pflegt  bei  warmer  Witterung  den  Unterricht  im  Freien  zu  erteilen,  im  Garten,  auf 
Morgenspaziergängen  zum  Sonnenaufgang,  auf  dem  Friedhof,  oder  dann  in  der  Kirche. 
Solche  Exkursionen  bilden  Ausnahmen. 

Zum  regelmäßigen  Unterricht  gehören  die  Memorieriibungen.  An  diesen  ließ  man 
die  Schüler  unter  Ansetzung  einer  bestimmten  Frist  einen  beliebigen  Liedervers  oder 
Prosaspruch  wählen,  unter  der  Bedingung,  daß  das  Gelernte  ihnen  gut  gefalle  und 
womöglich  selbständig  gefunden  sei.  Dabei  bot  sich  Gelegenheit  nachzuforschen,  wie 
weit  die  Schüler  das  Gelernte  überdachten  und  verstanden.  Es  erhob  sich  ein  Wetteifer 
den  schönsten  Spruch  oder  Vers  zu  suchen.  Wer  nach  dem  Urteil  der  Klasse  die  beste 
Wahl  getrofl'en  und  seinen  Spruch  am  innigsten  und  einfachsten  wiedergab,  den  schmückte 
die  schönste  Blume.  So  war  dem  schrecklichen  Auswendiglernen  der  Stachel  genommen 
und  auch  die  gemeinsam  zu  lernenden  Lieder  gingen  ohne  Schwierigkeit  ein. 

Neben  den  Gedächtnisübungen  wird  gewöhnlich  die  reichliche  Hälfte  der  Stunden 
durch  ein  religiös  oder  sittlich  wertvolles  Lesestück  eingeleitet.  Beginnend  mit  Balladen, 
erschließt  sich  der  Jugend  der  Reichtum  des  großen,  feierlichen  Dichterwaldes  an  frommer 
Poesie,  die  dem  kindlichen  Verständnis  völlig  angepaßt  ist.  Vertrauliche  Besprechung 
der  persönlichen  Erlebnisse  mit  den  Einzelnen  gestatten  dem  Religionslebrer  tiefere  Ein- 
blicke in  deren  Seelenleben. 

Das  Unterweisungszimmer  stattet  der  Pfarrer  mit  den  schönen  Steindrucken  aus 
dem  Verlage  von  Teubner,  Voigtländer,  Künstlerbund  Karisniho,  Breitkopf  und  H&rtel 
aus.    Am  Lichtschirm  läßt  er  die  religiösen  Gestalten  in  Lebensgröße  erscheinen.    „Die 


—    273    — 

Gemeinsamkeit  der  geistigen  Konzentration  auf  einen  heiligen  Gegenstand  schafft  eine 
tiefernste,  feierliche  Stimmung,  die  durch  das  geheimnisvolle  Dunkel  des  Zimmers  wesent- 
lich gehoben  wird.  Der  unendliche  Reichtum  der  göttlichen  Werke,  hier  ist  er  auf 
engen  Raum  zusammengedrängt.  Mit  schöpferischer  Kraft  schafft  sich  das  Kind  aus 
der  Darstellung  eine  unmittelbar  empfundene  Wirklichkeit,  zu  der  es  in  Ehrfurcht  auf- 
schaut, und  die  es  dankbar  in  seiner  Seele  aufnimmt".  Der  Lehrer  wägt  sorgfältig  seine 
Erklärungen  ab.  Die  Kinder  stellen  bescheiden  und  klug  ihre  Fragen.  Die  Stimmung, 
die  aus  solchen  Anschauungen  erwacht,  findet  in  Gesängen  ihren  Ausdruck. 

„Doch  wie  armselig  ist  alle  Stellungnahme  zu  Kunst  und  Poesie,  wie  klein  die 
freie  Wahl  der  religiösen  Aufgabe  und  Lektüre,  wie  unbefriedigend  die  Aufstellung  und 
Beantwortung  von  Fragen,  wo  es  sich  darum  handelt  in  der  Liebe  kräftig  schaffende 
Persönlichkeiten  zu  bilden".  Alle  erbaulichen  Anschauungen  und  belehrenden 
Besprechungen  sind  nur  sinnbildliche  Anregungen,  wirkliche  Erlebnisse  sammelt  der 
Mensch  nur  im  persönlichen  Verkehr  und  durch  sittliche  Betätigung  seiner  physischen 
und  geistigen  Kräfte. 

Der  Pfarrer  sucht  deshalb  die  persönlichen  Beziehungen  zwischen  seinen  Schülern 
zu  vervielfältigen  durch  Teilnahme  der  Klasse  bei  Krankheit  oder  Tod  einzelner  Ge- 
nossen. Zu  individuellen  Willensübungen  geben  Dienstleistungen  für  Gebrechliche  und 
Bedürftige  Gelegenheit:  durch  Singen  oder  Blumensträuße,  zwei  Freundinnen  einer  Ge- 
lähmten führen  diese  bei  schönem  Wetter  in  die  Anlagen  und  Sonntags  zur  Kirche. 
Doch  soll  sich  die  Frömmigkeit  auch  bei  hausbackener  Arbeit  kund  geben.  Große  Freude 
bereitet  es  dem  Lehrer,  wenn  er  die  Klasse  auf  irgend  einen  Fall  zu  beseitigender  Not 
aufmerksam  macht  und  sich  freiwillig  Helferinnen  melden.  Von  solchen  Dienstleistungen 
ist  der  Schritt  nur  klein  zu  einer  stets  treueren  Pflichterfüllung  in  Elternhaus  und  Schule 
und  Werkstätte,  fügen  wir  hinzu.  Denn  auch  die  streng  geregelte  Handarbeit,  das  plan- 
mäßige Zeichnen  und  Wirtschaften  fordern  gewissenhafte  Pflichterfüllung. 

In  vielen  Fällen  endlich  ist  es  nötig  an  einzelnen  Schülern  die  allerspeziellste  Seel- 
sorge auch  zur  Erzeugung  christlicher  Selbstbetätigung  auszuüben.  Besonders  dankbar 
ist  es  einem  Zögling  einen  anderen,  seiner  bedürftigen,  zu  empfehlen.  Ein  begabtes, 
vornehmes  Mädchen  sollte  ein  verschüchtertes,  armes  kleines  Kind  gemütlich  heben,  was 
trefflich  gelang.  Ein  begabter  Schüler  wußte  einen  schwachen  Knaben,  dessen  Eltern 
dem  Trunk  ergeben  waren,  durch  zahlreiche  Spaziergänge  und  Besuche  heiter  zu  stimmen 
und  selbst  den  Hausvater  mit  seinem  Sohn  zum  Eintritt  in  einen  Absistenzverein  zu  ver- 
anlassen. Als  vorzügliches  Mittel,  besonders  gegen  Jähzorn  und  harte  Rede,  hat  sich 
die  freiwillige,  aber  gewissenhafte  Führung  eines  genauen  Tagebuches  bewährt.  Das 
gemeinsame  Geheimnis,  das  Pfarrer  und  Schüler  möglichst  sorgfältig  hüten,  schafft  ein 
inniges  Vertrauensverhältnis  zwischen  ihnen  und  die  Fortsetzung  der  Arbeiten  verbindet 
den  Lehrer  mit  seinen  entlassenen  Zöglingen  oft  noch  jahrelang. 

Solche  Verknüpfung  des  Religionsunterrichtes  mit  persönlichen  Erlebnissen  und 
Arbeiten  beeinträchtigt  unter  keinen  Umständen  die  Bedeutung  des  religiösen  Wortes. 
Sie  soll  vielmehr  die  sinnbildliche  Lehre  zur  wirksamen  Gehilfin  und  Befreierin  der 
Kindesseele  erheben,  indem  sich  das  Bibelwort  in  den  Prüfungen  der  Lebenstätigkeit 
bewährt,  die  religiöse  Stimmung  durch  begrenzte  Anschauungen  und  geregelte  Erfah- 
rungen klärt,  die  Begriffe  aus  erlebten  Tatsachen  aufbauen.  Laßt  erleben,  so  schafft 
ihr  Leben! 

F.  Graberg,  Zürich. 


—    274    — 

F.  L.  "Wells,  Eine  vernachläßigte  Methode  der  Ermüdungsmessung. 
(A  Neglected  Measure  of  Fatigue)  American  Journal  of  Psychology  July  1908,  Vol. 
XIX,  pp.  345—358. 

Der  Verfasser  hat  die  Messung  der  Ermüdung  mittelst  möglichst  schnell  ausge- 
führter willkürlicher  Bewegungen  insbesondere  mit  raschem  Taktiere  aufs  neue  genauem 
untersucht  und  verteidigt  dieses  Verfahren  in  der  vorliegenden  Abhandlung. 

Er  bespricht  zuerst  alle  irgendwie  bemerkenswerten  früheren  Arbeiten,  in  denen 
das  Verfahren  zur  Anwendung  kam.  J.  vonKries  (Dubois-Reymonds  Archiv,  1886, 
Suppl.  Bd.  I,  1—16)  hat  wohl  zuerst  versucht,  die  größte  Geschwindigkeit  zu  messen, 
mit  welcher  wiederholte  willkürliche  Bewegungen  ausgeführt  werden  können.  Seine  Me- 
thode war  sehr  einfach.  Er  ließ  mit  den  Fingern  so  schnell  als  möglich  auf  eine  Unter- 
lage tippen,  wobei  der  tippende  Finger  einen  Stromschluß  machte.  Er  hob  schon  henor, 
daß  die  Grenze  der  Geschwindigkeit  solcher  Bewegungen  durch  die  Nerventätigkeit  be- 
dingt sein  müsse  und  eine  gewisse  Beziehung  zu  dem  unvollständigen  Tetanus  des  belas- 
teten Muskels  bei  dauernder  Kontraktion  haben  müsse. 

2  Jahre  später  hat  Griffiths  (Journal  of  Psychology,  IX,  29—54)  diese  Versuche 
wieder  aufgenommen,  speziell  mit  Rücksicht  auf  den  Tetanus  des  belasteten  Muskels. 
Er  fand,  daß  die  Zahl  der  Kontraktionen  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  zunimmt  mit  der 
Zunahme  des  Gewichtes ;  größere  Belastung  erzeugt  eine  Abnahme  der  Kontraktionszahlen. 
Femer  nimmt  diese  zu  innerhalb  der  ersten  Minute,  um  dann  langsam  abzunehmen. 
Innerhalb  der  längsten  von  ihm  beachteten  Zeit  (2  72  Minuten)  fand  er  nur  geringe  Er- 
müdungserscheinungen. 

1891  nahm  Dreßlar  die  Versuche  wieder  auf  (American  Journal  of  Psychology  FV, 
S.  514 — 527)  und  arbeitete  meist  an  sich  selbst.  Nur  kleinere  Beobachtungen  gewann  er 
von  anderen  Personen.  Er  zählte  die  Zeit,  die  zu  300  Tipps  gebraucht  wurde  (unter 
Tipps  verstehen  wir  im  Folgenden  die  tipj)enden  Bewegungen,  die  gewöhnlich  mit  dem 
Zeige-  oder  Mittelfinger  ausgeführt  werden,  wobei  in  der  Regel  der  Unterarm  im  Ell- 
bogengelenk mitbewegt  wird).  Sein  Verfahren  war  zu  unvollkommen,  um  gute  Resultate 
zu  erzielen.  Er  fand  nur  geringe  Ermüdung,  während  spätere  Experimentatoren  gerade 
in  den  ersten  100  bis  200  Tipps  sehr  deutliche  Ermüdung  nachgewiesen  haben.  Dreßlar 
meinte,  daß  durch  Übung  diese  Zahl  (300  Tipps)  ohne  Ermüdung  ausgeführt  werden 
können,  während  spätere  Autoren  fanden,  daß  der  Verlust  an  Tipps  infolge  der  Ermüdung 
sogar  nach  einiger  Übungszeit  größer  sein  kann,  als  am  Anfang.  Richtig  war  dagegen 
die  Beobachtung  Dreßlars,  daß  die  Ermüdungsempfindungen  nach  einigen  Tagen 
verschwinden.  Der  Verfasser  fügt  hinzu,  daß  nach  seiner  Beobachtung  in  der  Tat  durch 
die  Übung  die  Müdigkeitsempfindungen  verschwinden,  während  die  objektive  Ermüdung 
bestehen  bleibt.  Die  durchschnittliche  Geschwindigkeit  war  bei  Dreßlar  8,5  Tipps  in  der 
Sekunde  mit  der  rechten  Hand  gegen  5,3  mit  der  linken  Hand,  was  der  Verfasser  als 
abnorm  hoch  bezeichnet.  Die  Arbeit  eines  Gliedes  beeinflußte  die  anderen  nicht  viel. 
Die  Geschwindigkeit  nahm  a  b  nach  körperlicher,  z  u ,  nach  geistiger  Arbeit,  was  der  Ver- 
fasser nach  einigen  Beobachtungen  an  sich  selbst  bestätigt. 

Bryan  verfolgte  die  pädagogische  Bedeutung  des  Tippens  als  eines  Test  (Prüfungs- 
mittels) zur  Messung  der  Ermüdung  (Am.  J.  Psych.  V,  137 — 177).  Er  gebrauchte  als 
Apparat  einen  mechanischen  Zähler,  der  die  Zahl  der  Tipps  von  5  zu  5  Sekunden  angibt. 
Nach  10  oder  15  Sekunden  Arbeit  wurde  eine  Abnahme  des  Tippens  gefunden,  gewöhn- 
lich beginnt  sie  schon  früher,  konnte  aber  durch  den  Apparat  nicht  nachgewiesen  werden. 
Die  Geschwindigkeit  nimmt  dann  ab  in  ziemlich  gleichmäßiger  Weise  von  10  zu  10  Minuten. 
Die  Geschwindigkeit  wächst  femer  in  hohem  Maße  mit  dem  Alter  der  Versuchsperson 


—    275    — 

und  sie  hat  keine  direkte  Beziehung  zu  den  Ermüdungserscheinungen.  Ein  Hauptbedenken 
gegen  sein  Verfahren  ist  dies,  daß  es  die  der  Übung  und  die  Nachwirkung  der  voraus- 
gegangenen Arbeit  nicht  genug  erkennen  läßt. 

Bei  Gilbert  wird  das  Verfahren  zum  ersten  Male  als  eigentliche  Ermüdungsmessung 
verwendet  (Yale  Studies  (First  Series)  II,  64—68).  Die  Versuchsperson  taktierte  auf 
einem  Telegraphentaster  45  Sekunden  lang.  Die  ersten  und  letzten  5  Sekunden  wurden 
registriert.  Als  Maaße  der  Ermüdung  gebrauchte  Gilbert  den  prozentualen  Verlust  an 
Tipps,  während  der  letzten  5  Sekunden  im  Vergleich  mit  der  Leistung  in  den  ersten  5 
Sekunden.  Die  Ermüdbarkeit  nimmt  gleichmäßig  mit  dem  Alter  ab  (und  zwar  für  beide 
Geschlechter).  Die  extremste  Ermüdung  beträgt  für  die  sechsjährigen  Kinder  2  P/o  Ver- 
lust, für  die  siebzehnjährigen  14%  (beide  Geschlechter  zusammengenommen),  dabei  ver- 
lieren die  Knaben  mehr  an  Tippzahl  als  die  Mädchen,  sind  aber  in  der  Anfangsge- 
schwindigkeit den  Mädchen  überlegen.  Hieraus  hat  Havelock  Ellis  geschlossen  —  wie 
der  Verfasser  meint,  mit  Unrecht  —  daß  die  weibliche  Arbeit  gleichmäßiger  sei;  denn 
offenbar  haben  die  Knaben  mehr  Interesse  für  das  Tippen  gezeigt  und  sich  daher  anfangs 
mehr  angestrengt.  Damit  stimmt  überein,  daß  der  Verfasser  bei  Erwachsenen  nach  30 
Sekunden   mehr  relativen  Ermüdungsverlust  fand,  als  Gilbert  an  Kindern  in  45  Sekunden. 

In  einer  zweiten  Reihe  von  Versuchen  hat  Gilbert  ungefähr  dasselbe  wiederholt  mit 
ähnlichen  Resultaten.  (Iowa  Studies  I,  S.  39).  Dabei  zeigten  sich  die  begabten  Kinder 
den  mittleren  ungefähr  gleichstehend,  während  die  dummen  eine  geringere  Leistung  auf- 
wiesen. Auch  hierbei  verloren  die  Mädchen  durch  Ermüdung  im  allgemeinen  weniger 
als  die  Knaben  und  die  begabten  Kinder  verlieren  mehr  als  alle  anderen,  (mit  6  Jahren), 
weniger  als  alle  anderen  mit  19  Jahren.  Sie  werden  also  immer  unzugänglicher  für  Er- 
müdung. Diese  Immunität  für  Ermüdung  tritt  im  Durchschnitt  aller  Zahlen  weniger 
hervor,  und  am  wenigsten  bei  den  dummen  Kindern.  Gilbert  und  Patrick  verwendeten 
das  Tippen  als  Test  an  drei  Vpn.  Sie  ließen  60  Sekunden  taktieren ;  graphische  Methode, 
nur  die  ersten  und  letzten  5  Sekunden  wurden  registriert.  Sie  achteten  nicht  auf  Übungs- 
erscheinungen, was  die  Resultate  etwas  trübt.  Sonderbarerweise  ist  der  Ermüdungsverlust 
bei  ihren  einzelnen  Vp.  ungleich,  nämlich  ganz  unregelmäßig  bei  der  zweiten  Vp.,  nimmt 
sogar  bei  der  ersten  ab  und  wächst  bei  der  dritten.  (Gilbert  und  Patrick,  Psychological 
Review  III,  S.  469  ff). 

Seashore  hat  ferner  die  Zeit  isolierter  individueller  Tipps  gemessen  (Seashore, 
Iowa  Studies  II,  74  ff.)  und  mit  den  Reaktionszeiten  verglichen. 

BÜß  untersuchte  namentlich  die  individuellen  Verschiedenheiten  beim  Taktieren. 
Auch  er  verwendet  die  graphische  Methode.  Er  fand  nach  35  Sekunden  den  Beginn  von 
Ermüdungsverlusten.  Die  Veränderlichkeit  der  Tipps  nimmt  ab  mit  beginnender  Er- 
müdung.   (Bliß,  Yale  Studies  (First  Series)  I,  45  ff.). 

Moore  gebrauchte  dieselbe  Methode  wie  Bliß,  aber  sein  Verfahren  erlaubt  keinen 
direkten  Vergleich  mit  den  Resultaten  der  übrigen  Autoren,  da  er  die  Bewegung  auf 
den  Zeigefinger  beschränkte,  der  einen  Kontakt  5  mm  vorwärts  und  rückwärts  so  schnell 
als  möglich  zu  schieben  hatte.  Bei  ihm  scheint  die  Ermüdung  die  Veränderlichkeit  der 
Tipps  zu  vermehren.  Er  ließ  übrigens  bis  480  Tipps  machen,  womit  man  der  Grenze 
der  Erschöpfung  nahe  kommt.  (Moore,  Yale  Studies,  (First  Series)  III,  92  ff.). 

Davis  (yale  Studies,  (First  Series)  VI,  7 — 18)  ließ  auf  einem  Telegraphentaster 
taktieren,  wobei  die  Zahl  der  Tipps  von  5  zu  5  Sekunden  mit  einem  mechanischen  Zähler 
festgestellt  wurde.  Auffallend  sind  seine  sehr  geringen  Geschwindigkeiten.  Taktiert 
wurde  mit  der  rechten  großen  Zehe,  und  es  wurde  festgestellt,  ob  das  Einfluß  hatte  auf 


—    276    — 

das  Taktieren  der  Hand  und  der  linken  Zehe.  Die  Resaltate  blieben  recht  unbe- 
stimmt. 

Binet  und  Courtier  und  ebenso  Raif  untersuchten  die  Beziehungen  des  Tippens 
zum  Klavierspiel.  (B.  und  C.  Ann^e  psychologique  1895,  S.  20<)fr.  und  Raif,  Zeitschrift 
f.  Psych.  24,  352  ff.) 

Die  ersteren  gebrauchten  die  graphische  Methode  mit  Übertragung  durch  kompri- 
mierte Luft.  Für  die  einzelnen  Finger  wurden  Geschwindigkeiten  von  6  —  10  Tipps  ge- 
funden (in  der  Sek.).  Die  geübten  Vpn.  unterscheiden  sich  von  nichtgeübten  nicht  sowohl 
durch  die  Geschwindigkeit  als  durch  die  Regelmäßigkeit  und  Kraft  des  Taktierens. 
Auch  Raif  fand,  daß  die  geübten  Spieler  eher  kräftiger  als  schneller  arbeiteten  als  die 
nicht  geübten. 

Binet  und  Vaschide  führten  eine  wichtige  Veränderung  bei  dem  Verfahren  ein. 
(B.  und  V.,  Annee  psychologique  1895,  S.  200  ff.).  Sie  haben  gegen  die  bisherigen  Ver- 
suche das  Bedenken,  daß  die  Prüfungen  mit  den  Kontakta])paraten  eine  zu  geringe  Ana- 
lyse der  Bewegungen  erlauben.  Deshalb  ließen  sie  mit  einem  modifizierten  Ergographen 
arbeiten,  wobei  ein  Gewicht  von  einem  Kilogramm  gehoben  wurde.  Hiergegen  bemerkt 
Wells  mit  Recht,  daß  dabei  etwas  ganz  anderes  untersucht  wird  als  in  den  bisherigen 
Experimenten.  Von  Kries  hatte  schon  hervorgehoben,  daß  es  gerade  darauf  ankommt, 
eine  möglichst  freie  Bewegung  zu  messen,  und  femer  bemerkt  Wells  mit  Recht,  daß 
„wenn  wir  kleine  Muskeln,  wie  die  der  Finger  isoliert  arbeiten  lassen  (wie  beim  Ergo- 
graphen) und  besonders  wenn  wir  sie  belasten,  so  komplizieren  wir  den  Versuch  durch  einen 
zweiten  Ermüdungsfaktor,  dessen  Beziehung  zu  den  spezifischen  Ermüdungseflfekten  der 
Geschwindigkeit  der  Bewegung  schwer  zu  bestimmen  ist.  Wir  ermüden  dann  den  Muskel 
ebenso  hinsichtlich  der  Kraft  seiner  Bewegung  wie  hinsichtlich  der  Geschwindigkeit''. 
Die  Geschwindigkeitseffekte  prüft  man  aber  nur  rein,  wenn  man  der  Vp.  erlaubt,  ihre 
freien  Bewegungen  so  einzurichten  wie  sie  will,  und  nur  dafür  sorgt,  daß  sie  während 
des  Versuchs  konstant  bleiben,  am  besten  mit  gleichzeitiger  Bewegung  der  Hand  und  des 
Ellbogengelenks  wobei  der  Ellbogen  leicht  auf  den  Tisch  aufgestützt  wird. 

Trotz  der  Verschiedenheit  des  Verfahrens  unterscheiden  sich  die  Resultate  der  fran- 
zösischen Autoren  nicht  viel  von  denen  der  früheren  Autoren.  Es  wurden  25  Sek.  lang 
Bewegungen  ausgeführt  an  15  Vpn.  Die  Geschwindigkeiten  variierten  von  7—8  Bewegungen 
in  der  Sekunde.  Die  durchschnittliche  Geschwindigkeit  im  Beginn  des  Versuchs  war  5 
Bewegungen  in  der  Sek.,  am  Schluß  3,5;  also  ein  beträchtlicher  Ermüdungsverlust.  Die 
individuellen  Verschiedenheiten  waren  größer  als  bei  früheren  Versuchen. 

Marsh  (Archives  of.  Phil.  Psych,  and  scientif.  Methods  Nr.  7. ,  S.  24  flf.)  kehrte 
wieder  zu  dem  einfachen  von  Krießschen  Verfahren  zurück.  Die  Vpn.  taktierten  mit 
einem  Stäbchen,  das  Kontakt  machte.  Die  Tippzahl  wurde  mit  einem  Ewaldschen  Chro- 
noskop  festgestellt  (wie  bei  Gilbert).  Als 'Norm  wurden  100  Tipps  geklopft  und  es  wurden 
mehrere  Gruppen  von  Personen  untersucht.  Im  Durchschnitt  aus  allen  Gruppen  ergab 
sich  für  die  rechte  Hand  6,7  und  7,5  Tipps  in  der  Sek.  und  für  die  linke  5,8  und  7.2; 
ähnliches  fand  Wells  selbst.  Bemerkenswert  ist,  daß  die  Messungen  nach  dem  ersten 
Frühstück  (afternoon  records)  ganz  allgemein  die  am  frühen  Morgen  gewonnenen 
übertrafen.  An  sich  selbst  prüfte. dieser  Autor  noch  die  Schnelligkeit  des  Taktierens  zu 
verschiedenen  Tageszeiten  mit  Ausführung  von  200  Tipps.  Es  ergab  sich  eine  etwas 
andere  Tageskurve  als  bei  Dreßlar  und  es  wurde  abends  am  schnellsten  taktiert. 

Bagley  arbeitete  wiederum  zu  pädagogischen  Zwecken  (American  Journal  of 
Psych.  XII.,  S.  200)  mit  dem  Telegraphenschlüssel  und  elektrischen  Zähler.  Er  fand  keine 
spezielle  Beziehung  zwischen  Taktiergeschwindigkeit  und  Klassenleistung. 


i 


—    277     — 

Bolton  (American  Journal  of  Psych.  XIV.,  350 ff.)  verwendete  ebenfalls  den  mecha- 
nischen Zähler,  und  hatte  pädagogische  Zwecke  im  Auge.  Er  machte  Versuche  an  zwei 
Gruppen  von  Kindern  aus  verschiedenen  sozialen  Schichten  von  8—9  Jahren.  In  der 
Geschwindigkeit  des  Taktierens  übertrafen  die  Kinder  besserer  Stände  von  9  Jahren 
die  achtjährigen  wesentlich  mehr  als  die  ärmeren  neunjährigen  die  ärmeren  achtjährigen 
iibertrafen.  Sonderbarerweise  tippen  die  Mädchen  schneller  als  die  Knaben  (im  direkten 
Gegensatz  zu  Gilberts  Resultat). 

Kelly  (Psychological  Review  X,  S.  357  ff.)  gebrauchte  das  Verfahren  wieder  zur 
Ermüdungsmessung,  er  ließ  60  Sek.  lang  tippen,  gemessen  wurde  alle  10  Sek.  W.  G.  Smith 
(British  Journal  of  Psych.  I,  S.  255  ff.)  gebrauchte  die  graphische  Methode  mit  Luftüber- 
tragung. Er  verglich  das  Tippen  bei  normalen  und  epileptischen  Personen.  Er  fand  die 
merkwürdige  Erscheinung  (die  auch  sonst  bei  Psychosen  vorkommt),  daß  die  Epileptiker 
fast  nicht  ermüden.  Bei  normalen  Vpn.  war  die  Durchschnittsgeschwindigkeit  für  die 
ersten  8  Sekunden  6,3  Tipps,  für  die  nächsten  8  Sek.  5,9  Tipps.  Bei  Epileptikern  für 
die  ersten  8  Sek.  6,2  Tipps,  für  die  nächsten  6,3.  Bei  den  Epileptikern  zeigte  also  das 
Tippen  eine  Anregung  (warming  up). 

