-"^ T
Zeitschrift für
Experimentelle Pädagogik,
Psychologische und pathologische Kinderforschnng
mit Berücksichtigung der
Sozialpädagogik und Schulhygiene
unter Mitwirkung von:
Prof. Dr. N. Ach, Königsberg i. Pr. ; Dr. E. Ebert, Lehrer, Zürich; Dr. A, Engrels-
perger, Direktor d. Pr.-Erziehungs-Anstalt f. geistig abnorme und nervöse Kinder,
München; L. F. GSbelbecker, Hauptlehrer in Konstanz; Prof. Dr. H.H. Goddard
in Vineland, N.J.; Frau Dr. L. Hoesch Ernst in Godesberg; Prof. Dr. Ch. H. Judd,
Prof. a. d. Universität Chicago; Prof. Dr. Krogius in St. Petersburg; Dr. Aug. Mayer,
Kreisschulinspektor in Bayreuth; Dr. 0. Messmer, Seminarlehrer in Rorschach; Prof.
Dr. A. Netschajeff in St. Petersburg; Dr. L. Pfeiffer. Stadtschulrat in Schweinfurt;
Dr. Ranschburg in Budapest; Dr. Fr. Schmidt, Bezirksoberlehrer in Würzburg; Prof.
Dr. Schuyten in Antwerpen ; Prof. Dr. E. D. Starbuck in Richmond, Indiania ; Prof. Dr.
G. M. Stratton, Johns Hopkins University Baltimore; Dr. A. Stössner, Seminarober-
lehier in Pirna; Dr. 0. Ziegler in München
herausgegeben von
E. Meumaun,
Professor der Philosophie u. Pädagogik a. d. Univ. Halle (Saale).
ix:. ]Baiia.
OTTONEMNiCn
vtRLno
LEIPZIG.
1909.
Dnick der Dirtrrichschcn Univ-Buchdruckcrci (W. Fr. Kaestner)
in OöUinifcn.
Inhalt
Abhandlungen: Seite
Zur Erkennung jugendlichen Schwachsinns. Von Gustav
Major, Direktor des med. -päd. Kinderheims „Sonnenblick"
in Zirndorf b. Nürnberg 1 — 73
Nochmals das „Ferngefühl" (Fernempfindung) als Hautsinn. Von
M. Kunz 74 — 146
Bemerkungen zu der obigen Abhandlung von M. Kunz. Von
E. Meumann 146 — 149
Zeichnen, Sprechen Rechnen. Von F. Graberg in Zürich . 149 — 165
Die wichtigsten Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen
über das Lesen. Von Oberlehrer Dr. Jak. Schwender
in Biebrich a. Rh 169—224
Pädagogik und Psychologie der Mathematik. Von Dr. Theodor
Lessing, Privatdozent der Philosophie und Pädagogik in
Hannover 225-237
Der Stand der Heilpädagogik in Ungarn im Jahre 1907/08.
Von Helene Goldbaum in Wien 238—239
Ein Bedenken über „Einige Gedanken" von Frau Dr. L. Hösch-
Ernst. Von Alexander Netschajeff in St. Petersburg 239^ — 240
Das städtische pädologische Laboratorium Antwerpens. Von
Direktor Dr. M. C. Schuyten 241 — 250
Zur physiologischen und pathologischen Psychologie der elemen-
taren Hechenarten. Zweiter, abschließender Teil. Von
Dr. Paul Ranschburg in Budapest 251 — 263
Literaturbericht . 165—168. 264—311
A.bliandlunge n .
Zur Erkennung jugendlichen Schwachsinns.
Von Gustav Major, Direktor des med.-päd. Kinderheims „Sonnenblick"
in Zirndorf b. Nürnberg.
Wer kennt nicht die Klage besorgter Väter über die geringen
Fortschritte ihrer Kinder in der Schule und ihr Urteil: Es wird in der
Schule viel zu viel verlangt. Die Kinder haben gar keine freie Zeit
mehr, den ganzen Tag müssen sie Schularbeiten machen. Ebenso bekannt
sind die Vorwürfe vieler niedergedrückter Mütter, die alle Schuld dem
Lehrer beimessen, der gerade ihr Kind nicht leiden mag. Beide An-
klagen sind stark übertrieben. Die Schule als öffentliche Institution des
Staates zur Heranbildung tüchtiger Charaktere und Staatsbürger kann
und muß ihre Maßnahmen nur auf gesunde, leistungsfähige Kinder zu-
schneiden. Und das gesunde Kind absolviert denn auch die Schule ohne
nennenswerte Schwierigkeiten, ohne übergroße Anstrengungen.
Ob nun alles in der Schule richtig und gut ist, ob man nicht zuviel
Grewicht legt auf Aneignung gedächtnismäßiger, vielfach fürs Leben
wertloser Dinge, ob man nicht zu viel papierne Zimmerweisheit doziert,
ob die Schule die Hauptarbeit in den Unterricht verlegt, oder sich
die Kinder mit dem Erfassen und Verarbeiten des gebotenen Stoö'es zu
Hause allein oder mit Vater, Mutter und Hauslehrer plagen läßt, ob
zwischen Lehrenden und Lernenden ein richtiges, väterlichfreundliches
Verhältnis besteht, ob endlich der Schüler gern zum Born der Weisheit
geht, soll hier nicht entschieden werden. Uns kommt es hier auf etwas
ganz anderes an. Die Tatsache, daß viele Kinder den Anforderungen
der öffentlichen Schule nicht gewachsen sind und in derselben nicht mit-
kommen können, läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Sind die Schule
und der Lehrer nicht ohne Weiteres schuld an dem Hängenbleiben der
Kinder, so kann der Grrund nur in diesen selbst gesucht
werden. Hierzu einige Beispiele:
J. K., der Sohn eines höheren Beamten, hat keine Vorschule besucht,
sondern ist im Hause unterrichtet. Mit 10 Jahren kommt er in die
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 1
— 2 —
Sexta und erreicht das Klassenziel, bleibt aber in Quinta sitzen. Da er
in den beiden letzten Jahren des Privatunterrichtes gute Fortschritte
gemacht, die Sexta glatt absolviert hatte und nun in der Quinta nicht
mitkommt, muß die Schule schuld sein. Die Krankengeschichte des
Kindes jedoch gibt andern Aufschluß.
J. hat spät laufen und sprechen gelernt und spät Zähne bekommen.
Er klagt häufig über schneidende Schmerzen im Hinterkopf. Von den
Kinderkrankheiten hat er Scharlach und Masern überstanden. In der
vorschulpflichtigen Zeit sind ihm die Rachenmandeln entfernt.
In den manuellen Fertigkeiten, Schreiben, Zeichnen usw. ist er sehr
ungeschickt und langsam. Dieselbe Ungeschicklichkeit und Verlang-
samung zeigt sich auch beim Spielen und praktischen Arbeiten im elter-
lichen Garten. Nebenher geht jedoch eine nicht geringe Waghalsigkeit,
ein Unvermögen im Abschätzen der Grefahr. Im Anzüge ist er unselbst-
ständig und unordentlich. Zu seinen Greschwistem ist er meist nett
und liebevoll, manchmal jedoch kann er bei ganz geringen Anlässen recht
zornig und häßlich werden. Leichte Gesichtszuckungen und Nägelkauen
verraten dazu ein geschwächtes Nervensystem.
Eine leichte Verlangsamung der Ideenassoziation ist das
hervorstechendste Moment bei einer Analyse seines Intelellekts. Als
KoroUarsymptome treten hinzu leicht herabgesetzte Weckbarkeit der
Aufmerksamkeit und herabgesetzte Haftfähigkeit derselben. Vigilität
und Tenacität; die Verlangsamung der Ideenassoziation beschränkt sich
nicht nur auf die Auseinanderreihung der Vorstellungen unter sich, son-
dern auch auf die Anknüpfung der ersten Vorstellung an die Empfindung.
Weiter betrifft die Verlangsamung auch die Schlußübertragung der
kortikalen Erregung in die motorische Region. Es zeigte sich nämlich
auch als weitere Teilerscheinung eine Verlangsamung der willkürlichen
Bewegungen.
Daß alle Denkprozesse so langsam einhergehen, hat zumeist seinen
Grund in der mangelhaften Aufmerksamkeit. Am liebsten sitzt
J. träumend im Unterricht, er beteiligt sich selten und läßt lieber andere
arbeiten, um sich mit den paar herausdestillierten Ergebnissen zu befrie-
digen. Auffallend, jedoch erklärlich ist es, daß J. gar manche Dinge
seiner Umgebung nicht oder ganz ungenau kennt, woraus folgt, daß er
nicht viel klare Erinnerungsbilder und auf sie abgestimmte Assoziations-
bahnen haben kann. So ist es verständlich, daß Reize oder daraus ent-
standene Empfindungen die Aufmerksamkeit nicht bestimmen und keine
Vorstellungen wecken können. Wiederholt man die Frage noch einmal,
so wirkt man balinend und der Reiz tritt über die Schwelle des Be-
wußtseins und führt psychische Prozesse herbei.
Ebenso langsam vollzieht sich die Übertragung in die motorische
Region, dies geht sogar soweit, daß die Phonation etwas gehemmt ist,
er spricht langsam und leise. Alles ist verlangsamt, dagegen kann er
beim Spielen sehr ausgelassen sein, was wiederum auch verständlich ist,
da diese Art Betätigung keine oder doch wenig Überlegung erfordert,
sie vollzieht sich mehr reflektorisch.
Das schwache Gedächtnis wirkte weiterhin hemmend auf die
normale Entwicklung des Jungen ein. Am besten ist noch das mecha-
nische Gedächtnis entwickelt. Durch Allitteration, Rythmus und Reim
prägt sich ihm gar manches recht fest ein. Wollte man hierauf weiter-
bauen, so könnte man ihn zu einem leidlich guten Wissen verhelfen, alles
wäre aber nur Wortwissen, Scheinwissen, ohne Wert für seine Persön-
lichkeitsb il düng.
Schwächer schon ist das Wortbildergedächtnis, was seine mangel-
hafte Rechtschreibung dokumentiert. Besonders schwach ist das Willens-
gedächtnis. Er will gern alles tun, was man von ihm verlangt, aber
der nächste Augenblick hat ihm den Antrieb zur Ausführung weg-
genommen.
Infolge der etwas verlangsamten Gedankenbewegung und der be-
vorzugten Form des mechanischen Aneignens des Wissenswerten ist der
Wortschatz auch ein verhältnismäßig kleiner. Einige Ausdrücke, be-
sonders gesellschaftlicher Art, verblüffen direkt und verursachen wohl
auch eine höhere Bewertung der Veranlagung des J.
Ethische Ausfälle ließen sich ebenfalls unschwer feststellen.
J. ist egoistisch veranlagt. Gern fühlt er sich als Mittelpunkt der Spiele
und Unterhaltungen seiner Kameraden ; ein Abweichen von diesem, seinem
Wunsch, kann ihn recht häßlich, rechthaberisch, ja roh werden lassen.
Genau so ist er im Verkehr mit seinen Geschwistern, denen er sehr
zugetan ist. Er kann aber bei dem geringsten Anlasse ins Gegenteil
sich verkehren, und stark negative Gefühle bekunden. Die Stimmung
ist labil.
Das Wahrheitsgefühl liegt infolge des nicht ganz intakten Gedächt-
nisses auch etwas darnieder. Er lügt selten bewußt, meist glaubt er
tatsächlich, daß der Vorgang sich genau so abgespielt habe, wie er angibt.
Als die Eltern auf alle diese Symptome aufmerksam gemacht
wurden, wollten sie darin kein Abweichen von der Norm sehen, es käme
doch öfter vor, daß Kinder sich so geben, wie ihr Junge, der doch
körperlich sehr kräftig sei, und noch viel weniger wollten sie glauben,
daß ihr Junge das Gymnasium zu absolvieren nicht imstande sein würde,
daß er nicht für den gelehrten Beruf tauge und etwas Praktisches er-
lernen müsse.
1*
— 4 —
L. C, 13 Jahre alt, Tochter eines Branereidirektors, besuchte bis
zu 12 Jahren die höhere Töchterschule. In den untern 3 Klassen ist
sie ohne besondere Anstrengung, wenn auch nur als leidlich mittel-
mäßige Schülerin versetzt. Die folgende Klasse brachte Französisch
und jetzt zeigte sich ganz deutlich, daß L. nicht mehr mitkommen konnte.
Sie wollte gern, denn das wußte sie, daß ihr, falls sie jetzt mit den
anderen Schülerinnen nicht Schritt halten konnte, der weitere Besuch
der höheren Töchterschule unmöglich war und so arbeitete sie fleißig,
und trotzdem Vater und Mutter halfen, mußte sie doch täglich 3 — 4
Stunden über den Schularbeiten sitzen. So wurde sie überanstrengt,
nnd konnte in der Schule nicht folgen, es blieb mehr Hausarbeit, die
sie nicht bewältigen konnte. Es entstand ein circulus vitiosus. Und so
blieb sie denn sitzen. Als sich in der 5. Klasse keine bessern Fortschritte
zeigten, nahm sie die Mutter aus der Schule heraus und brachte sie in
eine Mittelschule.
Auch diese Eltern wollten nicht glauben, daß ihr Kind leicht
schwachsinnig war und daß darin der Gruud des Mißerfolges in der
Schule lag. Beide glaubten, daß ihr körperlich gesundes Kind das,
leisten könnte, wenn es nur wollte.
Neben schwachem Gedächtnis zeigten sich vor allem schwere Fehler
und Mängel im Vorstellungsleben. Einfache Vorstellungen zeigten
noch nichts Anormales, je höher hinauf, desto erheblicher waren die Aus-
fälle. Schon die Zeitvorstellungen waren nicht absolut klar, am ärgsten
war es mit den Beziehungsvorstellungen. Ursachen und Wirkung, Grund
und Folge zu erfassen, war ihr schier unmöglich. Sie konnte es nicht
einsehen, daß bei veränderter Ursache die Wirkung eine andere sein
muß, oder die Ursache eine andere ist bei anderer Wirkung. In den
mangelhaften Beziehungsvorstellungen hat es auch seinen Grund, daß
ihr das Rechnen so schwer fiel. Alle Operationen mit abstrakten Größen,
wo es nur auf Reflexionen ankommt, bereiteten ihr schier unüberwind-
liche Schwierigkeiten. Daß dann natürlich die komplexen Vorstellungen,
gebildet aus zusammengesetzten Allgemein- und Beziehungsvorstellungen,
nicht intakt sein können, ist einleuchtend und so waren ihr Begriffe
wie Dankbarkeit, Pflicht, Eigentum etc. nicht so klar, daß sie dieselben
zu Maximen für ihr Handeln machen konnte.
Die freie Assoziation war etwas verlangsamt. Folgende Reiz-
skala zeigt neben der Armut an Vorstellungen eine Unbeweglichkeit der
Gedanken. Die Zeiträume waren auch größer als die normalen.
tanzen
Bär Tier
Lokomotive Zug
rufen
Luftschiff
sprechen
fahren
weich
— — —
turnen
Autobus
springen
fahren
schützen
Schilderhaus
heiß
exerzieren
Laternenpfahl
Globus
Erdkarte
B. Z. am Mittag
verkaufen
Berliner Zeitung
handeln
schlau
heiter
handeln
kaufen
umhertreiben
Kamel
spazieren
Tier
Sparkasse
Geld.
Als inhaltliche Störungen der Ideenassoziation zeigt sich
nunmehr eine verständliche Urteilsschwäche und Armut der
Phantasie. L. vermochte eine ihr vorerzählte Geschichte oder ein
Erlebnis wohl leidlich nacherzählen, hatte aber lange nicht immer den
Innern Zusammenhang und die Pointe erfaßt.
Die Weckbarkeit der Aufmerksamkeit war auch etwas
herabgemindert, desgleichen die sensorielle Konzentrations-
fähigkeit; das anhaltende Einstellen der Aufmerksamkeit auf zu er-
wartende Reize war erheblich gesteigert. Daher die allgemeinen Klagen
der Lehrer, daß L. nicht folgen könne, da zufällig ins Blickfeld kommende
Dinge als Nebenreize so stark sind, daß sie den gewollten Hauptreiz ver-
drängen und so selber als überwertiger Hauptreiz auftretend, die Aufmerk-
samkeit und die sich anfolgenden Assoziationen und Reflexionen bestimmen.
Bei den sensoriellen Gefühlstönen kennzeichnete sich ein
gesteigertes Kitzelgefühl und eine stärkere Schmerzempfindlichkeit als
anormal. Die intellektuellen Gefühlstöne, die der Vorstellungen
müssen geschädigt sein, wenn auch dem Laien kaum merklich, da die
Vorstellungen höherer Ordnung nicht völlig richtig und intakt sind. Und
intellektuelle Gefühlstöne sind die der Erinnerungsbilder. Hierin finden
wohl zum Teil ihre nicht sehr ausgeprägte Dankbarkeit und Anhäng-
lichkeit ihre Erklärung.
Dagegen war sie ziemlich komplizierter Affekte fähig, die jedoch
alle den Stempel krassen Egoismusses trugen. Eine nicht geringe
Schadenfreude verband sich mit einem gut Stück Rachsucht und Neid.
Mit der Wahrheit nahm sie es nicht sehr genau, vor allem dann nicht,
wenn es sich auf ihre eigene Person bezog. Eitel, selbstgefällig, putz-
und gefallsüchtig war sie in besonderm Maße. Wenn ein gut Teil Eitel-
keit einem Mädel ganz gut steht, so waren hier die Grrenzen ins Un-
ermeßliche verschoben. Ihr gesamtes Wünschen und Sehnen richtete sich
auf eine gute Toilette, schlanke Figur, zarten Teint, große Augen und
dergleichen Dinge mehr. Während ihre zeichnerischen Fähigkeiten und
Produktionen sonst durchaus nicht auffallend gut waren, war sie eine
Meisterin im Malen kostbarer Toiletten. Im Unterrichte, im Hause, auf
der Straße vorm Schauladen stand sie und zeichnete.
Ebenso kompliziert waren ihre Überlegungen und Handlungen.
Die Analyse der Psyche beider Kinder zeigt ganz deutlich die
Gründe der schlechten Ergebnisse in der Schule. Beide Kinder hätten
mit den beliebten Nachhilfestunden noch 1 — 2 Jahre die Schule besuchen
können, hätten vielleicht sogar einen gewissen Abschluß erreicht, um
dann erst unter den gesteigerten Anforderungen des Lebens an die
psychischen und physischen Kräfte des Einzelnen zu unterliegen.
Es gibt solcher Fälle eine ganz stattliche Anzahl. Nicht selten,
wird solch anormales Kind aus äußern Rücksichten durch die Schule
geschleppt, weil der Vater ein angesehener Mann oder gar Mitglied des
Lehrerkollegiums der Schule ist, weil man den inständigen, häufigen Bitten
der Eltern, ihnen die Blamage zu ersparen, aus vielleicht rein mensch-
lichem Interesse nachgibt, weil das gesamte Schülermaterial gerade in
dieser Klasse ein besonders schlechtes ist und der Betreffende nicht
sonderlich auffällt, oder in kleinern Anstalten, besonders in denen pri-
vater Natur aus geschäftlichen Gründen.
Wir haben gerade diese beiden Beispiele gewählt, um zu zeigen,
daß niemand im Elternhause und Schulkörper die abnorme Veranlagung
erkannte, weil die Kinder körperlich gesund, ja kräftig waren, man
hielt sie für normal, höchstens für faul, legte ihr Nichtmitkommen als
Nichtwollen aus und tröstete sich damit, daß andere Kinder nicht viel
bessere Leistungen aufzuweisen hätten und diese Unart vielleicht noch
verschwinden, das Ziel doch erreicht wird. Zu diesen beiden Fällen
ließen sich noch viele hinzufügen, die aber alle dasselbe bekunden würden:
daß in allen Formen kindlichen Schwachsinnes, selbst in
leichten, die Anforderungen der öffentlichen Schule als
Anstalt für Gesunde, zu hoch sind, daß ein Erreichen des
gestecktes Zieles unmöglich ist, und weiter, daß die Eltern
leider nicht die Ursache des Mißlingens erkennen und daher nicht bei-
zeiten für eine richtige, sachgemäße Behandlung ihrer Kinder Sorge
tragen konnten. Denn daß in den weitaus meisten Fällen bessere
— 7 —
Resultate gezeitigt, den Eltern und Kindern viel Sorge und Herzeleid,
trübe Stunden, ja Jahre hätten erspart werden können, daß das ver-
ärgerte, scheue, geängstete, freudeleere Kindergemüt Sonnenschein, Licht
und Leben atmen könnte, wenn man recht früh die abnorme Veranlagung
erkannt hätte, bedarf heute keiner besonderen Begründung mehr, die
Heilpädagogik lehrt es. Heute darf man wohl die Behauptung, daß es
für schwachsinnige Kinder keine Rettung mehr gibt, als absurd be-
zeichnen. Wir betonen es aufs bestimmteste: Es gibt keinen Fall
von angeborenem Schwachsinn, der als durchaus besse-
rungsunfähig oder gar erziehungsunfähig angesprochen
werden müßte. Bildungsunfähige Schwachsinnige gibt es
nicht. Dies allen besorgten Eltern und Angehörigen zum Trost. Je-
doch müssen wir gleichfalls darauf hinweisen, daß die Aussicht auf
Besserung mit den Jahren abnimmt. Je früher das Kind in
richtige Behandlung kommt, desto aussichtsvoller ist sie.
Um nun einem Laien die Möglichkeit zu geben, schon recht früh
den event. Schwachsinn seines Kindes erkennen zu können, sind hier die
wichtigsten Kennzeichen desselben zusammengestellt, jedoch mit der
Einschränkung, daß nicht das Vorhandensein eines Merkmales
schon die Diagnose den Schwachsinn rechtfertigt. War-
nungssignale sollen sie sein, die den Eltern sagen sollen:
Seid auf der Hut!
Die Kennzeichen jugendlichen Schwachsinnes wollen wir in körper-
liche und seelische gliedern und mit den körperlichen beginnen.
Körperliche Merkmale jugendlichen Schwachsinnes.
Am auffallendsten sind die Abweichungen des Schädels von
der Norm und da zunächst die Grröße desselben. Ganz allgemein weiß
man, daß ein zu kleiner oder zu großer Schädel nicht auf hohe Intelli-
genz schließen lassen. Ausnahmen haben jedoch statt. Der normale
Schädelumfang ist ungefähr bei
Neugeborenen 36 cm
1jährigen Kindern 45 cm
2 jährigen Kindern 48 cm
5 jährigen Kindern 50 cm
10 jährigen Kindern 52 cm
15jährigen Kindern 54 cm.
Diese Zahlen müssen nicht bei allen Kindern absolut dieselben sein,
kleine Abweichungen finden sich sehr wohl und bedeuten nichts. Größere
Abweichungen dagegen sind bedenklicher und erregen Verdacht auf
— 8 —
Schwachsinn. Beim angeborenen Schwachsinn findet man in der Regel
Abweichungen von der Norm, entweder bleibt das Gehirn im Wachstum
zurück, oder aber es bildet sich Wasser in den Himhöhlen. Im ersten
Falle hat man einen zu kleinen Schädel Mikrocephalie, im andern Falle
einen zu großen, einen Wasserkopf Hydrocephalie. Früher neigte man
zu der Ansicht, daß im Falle der Schädelkleinheit die Schädelknochen
sich zu früh schlössen und nicht genug Raum ließen zur normalen Ent-
wicklung des Gehirns (Vircbow). Ja ein Franzose hat durch Offnen
der Schädeldecke versucht, der Entwicklung des Gehirns mehr Raum
geben zu können, hatte jedoch keinen Erfolg. Der Rückschluß, daß ein
abnorm großer oder abnorm kleiner Schädel nun mit absoluter Sicherheit
auf geistige Minderwertigkeit schließen lassen, ist falsch. Es gibt nor-
male, ja hervorragend normale Menschen mit Hydrocephalie — Helm-
holtz — und ebenso sind Menschen mit normalen Veranlagungen bei Mikro-
cephalie nicht selten. Ich kenne eine ganze Reihe von Fällen, in denen
Kinder mit guten geistigen Leistungen einen zu großen oder zu kleinen
Schädel hatten, wie mir anderseits auch gar mancher Schwachsinnige
bekannt ist, der einen annähernd normalen Schädelbau hat. Aus dem
Schädelumfang Schlüsse auf die geistigen Veranlagungen zu ziehen, ist
zum Mindesten sehr gewagt.
Als weiteres Symptom am Schädel ist des späten Fontanellen-
schlusses zu gedenken. Die großen Fontanellen schließen sich bei nor-
malen Kindern am Ende des zweiten Lebensjahres, beim angeborenen
Schwachsinn später, ja es kann sogar vorkonunen, daß sie sich überhaupt
nicht schließen.
Abnorme Schädelformen finden sich ebenfalls sehr oft bei Schwach-
sinnigen. Auf Grund von Rhachitis treten die Schädel- und Stirnhöcker
besonders stark hervor, die Stirn ist verbreitert und das Hinterhaupt
mangelhaft entwickelt. Der Schädel gewinnt dadurch eine fast vier-
eckige Form. Bei andern Patienten bemerkt man eine flache, fliehende
Stirn oder eine Form, in der die auffallend niedrige Stirn und Nase in
einer Geraden liegen (Aztekentypus) oder den Vogelschädel, bei dem
der Schädel eine spitze, vogelschnabelähnliche Form erhält durch das
starke Zurückspringen des Kinnes, oder ein plattgedrücktes, flaches
Hinterhaupt, oder eine Unregelmäßigkeit im Bau der beiden Schädel-
hälften, Asymmetrie, Schiefheit des Schädels genannt.
Ein recht häufiger Typus, der aber nicht immer mit Mikrocephalie
verbunden zu sein braucht, ist der Cretinentypus. Der ganze Körper-
wuchs ist zurückgeblieben (Zwergwuchs). Gang schleppend, mit gebeugten
Knien, Haltung schlaff, der Gesichtsausdruck ist stets ein müder. Die
Nasenwurzel ist breit, die Nase erscheint aufgestülpt. Die Augen stehen
— 9 —
weit auseinander, die Lidspalte ist etwas schief. Die Jochbeine und der
Oberkiefer treten weit hervor. Die Zunge ist wulstig, groß und rissig.
Der Leib ist stark aufgetrieben. Häufig findet sich Nabelbruch. Die
Haut ist trocken, wulstig, verdickt, besonders in den Achseln und am
untern Halse, sie hat eine bläuliche Färbung und ist sehr spröde. Stets
ist die Schilddrüse krankhaft verändert. In der Erkrankung der Schild-
drüse hat der Cretinismus seinen Grund insofern, als dadurch eine, der
Vergiftung ähnliche St off Wechselerkrankung bedingt ist und diese Defekte
und Ausfälle sowohl leiblicher als geistiger Natur zeitigt. Der Cretinis-
mus in seiner ausgeprägten Form gehört zu den schweren Fällen des
Schwachsinnes, leichtere Fälle und Übergangsformen finden sich daneben
aber auch.
Lymphdrüsenschwellungen findet man auch häufig.
Der Gesichtsschädel ist in vielen Fällen abnorm gebaut. Manchmal
springt der Unterkiefer zu weit hervor, manchmal bleibt er im Wachs-
tum hinter dem Oberkiefer zurück und der Oberkiefer ragt über den
Unterkiefer hinaus und gibt dem Schwachsinnigen das eigentümliche,
häßliche, abstoßende Aussehen. Auch der Gaumen zeigt nicht selten
Abweichungen, er ist zu hoch, oder kielartig, gespalten, Hasenscharte,
Wolfsrachen u. a. m.
Andere Abweichungen im Skelett sind nicht so auffallend, haben
auch nicht die Bedeutung der bisher angeführten Merkmale. Jedoch
findet man bei 90 ^/o aller Schwachsinnigen Anomalien im Knochenbau.
Genau wie man beim Schädel Schwachsinniger oftmals Asymmetrie
konstatieren kann, kann man häufig eine Unregelmäßigkeit im Bau des
gesamten Knochengerüstes finden. Eine Seite ist nicht selten stärker
entwickelt als die andere. Das kürzere Bein bedingt natürlich einen
hinkenden Gang. Der etwas kürzere Arm hat oftmals eine Bevorzugung
des längeren Armes beim Gebrauch der oberen Extremitäten zur Folge.
In andern Fällen ist ein Bein dicker und unförmiger als das andere, ein
Arm, eine Hand stärker als die andere Extremität. Immer wird die
schwächere weniger zur Aktion kommen und dadurch noch mehr leiden.
Nicht selten sind die oberen Extremitäten länger als gewöhnlich, manch-
mal reichen sie bis unters Knie hinunter, wenn der Patient die Arme
an den Körper anlegt. Hierher gehören auch Verbiegungen der Wirbel-
säule, angeborene Verrenkungen, Uberzähligkeit von Fingern oder Zehen
(Polydaktylie), Fingerverwachsung (Syndaktylie), Unvermögen die End-
glieder der fünften Finger zu beugen. Alles Momente, welche den
Schwachsinnigen schon äußerlich als solchen kennzeichnen.
Auffallend oft ist die Zahnbildung gehemmt. Sollier stellte bei
91 ^/o aller Imbecillen Anomalien in der Bezahnung fest. Sehr spät
- 10 - i
fangen diese Kinder an zu zahnen, manchmal erst im 3. Jahre, dazu '■
kommen die Zähne sehr unregelmäßig.
Die 2. Dentition tritt noch häufiger verspätet ein. Selten einmal \
findet man ein normales Gebiß, die Zähne stehen schief zu einander i
oder zu weit von einander entfernt. Oftmals sind die Zähne abnorm i
klein und die Eckzähne ohne Spitzen, schneidezahnartig gebildet. Da- i
gegen sind die oberen mittleren Schneidezähne oft recht groß. Die <
Oberfläche der Zähne ist nicht selten rauh, mit kleinen Vertiefungen, ]
Löchern, Zacken und Ausbuchtungen. !
In allen Fällen, wo Rachitis als auslösendes Moment des Schwach- i
Sinnes in Frage kommt, findet man noch mehr Anomalien am Skelett. ^
In der Rachitis glaubte man früher eine Erkrankung des Knochen- i
gerüstes sehen zu müssen, neuere Untersuchungen sprechen aber dafür, :
sie als eine allgemeine StoiFwechselerkrankung anzusehen. Das Wesen i
der Krankheit ist noch wenig ergründet, man weiß aber, daß unhygienische 1
Verhältnisse, kalte, nasse, dunkle, kleine Wohn- und Schlafräume, un- i
genügende Ernährung ihrer Ausbreitung sehr günstig sind. Nun leidet :
unter dieser Krankheit die Entwicklung des Knochensystems sehr, das ]
sieht jeder, jeder kennt einen rachitischen Schädel und jeder kennt
rachitische Kinder mit herabgesetzten geistigen Funktionen, daher :
glaubte man, daß das abnorme Wachstum des Schädels ein Zurückbleiben
der geistigen Funktionen bedingt. Jetzt weiß man aber, daß dies nur \
in sehr seltenen Fällen statt hat, vielmehr wird das Nervensystem in '.
seiner Entwicklung gehemmt und zeitigt so die Ausfälle psychischer j
Natur.
Häufig hat man bei asymmetrischen Schädeln auch Mißbildungen des \
äußern Ohres, z. B. unvermittelter Übergang des Ohrläppchens in die j
Wangenhaut durch eine Hautwulst, nahezu rechtwinkliges Abstehen der i
Ohren, mangel- und fehlerhafte Struktur der dem Ohr eigentümlichen !
Erhöhungen und Vertiefungen.
An den Augen kann man sehr oft Anomalien finden. Schiefe Stel- \
lung der Augen, ungleichmäßige Färbung der Iris, ovale Form der •
Pupille, Albinismus u. a. m. .
Bei einer verhältnismäßig großen Zahl der Schwachsinnigen, bei i
etwa 30°/o finden sich Anomalien der Genitalien. Oftmals :
bleiben die Hoden im Leistenkanal oder in der Bauchhöhle liegen oder \
aber sie sind auffallend klein. Häufig ist die Eichel groß bei abnorm '
kleinem Gliede. Mitunter hat die Harnröhre eine abnorme Einmündung ]
am Rücken oder in der Mitte oder am Grunde des Gliedes. Weit
öfter als bei normalen Kindern findet sich eine abnorme Enge der
Vorhaut (Phimose), Azoospermie, Aspermie, Verstopfung oder Ver- j
— 11 —
schlossenheit der Vagina, infantiler Uterus, Verdopplung des Scheiden-
uteruskanals.
Die Greschlechtsreife tritt oft nicht zur rechten Zeit ein. Es
gibt Fälle, wo sie später auftritt, aber auch solche, wo sie sich erheb-
lich verfrüht. Ich habe einen Schwachsinnigen von etwa 20 — 22 Jahren
gesehen, der noch nicht voll entwickelt war, kenne dagegen anderseits
einen 10 V2 jährigen schon geschlechtsreif en Jungen. Die vielen Varia-
tionen und die Häufigkeit der Anomalien an den Genitalien ist ein Be-
weis mehr dafür, daß der angeborene Schwachsinn meist eine Folge einer
allgemeinen Störung der Entwicklung des gesamten Organismus ist und
daß derselbe nicht bedingt ist durch einen zu kleinen Schädel.
Endlich sind noch Abweichungen in der Behaarung zu regi-
strieren. Die Haargrenze ist bis .tief in die Stirn hineingezogen, oder
auf beiden Seiten verschieden, oder das Haar ist verschieden gefärbt
oder der Haarwirbel ist verdoppelt. Auch sind zuweilen ganze Körper-
stellen mit dichtem Haarwuchs versehen.
Von nicht zu unterschätzendem Einfluß auf den geistigen Habitius
sind die Wucherungen im Nasenrachenraum. Das Drüsengewebe
der Nase und Rachenschleimhaut weist nicht selten so starke Wucherungen
auf, daß der ganze Raum davon ausgefüllt und die Nasenatmung völlig
behindert ist. Dasselbe zeigt sich bei einer Vergrößerung der Rachen-
mandeln. Durch diese örtlichen Anschwellungen und Verdickungen ent-
steht eine Art Stauung in den Lymphgefäßen, sie werden zusammen-
gepreßt und können nicht soviel Blut führen, als zur Ernährung des
Gehirns nötig ist. Eine unzulängliche Ernährung der Gehirnzellen be-
dingt aber eine herabgesetzte Tätigkeit derselben und so sind die Kinder
unlustig zur Arbeit, träge, schläfrig; daß auf Grund der adeoniden
Vegetation Schwachsinn entstehen kann, ist übertrieben, eine geistige
Schwäche, ein Zurückbleiben kann, ja muß statt gefunden haben, mehr
aber nicht. Sprachgebrechen können in den Wucherungen ihre Wurzel
haben. Einer Exstirpation der Rachenmandeln braucht man wohl nicht
mehr das Wort zu reden.
Entsprechend der Entwicklungshemmung der Großhirnrinde ist die
motorische Innervation herabgesetzt und stets anders als beim nor-
malen Kinde. Die Bewegungsregion ist in der Entwicklung zurück-
geblieben. Diese Innervationsstörungen sind ein recht charakteristisches
Zeichen und nach dem Grad der Erkrankung verschieden. Leichte Fälle von
Schwachsinn lassen sie fast nicht erkennen, bei schweren Fällen dagegen
sind sie um so auffälliger. Hier ist schon die grobe motorische Kraft
herabgesetzt und daher die groben Muskelbewegungen ungelenk, eckig
und unsicher. Dort ist die grobe Muskulatur intakt und nur Defekte
— 12 —
der feinen Muskulatur zu finden und diese Ausfälle des feineren Mecha
nismus fallen dem Laien nicht in die Augen. Vor allem tritt du
Koordination der Bewegungen viel später auf, in schwerei
Graden des Schwachsinns erlernen sie die Patienten überhaupt nicht
Diese Anomalien kann jedoch jeder leicht an den Kindern wahrnehmei
und deshalb seien sie hier zusanunengestellt.
Verfolgen wir die Entwicklung des normalen Kindes und haltei
die des Schwachsinnigen dagegen, so wird jeder deutlich die Ausfällt
erkennen können. Schon die ersten Saugbewegungen des Kindes sim
ein zusammengesetzter Akt, bei welchem Muskelbewegungen der Lippe
der Zunge, der Wange und Schlingbewegungen mitwirken. Sehr of
können Schwachsinnige auffallend schlecht saugen, die NahrungsaufnahnK
bereitet ihnen große Schwierigkeiten, nicht wenigen muß die ♦Nahrung
eingeträufelt werden.
Bei einem normalen Kinde sind wohl im allgemeinen am 50. Tag<
die Augenbewegungen zusammengeordnet, so daß beide Augen die gleichi
Blickrichtung einschlagen und das Schielen wohl ganz aufgehört hat
Beim Schwachsinnigen findet sich diese Zusammenordnung weit später
jedenfalls ist sie im ersten Jahre noch nicht stetig. Je weiter hinan
wir nun in die Entwicklung des Kindes kommen, desto größer werdci
die Ausfälle beim Abnormen.
Ein normales Kind verfolgt in der Regel vom 3. — 4. Monat an, einei
sich vor ihm bewegenden Gegenstand mit den Augen, folgt der kommende]
oder gehenden Mutter, beobachtet seine Klapper, folgt einem vorbei
getragenen Licht etc. Preyer berichtet sogar, daß sein Kind schon von
25. Tage an der sich bewegenden Kerze folgte, glaubte aber auch, dal
das nicht als normal gelten kann und führt es auf seine täglichen Ver
suche zurück, die sicher den Konvergenzmechanismus früher auslösten
Hier schon zeigt sich beim Schwachsinnigen ein bedeutendes Zurück
bleiben. Ich kenne einen Fall, in dem es dem Kinde im 7. Jahre nocl
nicht möglich war, mit beiden Augen einem vorüberfahrenden Wagei
zu folgen.
Äußerst instruktiv und wichtig in der Beurteilung eines Kinde
sind die Bewegungen der Arme. Anfänglich arbeitet das Kind mit dei
Armen in der Luft herum ohne irgend eine gewollte Bewegung dami
zu verbinden. Es ist nur der Bewegungsdrang, das Sichausarbeiten de
Kindes. Bei diesen Prozeduren und Spaziergängen berührt das Kinc
oft Gegenstände, ohne durch den Reiz der Berührung zum Erfassei
derselben veranlaßt zu werden. Es besteht noch kein Konnex z wische i
Reiz und Bewegung. Mit dem Moment aber, wo das £and bei der Be
rülirung die Hand schließt, ist dieser Konnex da, ein wichtiger Schrit
— 13 —
im Leben des kleinen Weltenbürgers. Er kann jetzt erfassen und fest-
halten, was er will. So weit ist das Kind in seiner Entwicklung ungefähr
im 5. Monat. Der Schwachsinnige liegt dann noch immer willenslos
und bringt den Dingen der Umgebung dies Interesse noch nicht entgegen.
Einen Schritt weiter kommt das Kind, wenn es die Gegenstände
auf dem kürzesten Wege zu ergreifen sucht. Wiederum ein gut Stück
Überlegung mehr, es ist der bestimmte Wille da, diesen oder jenen
Gregenstand zu ergreifen und ihn in den Mund zu führen. Das Greifen
ist also bedingt durch einen Willens entschluß, ist eine Willensäußerung,
zu der das schwachsinnige Kind erst nach Ablauf des 1. Jahres gelangt.
Es gibt Schwachsinnige, die niemals sicher einen Gegenstand ergreifen
lernen.
Beides sind sehr charakteristische Zeichen und sollten nie übersehen
werden, da sie berechtigte Schlüsse anf die Veranlagung des Kindes zu-
lassen, weil immer eine gestörte Hirnentwicklung der Grund ist.
Zur Aufrechterhaltung des Kopfes ist schon ein ziemlich komplizierter
Muskelapparat notwendig, der seine Äußerungen dem Willen unterordnen
muß. Preyer berichtet von seinem Kind, daß mit der 11. Woche leichte
Anfänge eines nicht mehr haltlosen Tragens des Kopfes zu verspüren
waren. Sicher aufrecht trug es den Kopf von der 16. Woche an und
das ist auch wohl die Regel. Beim Schwachsinnigen tritt das Vermögen
viel später auf, im 6. — 8. Monat.
Es gibt Schwachsinnige, allerdings ganz schwere Fälle, die das Auf-
rechttragen des Kopfes niemals erlernen. Der Kopf baumelt hin und
her und hängt schlaff herunter entweder auf den Rücken, oder die Brust
oder die Schulter.
Gehen wir in der Entwicklung des normalen Kindes weiter. Das
Aufrechthalten des Oberkörpers beginnt in der 20. — 22. Woche. Preyers
Kind konnte sogar schon in der 20. Woche sich selbst aufrichten. In
der Regel kann ein Kind sich nach Ablauf der 24. Woche sitzend auf-
recht erhalten. Das schwachsinnige Kind kommt hierzu viel später, ja
es gibt Fälle, wo es nie von ihm erlernt wird.
Das Stehen erlernt ein gesundes Kind in der Regel im 10. — 12. Monat,
nach Preyer in der 49. Woche. Das Stehen erfordert eine Zusammen-
wirkung vieler Muskelpartien und eine große Aufmerksamkeit seitens
des kleinen Künstlers. Das Versagen oder falsche Arbeiten eines Muskels
stört das Gleichgewicht und bringt das Kind zu Fall. Dieser Koordi-
nation und Willensherrschaft ist der Schwachsinnige im gleichen Alter
noch nicht fähig, er erlernt es später, je nach dem Grad des Schwachsinnes.
Noch ein großer Schritt ist zu tun, damit das Kind frei und allein
geht. Noch weit mehr Aufmerksamkeit und Beherrschung der gesamten
— 14 — ;
Muskulatur ist hierbei erforderlich als beim Aufrechtstehen da hier eiaj
fortgesetztes Verändern der Kontraktion der Muskeln statt hat. Daza;
kommt die Gleichgewichtslage, die die ersten Gehversuche unendlich!
erschwert; das richtige Abschätzen der einzelnen Muskelbewegungen,]
sowie die Bewegungen ganzer Muskelpartien, das Abschätzen der Ent-:
femungen bedürfen langer Übung. In der 66. Woche, am 457. Tagei
konnte Preyers Kind allein gehen, oder besser gesagt laufen, das erstei
langsame Gehen ist schwerer, ist aber innerhalb 2—3 Wochen zu er-
lernen. Preyers Kind konnte in der 68. Woche maschinenmäßig, d. hJ
langsam ohne besonders angestrengte Aufmerksamkeit gehen. Im 16. — 19.;
Monat hat in der Regel jedes gesunde Kind das Laufen erlernt. *Aus-'
nahmen haben auch hier statt. Es gibt Kinder, die schon im 8. Monat
laufen können. {
Feldmann (Inaugural-Dissertation Bonn 1883) berichtet, daß 3 Kinder'
im 8. und 9. Monat, 24 Kinder im 10., 6 Kinder im 11. und 12. Monaljj
laufen lernten. Der Schwachsinnige erlernt es recht spät. Beim Schließen!
von Stehen- und Laufenlernen auf die geistigen Fähigkeiten muß man
recht vorsichtig sein, wie denn überhaupt auf Grund eines Symptoms ein;
richtiges Urteil wohl selten gefällt werden kann. Das Vorhandensein meh-'
rerer Ausfälle legt den Verdacht auf Schwachsinn jedoch sehr nahe. Allel
diese Kennzeichen sollen ja auch weiter nichts sein als Warnsignale. Beimi
Stehen- und Gehenlemen können Rachitis, allgemeiner schwächlicherj
Körperzustand, Krankheit etc. hindernd in den Weg treten und die Erler-l
nung dieser Fertigkeiten aufhalten. Wohl zu beachten sind die Ausfall-|
Symptome, wenn erwiesener Weise kein äußerlicher, körperlicher Grund
vorliegt. I
Nunmehr kämen wir zur feinsten Koordination, zur Sprache.;
Daß da die Anomalien noch augenfälliger werden, ist einleuchtend. Die:
Sprache stellt große Anforderungen ans Gehirn. Die feinsten Muskel-
bewegungen der Zunge, der Lippen, des Gaumens, der Lunge und des]
Kehlkopfes also dreier Muskelgruppen, der Atmung, der Stimme und der!