Zusammenfassend  glaubt  der  Verfasser,  daß  bei  guter  Messung  (er  verlangt  gra- 
phische Methode)  das  Tippen  als  brauchbarer  Ermüdungstest  verwendet  werden  kann,  was 
er  selbst  an  30  Vpn.  bestätigt  hat. 

Bei  allen  Ermüdungsmessungen  will  der  Verfasser  unterscheiden  zwischen  der  Kon- 
trolle des  Zustandes  der  Ermüdung  und  der  Zugänglichkeit  der  Vpn.  für 
Ermüdung  (individuellen  Ermüdbarkeit). 

Es  folgen  Bemerkungen  über  die  übrigen  Methoden  der  Ermüdungsmessung  und  all- 
gemeine theoretische  Ausführungen,  wobei  mit  Recht  betont  wird,  daß  der  Kausalkonnex 
der  Ermüdung  ein  sehr  komplizierter  ist.  Sodann  verteidigt  der  Verfasser  die  Methode 
des  Tippens.  Allerdings  kann  man  gegen  sie  einwenden,  daß  sie  nicht  unterscheidet 
zwischen  einem  Individium,  das  beim  Beginn  der  Versuche  schon  so  ermüdet  ist,  daß  es 
keinen  Ermüdungsverlust  mehr  erleidet  und  zwischen  demjenigen,  der  zwar  anfangs  un- 
ermüdet  anfängt  aber  relativ  immun  gegen  Ermüdung  ist.  Aber  im  übrigen  hat  die  Me- 
thode viele  Vorzüge.  Von  einer  brauchbaren  Methode  der  Ermüdungsmessung  verlangt  der 
Verfasser  folgendes:  1.  Die  Tests  müssen  so  gewählt  sein,  daß  sie  möglichst  wenig  An- 
forderungen an  die  „bewußte  Mitarbeit"  der  Vpn.  stellen,  denn  durch  diese  kommt  ein 
unkontrollierbarer  Faktor  in  die  Messung  hinein.  Es  ist  einer  der  beiden  Mängel  der 
Kräepelinschen  Addiermethode,  daß  sie  sehr  viel  Mitarbeit  der  Vpn.  verlangt.  2.  Sie  muß 
kurz  sein  und  die  Langeweile  vermeiden.  Das  ist  z.  B.  ein  Vorzug  des  Ergographen, 
daß  er  schnell  zu  Resultaten  führt.  Interessant  ist  das  Ergebnis  von  Squire,  dessen 
Verfahren :  consisted  of  the  indefinite  repetition  of  a  rather  complex  motor  act,  recorded 
upon  a  kymograph.  Whie  the  test  was  thus  motor  in  Character,  the  measure  of  fatigue 
was  concerned  with  the  higher  mental  processes,  beeing  given  an  increase  in  the  lapses 
and  irregularities  in  the  Performance  of  the  act".  3.  Die  Messung  muß  präzies  sein. 
Darin  liegt  der  zweite  schwache  Punkt  der  Kräepelinschen  Addiermethode.  Was  bei  dieser 
Methode  zwischen  den  einzelnen  Stadien  der  Messung  liegt,  wissen  wir  absolut  nicht. 
Dabei  unterscheidet  der  Verf.,  zwischen  Präzision  der  Methode  als  solcher  und  der  Genauig- 
keit der  Messung  des  objektiven  Tatbestandes.  In  allen  den  erwähnten  Anforderungen 
sind  nun,  nach  des  Verfassers  Meinung,  die  motorischen  Methoden  den  intellektuellen  über- 
legen, wenigtsens  soweit  die  technischen  Fragen  des  Gelingens,  der  Schnelligkeit,  der  ob- 
jektiven Kontrolle,  der  Präzision  in  Betracht  kommen. 

Ferner  bemerkt  Wells,   man  habe  bei   den  motorischen  Methoden   zu  sehr  auf  die 


—     278    — 

Messung  der  Kraft  gesehen ;  nun  wolle  man  aber  doch  nervöse  Ermüdung  maBen  und 
jedermann  weiß,  daß  der  Ergograph  die  spezielle  Kraft  miBt,  aber  keineswegs  als  ein 
sicheres  Maß  der  Nervenermüdung  gebraucht  werden  kann.  Dagegen  sei  die  Ge- 
schwindigkeit aufeinanderfolgender  willkürlicher  Bewegungen  wesentlich,  vielleicht 
ausschließlich  durch  Nervenermüdung  bedingt.  Auch  fordere  der  Ergo- 
graph viel  mehr  bewußte  Mitarbeit  der  Vpn.,  wie  namentlich  pathologische  Erfahrungen 
beweisen.  Endlich  beeinflussen  die  Ermüdungsempfindungen  die  ergographische  Messung 
bekanntlich  in  hohem  Maße,  das  Tippen  dagegen  fast  gar  nicht. 

Es  ist  dem  Verfasser  zweifellos  gelungen,  nachzuweisen,  daß  man  die  Methode  des 
Tippens,  namentlich  für  die  Ermüdungsmessung  bisher  unterschätzt  hat.  Aber  er  begeht 
den  Fehler,  die  Methode  gewissermaßen  als  solche  zu  beurteilen  und  nicht  darauf  zu 
achten,  in  welcher  Beziehung  sie  steht  zu  dem  gemessenen  objektiven  Tatbestande.  In 
welcher  Beziehung  stehen  denn  eigentlich  die  Tippbewegungen  zu  geistiger  Ermüdung? 
Darüber  wissen  wir  nichts!  Solange  das  aber  unbekannt  ist,  welcher  Kausalkonnex  die 
Verminderung  der  Arbeit  des  Tippens  nach  geistiger  Arbeit  bewirkt,  schweben  alle  diese 
Messungen  in  der  Luft.  Sie  sind  keine  Messungen',  sondern  der  Nachweis  irgend  eines 
objektiven  Symptoms  der  Ermüdung ,  dessen  funktionelle  Beziehung  zur  Ermüdung 
sich  aller  Kontrolle  entzieht.  Ferner  scheint  der  Verfasser  die  zu  messende  geistige 
Ermüdung  zu  einseitig  als  Nervenermüdung  aufzufassen,  es  ist  doch  sicher,  daß  wir  auch 
im  eigentlichen  Sinne  muskulär  ermüden,  wenn  wir  geistig  tätig  sind.  Schon  die  Spannung 
der  Aufmerksamkeit  ist  von  beständigen  Muskelspannungen  begleitet,  und  auch  der 
übrige  Muskelapparat  ist  teilweise  in  Tätigkeit. 

Die  Präzision  der  Methode  ist  also  zwar  wichtig,  sie  ist  aber  durchaus  nicht  das 
einzige,  was  in  Betracht  kommt,  und  auch  die  übrigen  Vorzüge  werden  durch  diesen  all- 
gemeinen Mangel  nicht  aufgehoben. 

E.  Meumann,  Münster  i.  W. 

Dr.Theodor  Elsenhans,  Charakterbildung.  1. Bändchen  Nr.32von 
„Wissenschaft  und  Bildung",  Einzeldarstellungen  aus  allen  Gebieten 
des  Wissens.  (Herausgeber:  Dr.  Paul  Herre).  —  Quelle  &  Meyer,  Leipzig,  1908. 
135  Seiten.  Preis  1,25  Mk. 

Wenn  wir  uns  im  Nachstehenden  mit  Elsenhans  Werkchen  ausführlicher  befassen, 
als  dessen  äußerer  Umfang  zu  rechtfertigen  scheint,  so  geschieht  dies  vor  allem  deswegen, 
weil  darin  die  vielleicht  wichtigste  aller  Zeit  —  undErziehungs- 
fragen  behandelt  wird,  —  nämlich  die  nach  der  Bildungsmöglich- 
keit  und  Sicherung  des  individuellen  sittlichen  Charakters 
angesichts  aller  jener  negierenden  Faktoren  des  modernen 
Lebens,  die  das  Zustan  dekommen  des  »C  h  ar  akter  s  als  Ausdruck 
der  Menschenwürde"  so  außerordentlich  erschweren.  L&ngst  sind 
es  nicht  mehr  Philosophen  und  Pädagogen  allein,  von  denen  der  Ruf  nach  vertiefter 
Charakterbildung  ausgeht.  Das  gleiche  fordern  vielmehr  Juristen  und  Staatsm&nn«  r, 
Nationalökonomen  und  Ärzte,  —  letztere  mit  besonderen  Nachdruck,  es  sei  nur  an 
den  Schweizer  Psychiater  Dubois  erinnert,  der  in  seinem  Werke  „die  Psychoneuroson 
und  deren  Behandlung"  als  eines  der  kräftigsten  Palliative  gegen  die  Gefahren  des  mo- 
dernen Lebens  eine  wohlbegründctc  Weltanschauung  und  einen  gefestigten  religiös- 
sittlichen  Charakter  hinstellt.  Treft'end  bemerkt  Elsenhans  in  seinem  Einleittingswort: 
„Die  Religion  wurde  durch  die  moderne  Wissenschaft  in  ihren  Tiefen   erschüttert    l>ie 


—     279     — 

neue  Entwicklung  des  staatlichen  Lebens  brachte  dem  Einzelnen,  ohne  ihn  immer  reif 
dafür  zu  finden,  eine  viel  größere  Selbständigkeit  und  eine  ganz  andere  Verantwortung 
als  bisher,  und  die  ungeheure  Entfaltung  der  Maschinentechnik  und  des  Großbetriebes 
nahm  ihm  die  sittlich-festigende  Freude  an  der  Arbeit,  die  durch  eigne  Kraft  ein  Ganzes 
hervorbringt,  und  verurteilte  ihn  vielfach  zur  eintönigen,  tausendfachen  Wiederholung 
einer  mechanischen  Leistung,  deren  Sinn  und  Erfolg  er  selbst  nicht  übersah.  Daß  diese 
Entwicklung  der  Dinge  eine  geschichtliche  Notwendigkeit  war,  daß  sie  einen  gewaltigen 
Fortschritt  der  Menschheit  bedeutete  und  Großes  durch  sie  geschaffen  wurde,  wird  kein 
Einsichtiger  leugnen.  Aber  für  die  Charakterbildung  ist  ihr  Einfluß  überwiegend 
ein  verderblicher  gewesen,  und  es  ist  nicht  zu  verwundern,  daß  uns  in  einer  Zeit,  die 
sich  gerne  ihrer  freiheitlichen  Einwirkungen  rühmt ,  der  Mensch  selbst  häufig  nur  noch 
erscheint  als  ein  Sklave  der  Jagd  nach  dem  Erwerb,  als  ein  kleines  Rad  in  der  unge- 
heuren Maschine  des  Großbetriebs,  als  ein  blinder  Nachbeter  der  sogenannten  öffentlichen 
Meinung,  —  alles  andere  eher  denn  ein  freier  Charakter.  Ist  daher  etwas 
zeitgemäß,  so  ist  es  die  Frage  der  Charakterbildung".  Ihr  geht  nun  Elsenhans  nach, 
in  gedrängter  Form  eine  reiche  Fülle  von  Gedanken  anregend. 

Im  ersten  Teil  des  Werkchens ,  der  vom  Wesen  des  Charakters  handelt ,  bestimmt 
er  den  Hauptbegriff  im  weiteren  und  engeren  Sinne  und  erörtert  den  wichtigen  Begriff 
der  Persönlichkeit.  Der  zweite  Teil  ist  der  Frage  nach  der  Entstehung  des  Charakters 
gewidmet.  Demgemäß  wird  hier  das  Problem  des  Angeborenen  überhaupt  besprochen,  so- 
dann der  angeborene  im  besonderen  der  erworbenen  Charakter  gegenüberstellt,  um  schließlich 
der  schwierigen  Frage  nach  dem  Verhältnisse  beider  zu  einander  näher  zu  treten.  Der  dritte 
Teil  wendet  sich  mehr  der  konkreten  Praxis  zu,  —  der  Erziehung  des  Charakters.  Verfasser 
spricht  hier  zunächst  vom  „Recht  der  Selbstentfaltung"  in  seinem  Verhältnis  zur  Charakter- 
bildung, sodann  von  den  Schuleinrichtungen  und  der  Berufswahl  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
Charakterbildung  und  endlich  vom  Verhältnis  der  einzelnen  Erziehungsmittel  zur  Cha- 
rakterbildung. Den'Schluß  macht  ein  kurzer  Hinweis  auf  die  Hauptaufgabe  der  Erziehung 
des  Charakters,  —  auf  die  Vorbereitung  der  Selbsterziehung  und  auf  die  Vertiefung  des 
„sozialen  Gemeingefühls".  Die  beigegebenen  „Anmerkungen"  machen  den  Leser  mit  aus- 
erlesenen Quellenschriften  bekannt.    Dazu  kommt  noch   ein  Sach-  und  Namenregister. 

Man  muß  den  Verfasser  beglückwünschen  zu  der  geschickten, 
taktvollen  Art,  wie  er  aus  der  Fülle  der  die  Charak  ter  bildung 
betreffenden  Probleme  dasjenige  herausgegriffen  und  behan- 
delt hat,  was  dem  nicht  wissenschaftlich  gebildeten  Leser 
heutzutage  zu  wissen  nottut.  Kritisch  feinsinnig  findet  er  dazu  gewissen 
neueren  pädagogischen  Utopisten  gegenüber  das  rechte  korrigierende  Wort,  —  so  u.  a. 
gegenüber  Ellen  Key,  Tolstoi,  Berthold  Otto  etc.  etc.  In  gleichem  Sinne  stellt  er  For- 
derungen, wie  etwa  die  nach  pädagogischer  Verwertung  der  „Suggestion"  oder  nach 
dem  Wirkenlassen  von  „Gedankenkräften"  richtig.  Vieles,  was  einer  ausführlichen  Dar- 
legung wohl  wert  wäre,  kann  er  nach  der  ganzen  Anlage  des  Buches  nur  streifen,  was 
er  aber  z.  B.  über  die  in  unserer  Zeit  so  verpönte  Körperstrafe  oder  etwa  über  den 
Gesinnungsunterricht  (Religion,  Geschichte)  sagt ,  ist  bei  aller  Kürze  schlechthin 
mustergiltig  und  zeugt  von  reifer  pädagogischer  Einsicht. 
Etwas  weniger  conciliatorisch  hätte  Verfasser  gegenüber  den  Ansprüchen  der  Physiogno- 
miker, Phrenologen  und  Graphologen  als  vertreten  sie  eine  „Wissenschaft"  sein  dürfen, 
ebenso  Forschern  von  der  Art  Lombrosos  gegenüber. 

Berichterstatter  erlaubt  sich  noch  auf  einige  Punkte  aufmerksam  zu  machen,  die 
im  Interesse  der  Sache  bei  einer  Neuauflage  des  Buches  Berücksichtigung  finden  könnten. 


—    280    — 

Auf  S.  10  behauptet  Verfasser  vom  Charakter  im  enpreren  Sinne:  ;,Es  ist  ein  Inbegriff 
von  Willenseigenschaften".  Aus  dem  Zusammenhang  ergibt  sich  nicht  klar,  ob  hier 
Willen  im  Sinne  der  älteren  Psychologie  als  etwas  Elementares,  psychisch  Letztes  an- 
genommen ist  oder  als  ein  Komplex,  in  den  vor  allem  intellektuelle  und  emotionelle 
Faktoren  eingehen.  Nur  auf  Grund  bestimmter  Vorstellungskomplexe  und  dominierender 
Gefühle  resultiert  ein  Charakter.  Auf  S,  59  wird  gesagt,  daß  der  „Kern  des  individuellen 
Wesens"  nicht  von  den  Eigenschaften  des  Verstandes,  sondern  von  denjenigen  des  Fiih- 
lens  und  Wollens  gebildet  wird,  und  S.  69  wird  aus  Ribots  „Psychlologie  der  Gefühle"  an- 
geführt: „Das  Grundlegende  des  Charakters  sind  die  Instinkte,  Tendenzen,  Impulse,  Begeh- 
rungen, Gefühle,  und  zwar  alles  dies  zusammen  und  nur  dies".  „Die  intellektuellen  Anlagen 
bilden  erst  eine  zweite  darüberliejrende  Schicht".  Abgesehen  davon,  daß  Ribot  mit  „Instinkte, 
Tendenzen,  Impulse,  Begehrungen"  nur  Worte  aber  keine  klar  umschriebenen 
Begriffe  bietet  und  es  auf  Grund  des  physischen  Tatbestandes  unrichtig  ist,  die  in- 
tellektuellen Anlagen  als  „zweite,  darüber  liegende  Schicht"  zu  bezeichnen,  muß  noch- 
mals betont  werden,  daß  in  den  Charakter  von  vornherein  so  wesentliche  intellek- 
tuelle Elemente  mit  eingehen,  daß  man  für  das  Verhältnis  von  Vorstellen,  Fühlen  und 
Wollen  im  Charakter  jedenfalls  nicht  obige  Formeln  aufstellen  kann.  Daß  sich  Ribot 
überdies  selbst  widerspricht ,  zeigt  die  kurz  darauf  folgende  Angabe  der  drei  Haupt- 
charakterzüge des  „Humble",  des  Bescheidenen:  „Übermäßige  Sensibilität,  beschränkte 
oder  mittelmäßige  Intelligenz  und  vollständiger  Mangel  an  Energie".  Hier  schaltet 
also  Ribot  sofort  wieder  die  intellektuellen  Grundbestandteile  des  Charakters  e  i  n.  Daß 
sich  seine  Auffassung  des  Bescheidenen  mit  der  deutschen  durchaus  nicht  deckt,  braucht 
wohl  kaum  erst  bewiesen  zu  werden.  „Übermäßige  (?)  Sensibilität"  wäre  fast  patholo- 
gisch, und  daß  dies  Ausmaß  der  Intelligenz  und  Willenskraft  z.  B.  nicht  auf  eine  statt- 
liche Reihe  bescheidener  Forscher  und  Arbeiter  auf  allen  Gebieten  anwendbar  ist,  liegt 
auf  der  Hand,  Hat  ferner  H  e  r  b  a  r  t  mit  seinem  Wort  „Stumpfsinnige  können  nicht 
tugendhaft  sein"  Recht,  so  können  wir  auch  wohl  kaum  von  „sittlich  guten  Dummen 
und  Schwachsinnigen"  reden.  (S.  62).  Verfasser  spricht  weiter  nicht  selten  von  psychi- 
schen Gesetzen,  wo  wir  im  strengen  Sinne  des  W^ortes  keine  solchen  kennen  und 
höchstens  von  Bedingungen  reden  können.  Auch  die  Bezeichnung  „Kristallisation 
der  Gefühle"  (S.  115)  möchte  einer  angemesseneren  Platz  machen.  S.  104  wird  be- 
hauptet, daß  man  Sonderschulen  für  hervoragend  Befähigte  eingerichtet  habe.  Dies 
dürfte  ein  Irrtum  sein  und  eine  Verwechslung  mit  Petzolds  Vorschlag  dazu  in  den 
„Neuen  Jahrbüchern  für  das  klassische  Altertum  etc.".  Hier  und  da  wären  übrigens  ty- 
pische Belege  etc.  aus  der  Geschichte  der  Erziehung  sehr  am  Platze  gewesen.  Beispiels- 
weise hätte  Verfasser  dort,  wo  er  sich  gegen  Schopenhauers  Ansicht  von  der  ünver- 
änderlichkeit  des  Charakters  wendet,  auch  gegen  die  Behauptung  Robert  Owens,  des 
Begründers  der  Milieutheorie,  Front  machen  müssen:  The  character  of  man  is  formed 
for  him  and  not  by  him.  —  In  einer  der  Anmerkungen  spricht  der  Herr  Verfasser  die 
Hoffnung  aus,  demnächst  weitere  Studien  über  das  Angeborene  als  Problem  der  Wissen- 
schaft und  der  Erziehung  veröffentlichen  zu  können.  Nach  den  Ansätzen,  die  vorliegende 
Schrift  dazu  enthält ,  darf  man  der  in  Aussicht  gestellten  Publikation  mit  Spannuni: 
entgegen  sehen. 

Dr.  Ernst  Ebert,  Zürich. 

Karl  Roller,  Hausaufgaben  und  höhere  Schulen.    Leipzig  1907.    Vor- 
lag von  Quelle  &  Meyer.     148  Seiten.    Preis  1,60  Mk. 

Pädagogische   wie   hygienische  Erwftgungen  veranlaftten  d 


J 


—    281    — 

fasser,  sich  eingehend  mit  der  Frage  der  Hausaufgaben  auf  höheren  Schulen  zu  be- 
fassen und  an  einer  Darmstädter  Oberrealschule  Erhebungen  hierüber  anzustellen, 
deren  Ergebnis  er  im  19.  Bande  der  „Zeitschrift  für  Schulgesundheitspflege"  (Hamburg, 
Voß)  veröifentlichte.  Ein  weiterer  Anlaß,  der  Frage  näher  zu  treten,  war  für  den 
Verfasser  das  Referat,  das  er  der  VII.  (Dresdener)  Generalversammlung  des  deutschen 
Vereins  für  Schulgesundheitspflege  über  jenes  Thema  zu  erstatten  hatte.  Auch  in  vor- 
liegender Publikation  ist  er  bemüht,  unter  Berücksichtigung  der  besten  Literatur  zur 
Klärung  und  Beantwortung  der  Frage  beizutragen  und  seinerseits  haupt- 
sächlich zu  zeigen,  „daß  es  möglich  sei,  die  Hausaufgaben  in 
solchen  Grenzen  zu  halten,  die  jegliche  Gefahr  der  Überbür- 
dung ausschließen,  und  daß  dennoch  dem  wissenschaftlichen 
Schulbetrieb  daraus  kein  Nachteil  erwachs  e".  Er  skizziert  im  ersten 
Abschnitt  die  neueren  Vorschläge  zur  Hausaufgabenfrage,  prüft  im  zweiten,  ob  und  in- 
wieweit Hausaufgaben  berechtigt  sind,  und  bespricht  im  Dritten  die  Hygiene  der  Haus- 
aufgaben. —  Sein  Thema  auf  hinreichend  breiter  Grundlage  behandelnd,  geht  Verfasser 
auch  auf  die  experimentellen  Beiträge  zur  Lösung  der  Frage 
der  Hausaufgaben  ein  und  erhofft  von  den  Bestrebungen  im  Sinne  L a y s  und 
Meumanns  wie  auch  von  weiteren  Ermüdungsmessungen  im  Sinne  Griesbachs 
wertvolle  Beihilfen  für  die  definitive  Entscheidung  Sehr  beachtlich  ist  auch  Rollers  Zu- 
sammenstellung der  wesentlichsten  Bestimmungen ,  welche  die  Regierungen  der  inzelnen 
deutschen  Bundesstaaten  über  die  Hausaufgaben  als  integrierenden  Bestandteil  des  Unter- 
richts an  höheren  Schulen  erlassen  haben. 

Der  erfahrene  Schulmann  wird  freilich  trotz  der  Vielseitigkeit  der  Erwägungen 
Rollers  die  Erörterung  gewisser  zentraler  Punkte  vermissen ,  die  für  die  Regelung 
der  ganzen  Sache  von  besonderer  Bedeutung  sind.  Es  kann  nicht  Aufgabe  dieses  Be- 
richtes sein,  die  vorliegende  Schrift  zu  ergänzen,  —  nur  eins  sei  angedeutet:  Sollen 
sich  die  Lehrer  bezüglich  der  Hausaufgaben  pädagogisch  korrekt  verhalten,  so  muß  auf 
den  Seminaren  vorgesorgt  werden,  —  wie?  ist  wieder  eine  Frage  für  sich.  Wäre 
auch  die  Vorbildung  der  Lehrer  an  Mittelschulen  eine  pädagogisch  rationellere, 
so  würden  sie  weit  weniger  Schwierigkeiten  mit  den  Hausaufgaben  haben. 

Im  übrigen  bietet  Rollers  Buch  soviel  kräftige  Anregungen  zum  Besseren ,  daß 
man  nur  wünschen  kann,  es  möchte  vor  allem  in  leitenden  Schulkreisen  recht  aufmerk- 
same Leser  finden. 

Dr.  Ernst  Ebert,  Zürich. 


Dornblüth,  Dr.  med.,  Hygiene  der  geistigen  Arbeit.  2.  Aufl. 
Deutscher  Verlag  für  Volkswohlfahrt,  Berlin  1907.     248  S. 

Der  Verfasser  bezeichnet  es  als  die  Aufgabe  der  Hygiene  des  Geistes,  „sowohl  den 
Verstand,  die  geistige  Arbeitskraft,  nach  Möglichkeit  zu  entwickeln,  als  den  Charakter 
und  die  davon  abhängige  Widerstandskraft  gegen  die  Schwierigkeiten  des  Lebens  zu 
stärken".  Wenn  auch  die  psychologische  Basierung  der  Ausführungen  über  das  Ge- 
dächtnis, Gefühlsleben  und  Willenskraft  den  modernen  Auffassungen  nicht  ganz  entspricht 
—  es  mag  der  Mangel  an  wissenschaftlich  genügender  Darstellung  dem  Bestreben  des 
Buches,  populär  zu  bleiben,  zuzuschreiben  sein  —  so  entschädigt  er  uns  sicher  hinreichend 
durch  die  sachkundigen  hygienischen  Ausführungen,  die  er  uns  aus  seinen  reichen  Er- 
fahrungen als  Nervenarzt  und  Sanatoriumsleiter  durch  alle  Kapitel  hindurch  zu  geben 
vermag.  Unter  diesen  letzteren  heben  wir  als  für  die  Schule  in  erster  Linie  wichtig  die 
Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  19 


-    282    — 

über  „Arbeit  und  Ermüdung",  „Arbeit  und  Stimmung",  „Arbeit  und  Erholung",  dann 
das  über  die  Hygiene  des  Geistes  im  Schulalter  hervor.  Besonders  in  diesem  letzteren 
Abschnitt  zeigt  der  Autor,  daß  ihm  als  Arzt  auch  der  pädagogische  Scharfblick  nicht 
fehlt;  was  er  hier  über  I'berbürdung,  Lehrplan,  Ferien,  Prüfungen  und  das  Problem  der 
geschlechtlichen  Aufklärung  der  Jugend  zu  sagen  weiß,  muß  die  Zustimmung  jedes  mo- 
dernen Schulmannes  herausfordern.  Daß  das  Buch  auch  in  den  Händen  der  Poltern,  für 
die  es  vor  allem  bestimmt  ist,  nur  Segen  stiften  kann,  wird  von  niemandem  bezweifelt 
werden. 

Dr.  Ludwig  Pfeiffer,  Schweinfurt. 

P.  Ephrussi,  Experimentelle  Beiträge  zur  Lehre  vom  Ge- 
dächtnis. Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  (der  Sinnesorgane).  Leipzig 
1904. 