Artikulation, müssen festgehalten werden im Hirn als Bewegungsein-,
Stellungen, weiterhin müssen sie alle zusammen wirken und sich schließlichi
mit den Objektivempfindungen und Objektenvorstellungen assoziieren.:
Eine sehr komplizierte Arbeit, die ein intaktes Gehirn verlangt. Dasj
normale Kind fängt wohl immer im 15. — 16. Monat an zu sprechen,«
sinnvoll zn sprechen. Pappeln kann es schon lange. Feldmann berichtet j
von einem Kind, das im 14. Monat, von 8, die im IB. Monat, von 19, diej
im 16. Monat, von 3, die im 17. Monat, von einem, das im 18. Monat und;
von einem, das im 19. Monat sprechen lernte. Auch hier dasselbe Ergeh- ;
nis, die meisten lernten es im 16. Monat.
- 15 —
Wenn das Kind nunmehr sprechen kann, so ist es noch weit davon
entfernt, alle einzelnen Laute richtig zu sprechen, es spricht für einzelne
Laute, ähnlich klingende, oder läßt sie aus, es stammelt. Man kennt
ein allgemeines und partielles Stammeln. Beim allgemeinen Stam-
meln werden z. B. alle Laute genäselt (Rhinolalia aperta) oder die
meisten Konsonanten werden durch d und t ersetzt (Hottentottismus).
Beim partiellen Stammeln kommen die verschiedensten Formen vor:
A. Veränderung einzelner Laute.
1) einzelne Laute werden ausgelassen.
2) einzelne Laute werden durch andere ersetzt.
3) einzelne Laute werden verstümmelt.
B. Veränderung einzelner Silben.
C. Veränderung einzelner Worte.
D. Veränderung einzelner Sätze.
Es werden sowohl Konsonanten als auch Vokale gestammelt. Am
seltensten ist eine falsche Aussprache des A, die andern einfachen Vokale
werden aber oft unrein gesprochen oder vertauscht. Noch häufiger sind
falsche Aussprachen der Umlaute und der Diphtonge. Sie werden eben-
falls unrein gesprochen oder mit andern verwechselt oder einfache Laute
dafür gesetzt.
Bei dem Stammeln der Konsonanten finden sich sehr viele Arten
des Falschsprechens: Lambdacismus (L), Rhotacismus (R), Gammacismus
(Gr), Deltacismus (D), Sigmatismus (S). In diesen Fällen ist das Kind
nicht im Stande, den betreffenden Laut lautrein zu bilden, es spricht
ihn undeutlich, oder läßt ihn ganz aus. Beim Paralambdacismus, Para-
rhotacismus, Paragammacismus u. s. w. ersetzt das Kind den betreffenden
Laut durch einen andern.
Das Kind stammelt solange, bis alle Bewegungskoordinationen voll-
zogen sind, bis von jedem Laut, jeder Lautverbindung genaue Bewegungs-
vorstellungen aufgespeichert sind, die sich mechanisch mit andern Vor-
stellungen in Verbindung setzen können. Ungefähr mit dem vierten
Lebensjahre wird in den meisten Fällen das Stammeln überwunden sein
und ein lautlich richtiges Sprechen Platz greifen. Der Schwachsinnige
dagegen lernt das lautlich richtige Sprechen erst viel später, er stammelt
oft bis an sein Lebensende. 40 ^/o aller Schwachsinnigen sind Stammler.
Auch hier ist bei dem Schluß auf Schwachsinn größte Vorsicht geraten,
denn oftmals stammeln normale Kinder und dann liegt ein organischer
Fehler zu Grrunde, Abnormitäten der Lippen, der Zunge, der Zähne, des
Kiefers, des Gaumens, der Nase und Nasenhöhle, des Kehlkopfes, des Gehörs.
Auch das Stottern haben wir als eine Koordinationsstörung anzu-
sehen, die aber auf einer nervösen Schwächung des Nervensystems und des
— 16 —
Sprachenzentrums beruht und mit einem Intelligenzdefekt nichts zu tun
hat. Daher stottern viel mehr geistig normale Kinder als Schwachsinnige. ;
Bislang haben wir die Ausfälle bei der Zusammenordnung der Be- ,
wegungen betrachtet, wenden wir uns nun zu einer andern Bewegungs- ^
anomalie, der Instabilität der Bewegungen. Schon der Name ;
kennzeichnet die Art der Bewegungen genau, instabil, unbeständig sind ;
sie und erinnern dadurch an den Veitztanz (Chorea), ohne jedoch mit \
dieser Krankheit identisch zu sein. :
Eine Vergesellschaftung des Schwachsinns mit Chorea kommt "aber i
auch vor. Ein Kind mit Chorea hat unwillkürliche Muskelbewegungen, |
die nicht zurücktreten, wenn das Kind die Muskeln kontrahiert, z. B. i
hat ein Kind Zuckungen, Beugen und Strecken der Finger, so dauern
diese fort, auch wenn es nach einem Stuhl greift, schreibt, spielt u. 8. f* j
Bei der Instabilität der Bewegungen dagegen hören in den genannten |
FäUen die unwillkürlichen und ziellosen Beuge- und Streckbewegungen ;
auf. Chorea ist eine Nervenkrankheit, die vom Willen
absolut unabhängig ist, während die choreiforme Insta- ■
bilität keine Erkrankung des Nervensystems ist und :
durch starke Willensanstrengungen unterdrückt werden
kann. Man nennt die Unbeständigkeit der Bewegungen wegen ihrer •
nur choreaähnlichen Art choreiforme Instabilität. Unwillkürliche \
Muskelbewegungen können nun nicht nur in der Hand- und Armmuskulatur j
sich finden, sondern auch in den Gesichtsmuskeln. Sogar in völliger j
Ruhe der Muskeln zeigen sich diese Muskelbewegungen. Verlangt man, ;
daß das Kind die Arme ausbreitet, oder aufwärts oder vorwärts hebt, |
oder die Finger spreizt, ein Bein hebt, so tritt die Instabilität der \
Bewegungen noch deutlicher hervor, da sieht man die Zwecklosigkeit \
dieser Bewegungen noch deutlicher. '
Nicht minder oft finden wir bei schwachsinnigen Kindern noch eine
andere Störung der Muskelbewegungen, einen krankhaft gesteigerten Be-
wegungsdrang, eine motorischeAgitation. Als leichteste Form dieses ;
Bewegungs dranges ist das viele und rasche Sprechen anzuführen. Mit j
der ungeheuren Gesprächigkeit vergesellschaftet sich häufig ein gesteigertes ,
Minenspiel. Mit dem Grade des Schwachsinns wächst auch die Schnellig- i
keit und Häufigkeit des Sprechens ; kaum eine Pause gönnt sich das Kind \
und das Grimmasieren erfährt eine erhebliche Steigerung. Je mehr
und je schneller ein Kind spricht, desto intensiver und größer sind diese, ;
seinen Redestrom begleitenden Gestikulationen. Wirr fährt es mit den
Händen in der Luft hemm, erhebt sich, um mit Nachdruck zu sprechen, i
auf die Zehen, arbeitet mit dem Oberkörper, läuft im Zimmer hin i
u. a. m. Fast nie sitzt das arme Kind still, es springt auf, läuft hierin,
— 17 —
dorthin, faßt hier etwas an, trägt es dort hin u. s. f. Der Grang ist ein
unruhig hüpfender. Beschäftigt ist das Kind immer, ja, es hat viel zu
tun, allerlei beginnt es, um im nächsten Augenblicke etwas anderes zu
sehen, zu erfassen und die angefangene Arbeit bleibt unvollendet. Die
motorische Erregung erstreckt sich auch auf die Defäkation, oft, viel
zu oft, suchen sie den Abort auf, meist ohne Bedürfnis. Genau so über-
flüssig sind ihre Bemühungen um ihren Anzug, sie ziehen sich an und
aus, bürsten sich die Kleider aus, frisieren sich u. s. f. In ganz schweren
Fällen steigert sich die motorische Unruhe zum Zertrümmern, Toben
mit häßlichem Schreien, Schlagen, Stoßen, Beißen u. a. m. Glücklicher^
weise dauert eine derartige Attacke nicht sehr lange und nach derselben
sind die Kinder meist auffallend ruhig und leistungsfähiger als früher.
Bei andern Kindern wieder kommt es meist nicht zu diesen moto-
rischen Entladungen, sie sind und bleiben ruhig, haben aber stereotype
Bewegungen als Kopfnicken oder -wiegen, Wiegen und Drehen des Ober-
körpers, Reiben der Hände, Pflücken und Kauen an den Nägeln, Schmatzen
mit der Zunge, Belecken der Lippe, Augenzwinkern, Schlagen mit dem
Zeigefinger in die andere Hand u. a. m., die alle einen eigentümlichen
Gegensatz zu der sonstigen Langsamkeit und Trägheit bilden. Alle
diese Bewegungen haben einen äußerst häßlichen, bizarren Charakter,
die dem Kinde den Stempel geistiger Minderwertigkeit aufdrücken; sie
sind mehr Folgen früherer Angewohnheiten, Unarten und Untugenden,
als Eeizerscheinungen der motorischen Region und im ersteren Falle
leichter zu bekämpfen als im letzteren. Wohl jedes Kind hat irgend eine
häßliche Angewohnheit, wird diese stereotyp, so ist es ein Tic, ein Ge-
wohnheitstic, der entschieden zu bekämpfen ist. Schwerer heilbar ist
der konvulsive Tic, der auf Reizungen des Nervensystems beruht.
Wenn das Kind, ganz gleich in welchem Alter, eines Tages Krampf-
bewegungen zeigt, so ist stets Gefahr im Anzüge und auf jeden Fall
ist der Rat eines tüchtigen Nervenarztes oder Psychiaters einzuholen.
Wenn die Krampfbewegungen ohne jede äußere Veranlassung auftreten,
so ist mit Sicherheit auf eine Gehirnveränderung zu schließen. Doch
hüte man sich auch hier vor dem Schlüsse, daß jede Krampfbewegung
die Folge einer veränderten Hirnkonstruktion ist. Wohl jeder Vater
weiß, daß auch normale Kinder einmal von Krämpfen befallen werden
können, beim Weinen, bei Magen- und Darmreizungen, im Fieber, beim
Zahnen, bekannt sind sie unter dem Namen eklamptische Anfälle. Diese
Art von Krampfbewegungen können selbstverständlich auch bei Schwach-
sinnigen vorkommen, ja, man kann sogar sagen, daß Schwachsinnige
dazu neigen, aber eine Ursache des Schwachsinnes sind sie nicht, nur
eine Komplikation.
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 2
- 18 - :
Hierher gehört auch das Zähneknirschen. Mit den Zähnen knirscht i
wolil einmal jedes Kind, besonders kleinere, wenn sie Zahnweh haben, j
Das vereinzelte Auftreten ist hier auch nicht gemeint, sondern vielmehr
das ständige, vor allen Dingen das Zähneknirschen ohne äußern Anlaß,;
vor allem im Schlaf, beim Spiel, bei stiller Beschäftigung der Kinder j
n. 8. f. Das Zähneknirschen beruht zwar auf einer Reizung der Hirn-
rinde, kommt aber nicht nur bei Schwachsinnigen vor, sondern auch bei;
der psychopathischen Konstitution, sodaß der Schhiß vom Zähneknirschen ]
auf Schwachsinn nicht berechtigt ist. ■
Das gleiche gilt vom Einnässen (Enorese). Jedes Kind näßt ein,i
solange es klein ist, vielleicht bis zum 2., spätestens bis Ende des^
3. Jahres. Für Mastdarm und Blase ist das Rückenmark zuständig, i
Zuerst entwickelt sich das Gehirn, danach wird erst das Rückenmark;
beherrscht, mithin kann vorher eine Regelung der Darmtätigkeit nicht'
eintreten. Aber nach Ablauf des 2. — 3. Jahres muß sie vollzogen sein,!
wenn eine normale Entwicklung stattgefunden hat. Vorsicht ist jedoch^
auch hier geboten, bei der Schlußfolgerung, denn auch bei der psycho- i
pathischen Konstitution treffen wir diesen Fehler. i
Ein sicheres Merkmal für Schwachsinn dagegen ist die übermäßig i
starke Absonderung von Speichel und das Herausfließen des-i
selben aus dem Munde bei schon größern Kindern, die über die Zahnung^j- :
periode hinaus sind. Hierher zu zählen ist auch die Neigung zum Er-i
brechen, die man aber auch bei andern Krankheitsbildern, z.B. bei^
Hysterie trifft, sodaß hier dieses Kennzeichen allein nicht ausschlag- ;
gebend ist. ]
Eine häufige Komplikation ist die Epilepsie. Ziehen fand bei |
70 "/o aller Schwachsinnigen Epilepsie „jedoch spielt sie als Ursache des ;
Schwachsinns eine relativ geringe Rolle." Sie ist eben nicht das aus- ;
lösende Moment, sondern eine häufige Begleiterscheinung des Schwach- i
Sinnes. Bei der zerebralen Kinderlähmung z. B. tritt sie gleichzeitig i
mit der Lähmung der einen Körperseite sofort nach der Erkrankung .
der Hirnrinde auf. Die epileptischen Anfälle sind ein sehr wichtiges 1
Warnungssignal, sofern die Angehörigen die bisher genannten Ab-
weichungen der Schädelform, des Skelettes, der Innervation oder die :
Ausfälle der Intelligenz nicht beachtet haben. Wohl jeder ist imstande, 1
einen epileptischen Anfall als solchen zu erkennen. Eingeleitet wird der
Anfall durch verschiedene Anzeichen (Aura) gesteigerter Bewegungsdrang, '■
erhöhtes Angstgefühl, überwertig betonte Vorstellungen u. a. m. Dann \
fällt der Patient mit lautem Aufschrei zu Boden und unter Bewußtseins- |
Verlust, zieht sich die gesamte Muskulatur zusammen, spannend zusammen :
(Tonus) um dann in starken Zuckungen, Streck- und Beugekrämpfen der ^
- 19 -
Muskulatur überzugehen (Klonus). Die Atmung ist sehr erschwert.
Nach und nach löst sich der Krampf, das Bewußtsein kehrt zurück und
der Patient fällt in einen tiefen Schlaf. Während dieser Zuckungen
beißt sich der Patient häufig auf die Zunge, die Pupillen sind während
des Anfalles weit geöffnet, reagieren aber nicht auf Lichteinfall.
Von dem ganzen Anfall hat der Patient keine Erinnerung. Er
weiß bis kurz vor dem Anfall alles genau, aber mit der Aura setzt die
Amnesie ein. Sie wissen nicht, woher sie die blutige Zunge haben,
woher die Verletzungen, die event. beim Fall entstanden sind, stammen.
Der Verlauf eines Anfalls ist also folgender : Aura, Tonus, Klonus,
Zungenbiß, Einnässen, Pupillenstarre, Amnesie und sie sind die Unter-
scheidungsmerkmale z. B. von Hysterie. Der hysterische Anfall kennt
von alledem nichts. Die epileptischen Anfälle treten in sehr verschiedenen
Zwischenräumen auf. Manchmal an einem Tage mehrere, manchmal
wiederholen sie sich in langen Abständen. Jeder Anfall raubt ein Stück
geistiger Spannkraft und mit gehäuften Anfällen sieht man ganz offen-
sichtig die Intelligenz sich vermindern.
Nun ist schließlich noch der Lähmungen zu gedenken, die auch
nicht auf der Grundlage des Schwachsinnes, also einer Entwicklungs-
störung der Großhirnrinde entstehen, sondern infolge einer Herder-
krankung, einer örtlichen Zerstörung der motorischen Region oder
Leitungsbahnen. Eine Herderkrankung eines Erwachsenen hat einen
andern Verlauf als die eines Kindes mit noch nicht völlig entwickeltem
Hirn. Während die Herderkrankung Erwachsener auf den Ort der Er-
krankung und die nächste Umgebung beschränkt bleibt, wird bei den
Herderkrankungen des kindlichen, noch nicht voll entwickelten Gehirns
meist das ganze Hirn in Mitleidenschaft gezogen und die Entwicklungs-
störung hindert ein völliges Auswachsen des Gehirns und es entsteht
Schwachsinn. Also nicht die Lähmung (zerebrale Kinderlähmung) ist
eine Folge von Schwachsinn, sondern der Schwachsinn ist ofmals bedingt
durch eine Lähmung. Als solche Herderkrankungen bei Lähmungen
kommen Geschwülste, Blutungen, Verstopfungen der Blutgefäße durch
Fremdkörperchen (Embolien) oder durch Bluttröpfchen (Thrombose)
u. a. m. in Betracht.
Je nach der Lokalisation der Erkrankung ist die Lähmung eine
verschiedene. Ist der Herd in der linken Hirnhälfte, so ist die Lähmung
eine rechtsseitige, ist der Herd rechts, so ist die Lähmnng linksseitig.
Bei rechtsseitiger Lähmung kann die Herderkrankung auch auf das
Sprachzentrum übergehen und völlige Sprachlosigkeit zur Folge haben
(Aphasie). Meist ist die Lähmung eine halbseitige (Hemiplegie), jedoch
kann auch auf Grund einer doppelseitigen Herderkrankung eine beider-
2*
- 20 - ]
i
seitige Lähmung (Diplegie) entstehen. Selten sind nach Ziehen Para-i
plegien, Lähmungen beider Beine, und noch seltener Lähmungen nur-
einer Extremität. \
Die erkrankten Extremitäten der halbseitig gelähmten Kinder sind*
im Wachstum zurückgeblieben. Die Arme und Beine sind nicht nurj
kürzer als die gesunden Gegengliedmaßen, sondern auch im UmfangJ
geringer, also nicht nur die Knochen sind im Wachstum gestört, sondemj
auch die Muskulatur ist in Mitleidenschaft gezogen. Dazu nehmen Arme^
und Beine die bekannte Kontraktur ein, das ist eine feste Stellung, die]
der Patient durch seinen Willen nicht verändern kann und die selbst'
einer mechanischen Lageveränderung Widerstand entgegensetzen. Arm;
und Hand sind in Beugestellung, das Bein und der Fuß in Streckstellung. |
Fast jede zerebrale Kinderlähmung ist besserungsfähig,- Heilungen jedoch:
sind sehr selten. Näher auf die heilpädagogische Behandlung gelähmter;
Kinder einzugehen, verbietet sich hier von selbst^). \
Seelische Merkmale. ]
Gehen wir nunmehr zu den seelischen Symptomen über. Die ersten]
Jahre kommen hier weniger in Betracht, ist doch in denselben das Kindi
noch so sehr abhängig von den örtlichen Verhältnissen, dem körperlichenj
Befinden und das kindliche Gehirn noch so unentwickelt, daß ein Schlußj
auf die geistigen Fähigkeiten noch nicht berechtigt erscheint. Allerhand j
äußere Zufälligkeiten können die Entwicklung des Kindes so beein-
trächtigen und hindern, daß es hinter seinen Altersgenossen notwendig
zurückbleiben muß. i
Die durch diese äußern Hindernisse bedingten Ausfälle sind in der
Regel mit dem 4. oder 5. Jahre annähernd ausgeglichen, daß die Zeit vom |
5. bis spätestens 8. Lebensjahre für die Beurteilung der geistigen Fähig-
keiten wohl nicht mehr als zu früh zu bezeichnen ist. :
Die Empfindungen sind auch bei dem Schwachsinnigen meist nor- ]
mal. Hier findet man die wenigsten Defekte. Nur in ganz schweren Fällen
zeigen sich Ausfälle. Wenn ein Kind weniger als normal auf Reize;
reagiert, so liegt dies meist nicht an einer Unempfindlichkeit (Hypästhesie),
sondern an einer Störung der Vorstellungen oder Assoziation. Geschmack ]
und Geruch sind in den leichten Fällen durchweg gut entwickelt. |
In schweren Fällen findet man doch oft erhebliche Abweichungen.
Scharf gesalzene, gepfefi^erte, bittere, saure Speisen oder Ingredienzienen '
werden von ihnen mit sichtlichem Wohlbehagen gegessen und getranken. \
1) Vgl. 0. Major, Die heilpädagische Behandlang gelähmter Kinder. Zeitschrift für \
experimentelle PädagogUc 1909. Die Abhandlung erscheint zusammen mit der vorliegenden |
als Broschüre im Verlag von 0. Nemnich..
— 21 —
Das Auffallendste, was mir in dieser Hinsicht vorgekommen ist, war
eine Geschmacksperversität. Ein 11 jähriger idiotischer Knabe ohne
Sättigungsgefübl aß alles, was er auf der Erde fand, auch an harten
Gegenständen kaute er herum. Eines Tages erzählte er selbst hoch er-
freut, daß er Glas essen könne und daß es ihm sehr gut schmeckt. Er
hat Glasscheiben in allerkleinste Teile zerkaut und hinuntergeschluckt.
Gefragt, warum er- das äße, gab er an, es schmecke -so schön, es knackt
so schön zwischen den Zähnen.
Ein anderer achtjähriger stark schwachsinniger Knabe ißt Seife,
Lehm, Sand, Koks, Asche. Papier, Lederabfälle und ist beglückt, wenn
er einmal etwas neues gefunden hat, das ihm schmeckt.
Doch ist auch hier Vorsicht geboten. Bleichsüchtige Kinder essen
auch manchmal Dinge, die sonst nicht zu ihrer Nahrung gehören, Kreide,
Sand, Kalk, Kohlen etc. Wenn jedoch ein Kind Schwefelwasserstoff
oder dgl. mit sichtlichem Wohlbehagen riecht, so erregt das Bedenken.
Dagegen ist die Schmerzempfindlichkeit nicht selten stark herab-
gesetzt. Daß sich ein schwachsinniges Kind die Fingernägel soweit weg-
kaut, daß die Eingerkuppen anfangen zu bluten, oder daß es die Nägel-
haut vollständig abpflückt, ist nichts Seltenes. Selbst schwere operative
Eingriffe ertragen viele ohne die geringsten Anzeichen irgend eines
Schmerzes. Es gibt Schwachsinnige, die sich selbst Wunden im Gesicht,
an den Händen oder an den Eüßen beibringen und ihr Zuheilen durch
ständiges Aufkratzen oder Aufschlagen verhindern. Ich kenne Schwach-
sinnige, die eigentlich immer mit Wunden im Gesicht herumlaufen, jedes
kleine Pickelchen, jeder kleine Ritz wird aufgekratzt.
Die Berührungsempfindlichkeit ist oft auch abweichend von
der Norm, man findet jedoch weit öfter eine Unter- als Überempfindlich-
keit. Gesteigert ist nicht so selten das Kitzelgefühl. Die Empfindlich-
keit gegen Wärme und Kälte, gegen Berührung der Haut, ist oft er-
heblich herabgemindert, ohne jedoch ganz zu fehlen, was nur in ganz
wenigen Fällen zu konstatieren sein wird.
Die Seh- und Hörschärfe ist bei den meisten Schwachsinnigen
normal. Bei einigen, vorab bei den Cretinenhaften, finden wir eine Kurz-
oder Übersichtigkeit. Blindheit und Taubheit sind seltene Befunde. Bei
der Blindheit handelt es sich nach Ziehen um eine Erkrankung der Netz-
haut oder der Sehnerven, seltener um eine solche innerhalb des Gehirns,
der Sehsphäre oder Sehbahnen. Dadurch ist dann entweder eine totale
oder beinahe totale Blindheit bedingt, (amaurotische Idiotie).
Ich erinnere mich eines Schwachsinnigen von 8 Jahren mit fast to-
taler Blindheit. Es war das 6. Kind eines Trinkers. Während der Gra-
vidität fiel die Mutter von einer Leiter herunter. Die Geburt dauerte
— 22 — 1
sehr lange und schließlich mußte doch eingegriffen werden. Das Kind"
wurde scheintot geboren. Sehr schwer war es, das Kind an die Brust
zu gewöhnen und Saugbewegungen hervorzurufen. Die Mutter gab
nachher zur Beruhigung Milch mit einem Zusatz von Branntwein, da^
das Kind sehr viel schrie. \
Mit IV« Jahren lernte der Knabe im Wagen sitzen, mit 2*/* Jahren^
gehen. Beim Gehen ist er immer hin- und hergewackelt, sodaß es^
immer aussah, als ob er fiel. Mit Sprechen hat er viel später angefangen.]
Der Junge ist einmal, als er ungefähr 2 Jahre alt war, aus dem;
Wagen gefallen. Die Mutter war nicht anwesend. Als sie nach Hause •
kam, lag er an der Erde und hatte Schaum vor dem Munde und schlug |
immer um sich. Seitdem bekommt er manchmal Wutanfälle, dann schlägt;
er um sich und zerschlägt alles, was ihm in die Quere kommt. Daß erj
schlecht sehen konnte, haben wir als er V/2 Jahre alt war gemerkt. Bisj
hierher der Bericht der Mutter.
Der Junge ist unterernährt und hat rachitischen Knochenbau. Der
Schädelumfang war 45 cm, die Stirnhöcker sprangen stark hervor. Die
Haargrenze war links tief ins Gesicht verschoben. Die Ohrläppchen'
waren angewachsen und die Erhebungen der Ohrmuschel wenig ent-j
wickelt. Die Beine waren stark auswärts gebogen. Die Wirbelsäule^
zeigte eine linksseitige Verbiegung und auf der Brust markierte sich^
ziemlich deutlich der Rosenkranz. ;
Er wackelt mit dem Kopfe hin und her und bewegte den Ober-1
körper leicht drehend um seine Längsachse. Die Knie waren etwas ge-|
beugt. Mit dem Mittelfinger der linken Hand schlug er dauernd in die;
andere Hand.
Die Sprache ist stockend, langsam und fehlerhaft, er stammelt g
und k und sprach dafür d und t oder er läßt sie bei schwierigem län-:
gerem Wort vollständig aus. Für f, w und v spricht er s-Laute. Dazu'
gesellt sich ein starkes Satzstammeln. ■
Er ißt viel, kaut aber sehr schlecht. Die Zähne sind schlecht undi
stark kariös. Die Zähne haben eine unregelmäßige, weite Stellung, der;
Gaumen ist steil.
Auf Lichtreize reagiert er, wenigstens auf einige Entfernung. Be-|
kannte Personen konnte er von einander unterscheiden, wie er behauptet!
durchs Gesicht, doch erscheint dies kaum glaublich, da er z. B. aus ver-!
schiedenen Gegenständen Messer, Gabel, Buch, Federhalter, Flasche nicht,
zwei gleiche herausfinden kann, wobei allerdings ein Aufmerksamkeits-;
defekt beteiligt sein kann. Er wird wohl ihm bekannte Personen mitj
dem Gehör, an der Sprache erkennen. Von an der Wand hängenden,]
größeren Bildern hatte er schwache Gesichtsempfindungen.
- 23 —
Die Sclinierzempfindliclikeit war herabgesetzt. Gregen Druck und
Stiche reagierte er wenig, auch hatte er keine deutlichen Empfindungen
von Kälte und Wärme, das Kitzelgefühl war gesteigert. Einfache Vor-
stellungen hatte er, wenn auch in bescheidener Zahl, z. B. Haus, Baum,
Vogel, Tier, Elektrische, Soldaten etc. Zusammengesetzte Vorstellungen,
vor allem Raum- und Zahlvorstellungen waren desto fehlerhafter. Be-
ziehungsvorstellungen fehlten ganz. Er schwatzt ziemlich viel und er-
zählte auch kleine Erlebnisse ganz deutlich. Ethisch war er beinahe
indifferent.
Wenn wie oben schon erwähnt die Hörschärfe bei den meisten
Schwachsinnigen normal ist, oder sich doch der Normalität nähert, so
kann man doch auch in den einzelnen Fällen eine Unter- und Über-
emptindlichkeit finden. Bei einem Mädchen zeigte sich bei sonst ziem-
lich herabgesetzter Empfindlichkeit gegen alle Reize der Außenwelt
eine erhebliche Empfindlichkeit gegen alles Singen, Leierkasten,- Orgel-
und Harmoniumspiel. Entsprechend der Blindheit der Schv/achsinnigen
kommt es auch in schweren Fällen zur völligen Taubheit.
Ein Zögling meiner Anstalt, ein kräftiger Knabe war taub und
idiotisch. Der Grehörgang war nicht verschlossen, sodaß ein Defekt in
der Leitung und im Zentrum vorhanden sein mußte. Der Knabe, ein
Mikrocephaler, war jähzornig, leicht ablenkbar, mit den stärksten Auf-
merksamkeitsdefekten, ängstlich, scheu, sodaß eine Behandlung von vorn-
herein aussichtslos erschien. Ich versuchte es trotzdem, mußte aber
nach langer, oft wiederholter Bemühung die Unmöglichkeit jeder Hilfe
erkennen, da er, trotzdem er die einzelnen Lautstellungen der Sprach-
werkzeuge richtig bildete, keinen Laut hervorbrachte und bei der ge-
ringsten Berührung aufschrie und weglief, trotz seiner großen Anhäng-
lichkeit und Zuneigung zu mir.
Wenn so die meisten Schwachsinnigen über normale oder doch an-
nähernd normale Empfindungen verfügen, so stellen sich im Festhalten
dieser Empfindungen häufig schon größere Defekte ein, die Erinner-
ungsbilder oder Vorstellungen haften nicht sicher, wesentliche
Merkmale des Gegenstandes werden übersehen und nicht festgehalten,
oder sie schwinden wieder, sodaß kein klares, scharf umrissenes Bild
vom Gegenstand im Hirn niedergelegt und aufgespeichert ist.
Vorsicht ist auch hier geboten. Man darf unmöglich verlangen, daß
ein Kind von 5 — 8 Jahren alle Vorstellungen haben soll, über die ein
größeres Kind oder gar ein Erwachsener verfügt. Viele Dinge hat das
Kind noch garnicht gesehen, oder ihnen, aus irgend einem äußern Grunde
keine Beachtung geschenkt, wie soll es aber dann davon Vorstellungen
haben? Ein Dorfkind hat andere Vorstellungen als ein Stadtkind, ist
- 24 - jj
€8 darum schon vorstellungsärmer? Ein Kind einer wohlhabenden Fa- ]
milie sieht und hört mehr, als das gleichaltrige Kind des Arbeiterstandes, )
ist es deshalb, weil es über mehr Erinnerungsbilder verfügt intelligenter? ,
Darum Vorsicht bei der Beurteilung; nur dann, wenn grobe Ausfälle j
sich gleich bei der ersten Untersuchung zeigen, wenn viele Vorstellungen ;
fehlen, die jedes andere gleichaltrige normale Kind hat, ist ein Verdacht |
auf Schwachsinn berechtigt. Der gewissenhafte Beurteiler wird jedoch \
trotzdem das Kind noch öfter beobachten und untersuchen. ;
Bei der ersten Konsultation ist eine genaue Aufstellung des gei- ;
stigen Besitzstandes unerläßlich, um eine Grundlage für die späteren ]
Untersuchungen zu haben. Nunmehr zeigt man dem Kinde andere Ge- ]
genstände in natura oder im Bilde, was nicht so zu empfehlen ist und ■
prüft später, ob die Vorstellungen haften und ob die Eeize stark genug
gewesen sind, um Erinnerungsbilder festzulegen. So allein kann man
zu einem einwandfreien sichern Urteil über den geistigen Habitas kommen. I
Im folgenden wollen wir eine solche genaue Untersuchung nach dem j
Schema von Ziehen kennzeichnen. ^
Ausgehend von den einfachsten Erinnerungsbildern, von
den Individual Vorstellungen wird zu untersuchen sein, ob das Kind
seine nächsten Angehörigen und die Dinge seiner nächsten Umgebung ]
kennt: Vater, Mutter, Schwester, Bruder, Stuhl, Tisch, Uhr, Bett, An- ■
zug, Stiefel, Ofen, Schrank, Hand, Kopf, Nase, Fuß u. s. f. Wenn man
ein Kind auffordert, diese Dinge zu benennen, so wird es einem öfter '
begegnen, daß es dies nicht vermag. Zwei Möglichkeiten sind dann als ;
Grund dafür vorhanden; entweder kennt es diese Dinge wirklich nicht ;
und dann ist es schwachsinnig im schwersten Grade; oder aber nur die •
Namen für die Dinge fehlen dem Kinde, oder es kann die Worte nicht i
aussprechen, sichere Vorstellungen von den Dingen hat es aber.
Um sich in solchen Fällen nicht einer schweren Unterlassungssünde J
schuldig zu machen, ist es erforderlich, noch einen zweiten Weg der ]
Prüfung zu beschreiten, nämlich die Dinge zu nennen und sie von dem \
Kinde zeigen zu lassen und wenn auch hier der Erfolg noch ausbleibt, \
so ist die dritte Möglichkeit ins Auge zu fassen, das Kind streng zu I
beobachten, wie es sich den genannten Dingen gegenüber verhält, um !
daraus schließen zu können, ob es dieselben kennt. Und das wird nicht j
schwer sein und lange wird es nicht währen und man weiß sicher, ob \
das Kind seine Angehörigen, seine Kleider etc. kennt.
Schon hier bei der Prüfung der Individualvorstellungen versagen j
die Schwachsinnigen schwersten Grades, Idioten, sie kennen weder Vater \
noch Mutter, weder ihren Platz hei Tische, noch ihr Bett, weder ihre ■
Jacke, noch ihre Stiefel etc. Schwachsinnigen mittleren Grades, Imbe-
— 25 —
cillen, sind diese Dinge bekannt, aber ihr Vorstellangskreis bleibt auf
die Dinge der nächsten Umgebung beschränkt, sie finden und orientieren
sich nur der allernächsten Nachbarschaft. Bei Schwachsinnigen leichten
Grades, Debilen, findet man keinerlei Ausfälle.
Bislang haben wir nur Einzelvorstellungen geprüft und schon Ab-
weichungen feststellen können, gehen wir nun zu den Allgemein vor-
stellungen, so werden die Defekte größer. Der Imbecille kennt
seinen Stuhl, seinen Baukasten, sein Messer, sein Bilderbuch, seinen
Ball etc., dagegen hat er nicht immer eine Allgemeinvorstellung von
Tisch, Messer, Haus, Ball etc. Wieder sind beide Arten der Prüfung
geboten: Wo ist das Messer? — Heraussuchen unter mehreren Gegen-
ständen — und was ist das? — Messer — . Nun darf man hierbei nicht
immer die Gegenstände nehmen, die das Kind als die seinen genau kennt,
sondern andere, ähnliche. So verlangt man von dem Kinde, daß es
von kleinen Abweichungen und Abänderungen, kleinen Verschiedenheiten
abstrahiert und die Gegenstände trotzdem als gleichartige erkennt.
Der Schwachsinnige schwerster Art kann keine Allgemeinvorstel-
lungen bilden. Der Imbecille hat die geläufigsten konkreten Allgemein-
vorstellungen, um die handelt es sich jetzt hier nur, ist jedoch oft nicht
imstande, kleine, weniger auffällige Abweichungen festzuhalten und zu
unterscheiden. So gibt es nicht wenige, die nicht die deutschen, ge-
druckten Buchstaben von den lateinischen unterscheiden können, denen
es trotz aller Übung nicht gelingt, einen Apfelbaum von einem Birn-
baum zu unterscheiden, für die Hirsch und Reh dasselbe sind u. a. m.
Der Debile dagegen verfügt fast immer über die konkreten Allgemein-
vorstellungen.
Viel schwieriger ist die Bildung von Allgemeinvorstellungen,
welche den Empfindungsqualitäten eines Sinnesgebietes
entsprechen. Beginnen wir mit den Berührungsvorstellungen.
Zu dem Zwecke legt man verschiedene Gegenstände auf den Tisch und
fordert das Kind auf, bei verbundenen Augen einen gewünschten Gegen-
stand herauszusuchen oder einen ihm in die Hand gegebenen Gegenstand
zu benennen, nur so kann man unter Ausschaltung der Gesichtsvor-
stellungen eruieren, ob das Kind Tastvorstellungen hat. Ganz erhebliche
Ausfälle werden uns meistens entgegentreten. Auch fehlen nicht selten
Vorstellungen von glatt, rauh, weich, hart, naß, trocken etc.
Nicht so sehr geschädigt ist meist der Temperatursinn. Man
füllt mehrere Flaschen oder Reagenzgläser mit kaltem, lauwarmem und
heißem Wasser und läßt die Temperatur bestimmen. Idioten vermögen
es oft nicht. Imbecille und Debile machen es meist richtig.
- 20 - 1
Zwecks Untersuchung des Drucksinnes läßt man verschiedene,
gleichartige, geschlossene Kästen, die ganz oder teilweise mit Sand ge-
füllt sind, heben und ihr Gewicht angeben. Auch hier findet man, dalj
die Abstraktion nicht immer vollzogen ist, denn viele können nicht das
Gewicht unterscheiden.
Nicht minder geschädigt sind oftmals die Vorstellungen wie sauer, süß
bitter, salzig, und die Qualitäten des Geruchsinnes, die man leicht
mit dunkeln Flaschen, die verschiedene Flüssigkeiten enthalten, fest
stellen kann. Bei tiefstehenden Schwachsinnigen gelingt es einem auch
oft, durch häufiges Üben nicht, diese Vorstellungen zu wecken. '
Trotzdem die Seh- und Hörschärfe bei den meisten Schwachsinnigen
fast normal ist, sind doch die Vorstellungen dieser Qualitäten oft auf-
fallend und unentwickelt. Soweit die Hörsphäre in Betracht kommt
prüft man am besten bei verbundenen Augen oder doch abgewandteiis
Gesicht. Man läßt ganz bekannte Geräusche ertönen, z. B. Glocke
Geige, Schlüsselbund, Pfeife, Stimmgabel u. s. f., läßt das Kind sagen
womit sie hervorgebracht waren. Oder aber man läßt auch das Geräuscli
an verschiedenen Orten des Zimmers ertönen, seitlich, vor und hinter
dem Kinde, weit, nah etc. und verlangt vom Kinde die Angabe des
Ortes. Wenn das Kind dies vermag, so ist es ein gut prognostisches
Zeichen ; nur Schwachsinnige leichteren Grades können diese Abstraktioi
und Lokalisation vollziehen.
Von größter Bedeutung sind die Qualitätsvorstellungen des Gesichts-
sinnes. Vorab ist festzustellen, ob das Kind große Einzeldarstellungei
erkennt, dann, ob es auf Bildern, die Tätigkeiten — Handwerk, Gewerbe
Leben und Treiben auf der Straße — darstellen, die einzelnen Gegen"
stände benennen kann. Während die meisten Schwachsinnigen — aus«
genommen die tiefstehensten Idioten — das Erstere vermögen, triflPt mar
im anderen Falle oft Defekte. Das Kind erkennt entweder überhaupi
nichts, oder zeigt bei jeder Aufforderung immer denselben Gegenstand
Zur weiteren Prüfung schneidet man sich aus Papier verschiedene
Formen, Dreiecke, Vierecke, lang und kurz, Kreise, Kreuze, Sterne etc
und läßt die gleichen heraussuchen und zusammenlegen. Debile könnet
das meistens, jedoch finden sich hier auch schon Ausnahmen, Lnbecillf
dagegen versagen hier meistens. Noch augenscheinlicher werden di<
Defekte, wenn man zu den Farbenvorstellungen übergeht, über di<
sogar oftmals leicht abnorme Kinder nicht verfügen, trotz umfangreiche)
Schulkenntnisse. Sie sind etwa nicht farbenblind, sie haben wohl di«
richtige Empfindung, aber aus dieser haben sich keine Gemeinvorstel
lungen gebildet. Ein normales Kind lernt die Farben bis zum 5. Jahr«
erkennen und richtig bezeichnen, der Schwachsinnige erst viel später
— 27 —
ja es gibt sogar sehr viele, die es nie erlernen. Nur in ganz seltenen
Fällen beobachtet man, daß bei tiefstehenden Schwachsinnigen die Far-
benvorstellungen gut entwickelt sind, sodaß man die Farbenvorstellungen
als gutes Kriterium für den Schwachsinn nehmen kann.
Einige Beispiele sollen zeigen, wie in der Regel die Ausfälle in den
Farbenqualitäten sich zeigen.
A., 15 jährig, eiiennt keine Farbe richtig, benennt heute schwarz
als grau, ein andermal als blau, grün als rot oder auch blau.
K., 12 jährig, nennt schwarz und braun fast immer grau, blau fast
immer grün.
In beiden Fällen ist das Unvermögen, richtige Farbenvorstellungen
zu bilden, ganz deutlich. Die Beispiele ließen sich mehren. Es handelt
sich immer um Idioten und Imbecille, und ganz offensichtig ist es, daß
sie entweder überhaupt keine richtigen Farbenvorstellungen oder eine
Vorliebe für bestimmte Verwechselungen haben, die wohl durch die
Ähnlichkeit der Farbe bedingt ist.
P., 13 jährig, bezeichnet gern alles grün; kennt keine einzige Farbe.
F., 14jährig, kennt keine Farbe, bezeichnet alles grau. Ebenso
B., 11 jährig, nennt meist alles blau.
Eine dritte Grruppe Schwachsinniger bezeichnet alle Farben mit ein
und demselben Wort oder bevorzugt dieses wenigstens, ohue jedoch ge-
rade von dieser Farbe eine besonders gute Vorstellung zu haben, meist
sind es wohl nur bevorzugte Gehörseindrücke.
A., 13 jährig, verwechselt braun und grün, grün und blau, andere
Farben richtig.
W., Mjäbrig, verwechselt braun und gelb.
P., 12jährig, verwechselt gelb und grün.
Ad., 14 jährig, verwechselt manchmal grau und grün.
Diese Grruppe verwechselt einige ähnliche Farben.
E., 11 jährig, verwechselt blau bald mit grün, bald mit gelb, bald
mit grau, bald bezeichnet sie es richtig.
AI., 12 jährig, kannte zunächst keine einzige Farbe, nach langer
Übung verwechselte sie noch blau, braun und gelb, blau verwechselte
sie mit grün und schwarz, braun mit gelb und grün und gelb mit grün
und grau.
Gr., 13 jährig, verwechselt blau manchmal mit grün, ein andermal
mit gelb, grün mit blau, grau oder gelb.
Diese drei Kinder benennen eine Farbe immer falsch, ohne jedoch
immer dieselbe Bezeichnung zu wählen, sodaß also Farbenblindheit aus-
geschlossen ist, da dann eine gesetzmäßige Regelmäßigkeit vorhanden
sein müßte.
— 28 —
Nunmehr kommen wir zur Untersuchung der Raum- und Größen-
vorstellungen. Man verändert bei abgewandtem Gesicht des Kindes
die Lage irgend eines Gegenstandes, hängt z. B. ein Bild schief, legt
einen stehenden Gegenstand um und verlangt vom Kinde, die vorige
Lage wieder herzustellen. Oder man öffnet einen Schrank, einen Kasten,
ein Fenster u. s. f. und fordert das Kind auf, es wieder so zu machen,
wie es vordem war. Weiterhin prüft man, ob das Kind weiß, was oben,
unten, hinten, vorn, über, neben, in etc. ist, indem man es auffordert,
einen Kasten in, auf, neben, unter, hinter, vor u. s. f. den Schrank zu
legen, ein Buch in, auf, unter, neben, vor, hinter die Bank zu legen.
Kleine, ganz einfache Figuren, z. B. Dreiecke, Kreuze, Vierecke, Stuhl,
Leiter, Kahn, Tassen u. s. f. aus Stäbchen gelegt, geben einen Einblick
in die Lagevorstellungen des Kindes. Man legt mit Stäbchen
irgend eine Figur vor und das Kind muß sie nachlegen. Ganz unglaub-
liche Ungeschicklichkeit der Hände verbindet sich oft mit unklaren Vor-
stellungen und verschlechtern die Leistungen.
Mit Papierstreifen kann man recht gut die Größenvorstellungen
untersuchen. Man legt lange, kurze, schmale, breite Streifen auf den
Tisch und läßt sich die langen heraussuchen oder die breiten u. s. f.
Ebenso sind die Vorstellungen nahe, weit, hoch, niedrig, tief, flach zu
prüfen mit Gegenständen, die man gerade zur Hand hat. Welches Buch
liegt nahe bei mir? Welcher Stuhl steht weit weg? Welches Bild
hängt hoch? Welches niedrig? u. s. f. Fragen wie diese: Wie groß ist
dein Fuß, der Tisch, deine Nase? Wie groß ist wohl ein Hund? eine
Katze? Wie dick ist dein Lesebuch? Wie lang ist dein Bleistift, dein
Federhalter? Wie groß ist das Billet der Elektrischen? Wie groß ist
ein Pferd? eine Maus? u. s. w. werden uns zeigen, daß die Raumvor-
stellungen ebenso wie die andern, bislang untersuchten verschieden
entwickelt sind, je leichter der Schwachsinn ist, desto geringer ist die
Abweichung der Norm und je tiefer das Kind steht, desto mehr schwindet
die Fähigkeit, Allgemeinvorstellungen zu bilden.
Denselben Befund haben wir bei den Zeitvorstellungen. Einem
normalen Kinde sind diese Vorstellungen wie Woche, Tag, Stunde,
Minute, Morgen, Abend, Mittag, Nacht, Jahr, Vormittag, Nachmittag,
spät, früh, lang, kurz u. s. f. wohl im 5. bis 6. Jahre geläufig, beim
Schwachsinnigen entwickeln sie sich entweder garnicht, oder doch später.
Je mehr wir uns der schweren Idiotie nähern, desto unentwickelter sind
die Zeitvorstellungen. Oftmals vermögen sich Debile, die im Umgang
sich kaum von gesunden unterscheiden, absolut nicht in der Zeit zu
orientieren, sie tragen eine Uhr bei sich, können sich auch danach
— 29 —
richten nnd trotzdem ist es ihnen unmöglich, sich selbständig und richtig
in der Tageseinteilung zurecht zu finden.
Wichtig ist ferner die Untersuchung der Zahlvorstellungen. Ein
normales Kind erlernt die Zahlvorstellungen nichts, wenig, viel etc. sehr
bald, schon im 3. Jahre verfügt es darüber. Auch schon zu zählen be-
ginnt es dann, wenn es noch keine Zahlwörter kennt, es legt immer
eins dazu und .sagt dabei: noch eins und erkennt so schon das "Wesen
der Addition, nimmt eins weg und wieder eins und spricht dazu: eins
weg und erkennt so die Subtraktion.
I. M. hatte sichere Zahl vor Stellungen bis zur 5 mit 4 Jahren und
kannte aber die Zahlwörter 3, 4 und 5 noch nicht, sondern nannte drei
ein Herz und vier 2 und noch 2 und malte dazu ein richtiges Zahlbild,
5 war dann eins mehr. Von da an rechnete sie viel für sich allein und
überraschte mich eines Tages mit den Anfängen der Bruchrechnung, in-
dem sie sich nicht damit einverstanden erklärte, daß sie von 3 geöffneten
Wallnüssen nur 5 halbe bekam. Da fehlt eins, behauptete sie. Mit
Schulanfang haben die meisten Kinder wohl die Zahlvorstellungen bis
5, zählen können sie meist leider viel weiter.
Bei der Prüfung von Zahlvorstellungen benutzt man am besten
Steine eines Damenbrettes oder so etwas, aber möglichst gleichartige
Dinge, die man in gleichen Abständen auf den Tisch legt. Nun läßt
man das Kind zählen, erst mit den Augen, rein optisch und erst
wenn das nicht geht, unter Zuhilfenahme der Finger, optisch moto-
risch. Dabei kontrolliert und korrigiert man die Tastempfindungen
und die Augenbewegung. Das rein optische Zählen ist weit schwieriger,
weil es fertig ausgebildete, abstrakte Zahlvorstellungen voraussetzt und
Idioten und Imbecillen vermögen dies nie und selbst leicht Debile ver-
sagen, sobald man über zehn hinausgeht. Optisch motorisch können die
meisten Imbecillen zählen bis 5, aber auch manchmal bis zehn. Idioten
haben entweder gar keine Zahlvorstellungen, oder nur sehr wenig 1, 2
höchstens noch 3. Diese kann man dann besser prüfen, mit einem Haufen
Nüsse, Apfel, Steine etc., von denen sie 1, 2 oder drei wegnehmen
müssen, oder man läßt die Gegenstände im Zimmer, die mehrmals vor-
handen sind, zählen, Stühle, Bilder, Tische etc. Ueberhaupt ist es
bei allen Prüfungen als Gegenprobe gut, wenn man die Dinge in natura
zählen und sich bringen läßt.
Gar manches schwachsinnige Kind kann zählen bis 20, 30, ja hun-
dert und wohl noch weiter, aber eine klare Vorstellung hat es nicht
einmal von 2 und 3, zu schweigen ganz von einer großen Zahl. Alles
sind nur leere Worte, Schalleindrücke, die nur sinnlos eingeübt sind.
- 30 —
Weiterhin sind die Allgemeinvorstellungen höherer Ord-
nung zu prüfen, wie Stein, Haus, Stall, Fabrik, Mensch, Tier, Pflanze,
Vogel, Fisch, Baum, Strauch, Blume etc., jedoch nicht zu prüfen durch
Fragen wie: was ist ein Baum? welches Ding nenne ich einen Fisch?
da die Antwort eine BegrifFserklärung erheischt, die oftmals nicht ein-
mal normale Kinder zu geben imstande sind und von Schwachsinnigen
erst recht nicht zu erwarten ist. Man lege vielmehr viele Gegenstände
auf den Tisch und lasse unter allen die vorhandenen Steine, Blumen etc.
heraussuchen, oder man gehe hinaus und stelle dem Kinde dieselben
Aufgaben. Oder aber man zeigt dem Kinde nur gleichartige Gegen-
stände, Briefmarken, Federhalter etc. und fragt nach dem Namen dieser
vielen Dinge. So verlangt man, daß das Kind alle nebensächlichen Zu-
fälligkeiten, wie Farbe, Größe, Schwere, Form etc. abstrahiert und die
Hauptmerkmale herausschält und alle dann gleichartigen Dinge unter
einen Oberbegriff zusammenstellt. Eine schwere Aufgabe, die daher
auch nur von den leichteren Fällen des Schwachsinnes geleistet werden
kann. Idioten haben fast nie diese Art von Allgemeinvorstellungen und
Imbecille nur wenige. Allerdings darf man sich nicht täuschen lassen
durch die manchmal erstaunliche Redegewandtheit mancher Imbecillen,
sie reden über Fische, Blumen, Bäume und Sträucher, als hätten sie
diese Begriife absolut sicher und doch sind es nur Einzelvorstellungen
und nicht Allgemeinvorstellungen. Wenn sie von Fischen reden, so
denken sie an einen bestimmten Fisch, z. B. an einen Hering oder Gold-
fisch, sprechen sie von Blumen, so meinen sie nicht selten eine bestimmte,
ein Veilchen oder eine andere. Eine genaue Untersuchung ist auch hier
absolut unerläßlich.
Bis jetzt haben sich alle unsere Prüfungen nur auf einfache Vor-
stellungen erstreckt, auf die Zahl, Farbe, Größe, Geschmack u. s. w. der
Dinge oder doch wenigstens auf ein Ding, von dem mehrere Merkmale
erkannt werden mußten. Wenn wir nun einen Schritt weiter gehen, so
stehn kompliziertere Vorstellungen zur Untersuchung, Vor
Stellungen , die räumlich und zeitlich aus mehreren ein-
fachen zusammengesetzt sind,z. B. Schule, Theater, Kinematho-
graph, Schützenfest, Stadt, Dorf, Frühling, Sommer, Herbst, Winter,
Parade, Erdbeben, Feuer- und Wassernot, Gewitter, Wolkenbroch etc.
Man fragt die Kinder, wie man das nennt, wenn es draußen warm ist
und Blumen und Sträucher blühen, die Wiesen grün sind, die Vögel
singen und der Himmel blau ist? oder wie nennst du das, wenn alle
Soldaten hinausgehen aufs Tempelhofer Feld mit allen Fahnen, im besten
Anzug und der Kaiser, die Kaiserin, die Prinzen und andere Fürsten
dort sind und die Soldaten mit Musik an ihnen vorbeimarschieren? Die
— 31 —
Frage, was ist eine Parade? Welche Zeit nennt man Frühling? ist für
die meisten Schwachsinnigen zu schwer, weil sie eine Definition, eine
Zusammenfassung aller Einzelvorstellungen in einem Satz verlangt und
wird deshalb am besten vermieden. Fehlerhafte Einzelvorstellungen der
Farbe, der Zahl, der Form, der Zeit und fehlerhafte Allgemeinvor-
stellungen zeigen sich hierbei ganz deutlich.
Wenn schon bisher der Verwendung von Bildern nicht das Wort
geredet ist, so muß es hier als ganz verfehlt bezeichnet werden, wenn
man Schwachsinnigen ein Bild von einer Stadt vorlegt und nun fragt,
was ist das? Sie werden nicht immer imstande sein, alle Einzelheiten
zu erkennen, zu gruppieren und unter einen Oberbegriff zu subsumieren,
meist werden sie einige Dinge nennen, die sie gerade sehen und die ihre
Aufmerksamkeit fesseln. Dazu kommt noch, daß Schwachsinnige die
dreidimensionalen Darstellungen nicht erkennen, dazu gehört viel Übung.
Von besonderer Bedeutung für die Diagnose sind die Prüfungen
der Vorstellungen, die das Verhältnis mehrerer Dinge zu
einander ausdrücken und eine erhöhte Abstraktion verlangen, inso-
fern als das Kind die beiden Dinge in Beziehung setzt und wägen,
abschätzen, vergleichen, abmessen etc. muß. Wenn ein Kind schon die
Allgemeinvorstellungen niederer und höherer Art nicht ganz sicher hat,
so ist es ihm einfach unmöglich, eine richtige Vorstellung auf Grund
falscher oder nicht klarer anderer Vorstellungen zu bilden. Wenn ein
Kind keine klaren Grrößenvorstellungen von einem Pferd, einem Esel
hat, so kann es auch nicht sagen, wer von beiden größer ist und so ist es
mit vielen Dingen, auch bei andern Beziehungsvorstellungen wie
ähnlich, gleich, kleiner, dicker, dünner, breiter, schmäler, älter, jünger,
Ursache und Wirkung, Grrund und Folge u. s. f. Viele Schwachsinnige
wissen nicht anzugeben, wer älter ist, ihr Vater oder sie, falls sie diese
Frage beantworten können, versagen sie meist bei der Gregenfrage, wer
jünger ist. Diese doppelte Gegenüberstellung ist den meisten Schwach-
sinnigen schier unmöglich. Desgleichen vermag es fast niemals ein
Schwachsinniger — höchstens ein ganz leicht Debiler — die Wechsel-
wirkung von Ursache und Folge anzugeben in beiden Möglichkeiten, das
eine Mal von veränderter Ursache auf die Wirkung und das andere
Mal von veränderter Wirkung auf die Ursache zu schließen, z. B. wie-
viel Geld bekommst du wieder, wenn du für 30 Pfg. Semmeln holen
sollst und 50 Pfg. bekommen hast? Und umgekehrt, wieviel Geld hast
du gehabt, wenn du für 30 Pfg. Semmeln holen solltest und 20 Pfg. zu-
rückerhalten hast? Wenn der ersten Aufforderung manchmal genügt
wird, so erhält man im 2. Falle weit öfter ein negatives Ergebnis. Oder
ein anderes Beispiel, das nicht große Rechenkünste erheischt. Wie ist's
— 32 —
im Zimmer, wenn man heizt? Und wie ist aber der Ofen, wenn es im
Zimmer nicht warm ist?
Absichtlich frage ich hierbei niemals nach dem Grund. Weshalb?
Warum? Aus welchem Grunde? Also nicht: Warum ist es im Zimmer
warm? Warum ist es im Zimmer nicht warm? Diese Fragestellung ist
weit schwieriger, weil sie dem Kinde keine Anhalts- und Ausgangs-
punkte für seine Überlegung gibt. Erst nachdem ich mich überzeugt
habe, ob das Kind in oben genannter Form die Gegenwirkung von Grund
und Folge kennt und beherrscht, gehe ich zu den einfachen Fragen
warum, weshalb über. Daß hier noch weit mehr Kinder versagen, ist
wohl zu verstehen. Nur ganz wenig, leicht Debile vermögen auch hier
zu folgen.
Den Schlußstein der Untersuchungen der Erinnerungsbilder der Vor-
stellungen bilden die komplexen Vorstellungen, die hervor-
gehen aus zusammengesetzten Allgemein Vorstellungen
und Beziehungsvorstellungen. Hierher sind viele unserer
ethischen Vorstellungen zu zählen. Bei der Prüfung derselben darf man
wiederum nicht eine Definition verlangen: Was ist Dankbarkeit, Fleiß,
Liebe, Ehrfurcht etc., sondern man erzählt eine Geschichte und fordert
dann das Urteil des Kindes. Die Worte Diebstahl, Eigentum, Fleiß etc.
gehören oft zu dem Wortschatz vieler schwachsinniger Kinder, aber daß
noch keineswegs damit eine Garantie für ihr diesbezügliches Verhalten
gegeben ist, sieht man alle Tage. Die Kinder kennen die Gebote, wissen
auch oftmals ganz nett über das Betragen eines braven Kindes zu
reden, aber sie selbst erachten sich nicht an diese einfachen Grundbe-
dingungen der Gesellschaftsordnung gebunden. Ganz prompt antwortet
ein debiles Kind, das gestohlen hat, auf die Frage des Richters: Wie
lautet das 7. Gebot? Du sollst nicht stehlen! Ist man dann berechtigt
zu schließen, daß der Begriff des Eigentums geistiger Besitz des Kindes
ist? Aus diesem Kardinalbeispiel erweist sich zur Evidenz, daß das
Kennen des Wortes Eigentum, Diebstahl, Roheit, Gemeinheit etc. noch
nicht die Einsicht in die Strafbarkeit einer Handlung verbürgt, sondern
daß genau eruiert werden muß, ob das Kind mit diesem Wort auch alle
dazugehörigen Einzelvorstellungen verbindet, um sein Handeln in Über-
einstimmung mit den Forderungen der Sitte und des Rechts bringen
zu können, ob es also geistig normal, oder geistig minderwertig ist. An-
stelle des bisher gebräuchlichen „Begriffes" der verminderten Zurech-
nungsfähigkeit muß der der „geistigen Minderwertigkeit" treten, wenn
man die Möglichkeit einer Freisprechung durch ein glänzendes Plaidoyer
eines geschickten Verteidigers ausschalten will und das ist doch wohl
nur eine billige Forderung. Doch dies nur nebenbei.
— 33 —
Bei sprachungewandten , ängstlichen Kindern kommt man weit
sicherer und schneller zum Ziel unter Anwendung von Unterschieds-
fragen: Was ist der Unterschied zwischen Vogel und Biene, zwischen
Eis und Wasser, was ist schlimmer, eine Lüge oder ein Irrtum? Der
Schwachsinnige vermag es nicht zu sagen, oft selbst dann nicht, wenn
man ihm zwei Beispiele gibt, einen Fehler beim Rechnen und das Lügen
oder Verdächtigen eines andern bei einem Vergehen seinerseits.
Gerade hier bei den komplexen Vorstellungen zeigt sich der Defekt
im Vorstellungsleben der Schwachsinnigen ganz deutlich, jeder Schwach-
sinnige weist Fehler und Mängel dieser Vorstellungen auf, sodaß sie das
beste Kriterium für den Vorstellungsdefekt Schwachsinniger sind.
An dieser Stelle sei kurz noch der Schulkenntnisse gedacht, deren
Prüfung von manchen so hoch bewertet wird. Wer eine Untersuchung
vornimmt, wie sie hier geschildert worden ist, der kann auf eine solche
der Schulkenntnisse verzichten. Ist doch dazu der größere oder kleinere
Besitz von Wissensstoffen durchaus nicht ein sicheres untrügliches Mittel
zur Erkennung des Schwachsinnes, da man ja in den wenigsten Fällen
genau orientiert ist über die Bildungsmöglichkeit des Schülers, über die
aufgewandte Zeit und Mühe, über die Qualifikation des Lehrers zum
Unterrichte Abnormer, über die Richtigkeit der angewandten Methode u.a.m.
Auch gibt es eine ganze Reihe leicht Schwachsinniger, die ein er-
staunliches Schulwissen haben, die dank ihres guten Gedächtnisses eine
Menge Daten und Zahlen im Kopfe haben, ohne jedoch zu wissen, was
sie damit anfangen sollen. Setzt man bei einem solchen Kinde das
„Wortwissen" — mehr ist es nicht — in Rechnung bei seiner Beurtei-
lung, so wird das Urteil nicht selten ein falsches werden. Deshalb ist
es geboten, solche Fragen nach dem positiven Schulwissen zu unter-
lassen.
Prüfung der Ideenassoziation.
Zusammengesetzte und komplexe Vorstellungen können sich nur
: bilden durch Verknüpfung mehrerer einfacher Vorstellungen, mithin ist
idie Ideenassoziation bei der Bildung derselben wirksam und schon bei
[der Untersuchung der genannten Vorstellungen von Bedeutung gewesen
und gewertet, wenn auch nicht zahlenmäßig, das geht nicht, denn nie-
mand kann sagen, ob in einer fehlerhaft zusammengesetzten Vorstellung
[der Grund des Mangels in der Ideenassoziation oder in der äußern Reiz-
^sphäre oder in einer fehlerhaften Abstraktion der unwesentlichen Merk-
male oder irgend einer falschen Einzelvorstellung zu suchen ist. Sichere
Ergebnisse kann man nur erhoffen, wenn man diese andern Ursachen
; ausschaltet, also solche Assoziationen prüft, welche nicht zur Bildung
Meumann Exper. Pädagogik. IX. Band. 3
- 34 —
einer einzelnen Vorstellung notwendig und Bedingung sind, also die
successive und die freie Assoziation.
Fehler in der successiven Ideenassoziation findet man am
ersten, wenn man das Kind Reihen bilden läßt. Die einfachste Reihe ist die
natürliche Zahlenreihe. Man glaube ja nur nicht, daß es den Schwach-
sinnigen so leicht fällt, flott weg zu zählen. Bei den meisten gehts
leidlich, d. h. fleißig auswendig gelernt bis 10, dann haperts schon und
je höher hinauf wir kommen, desto langsamer geht es. Deutlicher schon
wird die Verlangsamung, wenn man rückwärts zählen läßt. Es gibt
viele Schwachsinnige, welche das 3-, ja 4-fache und noch mehr Zeit
hierzu gebrauchen als ein normales Kind. Je tiefer ein Kind steht,
desto augenfälliger ist die formale Störung der Ideenassoziation. Noch
mehr zeigen sich die Ausfälle, wenn man eine Reihe bilden läßt, durch
stetes Zuzählen der 2 oder 3 u. s. f. Je größer die Summen dann
werden, desto langsamer gehts.
Eine bestimmte Skala für die Einschätzung der betreffenden Kinder
nach der Schnelligkeit ihrer successiven Assoziation kann man nicht
aufstellen, da die Norm nicht feststeht. Es genügt die allgemeine Regel,
daß der Vollzug der successiven Assoziation sich zusehends verlangsamt,
je größer der Intelligenzdefekt ist. Wem das einfache Abschätzen nach der
Taschenuhr oder sein Zeitgefühl nicht genügt, der verwende irgend
einen der gebräuchlichen Chronometer, z. B. eine Sportuhr oder ein Chro-
noskop (Münsterberg).
Es gibt nun unter den Schwachsinnigen manchmal sogenannte
Rechenkünstler, die mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit Operationen
mit den größten Zahlen ausführen. Ich kannte einen Knaben, der rech-
nete z.B. 17686 + 763 in kürzester Zeit im Kopfe aus und war sonst
zu nichts zu gebrauchen. Es gibt nun einmal solche Zahlenmenschen,
die nur ein ausgezeichnetes Zahlengedächtnis haben, diese kann man
dann natürlich nicht auf oben genannte Art prüfen. Andere dagegen
wieder vermögen nur zu rechnen, zu arbeiten, zu denken, wenn die
Aufgabe zu irgend etwas, das gerade sie besonders interessiert in Be-
ziehung gesetzt wird. So erinnere ich mich auch eines stark debilen
Knaben, der überhaupt nicht antwortete, wenn man nicht in irgend
einer Weise auf eine Person zu sprechen kam, die er kannte, und dann
konnte er glatt rechnen, z.B. A. sag mal wieviel ist 36+12, Herr N.
möchte es gern wissen. Sofort war die Antwort da und dann konnte
man sich mit ihm über gar manches unterhalten und er gab dann
manchmal ganz gescheite Antworten. Oder ein anderer Fall. G. konnte
nicht rechnen, betätigte sich in der Schule fast nie, vor einem Aufsatz
konnte er stundenlang sitzen, ohne ein Wort mehr als die Überschrift
- 35 —
zu schreiben, sagte man ihm aber, er solle ein Thema bearbeiten, das
auf die Eisenbahn Bezug hat, so schaffte er gern und mit Erfolg und
daran anknüpfend konnte man ihn weiter führen.
A. E. war auch so ein Sonderling, der in der Geschichte, Naturge-
schichte, Geographie nichts behalten konnte, was sich nicht an eine Zahl
anschloß. Bekleidete man aber das zu Erlernende mit etwas Zahlen,
so arbeitete er fleißig und behielt gut.
Daß man bei allen diesen Schwachsinnigen nicht einfach mit Reihen-
aufgaben aus dem Rechenunterricht die Zeitdauer ihrer successiven As-
soziation prüfen darf, bedarf wohl keines Wortes mehr. Man achte da
vielmehr auf die Zeit, die sie brauchen, um irgend eine Frage zu beant-
worten, da wird sich ganz deutlich zeigen, daß sie weit mehr Zeit nötig
haben zur Verknüpfung der Vorstellungen als ein normales Kind.
Zu den gleichen Ergebnissen kommt man, wenn man die freie
Assoziation einer Prüfung unterzieht. Soll das Kind zu irgend
einem ihm genannten Wort schnell ein anderes sagen, was ihm gerade dabei
einfällt, so wird man auch finden, daß das schwachsinnige Kind hierzu
viel mehr Zeit braucht, als das normale, die Unterschiede sind meist
ganz bedeutend. Diese Reizskalen zeigen neben der Verlangsamung
auch noch ganz deutlich die Armut an Vorstellungen nnd die geistige
Unbeweglichkeit des Schwachsinnigen. Einige Beispiele:
R. H., 13 Jahre alt:
tanzen
schön
Globus
klein
Bär
weiß
verkaufen
fein
Lokomotive
schwarz
B. Z. am Mittag
rufen
schön
schlau
frei
Luftschiff
hoch
handeln
schlecht
wenig
schnell
Kamel
groß
turnen
schön
Sparkasse
schön
Auto
groß
Storch
groß
Schilderhaus
weiß
Büd
klein
exerzieren
schön
essen
schön
Latemenpfahl
groß
rund
schön
R. H. ist ein debiler Knabe, der in praktischen Arbeiten gut an-
stellig ist. Ln Unterricht dagegen leistet er wenig. Er schwatzt un-
endlich viel, aber immer oberflächliches Zeug. Er antwortete auch hier
verhältnismäßig schnell, nur bei dem Worte Kamel braucht er ca. 90 Sek.
Er hat ausschließlich mit Eigenschaftswörtern geantwortet, trotz rich-
tiger Vorübung.
3*
^ 36 —
H. N., 10 Jahre alt.
tanzen
schreiben
schnell
Sparkasse
blau
bunt
verkaufen
Fenster
weiß
handeln
rufen
Kamel
Schilderhaus
heiß
schlau
Luftschiff
blau
herumtreiben
Bär
schwarz
laufen
schnell
Fisch
schwimmen
Kind
klein
rund
grün
schief
Kalb
j^ng
H. ist ein imbeciller Knabe mit einer leichten Denkhemmung. Die
Zeitdauer war erheblich verlängert bis 100 Sek. Er bevorzugt anch
Eigenschaftswörter und ist infolge seines langsamen Ablaufes der Ideen-
assoziation und seines nicht sehr großen geistigen Besitzstandes die
meisten Antworten schuldig geblieben.
E. Seh., 8 Jahre alt.
tanzen
fein
handeln
Bär
läuft
schlau
rufen
nmhertreiben
turnen
Kamel
wild
Auto
fahrt
Sparkasse
Schilderhaus
steht
Wagen
steht
heiß
weich
exerzieren
Latemenpfahl
Lokomotive
fahrt
E. ist ein kleiner imbeciller Knabe (mikrocephal), der geistig wenig
regsam ist, nur beim Spiel entwickelt er größeres Interesse und etwas
Phantasie. Er antwortet fast nur mit der 3. Person im Präsens der
Tatform. Sehr verlangsamte Ideenassoziation.
A. Gr.,
10 Jahre.
Müch
die Milch
laufen
rennen
rnnd
schief
schreiben
klein
sehen
bUnd
Papier
Kind
das Kind
blühen
Rose
Ballon
groß
Storch
klappert
Fenster
das Fenster
37 —
Bild groß
essen das Essen blau Soldat
Frau die Frau heiß
Mann der Mann schlau
A. ist ein stark schwachsinniges Mädchen, das sehr denkträge ist.
An ihrer Reizskala interessiert besonders, daß sie zu Eigenschaftswör-
tern kein Stichwort findet, nur in einem Fall blau, Soldat und daß sie
häufig das Wort nur ergänzt durch den Artikel.
A. G., 12 Jahre.
Schule
Kasten
lang
Tinte
Gold
Kaiser
Kies
Uhr
schwarz
schwarz
schwarz
Herr "Wurst
Deutschland
Gelb
Pferd
Riese
Geld
morgen
Scheere
Amerika
A. ist idiotisch. Ganz offensichtig ist der Ausfall. Ganz selten
hat sie auf die Reizwörter reagiert und dann hat sie mit 2 Ausnahmen,
wo sie an bestimmte, ihr naheliegende Dinge dachte, nur Farbenbezeich-
nungen gebracht.
schwarz
schwarz
weiß
gelb
Straße
weiß
Himmel
weiß
Kalb
weiß
Garten
Schwein
grau
weiß
rot
Haus (hat an unser)
Nase
roh
weiß (Haus ge-
dacht)
Kartoffeln
Schutzmann
Baum
schießen
(Puffer)
grau
grün
weiß
kaufen
Gewehr
gelb
Kirche
Musik
grau
Soldat
weiß
E. R.,
12 Jahre.
Tante
gelb
Kind
spielen
Elektrische
fahren
sehen
sehen
Gras
laufen
Blume
riechen schön
Pferd
rennen
Tinte
springen
Schule
lesen
lacht
Lehrer
Soldat
marschieren
Lesebuch
- 38 -
E. ist ein idiotisches Kind mit starker Denkhemmung, es bedarf
schon eines nicht geringen Reizes, um es ans ihrer Apathie aufzu-
schrecken. Die Skala zeigt sehr deutlich seine geistigen Defekte. Von
16 Reizwörtern reagiert es auf 9 überhaupt nicht und die andern 7
beantwortet es mit der Nennform des Tätigkeitswortes, steht also un-
gefähr auf der Stufe eines 2— 2V2 jährigen Kindes.
Wenn diese einfachen Messungen nicht genügen, benutze man auch
hier die schon genannten Instrumente. Nötig ist es nicht, da meistens
die Verlangsamung so deutlich ist, daß man sie schon ohne Uhr fest-
stellen kann. Je langsamer ein Kind auf die Reizwörter reagiert, desto
schwerer sind die Störungen der Ideenassoziation bei ihm.
Wichtig sind weiterhin die andern Ergebnisse obiger Tabellen. Sie
zeigen, daß von Schwachsinnigen gern eine Wortart bevorzugt wird,
oder aber, daß sie das genannte Wort nur sprachlich ergänzen oder zn
einer bestimmten Wortart kein Wort finden. Am tiefsten stehen die
Kinder, welche überhaupt nicht oder nur wenig auf die gegebenen Reiz-
wörter reagieren oder die Worte sinnlos oder nur dem Wortklang nach
aneinander reihen oder dasselbe Wort oft wiederholen; ihnen schließen
sich diejenigen an, welche mit der Nennform der Tätigkeitswörter oder
mit der dritten Person des Präsens der Tatform antworten oder sie
doch bevorzugen, dann kommen die, welche die Reizwörter nur ergänzen
oder nur Farben nennen und endlich diejenigen, welche auf Eigenschafts-
wörter nicht reagieren.
In der Regel sind dies idiotische oder stark imbecille Kinder, deren
Vorstellungsschatz sehr arm und deren geistige Regsamkeit sehr ge-
ring ist.
Leicht imbezille und debile Kinder haben ebenfalls eine größere
Reaktionszeit als normale Kinder, aber eine kürzere als die schwereren
Fälle des Schwachsinnes, sie haben fast immer zum Reizwort ein Reak-
tionswort, bevorzugen doch oftmals die Eigenschaftswörter. Eins ist
dazu allen schwachsinnigen Kindern eigen, daß sie nicht immer sinnvolle
Worte zu den Reizworten finden.
Ein einzelnes der angeführten Ausfallsmomente, zumal wenn es nicht
stark abweichend von der Norm ist, rechtfertigt noch nicht die Diagnose
Schwachsinn, gehäufte und besonders auffallende Abweichungen jedoch
legen den Verdacht auf Schwachsinn zum mindesten sehr nahe, wenn
nicht andere äußerliche körperliche oder seelische Gründe die Veran-
lassung dazu sind, als Unwohlsein, Erschlaffung, Magenverstimmung,
Blutarmut, adenoide Vegetation etc. Ein Weckruf sind alle Störungen
der Ideenassoziation aber stets.
— 39 —
Verläuft so die sukzessive, die reihenbildende und die freie Asso-
ziation, die durch ein Reizwort ausgelöste Gedankenverknüpfung in allen
Fällen langsamer, so steht nicht selten die spontane Assoziation
dazu im krassesten Gegensatz. R. H., der erste unter den Reiztabellen
gezeigte Knabe ist so ein ewiger Schwätzer. Er weiß immer etwas zu
erzählen, aber immer oberflächliche, zusammenhangslose Dinge, von denen
er immer und immer wieder zu erzählen weiß. Seine Geschwätzigkeit
ist ideenflüchtig, seine Vorstellung ist lose, rein äußerlich, oft durch Reim
und AUitteration oder durch irgend ein Zufälligkeitsmerkmal an die
folgende geknüpft, ja die Geschwätzigkeit ist nur durch den lockern,
oberflächlichen Zusammenhang der Vorstellungen und durch die Gleich-
artigkeit oder Ähnlichkeit seiner Erzählungen erklärlich und bedingt.
Meht selten täuscht ein debiles Kind seine Zuhörer durch seine
Redegewandtheit, nicht selten glaubt man, daß das Kind sogar hoch
befähigt sein muß, da es mit Geschick und Leichtigkeit über die Dinge
der Umwelt oder über gewisse Dinge konventioneller Art spricht. Dies
Urteil verkehrt sich aber ins gerade Gegenteil, wenn die Betreffenden
Gelegenheit haben, das Kind öfter zu sehen und zu hören. Es ist diese
Geschwätzigkeit nicht selten ein Produkt falscher Erziehung, die das
Kind über alles reden läßt, auch im Beisein Erwachsener, sodaß es sich
einen gewissen Schatz konventioneller Redensarten aneignet, der auf
den ersten Augenblick stutzig macht und der dem Kinde selbst eine hohe
Meinung über sich und sein Können einimpft.
Ungleich schwerer als die formalen Störungen der Ideenassoziation
sind die inhaltlichen Störungen derselben. Diese haben schon bei
allen bisherigen Prüfungen der Vorstellungs Verknüpfungen als Quellen
der Fehler mitgewirkt, denn es ist mehr als eine formale Störung der
Ideenassoziation, wenn ein Kind auf die ihm genannten Reizwörter
überhaupt absolut nicht reagiert oder an dieselben sinnlos dem Wortklang
nach Wörter anfügt, oder aber gewisse Wörter ohne Innern Zusammen-
hang immer, oder fast immer wiederholt, es ist mehr als eine formale Stö-
rung, wenn ein Kind in fabelhafter Schnelligkeit der Rede immer und
immer wieder dasselbe erzählt, wenn es auf gestellte Fragen oftmals
dieselbe einförmige sich wiederholende Antwort gibt, wenn es jeglicher
Phantasie entblößt, trocken, mit farblosen Vorstellungen antwortet,
wenn es beim Rechnen oft dasselbe Resultat bei verschiedenen Aufgaben
angibt. Phantasiearmut undUrteilsschwäche treten uns also
überall entgegen. Sie sind inhaltliche Störungen der Ideenassoziation.
Zur Illustration gebe ich Nacherzählungen von 2 Kindern wieder, die bis-
lang noch niemand als schwachsinnig angesprochen hatte; man hielt sie
für etwas anders als andere Kinder, für faul, träge, zerstreut und un-
— 40 —
aufmerksam und hoffte im Übrigen auf bessere Zeiten. Beide besuchten
in Berlin die Gemeindescbule.
Ich hatte jedem einzelnen 3 mal die Greschichte vom Buben xind
Bock erzählt.
Es war einmal ein Bube, der wollte lieber essen als lesen, hielt
mehr von Nüssen, als vom Wissen, darum nannten ihn die Leute den
Faulen. Das wollte ihn aber sehr verdrießen, und er dachte: ;, Wartet,
ich will es euch allen zeigen, wie ich fleißig bin!", nahm sein Lesebuch
und ging hinab auf die Straße.
Auf der Straße lag ein dicker Baumstamm, auf den setzte sich der
Knabe. Dort mußten die Leute alle vorbei. Er nimmt das Buch auf
den Schoß, hält es aber verkehrt, so daß die Buchstaben alle auf dem
Kopfe stehen. Da sitzt er, guckt hinein und baumelt mit den Beinen.
Bald nickt er aber mit dem Kopfe; denn er ist eingeschlafen.
Wer kommt um die Ecke am Gartenzaune ? Der Ziegenbock ist es,
ein munterer Gesell, der seine Kopfarbeit wohl gelernt hat und es mit
jedem darin aufnimmt; denn seine Hörner sind groß und seine Stirn ist
hart. Der tritt zu dem schnarchenden Buben und sieht ihn nicken. ^Hei",
denkt er, „meinst du mich? Ich bin schon dabei!" Er stampft mit den
Vorderbeinen und geht einige Schritt zurück. Der Junge nickt weiter.
„Gleich!" meint der Bock, nimmt einen Anlauf, bäumt auf den Hinter-
beinen empor und puff! gibt es einen Stoß. Der Bock stößt an des
Buben Kopf; der Bube fliegt rückwärts hinunter vom Stamm, das Buch
empor, hoch in die Luft.
Heulend rafft sich der Bube auf und eilt ins Haus. Hat er keinen
Buchstaben im Kopfe, hat er doch eine Beule daran. Der Bock aber
steht verwundert im Wege und wartet, ob wieder ein Junge kommt,
der nichts gelernt hat, auf der Straße dann einschläft.
A. erzählt: Es war einmal ein Junge, der wollte nicht lesen. Der
Junge hat auf einem Baum geschlafen. Da kam ein Ziegenbock und
hat ihn gestoßen. Der Knabe
E., 12 Jahre, erzählt folgendermaßen: Ein Junge wollte einmal
lesen, da saß er sich auf einen Baum und schlief. Da kam ein Ziegen-
bock. Da nickte der Ziegenbock. Da dachte der Junge, er wollte ihn
stoßen.
Oder die Geschichte vom habgierigen Hund:
E. erzählt:
Es war einmal ein Hund. Er ging über einen Steg und da hatte er
sein Bild gesehen und dachte, jetzt ist da ein anderer Hund. Da dachte
er, das will ich ihm fortnehmen. Und da sprang er ins Wasser und
— 41 —
wollte es ihm wegnehmen, da war sein Fleisch verschwunden und der
Hund war auch verschwunden.
A. erzählt :
Es war einmal ein Hund, der lief über einen Steg und da hatte er
ein Stück Fleisch gesehen, da ließ er sein Stück fallen und er sah sein
Bild. Da dachte er, er dürfte sich das holen, das Stück Fleisch. Da
ist er nun reingesprungen und dann hat er sich das Stück Fleisch geholt.
Oder die Geschichte vom Knaben, der gern mit Streichhölzern spielte.
Karl spielte gern mit Streichhölzern. Seine Mutter hatte es ihm
verboten. Als einmal die Mutter weg war, etwas einholen, sagte sie zu
Karl : Spiele nicht mit Streichhölzern, denn sonst kann dein Bett anfangen
zu brennen und alles verbrennt. Dann haben wir kein Bett zum Schlafen.
Karl spielte aber doch, als die Mutter fort war. Das Bett fing an zu
brennen und er verbrannte sich die Hände und Füße und mußte ins
Krankenhaus.
E. erzählt:
Eine Mutter sprach : Es war einmal ein Junge, der spielte gern mit
Feuer. Da sprach die Mutter : Ich will weggehen, spiele nicht mit Feuer-
Und er gehorchte nicht, da verbrannte er sich die Füße und war tot
und dann kam er ins Krankenhaus.
A erzählt:
Es war einmal ein Junge, der hatte mit Streichhölzern gespielt und
seine Mutter hatte es ihm verboten und da ging die Mutter weg und
der Knabe hat doch gespielt. Und wo die Mutter wegging, da hat er
sich die Finger verbrannt und die Füße und da kam er ins Krankenhaus.
Die Erzählungen sind bei beiden Kindern lückenhaft und die Pointe
hatten beide Kinder nicht erfaßt. Beide sind imbecill.
Der Idiot vermag in den seltensten Fällen eigene Erlebnisse oder
kleine Geschichten zu reproduzieren und der Debile erzählt leidlich, er-
faßte aber nicht den Zusammenhang der Handlungen. Dafür hier ein
Beispiel :
P. K., 13 Jahre alt, idiotisch, erzählt von unserer Dampferfahrt so:
Wir sind mit dem Dampfer gefahren. Wir sind auch ausgestiegen und
sind auf einen hohen Berg gegangen. Da stand ein Haus (meint den
Kaiser Wilhelmsturm). Das ist alles, was er von einer eintägigen
Dampferfahrt weiß.
Oder eine Nacherzählung der Geschichte vom Wolf und Fuchs.
Der Fuchs sprach einmal zum Wolf: Schaff mir was zu fressen an
oder ich fresse dir, der Wolf sprach: Komm, ich weiß ein Haus, da
sind Bauern, da steht ein Tonne mit Fleisch. Sie gingen durchs Loch.
Der Wolf aß viel. Der Fachs war draußen.
— 42 —
R. H., 13 Jahre alt. Debil.
Es war ihm folgende Geschichte erzählt worden.
Der gewissenhafte Indianer.
Ein Indianer hatte seinen Nachbar um etwas Tabak gebeten. Dieser
griff in die Tasche und gab ihm eine Hand voll. Am andern Morgen
kam der erstere und brachte ihm einen Vierteltaler, der unter dem
Tabak gewesen war, zurück. Als ihm einige raten wollten, das Geld
zu behalten, legte er die Hand aufs Herz und sagte: Hier im Herzen
habe ich einen guten und einen bösen Menschen, der gute hat gesagt:
Das Geld gehört dir nicht, gib es seinem Herrn zurück. Der böse
Mensch sagte zu mir : Alan hat es dir gegeben, es gehört dir. Der gute
sagte darauf: Das ist nicht wahr, der Tabak gehört dir, aber das Geld
nicht. Der böse Mensch sagte dann wieder : Beunruhige dich nicht, gehe
hin und kaufe dir Branntwein dafür. Ich wußte nicht, wozu
ich mich entschließen sollte, endlich, um zur Ruhe zu kommen, legte ich
mich ins Bett, aber der böse und der gute Mensch haben sich die ganze
Nacht hindurch gezankt, sodaß ich keine Ruhe hatte, ich mußte das
Geld wiederbringen.
R. erzählt so wieder: Es war ein Mensch, der bat seinen Nachbar
um Tabak und in dem Tabak lag Geld. Der Mensch wollte das Geld
behalten. Da erfuhr es der gute Mensch und er sprach: Gebe lieber
dem Nachbar das Geld wieder, der böse Mensch aber wollte es nicht
hingeben und sprach zu dem guten Mensch: Beruhige dich, kaufe dir
lieber Branntwein. Der Nachbar legte sich zur Ruhe ins Bett und die
andern beiden zankten sich weiter. Er wurde aber in der Ruhe gestört
und konnte nicht schlafen.
Er hat den Widerstreit der bösen und guten Gedanken nicht erfaßt,
ein Zeichen seiner Urteilsschwäche.
Fordert man von den Kindern rein abstrakte Überlegungen und
Urteile, so ist der Ausfall ein noch größerer, z. B. in der Mathematik.
Kein schwachsinniges Kind, selbst kein leicht debiles, erlernt irgend
einen Lehrsatz zu beweisen. Hersagen kann es wohl ganze Mengen
solcher, aber den Zusammenhang und die einzelnen Schlüsse des Beweises
erfaßt es nie. Auch ist kein Debiler imstande, eine Zeichnung zu einem
stereometrischen Lehrsatz zu zeichnen ohne vorherige lange Übung. In
der Arithmetik und Algebra sind die Leistungen dieser Kinder selbst-
verständlich noch geringer, wenn nicht vollständig gleich Null. Selbst
leichte Aufgaben stellen sich ihnen als unüberwindbare Hindemisse ent-
gegen, z.B.: Von zwei Zahlen ist eine um 10 größer als die andere,
— 43 —
beide zusammen ergeben 70 Wie heißen beide Zahlen? Haben sie
einige solche Gleichungsaufgaben gerechnet, so vermögen sie analog
dieser weitere zu lösen, aber jede leise Änderung bringt wieder
Schwierigkeiten. Dasselbe zeigt sich beim Buchstabenrechnen, beim
Wurzelziehen, in der Gresellschaftsrechnung, bei der Regeldetrie, in der
Prozentrechnung u. s. f. und ist begründet in der Schwäche der Urteüs-
bildung debiler Kinder.