Bei  dem  immer  mehr  sich  ansammelnden  Material  aus  dem  Gebiete  der  experimen- 
tellen Psychologie  ist  es  angebracht,  einzelne,  wenn  auch  ältere,  Arbeiten  einer  einge- 
henden Besprechung  zu  unterziehen  und  so  Anregung  zu  geben  zu  weiterer  exakten 
Forschung  in  der  Kleinarbeit  dieses  weiten  Gebietes.  Nicht  so  sehr  durch  das  praktische 
Interesse  bewogen,  wollte  Verfasserin  vielmehr  „im  Anschluß  an  die  in  den  letzten  zwei 
Jahrzehnten  gemachten  Untersuchungen  des  Gedächtnisses  und  seiner  Gesetzmäßigkeit 
einen  weiteren  Beitrag  liefern  über  die  Vorgänge,  die  bei  dem  Auffassen,  Behalten  und 
Reproduzieren  von  Lernmaterial  im  Spiele  sind".  In  der  Einleitung  macht  Verfasserin 
uns  mit  den  näheren  Zielen  ihrer  Versuche  bekannt,  mit  der  Art  des  benutzten  Materials 
und  der  benutzten  Methode,  gibt  eine  Übersicht  und  Erklärung  der  erhaltenen  Ergeb- 
nisse und  verspricht  einige  wichtige  Beobachtungen,  wie  sie  sich  dem  Versuchsleiter  bei 
der  Durchführung  seiner  eigentlichen  Aufgabe  aufdrängen.  Der  erste  Hauptteil  der  Unter- 
suchungen betrifft  das  ökonomische  Lernen  bei  paarweise  einzuprägendem  Stoffe  und  wird 
beherrscht  von  der  Frage:  ,, Welche  von  den  beiden  Lernweisen  ergibt  innerhalb  desselben 
Zeitabschnittes  eine  höhere  Gesamtleistung,  das  Lernen  im  Ganzen  oder  das  Lernen  mit 
gehäuften  Wiederholungen  ?"  Daneben  erhebt  sich  die  Nebenfrage :  „In  wie  hohem  Grade 
beeinflußt  der  Umstand,  ob  das  Einprägen  ein  wesentlich  mechanisches  oder  ein  unter- 
stütztes ist,  den  Charakter  der  Resultate  hinsichtlich  der  Assoziationsfestigkeit,  objektiven 
Richtigkeit  und  subjektiven  Sicherheit?"  Bei  ihren  Versuchen  hat  Verfasserin  ein  sehr 
reichhaltiges  Material.  Sie  benutzt  sinnlose  Silbenreihen,  Wortpaare  aus  je  einer  russi- 
schen und  der  zugehörigen  deutschen  Vokabel,  Reihen,  deren  Paare  aus  je  einem  zwei- 
silbigen Wort  und  einer  dreistelligen  Zahl  zusammengesetzt  waren,  Strophen,  Zahlenreihen 
und  Reihen  sinnvoller  Wörter.  Die  benutzte  Methode  war  die  Treffermethode  im  l.  Teil 
der  Untersuchungen,  im  II.  Teile  Treffer-  und  teilweise  Erlernungsmethode. 

Im  zweiten  Hauptteile  der  Untersuchungen  will  E.  feststellen,  auf  welchen  psycho- 
logischen Faktoren  und  Gesetzen  der  Einfluß  der  Lesegeschwindigkeit  beruht. 

Den  Schluß  der  Abhandlung  bildet  eine  Untersuchung  über  die  Wirkung  der  ein- 
zelnen Wiederholungen. 

Nach  einer  solchen  in  jeder  Hinsicht  exakten  Einleitung  kann  man  wohl  mit  ge-| 
spannter  Erwartung  an  die  einzelnen  Versuche  herantreten.  Leider  ist  man  da  sei 
enttäuscht!  Abgesehen  von  einzelnen  Zahlen  und  Rechnungen,  die  ich  persönlich  nie 
recht  verstehe,  machen  sich  große  Mängel  bemerkbar.  Die  Rotationsgcschwiudigkeit 
des  Kymographions  und  die  Wiederholungszahlen  waren  ie  nach  den  Versuchspersonc 
verschieden,  ein  Mangel,  der  sich  besonders  deutlich  in  §  7  geltend  macht,  wo  die  in^ 
viduellen  Differenzen  hinsichtlich  des  Richtigkeits-  und  Falschheitsbewußtseins  einer 


—    283    — 

sprechung  unterzogen  werden.  Gerade  bei  §  7  macht  sich  wie  überhaupt  bei  fast  allen 
Versuchen  ein  Umstand  unangenehm  geltend:  die  verschiedenen  Versuchspersonen  haben 
verschiedene  Reihen  zu  lernen.  Erst  bei  ganz  gleichen,  wenn  möglich  reichhaltigem, 
Material,  bei  gleichen  Versuchsbedingungen  und  einer  größeren  Anzahl  von  Versuchsper- 
sonen kommen  die  individuellen  Eigentümlichkeiten  des  Einzelnen  im  Gegensatz  zu  denen 
der  anderen  zum  Ausdruck.  Wenn  die  Versuchspersonen  A,  B,  C,  D  je  eine  verschie- 
dene Reihe  lernen,  2,  3,  4  oder  5  etwa,  so  wird  man  auch  indifiduelle  Eigentümlichkeiten 
finden,  aber  diese  lassen  keinen  Vergleich  zu.  Erst  wenn  die  Versuchspersonen  bei  den 
gleichen  Reihen  ihre  Beobachtungen  zu  Protokoll  geben,  dann  treten  die  Übereinstim- 
mungen wie  die  Differenzen  zu  Tage  und  ermöglichen  Schlüsse.  Dann  verwendet  E. 
meiner  Meinung  nach  bei  den  einzelnen  Beobachtungen,  bei  den  Versuchen  über  das 
unterstützte  Lernen  etwa,  zu  wenig  Versuchspersonen.  Nur  die  Beobachtung  der  indivi- 
duellen Unterschiede  und  Eigentümlichkeiten  vieler  kann  ziemlich  genaue  Resultate  er- 
geben. Auch  nähere  psychologische  Angaben  vermissen  wir  bei  einzelnen  Versuchen. 
So  §  2. :  Versuchsperson  0.,  der  das  Lernen  der  Silben  leicht  fiel,  zeigte ,  daß  im  Fort- 
schritte der  Versuchsreihe  die  Konzentration  der  Aufmerksamkeit  immer  mehr  nachließ. 
Eine  nähere  Begründung  dieser  Tatsache  wäre  psychologisch  vielleicht  sehr  interessant 
gewesen.  Denn  bloß  Neuheit  und  Ungeläufigkeit  der  Silbenfolgen  wird  nach  den  ersten 
Lesungen  im  Ganzen  doch  kaum  wesentlich  mehr  Einfluß  haben  auf  größere  oder  gerin- 
gere Konzentration  der  Aufmerksamkeit  als  nach  den  ersten  Lesungen  mit  gehäuften 
Wiederholungen  der  einzelnen  Takte !  Auch  das  Ergebnis :  Bestehen  die  einzuprägenden 
Paare  aus  ungeläufigen  Gliedern,  wie  das  bei  Silben  der  Fall  ist,  so  hat  das  Lesen  mit 
gehäuften  Wiederholungen  den  Vorzug  vor  dem  Lesen  im  Ganzen,  hätte  gleich  von  den 
ersten  Versuchen  an,  nicht  erst  in  §  13,  dahin  erläutert  werden  müssen,  daß  die  rück- 
wirkende Hemmung  bei  dem  Lernen  im  ganzen  eine  große  Rolle  spielt.  Handelt  es  sich 
nur  um  einen  paarweise  einzuprägenden  Stoff,  so  wird  beim  Lernen  im  Ganzen  die  inten- 
tionelle  Assoziation,  die  die  Glieder  eines  Paares  mit  einander  verbindet,  gewiß  starke 
Beeinträchtigung  erleiden,  durch  die  Assoziationen,  die  sich  zwischen  den  einzelnen  Paaren 
etwa  bilden.  Beim  Lesen  mit  gehäuften  Wiederholungen  kommt  dies  nicht  so  wesentlich 
in  Betracht. 

Im  zweiten  Hauptteile  untersucht  Ephrussi  den  Einfluß  der  Lesegeschwindigkeit 
auf  das  Einprägen  nach  dem  Treffer-  und  nach  dem  Erlernungsverfahren  hin.  Verfasserin 
kommt  zu  dem  Resultat,  daß,  das  rasche  Tempo  bei  der  Prüfung  des  Einflusses  der 
Lesegeschwindigkeit  mittels  des  E-Verfahrens  (Erlernungs-)  sich  ökonomischer  als  die 
langsameren  Tempi  erwies,  ergab  bei  Anwendung  des  T-Verfahrens  (Treffer-)  das  rasche 
Tempo  minderwertigere  Resultate  als  die  andern  Tempi.  Auf  die  mitgeteilten  Versuche 
allein  hin  kann  ich  mich  der  Folgerung  nicht  anschließen.  Von  den  mitgeteilten  Ver- 
suchsreihen bestanden  zwei  Reihen  aus  sinnlosen  Stellen,  eine  aus  Wort-  und  Zahlen- 
reihen zur  Prüfung  des  Trefferverfahrens.  Zur  Prüfung  des  Erlernungsverfahrens  be- 
standen zwei  Versuchsreihen  aus  deutschen  Strophen,  eine  Versuchsreihe  aus  russischen 
Strophen.  Die  vierte  Versuchsreihe  aus  sinnlosen  Silben  kann  insofern  nicht  als  voll- 
gültig betrachtet  werden,  weil  eine  genaue  Regulierung  der  Rotationsgeschwindigkeit 
nicht  möglich  war.  Leider  ist  aus  diesen  Gründen  auf  Grund  der  angeführten  Versuche 
eine  Prüfung  des  obigen  Resultates  nicht  möglich ;  denn  Verfasserin  bemerkt  sehr  richtig 
in  der  Einleitung:  „Es  hat  sich  dabei  (gemeint  ist  die  Anwendung  verschiedener  Arten 
von  Lemmaterial)  herausgestellt,  daß  die  Unterschiede  in  der  Art  des  Lernmaterials 
(namentlich  die  größere  oder  geringere  Geläufigkeit  desselben)  die  Resultate  nicht  nur 
in  quantitativer  Beziehung  beeinflussen,  sodaß  man  bei  verschiedenen  Stoffen  unter  sonst 

19* 


-    284    — 

gleichen  Umständen  direkt  entgegengesetzte  Resultate  erhalten  kann".  Dazu  kommt  die 
zum  I.Teile  gemachte  Bemerkung,  daß  jede  Versuchsperson  verschiedenes  Material  hat. 
Ob  die  weiterhin  in  §  19  angeführten  beiden  Versuche  ihre  volle  Gültigkeit  zur  Erklä- 
rung der  Beobachtung  der  §§16  und  17  haben  können,  ist  meines  Erachtens  zweifelhaft, 
da  besonders  die  Einstellung  des  Geistes  eine  ganz  andere  ist,  wenn  das  E- Verfahren 
Anwendung  findet  als  wenn  das  T-Verfahron  zur  Benutzung  kommt.  Diese  Einstellung 
wird  aber  die  erste  Zeit  ganz  unterdrückt,  wenn  die  Versuchsperson  darüber  im  Zweifel 
ist  welches  Verfahren  angewandt  wird.  Eine  Ergänzung  in  gewissem  Sinne  bieten  zu  den 
g§  IG  und  17  die  Versuchsreihen  35  und  36  in  §  21  in  denen  dargelegt  wird,  wie  sich 
der  Einfluß  der  Lesegeschwindigkeit  bei  Anwendung  des  T- Verfahrens  gestaltet,  wenn 
das  Vorzeigen  direkt  auf  das  Lesen  des  Stoffes  folgt. 

In  einem  Anhang  teilt  Ephrussi  einige  Versuche  mit  über  die  Wirkung  der  ein- 
zelnen Wiederholungen.  Diese  Versuche  sind  insoweit  zuverlässiger,  als  wenigstens  bei 
einer  Versuchsperson,  bei  Herrn  Prof.  Ebbinghaus,  vier  verschiedene  Versuchsreihen  be- 
obachtet wurden. 

All  diese  Bemerkungen  verursachen  eine  recht  große  Enttäuschung  nach  den  Er- 
wartungen, zu  denen  die  Einleitung  berechtigte.  Dazu  kommt  der  Gedanke  an  das,  was 
p]phrussi  hätte  bieten  können  bei  dem  so  reichhaltigen  Material  und  bei  der  großen  Zahl 
der  Versuchspersonen  (über  dreißig),  die  der  Vcrsuchsleiterin  zur  Verfügung  standen! 

Clemens  Knors,  Münster. 

Frederic  Tracy,  Psychologie  der  Kindheit.  Eine  Gesamtdar- 
stellung der  Kinderpsychologie  für  Seminaristen,  Studierende  und  Lehrer.  Deutsch  von 
Dr.  Josef  Stimpfl,  Kgl.  Seminarlehrer  in  Bamberg.  Zweite,  umgearbeitete  Auflage.  I^eipzig 
1908.    Verlag  von  Ernst  Wunderlich.     Preis  geh.  2  Mk.,  geb.  2,40  Mk. 

In  klarer  übersichtlicher  Weise  schildert  der  Verfasser ,  Professor  der  Psychologie 
an  der  Universität  zu  Toronto)  das  allmähliche  Erwachen  der  Kindesseele,  wie  sie  sich 
äußert  in  den  Sinnen,  dem  Verstände,  den  Gefühlen,  dem  Willen,  der  Sprache,  den  ästhe- 
tischen, moralischen  und  religiösen  Vorstellungen.  Das  umfangreiche  Material,  auf  das 
sich  die  Beobachtungen  stützen,  wurde  gewonnen  an  Fixperimenten  an  amerikanischen, 
dänischen,  deutschen,  italienischen,  schwedischen  Schulkindern;  die  Beobachtungen  selbst 
wurden  von  bekannten  Forschern  gemacht,  von  Darwin,  Kußmaul ,  Preyer,  Sigismund, 
Witkowski  und  vielen  andern.  Meistens  gibt  eine  kurze  Beschreibung  der  Versuche  viele 
Anregung  für  die  eigene  Beobachtung  der  Erzieher  und  Lehrer,  zumal  Verfasser  die 
experimentellen  Ergebnisse  neben  einander  stellen  und  vergleichen,  dem  Erzieher  jedoch 
an  der  Hand  eigener  Beobachtung  eine  eigene  Entscheidung  überlassen.  Den  Äuße- 
rungen der  Kindesseelc  in  ihrer  mannigfachen  Beziehung  ist  meist  ein  Hinweis  auf  ihre 
Bedeutung  beigefügt.  Zahlreiche  Winke  für  ihre  besondere  Ausbildung  und  Veredelung 
und  womöglich  hygienische  Bemerkungen  folgen  den  Darstellungen. 

Das   mit   zahlreichen  Abbildungen    nach  Levinstein   und  Kerschensteiner  eri 
VI.  Kapitel    gibt    eine   interessante  Darstellung   der  Entwicklung   des  kindlichen  Schon- 
heitssinnes,  der  Beurteilung  des  Schönen  und  der  bildlichen  Wiedergabe  der  dargo»"  ♦♦-'>" 
Gegenstände.    Im  Gegensatz   zu   der  Entwicklung    der  zeichnerischen  Dantelluii 
des  Kindes  in  Bezug  auf  die  Gegenstände  der  Darstellung  entwickeln  Verfasser  dei 
heitssinn  nach  der  Art  der  Darstellung.    Sie   dehnen   die  Untersuchungen  aus    > 
Zeichnungen  dreizehn-  und  vierzehnjähriger  Kinder.    Sie   unterscheiden   so   fünf  Stufen 
1.   Die  Stufe  des  unbestimmten  formlosen  Gekritzels,  2.  die  Stufe  des  Schemas  oder  d 
Wiederschrift  begrifllicher  Merkmale,  3.  die  Stufe   des  beginnenden  Linien-  und  FornKl 


'^ 


—    285    — 

gefühls,  4.  die  Stufe  der  erscheinungsgemäßen  Darstellung  oder  die  Stufe  der  Silhouette 
oder  dss  Umrisses,  5.  die  Stufen  der  formgemäßen  Darstellung. 

Nachdem  Verfasser  in  den  sechs  ersten  Kapiteln  von  den  krankhaften  Störungen 
des  kindlichen  Seelenlebens  nur  die  einfachen  Störungen  dargelegt  haben,  folgt  im  siebten 
Kapitel  eine  allgemeine  Übersicht  über  die  zusammengesetzten  Seelenstörungen,  die  Psy- 
chopathien. So  enthält  das  Werk  alles,  was  man  in  einer  Darstellung  der  Psychologie 
der  Kindheit  zu  finden  erwarten  darf.  Nur  einen  wesentlichen  Punkt  im  Kindesleben 
haben  meiner  Meinung  nach  die  Verfasser  alzu  wenig  berücksichtigt,  ich  meine  die  Spiele 
und  die  dichterische  Phantasie  des  Kindes.  Der  Abschnitt  über  Einbildungskraft,  in  dem 
sich  ein  Hinweis  hierauf  findet,  ist  doch  allzu  beschränkt  für  das  unbegrenzte  Feld,  auf 
dem  sich  hier  das  Kind  bewegt.  Unbedingt  hätte  auch  darauf  hingewiesen  werden  müssen 
bei  den  Assoziationen.  Statt  dessen  bringen  Verfasser  die  alten  Gesetze  der  Ähnlichkeit 
und  der  Berührung  oder  Gleichzeitigkeit,  Gesetze,  denen  doch  gerade  der  Geist  des  Kindes 
im  Spiel  und  dichterischer  Phantasie  zu  spotten  scheint. 

Das  mit  viel  Liebe  und  Interesse  geschriebene  Werk  ist  nicht  so  sehr  als  wissen- 
schaftliches Werk  vielmehr  als  ein  recht  praktisches  Handbuch  für  Erzieher  und  Lehrer 
zu  empfehlen.  Es  bringt  in  recht  anschaulicher  Weise  die  „Entwicklung  des  seelischen 
Lebens  im  Kinde  nach  ihrem  normalen  Verlaufe  und  ihren  wichtigsten  pathologischen 
Zuständen,  sowie  die  hauptsächlichen  Erscheinungen  und  Vorgänge  des  Seelenlebens  und 
ihre  Gesetze  zum  Verständnis".    (Neue  Lehrpläne  der  preußischen  Lehrerseminare). 

Clemens    Knors,    Münster. 


Gemelli,  Sulla  teoria  somatika  delle  emozioni  (Über  die  physiolo- 
gische Theorie  des  Gefühls).  Rivista  di  Filosofia  Neoscolastica,  herausg.  von  G.  Canella 
und  A.  Camelli.     Jahrgang  I,  Nr.  1,  Jan.  1909. 

Der  Verfasser  gibt  einen  kritischen  Bericht  über  die  neueren  Versuche,  eine  „so- 
matische" Theorie  des  Gefühls  zu  gewinnen,  und  stellt  die  Veröffentlichung  eigener  Unter- 
suchungen in  Aussicht.  Er  erwähnt  die  Ansicht  von  de  Sarle:  „Man  unterdrücke  alle 
physiologischen  Phänomene,  welche  die  Gefühle  kennzeichnen  und  das  Gefühl  selbst  exi- 
stiert nicht  mehr".  Dagegen  bemerkt  der  Verfasser,  daß  man  dabei  nicht  scheidet  zwischen 
der  Frage,  ob  die  körperlichen  Phänomene  die  notwendige  Begleiterscheinung  oder  die 
konstituierende  Ursache  der  Gefühle  sind.  Zu  der  Theorie  Carl  Langes  bringt  der  Ver- 
fasser Einwände,  die  gewöhnlich  erhoben  werden.  Den  Ausgangspunkt  der  sematischen 
Gefühlstheorien  liegt  nach  G.s  Ansicht  in  der  Tatsache,  daß  jedes  Gefühl  begleitet  wird 
von  miraischen  und  organischen  Veränderungen,  vor  allem  Zirkulationsveränderungen. 
Durch  die  experimentelle  Erforschung  des  Gefühls  ist  die  Parallelität  dieser  körperlichen 
Vorgänge  mit  den  Gefühlen  festgestellt  worden.  Danach  muß  man  annehmen,  daß  jede 
Steigerung  der  psychischen  Tätigkeit  eine  Vermehrung  der  Zirkulation  mit  sich  bringt, 
und  zwar  eine  Vermehrung  der  zerebralen  Zirkulation  bei  gleichzeitiger  Verminderung 
der  peripheren.  Nach  Lembard  und  Mosso  haben  ferner  die  Gefühle  eine  weniger  deut- 
liche zerebrale  Zirkulationsveränderung  zur  Folge  als  die  intellektuellen  Prozesse.  Sodann 
erwähnt  der  Verfasser  de  Theorir  von  Francis  Frank,  nach  der  die  Veränderung  der 
Aktivität  des  Gehirns  abhängen  von  dem  arteriellen  Blutdruck.  Sodann  werden  die  The- 
orien von  Lange,  James  und  Sergi  erwähnt,  ihre  gemeinsamen  Gedanken  wurden  zusammen- 
gefaßt und  an  den  bekannten  Schematen  dargestellt,  und  dann  die  Unterschiede  der  drei 
Theorien  besprochen.  Nach  Lange  sollen  bekanntlich  die  vasemotorischen  Veränderungen 
die  primäre  sein,  was  James  und  Sergi  leugnen;  da  nun  Lange  natürlich   die  vasomoto- 


—    286    — 

rischen  Reaktionen  von  einem  bestimmten  Zentnim  ausgehen  läßt,  so  kann  man  seine 
Theorie  auch  eine  zentrale  nennen.  Anders  steht  es  bei  der  Theorie  von  James.  J.  legt 
den  Hauptnachdruck  auf  die  viszeralen  und  vaskulären  Reakrieren  einerseits  und  die  Ver- 
änderungen des  mimischen  und  physiognomischen  Ausdrucks  andererseits.  Seine  Theorie 
ist  in  diesem  Sinne  eine  wirklich  periphere.  Im  Unterschiede  von  Sergi,  der  alle  Gefühle 
mit  seiner  Theorie  erklären  will,  zieht  James  nur  die  gröberen  Gefühle  in  den  Bereich 
seiner  Theorie,  (Furcht,  Zorn,  Liebe,  Schmerz),  während  er  die  feineren  davon  ausnehmen 
will  (intellektuelle  und  aesthetische).  Diesen  Theorien  steht  bekanntlich  gegenüber  die  „zen- 
trale" Theorie  von  Sollier.  Er  läßt  bekanntlich  die  Gefühlserregbarkeit  (Emotivität) 
scheiden  von  den  einzelnen  Gefühlen,  Die  erstere  hängt  ab  von  der  Leichtigkeit,  mit  der 
im  Gehirn  diffuse  oder  ausgebreitete  Erregungen  entstehen,  auf  Grund  von  Reizen,  sei  es 
weil  die  Widerstandsfähigkeit  der  Zentren  vermindert  ist,  sei  es  weil  eine  allzuheftige 
Explosion  der  Erregung  erfolgt,  oder  aus  anderen  Ursachen.  Das  Gefühl  hat  daher  nach 
S.  ausschließlich  zerebrale  Ursachen.  Mit  Recht  stimmt  dann  der  Verfasser  D'  Allones 
darin  bei,  daß  Sollier  irrt,  wenn  er  die  übrigen  Theorien  als  rein  periphere  ansieht,  und 
unter  dieser  Voraussetzung  bekämpft.  Über  die  Fortsetzung  des  Artikels  werden  wir 
nach  Erscheinen  berichten. 

B.  Rüders  (Münster). 

E  p  i  1  e  p  s  i  a ,  Revue  internationale  trimestrielle,  consacree  ä  l'etude  au  point  de  vue 
pathologique,  therapeutique,  social  et  juridique  de  l'Epilepsie  et  des  maladies  nerveuse» 
du  meme  ordre,  sous  le  patronage  de  W.  Bechterew,  0.  Binswanger,  J.  Ilughllns  Jackson, 
L.  Luciani,  IL  Obersteiner,  F.  Kaymond,  Amsterdam,  Scheltema  und  Ilolkema;  Leipzig, 
J.  A.  Barth,  1909.    Erster  Jahrgang,  Nr.  1.    Jährlich  Mk.  18. 

Diese  neue  internationale  Zeitschrift  widmet  sich  ausschließlich  dem  Studium  der 
Epilepsie  und  verwandter  Erkrankungen.  Die  Redaktiom  wird  geführt  von  Bruns  (Han- 
nover), Bramwell  (Edinburg),  Bratz  (Wuhlgarten),  Grainger  Stewart  (London),  Lejonne 
(Paris),  Maes  (Werwick,  Belgien),  Perusini  (Rom),  Southard  (Boston),  Stransky  (Wien), 
Suchof  (Moskau),  Heinrich  Vogt,  (Frankfurt  a.  M.). 

Aus  der  Ankündigung  sei  hervorgehoben,  daß  die  Zerstreuung  der  Literatur  über 
die  wichtigsten  Krankheitsformen  allerseits  als  ein  Mangel  empfunden  werde,  aus  diesem 
Bedürfnis  sind  schon  verschiedene  internationale  Zeitschriften  auf  dem  Gebiet  der  Patho- 
logie hervorgegangen.  Einen  weiteren  Anlaß  zur  Gründung  der  vorliegenden  Zeitschrift 
gab  die  Erfahrung,  daß  ein  Bestreben  nach  internationalem  Zusammenarbeiten,  speziell 
auf  dem  Gebiete  der  medizinischen  Wissenschaften  sich  überall  Bahn  gebrochen  hat. 
Grade  für  die  Kenntnis  der  Epilepsie  erscheint  es  aber  wünschenswert,  daß  der  Neurologe, 
der  Psychiater,  der  Chemiker,  Jurist,  Physiologe  und  Anatom  zusammenarbeiten. 

Die  Zeitschrift  ist  vorläufig  als  Vierteljahrschrift  gedacht.  Sie  bringt  Originalartikel 
und  Referate.  Der  Inhalt  dieses  ersten  Heftes  ist:  Raymond  und  Serieux,  La  responsa- 
bilitd  et  la  condition  sociale  des  Epileptiques.  (Darauf  folgt  eine  Zusammenfassung 
dieser  Arbeit  in  deutscher  Sprache).  Otto  Binswanger,  Aufgaben  und  Ziele  der  Epilepsie- 
forschung. Emil  Redlich,  Bemerkungen  zur  Alkoholepilepsic,  (hierauf  eine  Zusammen- 
fassung des  Artikels  in  englischer  S])rache).  L.  J.  J.  Muskens,  Prodromal  motor  sensor}" 
and  other  Symptoms  and  their  clinical  significance.  (Deutsche  Zusanunenfassoog  dieser 
Abhandlung).  Es  folgen  reiche  Referate  über  die  verschiedenen  Spezialgebiete  der  Epi- 
lepsieforschung. 