Ein guter Prüfstein ist auch das Zusammensetzspiel. Es erfordert
eine zusammengesetzte geistige Tätigkeit, stellt Anforderungen an die
Phantasie und verlangt immer eine Entscheidung, ob der gesetzte Würfel
richtig steht, ob es der richtige ist. Die kombinatorische Tätigkeit leidet
aber bei dem Schwachsinnigen. So kann denn selten einmal einer nach
der Vorlage ein Bild zusammensetzen.
Als wichtigste Erkennungs- und Unterscheidungsmerkmale heben
sich also folgende Sätze von selbst heraus: Der Idiot kann eigene Er-
lebnisse, kleine Geschichten, mathematische Beweise, algebraische Auf-
gaben, schwierige Rechenoperationen etc. nicht reproduzieren, die Im-
bezillen vermögen es nur lücken- und fehlerhaft, meist jedoch erst nach
langer Übung und der Debile reproduziert leidlich, aber ohne Erfassung
des Zusammenhanges und der Pointe.
Und diese Intelligenzprüfung, das Nacherzählen von Geschichten,
sollte immer die letzte Intelligenzprüfung sein, gibt sie doch eine un-
trügliche Skala in der Abstufung der Auffassung durch das Unterscheiden
von Wichtigem und Unwichtigem, in der Erfassung des Zusammenhanges
und der Pointe. Reines Nacherzählen kommt hier garnicht in Betracht,
da es keine zusammengesetzte kombinatorische Tätigkeit erheischt und
nur als Leistung des Gedächtnisses hier mithin belanglos ist. Was läßt
sich an unverstandenem Zeug nicht alles Kindern und selbst Schwach-
sinnigen einprägen.
Wahnvorstellungen.
Auch der gesunde Mensch ist dem Irrtum unterlegen, er erkennt
ihn als solchen und korrigiert ihn. Diesem psychologischen Irrtum
[gegenüber steht der pathologische, welcher nicht korrigiert wird. Es
pandelt sich um Vorstellungsverknüpfungen, welche den Tatsachen der
fAußenwelt nicht entsprechen, sie werden aber nicht als falsch erkannt
[■und nicht korrigiert.
Wahnvorstellungen sind bei schwachsinnigen Kindern nicht häufig
zu finden. Sie unterscheiden sich von denen Geisteskranker ganz deut-
lich und können so wohl auch als Warnungssignale gelten. Während
idie Wahnideen Geisteskranker fast immer einen testen innern Zusammen-
— 44 -
hang erkennen lassen, sind die der Schwachsinnigen immer lose anein-
ander gefügt. Die Wahnideen Geisteskranker sind nicht selten sehr
fein, ja glänzend ausgesponnen und fortgeführt, die der Schwachsinnigen
dagegen fallen durch Armut und Einförmigkeit auf. Geisteskranke
haben für ihre Wahnideen oft eine verblüffende Begründung, der
Schwachsinnige vermag seine flüchtige und oberflächliche Wahnvor-
stellung durch nichts zu stützen.
Am häufigsten begegnet man hypochondrischen Wahnvorstellungen.
So wollte ein 13 jähriger Junge absolut, daß ihm ein Finger abgeschnitten
würde, da er sich einmal daran gerissen habe und der Finger sonst ab-
eitem würde, auffallender Weise klagte er aber nicht über Schmerzen
in dem betreffenden Finger. Ein anderer älterer Knabe behauptet, ein
großes Tier im Leibe zu haben, das ihn ganz krank mache und das
müßte heraus. Wieder ein anderer glaubte ganz fest, daß sein Blut
vergiftet sei, dies bereitete ihm große Schmerzen. Es war ein leicht
erregbarer Junge, der sich oft mit seinen Kameraden balgte, wenn nun
das Blut schneller pulsierte, fühlte er, daß sein Puls schneller schlug
und das Herz schneller arbeitete und dies war aller Wahrscheinlichkeit
nach der Grund für das vergiftete Blut.
Anderseits trifft man auch Größenwahnvorstellungen an, die aber meist
recht rudimentär sind. So erzählte ein Knabe, er sei fürstlicher Ab-
stammung und gab als Grund dafür an, daß sein Vater reite. Ein
anderer glaubte recht reich zu sein und war in dem Gedanken glücklich.
Fragte man ihn, was er denn soviel besitze und was er mit seinem
Besitztum machen wollte, so bekam man stets die Antwort: „Ich bin
reich, sehr reich."
P. 14 Jahre alt:
Ich habe keine Zeit. Ich muß weg. Der D-Zug mit dem Speise-
wagen fährt ab. Ich muß nach Japan, Frieden schließen. Da komme
ich mit meinen Soldaten, Kürassieren und Husaren und steche die Kerls
tot, alle tot. Dann ist Friede. Ich bin Soldat, ein Fürst, ein Graf,
habe viel Kanonen. Ein Fürst wie ich kann alles.
Hin und wieder trifft man auch Fälle von Verfolgungsvorstellungen.
Ich habe einen solchen Fall beobachtet, wo ein etwa 16 jähriger Knabe
glaubte, von einem Mann mit einem Beil verfolgt zu werden. Die Ur-
sache lag in einem Vorkommnis auf dem Holzplatz, wo ein älterer
Patient diesen Knaben fragte, ob er ihn auch so zerhauen sollte wie
sein Holz.
In allen Fällen von Wahnvorstellungen beziehen sich dieselben fast
durchgängig auf die leichteren Formen des Schwachsinnes, auf die De-
- 45 —
bilität. Bei Imbecillen und Idioten stößt man sehr selten auf Wahn-
vorstellungen.
Zwangsvorstellungen.
Auch bei Zwangsvorstellungen handelt es sich um Vorstellungen
und Vorstellungsverknüpfungen, die den Tatsachen der Außenwelt nicht
entsprechen. Während bei den Wahnideen korrigierende Urteilsasso-
ziationen nicht oder doch nur teilweise auftreten, ist sich hier der
Patient der Falschheit und Fehlerhaftigkeit seiner Vorstellungen voll
bewußt. Er ist überzeugt von der Unrichtigkeit seiner Vorstellungen,
kann sie aber infolge ihrer Überwertigkeit nicht los werden. Durch
diese abnorme Konstellation oder abnorme Gefühlsbetonung erhält die
Vorstellung oder Vorstellungsverknüpfung, welche zwangsmäßig auftritt,
eine abnorm gesteigerte Intensität oder Energie . welche sie immer
wiederkehren läßt. Immer und immer wieder drängen sie sich dem
Patienten auf. Er weiß, daß es unrichtige Vorstellungen sind und kann
doch nichts tun, um sie los zu werden, er ist in ihrem Bann oder Zwang,
daher Zwangsvorstellungen. Die Zwangsvorstellungen gehen fast ständig
mit negativen Gefühlen einher, was ja auch schon in dem Wesen be-
gründet ist, was man als Zwang empfindet, ist einem unangenehm. Ich
entsinne mich eines schwachsinnigen Knaben, der bei der Werkstatt-
arbeit kein Messer anrührte, weil dasselbe ihn schnitte. Er sah, daß
andere Knaben ganz ruhig mit dem Messer hantierten, ohne sich zu
verletzen. Ein anderer glaubte, ertrinken zu müssen, wenn er ins
Schwimmbassin ginge, ohne die Stange anzufassen. Die Stange ist zum
Anfassen und wer sie nicht anfaßt, der ertrinkt. Er sah, daß andere
Kinder auch ins Bassin sprangen, daß sie hineingingen, ohne anzufassen,
er tat's nicht. War er drin, so sprang er auch umher. Ein anderer
mußte in alle Ecken des Hauses spucken. Er ärgerte sich darüber
und nahm sich oft vor, es zu lassen, tat es aber immer wieder. Ein
Mädchen mußte immer, sobald sie aus dem Haus trat, an die Haustür
klopfen. Sie litt sehr unter diesem Zwange, weil andere Kinder sie
wohl auslachten, konnte es aber nicht lassen. Später klopfte sie auch
an jede Straßenecke.
Die Zwangsvorstellungen verlangen oft von den Patienten, daß sie
eine Handlung ausführen. In den genannten Fällen waren es immer
harmlose, motorische Aktionen, aber nicht immer ist die ausgelöste Be-
wegung eine schadlose. Ein Knabe kämpfte lange gegen die überwertige
Vorstellung, er müsse die großen Schaufenster einwerfen, er tat es an-
fänglich nicht, je mehr er aber versuchte, die Vorstellung zu bannen,
desto widerstandsloser wurde er und desto energischer trat daher die
Zwangsvorstellung auf und eines Tages warf er eine Scheibe ein.
— 46 —
Der Knabe unterlag, weil die hemmenden Vorstellungen nicht stark
genug waren.
In einem andern Falle schenkte ein Mädchen ihrer Spielgenossin
ihren Fingerring, den sie sehr gern hatte und auf den sie stolz war,
aber sie mußte ihn weggeben. Das Mädchen hatte keine Einsicht und
Kenntnis von der Krankhaftigkeit dieser Vorstellung, sonst hätte sie es
nicht getan.
Beides, mangelnde Krankheitseinsicht und fehlende hemmende Vor-
stellungen, können Kinder zu sehr gefährlichen Handlungen treiben,
z. B. zu Selbstmord, Selbstverstümmelung, Brandstiftung, Tierquälerei
etc. Deshalb erheischen sie besondere Beachtung. Glücklicherweise
kommen sie bei Schwachsinnigen sehr selten vor.
Eine besondere Form der Zwangsvorstellungen sind die, welche in
Frageform auftreten. Ganz deutlich zeigt sie sich im folgenden Fall.
Ein 15 jähriger Knabe konnte längere Zeit eine Frage an die andere
reihen, ohne die Antwort abzuwarten. Er wollte nur fragen und inmier
wieder fragen. Wer hat den japanischen Krieg geführt? Wer hat die
meisten Truppen? Wer hat die größten Soldaten? Bin ich groß?
Kann ich Soldat werden? Wer hat gewonnen? Wieviel Soldaten
hatten die Russen? Was trinken die Russen? Wie hieß der General?
Was für ein Pferd hatte er ? Wie pfeifen die Kugeln ? Wer will unter
die Soldaten? Was haben die Japaner geblasen? Wie groß ist Japan?
Kann man da hin ? Ich muß viel essen, daß ich dorthin kann auf einem
Pferd. Ich muß in den Krieg. Wie lange dauert der Krieg? Wieviel
Pferde xmd Schiffe waren da? Woraus baut man Schiffe? Haben Sie
schon ein Schiff gesehen? u. s. f. Die Patienten haben die völlige Er-
kenntnis der Sinnlosigkeit dieser ihrer Fragen, können doch nicht davon
lassen; so reiht sich die Frage- oder Grübelsucht den Zwangsvor-
stellungen an.
Aufmerksamkeit.
Bei allen Prüfungen der Ideenassoziation haben wir ein wichtiges
Moment absichtlich ignoriert, das für den Ablauf der Vorstellungs-
verknüpfungen von größter Wichtigkeit ist: Die Aufmerksamkeit. Be-
stimmend für dieselben wirken 4 Faktoren, welche entscheiden, ob eine
Empfindung der Gegenstand der Aufmerksamkeit wird. Die Intensität
der Empfindung, die Übereinstimmung derselben mit dem latenten Er-
innerungsbild, die Stärke des begleitenden Gefühlstones und die zofällige
Konstellation der Vorstellungen. Sie zusammengenommen bestimmen
den Verlauf der Ideenassoziation. Wenn sich nun in den 4 bestimmenden
Momenten Abweichungen von der Norm finden, so muß sich die Auf-
merksamkeit auch als anormal dokumentieren.
— 47 —
Bei der Prüfung der Empfindungen sahen wir, daß die Seh- und
Hörschärfe bei den Schwachsinnigen meist ungefähr normal ist, ebenfalls
sind der Geschmack und der Geruch meist leidlich entwickelt, nur bei
der Berührungsempfindung zeigten sich häufig Abweichungen. Der
Grund für eine von der Norm abweichende Aufmerksamkeit ist auch
mithin nicht gerade in dem Empfindungsleben des Schwachsinnigen zu
suchen. Die Untersuchungen der Erinnerungsbilder weisen dagegen
grobe Defekte nach. Ich erinnere an die Zeit-, Raum- und Zahlvor-
stellungen, an die konkreten Allgemeinvorstellungen höherer Ordnung,
an die räumlich und zeitlich zusammengesetzten Vorstellungen, an die
Beziehungsvorstellungen und die daraus resultierenden komplexen Vor-
stellungen. Überall Defekte gröbster Art. Die Gefühlstöne, sowohl die
der Empfindung, als auch die der Vorstellungen, die wir später einer
genauen Prüfung unterziehen müssen, liegen dazu jenseits der Breite
der Gesundheit. Die Konstellation der Vorstellungen kann dank über-
wertiger Vorstellungen eine ungünstige sein, jedoch kommt die hier gar
nicht als besonders gravierend in Betracht, da auch beim gesunden
Menschen die Konstellation der Vorstellungen außerhalb der Willens-
herrschaft liegt und auch bei ihm das Suchen, das gespannte Erwarten
von langer Dauer sein kann. Es bleiben trotzdem noch soviel Defekte
und Abweichungen, daß die Aufmerksamkeit des Schwachsinnigen nicht
normal sein kann. Am schwierigsten sind wohl die Intelligenzdefekte.
Wo sich grobe Intelligenz defekte finden, wo die Gefühlstöne herab-
gesetzt sind, da muß die Weckbarkeit der Aufmerksamkeit verlangsamt
sein, die fördernden Momente fehlen. Und das ist der Fall bei allen
Fällen schweren Schwachsinnes. Debile mit geringen Ausfällen in den
Erinnerungsbildern haben oftmals gesteigerte Gefühlstöne. Da ist die
Aufmerksamkeit dann sehr leicht, zu leicht weckbar. Ganz geringe
Reize genügen schon, die Aufmerksamkeit anders zu richten.
Als zweite wichtige Funktion der Aufmerksamkeit ist die Haftfähig-
keit derselben, die Konzentrationsfähigkeit, hier anzugliedern. Er-
schwerend, ja hemmend wirken hier dieselben Defekte wie bei der
Weckbarkeit der Aufmerksamkeit. Die meisten Schwachsinnigen, auch
die Debilen, vermögen nicht, ihre Aufmerksamkeit anhaltend auf gegebene
Reize einzustellen, nur ganz wenige leicht Debile bilden hiervon eine
Ausnahme. Dieser sensoriellen Konzentrationsfähigkeit steht die in-
tellektuelle gegenüber, die ein anhaltendes Einstellen der Aufmerksam-
keit auf zu erwartende Reize und Vorstellungen erfordert, sie liegt in
allen Fällen gänzlich darnieder, so daß von einem anhaltenden Einstellen
garnicht die Rede sein kann. Wie ein Schmetterling fliegt die Auf-
merksamkeit von Blume zu Blume, erschwerend wirkt neben den schon
— 48 —
bekannten Intelligenzdefekten und den mangelnden Gefühlstönen die
gesteigerte Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit.
Wie groß die Ausfälle sein können, die durch eine mangelhafte
Aufmerksamkeit bedingt sind, sollen einige Beispiele demonstrieren.
H., 7 Jahre alt, hat recht wenig klare Vorstellungen, er artikuliert
recht nachlässig, leidet an beschleunigter Ideenassoziation, dazu ist die
Weckbarkeit der Aufmerksamkeit erheblich gesteigert und die Haft-
fähigkeit bedeutend herabgesetzt. Er schwatzt über allerlei, verfügt
über eine gewisse Menge konventioneller Redewendungen und täuscht
so seine Zuhörer. Raum-, Zeit- und Zahlvorstellungen und fast alle
andern höherer Ordnung vorab aber die Beziehungsvorstellungen, liegen
sehr darnieder. Es kann ja auch nicht anders sein. Wenn man sich
mit ihm beschäftigen will und versuchen, sein Interesse für einen
fliegenden Vogel, eine honigsuchende Biene, einen fahrenden Zug zu er-
wecken, so hört er kaum hin, er springt schnell nach etwas anderm,
läuft hierhin, sagt dies oder jenes. So kann es nicht zu klaren Vor-
stellungen kommen. Ja selbst die Sprache leidet; da er derselben fast
nie seine Aufmerksamkeit zugewandt hat, vermag er einzelne Laute
nicht richtig zu artikulieren, trotzdem ein organischer Fehler nicht vor-
liegt. In besonders schwierigen Fällen können starke Autmerksamkeits-
defekte sogar zur Sprachlosigkeit führen.
Nach Treitel und Liebmann ist die mangelhafte Aufmerksamkeit
ein Hauptgrund der Hörstummheit.
Aus einer andern Krankengeschichte entnehme ich Folgendes:
R., ein Mädchen von 11 Jahren. Als hervorstechendstes Moment
ist eine leichte Verlangsamung der Ideenassoziation anzusprechen. Als
Korollarsymptome treten hinzu herabgesetzte Weckbarkeit der Auf-
merksamkeit und herabgesetzte Haftfähigkeit derselben. Sie hat wenig
Interesse für die Dinge der Außenwelt. Sie hat wenig beobachtet,
kennt sogar einige Dinge im Zimmer nicht.
Bei dieser geistigen Verfassung ist es leicht erklärlich, daß Reize
und daraus entstehende Empfindungen die Aufmerksamkeit nicht be-
stimmen und keine Vorstellungen wecken. Wenn man ihr jedoch die
Dinge möglichst drastisch vorführt, bekundet sie lebhafte Freude und
Lerneifer. Man muß gar manches zwei- auch dreimal fragen oder sagen,
dann hat sie es erfaßt und ist eifrig bei der Sache. Sogenannte Faul-
heit hat sie also nicht zurückgehalten, sie will ja arbeiten, wenn sie
nur immer könnte.
Daß alle ihre unterrichtlichen Leistungen und Kenntnisse sehr mäßi«?
waren, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung. In der öflPentlichen
Schule kam sie trotz vieler Nachhilfestunden nicht mit, ein Unterricht,
— 49 —
der die Selbsttätigkeit der Kinder als Grundlage hat, vermochte sie je-
doch leidlich zu fördern.
Nach diesen beiden Fällen mit starken Aufmerksamkeitsdefekten
noch ein Beispiel mit leichteren Fehlern:
S., 11 Jahre alt, leicht Debil und sehr zarten Körper, macht allge-
mein den Eindruck eines sehr intelligenten Kindes. Ihre Schulkenntnisse
waren ganz gut. Die Aufmerksamkeit zeigte leichte Defekte. Die Haft-
fähigkeit derselben war herabgemindert, dabei die Weckbarkeit gestei-
gert. So wandte sie wohl allem augenblickliches Interesse zu, verweilte
aber nicht bei den Dingen, sondern sprang sofort zu etwas anderm über.
So nur ist es erklärlich, daß sie einen Soldaten nicht von einem Schutz-
mann, einen Hirsch nicht von einem Reh unterscheiden konnte; daß sie
hellgrün bald hellblau, bald richtig bezeichnet, trotz sicherer Farben-
kenntnis, daß sie beim Rechnen fehlerhafte Resultate angab, daß sie
zeitweise eine von Fehlern wimmelnde Orthographie schrieb, daß sie
nicht selten falsch kalkulierte, weil sie falsche Prämissen setzte. Sie
hörte nicht hin und urteilte lustig darauf los u. s. f. Alles leichte Fehler,
die nur in der gesteigerten Weckbarkeit und herabgesetzten Haftfähig-
keit der Aufmerksamkeit begründet waren.
Wenn so die Weckbarkeit der Aufmerksamkeit entweder herabgesetzt
oder gesteigert ist und die Haftfähigkeit ebenfalls von der Norm abweicht,
so ist es sehr schwer, diese Kinder unterrichtlich zu fesseln und die
geringen Unterrichtsergebnisse der öffentlichen Schule bei solchen Kin-
dern, die leider dieselbe besuchen, finden hier ihre Erklärung. Die öffent-
liche Schule ist eine Institution für geistig und körperlich gesunde
Kinder, sie kann sich der Schwachen an Geist und Körper nicht an-
nehmen, sie kann sie nur noch kränker machen. Also auch Debile, die
oftmals ganz gut auswendig lernen, gehören infolge ihrer Aufmerksam-
keitsdefekte nicht in die öffentliche Schule. Je größer und augenfälliger
die Aufmerksamkeitsdefekte sind, desto eher ist man geneigt, in ihnen
den Grund der schlechten unterrichtlichen Erfolge zu erblicken, und die
Kinder aus der öffentlichen Schule herauszunehmen, anders aber bei den
leichten Defekten leicht debiler Kinder. Da glaubt man es nur mit
kleinen Flüchtigkeiten und Unaufmerksamkeiten zu tun zu haben, die
sich schon von allein legen werden, wenn der Junge, das Mädchen größer
s^'nd. Gut, wenn es eintrifft, was aber, wenn es nicht geschieht, oder
gar eine Verschlimmerung e^'ntrifft, die sie im Fortkommen hindert?
Jede Abweichung von der Norm muß Veranlassung
sein zur Konsultation eines Psychiaters oderNerveu'
ar zt es.
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 4
— 50 —
Prüfung der Gefühlstöne und Affekte.
Wir sahen, daß beim Schwachsinnigen die Empfindungen verhältnis-
mäßig am wenigsten geschädigt sind, die Erinnerungsbilder dagegen
quantitativ und qualitativ erheblich herabgesetzt waren. Daraus folgt
nun mit Notwendigkeit, daß die Gefühlstöne der Empfindungen über die
der Vorstellungen überwiegen, daß die intellektuellen Gefühlstöne, die an
Vorstellungen und Reflexionsprozesse gebunden sind, nicht zur Entfal-
tung kommen können. Die sensoriellen Gefühlstöne weisen durchaus
nicht immer Abweichungen auf. Es gibt Schwachsinnige, die mit sicht-
lichem Wohlbehagen gut zubereitete Speisen essen und etwas scharf ge-
würzte dagegen mit Unlust genießen. Ja nicht selten vermögen sie
sogar durch den Geruch die Konzentration einer wohlriechenden Flüssig-
keit Kölnisches Wasser, Rosenwasser etc. zu unterscheiden. Diesen ge-
genüber stehen die, welche sich mehr indifferent verhalten, die wahllos
ohne Gefühlsbetonung alles hineinschlingen, was sich ihnen an Eßbarem
bietet, die ebenso gern bittere und salzige Sachen essen, als gesüßte,
die keinen Unterschied machen zwischen dem Geruch eines Veilchens
und dem verwesender Stoffe. Die Empfindungen der Haut sind gleich-
falls oft stark herabgesetzt. Wärme, Kälte und Druckempfindung sind
nicht selten ganz schwach negativ betont. Daß diese Abweichungen
sich mehr bei den Schwachsinnigen höheren Grades finden, bedarf wohl
kaum der Erwähnung.
Die Empfindungen der Seh- und Hörsphäre sind ganz
selten mit einem Gefühlston verbunden, hat dies schon beim normalen
Mensch statt, wieviel mehr erst hier. Täglich hören und sehen wir
unendlich viel und wie wenig ist von einem Gefühlston begleitet.
Doch gibt es auch Schwachsinnige, die sich über Töne freuen, die an
schönen Farben, nicht Bildern Gefallen haben. Beim Betrachten der
Bilder wirkt immer die Vorstellung des Dargestellten mit, sodaß wir
nicht nur sensorielle Gefühlstöne haben, das gleiche ist bei der Musik.
Ein Lied, ein Marsch löst weit öfter positive Gefühle aus, als ein ein-
facher Dreiklang, weil sich mit ersterem die Vorstellungen des Singens,
des Marschierens der Soldaten etc. verknüpfen, also intellektuelle Ge-
fühle mitwirken.
Die sexuellen Gefühle fehlen in der Regel beim Schwach-
sinnigen schwererer Art. Bei Imbecillen und auch bei leicht Debilen
sind sie nicht selten gesteigert, wodurch die Onanie, die Prostitution
und der außereheliche Geschlechtsverkehr vieler Schwachsinniger ihre
Erklärung finden.
Die quantitative und qualitative Armut der Vor-
stellungen bedingen wie schon erwähnt ein Zurück-
— 51 —
bleiben der sie begleitenden Gefüblstöne. Wenn das
Erinnerungsbild schon nicht scharf umrissen ist, so kann dasselbe nicht
bestimmt gefühlsbetont sein. Wenn ein schwachsinniges Kind nur
ganz verworrene, verschwommene Vorstellungen von seiner letzten
Reise, von einem Konzert, einer Dampferpartie, einem Besuch des
Theaters hat, so können diese Vorstellungsrudimente ganz unmöglich
positive Gefühle auslösen. Dasselbe muß sich zeigen, wenn wir mit
dieser Erkenntnis auf das ethische Gebiet übergehen. Ein Kind, das
die blutsverwandtschaftlichen Beziehungen, das innige Verhältnis zwischen
Eltern und Kindern nicht erkennt, kann diesen Vorstellungen nicht an-
ders als indifferent gegenüberstehen, kann keine Liebe für Vater, Mutter
und Geschwister haben, es nimmt alle Liebeserweisungen als notwendige
Einrichtungen des täglichen Lebens hin. Dankbarkeit kennt es nicht.
Und weiter. Ein Kind, welches selbst ein abgestumpftes Schmerzgefühl
hat, kann mit den Vorstellungendes Schiagens, des Stechens, des Stoßens, des
Quälens kein Unlustgefühl verbinden, kann sich mithin nicht vorstellen, daß
es einem andern weh tut, wenn es ihn stößt, schlägt, tritt, quält, es ist
roh, gefühllos, nicht teilnehmend. Ebenso erklärt sich die oftmals er-
staunliche Furchtlosigkeit vor Strafen. Es besinnt sich wohl auf die
letzte Strafe, jedoch wirkt dies durchaus nicht hemmend auf sein Han-
deln ein, es tut dasselbe wieder und immer wieder. Für Lob und Tadel
ist es nicht zugänglich, es weiß wohl noch davon, aber die Gefühlstöne
der betreffenden Vorstellung sind so schwach, daß sie nicht das Wollen
und die Strebungen beeinflussen können.
Ebenso wie die Gefühlstöne von der Breite der Gesundheit ab-
weichen, bewegen sich die Affekte nicht auf normaler Linie.
Je tiefer ein Kind steht, desto ärmer ist es an Affekten. Schwachsinnige
kennen keine Freude, keine Trauer, keine Lust, keinen Schmerz. Damit
ist jedoch nicht gesagt, daß sie nicht lachen und weinen, es gibt genug
Schwachsinnige, die lachen, fortgesetzt lachen, aber ohne zu wissen
warum, sie lachen eben. Ein blankes Stück Metall, ein buntes Stück
Papier, eine schillernde Glasscheibe, eine Glasperle, brennendes Feuer
sind wohl so die einzigen Dinge, welche eine ganz leise, unbestimmte
Freude auszulösen imstande sind, wenn man von der Freude über das
Essen absehen will. Über einen vollen Teller Essen kann sich wohl
solch ein tiefst ehendes Kind freuen, aber ein Affekt, eine Stimmung ist
das nicht. Nur dann, wenn innerhalb eines Zeitabschnittes die vorhan-
denen Vorstellungen und Empfindungen von gleichartigen Gefühlen be-
gleitet sind, darf man von einer Stimmung reden. Dies setzt dann vor-
aus, daß sich ein Lust- oder Schmerzgefühl, das zunächst der Gefühlston
einer Empfindung oder Empfindungsgruppe, oder eine Vorstellung oder
4*
- 52 —
Vorstellangsgruppe ist, auf eine andere Empfindungs- oder Vorstellungs-
gruppe übertragen hat. Wenn wir in einem bestimmten Zeitabschnitt
eine oder einige stark betonte Empfindungen oder Vorstellungen gleichen
Gefühlstones haben, so werden alle andern in dieser Zeiteinheit auftre-
tenden Vorstellungen und Vorstellungsgruppen, Empfindungen und Emp-
findungsgruppen, welche wenig oder garnicht gefühlsbetont sind, von
diesen ersten starken Gefühlstönen abgestimmt und beherrscht. Die
Gefühlstöne, Empfindungen und Vorstellungen eines Zeitabschnittes tragen
so gleichen Charakter und das ist Stimmung. Stimmung ist also ein
Produkt gleichartiger Gefühlstöne von Empfindungen und Vorstellungen
oder Gruppen solcher und nicht ein selbständiger psychischer Vorgang.
Bei nur annähernd normal sensoriellen, oder stark herabgesetzten
intellektuellen Gefühlstönen, bei defekten Erinnerungsbildern und
lückenhaften Vorstellungen ist wohl nicht zu erwarten, daß die Emp-
findungen und Vorstellungen einer Zeiteinheit von ersteren beherrscht
und gefärbt werden können, daß irgend eine Stimmung zu Stande
kommt. Daher ist der Schwachsinnige tiefster Stufe aff'ektlos. Er
kennt nicht Freude und Schmerz, oftmals selbst nicht Furcht und
Angst. Blindlings rennt er in sein Verderben hinein, er kennt ja die
Gefahr nicht und sei er ihr erst eben entronnen. Das Sprichwort sagt
zwar, daß das gebrannte Kind das Feuer scheut, aber es meint damit
nicht die Abnormen. Die Erinnerungsbilder der überstandenen Gefahr
sind sehr blaß, der Gefühlston derselben sehr schwach und so ist es zu
verstehen, daß es sich immer wieder derselben Gefahr aussetzt. Ebenso
ist es mit der Angst und mit dem Schreck. Kommt das schwachsinnige
Kind in Lebenslagen, die wirklich Angst und Schreck einflößen, z. B.
bei Feuersnot, Wassersnot, beim Verirren in einer großen Stadt oder
im Walde, so erkennt dasselbe nicht die Gefahr und es können dadurch
also keine Gefühle ausgelöst werden. So ist es das erste Mal und das
zweite Mal ist es genau ebenso.
Wenn wir eben sagten, daß der Idiot affektlos sei, so be-
darf es einer Einschränkung insofern, als Zorn- und Wutäußerungen bei
einigen Patienten anzutreffen sind. Der Grund zu denselben steht aber
niemals zu dem Affekt im richtigen Verhältnis.
Ganz anders tritt das Affektleben der Imbecillen ent-
gegen. Beim Imbecill, dessen Erinnerungsbilder nicht so lückenhaft
und fehlerhaft sind, fallt die Hemmung durch mangelhafte Vorstellungen
schon weg, dazu sind die Empfindungen und auch die Vorstellungen von
Gefühlstönen begleitet, sodaß eine allgemeine Gefühls- oder Stimmungslage
wohl statt haben kann. Freude und Trauer, Luat und Leid, Furcht und
— 53 —
Angst kennt der Imbecille ; wenn nun auch diese Affekte nicht von über-
schwellender Tiefe und Ausdehnung sind, so sind sie doch von einer ge-
wissen Frische und Lebhaftigkeit, nur nicht von langer Dauer. Je mehr
intellektuelle Gefühlstöne zu verzeichnen sind, desto mehr nimmt er Teil
am Ergehen seiner Angehörigen, Anhänglichkeit und Dankbarkeit zeigen
sich in ihren Anfängen. Wenn so das Gefühlsleben der Imbecillen sich
sehr vorteilhaft von dem der Idioten abhebt, so darf aber doch eine ge-
fährliche Seite nicht verschwiegen werden. Rachsucht, Zorn und Wut-
äußerungen treten hier weit stärker auf. E,. H., der schon vorhin einmal
erwähnte Knabe kann bei den geringsten Anlässen außer sich vor Wut
geraten, schlagen und werfen mit allen Dingen, die ihm gerade zur
Hand sind. Auch der eingangs erwähnte J. K. verkehrte mit seinen
Geschwistern meist sehr nett, konnte aber auch zeitweise sehr häßlich
werden.
W. R., ein 12jähriger Knabe, Sohn eines starken Trinkers, litt an
Schwachsinn mittleren Grades. Er stand unterrichtlich auf der Stufe
eines 10jährigen Kindes. Er war beim Spiel und bei der Arbeit solange
verträglich, als es nach seinem Sinn ging, glaubte er sich aber irgend-
wie benachteiligt, so kannte man ihn nicht wieder. Zitternd, mit ge-
rötetem Gesicht, geballten Fäusten und aufeinander gebissenen Zähnen
stand er da. Deshalb wurde er oft von seinen Kameraden geneckt:
Reg dir man nicht uff; Schlag man blos kenen dot! konnte man oft-
mals hören. Weil er sich nun an den größern Jungen nicht rächen
konnte, wie er gern wollte, ließ er seine Wut an den Kleinen aus, seine
Rachsucht kannte dann keine Grenzen, er quälte sie, schlug sie unbarm-
herzig, bis er nicht mehr konnte.
Eine ganz andere Störung des Affektlebens ist wie-
derum bei den Debilen zu finden. Während bei den Imbecillen
die i^ffekte meist einfach waren, zeigen sich beim Debilen sehr kom-
plizierte Affekte, doch tragen sie alle den Stempel des Egoismus.
Ihr gesamtes Denken und Tun ist egozentrisch. Während bei den
mittleren und schweren Graden des Schwachsinnes die Intelligenzdefekte
am stärksten hervortreten, dominiert beim Debilen der ethische Defekt.
SoUier bezeichnete die Imbecillen (deckt sich hier mit Debilen, da er
nur 2 Gruppen des Schwachsinnes unterscheidet, Idioten und Imbecillen)
als Antisoziale und die Idioten als Extrasoziale und verlangt, daß
die Antisozialen als schädliche und gefährliche Geschöpfe unschädlich
zu machen seien. Die Extrasozialen sind wirkliche Kranke, „die ebenso
unterstützt werden müssen, wie die mit chronischen Krankheiten Be-
hafteten".
- 54 —
Andere Autoren bezeichnen die Art des Schwachsinnes mit beson-
ders starken ethischen Defekten, die bei weitem die Mängel des Intellekts
überragen, als moral insanity oder als moralischen Schwachsinn. Nach
unserer bisherigen Darlegung ist wohl ersichtlich, daß diese Bezeich-
nung nicht ganz richtig ist, besser ist moralische Anästhesie, weil
letztere sagt, daß es sich um eine Abnormität handelt, die nicht jeder
Einwirkung verschlossen bleibt. Gute Lehren und ständige Ermahnungen
vermögen hier nichts zu erreichen, sind sie doch selbst Normalen gegen-
über wirkungslos. Der Charakter, soweit er durch das Gefühlsleben be-
stimmt wird, läßt sich nicht ummodeln, zurechtstutzen und beeinflussen.
Gefühle sind nicht anzulehren. Nur der Verstand, die Intelli-
genz, die stets überlegt, schätzt und wertet, verschließt sich nicht gegen
absichtliche Einwirkungen von außen. Will man mithin einen moralischen
Defekt abschwächen oder ausmerzen, so kann dies nur geschehen auf dem
weiten Umwege der Umformung des geistigen Besitzstandes durch Aus-
schaltung asozialer Elemente und Ersetzen derselben durch soziale al-
truistische. Mit diesen geklärten normalen Vorstellungen können sich
dann Gefühle verbinden, die nicht mehr den Stempel des Krankhaft-
Egoistischen tragen. Die Behandlung Debiler mit ethischen Defekten
jst also nicht aussichtslos, also muß der Ausdruck moral insanity fallen,
allerdings muß die Zeit der zielbewußten Heilbehandlung eine lange
sein, um so länger, je älter das Kind ist, da die Macht der Ge-
wohnheit dort hindernd im Wege steht.
Antisozial ist ein wenig zu viel gesagt, aber asozial sind die De-
bilen, insofern als sie sich nicht um die Gesellschaft, um das Wohl-
ergehen anderer bekümmern und kein Teil daran nehmen trotz recht
überschwenglicher Versicherung ihrer Teilnahme. Wenn nur ihr eigenes
Ich Beachtung findet, sind sie zufrieden. So finden wir denn hier alle
die Gefühle, welche das Gegenteil altruistischer Auffassung sind: Un-
dank, Boshaftigkeit, Neid, Haß, Schadenfreude, Rachsucht, Grausamkeit,
Unkameradschaftlichkeit, Respektlosigkeit, mangelndes Pflichtgefühl, Be-
gehrlichkeit, Unwahrheit u. a. m. Bei dieser egozentrischen Richtung des
Gefühlslebens verlieren sie völlig den Maßstab für gut, schlecht, Recht
und Unrecht. Recht und gut ist das, was ihrer werten Person zu gute
kommt, alles andere ist schlecht. Während der Debile alle seine Ge-
fühle für berechtigt hält und die daraus rekrutierenden Taten ebenfalls,
ist das Gefühl der Reue ihm gänzlich unbekannt; Reue empfindet nur
der Mensch, dessen Handeln einmal nicht im Einklang stand mit seinem
Wollen, seinem innem Leben.
Der eingangs zergliederte Fall L. C. zeigte uns ein Mädchen mit
ausgesprochener pathologischer Eitelkeit und Selbstgefälligkeit.
— 55 —
Ein besonders instruktiver Fall von pathologischer Lüge soll das
Krankhafte und Abnorme dieses ethischen Mangels erhellen. Mehrere
Kinder unterhalten sich über Jagd und Schießen, da erzählt einer, ein
zehnjähriger Bube: Ach, das was ihr erzählt ist noch gamichts. Mein
Freund schoß an einen kleinen Luftballon, die Kugeln flogen zurück,
ihm ins Ohr und da ist er taub geworden. Jetzt ist er Student.
Derselbe ein andermal : Mein Vater hat eine Doppelflinte und schießt
Hasen. Wir essen jeden Tag einen. (Dabei war sein Vater blind).
Oder ein Zwiegespräch : H. Mein Vater hat sechs Hunde, die nimmt er
mit auf die Jagd. R. Mein Grroßvater hat 32 Hunde, die nimmt er mit
auf die Jagd. H. Mein Vater schießt Rehe, Hasen und Hirsche und
Füchse. Einmal hat er drei Hirsche geschossen. R. Mein Großvater
hat 22 Hirsche und 33 Hunde auf einen Schuß getroffen. Alle waren sie
tot. H. So viel? R. Ja mein Junge das denkst du wohl nicht. H. Was
habt ihr denn damit gemacht? R. Alles aufgegessen. H. Auch die
Hunde? R. [N'atürlich, was denkst du denn, das hat fein geschmeckt,
mit feiner Sauce und Kraut und Kartoffeln und Sekt, das schmekt fein.
In allen Fällen hat die Lüge kein einleuchtendes äußeres Motiv,
keine Aussicht auf Vorteil und persönlichen Nutzen, sie ist stets lebhaft,
positiv gefühlsbetont auf G-rund der gelungenen Täuschung oder Über-
listung: die pathologische Lüge ist mithin etwas Trieb-
artiges. Am häufigsten tritt sie in den Jahren nach der Geschlechts-
reife auf.
Untersuchung der Handlungen.
Handlungen werden ausgelöst durch Denken und bewußte Motivie-
rung und durch Gefühle. Sehen wir in dem Wollen die Zurückgabe
der von der Außenwelt empfangenen Reize, so ist die Tat eine Folge
des Intellekts. Weit öfter jedoch ist die Tat durch Gefühle veranlaßt.
Ist ein Gefühl die treibende Kraft, so sucht der Wille als Vorstellung
einer gewollten Zweckhandlung nach Motiven oder er handelt ohne
solche, impulsiv. Bei unsern Untersuchungen haben wir es hauptsächlich
mit impulsiven Handlungen zu tun als Folge starker, über stark gefühls-
betonter Vorstellungen, z. B. Schreck, Zorn, Angst oder irgend welche
dunkeln sexuellen Gefühle u. a. m.
Steht das Handeln in Parallele zu den auslösenden Gefühlen, so
ist ohne weiteres klar, daß gesteigerte Gefühle gesteigerte
Handlungen und perverse Gefühle perverse Handlungen
bedingen. Pervers ist alles, was ungewöhnlich, außergewöhnlich ist,
was niemand anders ebenso macht, als nur einer, der an demselben
Fehler, der gleichen Perversität leidet.
— 56 —
Beim Idioten nun, beim Schwachsinnigen mit mangelhaften oder
völlig fehlenden Grefühlen kann man von vornherein erwarten,
daß eigentliche Handlungen sehr selten sind. Schon die ein-
fachsten Geh- und Stehbewegungen, das Kauen, Schlucken, Sichankleiden
etc. erlernen einige von ihnen nur mangelhaft, andere gamicht. gibt es
doch genug, die zeitlebens gefüttert, geführt, angekleidet werden müssen.
Zur Reinlichkeit und Ordnung sind sie sehr schwer zu erziehen. Je
weniger Handlungen, durch psychische Prozesse ausgelöste Bewegungen,
bei ihnen zu verzeichnen sind, desto mehr automatische Akte,
Bewegungen ohne psychischen Parallel Vorgang, begegnen uns. Der eine
schlägt mit dem Zeigefinger der einen Hand in die andere, der zweite
wackelt mit dem Kopf, der dritte wackelt mit dem Oberkörper, der
vierte dreht den Kopf und Oberkörper um die eigene Achse, ein anderer
schlenkert mit den Beinen, bevor er sie aufsetzt und wieder ein anderer
mit den Armen u. s. f. Hierher gehören auch der Beiß-, Kratztic, wobei
sich die Kinder selbst schmerzhafte Verletzungen beibringen, sich die
Nägel abkauen und die Haut der Fingerkuppen abreißen.
Andere wieder spielen ständig mit kleinen Holzstückchen, Stein-
chen, Papiers chnitzeln etc. Endlich sei auch noch des Nachahmungstics
gedacht, wo Kinder Sprache, Grang, Haltung, Bewegung anderer täu-
schend nachahmen, ohne davon selbst eine Vorstellung zu haben.
Auch die Masturbation kann triebartig, also ohne begleitende Vor-
stellungen ausgeführt werden. Ebenso wie ein Kind an seinen Fingern
spielt und lutscht, mit den Beinchen spielt, kann die Masturbation zur
üblen Angewohnheit werden, von der es später, nach erwachtem Ge-
schlechtsleben nicht mehr lassen kann. Auf Grund überwertiger,
sexueller Gefühle kann diese vielgeübte, jetzt bewußte Onanie zu sexu-
ellen Exzessen schwerster Art, zu Vergewaltigungen führen.
Auf dieser Stufe des Schwachsinnes ist es ungemein schwer, die
automatischen Akte zu beseitigen, das heißt, die Bewegung unter die
Herrschaft des Willens zu bringen, damit aus unbewußten, unwillkür-
lichen Handlungen bewußte willkürliche werden. Unmöglich ist es nicht,
wenn recht früh dagegen gearbeitet wird.
Dem unentwickelten, unkultivierten Menschen, dem Kinde und dem
Wilden mangelt es an Überlegungen und Motivierungen des Handelns,
auf den Reiz folgt unmittelbar die ausgelöste Muskelbewegung ohne die
Tat regulierende, beeinflussende Vorstellungen als Zwischenglieder.
Ihnen gleicht der Imbecille. Auch bei ihm fehlt es an genügenden
Ideen, an hemmenden und fördernden Vorstellungen, sein Tun bleibt ein
triebartiges, unüberlegtes, unmotiviertes. Er entläuft aus der elter-
— 57 —
liehen Wohnung, treibt sich herum, entbehrt cler Lagerstatt und kehrt
doch nicht um. Warum er entlaufen ist, weiß er nicht, schlecht hatte
er es nicht, zu essen bekam er auch, er weiß nicht, warum er nicht
blieb.