Meumann. 


m 


—    287    — 

W.  Wickley  und  H.  Siihning,  Neue  Fibel  nach  rein  phonetischem  Prinzip  und 
der  auflösend-zusammensetzenden  Lehrweise.  Ausgabe  C  für  Volksschulen  mit  den  Schrift- 
formen des  preußisclien  Normalalphabets,  A.  Steins  Verlagsbuchhandlung,  Berlin-Ha- 
lensee,  Potsdam,  Leipzig. 

Wenn  selbst  der  bewährte  Lesemethodiker  Heinrich  Fechner-Berlin,  der  Träger  der 
phonetischen  Idee,  es  für  nötig  erachtet,  seinen  bereits  in  X  Auflagen  und  Y  Ausgaben 
erschienenen  Fibeln  den  dermaligen  Mode  -  Reklameschild  „auf  phonetischer  Grund- 
lage" beizugeben,  so  kann  man  es  neueren  Fibelschreibern  gewiß  nicht  verübeln,  wenn 
ihre  Büchlein  ähnliche  Zusätze  auf  dem  Titel  tragen.  Wenn  aber  die  Berücksichtigung 
der  Lautbildungslehre  nun  gar  durch  Aufschriften  wie  „nach  rein  phonetischem 
Prinzip"  angekündigt  werden,  dann  ist  es  angesichts  schreiender  Fibelmißgeburten 
denn  doch  endlich  Zeit,  im  Interesse  des  ersten  Schulunterrichts  ernstlich  Stellung  gegen 
eine  folgenschwere  Verirrung  ins  Bereich  formalistischer  Extreme  zu  nehmen.  Gewiß 
begrüßen  auch  wir  älteren  Fibelschreiber  die  uns  von  der  Sprachphysiologie  aus  gewordene 
Unterstützung  bei  der  Verwirklichung  des  längst  akzeptierten  Grundsatzes :  „Vom  Leichten 
zum  Schweren !"  ;  wohl  ist  das  phonetische  Prinzip  im  Lehrgange  des  grundlegenden 
Leseunterrichts  tunlichst  zu  beachten,  so  sehr,  daß  wir  seine  Berücksichtigung  für 
selbstTerstäudlich  erklären  und  jedem  Fibelschreiber,  der  es  gröblich  ignoriert,  die  Kom- 
petenz in  der  Elementarmethodik  schlechterdings  absprechen ;  allein  es  ist  eben,  wie  wir 
schon  oben  bei  der  Besprechung  des  Kehrschen  Sprachunterrichts  betonten,  nur  ein 
Prinzip,  nicht  das  einzige  und  trotz  allem  nicht  das  höchste.  Wo  es  sich  nun  um  einen 
Widerstreit  methodologischer  Grundsätze  handelt,  da  reden  wir  immer  einem  versöhnlichen 
Ausgleich  im  Sinne  einer  pädagogisch  und  didaktisch  zweckdienlichen  Rangordnung  das 
Wort.  Sind  doch  selbst  die  Vertreter  der  AVissenschaft  bezüglich  der  Reihenfolge,  in 
welcher  die  kleinen  Leseschüler  die  Laute  einzeln  und  in  Verbindungen  kennen  lernen 
sollen,  nicht  einig ;  ist  doch  das  Lesen  nicht  A  und  0  des  ersten  Unterrichts  und  außer- 
dem zu  beachten,  daß  wir  es  bei  normalen  Schülern  nicht  mit  der  Heilung  von  Sprach- 
fehlern zu  tun  haben,  daß  die  uns  zugewiesenen  schulpflichtigen  Kinder  trotz  erforder- 
licher Sprachkultivierung  zumeist  samt  und  sonders  schon  sprechen  können,  nach  unseren 
Voraussetzungen  sprechen  können  müssen;  ja  wir  leben  der  durch  Erfahrung  und  Expe- 
riment gewonnenen  Ueberzeugung,  daß  für  unsere  Anfänger  die  Sprech-  und  Leseschwie- 
rigkeiten fast  ebensowenig  wie  die  Lese-  und  Schreibschwierigkeiten  zusammenfallen,  wie 
auch  anderseits  bislang  der  Unterschied  graduell  so  minimal  ist,  daß  nur  kleingeistige 
Schulpedanterie  oder  schrullenhafte  Neuerungssucht  das  Höhere  dem  Geringeren  unter- 
ordnen könnte.  So  weit  dürfen  sich,  wollen  wir  nicht  mit  einem  Schritt  100  Jahre  rück- 
wärts in  das  Zeitalter  der  ribs-rabs-rubs,  schnirbls-schnarbls-schnurbls-Periode  schreiten, 
die  Fachspezialisten  denn  doch  nicht  in  unsere,.  Berufswissenschaft  einmischen. 

Wer  trotz  dieser  Erwägungen  der  geistlosen  Betonung  des  phonetischen  Prinzips 
das  Wort  redet,  der  bleibe  wenigstens  seinem  Versprechen  treu ;  inkonsequent  aber  wird 
er  unstreitig,  wenn  er  beispielsweise  wie  Wickley  und  Lühning  das  n  vor  dem  m,  ja 
schon  als  dritten  Laut  einführt,  auf  der  dritten  Seite  schon  zweiteilige  Wörter  wie  ei-ne- 
sei-ne  aufwartet  und  durch  die  Reihenfolge:  i,  e,  n,  u  (I.  Stufe,  I.  Gruppe),  der  man 
die  graphischen  Absichten  auf  den  ersten  Blick  ansieht,  klipp  und  klar  verrät,  daß  es 
ihm  um  die  ausschließende  „Reinheit"  des  phonetischen  Prinzips  nicht  so  ernst  ist;  voll- 
ständig zugetan  bleiben  die  Verfasser  dem  angekündigten  Formalismus  allerdings  in- 
sofern, als  sie  auf  der  ganzen  ersten  Stufe  (bis  S.  46)  das  Sachprinzip  auch 
in  jeder  Hinsicht  schlankweg  ignorieren  und  von  A  bis  Z  beweisen,  daß  es  ihnen  nur 
ums  gründliche  Lesenlernen  zu  tun  ist.  Wer  eine  solche  Fibel  sucht,  der  gehe  nicht 
achtlos  an  vorliegender  vorüber.  L.  F.  Göbelbecker. 


—     288    — . 

Victor  Mcrcante,  Ensenanza  de  la  Aritmetica.  Libro  I:  Psicologia  de  la 
Aptitud  matematica  del  nino,  ö90  Seiten.  Bucno-Aires,  Cabaut  y  C-ia.  1904.  —  Libro 
II:  Caltivo  y  desarrollo  de  la  Aptitud  matematica  del  nifio.    726  Seiten.    Ebenda  11K)5)') 

Das  erste  Buch  ist  eine  eigenartige  Psychologie  der  mathematischen  Fähigkeiten 
des  Kindes  (Schülers),  das  zweite  eine  eigenartige  Methodikpflege  und  Entwicklung  der 
mathematischen  Fähigkeiten  des  Kindes.  Nach  einer  Uebersicht  der  Entwicklung  der 
Mathematik  und  des  mathematischen  Unterrichtes  weist  Mercante  auf  die  Notwendig- 
keit des  psychologischen  Studiums  hin,  wobei  er  einen  ziemlich  extremen  physiologischen 
Standpunkt  vertritt. 

Das  Nervensystem,  die  letzte  Etappe  der  Entwicklung  der  belebten  Materie  (R  a  m  o  n 
y  Cajal),  ist  wie  ein  Vervollkommnungsapparat,  bestimmt  zu  sammeln,  zu  unterscheiden 
und  die  peripherischen  Reize  zu  klassitizieren,  sowie  auch  um  den  Bewegungen  selbst 
mehr  Schnelligkeit  und  Präzision  zu  geben,  die  unnötigen  oder  schädlichen  Reaktionen 
(parasitäre  Reaktionen)  zu  entfernen.  Auf  den  sensorischen  Sphären  des  Gehirns  proji- 
zieren sich  die  Eindrücke  der  Sinne;  die  kortikalen  Zellen  ermöglichen  die  primäre 
Identifikation  oder  das  sensorielle  Erkennen,  die  transkortikalen  Fibrillenbündel  realisieren 
die  sekundäre  Identifikation.  Das  Gehirn  ist  also  ein  Assoziationsorgan  und  die  höchste 
seiner  Aktionen,  das  Bewußtsein,  eine  Funktion  der  zentralen  Projektionsgebiete,  eine 
Funktion  der  Gehirnrinde  nach  Wer  nicke).  Es  gibt  für  den  Autor  keine  anderen 
Realitäten  als  die  der  Assoziationswege,  unablässig  durchlaufen  von  Eindrücken,  welche 
von  der  äußeren  Welt  sich  auf  die  Territorien  der  Gehirnrinde  i)rojizieren.  Die  peri- 
pherischen Impressionen  pflanzen  sich  von  den  Sinneszentren  auf  die  Konduktoren.  Neu- 
ronen zum  Zentralnervensystem  fort  gleich  einer  Lawine  (Golgi,  Gesetz  der  Lawine). 
Die  Intelligenz  und  die  Extension  der  einzelnen  Fähigkeiten  hängt  von  der  Qualität  und 
Quantität  der  Gehirnsubstanz  und  von  der  Schnelligkeit,  mit  welcher  die  Zentren  inte- 
grieren, ab.  Die  Intelligenz  ist  proportional  der  Zahl  und  Anordnung  der  Zellen.  Die 
Funktion  einer  psychischen  Zelle  ist  um  so  lebendiger,  je  größer  die  Anzahl  der  proto- 
plasmatischen Prolongationen  ist  und  je  reichlicher,  größer  und  verzweigter  die  Kolate- 
ralen  der  Axome  sind  (Kölliker).  Die  Aufmerksamkeit  erzeugt,  sobald  sie  sich  auf 
eine  Idee  oder  eine  kleine  Anzahl  von  assoziierten  Ideen  rekonzentriert,  außer  der  in- 
tensiven Kontraktion  der  Zellen  auch  eine  aktive  Kongestion  der  Kapillaren  des  betreffenden 
Zentrums,  was  die  Intensität  der  Nervenwelle  begünstigt,  unter  Erreichung  des  Maximums 
der  Phänomene  der  Wärme  und  des  vitalen  Metabolismus.  Diese  Hyperämien  markieren 
das  Moment  von  größerer  intellektueller  Potenz,  wenn  das  Blut  reine  Naturkraft  be- 
wahrt (mit  Cajal).  So  können  verschiedene  physiologische  Störungen  die  Zirkulation 
verzögern  und  darunter  leiden  die  psychischen  Leistungen.  Das  ungefähr  sind  die  llaui)t- 
gedanken  dieser  etwas  merkwürdigen  „Psychologie". 

Man  muß  den  Schüler  kennen,  damit  man  ihn  erziehen  kann.  Die  Psychologie  als 
Hilfswissenschaft  der  Pädagogik  ist  aber  nicht  imstande,  die  nötigen  Kenntnisse  zu  uebon, 
wie  es  vom  intellektuellen  Gesichtspunkt  aus  behauptet  wird;  das  mühevolle  Studium 
einer  Psychologie,  etwa  von  Sergi,  Sully  oder  James  ist  für  den  Lehrer  nichts  weiter 
als  eine  theoretische  Uebung.  Die  Unterrichtsmethoden  kommen  nicht  vorwärts  dunh 
die  Kenntnis  etwa  des  Prozesses  oder  der  Wege,  auf  welchen  eine  Perzcption  in  eine 
Idee  und  Bewegung  sich  umwandelt  nach  ilervorrufung  einer  komplizierten  Reihe  vcn 
Integrationen     Deswegen   sind  Experimente   nötig,  welche  für   die  Schule   zwei  Zwecke 


1)  Abdruck  aus  dem  Archiv  für  die  ges.  Psychologie,  Band  XV,  1909. 


—    289    — 


haben:  einen  psychologischen  und  einen  pädagogischen.  Die  Pädagogik  ist  eine  Kunst, 
möglichst  viel  mit  möglichst  wenig  Mitteln  zu  lehren.  Das  bisherige  Verfahren  der  Pä- 
dagogik, von  zufälligen  Beobachtungen  aus  schnell  zu  allgemeinen  Prinzipien  zu  gelangen, 
ist  unzulänglich.  Der  Autor  ist  mit  13  o  u  r  d  o  n  darin  einig,  daß  die  alte  Pädagogik  sich 
nicht  verjüngen,  sondern  verschwinden  soll.  —  Wie?  —  Durch  Experimentieren.  Eine 
scholare  kollektive  Psychologie  ist  noch  nicht  geschaflfen ;  der  Autor  glaubt,  seine  Skizzen 
auf  dem  Gebiete  der  Arithmetik  seien  vielleicht  die  ersten  Versuche  dazu  ^).  Auch  Psy- 
chologen von  Ruf,  wie  Bin  et  und  andere,  sind  keine  Lehrer;  sie  machen  ihre  Unter- 
suchungen in  den  gut  ausgestatteten  Laboratorien  und  es  ist  deswegen  nicht  verwunderlich, 
daß  die  Ableitungen  solcher  Gelehrter  keine  Anwendung  in  der  Praxis  finden  können. 
Die  große  Variabilität  der  einzelnen  Schüler  in  einer  Klasse  der  Begabung  und  dem 
Alter  nach  erfordert  besondere  Untersuchungen,  die  die  spezifischen  Verhältnisse  in  Be- 
tracht ziehen  müssen. 

Den  experimentellen  Untersuchungen,  die  der  Autor  zur  Erforschung  der  mathe- 
matischen Fähigkeiten  des  Schülers  unternimmt,  liegt  die  Annahme  zugrunde,  daß  die 
mathematische  Fähigkeit  des  Schülers  sich  umgekehrt  proportional  verhält  zu  gewissen 
„Reaktionszeiten",  die  man  erhalten  kann,  indem  man  ihn  Additionen,  Subtraktionen, 
Multiplikationen  ausführen  oder  Zahlen  lesen  läßt.  Das  mathematische  Phänomen  ist 
eine  Integration,  welche  mit  einer  akustischen  oder  visuellen  Perzeption  beginnt  und  mit 
einem  motorischen  Akt  schließt  nach  einem  komplizierten  inneren  Komperationsprozeß, 
einem  Prozeß  von  Abstraktion,  Generalisierung  und  Kombination.  Währenddessen  prä- 
sentieren schon  konstituierte  und  ausgewählte  Assoziationen  ihren  Zusammenfluß,  und 
von  diesem  Vorgang  hängen  zwei  Fundamentalqualitäten  ab:Exaktheit  und  Schnellig- 
keit. Die  rechnerische  Fähigkeit  entwickelt  sich  intensiv  und  extensiv.  Der  Prozeß 
ist  identisch  für  alle  mathematischen  Phänomene;  es  variiert  nur  die  Qualität  der  Asso- 
ziationen, welche  als  Elemente  zusammenwirken,  um  andere  kompliziertere  Ganze  zu 
bilden.  Merc ante  unternimmt  zwanzig  verschiedene  Experimente,  die  eine 
nähere  Betrachtung  verdienen.  Sie  wurden  während  des  Schuljahres  1902  gemacht  mit 
den  Schülern  einer  sechsstufigen  Schule.  Die  nachfolgende  Tabelle  I  läßt  die  Zahl  der 
Knaben  und  Mädchen  sowie  die  Altersverhältnisse  jeder  Klasse  ersehen. 

Tabelle  L 


Klassen 

Summa 

I 

II 

III  (I.)^) 

III  (S.) 

IV 

V 

VI 

Anzahl  der  Schüler 

Mädchen 
Knaben 

14 

19 

13 

18 

15 

8 

25 
9 

20 
13 

29 
17 

18 
9 

134 
93 

Alter  der  Schüler. 

Mädchen 
Knaben 

7,7 
7,8 

10,1 
10,1 

11,15 
11 

12,5 
12 

13 
12,7 

14,1 
13,5 

15,30 
15,1 

1)  Er  hat  die  Absicht,  in  gleicher  Weise  die  Methodik  aller  Lehrfächer  auf  Grund 
^^^—'^w  Experimenten  zu  bearbeiten,  dabei  sind  ihm,  wie  es  scheint,  alle  übrigen  Bemühungen 

der  experimentellen  Pädagogik,  besonders  in  Deutschland,  völlig  entgangen. 

2)  III  (Interior)  ist  eine  Repititionsklasse. 


—    290    — 

Bevor  aber  die  einzelnen  Experimente  besprochen  werden,  ist  es  nötig,  einiges  über 
das  Scliulprogramm  in  Argentinien  'vorauszuschicken.  Dasselbe  variiert  sehr,  weil  die 
einzelnen  Provinzen  in  der  Gestaltung  des  Unterrichts  völlig  freie  Iland  haben.  Im 
zweiten  Buch  des  Werkes  betrachtet  Mercante  die  Frage  sehr  ausführlich.  Er  unter- 
scheidet die  bekannten  drei  Typen :  synthetisch,  synthetisch-analytisch  und  zyklisch ;  er 
selbst  ist  für  den  letzten  und  gibt  auch  ein  besonderes  Programm  an,  nach  Monaten  und 
Stunden  geteilt,  welches  er  auf  die  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  aufgebaut  zu  haben 
glaubt.  In  Buenos-Aires  scheint  folgendes  Programm  vom  synthetischen  Typus  geherrscht 
zu  haben,  als  die  Experimente  stattfanden:  Erstes  Jahr:  Zählen  bis  KHK),  Additions-  und 
Subtraktionsaufgaben.  Kenntnis  der  Nationalmünzen  und  des  metrischen  Systems.  — 
Zweites  Jahr :  Zählen  bis  1  ()0Ü  OUü,  Aufgaben  der  vier  Operationen.  Kenntnis  der  Na- 
tionalmünzen und  des  metrischen  Systems.  —  Drittes  Jahr:  Komplettes  Zählen.  Opera- 
tionen mit  Ganzen  und  Dezimalen.  Kenntnis  der  Nationalmünzen  und  des  metrischen 
Systems.  Geometrische  Aufgaben.  —  Viertes  Jahr:  Konkrete  Aufgaben  über  die  vier 
Operationen  mit  ganzen  Zahlen  und  Dezimalen.  Komplettes  des  metrischen  Systems  und 
der  Nationalmünzen.  Kaufmännisches  Rechnen.  —  Fünftes  Jahr:  Ilandelsarithmetik.  — 
Sechstes  Jahr:  Generalrevision  des  in  den  früheren  Jahren  Gelernten.  —  Dies  Programm 
muß  man  im  Auge  behalten,  um  die  Versuche  Mercantes  verstehen  zu  können. 

Das  erste  Experiment  betrifft  das  Zählen  bei  angepaßter  Aufmerksamkeit. 
In  der  Mitte  der  Tafel,  etwa  in  der  Augenhöhe  des  Prüflings,  wird  ein  Blatt  weißes 
Papier  befestigt  von  21  x  14,4  cm.  Fläche  karriert  durch  blaue  Linien  von  geringer  In- 
tensität :  jedes  Quadrat  mißt  5x5  mm.  Der  Schüler  mußte  die  horizontalen  Linien  von 
oben  nach  unten  auf  der  vertikalen  Linie,  die  durch  den  Mittelpunkt  geht,  zählen.  Dabei 
darf  er  nicht  näher  als  50  cm  an  die  Tafel  herantreten.  Die  „Reaktionszeit"  wird  von 
dem  Augenblick  an  gemessen,  wo  der  Schüler  auf  den  Befehl  zu  lesen  mit  1  anfangt 
und  bis  zu  der  letzten  Zahl,  die  er  ausspricht.  Die  einzelnen  Schüler  beginnen  gewöhnlich 
langsam  zu  zählen,  gegen  5  oder  6  Linien  scheint  es  leichter  zu  gehen,  in  mehr  oder 
weniger  kurzen  Zwischenräumen  werden  dann  kleine  Ruhei)ausen  bemerkt.  Der  Schüler 
versucht  die  Hand  auf  irgendetwas  zu  stützen,  er  sucht  eine  Festigkeit  für  seinen  Körper 
zu  finden.  „Wenn  wir  die  Schüler  der  ersten  Klasse  ausscheiden",  sagt  der  Autor,  „ist 
das  Zählen  ein  Phänomen  der  visuellen  Akkomodation.  Die  Augen  realisieren  eine  Reihe 
von  Bewegungen  und  Ruhepausen,  mit  welchen  die  Aeußerung  der  Zahl  zusammenfällt". 
Die  Fehler  müssen  dem  Mangel  an  Koinzidenz  zwischen  den  Linien  und  der  gebührenden 
Ruhepause  und  einer  irrigen  Bewegung  des  Auges  zugeschrieben  werden  und  sie  ent- 
stehen durch  Kurzsichtigkeit,  muskuläre  Müdigkeit  infolge  der  angestrengten  Fixation, 
Ermüdung  der  Retina,  oder  Bildung  von  Nachbildern. 

Von  den  durch  Tabellen  und  Kurven  reichlich  illustrierten  Resultaten  dieses  Ex- 
perimentes sei  nur  hervorgehoben,  daß  kein  Mädchen  der  1.  Kl.  und  kein  Knabe  der  11. 
Kl.  die  richtige  Zahl  getroffen  hat.     Von  der  I.  Kl.   haben    nur  10  7o   Knaben,   von   der 

II.  Kl.  15  7o  Mädchen,  von  der   III.  (I.)-Kl.  50 7o   Knaben   und  2(>»/o  Mädchen,    von    dor 

III.  (S.)-Kl.  220/ü  Knaben  und  20«/o  Mädchen,  von  der  IV.  Kl.  45 »/o  Knaben  und  35  ,, 
Mädchen,  von  der  V.  Kl.  33  7o  Knaben  und  507«  Mädchen  und  von  der  VI.  KI.  22",, 
und  1 1  7o  Mädchen  richtig  gezählt.  Mit  Ausnahme  der  I.  Klasse  zeigen  alle  anderen 
Klassen  mehr  Ueberschüsse  als  Fehlbeträge  beim  Zählen.  Mit  Ueberschuß  bzw.  Fehllx - 
träge  wird  bezeichnet  die  Differenz  zwischen  31,  der  Zahl  der  zu  zählenden  Linien,  und 
einer  größeren  bzw.  kleineren  Zahl,  die  der  Schüler  angibt).  Die  mittlere  Zeit,  die  zum 
Zählen  jeder  Linie  gebraucht  wird,  zeigt  ein  Verhältnis  zwischen  der  I.  und  VI.  KL  von 


—    291    ~ 

2,3  bei  den  Knaben  und  1,5  bei  den  Mädchen.  Demgemäß  soll  die  intellektuelle  Ent- 
wicklung der  Knaben  beziiglieh  der  Schnelligkeit  fast  doppelt  so  hoch  gewertet  werden 
als  die  der  Mädchen. 

Mercante  fügt  noch  einige  Bemerkungen  zu  den  Ergebnissen,  von  welchen  fol- 
gende die  wichtigsten  sind:  1)  Die  Knaben  zählen  mit  mehr  Exaktheit  als  die  Mädchen 
(größere  Kraft  der  Aufmerksamkeit).  2)  Die  Akkommodation  und  Konvergenz  der  Augen 
ist  bei  den  Knaben  rascher  und  ermüdet  weniger  als  bei  den  Mädchen,  weshalb  jene  die 
Tendenz  haben,  höhere  Quantitäten  anzugeben  als  diese.  3)  Die  Knaben  zählen  rascher 
als  die  Mädchen  (raschere  intellektuelle  Integration).  Knaben  brauchen  pro  Linie  0,657 
Sekunden,  Mädchen  pro  Linie  0,709  Sekunden.  4)  Die  Integration  des  Mädchens  schwankt 
mehr  als  jene  des  Knaben.  5)  Die  Beziehung  zwischen  Exaktheit  und  Reaktionszeit  er- 
gibt, glaubt  der  Autor,  für  jeden  Schüler  eine  Konstante  (Posivitätskoeffizient) ,  den  nur 
die  Uebung  modifiziert. 

Ich  habe  das  Experiment  (mit  Fräul.  v.  G.,  Lehrerin)  wiederholt  und  es  zeigte 
sich,  daß  die  Vp.  die  Distanz  (50  cm)  nicht  einhalten  konnte,  sie  mußte  das  Zählen  bei 
6  unterbrechen.  Dann  stellte  sie  sich  die  Entfernung  her,  die  ihr  am  besten  paßte 
weniger  als  40  cm  und  zählte  die  ganze  Reihe  innerhalb  21  Sek.  (also  pro  Linie  0,636 
Sek.).  Dabei  fixierte  sie  unwillkürlich  mit  den  Augen  jede  zweite  Linie.  Beim  zweiten 
Lesen  war  sie  in  18  Sek.  fertig  (pro  Linie  0,545  Sek.)  und  hatte  jede  dritte  Linie  fixiert. 
Schon  daraus  kann  man  ersehen,  daß  vieles  von  Mercante  nicht  beachtet  wurde,  was 
beachtet  werden  muß,  um  allgemeines  über  den  Prozeß  des  Zählens  auszusagen.  Weiter 
*st  zu  bedenken,  daß  das  Zählen  nicht  immer  an  die  Wahrnehmung  von  Objekten  ge- 
bunden ist,  sondern  auch  ohne  sie  von  statten  gehen  kann.  Das  Zählen  von  Linien  ist 
nur  eine  Art  des  angewandten  Zählens  und  umfaßt  auf  keinen  Fall  das  ganze  Gebiet 
derselben.  Ferner  kann  das  Zählen  innerhalb  gewisser  Grenzen  auch  ohne  Sprechen  ge- 
schehen; es  können  auch  akustische  Elemente  gezählt  werden  usw. 

Das  zweite   Experiment   untersucht   das   Lesen   von   Zahlen.     Auf   der 
Tafel  sind  untereinander   ohne  vertikale   Korrespondenz   der  Züfer    die   Zahlen 
1010 
2101 

1934     ^^^  ^^^  ^'•^*®  Klasse  und    1010  für   die   übrigen   Klassen   geschrieben.      Der 

9030  2101 

12934957 
1010101 
Schüler  liest  sie  laut  aus  einer  Entfernung  von  1—2  m.  Die  Zeit  wird  gemessen  von  der 
Enthüllung  der  Zahlen  bis  zum  Aussprechen  der  letzten.  Mit  diesem  Experiment  glaubt 
der  Autor  den  Grund  der  mathematischen  Bildung  und  die  natürliche  oder  erworbene 
Intelligenz  des  Schülers  festsetzen  zu  können.  Er  stellt  sich  den  Vorgang  so  vor:  die 
optischen  Bilder  der  Zahlen  rufen  die  auditiven  Bilder  hervorj;  dazu  muß  der  Schüler 
1)  die  verschiedenen  Ziffern  beachten  und  2)  die  entsprechenden  Namen  hinzufügen.  Das 
verlangt  eine  Teilung  der  Zahl  von  rechts  nach  links  in  Gruppen  von  je  drei  Ziffern, 
mit  welchen  die  Namen  Tausend,  Million  usw.  assoziiert  sind,  und  dann  kommt  erst  das 
laute  Aussprechen  der  Zahl.  Die  mit  Null  ausgefüllten  Stellen  bieten  dabei  besondere 
Schwierigkeit ;  bei  der  Zahl  12  934  957  z,  B.  spricht  der  Schüler  innerlich  Tausend, 
nachdem  er  die  drei  rechtsstehenden  Ziffern  aufgefaßt  hat,  dnnn  bei  den  nächsten  drei 
Zifi'ern  Million  und  erst  dann  laut  12  Millionen  usw.  Bei  der  Zahl  1  010 101  dagegen 
ist  die  Teilung  schwerer  und  auch  die  Benennung,  weil  für  ein  und  dieselbe  Ziffer  1 
verschiedene  Namen  angewendet  werden  müssen.    Die  Positivität  sowie  die  Reaktionszeit 


-    292    — 

sind  ersichtlich  aus  Tabelle  II,  die  auch  einen  Vergleich  zwischen  den  Knaben  und  den 
Mädchen  gestattet. 