Oder ein anderer Fall. Ein imbecilles Mädchen, das leicht lenkbar
und willig ist, geht auf den Waschsaal und dreht sämtliche Wasser-
hähne auf, sodaß das Wasser aus den Becken überfließt und in den
Waschsaal läuft. Nach einiger Zeit, ungefähr nach einer viertel Stunde
fällt es ihr ein, daß sie die Hähne aufgedreht hat, sagt es selber und
hilft das Wasser aufwischen. Sie konnte aber keinen Grund für ihr
Handeln angeben.
Das Triebartige des Handelns ist auch nicht selten der Grrund zu
schweren Vergehen und Straftaten Jugendlicher und Kinder. Wenn ein
Knabe eine Scheune ansteckt, nur um den Feuerschein zu sehen, so ist
der Mangel an hemmenden Vorstellungen offensichtig. Wenn ein Knabe,
der zu Hause Obst die Fülle hat, an einem Laden vorbeigeht und einen
rotbäckigen Apfel entwendet, weil er so schön aussieht, so erkennt man
das Triebartige seines Tuns sofort. Ein anderer kauft sich einige Hun-
dert Karten mit Trauerrand, weil sie so schön sind, Verwendung hat
er nicht dafür. Wieder ein anderer nimmt Geld, weil es so schön
glänzt u. s. f.
Ein kleiner Kerl von 7 Jahren hat oft am Halteplatz der Auto-
mobile gestanden, ihm gefällt das Tuten der Hupe und das Explodieren
der Benzingase. Als einmal ein Wagenlenker für kurze Zeit absteigt,
schwingt er sich auf den Führersitz, greift zum Rade und los gehts in
sausender Fahrt zum Glück gegen einen Laternenpfahl. Er sagte nach-
her, warum er aufgeklettert sei, wisse er nicht, er hätte gerne einmal
tut, tut gemacht. Alles Handlungen triebartigen Cha-
rakters.
Ein anderer imbeciller Knabe geht hinter die Schule, drückt auf
den Feuermelder, geht handeln oder betteln u. s. f., weil es Paul B. und
Hans M. auch gemacht haben. In vielen Fällen ist die Nachahmung
der äußere Grund für das verkehrte Handeln.
Weil die oder der das gemacht haben, aber aus ganz bestimmten
Beweggründen, ahmt der Imbecille kritiklos dasselbe nach, ja nicht nur
einmal, nein oftmals. Und wenn es dem Ausreißer noch so schlecht ge-
gangen ist auf seiner Tournee, er entläuft doch wieder. Dieser ^Mangel
an Einsicht, aus dem Erlebten für sich eine Lehre zu ziehen und diese
zur Richtschnur für späteres Handeln zu machen, ist für den Imbecillen
charakteristisch.
— 58 — \
Gefährlich können die Taten Imbeciller werden, wenn sie im Zorn .
begangen werden. Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß die
Rachsucht und Zornmütigkeit derselben oftmals erheblich gesteigert
sind. Vor den rohesten Gewaltakten schreckt der Imbecille nicht zu-
zück, er übersieht nicht die Tragweite seiner Handlungen, zudem fehlen \
die Hemmungen.
Bei der Untersuchung der Gefühlstöne fanden wir nicht selten ge-
steigerte Sexualgefühle. Diese sind häufig der direkte Anlaß zur Pro-
stitution. Viele Prostituierte sind schwachsinnig. Weiter : Junge Mäd-
chen, ja Schulmädchen geben sich Männern preis, verfolgen sie. locken
sie an und sind so der verführende Teil. Ich besinne mich auf ein
11 jähriges, gut entwickeltes Mädchen, das hinter jedem Manne herlief, ^
ihn anlächelte und auf alle mögliche Art und Weise zu reizen suchte, j
Einmal muß sie es besonders auffällig gemacht haben, da der betreffende j
Mann mir sogar nachher sagte, ihm sei ganz unheimlich geworden, wie
sich das Mädchen angestellt habe. Ärztliche Untersuchungen ergaben,
daß ein Mißbrauch stattgefunden hat, nach ihrer Aussage soll es der '
Vater gewesen sein.
Andere Mädchen beschuldigten wieder infolge ihrer sexuellen Er-
regbarkeit einen irgend ihnen bekannten Mann, er habe sich an ihnen \
vergangen. Ihre erregte Phantasie gaukelte ihnen allerhand Bilder vor, I
an die sie schließlich selbst glauben und so zu den falschen Aussagen
kommen. So beschrieb ein 9jähriges imbecilles Mädchen genau die !
Wohnung, in der ein Mann sich an ihr vergangen habe. Sie erzählt» |
daß er ihr Kaffee und Kuchen gegeben und sie auf das Sofa gesetzt i
habe, was er ihr gesagt habe, wie lange sie dagewesen sei u. s. f., daß
er sie in der Nacht an die Elektrische gebracht und sie nach Hanse ge- ;
schickt habe. Mehr als acht Tage kam sie erst nachts nach Hause ;
und schlief auf der Treppe, dem Boden, trieb sich herum oder wurde
von der Polizei aufgegriffen. Sie kam von der Schule nicht nach Hause,
ihre Bücher ließ sie dort. Zunächst sind ihr ihre Angehörigen gefolgt, ■
um zu sehen, wohin sie ging, konnten jedoch nichts ermitteln, da sie
dann in einem Eckhause verschwand, während die Beobachter noch in
einer andern Straße waren. Einen Schutzmann hat sie wiederholt zum ■
Besten gehabt, indem sie ihn mitnahm bis an ein bestimmtes Haas und *
dann nichts sagte über die Wohnung oder eine beliebige namhaft machte, l
Güte, Naschwerk, Strenge, nichts konnte sie bewegen zu einer Aussage. ]
„Ein andermal sage ich es, heute nicht". Die ärztliche Untersuchung |
sprach gegen ihre Aussagen. Nicht alles, was das Mädchen tat und
sagte, hat sie ohne Bewußtwerden und ohne Überlegung gesagt und getan;
denn wenn sie die Eltern, die Beamten erst mitlockt und dann die ge-
— 59 —
nauen Angaben nicht macht, so ist doch ein gut Stück Raffiniertheit
dabei, nicht überführt werden zu können.
Und nun zu den Debilen, zu ihren Handlungen auf Grund ge-
steigerter Gefühle und oft erstaunlich scharfer Überlegungen und kompli-
zierter Aöekte. Er übertrifft den Imbecillen in jeder Beziehung, Ge-
fühlsroheit, Jähzorn, Schamlosigkeit, Grausamkeit, Wollust, Herzlosig-
keit , Leidenschaftlichkeit , Egoismus , Undankbarkeit , Schadenfreude,
Hochmut, Haß, Rachsucht, Respektlosigkeit, mangelndes Pflichtgefühl,
Herrschsucht, Eitelkeit und Eigenliebe, das sind die Triebfedern zu ihren
Handlungen. Antisoziale und perverse Gefühle und Affekte können nur
antisoziale und perverse Handlungen zeitigen. Im Gleichnis vom ver-
lorenen Sohn hat der größte Lehrer aller Zeiten genau den Lebensgang
solcher Menschen dargelegt und gezeigt, wohin Eigennutz, Undankbar-
keit, Ungehorsam, Hochmut, Genußsucht führen. Oftmals bildet der
wirtschaftliche Ruin nicht die letzten Stufen. Ausschweifungen und
Exzesse aller Art, liederliches Leben mit Dirnen lassen sie immer tiefer
sinken bis zum Dieb und Betrüger, zum Wechselfälscher, zum Menschen-
quäler, zum Totschläger, zum Mörder oder sie häufen auf andere Weise
Schmach über Schmach auf sich und die Ihrigen.
Die Verhandlungen in den letzten Jahren gegen Debile mit ethischen
Defekten sind wohl noch so lebendig, daß hier verzichtet werden kann
auf eine eingehende Darlegung der Sachlage, mögen die Namen genügen
Fischer, Hüssener, Dippold, Hau, Arenberg u. a. Daß sie alle in ethi-
scher Beziehung minderwertig waren, beweist, daß keiner von ihnen
Reue bekundet; ja keiner konnte Reue bekunden, da ihre Handlungen
ihrem Wesen, ihrer wahren Natur, ihrer Veranlagung nicht zuwider
waren.
Nicht immer muß sich der Lebensgang eines Debilen so abspielen.
Ich habe aber gerade diese Fälle hier angeführt, um zu zeigen, wohin
es kommen kann, wenn auf die psychische Herabminderung nicht ge-
achtet wird.
In allen diesen Fällen ließ sich unschwer feststellen, daß Entwick-
lungsstörungen von frühester Jugend an vorhanden waren, oder daß das
Wesen und Tun der Kinder in auffälligster Weise von der Norm ab-
wich. Grausamkeit (Quälen von Tieren und Untergebenen), Grobheit,
Respektlosigkeit, namenlose Tollkühnheit, Angst aus nichtigen Anlässen,
sexuelle und alkoholistische Ausschweifungen, Schamlosigkeit, Größen-
und Verfolgungswahn, Selbstüberhebung, Unvermögen, Wahrheit und
Unwahrheit zu unterscheiden, Jähzorn, Leidenschaftlichkeit, Herzlosig-
keit u. s. w. Alle diese pathologischen Herabminderungen hätten nicht
— 60 —
zu solchen Taten führen brauchen, wenn man sie rechtzeitig beachtet
hätte.
Jedes debile Kind verrät schon von frühester Kind-
heit an seine Fehler und Mängel in ethischer Beziehung.
Zerstörungssucht, Zornmütigkeit lassen sie nicht selten ihre Kleider
zerreißen, Spielsachen zerschlagen, Bilderbücher beschmieren, sich selbst
verunreinigen; Gefühllosigkeit und Roheit führen zum Quälen und
Schlagen von Geschwistern, Dienstboten und Tieren; Herzlosigkeit,
Eigenliebe und Selbstgefälligkeit sind die Veranlassung zum Lügen,
Betrügen, Stehlen, Undankbarkeit. Beim Spiel sind sie herrschsüchtig
und unverträglich, sie wollen immer die Tonangebenden sein, alle sollen
sich ihren Anordnungen fügen und sie selbst verletzen fortgesetzt die
Spielregeln. Mit älteren Kindern spielen sie nicht, weil sie da mit
ihren Wünschen nicht durchkommen und für ihr rechthaberisches Wesen
die Stärke des Armes fühlen müssen. In der Schule sind sie verschlagen,
boshaft, dabei wieder feige, allen Unfug stiften sie an oder sind doch
dabei beteiligt, ihre Arbeiten sind nachlässig. Den Lehrern bereiten sie
ständig Sorge und Arger, fälschen Unterschriften und wissen sich raffi-
niert aus allen heiklen Notlagen herauszulügen, dabei können sie ander-
seits sehr lieb und nett sein, sodaß alle Bekannten von dem Betragen
desselben ganz entzückt sind, und nicht verstehn, daß dies liebe Kind
solche Untaten vollführen soll.
Mit beginnender Pubertät wirds noch schlimmer, da jetzt die er-
wachten sexuellen Gefühle stark hervortreten und das Handeln beein-
flussen. Diese Kinder sind rechte Sorgenkinder.
Jeder neue Tag bringt Überraschungen, neue Sorgen, je älter die
Kinder werden, desto schlimmer wirds. Von Stufe zu Stufe sinken sie
hinab, ihre Ansprüche steigern sich ins Unermeßliche, Dirnen und Trink-
kumpane helfen ihnen bald völlig in den Abgrund des Verderbens zu
versinken und bald kommen sie vor den Strafrichter wegen Unter-
schlagung, Betrug, Wechselfälschung, Diebstahl, geschlechtlicher Ver-
gehen, Roheitsdelikten, Mißhandlungen, Vagabondage u. s. f.
Nach Verbüßung ihrer Strafe sind sie nicht gebessert, wie sollte
auch das Gefängnis dies Wunder vollbringen ? Aufraffen, um ein anderer
Mensch zu werden, können sie sich nicht aus eigener Kraft jetzt nicht
mehr, da sie zu alt sind, die Gewohnheit steht hindernd im Wege, der
Dämon, der alte Adam dringt immer wieder durch. Neue Vergehungen,
neuer Jammer. Und doch wäre ihnen zu helfen gewesen, wenn man in
früher Jugend die pathologische Wurzel erkannt und sie in ein Heil-
erziehungsheim gegeben hätte.
— 61 —
Dieselben Vergehungen und Straftaten können von
normalen, moralisch verkommenen Menschen begangen
werden und nicht jeder, der sich durch seine Handlungen
außerhalb des Rahmens der Gesellschaft stellt, ist debil.
Das sei hier recht nachdrücklich hervorgehoben. Bei der Untersuchung
der einzelnen psj'chischen Symptome ist schon immer das Krankhafte
derselben hervorgehoben, es sei aber hier nochmals eine Zusammenstellung
derselben gegeben, im Gregensatz zu dem physiologisch gesunden Gesetzes-
verletzer.
Der ethische Defekt eines Debilen zeigt sich
von frühester Kindheit an, wo eine Einwirkung
durch äußere Verhältnisse noch ausgeschlossen
ist. Der ethische Defekt eines normalen Kindes
entsteht durch schlechtes Vorbild, mangelhafte
oder falsche Erziehung, schlechten Umgang, Lesen
schlechter Lektüre u. s. f.
Beim debilen Kinde sind Lob undStrafe absolut
nutzlos, da es keinen Unterschied zu machen ver-
steht zwischen Verbotenem und Erlaubtem, zwi-
schen Gut und Böse. Sein Handeln steht nicht im
Gegensatz zu seinem Wesen, daher kann es keine
Reue empfinden. Das normale Kind empfindet über
seine Untaten Schmerz, hat Einsehen in das Ver-
kehrte seiner Handlungen und ist für Lob und
Tadel zugänglich.
Beim Debilen finden sich neben den ethischen
Mängeln intellektuelle Schwächen, vor allem eine
auffallende Urteilsschwäche bei sonst guter In-
telligenz. Beim moralisch verkommenen Kinde ist
die Intelligenz intakt.
Das debile Kind weist in seinem Körperbau
Anomalien auf, wenn auch nicht alle eingangs zu-
sammengestellten Symptome bei jedem Kinde zu
finden sind, so sind doch fast ausnahmslos immer
einige vorhanden, vor allem am Schädel und den
Genitalien. Zu achten ist auf epileptische Anfälle
und Lähmung. Das normal entartete Kind braucht
keine körperlichen Verbildungen zu haben, hat sie
auch meist nicht.
Und endlich entsteht die Debilität infolge he-
reditärer oder erworbener Ursachen. Eine der-
— 62 —
artige Belastung ist aber nicht die Grundbedingung
der moralischen Entartung. Wegen der großen
Bedeutung dieser Ursachen wollen wir sie noch
kurz streifen.
Ursachen jugendlichen Schwachsinnes.
Unter den auslösenden Ursachen des Schwachsinnes steht die Erb-
lichkeit an erster Stelle. Bei 20% nach Piper (Zur Ätiologie der
Idiotie) sind die Eltern oder Verwandte geisteskrank. Nicht immer sind
die Eltern der schwachsinnigen Kinder minderwertig, oftmals wird eine
Generation übersprungen, es vererben sich die Anlagen und Fähigkeiten,
Fehler und Schwächen der Großeltern auf die Enkel. Daß die Belastung
des Individuums eine große sein muß, wenn beide Eltern oder Großeltern
krank waren, leuchtet ohne weiteres ein, weil sich die krankhaften
Anlagen zweier Personen auf eine dritte übertragen. In manchen Ge-
schlechtern ist eine langsame Degeneration von Generation zu Generation
bemerkbar, zumal wenn die Lebensbedingungen schlechte sind, der Ge-
sundheitszustand kein guter ist und die betreffenden Personen sich dem
Alkoholgenuß stark hingeben. Dann kann man ganz deutlich sehen, wie
aus einer leichten nervösen Anlage schwere Neurosen, intellektuelle
Schwächen, psychische Anomalien und endlich Schwachsinn entstehen.
Anderseits ist eine Regeneration unter günstigen Lebensbedingungen und
vernünftiger Lebensweise nicht ausgeschlossen.
Der Alkohol ist nicht selten der Grund geistiger und körperlicher
Degenerationen, worüber die Erhebungen Bournevilles sicheren Aufschluß
geben. Er hat 1000 Fälle registriert und ermittelt, daß in 471 Fällen
der Vater, in 84 Fällen die Mutter und in 65 Fällen beide Eltern
Trinker waren und nur in 209 Fällen waren beide Eltern nicht dem
Trünke ergeben. In 67 Fällen konnte er mit Sicherheit ermitteln, daß
die Konzeption im Rauschzustande vor sich gegangen und in 24 Fällen
die Wahrscheinlichkeit derselben Annahme feststeht. Erstgeborene
Kinder sind nicht selten schwachbefähigt, oder schwachsinnig, eine
Tatsache, die beredt genug ist, um Alkoholgegner zu werden. In 171
Fällen konnte er über den Alkoholismus der Eltern keine Auskunft er-
langen. In den ersten Fällen muß der Alkohol direkt als schädigender
Faktor angesprochen werden, daneben gibt es aber doch noch sehr viele
Fälle, in denen der Alkohol indirekt die Ursache bildet oder doch diese
verstärkt.
Wieviel Sorgen, kummervolle, schlaflose Nächte, angestrengte
Stunden der Arbeit, hervorgerufen durch die Trunksucht des Mannes,
— 63 -
erlebt ein gravides Weib zum Nachteil der Kinder. Mißhandlungen,
schlechte Ernährung und seelische Aufregungen aller Art sind in Trinker-
familien an der Tagesordnung und bleiben sicher nicht ohne Einfluß auf
die Nachkommen.
An dritterstelle steht die hereditäre Syphilis. Piper fand sie
unter 310 Fällen 16 mal und Ziehen konstatiert bei 17 ^/o wahrscheinlich
und bei 10 ^o sicher Erbsyphilis als Ursache. -
Nicht so sicher ist die Wirkung der Tuberkulose auf die Ent-
wicklung des fötalen Gehirns. Piper verzeichnet Schwindsucht der Eltern
bei 15 ^/o und bei den Großeltern bei 8 ^/o, zusammen 23 ^/o. Nach Ziehen
läßt sich in wenigstens 15 ^/o Tuberkulose bei den nächsten Familien-
angehörigen normaler Kinder nachweisen, sodaß diese Krankheit nicht
immer als direkte Ursache der Idiotie angesprochen werden darf.
Daß die Schwangerschaft und die Geburt selbst nicht ohne
Einfluß auf die Entwicklung des Kindes sind, weiß jeder. Erkrankungen,
die mit hohem Fieber einhergehen, oder Nervenkrankheiten, heftige Ge-
mütsbewegungen während der Schwangerschaft vermögen infolge der
schlechten Ernährung von Mutter und Kind das letztere zu schädigen,
insofern als das Gehirn dadurch nicht genügend ernährt wird und in
seiner Entwicklung zurückbleibt. Piper führt bei 4 ^o Sorgen der Mutter
während der Schwangerschaft als Ursache des Schwachsinnes an. Bei
3 % ist ein Fall der Mutter, bei 1 7ü Schreck der Mutter, bei 1 7o
Krankheit der Mutter während der Gravidität und bei 1 ^o Unterleibs-
leiden der Mutter als schädigender Einfluß festgestellt.
Ebenso sind Frühgeburten die Veranlassung zum Schwachsinn.
Piper führt 3 ^/o an. Ein zu früh geborenes Kind kann in seiner Ent-
wicklung nicht einem vollentwickelten gleichen. Wenn sonst keine an-
deren Momente erschwerend hinzutreten, so ist es nicht ausgeschlossen,
daß eine sorgfältige Ernährung des Kindes von frühester Kindheit an
diesen Mangel wett machen, denn das Kind ist ja nicht abnorm ent-
wickelt, sondern in seiner Entwicklung aufgehalten, die Entwicklung
ist nicht vollendet und dies läßt sich nicht selten nachholen.
Als weitere erworbene Ursachen des Schwachsinnes sind Ver-
letzungen des kindlichen Kopfes anzusehen. Es ist gleich-
gültig, ob die Verletzung vor, während oder nach der Geburt statt-
gefunden hat, nachteilig kann sie immer wirken. Fall der Mutter wäh-
rend der Gravidität, Verletzungen während der Geburt selber bei
Zwangs- oder Sturzgeburten, starkes Zusammendrücken des Kopfes
durch ein zu enges Becken der Mutter, Fall aus dem Wagen, Sturz
von der Treppe u. s. f., alles das sind Momente, die eine Verletzung des
kindlichen Gehirns hervorrufen können. Piper hat hei 9 % Kopfverlet-
— G4 — i
Zungen festgestellt. Nach einer andern Statistik von WolfF sind es ■
sogar 14%, 198 Fälle von 1436. i
In gleicher Linie stehen verlangsamte Geburten, Schwer- i
geburten infolge von Enge des Beckens, Nachlassen der Wehen, |
krampfartige Wehen, mangelhafte Elastizität des Uterus ;
u. s. f. Durch ein zu langes Stehen des kindlichen Schädels im Durch-
bruch wird ein Druck auf denselben ausgeübt, der die Blutzirkulation ;
hemmt und die Ernährung des Gehirns für diese Zeit verhindert und
dadurch kann eine Entwicklungsstörung hervorgerufen werden. Hierin ■.
findet auch die Tatsache etwas ihre Erklärung, daß Erstgeborene weit ■
öfter debil sind als die Nachgeborenen. Erklärlicher will mir die i
Schädigung Erstgeborener durch Alkohol erscheinen, genaue Resultate i
darüber wird niemand gewinnen können. \
Entwicklungsstörungen nach der Geburt haben einen un- :
gleich größern Einfluß für das Kind. Auf die Rachitis, eine Stoff- ;
Wechselstörung, ist schon eingangs Gewicht gelegt, auch der Erkrankung \
der Schilddrüse ist oben gedacht. Andere Störungen, denen man '
leider viel zu wenig Beachtung schenkt, sind die Magen- und Darm- ;
katarrhe und die daraus entstehende Darmerschlaffung, die oftmals i
rachitische oder syphilitische Leiden darstellen. Auf Grund einer :
schlechten Ernährung — die Kinder vertragen fast nichts und leiden i
oft viele Jahre lang an Diarrhoe — wird das Gehirn in seiner normalen ]
Entwicklung behindert und es kann so wohl Schwachsinn in irgend einer ;
Form entstehen.
Unglaublich wird von manchen unwissenden Eltern gesündigt, die
da meinen, sie tun ihrem Kinde einen Dienst, wenn sie ihm zur ;
Kräftigung oder Beruhigung Alkohol verabreichen. AI- i
kohol ist ein Nervengift und schädigt in jeder Form ge- j
geben das Gehirn, vorab das kindliche Gehirn. Mir sind
Fälle bekannt, in denen gesunde, kräftige kleine Kinder nach heimlicher \
Verabreichung von Wein durch die Ammen schwachsinnig oder epilep- J
tisch wurden. In einem andern Falle wollte es ein Vater mit seinem ]
2 jährigen Kinde recht gut meinen, indem er ihm jeden Abend von seinem
Bier „ein halbes Glas oder etwas mehr" zu trinken gab, er glaubt es
heute noch nicht, daß der Alkohol schuld ist an der Minderwertigkeit
seines Kindes. „Der Alkohol hat noch niemand geschadet, warum soll
er gerade meinem Kinde geschadet haben."
Es ist überhaupt ratsam, das Tun und Treiben der Ammen und
Mädchen genau zu kontrollieren, kenne ich doch einen Fall von schwerer
Epilepsie, in der das Kind von frühester Kindheit an von der Amme
sexuell mißbraucht ist und einen andern Fall von schwerer Idiotie, mit
- 65 —
sehr früh aufgetretener Onanie. Ob nun in beiden Fällen die Erkran-
kungen nur bedingt sind durch die genannten Verirrungen der Pflege-
rinnen oder nur teilweise, wer will das bestimmt sagen, erschwerend
sind sie sicher hinzugetreten.
Daß eine ärztliche Untersuchung der Ammen und Pflegerinnen un-
umgänglich notwendig ist, sollte eigentlich nicht der Erwähnung bedürfen.
Und doch kommen immer wieder Fälle von syphilitischer Erkrankung
der Kinder durch Infektion von Ammen etc. vor. Auch die er-
worbene Syphilis kann zum Schwachsinn führen.
Typhus, Diphtherie, Scharlach, Pocken in den ersten
Kinder Jahren sind nicht selten die Ursachen jugendlichen Schwachsinnes.
Diese Infektions er krankungen bedingen eine allgemeine Ernährungsstörung,
mithin beeinträchtigen sie die Ernährung und das Wachstum des Gehirns,
weiterhin wirken sie direkt schädigend auf die Gehirnrinde und endlich
haben sie nicht selten Herderkrankungen der Hirnrinde zur Folge, die
ihrerseits dann Ausfallserscheinungen zeitigen können. Die Herd-
erkrankungen der Großhirnrinde der Kinder mit ihren Folgen, Intelli-
genzdefekte und Lähmungen sind vom besprochen worden. Desgleichen
wurde daselbst die Hirnhautentzündung als Grund für Hydrocephalie
angegeben.
Schwachsinn kann schon durch eine der angegebenen Ursachen ent-
stehen, sehr oft wirken jedoch mehrere zusammen und vergrößern dadurch
den Intelligenzdefekt. Ausdrücklich sei aber noch einmal hervorgehoben,
daß durchaus nicht immer das Vorhandensein eines Symptoms die
Diagnose Schwachsinn rechtfertigt, nur wenn mehrere zusammentreffen,
ist der Schluß auf Schwachsinn berechtigt. Und wenn diese Zeilen den
Erfolg haben, daß jeder Vater, jede Mutter, jeder, dem die Kinder zur
Erziehung anvertraut sind, genau die Entwicklung seines Pflegebefohlenen
verfolgt und bei Abweichungen einen Psychiater befragt, so haben sie
ihren Zweck voll erfüllt.
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band.
— 66 —
Name
Rechen-Bogen
Kopfrechnen — Schriftliches Rechnen
Datum Tageszeit .
Frage
Antw. I Zeit j Bemerkung
Frage
Antw.
Zeit I Bemerkung
Ix
3 =
2x
4 =
3x
5 =
4x
6 =
5x
7 =
6x
8 =
7x
9 =
8x
10 =
9x
11 =
12 X
13 =
2 +
2 =
3 +
4 =
4-f
6 =
6 +
8 =
8 +
14 =
11 +
20 =
14 + 26 —
17 +
32 =
20 +
38 =
23 +
44 =
X-3 =
:14;X =
X + 5 =
:11;X =
Xx7 =
:33;X =
X : 9 =
= 5;X =
H —
1 =s
8-
3 =
13-
5 =
18-
7 =
29-
■10 =
40-
13 =
51-
16 =
62-
19 =
73-
22 =
84-
25 =
2:
1 _5
8:
2 =
18:
3 =
32:
4 =
50:
5 =
18:
6 =
35:
7 =
56:
8 =
81 :
9 =
110: 10
Fragebogen betr. Orientiertheit etc.
Name : Datum :
Wochentag:
Tageszeit :
1. Wie heißen Sie?
2. Was sind Sie?
3. Wie alt sind Sie?
4. Wo sind Sie zu Hause?
5. Welches Jahr haben wir jetzt?
6. Welchen Monat haben wir jetzt?
7. Welchen Tag im Monat haben wir heut ?
8. Welchen Wochentag haben wir heut?
9. Wie lange sind Sie hier?
10. In welcher Stadt sind Sie?
11. In was für einem Hause sind Sie?
12. Wer hat Sie hierher gebracht?
13. Wer sind die Leute in diesem Hause?
14. Wer bin ich?
15. Wo waren Sie vor acht Tagen?
16. Wo waren Sie vor einem Monat?
17. Wo waren Sie vorige Weihnachten?
18. Sind Sie traurig?
19. Sind Sie krank?
20. Werden Sie verfolgt?
21. Werden Sie verspottet?
22. Hören Sie schimpfende Stimmen?
23. Sehen Sie schreckhafte Gestalten?
24. Warum frage ich Sie dies alles?
— 67 —
Schema zur Prüfung der Schulkenntnisse.
Name : Datum : Tageszeit :
1. Alphabet:
2. Zahlenreihe:
3. Monatsnamen:
4. Wochentage:
5. Vater unser:
6. Zehn Gebote:
7. :,: Deutschland:,: über alles:
8. Wie heißen die größten Flüsse in Deutschland ?
9. Wie heißen die Hauptgebirge in Deutschland ?
10. Wie heißen die deutschen Bundesstaaten?
11. Wie heißt die Hauptstadt von:
a. Deutschland?
b. Preußen?
c. Sachsen?
d. Bayern?
e. Württemberg?
f. Hessen?
12. Zu welchem Staate gehören Sie?
13. AVer führte 1870 Krieg?
l'l. Wer führte 1866 Krieg?
15. Wie heißt der jetzige deutsche Kaiser?
16. Wann starb Kaiser Wilhelm I. ?
Sonstige Fragen:
Eeizworte für Assoziationsversuche I.
Name:
Nr.
jjatum :
Tageszeit :
I. Licht und Farben:
V. Temperatur :
1. hell
1. kalt
2. dunkel
2. lau
3. weiß
3. warm
4. schwarz
4. heiß
5. rot
VL Gehör:
6..^elb
1. leise
7. grün
2. laut
8. blau
3. kreischend
IL Ausdehnung und Form:
4. gellend
1. breit
Vn. Geruch:
2. hoch
1. duftig
3. tief
2. stinkend
4. dick
3. modrig
5. dünn
VIIL Geschmack:
6. rund
1. süß
7. eckig
2. sauer
8. spitz
3. bitter
IIL Bewegung:
4. salzig
1. ruhig
IX. Schmerz- und Gemeingefühl
2. langsam
1. schmerzhaft
3. schnell
2. kitzlich
IV. Tastsinn:
3. hungrig
1. rauh
4. durstig
2. glatt
3. fest
5. ekelerregend
X. Aesthetische Gefühle:
4. hart
1. schön
5. weich
2. häßlich
— 68 —
Reizworte für Assoziationsversnche 11.
Name : Nr.
Datum:
Tageszeit :
XI. XV
1. Kopf 1. Wurzel
2. Hand 2. Blatt
3. Fuß 3. Stengel
4. Gehirn 4. Blume
5. Lunge 5. Knospe
6. Magen 0. Blüte
XII. XVI.
1. Tisch 1. Spinne
2. Stuhl 2. Schmetterling
3. Spiegel 3. Adler
4. Lampe 4. Schaf
5. Sofa 5. Löwe
6. Bett 6. Mensch
XIIL XVIL
1. Treppe 1. Mann
2. Zimmer 2. Frau
S. Haus 3. Mädchen
4. Palast 4. Knabe
5. Stadt 5. Kinder
6. Straße 6. Enkel
XIV. xvni.
1. Berg 1. Bauer
2. Fluß 2. Bürger
3. Tal 3. Soldat
4. Meer 4. Pfarrer
5. Sterne 5. Arzt
6. Sonne 6. König
Reizworte für Assoziationsversuche IIL
Nr.
Name :
Datum :
Tageszeit:
XIX.
1. Krankheit
2. Unglück
3. Verbrechen
4. Not
5. Verfolgung
6. Elend
XX.
L Glück
2. Belohnung
8. Wohltat
4. Gesundheit
6. Friede
6. Reichtum
XXL
1. Acht
2. Oh!
3. Pfui!
4. Ha!
5. Hailoh!
6. Au!
XXIL
1. Zorn
2. Liebe
8. Haß
4. Begeisterung
6. Furcht
6. Freude
XXIII.
1. Trieb
2. Wille
3. Befehl
4. Wunsch
5. Tätigkeit
6. Entschluß
XXIV.
1. Verstand
2. Einsicht
3. Klugheit
4. Absicht
5. Erkenntnis
6. Dummheit
XXV.
1. Bewußtsein
2. Schlaf
3. Traum
4. Erinnerung
6. Gedächtnis
6. Denken
XXVI.
1. Oesets
2. Ordnung
3. Sitte
4. Recht
5. Gericht
6. Staat
— 69 —
Schema zur Untersuchung von Geisteskranken.
Name :
Diagnose :
Geburtstag :
Konfession :
Stand :
Heimat :
Unterstützungswohnsitz :
Ort der Untersuchung:
Tag der ersten Untersuchung:
Weitere Untersuchung am :
A. Körperlicher Zustand.
I. Körperbau.
a) Allgemeine Charakteristik. (Zu beachten
sind vor allem Körperlänge, Gewicht, ferner Ent-
wickelungshemmungen, Asymmetrien, Verhältnis
der Extremitäten zum Rumpf.)
b) Besondere Charakteristik des Schädelbaues.
(Asymmetrien besonders an der Stirn, Zustand der
Nähte. Folgen von Verletzungen.)
Im Falle genauerer Messung empfehlen sich
folgende Maße:
1. Längsdurchmesser (L. D.) gemessen von der
Mitte zwischen den Arcus superciliares bis zur
Protuberantia occipitalis externa.
2. Umfang (U.) in einer durch die gleichen
Punkte gehenden Ebene.
3. Sagittalbogen (S. B.) gemessen von den glei-
chen Punkten.
4. Querdurchmesser (Q. D.) gemessen von den
oberen Ansatzstellen der Ohrmuscheln, bezw. von
den Schnittstellen des darüber errichteten Frontal-
bogens mit der Ebene des Umfanges.
5. Frontalbogen (F. B.), gemessen von den zu-
letzt genannten Punkten bei horizontaler Einstel-
lung des Längsdurchmessers.
IL Hautbeschaffenheit: Farbe, Konsi-
stenz, Ernährungszustand, Faltenbildung. Zu be-
achten sind besonders Ödeme, Myxödem, trophische
Störungen.
III. Temperatur: Verteilung der Wärme
am Körper.
IV. InnereOrgane, besonders Verdauungs-
system.
V. Besondere Untersuchung des Zirkula-
tionssystems. Herz, arterielles Gefäßsystem,
Puls, Verteilung und Füllung der Gefäße an der
Haut, speziell im Gesicht. Blutungen, besonders
Menses.
VI. Sektionserscheinungen: Beschaffen-
heit des Urins, Speichelsekretion, Schweißsekretion.
VII. Muskelzustände: Neurologisch wich-
tige Erscheinungen: Paresen, Spasmen, Zuckungen
etc. Besonders Befund an den Kopfnerven. Psy-
chisch bedingte Spannungszustände (vergl. Unter-
suchung des Willens).
— 70 —
YIU. Ausdrucksbeweguogen besonders
im physiognomischen Gebiet.
IX. Reflexe (möglichste Einheit des Reizes,
Prüfung der mechanischen Bedingungen, scheinbares
und wirkliches Fehlen, Steigerung).
Kniephänomene, Fußklonus. Pupillen -Weite.
Differenzen, Reaktion auf Licht (gemessen mit
welchem Licht?), akkomodative Mitbewegung.
Andere Reflexe (Biceps-, Triceps-, Facialis-
reflexe, Cremasterreflexe u. s. f.).
X. Sonstige nervöse Erscheinungen,
speziell auch subjektiver Natur. (Anästhesie, Pa-
rästhesie u. s. f.)
B. Entwicklung der Krankheit.
Name des Referenten. (Es ist zu beachten,
in welcher Beziehung Referent zu dem Kranken
steht, welchen Eindruck derselbe macht, ob be-
stimmte Denkfehler bei ihm wiederkehren, ob seine
Darstellung nach einer Richtung zugeschnitten er-
scheint.)
Körj)erliche und geistige Beschaffenheit der
Eltern, Krankheiten derselben, Infektionskrank-
heiten, besonders Lues ; — Epilepsie, Stoffwechsel-
krankheiten, Tuberkulose. Psychische Eigentüm-
lichkeiten derselben. Kriminalität, Geisteskrank-
heiten, speziell Anstaltsbehandlung.
Sonstige Heredität. Gesamtzahl der Geschwis-
ter und Kinder. Störungen bei den direkten Ahnen
des Kranken. Stöningen in den Seitenlinien der
Vorfahren; Art dieser Störungen.
Zustand der Mutter bei der Gravidität. Ge-
burtsverlauf. Besonderheiten des Kindes in den
ersten Lebensjahren, Krankheiten, besonders
Krämpfe in frühester Jugend.
Schulbesuch, Pubertät, Berufswahl, Militärver-
hältnis, weitere Lebensereignisse, eheliches Leben.
Schädigungen durch Unfälle, Überanstrengung,
schreckhafte Ereignisse, Not, körperliche Krank-
heiten, besonders Infektionen und Intoxikationen,
puerperale Erkrankungen; Angaben über stattge-
habte Behandlung.
Besondere psychische Eigentümlichkeiten, Kri-
minalität.
Abnorme Neigung zum Alkohol.
Erste Symptome der Krankheit.
Deutlicher Ausbruch der Störung.
Art und Wirkung therapeutischer Versuche.
O. PsychiBoher Zustand.
I. Sprache: Nach Prüfung des motorischen
Gebietes (Stottern, Stammeln, Paresen, Zuckungen,
Mitbewegungen etc.). Feststellungen der Erschei-
nungen im sensorischen Gebiete (Wortgedächtnis,
Paraphasie, Iterativerscheinungen etc.).
IL Bewußtsein, Selbstbewußtsein u.
Orientiertheit. Genaue Darstellung der Re-
aktionen in sprachlicher und physiognomischer
Beziehung auf folgende Fragen:
1. Wie heißen Sie?
2. Was sind Sie?
8. Wie alt sind Sie ?
— 71 — . i
4. Wo sind Sie zu Hause? l
5. Welches Jahr haben wir jetzt? ]
6. Welchen Monat haben wir jetzt? :
7. Welchen Tag im Monat haben wir heut? !
8. Welchen Wochentag haben wir heut?
9. Wie lange sind Sie hier? >
10. In welcher Stadt sind Sie? '<\
11. In was für einem Hause sind Sie? i
12. Wer hat Sie hierher gebracht? ^
13. Wer sind die Leute in diesem Hause? j
14. Wer bin ich? j
15. Wo waren Sie vor acht Tagen? ■
16. Wo waren Sie vor einem Monat? j
17. Wo waren Sie vorige Weihnachten? i
18. Sind Sie traurig? i
19. Sind Sie krank?
20. Werden Sie verfolgt? ]
21. Werden Sie verspottet? ^
22. Hören Sie schimpfende Stimmen? t
23. Sehen Sie schreckliche Gestalten? !
24. Warum frage ich Sie dies alles? \
III. Gedächtnis: Fähigkeit der Reproduk- :
tion a) für längst Erlebtes, b) für jüngst Ver- !
gangenes. Gedächtnislücken ; Fähigkeit, neue Ein- ■
drücke zu merken. i
IV. S c hu Ikenntnisse, besonders betreffend •]
folgende Fragen: ^
1. Alphabet.
2. Zahlenreihe. ;
3. Monatsnamen. i
4. Wochentage. 1
5. Vater unser. ^
6. Zehn Gebote.
7. Deutschland, Deutschland über alles. •
8. Wie heißen die größten Flüsse in Deutsch- >
land ? i
9. Wie heißen die Hauptgebirge in Deutsch-
land? j
10. Wie heißen die deutschen Bundesstaaten?
11. Wie heißt die Hauptstadt von:
a) Deutschland? l
b) Preußen? >
c) Sachsen?
d) Bayern? \
e) Württemberg?
f) Hessen? |
12. Zu welchem Staate gehören Sie? i
13. Wer führte 1870 Krieg? ]
14. Wer führte 1866 Krieg? j
15. Wie heißt der jetzige deutsche Kaiser? \
16. Wann starb Kaiser Wilhelm I.? j
V. Rechenvermögen: Genaue Darstellung ■]
der Reaktionen in rechnerischer und sonstiger '
Beziehung auf folgende Fragen. )
Aufgabe
T
1X3:
2x4
Antwort
Zeit Bemerkungen
— 72 —
Aufgabe
Antwort
Zeit
Bemerknogen
3x 5
4x 6
5x 7
6x 8
7x 9
8x10
9X11
12x13
II.
2+ 2 = ?
3+ 4
4+ 6
5+ 8
8+14
11 + 20
14 + 26
17 + 32
20 + 38
23 + 44
III.
3- 1 = ?
8— 3
13—5
18— 7
29 — 10
40—13
51 — 16
62 — 19
73 — 22
84 — 25
IV.
2: 1=?
8: 2
18: 3
32: 4
50: 5
18: 6
85: 7
56: 8
81: 9
100 : 10
(X — 3 = 14), X « ?
(X + 5 = 11), X = ?
(X X 7 = 35), X = ?
(X : 9 = 5), X = ?
VI. Untersuchung der Schrift: Schriftprobe.
(Womöglich Name, Heimat, Geburtstag, Stand.)
Auffallende Merkmale der Schrift, u. a. Beschaffen-
heit der einzelnen Buchstaben (z. B. Zittererschei-
nungen), Verbindung derselben zu Worten, z. B.
Auslassungen von 13uchstaben; Verbindung von
Sätzen, z. B. Fehlen des grammatikalischen Zu-
sammenhanges, Umstellungen.
VII. Sinnestäuschungen. Verursachung
durch äußere Eindrücke oder Keizzustünde im
— 73 —
Nervensystem. Bezeichnung des oder der Sinnes-
gebiete. Konstanter oder wechselnder Charakter
der Sinnestäuschungen. Beziehung zur Vorstellungs-
bildung. Elementare Sinnestäuschungen. Gedanken-
lautwerden.
VIII. Wahnideen. Vorsichtige Prüfung, ob
Wahnbildung überhaupt vorliegt, besonders bei
Klagen über Zurücksetzung ; Eifersuchtsideen u. a. ;
Qualität der Wahnbildung; Verfoigungs- u. Größen-
wahn; konstanter oder wechselnder Charakter der
Wahnbildung; Art der Verknüpfung der Ideen;
Beeinflussung durch Stimmungen.
IX. Beeinflußbarkeit. Einfluß von psy-
chischen Momenten, besonders Beeinflussung durch
Vorstellungen.
Suggestibilität im Gebiet der Muskelzustände.
X. Associationen. Associative Verknüp-
fung in den spontanen Äußerungen des Kranken.
Prüfung der Reaktionen auf zugerufene Seizworte.
XI. Urteilsvermögen. Mangelhafte Be-
urteilung der Umgebung, Mangel an Selbstkritik,
Mangel an Urteil in geschäftlichen Angelegenheiten,
Zeichen von Schwachsinn.
XII. Stimmungsanomalien. Qualität der
Stimmung, innere und äußere Ursachen derselben,
Konstanz oder Wechsel der Stimmung, physioguo-
mischer Ausdruck der Stimmung, sonstige körper-
liche Begleiterscheinungen, z. B. bei Angst. Ein-
fluß auf den Vorstellungsablauf.
XIII. Störung des Willens. Unterschei-
dung der psychomotorischen von den unwillkürlichen
Muskelspannungen. Erreglichkeit der motorischen
Sphäre, Ausdauer der Innervationen, Katalepsie,
Negativismus, Stereotypie von Haltungen und Be-
wegungen. Beziehung auf bestimmte Vorstellungs-
komplexe. Abnorme Richtungen des Wollens : Per-
versitäten.
XIV. Zwang s vors t eilungen. Art der
zwangsmäßig auftretenden Antriebe. Einfache An-
triebe bei Tic convulsif, Zwangsbewegungen. Zwangs-
handlungen besonders im sprachlichen Gebiet,
zwangsmäßig auftretende Ideen. Reaktion des Be-
wußtseins auf die Zwangsimpulse, subjektives Ge-
fühl des Zwanges bei „Zwangsvorstellungen" im
engeren Sinne. Beziehung derselben zur sozialen
Umgebung.