T 

abell 

eil. 

Lesen' 

von  Qualitäten. 

a 

Positivitüt  (Knaben) 

Positivität  (Mädchen) 

Mittlere 
Zeit 

Maxi- 
malzeit 

Mini- 
malzeit 

i4 

1          2 

.  .| 

1 

2         3 

'1 

K. 

M. 

K. 

M. 

K. 

M. 

I 

55,5 

44,4 

88,8 

66,6 

33,3 

41,6 

66,6 

33,3 

35,8 

39,5 

156 

73 

12 

15 

II 

88,8 

72,2 

83,3 

38,8 

88,3 

58,3 

75 

41,6 

35 

44,8 

110 

HO 

12 

17 

111(1.) 

100 

75 

87,5 

50 

77,5 

85,7 

92,8 

64,2 

28,2 

27,6 

49 

42 

15 

13 

III  (S.) 

100 

88,8 

66,6 

33,3 

88 

92 

84 

52 

27,4 

28,7 

50 

44 

17 

8,5 

IV 

100 

100 

1(K) 

84,4 

90,4 

90,4 

90,4 

57,1 

28,8 

26,3 

34 

88 

16 

13 

V 

86 

100 

100 

100 

96 

100 

93,1 

62 

21,8 

23,7 

40 

45 

10 

9 

VI 

100 

100 

100 

66,6 

100 

100 

82,4 

76,5 

15,4 

23,7 

24 

75 

11 

9 

630,3 

580,4 

626,2 

439,7 

569,5 

568 

584,3 

386,7 

1 

Dazu  macht  der  Autor  die  folgenden  Bemerkungen:  1)  Bei  den  Fertigkeiten  rea- 
giert das  Mädchen  mit  mehr  Exaktheit  als  der  Knabe  (V)  2)  Die  Zahlen,  welche  durch 
Nullen  besetzte  Stellen  abwechselnd  mit  Ziffern  von  bezeichnendem  Wert  bieten,  sind 
schwieriger  zu  lesen;  die  Positivitüt   nimmt    ab,  je    größer   die  Anzahl   der   Ziffern   ist. 

3)  Beim  Lesen  von  Zahlen,  welche  Unterscheidungen  von  höherer  Ordnung  erfordern 
(intensive  Aufmerksamkeit  und  Urteilskraft),  integrieren  die  Knaben  mit  mehr  Exaktheit. 

4)  Die  „Fertigkeit"  begeht  weniger  Fehler  als  das  „Bewußtsein",  5)  Die  Knaben  unter- 
scheiden schneller  als  die  Mädchen.  0)  Die  Positivitüt  vermehrt  sich  und  die  Reaktions- 
zeit nimmt  ab  von  der  I.  bis  zur  VI.  Klasse.  7)  Die  Integration  der  Mädchen,  ausire- 
nommen  die  der  I.  Klasse,  schwankt  viel  mehr  als  die  der  Knaben;  sie  haben  höhere 
Maximal-  und  niedere  Minimalwerte. 

Das  dritte  Experiment  verlangt  das  Aufschreiben  einer  gehörten 
Zahl.  Es  soll  nach  Mercantc  auf  auditivem  Wege  ein  optisches  Bild  hervorgerufen 
und  von  da  aus  die  Bewegung  der  Finger  ausgelöst  und  koordiniert  werden.  Folglich 
sei  der  vorige  Prozeß  hier  nur  umgekehrt.  Es  bieten  sich  dieselben  Schwierigkeiten, 
jedoch  vermehrt.  Die  nicht  vorliandene  Koexistenz  der  drei  psychischen  Einheiten  oder 
die  Desintegration  jedes  beliebigen  derselben  während  der  Operation  genügt,  um  den 
Vorgang  zu  verzögern  oder  zu  verhindern.  Viele  Schüler  werden  in  der  primären  Iden 
tifikation  aufgehalten  und  realisieren  die  «weite  nicht;  sie  wiederholen  laut  die  Zahlen, 
schreiben  sie  jedoch  nicht,  oder  sie  schreiben  sie  falsch,  oder  versuchen  es  mehrmals, 
bis  sie  sie  treffen;  oft  wird  die  falsch  geschriebene  Zahl  als  solche  erkannt,  da  sie 
Worte  hervorruft,  die  mit  dem  (Jchörtcn  nicht  übereinstimmen.  Die  Positivität  des  Ex- 
perimentes würde  demnach  die  Fähigkeit  der  Schüler  für  die  in  der  Mathematik  st» 
wichtige  Integration  offenbaren.  Die  automatische  Assoziation  der  drei  Zentren  ist  hier 
die  Hauptsache,  aber  primäre  Bedeutung  hat  der  Gehörs-  und  der  Gesichtssinn.  Die 
Intelligenz  assimiliert  und  äußert  sich  in  den  Prozessen  beider  Sinne,  vornehmlich  jedoch 


—    293    - 

in  denen  des  Gesichtssinnes.  Eine  Aufgabe  wird  schlecht  gelöst,  wird  schwierig  lang 
und  ermüdend,  wenn  der  Schüler  unfähig  ist,  es  auf  eine  einfache  Formel  zu  reduzieren. 
Der  Schüler  muß  die  Fertigkeit  besitzen,  der  gehörten  Rede  das  Bild  und  die  Bewegung 
der  Hand  zu  assozieren. 

Diese  theoretischen  Voraussetzungen  bei  diesem  und  dem  vorigen  Experiment 
scheinen  mir  nicht  durch  Versuchsresultate  gestützt  zu  sein.  Die  Vp.  haben  keine 
Selbstbeobachtung  getrieben,  und  ohne  spezielle  Untersuchungen  anzustellen,  spricht  der 
Autor  von  auditiven,  visuellen  und  motorischen  Elementen,  die  die  Prozesse  auf  beson- 
dere Art  geleitet  haben  sollen.  Das  alles  aber  ist  keineswegs  selbstverständlich.  Sogar 
bei  Erwachsenen,  die  Selbstbeobachtung  treiben,  ist  es  schwer,  zu  sagen,  welche  Rolle 
die  verschiedenen  Sinnesgebiete  gespielt  haben  und  spielen.  Ob  eine  gehörte  Zahl  immer 
ein  optisches  Bild  hervorruft  und  ob  das  Aufschreiben  des  Gehörten  das  Vorhandensein 
eines  solchen  (optischen  Bildes)  voraussetzt,  oder  ob  andere  Möglichkeiten  bestehen, 
das  zu  entscheiden  ist  gar  nicht  leicht.  Alles  das,  glaube  ich,  sollte  erst  besonderen 
Untersuchungen  unterworfen  werden,  und  eben  diese  zeigen,  daß  eine  Verschiedenheit 
vorliegt,  die  kaum  zu  solchen  Schlüssen  führen  kann.  Es  gibt  z.  B.  Vp.,  die  fast  nie 
eine  optische  Vorstellung  haben,  und  andere,  die  nicht  glauben,  daß  die  akustischen  Vor- 
stellungen sich  an  die  optischen  'Wahrnehmungen  anschließen. 

Die  Anordnung  dieses  dritten  Experimentes  ist  ähnlich  der  des  vorigen.  "Wenn  der 
Schüler  bereit  zum  Schreiben  ist,  diktiert  man  ihm  laut  und  deutlich  die  Zal  1001  für 
die  erste  und  1 001 001  für  die  übrigen  Klassen.  Die  Reaktionszeit  wurde  gemessen 
vom  Anfang  des  Diktierens  bis  Vollendung  des  Schreibens.  Es  wurde  auch  die  Zahl 
1021  auf  dieselbe  Weise  untersucht,  aber  nur  die  Resultate  der  I.  und  II.  Klasse  ver- 
wertet, da  die  oberen  Klassen  die  Aufgabe  sehr  schlecht  gelöst  haben.  Sie  hatten  ein 
paarmal  das  falsch  Geschriebene  gestrichen  und  schließlich  sich  als  unfähig  bekannt. 
Diese  Tatsache  beweist  nach  dem  Autor :  1)  daß  das  Schreiben  von  Zahlen  ein  unbewußter 
Reflexakt  ist,  2)  daß  es  notwendig  ist,  die  Fähigkeiten  periodisch  durch  adäquate  Übungen 
zu  erhalten,  3)  daß  jede  Leistung  vom  arithmetischen  Charakter,  welche  man  gewohn- 
heitsmäßig fehlerlos  produziert,  fehlerhaft  zu  werden  tendiert,  wenn  es  sich  darum  han- 
delt, dieselbe  bewußt  zu  produzieren. 

Das  vierte  Exp  eriment  ist  ein  Niederschreiben  der  gehörten  Zahl 
1424  für  die  I.  Klasse  und  der  Zahl  937427  für  die  übrigen  Klassen.  Diese  Aufgabe 
ist  derart  vereinfacht,  daß  die  Fehler  allein  dem  Mangel  an  primärer  Identifikation  und 
an  graphischer  Koordination  zugeschrieben  werden  müssen.  Es  ist  fast  dieselbe  An- 
ordnung wie  im  dritten  Experiment,  nur  daß  der  Schüler  jetzt  auf  der  Tafel  schreibt 
und  die  Zeit  vom  Aufhören  des  Diktierens  bis  zum  Schluß  des  Schreibens  gemessen 
wird.  Es  war  noch  empfohlen  worden,  gleich  mit  dem  Aufhören  des  Diktierens  das 
Schreiben  zu  beginnen,  ohne  daß  für  eine  Ziffer  mehr  Zeit  gegeben  war  als  für  eine 
andere,  oder  daß  dieselbe  ausdrücklich  betont  wurde.  „Jede  auditive  Empfindung",  sagt 
der  Autor,  „erweckt  das  klare  optische  Bild,  die  Assoziation  erfordert  eine  so  geringe 
Anstrengung,  daß  man  die  Verzögerung  der  Langsamkeit  der  Handbewegung  zuschreiben 
muß,  den  großen  Zügen  der  akustischen  Aphasie  von  intermittierender  Art,  der  Zer- 
streuung oder  dem  Fehlen  von  Aufmerksamkeit". 

Die  wichtigsten  Bemerkungen,  die  der  Autor  zu  den  letzten  zwei  Experimenten 
beifügt,  lauten  vereinigt  folgendermaßen:  1)  Die  Knaben  integrieren  bei  der  auditivo- 
viso-motorischen  Reaktion  mit  mehr  Exaktheit  und  Schnelligkeit  als  die  Mädchen;  die 
Knaben  sind  von  auditivem,  die  Mädchen  von  visuellem  Typus.  2)  Wenn  das  Hören 
verschiedene  Bilder  erweckt,  bleiben  die  äußersten,  das  erste  und  das  letzte  mit  mehr 
Intensität,  und  das  erste  (links)  mit  noch  mehr  als  das  letzte.    3)  Die  Wiedergabe  der 


—    294    — 


ersten  Periode  der  linken  Seite  ist  exakter  als  die  der  übrigen.  4)  Die  Schnelligkeit 
und  Exaktheit  sind  der  Fertigkeit  direkt  proportional.  Das  Schreiben  von  Zahlen  ist 
eine  Integration,  welche  man  der  Fertigkeit  der  visuellen  Reproduktion  verdankt.  5)  Das 
Hören  einer  Zahl  mit  Stellen,  welche  von  Nullen  eingenommen  werden,  ruft  zwei  oder 
mehr  Bilder  hervor,  die  um  so  verschiedener  und  schwieriger  zu  verschmelzen  sind,  je 
entfernter  die  signifikativen  Ziffern  sind.  1()01  z.  B.  wird  oft  geschrieben  10001.  ß)  Beim 
Schreiben  einer  größeren  Zahl  wachsen  die  Fehler  von  links  nach  rechts  zu  und  in  der 
Regel  bei  den  Mädchen  mehr  als  bei  den  Knaben.  7)  Die  Bilder  der  ersten  Periode 
links  streben  darnach,  sich  denen  der  rechten  Periode  in  derselben  Ordnung  zu  sul)- 
stituicren  mit  so  großer  Intensität,  daß  sie  manchmal  allein  das  Gebiet  der  Aufmerk- 
samkeit einnehmen  und  die  Wiedergabe  der  rechten  teilweise  verhindern.  8)  Die  Ein- 
führung von  fremden  Ziffern  ist  nur  selten  und  soll  als  ein  Phänomen  graphischer 
Paramnesie  betrachtet  werden.  9)  Jede  Klasse  integriert  mit  mehr  Schnelligkeit  als  die 
frühere,   was  die  Kommunität  der  Wege  dieses  Prozesses  angibt. 

Beim  Wiederholen  der  zwei  letzten  Versuche  zeigten  sich  fast  dieselben  Resultate 
und  Schwierigkeiten  in  bezug  auf  die  mittlere  Zeit,  sowie  auch  in  bezug  auf  die  Fehler. 
Nur  zeigte  sich  sehr  deutlich,  daß  hier  die  sprachmotorische  Reproduktion  eine  größere 
Rolle  gespielt  hat  als  die  visuelle,  obwohl  die  Vp.  sehr  lebhafte  optische  Vorstellungen 
bei  den  anderen  Versuchen  gehabt  hatte. 

Das  fünfte  Experiment  ist  ein  Massenversuch  zur  Untersuchung  der 
visuellen  Reproduktion  der  Zahlen.  Auf  der  hinteren  Seite  der  Tafel  steht 
die  Zahl  0,685  407  geschrieben  von  etwa  48  cm  Länge  und  12  cm  Höhe,  so  daß  sie  auf 
eine  Entfernung  von  10  m  gut  lesbar  ist.  Die  Schüler  sind  mit  Papier  und  Bleistift 
ausgestattet  und  nicht  mehr  als  6  m  von  der  Tafel  entfernt.  Sie  haben  die  Anweisung 
bekommen,  gleich  nach  dem  Verschwinden  der  Zahl  sie  niederzuschreiben.  Man  dreht 
dreht  die  Tafel  um,  läßt  die  Zahl  5  Sek.  sichtbar,  und  dreht  sie  wieder  um.  Wenn  die 
Schüler  die  Ziffern  von  0—9  schon  kennen,  geschieht  das  Niederschreiben  ohne  eine 
bewußte  Integration.  Bei  der  Hervorrufung  des  Bildes  wird  die  Zahl  in  drei  Partien 
geteilt:  a)  Null,  Komma,  b)  685  und  c)  407,  wobei  die  Ordnung  der  Perioden  und  die 
innere  Hervorrufung  der  Worte,  welche  sie  ausdrücken,  assoziiert  werden. 

Tabelle  III.    Wie  oft  jede  Ziffer  geschrieben  wurde. 


Jede  Ziffer' 
mußte  ge- 

Man schrieb 

Andere 
Ziffern 

Klas- 
sen 

schrieben 
werden 

0>) 

6 

8 

5 

4 

7 

K. 

M.| 

K. 

M. 

K. 

M. 

K. 

M. 

K. 

— 
M. 

K. 

M. 

K. 

M. 

K 

M. 

I 

19 

12  1 

_^ 

— 

21 

12 

18 

12 

16 

12 

14 

10 

— 

— 

5 

2 

II 

16 

12 

27 

23 

20 

11 

19 

12 

13 

13 

12 

9 

9 

11 

4 

2 

m(i.) 

8 

14 

17 

26 

8 

14 

5 

15 

12 

10 

2 

13 

11 

15 

— 

_» 

III  (S.) 

9 

26 

18 

48 

9 

26 

9 

23 

7 

26 

9 

29 

8 

24 

— 

2 

IV 

11 

19 

23 

86 

13 

20 

10 

21 

10 

18 

9 

20 

9 

18 

- 

2 

V 

7 

27 

14 

51 

7 

27 

7 

29 

7 

28 

7 

24 

7 

26 

— 

— i 

VI 

9 

19 

18 

39 

9 

19 

9 

18 

9 

19 

9 

19 

9 

19 

- 

4 

Total 

1  100     100 

97 

95 

111 

100 

89 

100 

|94 

97 

79 

96 

186 

»6| 

1 

^ 

1)  Die  0  mußte  in  doppelter  Ansahl  reproduziert  werden. 


--    295    — 

Die  Tabelle  III  gibt  an,  wie  oft  jede  Ziffer  geschrieben  wurde.  Es  seien  noch 
folgende  Bemerkungen  erwähnt :  1)  Die  .visuelle  Aufmersamkeit  der  Mädchen  ist  viel 
intensiver  als  die  der  Knaben.  2)  Die  optisch-graphische  Assoziation  ist  die  schnellste 
und  exakteste  von  allen,  die  unser  Gehirn  realisieren  kann.  3)  Die  visuelle  Aufmerk- 
samkeit folgt  einer  Progression  parallel  dem  Alter  von  der  I.  bis  VI.  Klasse.  4)  Die 
mittleren  Ziffern  werden  mit  weniger  Exaktheit  reproduziert  als  die  übrigen.  5)  Die 
Fehler  sind  von  vier  Arten:  Permutation,  Substitution,  Elimination  und  Aggregation. 
6)  Das  Vergessen  des  Dezimalpunktes  seitens  der  Knaben  in  Klassen  wie  der  V.  (42  "/o), 
wo  man  mit  Dezimalen  arbeitet,  erklärt,  warum  die  Mädchen  leicht  die  Positivität  der 
Knaben  erreichen,  ungeachtet  eines  langsameren  Urteils.  7)  Die  Einführung  von  fremden 
Ziffern  ist  hier  häufiger  als  im  auditiven  Fall,  gibt  aber  einen  kleinen  Prozentsatz. 
8)  Der  grüßte  Teil  von  Fehlern,  welche  die  Knaben  begehen,  sind  Permutationen  von 
Ziffern,  bei  den  Mädchen  Substitutionen.  Die  Knaben  schreiben  704  für  407,  die  Mädchen 
G85  807  oder  G85  587  für  685  407.  9)  Die  Ziffern  von  links  bewahren  mehr  die  Ordnung 
als  die  von  rechts.  10)  Die  Vertauschung  und  Substitution  erfolgen  im  Gegensatz  zu 
dem  früheren  Fall  häufiger  von  rechts  nach  links  als  von  links  nach  rechts,  innerhalb 
oder  außerhalb  derselben  Periode. 

Das  sechste  und  das  siebente  Experiment  untersuchen  das  Kopfrechnen 
wobei  das  erstere  eine  einfache  Summierung  und  das  letztere  eine  Kombination  von  Ope- 
rationen zu  erproben  strebt.  Der  Schüler  wird  einmal  gefragt,  wieviel  ist  23  +  16  und 
das  andere  Mal:  ( j  ([(9  x  8  +  3) :  3]  x  4) :  10  —  1  —  1  —  1  —  4  j  -|- 1) :  7  oder  für  die  I.  Klasse : 
j  [(8  X  9  —  2) :  19  X  7]  —  1  j :  6.  Die  größere  Aufgabe  erfordert  15—17  Sek.,  die  andere 
9  Sek.  passive  Aufmerksamkeit.  Die  Reaktionszeit  wird  gemessen  vom  Anfang  des  Dik- 
tierens  bis  zum  Schluß  des  Schreibens.  Der  Autor  macht  die  Voraussetzung,  daß  das 
Kind  die  gehörte  Aufgabe  geschrieben  auf  einer  Fläche  sieht  und  die  Operation  so  aus- 
führt, als  ob  es  an  der  Tafel  rechnete.  An  dem  Prozeß  bei  den  kombinierten  Opera- 
tionen beachtet  M  er  c  ante:  1)  die  Schnelligkeit,  mit  welcher  das  Wort  das  Bild  der 
Zahl  erweckt,  2)  die  Schnelligkeit,  mit  welcher  sich  zwei  Bilder  verschmelzen,  um  das 
dritte  ohne  intermediäre  Dekomposition  zu  erhalten,  3)  das  Bleiben  bei  einem  einzigen 
Bild,  dem  letzten,  bevor  der  Lehrer  die  Zahl  ausruft,  welche  die  folgende  geben  muß. 
Der  optische  Typus  scheint  hier  die  größte  Zahl  von  richtigen  Fällen  erreicht  zu  haben. 
Ein  Schüler  der  II.  Klasse  konnte  nach  28  Stunden  und  einem  Tagunterricht  die  ganze 
Aufgabe  mit  merkwürdiger  Genauigkeit  wiederholen.  Die  anderen  Typen  dagegen,  be- 
sonders der  sprachmotorische,  kommen  nur  selten  nach,  da  die  Retention  bei  ihnen  nicht 
die  nötige  Dauer  erreicht.  Die  natürliche  Entwicklung,  welche  auch  die  Schule  unter- 
stützen soll,  ist  nach  Mercante  die  von  viso-retentiven  zu  viso-eliminatorischem  Typus. 
Den  ersten  drei  Klassen  wurde  noch  die  Aufgabe  gegeben,  die  Tabellen  VI—XXXXII 
zu  summieren,  welche  die  Schüler  spontan  in  die  Multiplikationstabelle  verwandelten. 

Bei  23-1-16  sagte  meine  Vp.,  sie  hätte  nur  23  optisch  lokalisiert  und  gleich  die 
Summe  39  erhalten,  ohne  Zwischenstufen.  Das  ist  nach  Mercante  der  schwierigste 
Weg  und  erfordert  eine  feste  optische  Fixation  der  betreffenden  Ziffer,  die  Vp.  hat  aber 
die  zweite  Zahl  gar  nicht  gesehen;  es  gibt  wahrscheinlich  noch  andere  Arten  von  Fixa- 
tionen, die  auch  ohne  optische  Bilder  zustande  kommen  können.  Die  Kombination  von 
Operationen  konnte  die  Vp.  nur  durch  nochmaliges  Anfangen  berechnen,  wobei  das  Dik- 
tieren über  20  Sek.  dauerte.     Sie   mußte  unbedingt  hie  und  da  innerlich  nachsprechen. 


—    296    — 
Tabelle  IV.    Mentale  Addition  von  18  + 16  anf  100  Scbfiler. 


Richtige 

Resultate 

Mittlere  Zeit 

Maximalzeit 

Minimalzeit 

Knaben 

Mädchen 

E. 

M. 

E. 

^    M. 

E. 

M. 

I 

44  o/o 

45  »/o 

12 

24 

35 

55 

3 

10 

II 

88  „ 

75  „ 

15 

24 

55 

72 

5 

2 

III  (I.) 

37  „ 

78  „ 

8 

8 

29 

23 

3 

:5 

III  (S.) 

89  „ 

84  „ 

8 

6,6 

14 

15 

3 

2 

IV 

100  „ 

80  „ 

11 

8 

55 

45 

3 

2 

V 

100  „ 

89  „ 

6,4 

13 

16 

50 

3 

3 

VI 

100  „ 

88, 

5,2 

10 

14 

45 

2,8 

3 

Die  Tabelle  illustriert  die  Ergebnisse  des  sechsten  Experiments.  Von  den  Bemer- 
kungen Mercantcs  zum  sechsten  und  siebenten  Experiment  seien  hier  folgende  er- 
wähnt: 1)  Die  Exaktheit  wächst  von  der  I.  bis  VI.  Klasse  und  die  Integrationszeit  wird 
kurzer.  2)  In  der  I.  Klasse  diskriminieren  die  Mädchen  mit  mehr  Exaktheit  als  die 
Knaben,  3)  Trotz  des  Fehlens  einer  Beziehung  zwischen  der  Exaktheit  und  der  Zeit 
pHegen  die  kleinsten  Reaktionen  fehlerlos,  die  größten  fehlerhaft  zu  sein.  (Das  gilt  nur 
für  das  sechste  Experiment,  beim  siebenten  gibt  es  keine  Beziehung  zwischen  Fehler- 
losigkeit  und  den  Zeiten.)    4)  Die  Fehlerlosigkeit  ist  eine  Folge  der  Übung. 

Das  achte,   neunte  und  zehnte  Experiment  umfaßt  die  Addition,  Sub- 
traktion und  Multiplikation.    Es  werden  die  folgenden  Aufgaben  gelöst: 
für  die  I.  Klasse:  für  die  oberen  Klassen: 

60322 
00121 

70232  + 

9104 
80210 


+ 


322045 
789675 
983012 
543610 


8926087 
3731084 


4560071 
2462042 


5987 
708 


X 


5987 
8078 


Der  Autor  geht  ausführlich  auf  die  spezifischen  Schwierigkeiten  und  Besonderheiten 
jeder  dieser  ()i)orationen  ein,  ohne  dabei  viel  neues  zu  sagen,  denn,  daß  z.  B.  die  Schnel- 
ligkeit bei  der  Addition  davon  abhängig  ist,  wie  man  die  einzelnen  Summanden  einer 
Kolonne  addiert,  wie  die  Reste  zu  der  nächststehenden  Summe  hinzugesellt  werden 
(geschrieben  oder  gleich  zugezählt  usw.),  daß  die  Subtraktion  besondere  Schwierigkeiten 
aufweist,  wenn  die  Minuendziffer  grüßer  ist  als  die  des  Subtralienden  und  daß  die  Mul- 
tiplikation sich  aus  einfacheren  Multiplikationen  und  Additionen  lusammensetst  luf^ 
sind  bekannte  Dinge. 

Die  erläuternden  Tabellen  vergleichen  die  Fehlerlosigkeit  und  die  mittlere  Reak- 
tionszeit nach  Klassen  und  Geschlecht,  bringen  aber  kaum  etwas  Bemerkenswertes.  Ans! 
den  Bemerkungen  Mercantes  sei  folgendes  hervorgehoben:  1)  Die  kleinsten  Reaktioiis> 


—    297    — 

Zeiten  geben  fehlerlose  Resultate,  die  größten  fehlerhafte.  2)  Die  Exaktheit  wächst  aber 
nicht  einfach  mit  der  Schnelligkeit.  3)  Die  Maxima-Minimadistanzen  für  die  Reaktions- 
zeiten sind  größer  bei  den  Mädchen  als  bei  den  Knaben.  4)  Die  Fehler  bei  diesem  und 
anderen  Experimenten  beweisen  die  Notwendigkeit,  direkt  oder  indirekt,  jedoch  alle 
Jahre  und  mit  möglichster  Häufigkeit  den  Schüler  in  allen  Kenntnissen  der  früheren 
Klassen  zu  üben,  um  in  der  VI.  Klasse  ein  Maximum  von  Fehlerlosigkeit  zu  erreichen. 
5)  Abgesehen  von  einigen  Ausnahmen  erscheint  die  Addition  als  eine  leichtere  Operation 
als  die  Subtraktion ;  die  Subtraktion  ist  leichter  als  die  Multiplikation. 