XV. Soziales Verhalten. Unreinlichkeit,
Störung der Umgebung durch Schreien u. s. f., ag-
gressives Verhalten, Gemeingefährlichkeit.
D. Besondere Wahrnehmungen.
E. Wesentliche Symptome.
(Unter Hinweis auf obigen Befund) Diagnose
mit bestimmter Äußerung, ob Geisteskrank-
heit vorliegt.
F. Bisherige Behandlung.
Q. Indikation der Anstaltsbehandlung.
Durch welche Momente ist die Indikation zur
Anstaltsbehandlung auch gegen den Willen des
Kranken gegeben?
Ort und Zeit: Untersuchender Arzt:
- 74 —
Nochmals das „Ferngefühl" (Fernempfindung) als Hautsinn.
Von M. Kunz.
Nachdem auch die Herren Dr. Krogius und Dr. Woeliflin, früher
Augenarzt am kgl. Central-Blindeninstitut in München und zur Zeit Do-
zent der Augenheilkunde an der Universität Basel, genügend nachgewiesen
haben, daß es sich beim „Ferngefühl" nur um Hautsinn handeln kann,
nachdem ferner Herr Truschel, zuerst in den „Kinderfehlern" (Aug. 1908) und
seither in der Exper. Pädagogik die Existenz eines taktilen und ther-
mischen Ferngefühls zugegeben hat und diese nie bestritten haben
will (!), steht meines Erachtens nur noch die Frage zur Erörterung,
welcher Hautsinn allein oder wesentlich in Betracht komme, der
Dracksinn allein, der Temperatursinn allein, beide zusammen, oder end-
lich, wie Dr. Woelfflin gestützt auf bestimmte Beobachtungen vermutet,
eine Hautempfindung für Strahlungen anderer Art. (Zeitschrift für Sinnes-
physiologie 1908 V. Prof. Dr. Nagel). Dr. Krogius schreibt alles der Wärme-
strahlung zu, obwohl er bei seinen (fernfühligen) Blinden durchschnittlich
feineres Druckgefühl gefunden hat, als beiden wohl nicht fernfühligen
Sehenden; nach meiner Ansicht, die durch neue Versuche mit Blinden
und Sehenden nur befestigt worden ist, beruht das Ferngefühl in erster
Linie auf dem Drucksinn, in zweiter auf dem Temperatursinn, falls
sich nicht Dr. WoelfFlins Annahme schließlich als richtig erweist. Er
schließt auch den Temperatursinn aus, will sich aber ein endgültiges
Urteil über den Drucksinn bis zum Abschluß seiner diesbezüglichen Ver-
suche vorbehalten; immerhin anerkennt er, daß ich eine auffallende Pro-
portionalität zwischen Drucksinn und Ferngefühl gefunden habe. Auch
hat er zwei pockennarbige Blinde entdeckt, die sich durch besonders
feines Ferngefühl auszeichnen. Dies stützt, wie neue „Funde" hier in
der Nähe, meine Ansicht, daß gewisse Erblindungsursachen, nicht aber
die Blindheit selbst, diese Hautsensibilität erzeugen. Da eine neue Ar-
beit Dr. Woelff lins bald druckfertig ist, werden wir nächstens mehr darüber
erfahren. Unter allen Umständen betrachtet also auch Dr. Woelftlin
die Haut als empfindendes Organ.
Die Hautsinne werden aber im allgemeinen Sprachgebrauch (nicht
in der Psychologie) unter dem Ausdruck Gefühl zusammengefaßt. Es
entspricht dies der ursprünglichen Bedeutung von „fühlen", d. h. tasten
mit der Hand. Die Germanisten Moritz Heyne und Kluge führten dies auf die
germanische Wurzel fol zurück, die wohl mit vola und dem französischen
voler (in der Hand verschwinden lassen, d. h. stehlen) verwandt ist.
Auch der Physiologe Prof. Dr. Zoth redet im Lexikon des Blinden-
wesens von Wärme- und Kältegefühl, wie dort m. W. auch ein Augen-
— 75 —
arzt über das „Ferngefühl" geschrieben hat. Ich habe den Ausdruck
nicht geprägt. Durch das Lexikon hat er aber in unseren Kreisen all-
gemeinen Kurs erhalten. Daß ich darunter nur eine Hautempfin-
dung verstehe, ist gesagt worden. Die Bezeichnung dieser Empfindung
durch „Fernsinn" halte ich für verfehlt. „Fernsinne sind alle die-
jenigen Sinne, vsrelche uns Fern Wahrnehmungen ermög-
lichen. Am weitesten trägt das Gesicht, dann das Grehör, dann der
Geruchsinn. Die Hautsinne kommen als Fernsinne erst in letzter
Linie in Betracht, weil ihre Tragweite ja sehr klein ist. Warum
sollen denn gerade diese — und ausschließlich diese — Haut-
sinne, einzeln oder zusammen, „Fernsinn" heißen? Im Lexikon des
Blindenwesens werden alle Fernsinne des Blinden, Gehör, Geruch und
Ferngefühl (Hautsinn) unter dem Namen „Fernsinn" zusammengefaßt.
Er erscheint dort also als Summe der Fernsinne. Um Verwechs-
lungen des Ganzen mit dem Teil, d. h. mit dem eigentlichen Ferngefühl,
das von manchen auch „Fernsinn" genannt wird, zu vermeiden, habe ich
dafür den Ausdruck Ostentierungsvermögen oder Orientation gewählt.
Solche Verwechslungen und „Unklarheiten", auf die Dr. Heller- Wien in
Hamburg gerne ein anderes Wort gereimt hätte, schaffen nur Verwir-
rung, besonders in Laienkreisen, in welche sie durch die Tagespresse
gelangen. Man dichtet dort den Blinden zu ihrem Schaden Kräfte an,
welche sie nicht besitzen.
Dasselbe gilt von der wohl noch unzutreffenderen Bezeichnung „6ter
Sinn", oder gar „x-Sinn". Man hat mir nun an anderer Stelle des be-
treff'enden Heftes entgegengehalten, daß gerade ein Arzt wie Javal be-
sonders zur Verbreitung des Ausdrucks „sixieme sens" (sechster Sinn)
beigetragen habe". Dies ist leider wahr. Prof. Javal, den ich persönlich
kannte und hoch schätzte, interessierte sich für die Frage des „sixieme
sens" erst nach seiner Erblindung, besonders als er diesen „sens",
der ja bisher jedem Blinden angedichtet wurde, an sich nicht
spürte. Als Blinder hat er auch nicht selbst experimentiert, sondern
sich auf das Studium der einschlägigen Litteratur und eine Umfrage bei
blinden Laien beschränkt, welche ihm nur ihre subjektiven Ansichten
mitteilen konnten und wohl in vielen Fällen auch ihr ganzes Orien-
tierungsvermögen mit dem eigentlichen Ferngef ühl , das Ganze
mit dem Teil, verwechselten. Auch Dr. Woelfflin weist darauf
hin. Javal schrieb übrigens den Ausdruck „sixieme sens", wie er im
ersten Satze dieses Kapitels selbst sagt, nur zagend oder zögernd
nieder, offenbar, weil er selbst nicht daran glaubte, aber in der franzö-
sischen Sprache nichts Besseres fand. Auch verstand er darunter, wie
aus dem folgenden Satze hervorgeht, nicht das, was wir mit Mells
— 76 —
Lexikon „Ferngefühl" nennen, sondern die ganze Orientation.
Dieser Satz lautet: „Ce n'est pas sans appre-hension que j'ai inscrit les
mots „sixieme sens" en tete de ce chapitre, car il est fort possible que
les faits dont il va etre question. soient justiciables de l'emjÄoi des cinq sens".
Wenn die 5 Sinne nach seiner Meinung zusammen wirken können,
handelt es sich für ihn also nicht um das Femgefühl allein. An einen
besonderen, ,,neuen", ^sechsten" Sinn hat er also nicht geglaubt. Daß
nur Berufsphysiologen das Problem endgültig lösen werden, gebe ich
Herrn Truschel gerne zu. Warum hat er dann aber diese physiolo-
gische Frage in einer pädagogischen Zeitschrift erörtert ? Warum
hat e r ferner an so vielen Stellen kategorisch behauptet, es
gelöst zu haben? Ist er, der als junger Seminarabiturient ca. 2^/2
Jahre lang Blindenlehrer war und dann zur Volksschule überging, als
er die Dienstprüfung bestanden hatte, wirklich dieser „weisere, ver-
sprochene Mann", dieser Berufsphysiologe? Lesen wir doch unter seinem
Namen im III. Bande, Heft 3 u. 4 dieser Zeitschrift : (Ich folge dem Se-
paratabdruck).
1. S. 126: „Ich beanspruche deshalb für die vorstehenden Aus-
führungen vorläufig nur bewiesen zu haben etc."
2. S. 128: „Hautreize, soweit sie durch eine Binde ausgeschaltet
werden können, sind an den x-Empfindungen nicht beteiligt";
3. S. 130 : Nach Ausschluß der taktilen kalorischen und
visuellen Reize kommen nur noch Gehörreize in Betracht" ;
4. S. 139 : „Der Annäherungsluftstrom i s t an den x-W eilen nicht
beteiligt" ;
5. 141: „Reflektierte Schallwellen sind der hauptsächlichste Reiz-
faktor der X-Empfindungen";
5. S. 148: „Damit ist der Nachweis gelungen, daß auch
die angeblich „andern Reize" , die nur auf ganz geringe Entfernung
wirken, au8Scblies»Ueh reflektierte Schallwellen sind"; (Man
beachte „auch" und „sind").
6. S. 149: „Der sogenannte sechste Sinn der Blinden
beruht ausschließlich auf der Erregung der Grehörsor-
gane durch reflektierte Schallwellen"! (Anmerkung: Die
man mit der Haut wahrnimmt!)
7. S. 153 : . . . „(ich) wiederhole nur die Feststellung: „Ver-
änderungen in der Tonhöhe sind das Hauptkriterium für die x-Emp-
findungen etc.""
8. S. 157: „Von einem allgemeinen Hautsinn kann aelbstver-
ständlich nicht mehr die Rede sein, da die Haut an den x-Empfin-
dungen nicht beteiligt ist".
— 77 —
Wie paßt nun dazu die später (Kinderfehler u. Exp. Pädag.) erfolgte
Anerkennung zunächst eines taktilen und dann auch eines ther-
mischen Ferngefühls, dessen Existenz er nie bestritten haben
will ? (! !) Wie paßt ferner die später wieder erfolgte Behauptung, daß
er seinen Standpunkt nicht gewechselt habe? Nachdem den Blinden
(allerdings nicht allen) so das taktil-thermische Ferngefühl ge-
stattet ist, hätten sie für sein x-II überhaupt keine Verwendung mehr !
Sein x-I heißt bei andern Leuten Grehör.
In Hamburg und in seinem „Bericht" über den Hamburger Blinden-
lehrerkongreß in der Exper. Pädagogik, in welchem der Nichtblindenlehrer
Truschel nur ca. ^/s des Raumes seiner Person widmet, hat er dann verschie-
dene der obigen Behauptungen in beleidigender Form einfach bestritten
und auch im „Bericht" Behauptungen aufgestellt, die völlig „unzutref-
fend" sind. Ich verweise auf meine Antwort im Hamburger Kongreßbericht.
H. Truschel polemisierte in Hamburg, allerdings unter dem Vorwande zu
Herrn Dr. Fischers Vortrag (Vortrag über die Raumvorstellungen der
Blinden) zu sprechen, schon gegen mich, ehe ich als Referent ein
Wort gesagt hatte. Seinen Ausführungen schrieb er dann in der
Exp. Pädag. folgende Wirkung zu:
„Durch die unmittelbar vorausgehenden Ausführungen (Truschels) und
namentlich den Hinweis auf das hinfällige Fundament seiner Arbeit
veranlaßt, begnügte sich der Vortragende (Kunz) mit einer kurzen
Darstellung der Hauptergebnisse seiner Untersuchungen, deren leitende
Gedanken mit den Thesen in das Kongreßprogramm aufgenommen worden
waren".
Dieser Behauptung widerspricht, wie Herr Truschel selbst weiß, den
Tatsachen. Ich hatte seine Ausführungen beinahe ganz überhört,
weil ich während desselben im Seitenschiffe des Saales stand, war also
nicht darüber erschrocken, sondern nur über die sonderbare Handlungs-
weise erstaunt.
Dann hätte mir doch die Zeit gefehlt, um nach seinen unmittel-
bar vorausgehenden Äußerungen meinen Vortrag nochmals umzu-
arbeiten! Endlich fühlte ich das Fundament meiner Arbeit durch seine
Behauptungen so wenig erschüttert, daß ich dieselben völlig ver-
gaß und deshalb in meiner „Antwort" mit Stillschweigen überging. Mit
seiner Behauptung ist es also, wie schon oft, nichts.
„Die Raumschwellenmessungen Griesbachs bildeten das Hauptfunda-
ment meiner früheren Arbeit „Zur Blindenphysiologie". Daß dieselben
für die Frage des Ferngefühls bedeutungslos waren, habe ich auf Seite
161 meiner ersten Arbeit über ^Orientierungsvermögen und Ferngefühl"
gesagt. Sie haben mich aber, wie auf derselben Seite zu lesen ist (auch
- 78 —
Jubiläumsbuche Seite 328), zur Prüfung des Drucksinns geführt.
Diese Prüfung hat nun ergeben, daß der Drucksinn, das intensive
Empfinden, mit dem eigentlichen Tastvermögen, dem extensiven
Empfinden (Raumschwellen), nicht nur nicht im Zusammenhang
steht, sondern demselben umgekehrt proportional zu sein
scheint.
Diejenigen Hautstellen (ich habe bei rund 40 Personen je 20 Haut-
stellen geprüft), welche von Natur kleine Raum schwellen, also relativ
feines Getast aufweisen, wie Lippen und Fingerspitzen, sind für
Druck hart fühlig; diejenigen dagegen, welche von Natur große
Raumschwellen, also schlechten Tastsinn zeigen, wie Stirn und Wangen,
erweisen sich als für Druck sehr feinfühlig. Die Raumschwellen
der Fingerspitzen schwanken bei Vollsinnigen und Taubstummen zwischen
1 und 2 mm. Sie steigen nur an der abgestumpften Lesefinger spitze
der Blinden bis auf 3 mm. Auf der Stirn dagegen betragen die Schwellen-
längen 5 — 10 mm.
Für Druck sind die Hände, besonders die Fingerspitzen, 100 bis
mehr als 500 mal hart fühliger als die Stirn. Femfühlige Personen
spürten auf der Stirn, die noch viel weniger druckempfindlich ist als
die innere Ohrmuschel und besonders das freiflattemde Trommelfell,
regelmäßig einen Druck von 1 Milligramm (ohne daß Druckpunkte ge-
sucht wurden), während für ihre Fingerspitzen 100 — 500 und mehr IVIilli-
gramm erforderlich waren! (Zu vergleichen meine Drucktabellen 1—8).
Dr. Krogius, der (nach Herrn Truschel) die Ergebnisse Griesbachs
umgestoßen haben soll, hat keineRaumschwellen, sondern nur den
Drucksinn von 20 Personen an je 2 Hautstellen geprüft; Griesbach da-
gegen hat keine Druckversuche vorgenommen, aber bei 98 Personen
an je 7 Hauptstellen die Raumschwellen im Zustand der Ruhe und
nach leiblicher und geistiger Ermüdung gemessen. Ersterer hat
das intensive, letzterer das extensive Empfinden geprüft.
Die Forschungen beider bewegten sich also auf ganz verschie-
denen Gebieten. Ihre Ergebnisse konnten einander weder
nützen noch schaden!
Griesbachs Ergebnisse sind also weder durch Dr. Krogius, noch
durch Truschel erschüttert worden. Aber selbst wenn dies der Fall
wäre, so hätte es für die uns beschäftigende Frage keine Bedeutung,
weil sich meine Schlüsse auf eigene Versuche stützen. Da Herr Tru-
schel von dem durch ihn erschütterten Fundament meiner Arbeit
spricht, wird es mir gestattet sein, das Fundament seiner Behaup-
tungen etwas näher anzusehen. Seine Schlüsse stützen sich wesentlich
auf Gehbeobachtungen, die er zwischen 1901 und 1903 in unserem
— 79 —
Garten, also in einem Gebiete, welches die Blinden genau kannten, ge-
macht haben will. Er behauptet (Band III, S. 136), daß beim Gehen
neben schräg zur Ganglinie stehenden Wänden, die ersten Wahrneh-
mungen „ausschließlich" „erst erfolgten, nachdem die Blinden der
Reflexionsfläche rechtwinklig gegenübergetreten waren, d. h. erst dann^
wenn die von ihrem Standort an die Fläche gezogene Linie mit deren
Breitenachse (soll wohl heißen Längenachse) annähernd einen rechten
Winkel bildete''. Daß dies nicht zutrifft, sondern daß die ersten
und letzten Wahrnehmungen fast immer, bei der letzten Versuchsreihe
mit besserer Einrichtung überhaupt immer, z. T. weit vor diesem
Punkt und auch weit hinter dem letzten möglieben Lot auf die Wand
erfolgten, daß somit der angeblich rechte Winkel bis auf 30" ein-
schrumpft, haben wir durch zahlreiche Versuche mit entsprechender
Einrichtung u. z. T. mit seinen eigenen Versuchspersonen, immer vor
Augenzeugen, genügend nachgewiesen. Ich verweise auf das Internat.
Archiv für Schulhygiene, Band IV, S. 102 — 128 und auf das Jubiläums-
buch der Anstalt, Folioseitn 295 — 310.
Aus dieser Feststellung konstruiert dann Truschel den Satz (Exper.
Pädag. Bd. VII S. 99), Kunz habe behauptet: „Nie sei bei diesen Ver-
suchen eine Wahrnehmung an dem Punkt erfolgt, an dem reflektierte
Schallwellen hätten wirken müssen".
Ich habe aber nur gesagt, daß sie nicht da erfolgten, wo sie nach
Truschels Behauptung ausnahmslos erfolgt sein sollten und wo sie
nach seiner Theorie erfolgen müßten. — Er verdreht also
meine Worte. Und doch erlaubt sich derselbe Herr auf S. 101 die Be-
merkung: „Und was er (Kunz) als Ergebnis der Untersuchungen T.s
bezeichnet, ist sehr oft das Gegenteil von dem, was T. in Wirklichkeit
behauptet hat*.(!!) Das Urteil über solche Kunststücke überlasse ich
dem Leser.
H. Truschels Gehversuche halte ich für wertlos, sein Fundament ist.
hinfällig aus folgenden Gründen:
1. H. Truschel lief nach seinen Angaben unmittelbar hinter deu
Blinden her, weil diese auf dem Rasen keine gerade Ganglinie einhalten,
konnten. Wenn wir auch annehmen wollen, daß er sie in keiner Weise
beeinflußt habe, so konnte er doch nie wissen, ob die Versuchsper-
sonen die von ihnen selbst, oder aber die von ihrem Begleiter
ausgehenden Wellen irgend welcher Art spürten.
2. Da ich von diesen diskreten Versuchen nichts wußte, fehlte die
erforderliche Einrichtung.
3. Furcht vor Entdeckung durch die Kollegen, die aUe intern sind^
mag die „Versuche" auch zuweilen etwas beschleunigt haben. So erkläre
ich mir wenigstens teilweise das völlig falsche Ergebnis.
— 80 — \
Als teils falsch, teils einseitig hat auch ein ärztlicher Forscher auf.
diesem Gebiete die Versuche bezeichnet.
Wir haben die Versuche mit einer größeren Zahl von Blinden auf i
unbekanntenGebi'eten, immer vor Augenzeugen, mit zweckdienlicher j
Einrichtung gemacht. Die Blinden wurden nicht begleitet, sondern i
gingen allein an straff gespannten Seilen. Wir traten erst hinzu, wenn
sie die Wahrnehmung der dort aufgestellten Bretterwände markierten.
(Näheres darüber in meiner früheren Schrift im Internat. Archiv und im^
Jubiläumsbucb).
Völlig falsch ist femer Truschels Behauptung, daß bei absoluter j
Stille nie Wahrnehmungen erfolgen. In Wirklichkeit ist es, wie jeder]
femfühlige Blinde weiß, gerade umgekehrt.
Die Versuche im nächtlichen Zimmer, die mit einigen Blinden — ;
viele können es nicht gewesen sein — vorgenommen worden sein sollen,^
haben in meinen Augen keinen Wert aus folgenden Gründen: :
Das Zimmer war viel zu klein. Die Versuchsperson stand ein bis;
höchstens 2 Meter von den Wänden entfernt. Der Experimentator!
stand neben ihr und führte die kleinen Gegenstände (Buch, Hut etc.) mit
der Hand vor das Gesicht. Was spürten nun die Blinden? Die kleinen;
Gegenstände, den Arm oder die ganze Person des Experimentators,-
oder vielleicht die viel größeren Wände? Der Einfluß der Größe:
der Objekte ist ja bekannt. Deshalb haben wir immer im größten ver-;
fügbaren Eaume (Turnsaal, Versamndungssaal) experimentiert und diei
Objekte (Filz-, Glas-, Holzplatten) mit einer dünnen Stange in die Nähe^
der Köpfe der Versuchspersonen gebracht. Der Experimentator nähertei
sich ihnen höchstens auf 2 Meter. Dr. Woelfflin experimentiert z. Z.j
im größten Saale (Musiksaal) Basels, weil ihm ein sehr großer Raum,;
den er früher benutzte, noch zu eng vorkam. Allerdings läßt er diej
Versuchspersonen gegen 1 qm große Platten gehen, statt ihnen diese ^
langsam zu nähern. Beim Gehen gegen größere Hindemisse (Zimmer-:
wände, belaubte Bäume etc.) wirken diese großen Objekte allerdings vielj
weiter, als wenn man kleinere Gegenstände den Köpfen langsam nähert.
Dies haben auch unsere Gehversuche bei Bäumen gezeigt. Wir haben j
Wahrnehmung belaubter Bäume an 7 — 12 Meter verzeichnet (Internat.;
Archiv, Jubiläumsbuch). I
Unter allen Umständen fühlte ich in Hamburg nicht mein Fun-
dament wankend oder gar hinfällig werden, wohl aber ein anderes.
Truschel wirft mir im „Berichte" über den Hamburger Kongreß'
falsche Zitate vor. Ich habe in meiner Antwort (s. amtlicher Kongreß-^
bericht) Punkt für Punkt nachgewiesen, daß diese Behauptung völlig den Tat-j
Sachen widerspricht. Dagegen habe ich dort auch gezeigt, wie Herr Truschel«
— 81 —
Stellen zitiert, die ihm nicht recht passen. So führt er S. 113 nach Javal die
Aussage eines „Dritten" an, welcher glaubt, diese Empfindung (das Fernge-
fühl) sei eher taktil als akustisch. Es paßt ihm aber natürlich nicht zu
sagen, daß dieser „Dritte" ein erblindeter Arzt war, der an einem
Ohr auch das Grehör fast vollständig verloren hatte, ob-
gleich beide Trommelfelle normal waren, und der doch die Gegenstände
auf beiden Seiten ganz gleich wahrnahm! Aus dieser Tat-
sache hatte der betreffende Arzt den Schluß gezogen, daß le „sens des
obstacles", das Ferngefühl, eher taktiler als akustischer Natur sein
müsse. Das paßte natürlich nicht zur Schall well enhypothese ! So zitiert
er! Javal hatte diese Mitteilung dem Buche des Engländers William
James entnommen, der den betreffenden Arzt kannte. — Dies beweist
zugleich auch, daß die Schallwellenhypothese, wie auch Woelfflin betont,
nicht neu und die Hautsinntheorie nicht „alt" ist, wie Herr Truschel
immer behauptet. Allerdings habe ich sie nicht „erfunden^. Die Schall-
hypothese scheint in England entstanden, dort aber auch völlig aufge-
geben zu sein, wenn der Bericht des Blindenfreundes über den Kongreß
in Manchester, wo diese Frage zur Erörterung kam, richtig ist. Kein
Redner soll sich für dieselbe ausgesprochen haben, so wenig als in Ham-
burg (außer Truschel). Sie war einfach eine Folge der Verwechslung
des Ferngefühls mit dem ganzen Orientierungsvermögen (Femsinn),
bei welchem das Gehör als solches die Hauptrolle spielt, während
das Ferngefühl von untergeordneter Bedeutung ist. Blinde ohne Fern-
gefühl orientieren sich oft viel besser als andere.
Herr Truschel hat auch geschrieben: „Herr Kunz unterschiebt mir
femer die Ansicht, ein starker Wind sei diesen zarten Schallwellen ge-
genüber macht- und harmlos. Und ähnliche Bemerkungen finden sich
bei Kunz an vielen anderen Stellen. Ich habe aber geschrieben S. 124:
„Ein heftiger geräuschvoller Windstoß muß die sehr schwachen X-Reize
übertäuben".
Eine ähnliche Stelle wie die letzte finden wir auf der unteren
Hälfte der S. 124 des III. Bandes. Ich hatte sie nicht übersehen. Zehn
Zeilen weiter unten folgt dann aber das Schlußergebnis seiner Wind-
forschung , und dieses lautet : „Den günstig wirkenden, d. h.
dickeren und näher stehenden Objekten gegenüber kamen
übrigens, wie Tabelle A zeigt, „Fehler" auch bei starkem
Wind so selten vor, daß von einem wesentliehen Einfluß des
Windes schon aus diesem Grunde keineRede sein könnte".
Gestützt auf dieses Schlußergebnis Truschels habe ich ge-
schrieben :
„Dem Winde will Truschel „keinen wesentlichen" Einfluß
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 6
— 82 —
auf die Oritation zugestehen (als Prüfung des eigentlichen Ferngefühls
betrachte ich Gehversuche, bei denen alle Sinne mitwirken können,
nicht). Dieses spricht meines Erachtens mehr gegen seine akustische
Theorie als gegen unsere Annahme. Wir wissen, daß starker Wind die
direkten Schallwellen des lautesten Pfiffes oder Rufs bedeutend schwächt
und ablenkt, ja sogar eine Flintenkugel aus ihrer Bahn bringt, und diesen
„schwachen", „zarten", nur „vom Tagesgeräusch herrührenden" reflek-
tierten Schallwellen gegenüber sollte starker Wind macht- und harmlos
sein ? ! "
Wer findet da eine Unterschiebung von meiner Seite?
Ahnlich verhält es sich mit seiner Behauptung, nicht gesagt, d. h.
geschrieben zu haben, „es sind Schallwellen". (Man vergleiche Band IV,
S. 142.)
Ich könnte noch eine lange Reihe ähnlicher „Verwechslungen" auf-
zählen, will aber, um den Leser nicht zu ermüden, meine „Antwort" im
amtlichen Kongreßberichte hier nicht wiederholen. Nur auf einen Punkt
muß ich leider noch eingehen. Da von Unterschiebungen die Rede war,
die ich begangen haben sollte, bin ich genötigt, noch auf eine Unter-
schiebung hinzuweisen, deren ich mich nicht schuldig gemacht habe.
Herr Truschel hat sich in den „Kinder fehlem" und in der Exper.
Pädagogik Bd. VII S. 107 auf das Stenogramm der Debatte im offi-
ziellen Kongreßbericht berufen^), während gerade er am allerbesten
und zu allererst, nämlich schon ca. eine Viertelstunde nach Beginn
der Debatte, wußte, daß es ein solches Stenogramm nicht
gab und nicht geben würde!! Über die Entstehung, dieser beim
Kongreßpräsidium als Stenogramm „eingereichten" Redaktion, die zwischen
dem 27. Sept. und dem 26. Oktober 1907 in Straßburg entstanden ist,
spricht sich das Kongreßpräsidium im offiziellen Berichte, S. 175 sehr
mild folgendermaßen aus:
S. 175: Da der Stenograph den Debattereden des Herrn Truschel
nicht folgen konnte, traf er ohne Wissen des Präsidiums die Vereinba-
rung mit dem Redner, daß dieser ihm nach den Verhandlungen seine
Notizen zur Vervollständigung des Stenogramms übergeben sollte. Dies
ist aber nicht geschehen. Vielmehr ist das Stenogramm, wie sich nach-
träglich herausgestellt hat, in der Weise zustande gekommen, daß Herr
Truschel selbst die wenigen stenographischen Aufzeichnungen in den
auf den Kongreß folgenden Wochen ergänzt hat. Daher können wir für
den genauen Wortlaut der TruscheVschen Debattereden nicht einstehen.
1) Er schreibt dort: „Es liegt jener Behauptung eben ein mehrfacher Irrtum zu
Grunde, der (nach demKongreßstenogramm) in der Debatte wie folgt besprochen
wurde".
— 83 —
Auch haben wir uns veranlaßt gesehen, einige nicht rein sachliche Be-
merkungen des Herrn Truschel zu streichen. D. Pr.
Auf Seite 181 finden wir dann noch folgende auf die Sache sich be-
ziehende Bemerkung des Präsidiums :
S. 181 : Von den Erwiderungen des Prof. Kunz, die rein sachlich
gehalten waren, hat der Stenograph so wenig wiedergegeben (22 Zeilen),
daß wir es diesem Referenten anheimstellen mußten, nach freiem Er-
messen Truschels Vorwürfe, die sich wesentlich nicht gegen seinen Vor-
trag, sondern gegen seine Schrift wenden, zurückzuweisen. Die Kunz*
sehen Entgegnungen sind selbstverständlich nicht als ergänztes Steno-
gramm anzusehen ^) und darum im Anhang erschienen. D. Pr.
Nach einem Briefe des Stenographen an die Kongreßleitung muß die
oben genannte Vereinbarung schon nach der ersten Debattenrede
Truschels, die 10 Minuten dauerte, erfolgt sein, also, wie gesagt, ca. eine
Viertelstunde nach Beginn^).
Höchst wahrscheinlich ist also von Herrn Truschels erster Rede so
gut wie nichts und von den 2 folgenden garnichts stenographiert worden !
Sonderbar ist nur, daß die „Vereinbarung" Herrn Truschels mit dem
Stenographen ohne mein Vorwissen, vielleicht nur durch letzteren, auch
auf mich ausgedehnt worden zu sein scheint. Denn auch über meine
erste Antwort finden wir im Bericht nur eine kurze Notiz; die zweite
ist mit Stillschweigen übergangen und am Schlüsse finden wir wieder
einige Zeilen, im Ganzen 22, als Stenogramm meiner dreimal 10 Mi-
nuten in Anspruch nehmenden Antworten. Ich wußte dies natürlich
nicht, wäre also im Kongreßbericht nicht zum Wort gekommen, mundtot
gemacht worden, wenn der ganze Hergang nicht rechtzeitig „sich heraus-
gestellt" hätte. Die paar Notizen des Stenographen über Herrn Truschels
Reden haben sich dagegen in Straßburg zu 39 Folioseiten in Maschinen-
1) Das heißt: Kunz hat seine nachträgliche Redaktion nicht als ergänztes Steno-
gramm ausgegeben. — M. K.
2) In der Februarnummer 1909 erschien dazu folgende Erklärung Truschels : „Unter
Bezugnahme auf die »Antwort« des Herrn Professor Kunz im Anhang zum Hamburger
Kongreßbericht erkläre ich hiermit:
Daß ich dem Stenographen nicht mein Manuskript in Aussicht gestellt habe,
sondern daß er mich gebeten hat, mir seine Notizen zur Vervollständigung senden zu
dürfen, da er »wegen des hochwissenschaftlichen Stoffes, der raschen Sprechweise und der
mehrfachen Heranziehung französischer Autoren« nicht wörtlich hätte folgen können". —
Dies ändert nichts an der Tatsache,
1. daß eine Vereinbarung bestand, von der sonst niemand etwas wußte.
2. daß sich Herr Truschel auf die so in Straßburg entstandene Redaktion, die
kein Stenogramm ist, als auf ein Stenogramm berufen hat. —
6*
— 84 — \
scbrift ausgewachsen. — Und das nennt man Stenogramm — und|
noch dazu in wissenschaftlichen Zeitschriftenil j
Am 29. Oktober 1907 wurde dieses Pseudostenogramm im|
Naturwissenschaftlichen Verein Mülhausen mit allen persönlichen An-j
würfen, die später z. T. durch das Kongreßbureau gestrichen wurden, :
durch einen Freund Truschels als aus Hamburg eingegangene)
Abschrift des Stenogramms verlesen, während es erst am:
30. Oktober dem Kongreßpräsidium zu Gesicht kam! Ich]
erfuhr dies und anderes, weil ich am 30. Oktober auch eine Abschrift;
verlangte. — So hat sich denn, wie das Kongreßpräsidium milde sagt,:
„nachträglich herausgestellt", wie und wo das sogenannte Steno-
gramm entstanden ist. Seit dem Erscheinen des Kongreßberichts;
hat sich Herr Truschel m. W. nicht mehr auf das „Stenogramm" berufen.^
Leider verfüge ich nicht über die nötige „parlamentarische*' Schulung,!
am solche Kunstgriffe in passenden Ausdrücken zu würdigen. i
Ich glaube aus obigen und anderen Grründen nur, daß es ihm schlecht!
anstehe, mir falsche Zitate, Entstellungen und Unterschiebungen vorzu-i
werfen, ohne auch nur eine von seinen Behauptungen beweisen zu können.j
Ein in der Erregung gesprochenes „unzutreffendes" und ungerechtes i
Wort kann übersehen werden. Wenn man aber 4 Wochen Zeit hat, umi
ein „Stenogramm" anzufertigen, sollte es möglich sein, bei den »Tat-
sachen" zu bleiben.
(Ich verweise nochmals auf meine Antwort im Anhange zum offi-i
ziellen Kongreßbericht, S. 347 — 382). Abgesehen von dieser Antwort,;
die wohl fast nur in die Hände von Blindenlehrern gelangt, habe ich]
bis jetzt zu allen seinen Anwürfen geschwiegen. Ihre Fortsetzung in;
dem Archiv für gesamte Psychologie zwingt mich nun aber zu dieser]
Gegenwehr. Ich bin sie meiner Ehre schuldig! Mehr steht zur Ver.-!
fügung. — Nun zur Sache! j
Vorerst stelle ich mit Vergnügen fest, daß Dr. Krogius (wie Dr.^
Woelfflin) durch eigene Versuche zu der Überzeugung gekommen;
ist, daß reflektierte Schallwellen als Erreger des Femgefühls nicht an-;
gesprochen werden dürfen, sondern daß dasselbe, wie ich immer ange*|
nommen habe, auf dem Haatsiiin, d. h. auf einem dieser Hautsinne be-
ruht. — Ich habe (S. 179, Band IV des Internat. Archivs für Schul-
hygiene V. S. 338 des Jubiläumsbuchs unserer Anstalt) geschrieben: „E^
(das Femgefühl) beruht also meines Erachtens" — (es ist dies keine kate-
gorische Behauptung) — „in erster Linie auftaktilen, in zweiter au£
thermischen Reizen, also auf dem Haut sinn". In diesem Punkt stimmen;
wir also miteinander und mit Dr. Th. Heller und mit Dr. Woelfflin und!
den bewährtesten Blindenlehrern überein. — •
— 85 —
Direktor Heller -Wien und Direktor Fischer - Braunschweig haben
diesen Standpunkt in Hamburg entschieden und mit guten Gründen
verteidigt, wenn Truschel auch in der Exper. Pädag. behauptet hat, es
sei außer ihm und dem Referenten niemand auf den Kern der Sache
eingegangen. Kein Redner hat für Truschels Ansicht ein Wort gesagt.
— Beide genannten Kollegen haben in Hamburg, wie schon früher,
psychologische Vorträge gehalten, sind also nicht Neulinge. Direktor
Fischer sagte dort in der Debatte:
„Grehörempiindungen werden im Grehörgang nicht lokalisiert,
(d. h. nicht örtlich empfunden) , ebensowenig wie Lichtempfindungen im
Sehorgan, etwa auf der Netzhaut. Lokalisiert werden nur die Empfin-
dungen des Haut- oder Tastsinns auf den gereizten Hautpartien, also
nur Empfindungen taktiler Natur. Sobald wie nun Empfindungen im
Gehörgang oder auf dem Trommelfell verspürt werden, findet doch eine
Lokalisation dieser Empfindungen statt; diese können daher nur
taktiler, nicht akustischer Art sein. Gerade in der Lokalisation
solcher Empfindungen, die viele Blinde (Anmerkung: und sehr gebildete
Sehende) z.B. auf das Trommelfell verlegen, sehe ich einen sichern
Beweis dafür, daß hier nur Tastreize der betrefienden Hautpartien
im Ohr stattfinden und nicht akustische Reize. — Wären es akustische
Reize, von Schallwellen herrührend, dann fände ja keine Lokalisation statt."
Mir scheint, es treffe dies, trotz Truschel, den Kern der Sache.
Truschel antwortete Herrn Fischer nach seinem „Stenogramm":
„Herrn Fischer will ich nur kurz erwidern, daß Krogius eben die
Lokalisationsfähigkeit der Gehörsorgane sehr sorgfältig geprüft und
darin eine doppelte Überlegenheit der Blinden festgestellt hat."
Diese Antwort, wenn sie so lautete, beweist nur, daß H. Truschel
Herrn Fischer nicht verstanden hat. Dr. Krogius hat die Lokali-
sation der Seliallqaellc, nicht aber die nicht existierende Lokali-
sation der Schallreize im Trommelfell geprüft. Keinem Menschen, der
Musik hört, fällt es einzusagen: „Ich empfinde Musik im Trommelfell",
oder gar : „Ich spüre die Baßgeige oben, die Flöte unten, die Trompete
links und die große Pauke rechts im Trommelfell", wie auch kein
Mensch, der einen Lanzenreiter vor sich hat, sich veranlaßt fühlt zu
sagen: „Ich spüre eine Lanzenspitze unten in der Netzhaut und 4 Pferde-
hufe oben". — Schal]reize werden im Trommelfell ebenso-
wenig lokalisiert als Lichtreize in der Netzhaut. Auch
Wilde und Tiere hören und sehen, ohne von Trommelfell und Netzhaut
etwas zu wissen. Wenn sich aber ein Insekt auf unser Gesicht setzt
oder in ein Ohr kriecht, dann empfinden wir den Reiz an der be-
treffenden Stelle. Die Haut lokalisiert also Tastreize.
— 86 -
Da nun alle fernfühligen Personen, mehrere gebildete Sehende voran,
das Ferngefühl auf der Haut, sehr oft zuerst im Trommelfell
lokalisieren, so kann es sich dabei, wie Fischer trefflich bemerkt
hat, nur um taktile Reize handeln — und zwar höchst wahr-
scheinlich in erster Linie um Druckreize; denn daß das Trommelfell
thermische Reize lokalisiere, ist mir nicht bekannt. —
Es ist bedauerlich, daß Herr Truschel Herrn Dr. Fischer nicht
verstanden hat!
Letzterer hat zur Klärung fast so viel beigetragen, als Herr
Truschel durch seine vielen falschen Behauptungen und seine Verquickung
des Gehörs mit dem Ferngefühl (x Reize I + x Reize 11 = x-Sinn) zur
Verdunkelung.
Dr. Th. Heller hat schon in seiner Blindenpsychologie, obwohl er
das heutige Beobachtungsmaterial noch nicht kannte, das Gehör als
solches scharf vom Ferngefühl getrennt. Dr. Woelff lin weist mit fol-
genden Worten darauf hin : „Heller nimmt wohl mit Recht an, daß, so-
bald dem Blinden durch sein Gehörorgan die Annäherung eines Hinder-
nisses vermittelt werde, er mit doppelter Aufmerksamkeit auf kommende
Druckempfindung in der Stirne (spezielle Lokalisationsstelle des
Femsinns (Ferngefühls)) achten werde". Er schreibt mit Heller dem
Gehör die Funktion eines „Signalapparats" zu.
Ich selbst habe diesem Gedanken in meiner vor 8 Jahron entstan-
denen, heute in 6 Sprachen vorliegenden Schrift „Zur Blindenphysiologie"
folgenden Ausdruck gegeben : „Der Schall der Schritte, welcher in der
Nähe einer Wand sich ändert, hat als Warner vielleicht größere
Wichtigkeit, wenigstens setzt er früher ein, als die Druck-
empfindungen der Gesichtshaut. Die Unsicherheit, welche bei unge-
wohnter Bedeckung des Zimmerbodens oder des Erdbodens (Schnee)
eintritt, beweist dies".
Truschel dagegen behauptet S. 163: „Die Geruchs- und die gewöhn-
lichen Gehörsempfindungen sind hierbei (nämlich bei der Orientation)
von untergeordneter Bedeutung. Um so wichtiger ist der x-Sinn".
Sein x-Sinn No. 1 soll aber auf der Unterscheidung der Tonhöhe
(hauptsächlich in den Trittgeräuschen) beruhen, die bei der Annäherung
an Wände etc. angeblich zwischen einer Sekunde und einer Septime
schwanken (!). Wer solche Intervalle zu unterscheiden vermag, der muß
also nach seiner Theorie den x-Sinn I besitzen. — Ich glaube deshalb,
daß es sehr viele x-sinnige Menschen gebe. Diesen x-Sinn, bei dem
das X tiberflüssig ist, nennen andere Leute Geli9r und seine »x-Reize
No. I" ^.gewöhnliche Gehörsempfindungen**, die von untergeord-
neter Bedeutung sein sollen. Für seine x-Reize 11, welche die Gehör-
— 87 —
Organe erregen, aber auf der Gresichtshaut lokalisiert werden
sollen, bleibt dann eben nur noch das zur Erörterung stehende
Ferngefühl (Fernempfindung) übrig!
Ich erlaube mir nun, auf die Kritik meiner Arbeiten durch Dr. Kro-
gius näher einzugehen und im Interesse der Bequemlichkeit des Lesers
seiner Stoffanordnung zu folgen!
Da Dr. Krogius Schallwellen als Erreger des Ferngefühls ausschließt,
halte ich seine Kritik der Grehörprüfungen Prof. Dr. med. Griesbachs,
dessen Ergebnisse ich gelegentlich zum Vergleich herangezogen habe,
für überflüssig. Griesbach wird ihm wohl selbst antworten. Jenen Prü-
fungen, die hier vor 10 Jahren zuerst unter Assistenz eines Ohren-
arztes stattfanden, habe ich beigewohnt, so oft die Zeit es mir erlaubte.
Von Gehörprüfungen sollte ein Ohrenarzt doch auch etwas verstehen !
Ich habe nur gesehen, daß dieselben mit der größten Gewissenhaftigkeit
ausgeführt wurden. Der einzige Fehler , der m. E. damals gemacht
wurde, bestand darin, daß man Blinde, deren Gehörorgane schwere De-
fekte aufwiesen, von der weiteren Prüfung ausschloß. (Auch Dr. Krogius
dürfte seine Versuchspersonen ausgewählt haben.) Hätte man z. B. das
Lokalisationsvermögen bei allen geprüft, so wäre die Inferiorität der
Blinden viel bedeutender gewesen. Unsere neuen Versuche haben dies
deutlich gezeigt. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Blindheit und
Taubheit oder Schwerhörigkeit sehr oft Hand in Hand gehen, d. h. auf
dieselben Ursachen zurückzuführen sind. — Wir haben hier seit
15 Jahren 8 Taubblinde unterrichtet. Dr. Love hat am letzten Hygieniker-
k(jngreß in London sogar behauptet, daß von 100 Taubstummen 60 nicht
normales Sehvermögen haben. Mit demselben Rechte darf man behaupten,
daß es unter den Schwachsichtigen und Blinden auch sehr viele (der
genaue Prozentsatz ist mir nicht bekannt), Schwerhörige, einseitig Taube
oder Stocktaube gibt. — Bei uns hat der Ohrenarzt fast so viel zu tun
wie der Augenarzt. — An eine Durchschnittsüberlegenheit des
Gehörs der Blinden über das der Sehenden glaube ich deshalb nicht.
Bei uns trifft das Gegenteil zu. — Wenn man die Blinden nicht nimmt,
„wie sie fallen" , d. h. wenn man die Versuchspersonen auswählt und
die Schwerhörigen von den Versuchen ausschließt, wird sich das Ergebnis
natürlich ändern. Solche Resultate sind aber nicht beweiskräftig. Wir
haben hier aUe diejenigen geprüft, deren Alter und Intelligenz sichere
Angaben voraussetzen ließen. Unser Ergebnis ist also ungeschminkt.
Griesbachs Lokalisationsprüfungen bei 28 Sehenden und 28 Blinden
bei offenen und abwechselnd verstopften Ohren sind auf den Seiten 49 — 51
des VII. Bandes beschrieben worden. Ich habe dort nur vergessen zu
sagen, daß nicht nur geblasen, sondern auch getrommelt, gepfiffen und
gerufen wurde, daß also nicht nur „Töne", sondern auch „Geräusche" loka-
lisiert wurden. — „Störende Obertöne" waren also bei den „Geräuschen"
ausgeschlossen. —
Nach dem Urteil von Sachverständigen haben diese Versuche vor
denen des H. Dr. Krogius den Vorzug, daß sie bei einem großen
Radius (ca. 50 Meter) vorgenommen worden sind, während dieser Eadins
bei den letzten Versuchsreihen des H. Dr. Krogius nur 1,5 Meter betrug.
— Man hat nun das Zeigen mit der Hand, das Griesbach anwandte,
beanstandet. Und doch sollen die russischen Blinden nach Krogius den
sich nähernden 8 cm dicken Glaszylinder durch den Temperatursinn
allein „lokalisiert^, also wohl auch mit der Hand angezeigt haben. Loka-
lisiert der Temperatursinn so genau? Und kann die Richtung luft-
warmer thermischer Strahlen mit der Hand genauer bezeichnet werden
als die des Schalls ? Ich habe mit mehreren Stockblinden derartige Ver-
suche bei warmem Sonnenschein gemacht, indem ich sie einfach fragte:
Wo steht die Sonne? Intelligente, 17 — 20jährige Blinde ließen zuerst
eine, dann die andere Gesichtsseite von der Sonne bescheinen und drehten
dann das Gesicht, bis es auf beiden Seiten gleichmäßig erwärmt wurde.
So vermochten sie die Richtung, wenn auch nicht die Höhe, annähernd
genau zu bezeichnen. Die Lokalisation beruhte also wesentlich auf Über-
legung, somit auf psychischen Momenten. — Jüngere, weniger über-
legende und intelligente Blinde dagegen waren nicht befähigt, die Rich-
tung der Sonne auch nur annähernd zu bestimmen. Wenn aber Blinde
nicht einmal die Richtung der brennenden Sonnenstrahlen auch nur an-
nähernd genau zu bestimmen vermögen, wird es mir schwer zu glauben,
daß der Temperatursinn allein zur Lokalisation eines 8 cm dicken, nur
luftwarmen Zylinders ausreiche. —
Um das beanstandete Zeigen mit der Hand bei den S c h a 11 - Lokali-
sationsprüfungen zu vermeiden, habe ich den Ort der Schallquelle rasch
verändert und nur angeben lassen: „Mehr rechts oder mehr links", oder
von rechts nach links" etc. — Nun soll mein Verfahren noch viel we-
niger taugen als das von Griesbach.
Daß der Radius, wie bei den Versuchen von Krogius, zu klein war,
gebe ich zu ; er war aber immer noch 66 % länger als bei seinen Klingel-
versuchen. Dann soll die Nichtbeachtung der Obertöne unser Ergebnis
stürzen ! Gibt es bei der elektrischen Klingel mehr oder weniger Ober-
töne als bei der Stimmgabel? Wie viel besser oder schlechter müßte
nach dieser Theorie eine Blechmusik oder ein Orchester lokalisiert werden
als einPfiif, weil die „Obertöne" schon von vornherein vorhanden wären I
— Wenn aber „Geräusche*^, wie Dr. Krogius sagt, besser lokalisiert
werden als „Klänge", dann müßten Schläge auf den Tisch, also Ge-
\
— 89 —
rausche, sicherer lokalisiert werden als die Stimmgabel — und die elek-
trische Klingel, die, wie der Name andeutet, doch auch „Klänge"
von sich gibt.
Ich habe es zuerst wirklich mit Klopfen auf den Tisch versucht,
fand aber diese Geräusche zu kurz. Deshalb habe ich nachher, d. h. bei
den aufgezeichneten Versuchen , Geräusche mit Tönen verbunden, indem
ich die schwere Stimmgabel der Klavierstimmer immer fest aufsetzte,
d.h. klopfte. Die Versuchspersonen hörten also zuerst den Schlag,
d. h. ein Geräusch, und erst nachher den Klang. Gewöhnlich erfolgten
auch die Antworten unmittelbar nach dem zweiten Schlage, der dem
ersten nach ca. V2 Sekunde folgte , so daß die Stimmgabel nicht aus-
klingen konnte.
Dieser Einwand des geehrten Herrn Gegners wird also wohl hin-
fälHg. —
Unsere Blinden lieferten bei einem Schallquellenabstand von 12 cm
und einem Radius von 2,5 m bei 36 Versuchen von vom und hinten,
mit offenen und abwechselnd verstopften Ohren nur 42,7 % richtige
Lokalisationen, die Sehenden dagegen 71 %. — Ich habe dies sehr na-
türlich gefunden, weil die Blinden nicht, wie die Sehenden, ihre Lokali-
sationen von Jugend auf mit den Augen prüfen und berichtigen
können. — Sie wissen, wenn die Schallquelle außerhalb ihres Berührungs-
kreises liegt, nie, ob sie richtig oder falsch lokalisiert haben. Darunter
muß ihre Sicherheit leiden.
^ Rp.rr Dr. Krogius läßt auch durchblicken, daß er mich im Verdacht
hat, das Resultat durch „hörbares Aufsetzen der Stimmgabel" zu Gunsten
der Sehenden ä la Riccaut de la Mar liniere etwas „korrigiert" zu haben.
Nein, mein Verehrter ! Dies ist nicht geschehen ! Ich habe , wie schon
gesagt, die Gabel immer fest, klopfend aufgesetzt. Augenzeugen
und „Konkurrenten" hätten sich solche Kniffe übrigens nicht gefallen
lassen. Warum sucht aber Herr Dr. Krogius mich „hinter dem Ofen"?
Eher ließe sich annehmen, die Blinden hätten zwischen den Wim-
pern durch geblinzelt. Ich achtete aber darauf , daß die Augen fest
geschlossen waren. Übrigens fanden ja mit jeder der 40 zu den Loka-
lisationsversuchen herangezogenen Personen, abgesehen von der Vor-
prüfung, je 36 Versuche statt, je 6 von vorn mit offenen und abwech-
selnd verstopften Ohren, und ebenso 3x6 von hinten. Sobald die Se-
henden mir den Rücken kehrten, konnten sie doch meine Hand nicht
sehen! Und doch betrug der Unterschied zwischen der Zahl der rich-
tigen Lokalisationen von vom und von hinten bei den Sehenden nur
2,4^,0, bei den Blinden aber 4,3 ^/o. — So sehr stark kann also doch
nicht zu Gunsten der Sehenden „gemogelt" worden sein.
- 90 —
Für mich bleibt also die Tatsache bestehen, daß Dr. Krogius seine
blinden Versuchspersonen aasgewählt hat, oder daß die russischen
Blinden infolge wesentlich anderer Erblindungsursachen
durchschnittlich anders geartet sind als ihre mitteleuropäischen
Leidensgefährten. — Vielleicht trifft auch beides zu.
Ich verstehe übrigens nicht, warum sich Dr. Krogius noch so sehr
für unsere Schall - Lokalisationsprüfung interessiert, nachdem er zur
Überzeugung gekommen ist, daß das einzig in Frage stehende Fem-
gefühl nicht auf Schall, sondern ausschließlich auf ther-
mischen Reizen beruhe!
Herr Dr. Krogius wirft mir femer vor (S. 164 u. 167), die Zeit
zwischen Reiz und Apperzeption beim Gehen neben Wänden nicht be-
rücksichtigt zu haben. Dieser Vorwurf ist nicht berechtigt. Ich habe
S. 117 des Archivs Band IV, Jubiläumsbuch, S. 303, unter No. 31, aller-
dings nur en passant, ferner S. 127, bezw. S. 308, und in meiner Ant-
wort an Truschel (Hamburger Kongreßbericht) darauf hingewiesen. Wenn
Dr. Krogius übrigens glaubt, daß zwischen dem Reiz und der Wahr-
nehmung oft „mehrere Sekunden" (!) verstreichen, so kann ich ihm nicht
beistimmen. — Wenn fernfühlige blinde Kinder, besonders Knaben, direkt
gegen einen Baum rennen und im letzten Augenblick, 20 — 40 cm vor
dem Hindernis blitzartig ausweichen, beträgt die Zeit zwischen Reiz und
Wahmehmung kaum ^U Sekunde. Allerdings handelt es sich in solchen
Fällen vielleicht mehr um Reflex als um bewußte Wahrnehmung. Solche
Beobachtungen hat Dr. Krogius allerdings mit den gesetzten Damen des
Asyls kaum machen können. Hier hat der erfahrene Blindenlehrer vor
dem Psychologen etwas voraus. —
Auf S. 164 findet Dr. Krogius, daß meine Bemerkung über die gün-
stige Wirkung absoluter Stille unzutreffend sei, weil bei verhältnis-
mäßiger Stille eine kleine Veränderung der Geräusche besser wahr-
genommen werde als bei Lärm. Dies trifft für das eigentliche Gehör
als Orientierungssinn natürlich zu. Es ist mir seit 28 Jahren
bekannt, daß Blinde sich bei ungewohnter Bedeckung des Fußbodens,
z. B. wenn Schnee liegt, auf altbekanntem Gebiet (Hof) leicht verirren.
Ich habe dies vor langen Jahren folgendermaßen ausgedrückt: »Der
Schall der Schritte, der in der Nähe einer Wand sich ändert, hat als
Wamer vielleicht größere Wichtigkeit — wenigstens setzt er früher
ein (d.h. seine Tragweite ist größer) — als die Druckempfindungen der
Gesichtshaut. Die Unsicherheit, welche bei ungewohnter Bedeckung des
Zimmerbodens oder des Fußbodens (Schnee) eintritt, beweist dies^. —
In Fällen der Unsicherheit suchen feinhörige Blinde durch Husten, Rufen,
Klopfen mit dem Stock oder dem Absatz, Schnalzen mit den Fingern etc*
— 91 -
Schallreflex zu erzeugen, um die Größe eines Raumes, die Nähe einer
Wand, eines Baumes etc. zu erkennen, ehe dies mit Hülfe des nicht
weit tragenden Ferngefühls möglich ist. Ich habe an vielen Stellen
meiner Schriften darauf hingewiesen, also dem Gehör als solchem
für die Orientation die erste Stelle eingeräumt, es also als wich-
tigsten „Fernsinn" der Blinden angesehen und nirgends (wie Truschel
auf S. 150 des III. Bandes) behauptet, daß die gewöhnlichen Gehörs-
wahrnehmungen von „untergeordneter Bedeutung" seien. — Je ruhiger
die Umgebung, desto sicherer ist die Wahrnehmung kleiner SchalldifFe-
renzen. Schon deshalb ist die Orientation der meisten Blinden bei
nächtlicher Ruhe sicherer als bei „Tagesgeräusch". —
Was hat aber die Unterscheidung von Schalldifferenzen und
Tonintervallen, von denen Tr. redet, mit dem allein in Frage ste-
henden Ferngefühl zu tun, das Dr. Krogius ausschließlich auf
thermische Strahlung zurückführt und das, wie alle fernfühligen Per-
sonen behaupten, was auch Truschel zugibt, auf der Haut lokalisiert
wird?! Tondifferenzen werden doch gehört und nicht mit
der Haut empfunden! —
Es scheint mir aber aus dieser Bemerkung hervorzugehen, daß
auch Dr. Krogius mit den Ausdrücken „Fernsinn" und 6. Sinn bald das
eigentliche Ferngefühl, das er auf kalorische Reize zurückführt,
bald die ganze Orientation, d. h. das Zusammenwirken der verschiedenen
Sinne versteht, also die Summe von einem ihrer Summanden nicht scharf
genug trennt. Denn das Gehörlabyrinth und die Haut können doch un-
möglich zusammen ein Sinnesorgan für einen 6. „Sinn" bilden! — Truschel
hat diese Konfusion konsequent durchgeführt. —
Daß in der Medianlinie , also mit beiden Ohren vor und hinter dem
Kopf, besser lokalisiert wird als mit je einem Ohr , weiß ich. Dies hat
Griesbach hier vor 11 Jahren gezeigt; andere haben dasselbe gefunden,
nnd bei unseren Versuchen sind richtige Lokalisationen geliefert worden :
In der Medianlinie
(Mit beiden Ohren)
Durch Blinde
Durch Sehende
von vorn
93 »,o
von hinten
47,8,
74 „
Mit je einem Ohr
von vorn
39,2,
57,3,
von hinten
37,1,
66,7,
Der Schall wird aber auch bei diesen Versuchen als Schall wahrge-
nommen und nicht als Druck oder als „Schatten", wie Dr. Krogius
sagt. — Was hat denn „Schatten" mit der Schall-Lokalisation zu tun?
-- 92 —
Daß auch Dr. Krogius an fern fühligen Personen trotz Ohrver-
schluß immer Ferngelühl gefunden hat, wie auch bei sehr Schwer-
hörigen, freut mich.
Die oft, aber nicht immer, eintretende Herabminderung der Trag-
weite durch Verstopfen der Ohren habe ich aber der Ausschaltung des
für taktileEeize äußerst empfindlichen, weil frei flatternden Trommel-
fells zugeschrieben. Ob dasselbe sehr temperatnrempfindlich ist, weiß
ich nicht.
Was Dr. Krogius im mittleren Abschnitt der S. 166 über bald
größeren, bald kleineren Einfluß akustischer Reize auf den „Fernsinn"
sagt, paßt wieder auf das, was wir Blindenlehrer allenfalls nach dem
Lexikon unter „ Fernsinn ^ , d.h. der Summe der Fern Wahrnehmungen
durch alle Fernsinne, verstehen, nicht aber auf das, was wir Fem-
gefühl (Fernempfindung) nennen und welches er auschließlich dem
Temperatursinn zuschreibt. Akustische Reize können doch wohl
den Temperatursinn nicht beeinflussen !
Es sollte also im folgenden Abschnitt S. 166 nach der bei uns üb-
lichen Terminologie, welcher sich auch die Herren Mediziner anpassen
dürften, wenn sie über das Blindenwesen schreiben, heißen : „Die Blinden
lokalisieren die Empfindungen des Ferngefühls im Gesicht; denn
daß sie Gehör- und Geruchreize dort lokalisieren, glaube ich nicht —
und Dr. Krogius gewiß auch nicht, sonst hätte er ja einfach die Arbeit
aufstecken und Truschel folgen können, statt die reflektierten Schall-
wellen No. II , die ja auch im Gesicht lokalisiert werden sollen , zu be-
kämpfen. — Ich erblicke darin wieder die weiter oben gekennzeichnete
Verwechslung des Ganzen mit dem Teil, der Summe mit einem Summanden.
S. 167, Abschnitt 3 ist weiter oben schon beantwortet. Was Dr.
Krogius im vorletzten Abschnitt dieser Seite über meine Beobachtungen
beim Gehen neben Wänden sagt, kann ich unterschreiben. Luftwellen
können natürlich auf den Temperatursinn einwirken wie auf den Druck-
sinn. Gerade diese Beobachtungen neben Wänden, dem hängenden Brett
und Bäumen haben mich veranlaßt, die Mitwirkung des Temperatur-
sinns anzuerkennen, noch ehe ich von den Versuchen des Herrn Dr. Krogius
etwas wußte.
Die Zunahme der spezifischen Wärme infolge von Annäherung an
Gegenstände, also der Luft Verdichtung vor dem Gesicht, welche
allenfalls von Dr. Krogius angerufen werden könnte, ist ofPenbar so
gering, daß kein Mensch sie spürt. Dr. Krogius schätzt ja diese Ver-
dichtung 80 gering ein , daß er ihr nicht einmal den mindesten Einfluß
auf das so druckempfindliche Trommelfell und die Drucknerven der
oberen Gesichtshälfte zuerkennen willl
— 93 —
Nachdem Dr. Woelfflin durcli sehr sorgfältige Versuche mit vor-
züglicher Einrichtung im größten Saale Basels zur Ansicht gekommen
ist, daß der Temperatursinn beim Ferngefühl nicht mitspiele,
sondern daß Emanationen oder Radiationen anderer Art mit in Betracht
kommen könnten, bleibt die Frage oifen, ob wir nicht schließlich solche
Radiationen den Temperatureinflüssen substituieren müssen. Daß be-
wußte Temperaturwahrnehmungen (Wind und Windschatten neben Gegen-
ständen, Luftzug, Xähe von sehr warmen oder sehr kalten Gegenständen,
Richtung der Wärmestrahlen der Sonne) bei der Orientation eine
große Rolle spielen, steht außer Frage. —
Im letzten Abschnitt der Seite 167 und auf S. 168 will mir Dr.
Krogius einen Widerspruch nachweisen, weil ich gesagt habe, daß selbst
die fernfühligen Blinden im Zustand der Ruhe (Versuche mit Filz-, Glas-
und Holzplatten), wenigstens bei Temperaturen unter 10^, hinten nie
etwas wahrnahmen, während fernfühlige Knaben und auch fernfühlige
Mädchen, welche die Haare hoch tragen, statt sie über den Nacken
hängen zu lassen, beim Gehen neben Wänden und Bäumen, also bei
starker Luftbewegung , seitlich nachrückende Luftwellen spürten,
also seitlich hinten mehr oder weniger Ferngefühl zeigten. Ich habe
die Unempfindlichkeit des Nackens, welcher immer Hartfühligkeit für
Druck entsprach, bei Mädchen mit hängenden Haaren der fortwährenden
Reibung durch letztere zugeschrieben. So erklärte ich mir auch die
Abstumpfung des Drucksinns am oberen Ohrmuschelrand, der ja fast
immer von Haaren berührt wird. Es erinnert dies an die Abstumpfung
des Getasts am Lesefinger durch das fortwährende Reiben auf den er-
höhten Punkten der Blindenschrift. Die Haut wird dadurch hart und
lederig und grade dadurch zum Lesen befähigt. Ein feinfühliger Finger
liest nicht, weil er auch die seitlichen Punkte der Nachbarbuchstaben wahr-
nimmt und so die Zeichen verwechselt. Am letzten Internat. Kongresse
in Neapel erzählte der erblindete Advokat Landriani, der Präsident des
ital. Blindenfürsorgevereins Margherita, im Anschluß an meinen Vortrag,
daß er eine Dame kenne, welche immer Lederhandschuhe anziehe,
wenn sie lesen wolle. Sie hat offenbar noch keine Leseschwiele.
(Zu vergleichen meine Schrift „Zur Blindenphysiologie", die in 6 Sprachen
erschienen ist, z. T. mehrmals). — Nun erkennt Dr. Krogius den Wider-
spruch darin, daß No. 3 (EL), nachdem sie an schräg zur Ganglinie
stehenden Bretterwänden vorbei gegangen war, dieselben seitlich
hinten noch wahrnahm, während sie beim Gehen neben Bäumen diese
nicht mehr spürte, sobald sie dieselben hinter sich hatte.
Dr. Krogius übersieht eben, daß die Ganglinie neben schrägstehenden
Wänden 1 — 3 Meter von diesen entfernt war, so daß die nach meiner
— 94 —
Berechnung nachfolgenden Luftwellen die Blinden hinten seitlich
treffen mußten — und somit durch Ohrmuschel, Trommelfell und
Halsseite empfunden werden konnten, während das Seil neben den
Bäumen möglichst nahe an den Stämmen und Stämmchen gespannt war,
so daß nachrückende Luftwellen, die natürlich viel schwächer und we-
niger zahlreich sind, als bei langen geraden "Wänden, wesentlich nur
den eigentlichen Nacken von hinten treffen konnten und deshalb
wirkungslos blieben, sobald dieser Nacken mit Haaren bedeckt und wohl
durch die fortwährende Reibung für Druck unempfindlich geworden war.
Nun ist der Nacken von No. 3 (EL) außerordentlich hartfühlig. Sie
spürt dort, wie Drucktabelle 3 zeigt, erst das Druckhaar VII (500 ]\Iilli-
gramm)! Während bei den Knaben und bei Mädchen, welche die Haare
nicht hängen lassen, die Druckempfindlichkeit des Nackens meistens der-
jenigen der Stirn entsprach [No. 17, 1, 2, 21, 13, 22, 8, 32, 33, 34, 35]
(Druckhaar No. I, 1 mg), zeigten die Mädchen mit hängenden Haaren im
Nacken außerordentliche Hartfühligkeit. Es waren dort die Tast-
haare VI und VII (100 und 500 Milligramm) erforderlich. Z. B. No. 29 VI,
No. 3 VII, No. 9 VII, No. 24 VI, No. 27 VI. Auch der obere Ohr-
muschelrand, der vielfach von Haaren gerieben wird, ist auch bei den
Knaben meistens recht hartfühlig. Feinfühlig scheinen mir weit ab-
stehende Ohrränder zu sein, die selten mit Haaren in Berührung kommen.
— Es entspricht dies der Abstumpfung des Lesefingers durch das fort-
währende Reiben auf den erhöhten Punkten der Blindenschrift. Die ge-
bildeten Blinden haben dies jetzt erkannt, was ich kürzlich auch in Neapel
feststellen konnte. — Wir haben nun immer gefunden, daß Druckempfind-
lichkeit für 2 Milligramm (Tasthärchen II) an den Hautstellen, auf
welchen das Femgefühl wesentlich lokalisiert wird, Stirn etc., zu taktilen
Fern Wahrnehmungen nicht ausreichte; es war dazu stets die regel-
mäßige Wahrnehmung des Härchens No. I (1 Milligramm Druckwider-
stand) erforderlich. Deshalb schon kommt m. E. die meistens hartfüh-
lige untere Gesichtshälfte, wie auch Dr. Krogius weiß, nicht in Betracht. —
Ich vermag nicht einzusehen, daß dünne (3 cm dicke) runde Stämmchen,
die bei unseren Versuchen vielfach wahrgenommen werden, welche aber
doch wohl nur die Temperatur der Luft und des Rasens hatten, sich
durch Wärmestrahlung allein eher fühlbar gemacht haben sollen, als
durch Luft- Widerstand oder Reflex. —
Über meine Prüfung des Drucksinns, auf die Dr. Krogius nun zu
sprechen kommt, habe ich mich im letzten Heft S. 25—28 geäußert.
Meine Drucktabellen 7 und 8, die Dr. Krogius wohl noch nicht beachtet
hat, weil er nur von 22 geprüften Blinden spricht, sind auf den Seiten
35—36 des VII. Bandes zu finden.
— 95 —
Dr. Krogius beanstandet diese Druckversuche u. a., weil er meint^
fernfühlige Personen hätten die Annäherung der Hand vor den Härchen
spüren müssen. Das war doch bei seinen Druckversuchen mit der Wage
auf nur je einem Punkt des Gresichts und der Hand auch der Fall! Er
hatte ja vorher die Druckpunkte mit den Härchen bestimmt, was
nicht unbemerkt geschehen konnte. Seine Personen wußten also
genau, wo der Reiz erfolgen mußte.
Angenommen auch, meine Personen haben die Hand vor dem Gresicbt
gespürt, so konnten sie bei der Länge der Stäbchen doch nie wissen,
ob ich die Härchen auf irgend einem Teil der Stirn, die Augenbrauen,
Wimpern, das Lid, die ISTasenspitze, eine Wange, neben das Auge, auf das
Ohrläppchen, in die Ohrmuschel, auf die Unterlippe oder das Kinn setzen
würde. Tatsächlich hat mir ein fernfühliger Kollege erklärt: „Ich Habe
die Hand vor dem Härchen gefühlt, glaubte aber, Sie würden es auf
die rechte Seite setzen, weil sich rechts zwischen Auge und Nase eine
gewisse Schmerz empfindung fühlbar machte. In Wirklichkeit saß aber
das Härchen NI auf der linken Stirnseite, wo es auch lokalisiert wurde.
— Solche Überraschungen waren auf den 2 Druckpunkten von Dr. Kro-
gius allerdings nicht möglich. Meine Versuchsmethode erleichterte also
die Wahrnehmung nicht. Oft genug kam es vor, daß die Blinden ihre
ganze Aufmerksamkeit auf die Kopfhaut konzentrierten, während das
Haar auf der Hand saß. —
Dr. Krogius meint ferner, die Proportionalität zwischen Drucksinn
und Femgefühl, von der ich gesprochen habe, sei z. T. von der Willkür
des Forschers abhängig. Dies kann von allen derartigen Versuchen
und von allen Forschern gesagt werden, wenn man, in Ermangelung
besserer Gründe, dieses Bedürfnis fühlt. — Ich habe aber nie allein,
sondern immer vor Augenzeugen experimentiert, welche die Wahr-
nehmungen notierten, habe also meine Vorsichtsmaßregeln getroffen, —
nicht weil ich Dr. Kr ogius solcher Anspielungen fähig glaubte. — Wenrt
man „Streif er" (Ausgleiten der Tasthaare) mitrechnet, oder die Härchen
biegt, bis sich ein längeres Stück derselben auf die Haut legt, oder
gar, wie Dr. Krogius, mit dem Härchen über die Haut streicht,,
kann man allerdings das Ergebnis beeinflussen. In solchen Fällen wird
das feinste Haar I sogar auf dem Handrücken regelmäßig empfunden L
Ich habe dies nie getan, sondern nur das Ende des Härchens auf die
Haut gesetzt und gedrückt, bis es sich leicht bog.
]\Ieine auf der analytischen Wage geeichten Härchen zeigen, wie-
früher schon gesagt, folgende Beugungs widerstände : 1 0,001 gr, II 0,002 gr,.
III 0,003 gr, IV 0,01 gr, V 0,02 gr, VI 0,1 gr, VII 0,5 gr.
Druckpunkte habe ich nicht ausgewählt , gerade weil ich nicht
— 96 — 1
wollte, daß die Versuchspersonen schon vorher wissen, wo der Reiz er-
folgen müsse. — Deshalb berührte ich auch in beliebiger Reihen-
folge alle 20 geprüften Hautstellen. — ']
Der „Zeuge" notierte die Wahrnehmungen einzeln, und die Prüfung
war fertig, sobald das feinste Härchen ermittelt war, welches an jeder i
einzelnen Hautstelle 6 mal ohne Fehler empfunden wurde. Um dies zu ]
finden, waren bei den meisten Personen 200 — 300 Versuche erforderlich.
Auf diese Weise traf ich natürlich nicht nur Druckpunkte; für solche
wäre wohl ein noch schwächeres Härchen ausreichend gewesen. —
Nun stellte es sich heraus, daß nur diejenigen Personen
merkliches Ferngefühl besaßen (dieses war vorher mit den Filz- i
Glas- oder Holzplatten ermittelt und gemessen worden), welche auf i
den Hautstellen, an denen die „Blinden" auch nachKrogius ]
das Ferngefühl lokalisieren, das Härchen No. I regelmäßig I
spürten. Wahrnehmung des Härchens II an diesen Stellen ]
reichte dazu nicht aus! — Zu vergleichen No. 20 (Tab. 1), No. 29
(Tab. 2), No. 3 (Tab. 3), No. 24 (Tab. 4), No. 27 (Tab. 5), No. 42 (Tab. 7),
No. 43 (Tab. 8). — i
Einseitiges Druckgefühl entsprach einseitigem Fern- j
gefühl, zuweilen auch unsicherer Lokalisation vor dem Gesicht. Zu |
vergleichen No. 9 (Tab. 4), No. 34 (Tab. 6). [Bei No. 34 habe ich in j
der früheren Arbeit auf die Unsicherheit der Lokalisation hingewiesen], ]
No. 39 (Tab. 7). —
Es ist wohl selbstverständlich, daß die Größe der Angriff s-
f lache wesentlich in Betracht kommt. Es gilt dies offenbar für Druck- ]
reize wie für Wärmestrahlung. Eine empfindliche Stirn wiegt \
infolge ihrer Flächengröße wohl 50 feinfühlige Nasen- j
spitzen und Ohrenläppchen auf. Dies ist früher schon gesagt i
worden. Ich habe in der letzten Arbeit, Band VII, S. 30, unter
No. 39 (F. G.) auf den Einfluß der Flächengröße hingewiesen. (Breite \
Stirn, die zur Hälfte äußerst hart fühlig ist, wie die ganze rechte
Seite. Femgefühl rechts gleich Null, links bedeutend. Drucktabelle 7).
Es ist deshalb geradezu lächerlich, wenn Truschel die Fünfer der ;
ersten Kolonne (Druck 1 mg) und sogar die der zweiten Kolonne '
(Druck 2 mg) (!) einfach addiert, um zu beweisen, daß die von mir be- 1
hauptete Proportionalität zwischen Drucksinn und Femgeftihl nicht
existieren! So rechnet er sogar heraus, daß die sehr hart fühlige
No. 43 (DB), die selbst in den Ohrmuscheln erst das Härchen No. II
spürt, eigentlich druckempfindlicher sei als solche, die an den wesentlich
in Betracht kommenden Stellen des hartfühligeren Gesichts für I
(1 mg) empfindlich waren. (Drucktabelle 8)! '
97 —
ü
•-5
w
o
1 1 1 M 1 M 1 1 1 1 M M 1 1 1 1
I-H
|{|{||||||||||||>oo|>o
1 1 1 1 1 1 1 1 --= 1 ■« 1 i 1 1 1 1 1 1 1 i
Tasthaar
II Im IV
lO j 1 1 1 1 »o 1 1 o 1 1 1 1 1 »o 1 1 »n 1 1
1 1 1 II - M 1 1 1 1 II II 1 1 II ^s
, 1 i 1 1 ( 1 1 1 1 1 ^
1 >o o 1 1 1 ! o 1 1 1 1 1 1 o 1 1 1
1-4
T 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 "^ SS 1 1 ! 1 1 1
2
O <N
>
1 1 1 1 1 1 1 1 1 ! 1 1 1 1 1 1 1 »o o »o
I-H
>
1 1 M 1 1 1 •» 1 M 4r
Tasthaar-Nr.
II III IV V
1 1 M 1 M 1 1 1 :■-
1 1 1 1 1 1 1 1 M-M 1 M 1 I 1 1 f«
1 1 1 1 1 1 1 i- 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 -i
l>» 1 1 M 1 1 1 1 M 1 1 1 1 1 1 1 1 n
1—1
>0 1 S^ S*'^ O O 1 xO 1 »O SS"^ "^ 1 1 I 1
Versu chs
Nr. 1 H. W. 12 Jahre
1— 1
>
M 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1 1 1 1
I-H
>
1 1 1 M 1 1 1 1 1 1 1
^ >
1 1 1 1 1 M 1 1 1 M 1 1 1 1 1 1 1 1 :■'?.
'$t
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 "^ »
»O >0 lO I-H CO
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 c^
|S
M 1 M M 1 1 M 1 1 M 1 1 1 1 1 fi
1— i
, . , . o
1 1 1 1 1 1 1 1 o 1 1 1 1 1 1 1 I 1 1 1 P^
^ 1
lO o"iO^>0 lO O iO lO »O »« »O o" lO lO »o 1
2
1—1
52i
(-H
hH
>
1 1 1 1 1 1 1 1 1 i 1 1 1 1 1 1 O lO 1 .o
1 1 1 .1 1 1 1 • 1 i 1 1 1 1 1 i 1 ^
HH
lIMIll'^MIIIIIIII'«! ä
#>
t,
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1 1 M 1^
1-3 *"•
, , , , , , , , III. ^ o
III^IIII^MIIIIIIIII oS
Tast
II III
1 1 i 1 1 ^ 1 1 h^ 1 II 1 1 1 1 1 1 1 7 g
h«>H 1 II 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 -
l-H
10 1 1 1 iO^ 1 »^ 1 1 1^0 iSiS'^ "^ 1 1 1 1 ^
Stirn
Augenbrauenhaut . . .
Augenbrauen ....
Ob. Augenlid ....
Wimpern
Äuß Augenwinkel . .
Wange
Nasenspitze ....
Lippenrot
Kinn
Ob. Ohnnuschelrand.
Ohrläppchen ....
Innenseite d. Ohrmuschel
Gehörgangmündung . .
Rückseite d. Ohrmuschel
Nacken
Handrücken ....
Lesefingerspitze . . .
Ringfingerspitze . . .
Daumen
ttlere Tragweite des Fem-
^efühls bei ruhiger Körper-
laltung in Zentimetern .
1 ^rHrHTHrHrHrHr-lrHrH(M ^
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band.
1. Stirn
:'. Augenbrauenhaut . . .
.'• Augenbrauen ....
4. Ob. Augenlid . .
5. Wimpern
6. Auß. Augenwinkel
7. Wange
8. Nasenspitze ....
9. Lippenrot
10. Kinn
11. Ob. Ohrmuschelrand. .
12. Ohrläppchen ....
13. Innenseite d. Ohnnuschel
14. Gehörgangmündung . .
15. Rückseite d. Ohnnuschel
16. Nacken
17. Handrücken ....
18. I^esefingerspitze
19. Ringfingerspitze . . .
20. Daumen
Mittlere Tragweite des Fem-
gefühls bei nihiger Körper-
haltung in Zentimetern
j 1 1 j Ü« Ü»^^ Ü» O» Ü« 1 Ü« o« o» j j ^3 o»
•-H
3
S 1 1 1 1 1 1 M 1 1 i 1 1 1 1 »' 1 1 1 1
^^ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
«Is 1 »• 1 1 1 1 1 1 1 1 1 "" 1 1 1 1 °" 1 1 1
— 7
<
<
z' 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1
00 r* 1 1 «.,. Augen völlig eingesunken. Prüfung der
'-"11" Augenlider und Wimpern deshalb unsicher
M »< 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1
j 1 1 1 Üt ««'cji'«; CJ» 1 1 1 Ot ü« Üt'S^ ««'üt'üJ O»
M
1—»
CO
«• i
«HO 1
g-B i
OD
t^ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 »' 1 1 1 M 1 1 1 M
1=1
5?
:; 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 i 1
l M 1 1 1 1 1 1 1 1 1 »' 1 1 1 M 1 M
^r
1 °' 1 1 1 1 1 M 1 «< 1 M 1 1 1 1 1 1
<
1 1 1 1 1 1 ' 1 1 M 1 M 1 1 1 1 1 1
°< 1 »• 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 M 1
j 1 1 1 1 ü« 'üt 'S» ü« 1 C" 1 c;« ü» C" 'ü? CO 'tJ^ üT O»
HH
'TS
* O
^ P
00
r
S« 1 1 1 ! «" 1 1 1 1 "• 1 "• 1 1 1 1 f 1 1 1
a
^^ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 l-^l 1 1
ig "'"•"' 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
HN er
< S
g£ II i II II II 1 1 II 1 II 1 II
<t?
- 1 II »' 1 1 1 1 1 1 1 II II 1 1 II 1
^
1 11 II II 1 1 II 1 1 1 II 1 1 M
1 1 1 1 1 I ^3 1 1 1 1 1 1 1 S 1 1 1 1
l-H
CO
•
M ||||||||oto«||c»«C7«e9«||o«o«ot
a
Üm I I II I II I II °'»>II II "-I II
B?
^.^ 1 «"i 1 i <^ii 1 1 1 1 1 1 M II II
t-i 2"
Ö-: MIM II 1 1 1 1 1 1
<f
»•1 °"^^\ 1 1 1 1 i 1 II 1 1 1 1 1 1
;$
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 II II
SS
99
s
1—1
*
CO
1— 1
i—H
>
1 1 1 M 1 1 1 i 1 1 i 1 1 1 ''^ 1 1 M
1 1 1 1 1 1 1 1 i 1 o 1 1 1 »o 1 »o »o 1 o
ärchen-Is
IV 1 V
1 1 1 1 1 1 1 II M 1 1 1 1 1 1 1- 1 o"':
1 1 1 1 II II 1 1 l»» II 1 1 II II 7s
■" 1 1 1 i 1 "^ "^ ■" 1 1 1 M 1 1 1 M 1 'Z'i
Hl
1 lO [ ^ __[- **^ 1 1 1 "^ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^
1 1 iS!^ IS^ 1 1 1 1 1 1 1 iSiS 1 1 1 i 1 1
2
03
«£>
0)
en-Nr.
V VI VII
1 1 1 1 1 1 1 j 1 I 1 1 1 { 1 1 0 lO 1 1
1 1 1 1 1 1 1 1 1 "^ 1 1 1 1 1 1 1 1 '^ ^ 10
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1! M 1 1 II 1 II
asthärch
III 1 IV
0
1 lO 1 0 1 1 1 1 10 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^
1 1 1 1 II - 1 II 1 1 1 1 II II II ::
(— 1
11 II M 1 1 1 1 1 M 1 l'" 1 1 M «
■
1— t
>0 1 0" xO" lO 1 lO vO lO O' lO" lO j 1 1
1 2
^ 13
tH
hl
en-Nr.
V VI VII
1 j 1 1 [ 1 j 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 0 lO 10
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 =° 1 M
i 1 1 1 . 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 00
1 1 1 M 1 i 1 i 1 1 1 1 ! h^ 1 1 1 1 ^'^
1 1 1 1 1 h^ 1 1 1 1 1 1 1 i 1 1 i 1 1 7 ^
1 1 1 1 1 1 i 1 1 1 1 1 1 i 1 1 1 1 1 \ ^
03 ^
1 1 1 1 1 1 1 1 0 iC iC 1 1 1 1 1 1 1 1 1 "^ -53
lo 0 1 1 1 1 1 lO 1 I 1 1 1 j 1 1 1 1 1 1 W
^
1 1 "^ "'^ !!^ !2 1 1 1 1 1 »0 lo »0 lo j 1 1 1 1
1
1-5
o
P-I
C5
T— 1
)— 1
>
1 M 1 M 1 II 1 1 1 M M 1 1 1 1
,•-•>
1 1 1 1 1 1 1 1 1 II 1 1 1 II '« -o 1 «» t-
J2J
1 II M 1 1 1 1 1 1 M 1 II 1 1 M
asthärch
III IV
1 1 1 1 1 1 1 h« 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^ 1 -j^
1 1 1 - 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 i 1 :
1
1— 1
1 0 .Q 1 1 0 1 I 1 1 xO 1 1 1 1 0 1 1 1 1 P^
0 1 j 1 o^^o »0 1 lo 1 >o »2^10^0 1 j 1 1 1
1. Stirn
2. Augenbrauenhaut . . .
3. Augenbrauen ....
4. Ob. Augenlid ....
5. Wimpern
6. Äuß. Augenwinkel . .
7. Wange
8. Nasenspitze ....
9. Lippenrot
10. Kinn
11. Ob. Ohrmuschelrand. .
12. Ohrläppchen . . . .
13. Innenseite d. Ohrmuschel
14. Gehörgangmündnng . .
15. Rückseite d. Ohrmuschel
16. Nacken
17. Handrücken . ....
18. Lesefinger
19. Ringfinger
20. Daumen
Mittleres Ferngefühl bei ru-
higer Körperhaltung in Zen-
timetern
— 100
Sf OOOO^CiÜ«4k.OO»O^OOOC<iaiÜ»»;^WbOt-'
Stirn
Augenbrauenhaut . . .
Augenbrauen ....
Ob. Augenlid ....
Wimpern
Äuß. Augenwinkel . .
Wange
Nasenspitze ....
Lippenrot
Kinn
Ob. Ohrmuschelrand. .
Ohrläppchen ....
Innenseite d. Ohrmuschel
Gehörgangmündung . .
Rückseite d. Ohrmuschel
Nacken
Handrücken ....
Lesefinger
Ringfinger
Daumen
ttleres Femgefühl bei ru-
higer Körperhaltung in Zen-
timetern
Üt Üt Üt Ü^ 1 O' Ü« Ü< *>3 *\5 CJ' Ü' y
" ,?
S? M 1 1 1 »<l 1 1 1 i 1 1 1 1 1 1 1 1 1
♦
3
^ "' 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 t 1
2. <i 1 1 M 1 1 1 1 <^ 1 1 1 1 1 1 i 1 1 1 1
Bi
»^1 11111,111 1 1 1 1 1 1 1 1 1
® O 1 1 1 1 1 III 1 1 1 1 1 1 1 1 1
1 1 1 M 1 M 1
^ ^ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
>^ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 < 1 1 1 1 1 1
*" 1 *^ 1 ^ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 i 1 1 1 1 1
<
»— 1
- 1 - 1 M 1 1 1 1 1 M M 1 1 1 M
<
1 1 1 1 cj» cn^jji ^1 1 1 Ol o» 1 3 ^3S ^'
hH
!25
00
»
• <
OB 1
w 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^* 1 1 1 1 ^ 1 1 1 1 1
^'Z 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^* "^ 1 1 1 1 1 1 1 1
st
to 1 , 1 , 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
-^ 1 ^1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
^1
" ® II 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
^ II 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
--^ »< 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
:$
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 M
<
1 1 1 1 1 1 S 2« 1 1 ^' 1 bt ^' ^'S 1 1 S 1
- ,'i
w 1 1 1 1 1 1 1 «' 1 1 1 1 1 1 1 1 «^ ü. 2* S.
a
CO o
Oi
g-
3
2* <» 1 1 1 1 1 w 1 1 bt 1 1 ^ 1 1 1 1 1 bt Ol 1
»^1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 -^
^ ^ '^' ^ 1 ^* M 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 b.
2:^ M 1 1 1 Sl 1 i 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
<!|i
- 1 1 ^ 1 1 1 1 s; bt o' 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
<
Hl
1 1 1 i-i 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 1 33 ^* 1 1 1 1 1 1 3 1 1 1 1
*
p
w 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^ 1 ^* ^ ^ 1 1
* Üi 1 1 1 1 1 ^* 1 1 1 <^* ^ «»* 1 1 1 1 1 1 1 1
H
^ 1 1 1 1 1 i 1 1 1 1 1 1 o^. :* 1 1 1 1 1 <>..
'
<?
».■■ 1 1 i-i 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
w w o. 1 w 1 1 1 1 1 1 1 1 •- 1 1 1 1 1 1
;S
1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1 1 1 1 I 1 1 1 II
^
ü
c
er-
525
•^
101
ce
personen
Nr. 27* M. K. 10 Jahre
»— 1
>
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 - 1 1
liaar-Nr.
IV V VI
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^ - 1 1 1 ^
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 r 1 1 1 1 ^ ^
1 1 M 1 M M M M M 1 1 1 1 1 j--
1 1 1 t 1 1 1 1 1 1 III 1 1 1 1 1 <=>»
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 i 1 1 1 i 1 1 ^
s s
H ^
1 I 1 1 1 1 j 1 1 j 1 >Q 1 1 1 j 1 1 lO »O *^ 1§
hl
lO 1 1 u:> 1 o »o lO o 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 PQ
1— 1
l"^lS^l^i 1 1 1*^1 1 iS-iS^ 1 1 i 1 1 1
Versuchs
Nr. 18* Mag. Wenuer
(Taubblind)
-Nr.