Damit  schließt  Mercante  seine  arithmetischen  Untersuchungen  und  beginnt  eine 
Reihe  von  Versuchen  über  die  Kenntnis  des  Raumes.  Das  erste  Experiment  dieser  Art, 
also  das  elfte  Experiment,  soll  die  primäre  Identifikation  der  gerad- 
linigen Entfernung  erforschen.  Er  läßt  die  Schüler  sechs  Linien  vergleichen, 
die  so  eingeordnet  auf  der  Tafel  stehen: 


"--^^  3 


Der  Schüler  muß  einmal  a  mit  h  vergleichen  und  sagen,  ob  sie  gleich  oder  verschieden, 
dann  a  mit  d  und  endlich  c  mit  d.  Die  kleineren  Linien  a  und  d  messen  je  15  cm 
und  die  größeren  b  und  c  je  17  cm.  Folgende  Bemerkungen  genügen,  die  Resultate 
dieses  Experimentes  zu  charakterisieren:  1)  Die  Fehlerlosigkeit  bietet  keine  Progression 
parallel  den  Klassen.  Für  die  erste  Komparation  z.  B.  bieten  die  Knaben  der  I.  Klasse 
72  %,  die  Mädchen  84  7o,  und  die  V.  Klasse  nur  57  «/o  bezw.  93  ^/o,  für  die  dritte  Kom- 
paration aber  bietet  die  erste  Klasse  33  7o  bezw.  61  ^o  und  die  V.  Klasse  71  7o  bezw. 
89  ^Iq.  2)  Beim  Vergleich  gleichgroßer  Strecken  werden  mehr  Fehler  gemacht  als  bei 
den  verschiedengroßen.  3)  Die  vertikale  Komparation  ist  exakter  als  die  horizontale 
oder  oblique.  4)  Die  Gleichheit  wird  besser  geschätzt  von  den  Knaben  als  von  den 
Mädchen,  nicht  so  die  Differenz. 

In  dem  zwölften  Experiment  untersucht  Mercante  etwas  ähnliches  auf 
akustischem  Gebiet  (auditive  Identifikation).  Er  läßt  eine  elektrische  Hammer- 
glocke 3  Sek.  läuten  und  nach  einer  Pause  von  4  Sek.  einmal  3  Sek.  Die  beiden  Ton- 
reihen, meint  Mercante,  erwecken  und  assoziieren  sich  zu  zwei  linearen  Bildern, 
welche  der  Schüler,  ähnlich  wie  im  vorigen  Experiment  die  Raumstrecken,  vergleicht. 
Wegen  ungünstiger  Verhältnisse  (man  konnte  die  Zeit  nicht  genau  messen)  wurde  das 
Experiment  bei  den  unteren  Stufen  nicht  verwertet,  nur  bei  der  V.  und  VI.  Klasse,  bei 
welchen  die  Fehlerlosigkeit  28  "/o  Knaben  und  27°io  Mädchen  für  die  V.  Klasse  und 
55  7o  bezw.  41  7o  für  die  VI.  Klasse  beträgt. 

Das  zwölfte  Experiment  untersucht  das  Aufzeichnen  einer  gesehenen 

Linie.    Der  Schüler  beobachtet  4  Sek.  lang  eine  17  cm  lange  vertikale  Linie  *von  einer 

3  meterigen  Entfernung   aus   und   soll   sie   gleich  nach  der  Verdeckung  auf  die  vor  ihm 

befindliche  Tafel  zeichnen.    Es   findet  dabei  eine  Vergleichung   statt,   meint  der  Autor, 

Meumann,  Exper.  Pädagogik.    IX.  Band.  20 


—    298    — 

zwischen  einer  viftaellen  Linie  und  einem  Erinnerungsbild,  wobei  auch  d&s  Muskelgefühl 
eine  Rolle  spielt.  Nur  S  Schüler  haben  die  Linie  in  horizontaler  Richtung  reproduziert. 
Die  Ergebnisse  geben  dem  Autor  Anlaß  zu  den  folgenden  Bemerkungen:  1)  Die  Schüler 
unter  8  Jahren  halten  die  Gegenstände  für  kleiner  als  sie  sind.  (Infantile  Mikropsie.) 
2)  Die  II.  Klasse  bietet  dagegen  einen  Überschuß.  (Infantile  Makropsie.)  3)  Im  all- 
gemeinen zeichnet  das  Mädchen  die  Bilder  richtiger  auf  als  der  Knabe.  4)  Die  Knabeo, 
ausgenommen  die  der  I.  Klasse,  sind  mehr  geneigt,  die  T^iuie  kleiner  zu  zeichnen  als 
größer.  5)  Der  Unterschied  zwischen  einer  größten  und  kleinsten  Wiedergabe  ist  in 
jeder  Klasse,  außer  in  der  I.  und  IL,  größer  beim  Mädchen  als  beim  Knaben,  was  eioe 
geringere  intellektuelle  Stabilität  beim  Mädchen  als  beim  Knaben  erweist. 

Vierzehntes  Experiment.  Die  relative  Schätzung  der  Länge  prüft 
der  Autor  folgendermaßen:  Die  Schüler  sind  mit  Papier  und  Bleistift  ausgerüstet,  der 
Lehrer  zeichnet  eine  Horizontale  3  m  lang  auf  die  Tafel  und  zeigt  2  m  weit  davon  in 
horizontaler  Richtung  ein  Lineal  von  50  bezw.  25  cm.  Die  Schüler  müssen  nach  einer 
visuellen  Vergleichung  von  15  Sek.  schreiben,  wie  vielmal  das  Lineal  in  der  Linie  ent- 
halten ist.  „Den  Schlüssel  des  Prozesses",  sagt  Mercante,  „geben  einige,  die  Intelli- 
genteren, welche  sich  nicht  auf  die  Notierung  der  Zahl,  wie  wir  es  forderten,  beschränken, 
sondern  aus  eigenem  Antrieb,  indem  sie  in  ihren  Gedankengang  folgendermaßen  zusam- 
menfaßten :  ,Sie  hat  3  m  und  wird  7  mal  das  große  Lineal  enthalten.'  ,Die  Tafel  mißt 
4  m  und  der  Stab  einen  halben ;  so  ist  es  8  mal.'  ,Eine  Tafel  hat  2  m  Länge  und  ein 
Lineal  50  cm ;  so  wird  dieses  Lineal  in  der  Tafel  10  mal  enthalten  sein*  usw.  Ob  solche 
Äußerungen  der  Schüler  wirklich  ihre  Intelligenz  verraten,  oder  nur  Folge  gewisser 
Mißverständnisse  sind,  braucht  man  nicht  zu  untersuchen.  Jedenfalls  den  Schlüssel  des 
Prozesses  geben  sie  nicht.  (Ein  intelligenter  Schüler  hätte  schon  wissen  sollen,  daß  1  m 
2  X  50  cm  und  4  m  8  x  60  cm  messen.)  Denn  es  ist  schlechterdings  nicht  zu  erraten, 
wie  der  Schüler  die  Aufgabe  gelöst  hat,  wenn  er  es  nicht  selbst  angibt.  Folgende  Be- 
merkungen illustrieren  die  Resultate  des  Experimentes:  1)  Die  Schüler  sind  geneigt,  bei 
solcher  Kalkulation  überhaupt  zu  überschätzen.  2)  Die  oberen  Klassen  schätzen  besser 
als  die  I.  und  IL  3)  Je  größer  die  Länge  und  je  kleiner  das  Maß  ist,  von  einer  be- 
stimmten Grenze  ab,  desto  mehr  wächst  der  Schätzungsfehler.  4)  Zwischen  der  größten 
und  kleinsten  Schätzung  der  Knaben  liegt  eine  kleinere  Distanz  als  zwischen  der  größten 
und  kleinsten  Schätzung  der  Mädchen. 

Bei  der  Untersuchung  der  relativen  Schätzung  der  Fl&chenexten- 
sion  (fünfzehntes  Experiment)  läßt  Mercante  eine  Fläche  (die  Tafel),  die 
1,40  m  breit  und  3  m  lang  ist,  mit  einem  auf  der  Tafel  gezeichneten  Quadrat  von  0,20'  m 
vergleichen.  Nach  einem  höchstens  20  Sek.  dauernden  Beobachten  sollen  die  Schüler 
niederschreiben,  wie  viclmal  die  Tafel  die  Figur  enthält.  Verschiedene  Wege  sind  hier 
möglich:  1)  Der  exakteste,  von  den  Schülern  der  III,  IV.,  V.  und  VI.  Klasse  oft  ge- 
brauchte Weg  ist  der  einer  Schätzung  der  Dimensionen  der  Tafel,  um  daraus  ihre  Fläche 
zu  berechnen;  darauf  wird  dasselbe  mit  der  VergleichsHgur  gemacht  und  durch  eine 
Division  der  beiden  gewonnen.  2)  Der  Schiüer  kann  auch  durch  Abmessen  der  Tafel- 
selten mit  Hilfe  der  Maßquadratseite  und  einfache  Multiplikation  dasselbe  Resultat  be- 
kommen. 8)  Der  nnexakteste  Weg,  den  die  am  wenigsten  intelligenten  Schüler  gelegent- 
lich einschlagen,  ist  der  des  Ratens  ohne  besondere  Hilfsprozesse.  Es  gibt  eine  große 
Zahl  von  Schülern,  welche  kaum  5  Sek.  fixieren  und  dann  die  Antwort  lunülig  nieder- 
8rhrcil)cn. 

Um  die  relative  Schätzung  des  Volumens  zu  untersuchen  (sech- 
Kobntcs  Experiment),    zeigt  Mercante    den  Schülern  ein  Kästchen  von    rechtwiu- 


—    299    -^ 

keligen  Seiten,  dessen  Volumen  0,21  x  0,18  x  0,36  m  beträgt,  und  ein  Würfelchen  von 
0,03^  m,  mit  dem  gemessen  werden  soll.  Nach  20  Sek.  sollten  die  Schüler  schreiben, 
wie  vielmal  das  Würfelchen  in  dem  Kästchen  enthalten  ist.  Wie  man  sieht,  potenzieren 
sich  hier  die  Schwierigkeiten.  Während  die  lineare  Schätzung  eine  anständige  Quantität 
von  fehlerlosen  Resultaten  und  Aproximationen  ergab,  und  die  Flächenschätzung  nur 
zwei  fehlerfreie  Fälle  von  219  Schülern  und  eine  geringe  Zahl  aprox^mative,  ergab  die 
volumäre  Schätzung  keinen  fehlerlosen  Fall  und  nur  eine  geringe  Zahl  von  Über- 
schätzungen. Mercante  fügt  die  folgenden  Bemerkungen  hinzu:  1)  Die  Fehler,  welche 
die  Schüler  begehen,  gehen  hervor  aus  Mangel  an  Übung.  Die  Knaben  schätzen  genauer 
als  die  Mädchen.  2)  Von  der  I.  bis  zur  VI.  Klasse  wächst  die  Richtigkeit  des  Urteils, 
trotz  gewisser  Schwankungen.  3)  Die  Fähigkeit,  ein  Volumen  auf  den  einfachen  Blick 
hin  zu  schätzen,  ist  aproximativ  dieselbe  wie  die  der  Schätzung  einer  Fläche.  Flächen 
werden  schneller  geschätzt  als  Linien.  4)  Die  Knaben  kommen  zu  höheren  Ziffern  als 
die  Mädchen,  was  als  Zeichen  höherer  Intelligenz  angesehen  werden  kann.  5)  Die 
Distanz  zwischen  Maximum  und  Minimum  einer  und  derselben  Klasse  ist  größer  als  bei 
den  Knaben.  Dieselben  Bemerkungen  gelten  auch  für  die  Flächenschätzung,  nur  daß 
das  Verhältnis  zwischen  Maximum  und  Minimum  in  jeder  Klasse  aproximativ  das  näm- 
liche für  die  beiden  Geschlechter  ist. 

Ähnlich  wie  die  Flächenschätzung  untersucht  Mercante  im  siebzehnten  Ex- 
periment die  Komparation  mit  bestimmtem  Ziel.  Der  Schüler  wird  ge- 
fragt: „Würde  ein  Hof  von  8,5  m  Länge  und  5,5  m  Breite,  um  gepflastert  zu  werden, 
mehr  oder  weniger  Steine  von  1  qdcm  Fläche  brauchen  als  200?"  Wenn  die  Antwort 
„mehr"    lautete,    wurde   die  Frage   ergänzt:    „oder  als   900  Steine?"     Die  Schüler  der 

I.  u.  II.  Klasse  sollten  die  Frage  beantworten :  „Wenn  15  Schafe  38  Pesos  kosten,  würden 
13  Schafe  mehr  oder  weniger  kosten  ?"  Beim  ersten  Fall  sind  die  bei  der  Flächen- 
schätzung angewandten  drei  Verfahren  möglich,  doch  besteht  eine  Erleichterung  in  der 
Beziehung,  daß  das  Maß  bestimmt  ist  und  die  Berechnung  weniger  Operationen  erfordert. 
Der  zweite  Fall  bei  der  I.  und  II.  Klasse  kommt  darauf  hinaus,  ob  der  Schüler  den 
Sinn  der  Aufgabe  auffaßt  oder  nicht. 

Die  Ergebnisse  faßt  Mercante  in  folgende  Bemerkungen  zusammen:  1)  Das 
Kalkulieren  nur  mit  internen  Bildern  ist  mangelhafter  als  das  mit  gesehenen  Bildern. 
Der  Hof  bedurfte  4675  Steine.  Auf  die  Frage,  würde  er  mehr  oder  weniger  bedürfen 
als  900?  antworteten  von  den  219  Schülern  nur  22  mit  mehr,  der  größte  Teil  der  V. 
und  VI.  Klasse;  sie  brauchten  größere  Zeiten  als  diejenigen,  welche  mit  „weniger"  ant- 
worteten. 2)  Der  Vergleich  mit  dem  fünfzehnten  Experiment  ergibt,  daß  die  Fehler  um 
so  größer  sind,  je  größer  die  Differenz  zwischen  der  Maßeinheit  und  der  Maßfläche  ist. 
3)  Die  Knaben  schätzen  schneller  und  besser  als  die  Mädchen.  4)  Die  mittelbaren 
Reaktionen   sind   den   intelligenten  Schülern   eigen.    5)  Der  Fortschritt  von   der  I.  zur 

II.  Klasse  ist  ein  sehr  beträchtlicher. 

Mit  dem  achtzehnten  Experiment  sucht  Mercante  den  Prozeß  der 
komplizierten  Integration  zu  untersuchen,  indem  er  den  einzelnen  Schülern  der 
I.  Klasse  die  Aufgabe  gibt:  „Peter  hatte  15  Apfelsinen  in  einem  Korb  und  22  in  einem 
anderen,  er  verschenkte  17,  wieviel  bleiben  ihm?  Welche  Operation  muß  man 
machen?"  Den  übrigen  Klassen  gibt  er  die  Aufgabe:  „Wenn  12  Schafe  72  Pesos 
kosten,  wieviel  werden  8  Schafe  kosten?"  Die  Schüler  mußten  die  Aufgabe  überlegen, 
bevor  sie  antworteten.  Aus  den  Antworten  läßt  sich  ersehen,  welchen  Weg  der  Schüler 
gegangen  ist.  Die  I.  Klasse  gibt  fünf  verschiedene  Antworten:  1)  Addition  und  Sub- 
traktion, 2)  Subtraktion  und  Addition,  3)  Addition,  4)  Subtraktion  und  5)  Multiplikation. 

20* 


—  aoo  — 

Ib  den  fibrigen  Klassen  kommen  viele  verschiedene  Fehlerarten  vor,  die  Mercante 
auafülirlich  bespricht.  Der  Autor  fügt  noch  manche  Bemerkungen  hinzu,  von  welchen 
folgende  die  wichtigsten  sind:  1)  Die  fehlerlosen  Leistungen  der  V.  und  VI.  Klasse  ver- 
halten sich  zu  denen  der  IV.  Klasse  wie  87  :  33 ;  dabei  brauchen  sie  wahrscheinlich  viel 
weniger  Zeit.  2)  Das  Qeläufigwerden  der  Additions-  und  Subtraktionsaufgaben  genügt 
nicht,  um  die  Fertigkeit  in  der  Lösung  von  Multiplikations-  und  Divisionsaufgaben  und 
ihrer  Kombinationen  auszubilden,  offenbar  weil  die  Wege  der  Lösung  dort  und  hier  ver- 
schieden sind.  3)  Die  Leistungen  zeigen  eine  rasch  ansteigende  Progression  von  der  I. 
bis  zur  V.  Klasse,  was  wohl  mit  der  raschen  Entwicklung  der  Projektions-  und  Asso- 
ziationsfasem  zusammenhängt,  hervorgerufen  teils  durch  die  Arbeit  der  Schule,  teils 
durch  das  Alter.  Von  der  V.  bis  VI.  Klasse  ist  die  Progression  bei  den  Knaben  sehr 
klein.  Die  Fertigkeit,  solche  verwickelte  Aufgaben  zu  lösen,  dürfte  also  in  der  V.  Klasse 
einem  Maximum  ihrer  Entwicklung  nahe  sein.  4)  Vom  neunten  Jahre  ab  übertreften 
die  Knaben  die  Mädchen.  5)  Je  mehr  der  Schüler  die  zentrale  Integration  vollendet, 
verbannt  er  die  peripherische  von  automatischem  Charakter  (?) ;  er  strebt  danach,  sie 
nicht  zu  realisieren,  indem  er  statt  dessen  die  Formel  bevorzugt.  6)  Bei  den  niederen 
Klassen  merkt  man  eine  mangelhafte  und  wortarme  Begründung  und  das  Bestreben,  die 
Operation  mit  der  Operation  selbst  zu  rechtfertigen;  bei  den  höheren  Klassen  dagegen 
bemerkt  man  Überschüsse  an  der  Erklärung,  als  ob  die  Schüler  befürchteten,  dunkle 
i'unkte  zu  lassen.  7)  Die  Mädchen,  deren  komplette  Leistungen  schon  geringer  sind  als 
die  der  Knaben,  weisen  auch  einen  größeren  Prozentsatz  von  inkorrekten  Leistungen 
innerhalb  der  kompletten  auf.  So  finden  sich  bei  den  Knaben  der  V.  Klasse  unter 
87  Fällen  kompletter  Leistungen  25  inkorrekte;  bei  den  Mädchen  unter  48  Fällen  kom- 
pletter Leistungen  24  inkomplette.  8)  Ein  großer  Teil  der  Resultate  ist  auf  zufällige 
Einflüsse  (Ermüdung  usw.)  zurückzuführen,  denn  anders  wäre  die  Tatsache  nicht  zu 
erklären,  daß  verschiedene  Knaben  zwei  Monate  später  (Vakanzmonatc)  dieselben  Aufgaben 
mit  Leichtigkeit  lösten.  9)  Ein  Teil  der  Schüler  beherrscht  die  Aufgabe  und  arbeitet 
ohne  Unterbrechung  und  ohne  zurückzukehren,  bis  sie  fertig  sind,  ein  anderer  Teil 
dagegen  erreicht  eine  gewisse  Stelle,  kehrt  wieder  zurück,  schlägt  einen  anderen  Weg 
ein  usw. 

Sehr  interessant  und  ausführlich  ist  das  neunzehnte  Experiment,  welches 
die  „mnesische  Potenz"  („rekordati ve  Fähigkeit"  der  Schüler  zu  unter- 
suchen strebt.  Es  ist  ein  Massenversuch;  der  Klasse  wird  die  folgende  Aufgabe  diktiert: 
„Jemand  hatte  in  einem  Stalle  122  Schafe,  in  einem  anderen  203,  in  einem  dritten  17; 
er  verkaufte  220,  jedes  um  2  Pesos,  68  gingen  zugrunde,  den  Rest  verkaufte  er  zu  je 
1,60  Pesos;  welchen  Wert  löste  er  aus  seinen  Schafen?"  In  der  II.  Klasse  war  die 
Aufgabe  vereinfacht:  „Jemand  hatte  in  einem  Stalle  122  Schafe,  in  einem  anderen  203, 
in  einem  andern  17;  60  gingen  zugrunde  und  den  Rest  verkaufte  er  zu  je  2  Pesos;  was 
löste  er  dafür?"  Nach  30  Sek.  wird  dieselbe  Aufgabe  wiederholt,  wobei  darauf  geachtet 
wurde,  daß  die  Schüler  keine  Notizen  machten.  Dann  mußten  die  Schüler  die  Aufgabe 
auf  dem  Papier  genau  reproduzieren. 

Mit  diesem  Experiment  will  der  Autor  ergründen:  „1)  Die  Reproduktion  der  ge- 
hörten Zahlen  der  Operationen,  welche  zu  vollziehen  wären."  „2)  Die  koordinierte  und 
logische  Reproduktion  der  Teile,  welche  von  einer  allgemeinen  Lösung  der  Aufgabe 
abhftngt"  (Das  nennt  er  Erkenntnis.)  Zwei  Wege  sind  nach  ihm  möglich  bei  der  Re- 
produktion: 1)  entweder  wird  die  Aufgabe  in  derselben  sukzessiven  Ordnung  hervor- 
gerufen, wie  sie  gegeben  war,  oder  2)  das  Problem  wird  in  Teile  zeriegt  nach  dem 
logischen  Sinn.     Die  intelligenteren  Schüler    bieten   mehr  Fehler  bei  den   unter    I)  ge- 


~    301    — 

nannten  Leistungen,  weil  sie  mehr  Aufmerksamkeit  auf  den  logischen  Plan  verwenden 
als  auf  die  Ziffern. 

Bei  der  II.  Klasse  merkt  man,  daß  der  größte  Teil  der  Schüler  die  Frage  nicht 
reproduziert  und  daß  das  Vergessen  der  Propositionen  von  den  letzten  zu  den  ersten 
fortschreitet,  derart,  daß  die  erste  von  allen  geschrieben  worden  ist.  Die  Ausdrucks- 
weise ist  korrekt,  die  Worte  fast  immer  wie  die  gehörten;  die  Zahlen  17,50  und  2  sind 
in  Ausnahmefällen  durch  andere  substituiert,  nicht  so  122  und  203,  jedoch  niemals  mit 
Zahlen  von  mehr  als  drei  Ziffern,  selten  schon  durch  solche  aus  zwei.  Die  III.  Unter- 
klasse bietet  keine  so  regelmäßige  Reproduktion  wie  die  IL  dar,  sie  ist  jedoch  kompletter. 
Wenige  vergessen  die  Frage,  viele  die  dritte  Proposition,  die  auch  oft  verwechselt  wird. 
Die  am  häufigsten  reproduzierte  Zahl  ist  50.  Wie  bei  der  IL  Klasse  ändert  sich  die 
Benennung  Schafe  manchmal  in  Pferde,  Kühe,  Ochsen,  eine  Tatsache,  der  wir  wiederholt 
auch  bei  der  V.  Klasse  begegnen.  Bei  der  IIL  Oberklasse  bietet  die  Reproduktion  der 
Propositionen  denselben  Anblick  wie  die  der  früheren  Klassen.  Die  Reproduktion  der 
Zahlen  ist  viel  getreuer;  50  und  17  erscheinen  allen  Texten;  122  und  1,50  oft  ohne 
Vergessen  des  Dezimalkommas ;  bei  den  Preisen  pflegt  2  für  2,50  substituiert  zu  werden; 
203  für  213;  es  gibt  Vertauschungen  in  der  Reihe  der  Quantitäten  213,  122  und  17  an 
Stelle  von  122,  203  und  17.  Die  Ausdrucksweise  wird  eigener  und  inkorrekter  als  bei 
den  früheren  Stufen.  Darunter  kommt  ein  Text  ohne  Zahlen  vor  von  einem  Mädchen. 
Die  IV.  Klasse  bietet  ein  eigentümliches  Phänomen  reproduktorischer  Aktivität,  welche 
der  Autor  als  einen  Fall  von  „kollektiver  Hypermnesie"  betrachtet,  um  so  mehr,  als  die 
V.  Klasse  das  umgekehrte  Phänomen  darbietet.  Es  soll  von  einer  physiologischen  Krisis 
zeugen.  Der  Text  wird  in  fast  allen  Fällen  bezüglich  der  Zahlen,  Worte,  Propositionen 
und  Konzepte  bis  auf  die  Zeichen  getreu  reproduziert,  denn  keiner  vergaß  das  Frage- 
zeichen ;  nur  3  änderten  die  Ordnung  der  Quantitäten,  5  substituierten  eine  für  die  andere 
und  verschiedene  machten  Fehler  bei  der  Frage.  Kein  Fall  von  Verschmelzung  kommt 
vor,  darin  ist  die  Erinnerung  von  größerem  Umfang  als  bei  irgend  einer  anderen  Klasse. 
Die  V.  Klasse  bietet,  wie  erwähnt,  die  umgekehrte  Erscheinung  der  IV.  Klasse.  Zahl- 
reiche Fälle  von  inkompletten  „Amnesien"  und  diffusen  „Hypermnesien"  kommen  vor, 
nur  die  VI.  Klasse  verbessert  das  in  einer  kaum  bemerkten  Weise.  Diese  Krisen  können, 
meint  M er cante,  wegen  ihres  kollektiven  Charakters  nur  transitorisch  sein  und  kommen 
auch  nur  von  einer  transitorischen  Ursache  her,  wird  jedoch  unvermeidlich  in  der  psy- 
chologischen Entwicklung  des  Individuums.  Bezüglich  der  Zahlen  bieten  sich  bemerkens- 
werte Fälle  von  Substitutionen  und  Vertauschungen  in  fast  allen  Texten.  Ein  Mädchen 
z.  B.  reproduziert:  „Jemand  hatte  in  einem  Stalle  2,000  Schafe,  173  Lämmer;  in  einem 
anderen  17,000,  in  einem  anderen  320;  es  starben  diese,  und  den  Rest  verkaufte  er  zu 
17  Centaros  pro  Stück."  Die  Verwirrung  ist  hier  so  unnormal,  wie  keine  Klasse  eine 
ähnliche  bietet.  Die  VI.  Klasse  reagiert  fast  normal,  jedoch  nicht  so,  daß  man  sie  für 
außerhalb  der  Krisis  halten  kann.  Die  Ausdrucksweise  ist  korrekt  und  strebt  nach 
Eigenheit.  Das  beweist,  daß  die  Aufmerksamkeit  sich  mehr  auf  die  Ideen  richtet.  Die 
Zahl  17  erscheint  in  fast  allen  Texten;  häufig  50;  dann  122,  achtmal  203  (bei  33  Schü- 
lern), oft  substituiert  durch  213  und  113.  Das  dürfte  ein  Fall  von  mangelhafter,  audi- 
tiver Perzeption  und  nicht  von  akustischer  Amnesie  sein. 

Das  zwanzigste  Experiment  trägt  den  Titel  schöpferische  Imagina- 
tion. Damit  hat  sich  der  Autor  vorgenommen  zu  untersuchen:  1)  die  Zahl  der  Kom- 
binationen, welche  der  Geist  der  Schüler  ohne  Anstrengung  hervorbringen  kann ;  2)  den 
Grad  von  Koordination  und  Logik  beim  Beziehen  der  Daten  unter  sich,  und  3)  die 
größere   oder  geringere  Korrespondenz   des  Datums   mit  dem  Objekt   (Grad   der  Asso- 


—    302    — 

xiationsexaktheit).  Hierbei  kommt  in  Betracht  die  Konkurreni  des  Alters,  der  Übung, 
der  IJildiing,  der  natürlichen  Entwicklung,  der  Intelligenz  usw.  Um  die  Imaginationskrafl 
der  Schüler  zu  ergründen,  gibt  Mercante  den  Schülern  folgende  Aufgabe:  Es  soll  eine 
Aufgabe  formuliert  werden  betreffs  der  vor  ihnen  befindlichen  Tafel,  das  Nähere  steht 
völlig  frei. 

Der  größte  Einfluß,  den  man  da  konstatieren  kann,  ist  der  des  Unterrichtes.  Es 
werden  meist  die  Aufgaben,  die  innerhalb  de«  Schuljahres  vorgekommen  sind,  nachgeahmt. 
Die  einzelnen  Schulklassen  zeigen  die  nämlichen  Unterschiede  wie  bei  dem  vorigen  Ex- 
periment. In  betreff  der  Logik  sind  die  Kesultate  besser  bei  der  freien  Aufstellung  des 
Problems  als  bei  dem  nach  Gehör  reproduzierten.  Die  Korrespondenz  der  Daten  mit  dem 
Objekt  bietet  einen  wachsenden  Grad  von  Exaktheit  von  der  II.  bis  zur  VI.  Klasse  mit 
den  besonderen  Momenten  der  Krisis.  Der  Überschuß  an  Text,  in  reduzierter  Anzahl 
von  Aufgaben ,  enthüllt  ein  begrenztes  Gebiet  der  allgemeinen  Lösung.  Die  Fälle  von 
Assintaxismus  kommen  nur  da  zum  Vorschein,  wo  Aufgaben  mit  Kombinationen  aus- 
gedacht werden.  Die  Einbildungskraft  der  Knaben  ist  reicher  und  umfassender  als  die 
der  Mädchen.  Die  Progression  bezüglich  der  Zahl  der  Kombinationen  ist  konstant  von 
der  II.  bis  zur  VI.  Klasse.  Bei  den  Operationen  herrscht  die  Multiplikation  vor.  Die 
Operation  der  Subtraktion  erscheint  nur  in  G  Fällen  (unter  180  Schülern),  kombiniert  mit 
der  Multiplikation,  die  Division  nur  in  2  Fällen,  die  Addition  in  7,  kombiniert  mit 
anderen  Operationen  in  14.  Das  hängt  wahrscheinlich  mit  der  Art  der  Aufgabe  zusammen; 
die  Schüler  haben  die  Fläche  oder  das  Volumen  der  Tafel  berechnet,  manche  haben  sie 
mit  Ölfarben  bemalen  lassen,  andere  haben  sie  neu  herstellen  lassen,  manche  haben  mit 
einer  Aufgabe  angefangen,  abes  ohne  Daten  anzugeben.  So  schreibt  ein  Mädchen  nur: 
„Welches  ist  die  Fläche  der  Tafel?"  ein  anderes:  „Wieviel  muß  diese  Tafel  messen, 
wenn  sie  3,50  m  Länge  und  1,50  m  Höhe  mißt". 

Diese  zwanzig  Experimente  sind  die  Gnmdlage  der  Scholarpsychologie  von  Mer- 
eante.  Eine  eingehende  Kritik  bedürfen  sie  nicht,  die  Fehler  treten  klar  hervor,  wenn 
man  nur  die  Versuchsanordnung  liest.  Wie  erwähnt,  tragen  fast  alle  Versuche  den  Cha- 
rakter der  Zufälligkeit  und  die  Resultate  den  der  Überlegung  und  Konstniktion.  Ein 
einziges  Experiment,  mag  es  auch  Massencharakter  tragen,  genügt  nicht,  das  Wesen  des 
/ählens,  des  Lesens  von  Zahlen  usw.  zu  ergründen.  Eine  einzige  Wiederholung  der 
Untersuchungen  über  das  Lesen  der  Zahlen  (zweites  Experiment),  die  Operationen  (achtes, 
neuntes,  zehntes  Experiment),  die  visuelle  Komparation  und  Reproduktion  der  Linie 
(elftes  und  zwölftes  Experiment)  unternimmt  der  Autor  mit  der  V.  Klasse  nach  12  Tagen 
und  bemerkt:  „Wenn  die  Repitition  nicht  unmittelbar  ist,  verbesserte  sie  die  Leistung 
nicht."  Aber  die  Beding\ingen  zu  ändern,  oder  andere  Mittel  zur  Untersuchung  derselben 
Phänomena  lu  unternehmen,  daran  hat  der  Autor  nicht  gedacht.  Daher  kommt  dann 
auch  diese  Unvollkommenheit  der  Resultate,  die  man  leicht  in  den  jedes  Experiment  be- 
gleitenden Bemerkimgen  findet.  Die  Initiative  selbst  aber  ist  zu  loben  und  nachahmens- 
wert; mit  wenigen  Instnimenten  (nur  einer  Uhr),  bei  einer  ganz  einfachen  Anordnung 
der  Untersuchung,  kann  man  gute  Resultate  bekommen,  die  für  den  Lehrer  von  großmi 
Wert  sind. 

Nur  kurz  eri^ähnt  sei  hier  noch  eine  Untersuchung  Mercantes  über  „Die  Ästhe- 
tik der  Mathematik".  Am  Ende  des  Schuljahres  (25.  November)  suchte  Mercante 
durch  Anwendung  der  Fechner sehen  Wahlmethode  herauszufinden,  welche  Art  Auf- 
gaben den  Schülern  am  meisten  gefallen.     Dazu  stellte  er  folgende  Fragen: 

A.   Welche  von  den  folgenden  beiden  Übungen  ist  die  schönere  (angenehmere)? 


—    303    — 


a)  Zu  reduzieren  auf  die  einfachste  Art: 


b)  Zu  addieren 


4 
13 


+^  + 


13 


+  -^  + 


(4  +  6  +  7  +  8)  :  (9+10+11  +  12) 
(4 +  6  + 7 +  8):  (18 +  20 +  22 +  27) 
25    .     7     .     101 


11 


13    '      7 

B.  Welche  von  4en  folgenden  Aufgaben  ist  die  schönste?  a)  Wenn  6  Mikronen 
die  Länge  eines  Bakteriums  sind,  wieviel  dringen  dann,  in  eine  Reihe  gesetzt,  in  einen 
Dezimeter?  —  b)  Ein  Beobachter  mißt  drei  Temperaturen  während  des  Tages;  um  7^ 
morgens  beträgt  sie  22°,  um  2^1  mittags  34  ^  um  0*»  abends  20";  wie  groß  ist  die  mitt- 
lere Temperatur  ?  —  c)  Zwei  Heere  sind  auf  dem  Marsch  nach  Pretoria ;  das  Burenheer 
ist  120  km  näher  der  Stadt  als  das  von  Lord  Roberts  und  leistet  einen  Marsch  von 
25  kg  pro  Tag.  Die  Distanz  zwischen  dem  Burenlager  und  Pretoria  ist  450  km;  wann 
erreicht  das  englische  Heer,  das  täglich  35  km  zurücklegt,  das  Burenheer?  Mit  welcher 
Schnelligkeit  muß  das  Burenheer  marschieren,  damit  das  Zusammentreffen  mit  dem  Feind 
in  Pretoria  stattfindet  ?  —  d)  Jedesmal  bei  zwei  Umdrehungen  des  Pferdes  gibt  die  Eimer- 
kette eines  Wasserrades  eine  vollständige  Drehung.  Es  sind  15  Eimer,  jeder  schöpft 
3  Liter  Wasser  in  den  Trog.  Wieviel  Drehungen  muß  das  Pferd  machen,  um  den  Trog 
zu  füllen,  wenn  seine  Dimensionen  3,75  m  Länge,  2  m  Breite,  1,5  m  Höhe  sind? 

C.  Von  allen  während  des  Jahres  gelösten  Aufgaben  soll  derjenige  Text  gegeben 
werden ,  welcher  am  besten  gefallen  hat  und  die  größte  Aufmerksamkeit  hervorgerufen 
hat.     (Die  Schüler  hatten  ein  Aufgabebuch.) 


Tabelle  V. 


Klassen 

Es  wählten  A 

Es  wählten  B 

Es  wählten  C 

a 

b 

a 

b 

c 

d 

Übungen 

Aufgaben 

V.  Klasso      ^"*''^° 

Mädchen 

IV.  Klasse  \  K"='^™ 
i   Mädchen 

6 
16 

8 
12 

8 

1 

15 

2 

9 

1 
5 

1 
2 

3 

1 
8 

1 
2 

3 
13 

7 
8 

1 
3 
3 
5 

5 
21 

7 
12 

Summa 

42 

14 

17 

6 

12 

31 

12 

45 

Einige  Schüler  wählten  zwei  Aufgaben  auf  einmal. 

Schön  waren  entweder  die  ganz  einfachen  Aufgaben,  oder  die  anscheinend  ver- 
wickelten aber  leichten  Aufgaben.  Viele  Schüler  wählten,  ohne  sagen  zu  können,  warum 
die  betreffende  Aufgabe  ihnen  gefällt. 

Was  den  zweiten  Teil  des  Werkes  betrifft,  so  enthalte  ich  mich  einer  eingehenden 
Besprechung.  Die  einzelnen  Lektionen  sind  sehr  ausführlich  entwickelt ;  es  sind  ange- 
geben die  Fragen  des  Lehrers  sowie  die  Antworten  der  Schüler.  Man  bemerkt  nicht  die 
fünf  formalen  Stufen  in  jeder  Lektion,  aber  von  einem  anderen  Formalismus  ist  der  Autor 
nicht  frei;  es  findet  sich  immer  ein  Anfang,  eine  Mitte  und  ein  Schluß.  Die  Entwick- 
lung der  Lektion  wird  von  einem  Plan  eingeleitet.  Der  Stoff,  den  sich  der  Schüler  ein- 
prägen muß,  ist  sehr  groß,  und  wenn  die  Kinder  wirklich  alles  das  beherrschen  können, 
dürften  sie  sehr  gescheit  sein.  Die  I.  Klasse  z.  B.  soll  nach  M  er  c ante  am  Ende  des 
Schuljahres  alle  Zahlen  bis  10000  lesen  und  schreiben  und  außerdem  einfache  Additionen 
und  Subtraktionen   mit   denselben    ausführen    können.      Dazu    sollen    noch   manche   Maß- 


—    304    — 

einbeiten  und  Münzen,  mit  welchen  verschiedene  Aufgaben  kombiniert  werden,  gelernt 
werden.  Vielleicht  ist  für  die  lokalen  VerhältnisBc  in  Argentinien  der  iweite  Teil  deg 
Werkes  von  Bedeutung;  für  uns  kommt  nur  der  erste  Teil  in  Betracht,  dessen  Inhalt 
ich  deshalb  ausführlicher,  als  es  an  sich  vielleicht  die  Resultate  verdienen,  wiederzugeben 
bestrebt  war,  weil  bis  jetzt,  außer  einem  kurzen  Referat  in  der  Rev.  philos.  keine  größere 
Besprechung  in  einer  deutschen,  französischen  oder  englischen  Zeitschrift  erschienen  ist, 
und  das  spanische  Original  doch  wohl  nicht  allgemein  zugänglich  sein  dürfte. 

B.  Seh  an  off  (Würzburg). 

Emile  Ja vnl,  Die  Physiologie  des  Lesens  und  Schreibens.  Autori- 
sierte Übersetzung  nach  der  zweiten  Auflage  des  Originals,  nebst  Anhang  über  deutsche 
Schrift  und  Stenographie.  Von  Dr.  med,  F.  Haass,  Augenarzt  in  Viersen.  Mit  101 
Figuren  im  Text  und  einer  Tafel.  Leipzig,  Wilhelm  Engelmann,  1907.  M.  9. — ;  geb. 
M.  IG.-.*) 

Es  ist  sehr  erfreulich,  daß  das  berühmte  Werk  von  Javal  (der  im  Januar  1907 
gestorben  ist)  nunmehr  in  deutscher  Übersetzung  vorliegt.  Es  hat  sich  seit  seinem  Er- 
scheinen in  französischer  Sprache  (erste  Auflage  1905,  zweite  1906)  schon  viele  Freunde 
erworben.  Den  Verf.  hat  das  tragische  Schicksal  erreicht,  daß  er  erblindet  ist,  er  bemerkt 
selbst  darüber:  „vielleicht  ist  mein  Leiden  aber  doch  nicht  ohne  Ausgleich  geblieben, 
denn  es  hat  mich  dazu  beföhigt,  die  die  Blindenschrift  behandelnden  Teile  mit  mehr  Sach- 
kenntnis abzufassen". 

In  der  Einleitung  tadelt  es  Javal  zunächst,  daß  sich  seit  mehr  als  drei  Jahrtausen- 
den „die  Buchstaben,  deren  sich  der  Mensch  zum  Aufschreiben  seiner  Gedanken  bedient, 
fast  ohne  Methode,  nach  dem  Lauf  der  Umstände  entwickelt  haben".  Daher  seien  unsere 
modernen  Schriftarten  „eine  Beleidigung  des  gesunden  Menschenverstandes'*  und  werden 
nur  infolge  des  Jahrhunderte  alten  Schlendrians,  der  sie  von  Generation  zu  Generation 
überliefert,  geduldet.  Bevor  man  aber  Verbesserungen  vorschlagen  kann,  muß  man  wissen, 
was  bisher  in  dieser  Richtung  geschehen  ist.  Deshalb  will  Javal  im  ersten  Teile  seines 
Werkes  einen  Überblick  geben  über  die  Entwicklung  der  traditionellen  Schrift,  den  Buch- 
druck und  drei  neue  künstlerische  Schriftarten :  die  stenographische,  die  musikalische  und 
die  Blindenschrift.  In  dem  zweiten  Teil  wird  dann  die  Optik  des  Auges,  insbesondere 
die  Sehschärfe,  der  Einfluß  der  Beleuchtung  auf  die  Sehschärfe,  die  Bedeutung  der  Gnind- 
Haarstriche,  dann  die  Tastschärfe,  darauf  der  Mechanismus  des  Lesens  und  des  Schreibens, 
endlich  die  Schnelligkeit  des  Lesens  und  Schreibens  behandelt.  Der  dritte  sehr  umfang- 
reiche Teil  bringt  die  Schlußfolger»ingen  für  die  Praxis.  Es  sei  nebenbei  bemerkt,  daß 
das  Werk  mit  besonderen  Typen  gedruckt  ist,  die  nach  den  AA'ünschen  des  Verf.  ausge- 
mhrt  sind. 

Es  folgt  zunächst  ein  „Begleitwort"  des  Übersetzers,  in  welchem  er  über  Javals 
Lebensschioksal  und  seine  Bedeutung  als  Forscher  eine  kurze  Orientierung  gibt,  es  ent- 
hält femer'lehrreiche  Mitteilungen  über  die  Schwierigkeiten  der  Herstellung  der  vorliegenden 
deutschen  Ausgabe,  an  der  verschiedene  Kräfte  zusammenwirken  mußten,  insbesondere  der 
Übersetzer  und  Verleger,  namentlich  bereitete  es  Schwierigkeiten,  die  von  Javal  gewünschten 
Typen  zu  besorgen. 

Der  erste  Teil  des  Werkes,  die  Geschichte  der  Schrift,  hat  am  wenigsten  psycholo- 
gisches Interesse,    wir  deuten  seinen  Inhalt   daher    nur   kun  an.    Das  erste  Kapitel  gibt 


*)  Aus  dem  Arohiv   für   die  ges.  Psychologie   Bd.  XVI,   mit  einigen  Zusätzen  ab- 
gedruckt. 


—    305    — 

einen  Überblick  über  die  Entwicklung  der  Inschriftenkunde.  Der  Verf.  zeigt  hier,  wie 
sich  allmählich  der  Gebrauch  des  Haar-  und  Grundstriches  entwickelt,  wie  die  Initialen 
aufkommen,  die  Apices,  d.  h.  die  kleinen  wagerechten  Striche  am  Ende  der  Buchstaben- 
zeichen, u.  a.  m.  Wichtig  ist  dabei,  daß  der  Verf.  zwischen  vollkommener  Sichtbar- 
keit und  liesbarkeit  der  Schrift  unterscheidet ;  die  erstere  wird  am  besten  erreicht 
von  der  quadratischen  Antiqua,  deren  Buchstaben  (bei  den  Griechen)  überall  die  gleiche 
Dicke  hatten,  die  letztere  erreicht  man  durch  Vermehrung  des  Unterschiedes  der  Druck- 
und  Haarstriche  und  Verbreiterung  des  Zwischenraumes  zwischen  den  einzelnen  Buch- 
staben :  breite  Grundstriche  bei  sehr  dünnen  Haarstrichen,  wobei  die  Buchstaben  ungefähr 
Quadrate  füllen,  ergeben  die  größte  Lesbarkeit.  Das  Schreiben  in  der  wagerechten  Zeile 
verteidigt  der  Verf.  nach  der  bekannten  Leichtigkeit  der  Augenbewegungen  in  horizontaler 
Richtung;  dagegen  will  er  den  Wechsel  der  Leserichtung  unserem  System  des  bloßen 
Lesens  von  links  nach  rechts  vorziehen,  weil  das  Einhalten  der  Zeilen  bei  unserem  System 
schwieriger  sei. 

Das  zweite  Kapitel  behandelt  in  großen  Zügen  die  Geschichte  der  Schrift. 
Die  Entwicklung  der  Form  der  großen  Buchstaben  verfolgt  der  Verf.  nicht  weiter,  über 
die  Minuskeln  bemerkt  er,  daß  sie  „das  Ergebnis  unzähliger  Umänderungen  sind,  die 
nebeneinander  in  Italien,  Deutschland,  Spanien,  England  und  Frankreich  sich  vollzogen." 
Bald  entwickelten  sich  zahlreiche  Schriftarten  nebeneinander,  der  Verf.  konnte  natürlich 
nicht  auf  sie  alle  eingehen,  und  er  erwähnt  nur  ihre  wichtigsten  Arten.  Allmählich  bahnt 
sich  immer  mehr  die  Rückkehr  zur  Antike  an.  Als  'treibende  Ursachen  in  dieser  Ent- 
wicklung sieht  er  an  die  Veränderung  der  Papierpreise,  der  Form  der  Feder  und  den  Ge- 
brauch von  Brillen.  Die  viereckige  Form  der  Federspitze  hat  z.  B.  der  gotischen  Buch- 
stabenform den  Ursprung  gegeben,  und  der  zunehmende  Gebrauch  der  Konvexbrille  trug 
zur  Verkleinerung  des  Druckes  bei. 

Das  dritte  Kapitel  behandelt  die  Entwicklung  des  Buchdrucks.  Während  eine 
Kursivschrift  vor  allem  die  Forderungen  der  größtmöglichsten  Leichtigkeit  und  Schnellig- 
keit erfüllen  muß,  treten  an  die  Druckschrift  ganz  andere  Forderungen  heran.  Diese 
werden  nun  vom  Verf.  auf  das  sorgfältigste  untersucht,  das  vorliegende  Kapitel  macht  sie 
an  der  Hand  der  geschichtlichen  Wandlungen  der  Antiquatypen  klar,  die  diurch  eine  An- 
zahl Abbildungen  erläutert  werden. 

Es  folgt  im  vierten  Kapitel  ein  Überblick  über  die  Entwicklung  der  Stenographie, 
den  wir  hier  nicht  wiedergeben.  Er  enthält  übrigens  auch  eine  Auswahl  des  Materials, 
die  deutsche  Leser  nicht  sehr  interessieren  kann. 

Im  fünften  Kapitel  folgt  die  Entwicklung  der  Musikschrift,  im  sechsten  die  der 
Reliefschrift  (Blindenschrift). 

Der  zweite  Teil  enthält  dann  „Theoretische  Betrachtungen",  er  gibt  die  physikali- 
schen, physiologischen  und  psychologischen  Grundlagen  einer  Theorie  des  Lesens.  Aus 
diesen  heben  wir  hier  nur  das  nicht  allgemein  Bekannte  hervor.  Der  Verf.  entwickelt 
zunächst  die  bekannten  Verhältnisse  des  normalen  emmetropen,  des  presbyopen,  des  my- 
open und  hypermetropen  Auges,  und  zeigt  dann  das  nach  seinen  Untersuchungen  an 
Schulkindern  die  Kurzsichtigkeit  gewöhnlich  im  Alter  von  acht  bis  zehn  Jahren  zuerst  auftritt 
und  dann  sich  noch  leicht  bekämpfen  läßt,  vor  allem  durch  rechtzeitiges  Tragen  einer 
Brille.  Man  sollte  femer  gerade  in  den  ersten  Schuljahren  „die  Kinder  mit  der  größten 
Sorgfalt  davon  abhalten,  sich  den  Büchern  und  Heften  allzusehr  zu  nähern".  „Um  dies 
möglichst  zu  erleichtern,  muß  die  Beleuchtung  der  Schulzimmer,  der  Druck  der  Bücher, 
die  Stellung    der  Tische  und  Bänke    auf  das    peinlichste  überwacht  werden.    Vor   allem 


—    306    — 

mflBsen  Schreibmethoden  angewandt  werden,  welche  mit  einer  guten  Haltung  der  Schüler 
vereinbar  sind. 

Ganz  besonders  genau  erörtert  der  Verfasser  sodann  den  Astigmatismus  und  beschreibt 
dabei  auch  die  von  ihm  erfundene  Form  des  Ophthalmometers,  die  gegenüber  dem  viel 
komplizierteren  Helm holtz sehen  Apparat  einen  großen  Fortschritt  bezeichnet.  Mit  der 
Betrachtung  der  Anisometropie  und  interessanten  Ausführungen  über  die  Reguliervorrich- 
tungen des  Auges  schließt  dieses  Kapitel. 

Sehr  ausführlich  wird  sodann  die  Sehschärfe  behandelt,  und  zwar  zunächst  die  Seh- 
schärfe unabhängig  von  der  Beleuchtung.  Er  widerspricht  dabei  in  verschiedenen  Punkten 
S n e  1 1  e n  und  Vorschläge  zur  Verbesserung  der  S n e  1 1  e n sehen  üptotypi.  Auch  Snellens 
Begriff  der  normalen  Sehschärfe  verwirft  der  Verf.,  „S n e  1 1  e n  hat  tatsächlich  das 
für  normale  Sehschärfe  genommen,  was  ich  lieber  mittlere  Sehschärfe  nennen 
möchte".  Eine  gute  Sehschärfe  kann  nach  Javal  „auf  ein  Meter  Entfernung  die  Kapi- 
talen der  Antiqua,  welche  1  mm  hoch  sind  und  aus  '/ö  nioi  dicken  Strichen  bestehen, 
lesen".  Die  Abstufungen  der  Sehproben  wünscht  der  Verf.  nach  geometrischer  Pro- 
gression. 

Sodann  erörtert  Javal  (im  nächsten  Kapitel)  den  Einfluß  der  Beleuchtung 
auf  die  Sehschärfe.  Er  betrachtet  zunächst  die  Bedingungen  der  Sichtbarkeit  eines 
Punktes.  Dabei  kommt  er  zu  dem  Resultat,  daß  die  „Sichtbarkeit  eines  weißen  Punktes 
auf  vollkommen  schwarzem  Grunde  proportional  ist  dem  Quadrat  des  Durchmessers  dieses 
Punktes  und  proportional  der  Beleuchtung".  Anders  verhält  es  sich  mit  der  Sichtbar- 
keit einer  Linie.  Diese  ist  nur  proportional  ihrer  Dicke  und  in  hohem  Maße  un- 
abhängig von  ihrer  Länge.  Zugleich  stellt  der  Verf.  „im  Gegensatz  zu  allen  klassischen 
Büchern"  fest,  daß  die  Lesbarkeit  eines  Buchstabens  nicht,  wie  man  gewöhnlich  angibt, 
zwei,  sondern  drei  von  einander  unterscheidbare  Punkte  voraussetzt.  Für  die  Lesbar- 
keit der  Buchstaben  (aus  großer  Entfernung)  stellt  der  Verf.  die  Regel  auf,  daß  die 
„schematische  Buchstabenform"  um  so  besser  erkannt  wird,  je  dünner  ihre  Striche  bei 
hellster  Beleuchtung  sind,  denn  die  Lesbarkeit  deckt  sich  nicht  mit  der  Sichtbarkeit. 

Das  zehnte  Kapitel  betrachtet  nun  die  Grund-  und  Haarstriche  in  der 
Druckschrift.  Wenn  nun  die  Lesbarkeit  der  Buchstaben  bei  dünnen  Strichen  eine 
besonders  günstige  ist,  so  stände  nichts  im  Wege,  recht  dünne  Typen  zu  empfehlen,  vor- 
ausgesetzt, daß  man  immer  mit  einer  idealen  B  eleuc  htung  rechnen 
könnte.  Da  aber  diese  nicht  immer  vorausgesetzt  werden  darf,  so  tut  man  gut,  die 
Dicke  der  Gnmdstriche  so  zu  wählen,  daß  man  mit  dem  Licht  einer  Kerze  oder  schlechten 
Lampe  rechnet.  Femer  kommt  in  Betracht,  daß  die  Lesbarkeit  der  Buchstaben  mit  zu- 
nehmender Kleinheit  der  Typen  abnimmt,  daher  empfiehlt  der  Verf.  mit  der  Verkleinening 
der  Buchstaben  ihre  Große  so  weit  zunehmen  zu  lassen,  als  dieses  Prinzip  nicht  gegen 
den  ästhetischen  Eindruck  verstößt.  Wie  dann  ferner  nocli  mit  den  Fehlem  des  Auges 
gerechnet  wird,  um  die  praktisch  empfehlenswerteste  Form  der  Buchstaben  zu  finden,  das 
ist  mehr  technisch  als  psychologisch  interessant. 

Das  nächse  Kapitel  (elfte)  beschäHigt  sich  mit  der  „Tastschärfe",  als  dem  Äqui 
valent  dos  lesenden  Blinden  für  die  Sehschärfe.     Mit  Recht    spricht    der  Verf.  dabei  vun 
Tastschärfe  und  nicht  von  der  Empfindlichkeit  des  Tastsinns,  weil  es  sich  dabei  um  einen 
Wahrnehmungsakt  der  Blinden  handelt,    nicht  um  die  Feinheit  ihres  Hautsinni  als 
solche. 

Hierbei  macht  der  Verf.  einige  psychologisch  interessante  Mitteilungen  über  dos 
Lesen  der  Blinden  und  die  so  viel  erörterte  Frage,  ob  die  Tastschärfc  der  Blinden  weni- 
ger genau  sei,  als  die  der  Sehenden.    Der  Verf.  stellt  zunächst  fest,    daß  man   nach   den 


—    307    — 

üblichen  Schwellenbestimmungen  mit  der  Zweispitzenmethode  in  der  Blindenschrift  Di- 
stanzen von  2 — 272  cm  zwischen  je  zwei  Punkten  oder  Linien  zu  wählen  pflegt.  Beim 
Blinden  findet  man  nun  durchweg  eine  geringere  Tastschärfe  als  beim  vollsinnigen 
Menschen,  ein  flotter  Leser  unter  den  Blinden  kann  in  der  Regel  erst  bei  3  mm  Distanz 
die  Zirkelspitzen  als  zwei  erkennen.  Es  ist  nun  besonders  wichtig  aus  den  Ausführungen 
des  Verf.  zu  ersehen,  daß  d'\e&  gar  nichts  mit  dem  sogenannten  Sinnenvikariat  zu  tun  hat, 
weil  die  ganze  Erscheinung  ein  Produkt  der  Betätigung  (Übung)  des  Lesens  selbst 
ist.  So  konnte  Javal  bei  sich  selbst  beobachten,  daß  die  Tastschärfe  seines  rechten 
Zeigefingers  viel  geringer  als  die  seines  linken  geworden  ist,  und  er  meint,  daß  das  nicht 
an  der  Verdickung  des  Epidermis  liege  (es  ist  aber  ganz  unzweifelhaft  notwendig,  daß 
diese  dazu  beitragen  muß,  der  Referent).  Wie  sehr  die  ganze  Erscheinung  von  der  Übung 
abhängen  muß,  das  sieht  man  aus  der  Bemerkung  Javals,  daß  nach  einigen  Stunden 
des  Lesens  die  Empfindlichkeit  des  Zeigefingers  sogar  so  weit  abnimmt,  daß  „sie  voll- 
kommen ungenügend  wird".  „Wenn  ich  dann,  so  fährt  Javal  fort,  die  Spitze  eines  un- 
gebrauchten Fingers  auf  d'e  Buchstaben  lege,  um  zu  lesen,  so  kommen  mir  die  Punkte 
viel  schärfer  vor."  „Diese  Verminderung  der  Empfindlichkeit  ist  der  vorübergehenden 
Amaurose  (Sehschwäche)  vergleichbar.  Die  Ausübung  des  Lesens  stumpft  die 
Tastschärfe  ab,  und  ich  habe  den  subjektiven  Eindruck,  daß  die  Verminderung  der 
Schärfe  durch  Abnahme  des  Empfindungsvermögens  eintritt." 

Diese  Erscheinung  ist  nach  der  Meinung  des  Referenten  nur  zu  erklären  durch  eine 
zentralnervöse  Abstumpfung  des  Tastmechanismus.  Dazu  stimmt  auch  die  folgende  Mit- 
teilung Javals:  „Ganz  paradox  hierzu  ist  folgende  Erscheinung.  Die  Finger,  welche 
der  Blinde  gewöhnlich  nicht  zum  Lesen  benutzt,  und  deren  Empfindlichkeit  gewöhnlich 
beträchtlich  größer  ist,  sind  nicht  fähig,  ebensogut  zu  lesen  wie  der  Zeigefinger;  eine 
ähnliche  Beobachtung,  wie  man  sie  bei  so  vielen  Sehenden  macht,  die  das  Braille  System 
gut  kennen,  und  die  nicht  imstande  sind,  durch  Fühlen  zu  lesen.  Nach  der  von  dem 
Ref.  angedeuteten  Erklärung  ist  diese  Tatsache  keineswegs  paradox,  denn  für  die  gewöhn- 
lich nicht  zum  Lesen  benutzten  Finger  besteht  eben  die  zentralnervöse  Abstumpfung 
nicht;  außerdem  sieht  man  aber  aus  dieser  Mitteilung  Javals,  daß  noch  eine  andre  Mit- 
ursache dabei  eine  Rolle  spielen  muß,  nämlich  offenbar  die  Bewegungsempfindungen  der 
tastenden  Finger-  und  Hand-(Arm-)gelenke.  Die  nicht  geübten  Finger  haben  zwar  eine 
größere  Tastschärfe,  aber  die  mitwirkenden  Gelenkempfindungen  sind  nicht  durch  Übung 
verfeinet.  Mit  Recht  weist  denn  auch  Javal  selbst  darauf  hin,  daß  das  Lesen  der 
Blindenschrift  ja  nicht  mit  unbewegten  Fingern  geschieht,  und  er  erinnert  an  die  Beob- 
achtung Hellers,  daß  die  Blinden  beständig  mit  der  Fingerspitze  sehr  kleine  Bewegun- 
gen in  senkrechter  Richtung  ausführen. 

Das  zwölfte  Kapitel  behandelt  nun  den  Mechanismus  des  Lesens.  Zuerst 
erwähnt  er  die  bekannte  Beobachtung  von  Lamare,  daß  die  Augen  beim  Lesen  ruck- 
weise über  die  Zeile  bewegt  werden,  und  er  gibt  an,  daß  die  Zahl  der  rhythmisch  er- 
folgenden Rucke  ungefähr  einem  Abschnitt  von  zehn  Buchstaben  entspricht.  Zugleich 
beschreibt  der  Verf.  einen  sinnreichen  Apparat,  mit  dem  sich  die  Anzahl  der  Rucke  aku- 
stisch zählen  läßt.  Javal  hat  femer  festgestellt,  daß  die  Zahl  dieser  Rucke  gleich  blieb, 
wie  groß  auch  immer  die  Entfernung  des  Beobachters  vom  Buche  war.  Der  Verf.  möchte 
daraus  folgern,  daß  der  Leser  die  Druckzeile  in  Abschnitte  einteilt,  „die  gerade  so  groß 
sind,  daß  das  auf  die  Mitte  des  Abschnittes  gerichtete  Auge  in  indirektem  Sehen  die 
Anfangs-  und  Endbuchstaben  desselben  erkennen  kann". 

Aus  den  Untersuchungen  von  Lamare  entnimmt  der  Verf.  ferner  eine  Einschrän- 
kung seiner  früheren  Polemik  gegen  die  Verwendung  langer  Buchstaben  im  Druck,  indem 


—    308    — 

er  zugibt,  dabei  nur  das  direkte  Sehen  berücksichtigt  zu  haben;  für  das  indirekte  Sehen 
sind  offenbar  die  langen  Buchstaben  vorteilhaft,  vorausgesetzt,  daß  der  Druck  nicht  so 
eng  ist,  daß  die  Vorsprünge  dieser  Buchstaben  nicht  mehr  erkannt  werden.  Lamare 
wandte  vier  Methoden  an,  um  die  Zahl  der  Rucke  der  Augen  beim  Lesen  unter  ver- 
schiedenen Umständen  festzustellen:  Einmal  bestimmte  er  die  Oesamtschnelligkeit  des 
licsens  für  einen  bestimmten  Leser  und  berechnetedann  die  zum  Lesen  eines  Abschnittes  nötige 
Zeitdauer.  Hierbei  gewinnt  man  natürlich  nur  einen  Mittelwert  für  die  Dauer  der  einzelnen 
Abschnitte.  Femer  stellte  er  fest,  wieviel  Buchstaben  man  im  peripheren  Lesen  ent- 
ziffern kann,  während  man  einen  beliebigen  Buchstaben  in  der  Mitte  der  Zeile  fixiert.  Er 
fand,  daß  die  auf  diese  Weise  lesbare  Strecke  für  Buchstaben  von  elf  Punkten  (nach 
Ja V als  Berechnung)  ungefähr  34mm  beträgt  und  21,7  Buchstaben  enthält.  Femer  ließ 
er  die  Bewegimgen  des  Auges  durch  einen  Assistenten  zählen,  endlich  wandte  er  die  er- 
wähnte mikrophonische  Methode  an.  (Ergänzt  sei  noch,  daß  wir  im  indirekten  Sehen 
weit  weniger  Lesen,  wenn  man  nur  die  vollkommen  deutlich  erkannten  Buchstaben  be- 
rücksichtigt, die  lesbare  Strecke  verkleinert  sich  dann  auf  die  Hälfte,  im  Mittel  auf  10,8 
Buchstaben  und  17mm).  Femer  versuchte  Lamare  festzustellen,  welchen  Einfluß  die 
Bekanntheit  der  Zeile,  femer  Poesie  und  Prosa  hat.  Die  Versuche  wurden  ausgeführt 
bei  dem  Licht  einer  80  cm  entfernten  Lampe  von  4—5  Kerzenstärke,  bei  einer  Entfernung 
des  Papiers  vom  Auge  von  34  cm.  Hierbei  trat  zunächst  für  Verse  ein  gesetzmäßiges  Ver- 
halten der  Abschnitte  zu  der  Zeilenlänge  hervor :  „Zeilen  von  verschiedener  Länge  werden 
mit  derselben  Zahl  von  Abschnitten  gelesen :  ein  Abschnitt  nimmt  daher  nicht  immer 
denselben  liaum  ein.  In  dem  Augenblick,  wo  der  Abschnitt  eine  gewisse  Größe  erreicht 
(16  mm  bei  Buchstaben  von  10  Punkten),  hat  das  Auge  das  Bestreben,  auf  die  Zeile  einen 
Abschnitt  mehr  zu  machen  und  folglich  die  Länge  der  Abschnitte  so  zu  verkleinern,  daß 
er  [(!)  der  Ref.]  nicht  mehr  als  12— 13,6  mm  beträgt. 

„Außerdem  ergeben  die  Zeilen,  je  länger  sie  sind,  um  so  weniger  leicht  neue  Ab- 
schnitte, indem  diese  dann  um  so  leichter  die  maximale  Größe  einzunehmen  geneigt  sind". 
Femer  teilt  Lamare  mit,  daß  er  versucht  hat,  in  welchem  Grade  beim  Lesen  von  Prosa 
die  verschiedenen  Buchstabenelemente  die  Größe  eines  Abschnittes  und  die  Zahl  der  darin 
enthaltenen  Buchstaben  beeinflussen.  „Diese  Elemente  sind  besonders  die  Höhe  und 
Breite",  „die  Höhe  wird  nach  typographischen  Punkten  von  376tauseudstel  Millimetern 
bewertet,  die  Breite  nach  einem  Buchstaben  taxiert,  der  die  mittlere  Breite  der  Buch- 
staben eines  und  desselben  Alphabetes  hat  (unserer  Berechnung  zufolge  nach  dem  O)". 
Den  Einfluß  der  Höhe  der  so  konstmierten  Buchstaben  auf  die  Größe  eines  Abschnittes 
gibt  L.  dahin  an,  daß  für  Buchstaben  von  6,  7,  8,  9,  10,  11  Punkten  die  Größe  der  Ab- 
schnitte proportional  der  Höhe  ist,  zwischen  der  Breite  der  Buchstaben  und  der  Größe 
der  Abschnitte  ergab  sich  die  Funktion:  „die  Ausdehnung  eines  Abschnittes  ist  gleich 
der  neunfachen  durchschnittlichen  Breite  der  Buchstaben  vermehrt  um  2  mm".  Femer 
wurde  festgestellt,  daß  für  den  Einfluß  der  Entfernung  auf  die  Zahl  der  Buchstaben 
im  Abschnitt  das  Gesetz  gilt,  „wie  groß  auch  immer  die  Entfernung  sein  mag,  in  der  ein 
und  derselbe  Text  gelesen  wird  (von  0,30  bis  zu  1  m),  so  wechselt  doch  die  Zahl  der 
Buchstaben  im  Abschnitt  niemals".  Diese  Annahmen  Lamares  werden  von  Javal  in 
»wei  Punkten  berichtigt,  „erstens  haben  wir  jeden  die  Worte  trennenden  Zwischenraum 
als  Buchstaben  gezählt,  es  ist  wahrscheinlich,  daß  die  Größe  der  Abschnitte  von  dem 
Raum  abhängt,  den  sie  auf  der  Netzhaut  einnehmen,  \ind  die  weißen  Zwischenräume  be- 
anspruchen daselbst  ebensoviel  Platz  wie  die  Buchstaben".  „Zweitens  haben  wir  einen 
Rechenfehler  gemacht,  indem  wir  Durchschnittszahlen    annahmen   um  die  Länge  der  Ab- 


—    309    — 

schnitte  festzulegen".  Die  Korrektur  dieses  Fehlers  kann  natürlich  nur  auf  experimentellem 
Wege  erfolgen. 

Hierauf  bespricht  der  Verf.  die  neuesten  Experimente  von  Delabarre  und  Huey, 
auf  die  wir  in  dieser  Zeitschrift  bald  zurückkommen  werden.  Sodann  betrachtet  er  die 
Veränderungen  der  Akkomodation,  welche  die  Folgen  der  Augenbewegiingen  sind.  Natür- 
lich sind  diese  um  so  größer,  je  näher  der  Lesende  das  Buch  vor  seine  Augen  bringt. 
J)a  nun  nach  den  Untersuchungen  von  Landolt  die  kleinen  Augenbewegungen  die  er- 
müdenden sind,  so  erklärt  sich  daraus  einerseits  die  Neigung  vieler  Leser,  das  Buch  nahe 
zu  bringen,  andererseits  sind  dadurch  Tatsachen  verständlich  wie  die  von  Javal  mitge- 
teilte Beobachtung,  daß  Näherinnen  verhältnismäßig  viel  seltener  kurzsichtig  sind  als  Per- 
sonen, die  viel  lesen,  bei  den  ersteren  ändert  sich  die  Akkomodation  nicht. 

Im  dreizehnten  Kapitel  geht  der  Verf.  auf  den  Mechanismus  des  Schreibens 
ein.  Hierbei  geht  Javal  von  der  Beobachtung  des  Verhaltens  sehr  geübter  Schreiber 
aus  und  leitet  aus  diesem  ab,  daß  die  Bewegungen  des  Handgelenks  die  Schnellig- 
keit und  Regelmäßigkeit  der  Schrift  garantieren,  die  der  Finger  ihre  Leserlich- 
keit. Dazu  kommt  die  schiebende  Bewegung  des  Unterarmes,  welche  die  Fortgleitung 
der  Schrift  über  das  Papier  herbeiführt.  Dabei  liegt  der  Ellbogen  fest  auf,  bleibt  unbe- 
weglich, und  der  Unterarm  macht  Winkelbewegungen. 

Auf  alle  die  zahlreichen  Einzelbeobachtungen  des  Verf.  können  wir  hier  nicht  ein- 
gehen, es  sei  nur  noch  bemerkt,  daß  er  für  den  Schnellschreiber  und  den  Schönschreiber 
verschiedene  Regeln  aufstellt  sowohl  für  die  Haltung  der  Hand  wie  für  die  Lage  des 
Papiers.  Dem  Schnellschreiber  empfiehlt  Javal  das  Papier  nach  links  schief  zu  legen 
„unter  einem  Winkel,  der  ungefähr  gleich  der  Neigung  der  Schrift  ist",  wobei  er  zugibt, 
daß  das  nicht  ohne  Nachteil  für  die  Körperhaltung  ist.  Hierbei  erwähnt  Javal  den 
Versuch  von  Schubert  in  Nürnberg,  der  zwei  Gruppen  von  zehn  Mädchen  in  zwei 
Klassen  derselbe  Schule  photographierte,  die  einen  schrieben  Schräg-  die  anderen  Steil- 
schrift;   es  ergab  sich,    daß  die  Steilschriftschreibenden  die  bessere  Körperhaltung  hatten. 

Das  nächste,  vierzehnte  Kapitel  handelt  von  der  Schnelligkeit  des  Lesens 
und  Schreibens.  Nachdem  wiederum  einige  historische  Notizen  vorausgegangen  sind, 
gibt  Javal  interessante  Angaben  über  Schnelligkeitsmessungen  bei  beiden  Tätigkeiten, 
die  allerdings  durch  neuere  Messungen,  insbesondere  solche  der  amerikanischen  Psycho- 
logen, zum  Teil  schon  überholt  sind.  Für  das  stille  Thesen  nimmt  Javal  an,  daß  „man 
mit  Leichtigkeit,  ohne  etwas  auszulassen,  500  Worte  in  der  Minute  ließt".  Einer  seiner 
Freunde  las  bei  einem  Roman  durchschnittlich  550  Worte  in  der  Minute.  Huey  fand 
(für  Leser  englischer  Sprache),  daß  beim  leisen  Lesen  mehr  als  800,  und  beim  lauten  360 
Worte  in  der  Minute  gelesen  wurden.  Ein  guter  Klavierspieler  kann  nach  Javal  „un- 
gefähr 700  gleiche  Noten  in  der  Minute  spielen".  Was  das  gesprochne  Wort  betrifft;, 
so  vermag  nach  Messungen  des  stenographischen  Instituts  in  Paris  der  schnellste  Redner 
selten  mehr  als  200,  der  langsamste  immer  mehr  als  100  Worte  in  der  Minute  zu 
sprechen.  „Ein  geübter  Maschinenschreiber  schreibt  stundenlang  mit  Leichtigkeit  40 
Worte,  der  anläßlich  der  Ausstellung  von  1900  erreichte  Rekord  war  67  Worte  in  der 
Minute.  Man  kann  also  sagen,  daß  die  Geschwindigkeit  des  Maschinenschreibers  ungefähr 
viermal  geringer  ist  als  die  des  lauten  Lesens."  „Ich  schätze  die  Schnelligkeit  einer  voll- 
kommen lesbaren  Handschrift  auf  20  Worte,  also  ungefähr  die  Hälfte  der  üblichen  der 
Maschinenschreiber."  Eine  sehr  schnelle  Schrift  kann  unter  Weglassung  von  Akzenten 
und  I-Punkten  35  Worte  erreichen.  Geübte  Telegraphisten  übertragen  mit  dem  Morse- 
apparat in  der  Minute  25  Worte  zu  5  Buchstaben,  aber  sie  bezeichnen  keine  große  Buch- 
staben und  keine  Akzente.     Die  Blindenschrift  (Brailleschrift)    ist   von  allen   die  lang- 


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Javal  lelbit,  der  sie  erst  spät  erlernt  hat,  schreibt  nur  vier  Worte  in  der  Mi- 
nute, und  der  geübteste  Blinde  kommt  nicht  über  acht  Worte.  Einige,  offenbar  seltene 
Ausnahmefalle  werden  von  Javal  angegeben.  Das  Lesen  in  der  genannten  Blindenschrift 
geht  ebenfalls  nur  sehr  langsam  vonstatten ;  Javal  selbst  hat  es  dazu  gebracht,  25  Worte  in 
der  Minute  zu  lesen,  viele  Blindgeborene  lesen  60,  eine  kleine  Zahl  bringt  es  auf  100,  einige 
sogar  auf  120.  Sehr  interessant  ist  die  Beobachtung  an  einem  besonders 
geübten  Blinden",  der  mit  der  linken  Hand  dem  Lesen  mit  der  Rechten 
vorauszueilen  vermag,  er  muß  also  mit  der  Linken  gewissermaßen  im  Unterbewußt- 
sein lesen,  und  das  wieder  darauf  schließen,  daß  ein  Lesen  ohne  inneres  Sprechen  dem 
Blinden  leichter  wird  als  dem  vollsinnigen  Menschen.  Dieser  von  Javal  selbst  beob- 
achtete Blinde,    der  Bibliothekar   Dem^nieux,   las  laut  fast  200  Worte  in  der  Minute. 

Mit  interessanten  Ausführungen  über  die  in  allem  Fortschritt  der  Lese-  und  Schreib- 
technik hervortretende  Anwendung  des  Gesetzes  der  geringsten  Anstrengung  schließt  dieses 
Kapitel. 

Es  folgt  nun  der  zweite  Teil  des  Werkes,  der  Schlußfolgerungen  für 
die  Praxis  enthält.  Wir  können  auf  diese  Ausführungen,  entsprechend  dem  Charakter 
dieser  Zeitschrift  nicht  mehr  ausführlich  eingehen.  Er  bringt  zunächst  wichtige  Anwen- 
dungen der  früher  gegebenen  Entwicklungen  auf  die  „öffentliche  und  private  Beleuchtung 
vom  Standpunkt  der  Hygiene  des  Auges",  wobei  der  Grundsatz  aufgestellt  wird,  daß  für 
ein  normales  Lesen  von  jedem  Platz  aus  der  Himmel  sichtbar  sein  muß.  Sodann  wird 
das  Problem  der  Kunsichtigkeit  eingehend  mit  Rücksicht  auf  die  Schulverhältnisse  be- 
handelt und  besonders  über  den  Druck  der  Wandkarten  und  über  die  zweckmäßigste 
Form  der  Buchstaben  und  der  Zahlen  gesprochen.  Zur  Erläuterung  der  weiteren  Aus- 
führungen gibt  Javal  dabei  einige  technische  Mitteilungen,  die  zum  Verständnis  des  fol- 
genden unerläßlich  sind:  die  Druckbuchstaben  bestehen  aus  rechtwinkligen  Prismen,  deren 
eine  Seite  den  erhabenen  Buchstaben  trägt;  „da  die  Drucker  das  Metersystem  nicht  an- 
genommen haben,  und  ihre  Längeneinheit  der  Punkt  ('/e  Linie  oder  V?»  Zoll)  ist,  so  sagt 
man,  ein  Buchstabe  mißt  7,  8  oder  9  Punkte,  wenn  die  Höhe  des  Rechtecks  7,  8  oder 
9  Punkte  beträgt.  Die  Dicke  der  Durchschüsse  oder  Regletten,  welche  dazu  d'enen,  die 
Zeilen  eines  durchschossenen  Textes  voneinander  zu  trennen,  werden  ebenfalls  nach 
Punkten  gemessen.  Die  ausführlichen  Angaben  Javals  über  die  von  ihm  empfohlene 
Schrift  müssen  im  Original  nachgelesen  werden. 

Die  Verbreitung  der  Steilschrift  ist  der  nächste  Punkt,  auf  den  das  Werk  eingeht. 
Wie  wir  schon  angaben,  ist  Javal  ein  Anhänger  der  Steilschrift,  und  er  wünseht,  daß 
sie  in  den  Volksschulen  obligatorisch  werde. 

Sodann  geht  Javal  auf  den  Lese-  und  Schreibunterricht  ein,  hierbei  vertritt  er  die 
Schreib-Lesemethode. 

Dann  wird  das  Schreiben  der  Blinden  behandelt  und  manches  Interessante  über  die 
Entzifferung  schlechter  Handschriften  ausgeführt. 

Der  heutige  Stand  der  Graphologie  bildet  den  Inhalt  eines  weiteren  Kapitels,  das 
sich  durch  summarische  Kürze  auszeichnet,  indem  Javal  auf  die  noch  ausstehenden  Unter- 
suchungen Binets  und  das  Werk  von  Cr6pieux-Jamin  verweist  Der  Verf.  scheint 
sehr  skeptisch  von  der  Graphologie  zu  denken. 

Ebenso  skeptisch  urteilt  er  über  die  Tätigkeit  der  Schreibsachverständigen  im  Dienste 
der  juristischen  Praxis.  Dann  wird  die  Untersuchung  pathologischer  Handschriften  be- 
sproohen.  Sodann  werden  die  Mittel  zur  Beschleunigung  der  Blindenschrift  behandelt  und 
die  Stenographie  und  Phonographie  im  Dienste  der  Bliiulen  erläutert. 

Schlußfolgerungen  ftlr  die  P&dagogen  schließen   das  Werk.    Sie   betreffen   teils   die 


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Hygiene  der  Augen  in  der  Schule,  teils  das  Problem  des  geringsten  Kraftaufwandes  für 
den  Schüler,  Es  seien  hier  einige  Vorschläge  zusammengestellt,  die  Javal  für  das  Er- 
lernen des  Schreibens  und  der  Orthographie  nach  seinen  Erfahrungen  erhebt.  Er  fordert : 
1)  Nur  eine  Schrift  soll  das  Kind  schreiben  lernen,  und  zwar  die  Antiqua.  2)  Alle  Ab- 
weichungen der  Schreibweise  von  der  Sprache  sind  durch  besondere  Zeichen  in 
der  Schrift  kenntlich  zu  machen.  So  z.  B.  die  stummen  Buchstaben  im  Französischen 
durch  doppelte  Konturen.  Mit  diesem  Kunstgriif  sollte  man  auch  in  deutschen  Schulen 
Erfahrungen  sammeln.  Besonders  interessant  ist  noch  die  Entschiedenheit,  mit  der  Javal 
für  das  Esperanto  und  seine  Einführung  in  den  Schulunterricht  eintritt. 
Der  Verf.  verspricht  sich  ^le\  davon,  wenn  die  Schüler  mit  dieser  leichten  Fremdsprache 
bekannt  werden,  sie  würden,  meint  Javal,  auch  insbesondere  die  Orthographie  der  Mutter- 
sprache leichter  erlernen,  weil  sie  an  einem  leichteren  Falle  in  der  Rechtschreibung  vor- 
geübt sind.  (Es  sei  hier  bemerkt,  daß  das  Werk  Ja v als  dem  Erfinder  des  Esperanto, 
Dr.  Zamenhof,  gewidmet  ist.)  „Man  stelle  eine  Klasse  von  Kindern,"  so  bemerkt 
Javal,  „die  nicht  lesen  können  und  obendrein  verschiedenen  Nationalitäten  angehören, 
zusammen,  und  schreibe"  dem  Lehrer  vor,  sich  an  das  B  er  litz  System  zu  halten,  nach 
welchem  „nur  die  Sprache  gebraucht  wird,  welche  gelehrt  werden  soll ;  nach  einige  Tagen 
wird  die  ganze  kleine  Schar  leicht  dem  Anschauungsunterricht  des  Esperanto  folgen,  und 
nach  wenigen  Wochen  werden  es  alle  geläufig  sprechen.  Da  die  Sprache,  welche  sie 
sprechen,  streng  phonetisch  ist,  so  wird  es  den  Kindern  nur  eine  kleine  Anstrengung 
kosten,  sie  schreiben  zu  können,  zuerst  in  Stenographie,  dann  in  gewöhnlicher  Schrift. 
Obendrein  sind  sie,  da  sie  zwei  Sprachen,  Esperanto  und  die  Muttersprache  kennen,  be- 
fähigt, schnell  andere  zu  lernen." 

Es  folgt  endlich  noch  ein  „Anhang",  in  welchem  über  die  sogenannte  „Deutsche 
Schrift",  die  bekanntlich  gar  keine  deutsche  ist,  gesprochen  wird.  Die  Überlegenheit 
der  Antiqua  über  die  Fraktur  für  das  Lesen  und  Schreiben  wird  ausführlich  dargetan  und 
an  der  Hand  von  Messungen  bewiesen. 

Endlich  betrachtet  der  Anhang  noch  die  Entwicklung  und  Verbreitung  der  Steno- 
graphie in  Deutschland.  E.  Meumann  (Halle  a.  d.  Saale).