V 1 VI VII
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M >" 1 1
||||||||||||||||»o|iOiO ^
1 1 ! 1 1 M 1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1
l-i
[IlllJlIxOollllllOJIII ^
Tast
I 1 II III
IMIIIIM MINI :
1 1 1 o »o »o o 1 1 1 »o »o 1 1 1 1 [ j 1 1 ^
.O ȣ^5^ 1 1 1 1 "^ 1 1 i 1 SS"^ 1 1 1 1 1
1. Stirn
2. Augenbrauenhaut . . .
3. Augenbrauen ....
4. Ob. Augenlid ....
5. Wimpern
6. Äuß. Augenwinkel . .
7. Wange
8. Nasenspitze ....
9. Lippenrot
10. Kinn
11. Ob. Ohrmuschelrand. .
12. Ohrläppchen ....
13. Innenseite d. Ohrmuschel
14. Gehörgangmündung . .
15. Rückseite d. Ohrmuschel
16. Nacken
17. Handrücken ....
18. Lesefinger
19. Ringfinger
20. Daumen . . . . ,
Mittleres Ferngefühl bei ru-
higer Körperhaltung in Zen-
timetern
102 —
1. Stirn
2. Augenbrauenhaut . . .
3. Augenbrauen ....
4. Ob. Augenlid ....
5. Wimpern
6. Äuß. Augenwinkel . .
7. Wange (Jochbein) . .
8. Nasenspitze ....
9. Lippenrot
10. Kinn
11. Ob. Ohrmuschelrand . .
12. Ohrläppchen ....
13. Innenseite d. Ohrmuschel
14. Gehörgangmündung . .
15. Rückseite d. Ohrmuschel
16. Nackenseiten . . . .
17. Handrücken ....
18. Lesefinger
19. Ringfinger
20. Daumen
Mittleres Femgeftihl bei ru-
higer Körperhaltung in Zen-
timetern
1 1 1 1 ^ ^33 1 1 Ot 1 1 Üt O^Or O«^»^ C3«
►H
CO
*♦
^ 1 1 1 1 1 1 1 1 «' 1 1 1 »< 1 1 1 1 1 1 1
ö ^
~ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 »< 1 1 1 1 1 1 1 1
G 1
f^ er
o ■ —
.f Trägt die Haare aufgebunden * * 1 | | |
< er
f 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
^ o- «- 1 - 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
a--
1 1 °< 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1
<
1 1 1 l^'^^^l 1 1 lo^jo'^o'^^üx
1— 1
tz5
»t
CO
OD
er
OB
s llllllll°<llll°<llllll
^. 1 1 1 1 1 1 1 1 1 °< »< 1 1 1 1 1 1 1 1 1
p 1 1 1 »• 1 1 1 1 1 1 1 o- 1 1 1 1 1 1 1 1
^t
■S M 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1 1 1
^l
§ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 M
"•"•«■ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 I 1 M 1 1
1 1 1 I u< «• ü>2 ö" 1 1 1 1 ol «"3 1 SS w
0» P
S 1 1 1 1 1 1 1 1 1 »< 1 1 «< M 1 »< 1 1 1
J» II — 1 en Nackenmitte o< c | g, | j j j | |
bI
p 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ; 1 1 1 1 1 ü.
^1
:28
^1
§ 1 °'l 1 1 1 1 1 II 1 1 1 1 1 ! 1 1 1 1
^'
ö* 1 «" O" 1 1 1 1 1 1 1 II 1 1 1 1 1 1 1
<
1 j 1 1 O« O^^'ü« ü» 1 1 1 o« o« ü*3 ^'S ^ ^'
r
Od
ü 1 1 II II II 1 °<ll II II II II
^ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 »-l 1 1 1 1 II 1 1
P 1 M 1 1 1 II II 1 °<l 1 * 1 1 M 1
r ^
:^ 1 1 1 »<l II 1 1 1 1 1 1 1 M 1 1 1 1
^1
§ 1 »<»<l 1 t 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 M
< •'^
»-II 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 II
<
er
CD
05
103 -
Nr. 42 G. K. 20 Jahre
1 1 1 1 1 M 1 1 1 1 1 1 1 'S 1 ■« ""» -o
03 P>
lO vO 1 »O 1 O lO xO 1 1 1 *^ »O 1 1 1 1
1 1 to 1 1 1 1 1 1 o 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 1 »O 1 1 1 1 lO o 1 1 1 1 1 1 1 o o
1 1 1 M '« 1 1 M M 1 1 1 1 1 1 1 1
h- 1
1 1 1 1 O 1 1 j 1 1 1 ] 1 tO 1 1 1 j 1 1
2
03
»-5
O Th
Tasthaar-Nr.
III IV V VI VII
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 »c o »o o
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ! 1 M 1 M 1 1 1
' ' ' ' 1 1 I 1 1 1 ^ 1 1 1 1 « CO o
1 I 1 1 1 1 i 1 1 1 I 1 t I 1 = 1 1 1 1 -^ «-^ ^
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^1 1 1 1 ^
1— 1
1— 1
1 1 1 1 , , , , , 1 '^ 1 i 1 1 *
1 I 1 1 1 1 1 1 i 1 1 1 1 I ^ 1 1 1 1
O O^^ |>£^iOiOiO loiCiCO^O^iO '^ 1 1 1 1
Versuchs
Nr. 40 R. V. 29 Jahre
>
1 1 1 1 1 1 { 1 1 1 1 1 1 1 1 I o 1 o
1—1
>
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 o 1 >o j
haar-Nr.
IV V
' e _
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^
1 ' 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ^ 05
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ' CO CO
1 1 1 1 1 o 1 1
HH
1 1 1 1 1 1 lO »O { «O lO 1 o »o
1— 1
»O iO o »o »o vO 1 1 >o ifTio" 1 1 1 1 1
O
CO
d
CO
1— (
>
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 rs 1 ? 1 •« to 'S >« s , ,
M rs 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 3 1 "^ ="=
Tasthaar-Nr
III IV V
1 1 1 1 1 *2 1 1 ^ »« 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 S "«" '^
llill^H-l llllilllll >^«
*^ 1 1 1 I 1 1 1 1 1 1 1 1 1 »<^ 1 1 1 1 J -t^ iS " §
^ 1 1 1 M 1 M 1 M 1 1 ^- 1 M 11 g -^ a
1 O O 1 1 lO >o 1 1 1 >o 1 1 1 1 1 1 1 1 ri a i: w
1 t; ti 1 1 ^- ^h' '^•' 1 1 1 t; 1 1 1 1 1 1 1 1 _^ pi ^
H
1 1 1 '^ 1 1 *^ 1 1 1 1 1 1 1 1 '^ 1 1 1 1 S rS
1 1 1 ^- 1 1 ^- 1 1 1 1 1 1 I 1 ^; 1 1 1 1 ^o *=S.
M
.o ^lo" j S" 1 1 j 1 1 j »o o'o" 1 1 1 1 1 1 '^
Stirn
Augenbrauenhaut . . .
Augenbrauen ....
Ob. Augenlid ....
Wimpern
Äuß. Augenwinkel . .
Wange
. Nasenspitze ....
Lippenrot
Kinn
Ob. Ohrmuschelrand. .
Ohrläppchen . , . .
Innenseite d. Ohrmuschel
Gehörgangmündang . .
Rückseite d. Ohrmuschel
Nacken
Handrücken ....
Lesefinger
Ringfinger
Daumen
ttleres Ferngefühl bei ca.
1^ Wärme. Bei ca. 16-18<^
Wärme
■i-i(Mcc^>^:ot^xajOT-i(Nco^>r:cc!t^aca50 ^
104
1. Stirn
2. Augenbrauenhaut . . .
3. Augenbrauen ....
4. Ob. Augenlid ....
5. Wimpern
fi. Auß. Augenwinkel
7. Wange
8. Nasenspitze ....
9. Lippenrot
10 Kinn
11. Ob. Ohrmuschelrand. .
12. Ohrläppchen . . . .
13. Innenseite d. Ohrmuschel
14. Gehörgangmündung . .
15. Rückseite d. Ohrmuschel
16. Nacken
17. Handrücken . . . .
18. Lesefinger
19. Ringfinger
20. Daumen
*VII (500mg)noch zuschwach.
(Liest viel). Mittlere Trag-
weite des Fenigefühls. .
1 1 1 1 ü« üT ot'^ o« o« 1 1 1 O» ü«^ 1 ^^ c;«
l-i
c©
00
cn
r
-s! 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 <^ 1 1 1 «^ 1 1 1
H
f^ 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ""^ 1 1 1 1 1 1 1 1
^^ i 1 1 1 i 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
oot 1 1 1 M 1 1 1 1 M 1 1 M M 1 M
<^
-.1 MMMMIIMMIIIMI
<^
8i IM- 1 1 1 II II 1 M
^
^"'^11 II II M II M II 1 M
;3
-55 'S M II II 1 II ="=' II «"S-S 1 M 1
l-H
Versuchs
No. 9 E. J. 1907
gW g? Illlllotlllllllll^otoic?«
1^
^ ^^ §. 1 1 1 1 1 St 1 S. S« 1 1 ^ «^ 1 1 1 1 c,. b* 1
ÖJH-g; g «^«^l^^lllllllllllllllü^
"* *>5. ^ 1 1 1 1 1 •"" 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
bo •• -r- 1 1 1 1 1 cn 1 i 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
•°* 1 M "■ 1 II 1 -^s:«' 1 II II II 1 M
^
0* C3 .....
• 1 1 1 1 «^1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 1 SS Sx 1 ^ 1 ^' S' ^S ütSS ^
H-i
WS
5-1
CO
o
OD
tö 1 1 1 1 1 1 1 1 £t 1 1 1 1 b» 1 1 b. 1 1 1
a g
!• II II II II 1 Ml
1 Ot C« 1 C9t 1 1 1 1 1 1 1 Ot 1 1 1 1 1 1 1 1
CJ« ' 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
< i
::: II M II 1
^^i
^ II II 1 1 1 1 1 1 1 1 ! 1 1 1 1 1
1 1 Ol I 1 o« 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
;3
M 1 1 »' 1 II II 1 1 II M 1 1 1 1
^
II II ! 1 M II II II 1311 M
Od
ö
1
1 1 1 Ic^lotovotl 1 |oto«c;«|c;«o«otc»t
II II M 1 M M II II II II 1
< 1
o o 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 C^t 1 1 1 O« C9« 1 1 1 1 1 1 1 1 1
1 c^ c?« 1 1 1 I 1 1 1 1 o« 1 1 1 1 1 1 1 1
»< II °< II I 1 1 1 1 II 1 1 1 M II
•-i
O
C
CD
00
— 105 —
Wir lesen in seinem Artikel irgendwo, ungefähr ich erkenne meine
Hauptaufgabe in der Bekämpfung von „Unsinn" und „Dogmen". —
Obiges Ergebnis gehört offenbar in dieses Kapitel, wenn es auch kein
Dogma ist. Ich kann nur bedauern, daß er mir so viele „Auf-
gaben" gibt; denn ich wüßte meine Zeit besser zu verwenden! — Er
sollte wirklich etwas mehr Mitleid mit mir haben !
Ich habe ihm übrigens schon vor einem Jahr in meiner „Antwort"
im Hamburger Kongreßbericht S. 380 erklärt, wie ich die Propor-
tionalität verstehe. Es steht dort: „Meine Druckversuche haben immer
ergeben :
Feines Druckgefühl — bedeutendes Ferngefühl,
Einseitiges Druckgefühl — einseitiges (zuweilen
auch unsicheres) Ferngefühl,
Hartes Druckgefühl — Fehlen des Ferngefühls,
Niedrige Lufttemperatur — geringes Ferngefühl,
Höhere Lufttemperatur — Steigen des Ferngefühls.
So verstehe ich die Proportionalität." — Da diese Ant-
wort Herrn Truschel sehr nahe angeht, wird er obiges wohl gelesen haben.
Warum hat er es nicht berücksichtigt ? Aus allem geht für mich hervor,
daß er seine Kritik meiner Druckversuche nicht in gutem Griauben ge-
schrieben haben kann. —
Die Unsicherheit der Lokalisation vor dem Gresicht, z. T. verbanden
mit Einseitigkeit, die uns schon vor ca. 2 Jahren bei No. 34 (FW)
(Drucktabelle 6) und bei No. 9 (EJ) auffiel [später kam noch No. 39
(FA, Drucktabelle 7) hinzu], war uns damals unerklärlich, weil ich
noch keine Druckversuche gemacht hatte und noch nicht an solche
dachte. Erst durch diese wurde mir, d. h. uns allen, die Sache klar. —
Die Druckempfindlichkeit der verschiedenen Hautstellen ist indivi-
duell sehr verschieden. So schwankte die Druckempfindlichkeit der
Nasenspitze zwischen 0,001 und 0,1 gr. An Normaldruckschwellen für
bestimmte Hautstellen glaube ich deshalb nicht. Auch ist das Sensorium
des Menschen abhängig von seinem Befinden , von seiner Stinmaung,
seiner Aufmerksamkeit und besonders von seiner Ermüdung, Druck- und
Tastsinn im höchsten Grade von der Lufttemperatur. Ich habe schon
in der Arbeit für das Internationale Archiv für Schulhygiene auf Er-
müdungsmessungen mit Härchen hingewiesen. Absolute Werte
wird man deshalb weder bei den Platten versuchen (Messung des Fern-
gefühls), noch bei der Prüfung des Druck- und Temperatursinns finden
Sie ändern sich mit den genannten Begleitumständen. Der Einfluß der
Temperatur auf die Tragweite des Ferngefühls wurde uns erst klar, als
wir mehrere Personen, deren Ferngefühl an kalten Märztagen 1907 mit
— 106 —
den Platten gemessen worden waren, im Hochsommer einer neuen Prüfung
unterzogen. Es kamen aber auch immer neue Personen hinzu, die im
Frühjahr nicht geprüft worden waren.
Da ich aus guten Gründen nur experimentieren wollte, wenn
mindestens ein sehender, sachverständiger Zeuge verfügbar war (Geheim-
versuche habe ich nicht gemacht), so konnten natürlich nicht alle Ver-
suche, die sich durch lange Monate hinzogen, bei derselben Temperatur
(und demselben Ermüdungsgrad etc.) gemacht werden. Auf das kalte
Frühjahr war der heiße Sommer gefolgt. Bei höherer Temperatur stieg
die Tragweite um 100 — 200 7o. Wir mußten aber die Zahlen benutzen,
welche wir gefunden hatten. Unter allen Umständen steht aber fest, daß
Bünde, welche im Frühjahr keine Spur von Fernempfindung gezeigt hatten,
auch bei hoher Temperatur keines — oder höchstens Spuren — bekamen.
Meine Zahlen beziehen sich auf ca. 10 qdm große Filz-Glas- oder
Holzplatten etc. Größere Objekte werden weiter gespürt. Dr. Woelfflin
experimentiert mit 1 qm großen, also 10 mal größeren Platten und läßt
seine Personen gegen dieselben gehen. So hat er nach meiner Aut-
fassung aus 2 Gründen viel größere Zahlen finden müssen und sie tat-
sächlich gefunden. Seine Platten sind viel größer. Der Einfluß der
Größe ist bekannt. Beim Gehen gegen Objekte muß die Luft \del
rascher verdrängt, also auch mehr verdichtet werden, als bei sehr
langsamer Plattenbewegung gegen die Köpfe der ruhig sitzenden
Versuchspersonen. Raschere Bewegung der Platten oder Schwanken
derselben an der Stange erhöhte auch bei unseren Versuchen die Trag-
weite des Ferngefühls. Ich habe auch immer bemerkt, daß Blinde, wenn
sie in meinem Arbeitszimmer unmittelbar neben der Türe stehen blieben,
längere Zeit mit mir sprachen und sich dann langsam umkehrten, nach-
dem sie ihren Abstand von der Türe vergessen hatten, viel öfter
anstießen, als wenn sie zuerst 2 — 3 Schritte machen mußten. —
Wird durch raschere Bewegung oder Schwanken der Platten die
Wärmestrahlung gesteigert, oder reizt der Lnft-Strom oder
Widerstand außer dem Drucksinn auch den Temperatursinn?
Höhere Lufttemperatur erhöht, wie gesagt, die Tragweite des Fem-
gefühls, weil die Haut bei Wärme empfindlicher wird. Kalte Hände
tasten bekanntlich schlecht.
Ich glaube nun aber, wie Dr. Krogius doch wohl auch, daß die
Wärme- oder „Kälte "^-Strahlung um so fühlbarer wird, je größer der
Unterschied zwischen der Körpertemperatur und derjenigen des
strahlenden Objekts ist. Sie scheint mir desto weniger fühlbar
werden zu müssen, je mehr sich die Lufttemperatur, also auch die der
Objekte , der Körpertemperatur nähert. Bei geringer Differenz , d, h.
- 107 —
sobald sich die Lufttemperatur der Blutwärme näherte, müßte also das
Ferngefühl schwinden, wenn es nur auf Wärmestrahlung beruhte. Das
Gegenteil war der Fall! Je kleiner der Temperaturunter-
schied, desto größer die Tragweite des Ferngefühls unter
sonst gleichen Bedingungen. Aus Wärmestrahlung erklärt sich dies m. E.
nicht. —
Wie Kälte den Tastsinn, das extensive Empfinden, heruntersetzt,
so schädigt sie m. E. auch den Drucksinn, das intensive Empfinden —
und damit das Ferngefühl.
In dem Abschnitt des Herrn Dr. Krogius über thermische Reize
(S. 170) finde ich zunächst einige Ungenau! gkeiten. Er sagt, daß meine
wenigen Experimente über den Temperatursinn der Zurückführung des
„sechsten Sinns" (!) auf thermische Reize widersprechen. Sie wider-
sprechen nach meinen Worten nur seiner Zurückführung auf thermische
Reize allein. Ich habe S. 160 des Internationalen Archivs und S. 327
des Jubiläumsbuchs unserer Anstalt gesagt (gesperrt): „Auf ther-
mische Einflüsse allein läßt sich letzteres (das Ferngefühl)
also nicht zurückführen, obgleich solche — bei diesem
mehr, bei einem andern weniger — mitzuwirken scheinen."
Das „allein" ist ihm ofi'enbar entgangen, obwohl es den ganzen Satz
beherrscht. Dr. Krogius tadelt es ferner, daß die Versuchspersonen
sich ^/4 Minute lang über einen Kübel beugen mußten, der auf einem
Tische stand, wobei sie die Köpfe (oberer Stirnrand) auf eine Querleiste
stützten, damit der Abstand von dem Wasserniveau konstant blieb. Er
glaubt, der Blutandrang zum Kopfe habe der Wahrnehmung geschadet.
Ich habe, während ich die ca. 200 Druckplatten zu Atlanten und Bilder-
tafeln für Geographie, Zoologie, Physik, Botanik etc. gravierte und
modellierte, mindestens 25 Jahre lang fast täglich und nächtlich, während
langer Jahre auch jeden Sonntag, 3 bis 10 Stunden, ohne den Kopf
stützen zu können, in ähnlicher Stellung zugebracht, ohne zu bemerken,
daß ich für Temperatureinflüsse unempfindlich wurde. So gefährlich
scheint das also nicht zu sein. —
Wenn Dr. Krogius weiter sagt, die Temperatur des Wassers sei
während meiner Versuche „auf" 10 Grad gesunken, so darf ich darin
nur einen Druckfehler erblicken. (Einen ähnlichen Druckfehler finde ich
weiter auf S. 163, wo er von feinhörigen „Stotternden", statt Blinden,
spricht.)
Die Temperatur des ersten Kübels fiel während der zweiten Ver-
suchsreihe allerdings um fast 10^, d. h. von 46^ auf 36,4*^, die des
zweiten von 46,3^ auf 36,6^ etc. Es wurde aber darauf gesehen, daß
die Temperaturdifferenz zwischen beiden Kübeln möglichst kon-
— 108 —
stant blieb (0,3^). — Diese Konstanz scheint mir das Wesentlichste
zu sein.
Wenn das Verfahren mangelhaft ist, so war es eben für alle,
Fernfühlige und andere, Sehende und Blinde, gleich mangelhaft. —
Eine große Überlegenheit der Blinden über die Sehenden, falls bei uns
eine solche bestände, hätte sich also doch zeigen müssen!
Ich finde übrigens dieses Verfahren, bei dem gleichzeitig die ganze
Gesichtshaut durch die aufsteigenden Dämpfe getroffen wird, für unser n
Zweck besser als die Prüfung je eines Wärme- und Kältepunktes, der
zufällig sehr empfindlich, oder auch weniger empfindlich sein kann. Ich
glaube , daß sich dies , wie beim Drucksinn , von Person zu Person und
von Hautstelle zu Hautstelle ändere. — Bei unserem Verfahren werden
aber gleichzeitig alle Wärmepunkte der Gesichtshaut getroff'en.
Nun haben Blinde ohne eine Spur von Femgefühl die kleine Tem-
peraturdiff'erenz — trotz Blutandrangs — richtig herausgefunden
(z. B. No. 23 (ES) No. 24 (CS); Blinde mit Femgefühl haben sich geirrt.
(No. 1 (HW) 2 (JS) 5 (JSch.). Immer hat sich geirrt No. 9, heute die
Fernfühligste von allen. — Zu den sichersten gehörte die Taubblinde
No. 18, die auch den Geruchsinn verloren hat, und große Raumschwellen,
aber leidlich feinen Drucksinn zeigte. Der Temperatursinn scheint von den
Tastkreisen (Raum schwellen) unabhängig zu sein. Ob er mit dem Druck-
sinn steigt und fällt, vermag ich nicht zu sagen. Eine geringe Durch-
schnitts Überlegenheit glaubte ich bei Fernfühligen Personen zu finden.
Ich durfte es aber nicht wagen, aus derselben den Schluß zu ziehen,
daß sich das Ferngefühl aus thermischen Reizen „allein" erklären lasse.
Deshalb unternahm ich die Prüfung des Drncksinns und fand zum
ersten Mal eine augenfällige Übereinstimmung desselben mit
dem Ferngefühl. —
Über den Einfluß des Kopfverbandes gehen unsere Ansichten nicht
so weit auseinander, wie Dr. Krogius glaubt. — Ich habe schon vor
langen Jahren darauf hingewiesen (auch in der Schrift „Zur Blinden-
physiologie''), daß sich die Blinden in der Regel weniger gut orientieren,
wenn man ihnen aus irgend einem Grunde die „Augen", also auch den
wichtigsten Teil der Stirn, verbinden muß. Der untere, sehr druck-
empfindliche Teil derselben , sowie Brauen und Wimpern , spielen aber
nach meiner Auff'assung beim Ferngefuhl eine große Rolle. — Unsere
Versuche mit den sehr fernfühligen No. 1, 2 und 17 haben aber ergeben,
daß das vollständige Umwickeln des Kopfes bei festverstopften Ohren
(Vaselin- Wattepfropfen etc.) das Femgefühl wohl meistens herabminderte,
nicht aber aufhob. No. 1 nahm bei solcher Vermummung an einem
kalten windigen Tage noch die meisten dünnen Bäume wahr, an denen
— 109 —
er vorüberging, und No. 2 machte noch eine Reihe von Wahrnehmungen,
obwohl Augen und Ohren auch noch mit Wattepolstern bedeckt
waren. (Ich verweise auf S. 132 bis 134 des Archivs, oder S. 310 — 312
des Jubiläumsbuchs). Dies stimmt mit den Versuchen von Dr. Krogius
überein. —
Seit ich den Einfluß der Temperatur auf die Fernempfindlichkeit
der Haut kenne, glaube ich, daß die Erwärmung der Gesichtshaut durch
die Umhüllung an dem kalten, windigen Märztage den Ausfall wenig-
stens teilweise deckte, welcher durch das Festhalten der Brauen und
das Ausschalten des Trommelfels, des empfindlichsten taktilen Or-
gans, bewirkt wurde. Die Umhüllung schloß die Luft nicht hermetisch
vom Gesicht ab; nur das Trommelfell war durch Pfropfen und Polster
vor dem Luftzutritt geschützt. — Zuweilen wurde aber ofi'enbar auch
mit Überlegung aus plötzlich eintretendem Windschatten auf Vorhan-
densein und Richtung eines Baums geschlossen. Dies hat mit dem
Ferngefühl natürlich nichts zu tun; es ist bewußte Temperatur- und
Druck- Wahrnehmung. — Auch diente, wie offenbar schon bei Truschels
Gehbeobachtungen, gelegentlich das Getast der Füße als Führer oder
Verführer, sobald die Blinden frei gingen. Es zeigte sich dies be-
sonders in einem Fall ganz deutlich. No. 2 markierte fest ein nicht
vorhandenes Hindernis (Baum), als er an eine von einer unterirdischen
Dohle herrührende, erhöhte Stelle kam. Er tastete dann mit den Füßen
vor , weil er offenbar glaubte , den Erdwulst am Fuße eines Baum-
stammes vor sich zu haben. (Archiv S. 134.)
Diese Versuche mit No. 1 und 2 (die ersten von allen) krankten
also an denselben Übeln, die ich Truschel zum Vorwurf gemacht habe. —
Sie fanden in genau bekanntem Gebiet statt , wo es , wie wir bald er-
fuhren, ganz unmöglich war, die Leute zu desorientieren. Letzteres
hat, mir später auch eine von Truschels seitherigen Versuchspersonen er-
klärt, mit den Worten : „Im Anstaltsgebiet können Sie mich nicht prü-
fen, weil ich sofort genau weiß, wo ich bin". Und doch hatte dieser junge
Mann die Anstalt seit mehreren Jahren verlassen ! — Sobald auch nur
ein Baum richtig lokalisiert war, konnten die Blinden sofort wissen,
wo die andern stehen mußten, weil ihnen die Richtung der Baumreihen
und ihre Abstände bekannt waren. Auch das Gehen im Zickzack des-
orientierte sie nicht genügend. Bei solchen Gehversuchen weiß man
nie, in welchem Maße das Ortsgedächtnis , das Getast der Füße , das
Gehör, der Geruchssinn, bewußte Temperaturwahrnehmungen etc.
(Wind- Windstille) und endlich das eigentliche „ Ferngefühl '^ bei der
Orientation beteiligt sind. — Deshalb haben wir unsere Versuche
neben Bretterwänden und Bäumen (nach diesen Vorversuchen mit nur
— 110 —
2 Personen) auf ganz unbekannte Gebiete verlegt, wo jeder Anhalts-
punkt fehlte. (Die schweren Wände wurden auf Wagen hinausgeführt.)
— Die Blinden konnten dort weder wissen, wo die Hindernisse standen,
noch in welcher Richtung sie an den straff gespannten Seilen gingen. —
Dort haben wir gezeigt, daß die ersten (und letzten) Wahrnehmungen
der schräg zur Ganglinie stehenden Bretterwände nicht, wie Tr. im
3. Bande behauptet, bei dem ersten (und letzten) möglichen Lot von
der Ganglinie auf die Wand erfolgen. —
Aber auch so ist es bei Gehversuchen nicht möglich, die Fem-
empfindung, welche bald als „Druck", bald als „Berührung" (Dr. Woelfflin),
bald als „Schatten" (Dr. Krogius), bald als etwas „ Undefinierbares ^
niemals aber als Wärme bezeichnet wird, von den Fern Wahrneh-
mungen durch die anderen Sinne scharf zu scheiden, sie gleichsam aus
der gemeinsamen Lösung niederzuschlagen, zu fällen, oder sie zur Kry-
stallisation zu bringen. —
Deshalb haben wir unsere Hauptversuche in einen möglichst
großen, geschlossenen Raum verlegt, die Personen unbeweglich sitzen
lassen und die Objekte (Filz-Glas-Holz- und Pappeplatten) an langer,
dünner Stange ihrem Gesicht möglichst langsam genähert, um auch die
Einwirkung durch den Körper des Experimentators auszuschließen. (J.
A. F. Seh. S. 121—156, Jubiläumsbuch Großquartseiten 315—326). —
Während dieser Plattenversuche haben wir auch bei No. 17, einem
58jährigen Musik- und Stimmlehrer, die Experimente mit Kopfverband
und Ohrverschluß wiederholt.
Bei fest mit den Fingern verstopften Ohren stieg sein Ferngefühl
im kalten Turmsaale vor dem Gesicht sogar im Mittel von 64 auf
70 cm, während es sich seitlich, infolge der Ausschaltung der Trommel-
felle, der empfindlichsten Tastorgane, von durchschnittlich 41 auf 28 cm
verminderte, aber nicht aufhörte. —
Die Versuche wurden später bei verbundenem Kopf wiederholt.
Zuerst wurden die „Augen" mit einem mehrfach zusammengelegten,
weißen, leinenen Tuch verbunden. Die mittlere Tragweite vor dem Ge-
sicht betrug 62 cm. Dann umwickelten wir ihm Stirn, Augen und
Ohren mit einem größeren weißen Tuche. Da erklärte er: „So ist es
schön warm; so wird es noch besser gehen**. Tatsächlich stieg das
mittlere Femgefühl vor dem Gesicht auf 76 cm. (Er sagte: „So ist es
schön hell'*). Auf seinen Wunsch wurde ihm noch ein zweites, weißes
Tuch um den Kopf gebunden. Es zeigte sich keine Veränderung. Er
verlangte dann noch ein schwarzes Tuch, weil er meinte, seine (toten)
Augen könnten doch mitspielen, obwohl er nie gesehen hat, — da er ja
— 111 —
alles in der Augengegend spüre. Dann sank das Femgefühl bei den
üblichen 5 Versuchen vorn wieder auf ein Mittel von 64 cm.
Nun erlaube ich mir die Frage: Hätte das schwarze Tuch für
Wärmestrahlung nicht günstiger wirken müssen, als weiße Tücher?
Das Gegenteil war der Fall. Dieselbe Erscheinung ist bei kürzlich ge-
machten Versuchen etwas anderer Art, von denen später die Rede sein
wird, zutage getreten. Ich glaube also immer noch nicht, daß nur die
strahlende Wärme oder „Kälte'' unserer Platten, welche nur Lufttem-
peratur besaßen, die von Dr. Krogius vermutete Wirkung ausgeübt
habe. — Die Strahlung der lOÜO bis 1800 mal größeren Wände , des
Fußbodens und der Decke hätte doch wohl wirksamer sein müssen als
die der Platten. Dr. Krogius sagt femer, es sei bewiesen, daß die
Leitung durch die Tücher und nicht um dieselben herum erfolge. —
Bei unseren weichen Tüchern dürfte dies teilweise zutreffen — bei
seinen, für Luft undurchlässigen Tüchern wohl nicht. Dieselben mußten
doch etwas steif sein. Es wird mit Tüchern, besonders mit steifen, oder
gar mit Papierstreifen niemals gelingen , die Kopfhaut mit Einschluß
aller Teile der so druckempfindlichen Ohrmuschel und des noch viel sen-
sibleren Trommelfells hermetisch abzuschließen. Dies könnte nur
geschehen, wenn der Kopf eine glatt polierte Walze wäre ! Es werden
neben der Nase, bei den Ohrmuscheln etc. immer Lücken bleiben, welche
der Luft den Zutritt zu der Augengegend und dem Trommelfell ermög-
lichen, wenn auch die wirklich feste Bedeckung wichtiger Stellen (Stirn,
Brauen, Wimpern) eine meistens eintretende Herabminderung oder
Schwächung des Ferngefühls erklärt. Luftdruck wird wohl den Weg
um solche Binden herum finden. Etwas anders verhält es sich mit nassen
Kopfverbänden, die Dr. Krogius Band VII 178 beschreibt. Solche passen
sich der Haut natürlich viel enger an und sind undurchlässiger, schließen
also Luftreize von den fest bedeckten wichtigsten Stellen des Gesichts
Stirn, Brauen, Schläfen) größtenteils aus. Schon diese Tatsache erklärt
zur Genüge die sehr bedeutende Herabminderung der Fernempfindung ^).
Das Durchtränken der Binden mit heißem Wasser scheint mir von unter-
geordneter Bedeutung zu sein. Infolge der Verdunstung des Wassers
4) Die bei verschiedenen Forschern und oft auch bei derselben Versuchsperson
schwankenden Folgen des Kopfverbandes scheinen mir nicht nur von dessen Durchlässig-
keit, sondern hauptsächlich von dessen Festigkeit abzuhängen. Wenn derselbe lose
angelegt ist, schaltet er Luftdruck ja nicht aus und beeinträchtigt die Empfindlichkeit der
Haut nicht. Liegt der Verband aber so fest an, daß er die Haut zusammenschnürt, preßte
so wird dieselbe natürlich für äußerst schwache Luftdruckunterschiede unempfind-
lich. Man bewirkt ja durch das Abschnüren von Gliedmaßen vor Operationen sogar
Anaesthesie! — Dies ist bis jetzt nicht beachtet worden. —
— 112 —
mußte sich die Binde sehr bald bis zur Hauttemperatur abkühlen. Der
das Gesicht bestrahlende, um 40—60 qcm große, luftwarme Zylinder-
streifen dürfte aber die Abkühlung (nur solche könnte er durch Strah-
lung bewirken) durch die Luft selbst und durch die unendlich viel
größeren Laboratoriumswände kaum wesentlich beschleunigt haben. Seine
kalorische Wirkung kam offenbar nicht in Betracht (brennende Kerze
vor heißem Ofen), und der Einfluß der durch die Annäherung bewirkten
Luftströmung war durch die nasse Binde fast völlig aasgeschaltet, nur
das Trommelfell scheint unter solchen Umständen taktilen Einflüssen
noch zugänglich gewesen zu sein, weil die Ohren nicht verstopft waren.
So erkläre ich mir die starke Herabminderung ohne Aufhebung. Der
an anderer Stelle ausgesprochenen Behauptung, daß femfühlige Personen
die Femempfindung ausnahmslos im Gesicht lokalisieren, kann ich nur
zustimmen, wenn Dr. Krogius das Trommelfell zur Gesichtshaut rechnet.
Ich kenne mehrere gebildete Personen , welche den Druckreiz zuerst
im empfindlichsten Trommelfell und erst nachher bei weiterer Annäherung
des Objekts im Gesicht wahrnehmen. — Wenn es auch solche gibt,
welche die Wangen als empfindende Stellen bezeichnen, so beweist die
m. E. nur, daß bei ihnen die Wangen empfindlicher sind als die Stirn.
Dies ist , wie meine Drucktabellen zeigen , individuell verschieden. —
Dr. Cohn- Berlin hat mir übrigens erklärt, daß er alles am Oberarm
spüre. Unter allen Umständen unterscheiden diese Personen nicht
Tonintervalle mit dem Arm, oder mit den Wangen! Was ich von
den weichen , trockenen Binden gesagt habe , gilt auch von der Ein-
schaltung luftundurchlässiger Schirme zwischen Objekt und Gesicht.
Wärmestrahlen verbreiten sich wohl geradlinig. Wärmestrahlung
kann auf diese Weise ausgeschaltet werden, nicht aber Luftdruck. Der
Druck breitet sich in Flüssigkeiten — und die Luft ist auch eine solche —
nicht geradlinig, sondern nach allen Seiten aus. Wenn eine volle Fla-
sche zu stark verkorkt wird, so stößt der Druck auf die Flüssigkeit
nicht nur an dem gegenüberliegenden Boden ein rundes Loch heraus,
dessen Durchmesser dem des Zapfens entspricht. Ich glaube deshalb,
daß Luftdruck auch den Weg um Schirme und steife Binden herum
finde ; (er findet ja den Weg in den Körper hinein). Diesen Weg nehmen
Wärme strahlen allerdings nicht.
Dr. Krogius schreibt die Wirkung des kleinen, leeren, sich nä-
hernden Glaszylinders der Wärmestrahlung zu, übersieht aber, wie
mir scheint, daß die unendlich viel größeren Laboratoriums-
wände mit Einschluß der Decke und des Fußbodens doch sehr viel
mehr Wärme oder „Kälte" anstrahlen mußten als dieser kleine 8 cm
dicke, gleich warme oder kalte Glaszylinder, dessen Wärmestrahlung
— 113 —
nach Krogius schon so intensiv gewesen sein soll, daß ihn die Blinden
infolge derselben sicher lokalisierten, obgleich ein Zylinder die Strahlen
zerstreut.
Wir spüren ja, auch ohne „f ernf ühlig'' zu sein, die Nähe eines
kalten Fensters , einer offenen Türe , einer kalten Mauer oder eines
warmen Ofens. Wenn aber zwischen uns und dem heißen Ofen noch
eine brennende Kerze gestellt wird, so wird durch ihre Ausstrahlung
doch wohl nicht die Ofenwärme derart ,, übertönt", daß letztere wir-
kungslos wird und wir nur noch die Kerzenflamme durch den Tempe-
ratursinn wahrnehmen. — So verhält es sich mit dem luftwarmen kleinen
Zylinder und den gleich warmen, aber sehr viel größeren Laboratoriums-
wänden etc. — Wenn die Blinden diesen kleinen, kalten, sich nä-
hernden Zylinder doch auf kürzere Entfernung wahrnahmen, so beruhte
dies meines Erachtens wesentlich auf taktilen Reizen (Luftstrom),
und nur die größere Tragweite beim Gebrauch des warmen Zylinders,
also die Differenz, kann auf Rechnung des Temperatursinns gestellt
werden. —
Dr. Krogius glaubt, S. 174, mich etwas mitleidig daran erinnern
zu müssen , daß wir , wenn von strahlender Wärme die Rede sei,
auch von Kältestrahlen zu sprechen haben. — Von Kältepunkten der
Haut hatte ich in Nagels Physiologie auch schon gelesen. — Hier er-
laube ich mir die bescheidene und bemitleidenswerte Frage: Was ist
,, Kälte" im physiologischen Sinne, oder was empfinden wir als ,, Kälte" ?
Doch wohl nur ein rasches Sinken der Temperatur! Im Sommer em-
pfinden wir als Kälte, was wir im Winter schon Wärme nennen. Wenn
wir an einem eisigkalten , windigen Wintertage vom freien Felde in
einen Wald hinein kommen , fühlen wir uns schon ganz behaglich.
„Wärme" und „Kälte" bezeicbnen also in unserem Falle sehr elastische
Begriffe. — Da unsere ersten Plattenversuche im kalten März 1907 im
ungeheizten Tumsaale stattfanden, konnte allerdings eher von Kälte-
als von Wärmestrahlen die Rede sein: Sollten aber die kleinen, luft-
kalten Filz-Grias- etc. Platten mehr ,.Kälte'' ausgestrahlt haben, als die uns
umgebenden — aber ruhigen — Wände, die Decke und der Fußboden?
Und doch wurden diese Platten von fernfühligen Personen, trotz der
Wände, wahrgenommen, wenn man sie gegen ihre Köpfe be-
wegte. Wurde ihre Kältestrahlung durch diese Bewegung derart ver-
stärkt, daß sie alles Andere überstrahlten?
Wenn ich mich in einem frisch geheizten Zimmer an eine noch
kalte Mauer stelle, empfinde ich, ohne fernfühlig zu sein, die Kälte oben
auf der Stirn. Ist dies Kältestrahlung allein, oder Wärmeentzug,
oder Luftströmung? Es mag „Kältestrahlung" im Spiel sein; viel-
Meuraanh, Exper. Pädagogik. IX. Band. 8
— 114 —
leicht kommen aber doch auch die anderen Faktoren in Betracht. —
Sollte nicht etwa das wärmere Gesicht Wärme ausstrahlen?
Die Erde bewegt sich im kalten Weltraum. Während der Nacht kühlt
sie sich gewöhnlich ab, besonders bei klarem Himmel. Ist dies aiit
„Kältestrahlung" des Weltraums, oder aut Wärmeausstrahlung der
Erde zurückzuführen? Wenn wir in einer Kiste eine heiße Kngf-l
und ein Stück Eis neben einander legen, ohne daß sie sich berühren, >
kühlt sich die Kugel ab und das Eis schmilzt. Um zu schmelzen braucht
das Eis Wärme. Ist diese dadurch entstanden, daß das Eis seine Kälte
ausstrahlte, oder dadurch, daß es von der Kugel Wärmestrahlen
empfing ? — Sollte es sich mit den warmen Köpfen und den kalten Zy-
lindern nicht ähnlich verhalten, — wenn nun einmal alles auf Wärme-
strahlung der Objekte (?) beruhen muß?
Neben der kalten Mauer kommt aber vielleicht doch auch Luft-
strömung, bezw. Wärmeleitung in Betracht, wenn Dr. Krogius
diese auch ausschließt. — Warme Luft steigt, kalte sinkt. Neben der
kalten Mauer muß also ein kalter Strom in die Tiefe gehen, und
dieser trifft meine Stirn von oben. —
Dies könnte auch mit Dr. Woelffiins Beobachtungen (S. 193) in Ein-
klang gebracht werden. Er sagt dort: „Die Angabe, daß nur Gegen-
stände von Blinden perzipiert werden, welche mindestens Achselhöhe
erreichen, muß ich entschieden modifizieren. Wurde der Kopf etwas
gesenkt gehalten, so fand auch die Wahrnehmung von Bänken, Tischen
und ähnlichen Gegenständen bei Blinden mit gutem „Fernsinn" statt
Es scheint sich darum zu handeln, daß die refiektierten Luftwellen
möglichst senkrecht auf die Stirne auftreifen, während sie bei schiefem
Aufiallen entsprechend weniger perzipiert werden. (Druck?) Es sei hier
noch der Tatsache Erwähnung getan, daß das Ferngefühl den Blinden
nicht bloß von der Annäherung an das Hindernis unterrichtet, sondern
ihm auch Mitteilung zukommen läßt von der Größe bezw. Höhe des-
selben. So konnte fast immer mit Sicherheit die Nähe der Wand von
derjenigen einer Holztafel oder eines ähnlichen Gegenstandes unterschieden
werden. Bei ersterem Hindernis gab der Patient an, „es komme das
Gefühl von oben herab auf seine Stirn"; bei letzterem dagegen
fühlte er die Empfindung direkt auf sein Gesicht einwirken. —
Bei kleinen Gegenständen, 8 cm dicken Glaszylindern und kleinen
Filz- oder Glasplatten wird von einer absteigenden Strömung allerdings
nicht die Rede sein können ; auch nicht vom Zerreißen der warmen
Lufthülle, sobald Person und Objekt zu absoluter Ruhe gelangt sind. —
Ich muß also wieder die Behauptung des H. Dr. Krogius, daß die
Femempfindung der Haut nur auf Wärme- und Kältestrahlung he-
— 115 —
ruhe, in Zweifel ziehen, — auf die Gefahr hin, daß er mir auch künftig
eigensinniges Festhalten an meiner Meinung vorwerfe. — Mein Eigensinn
beruht auf Grründen ; der seinige doch wohl auch!
Dr. Krogius rügt es weiter, daß ich nicht angebe, wie viele Platten-
versuche bei niedriger Temperatur gemacht worden seien und daß ich
auf die Schwankungen bei den Versuchspersonen nicht genügend Rück-
sicht genommen habe. — Er glaubt sogar, daß ich durch Wiederholung
der Experimente meiner Theorie selbst „ein Loch gegraben" hätte.
Dr. Krogius hat meine erste Arbeit über diesen G-egenstand offenbar
nicht aufmerksam gelesen, sonst hätte er auf S. 157 (erster Satz des
Nachtrags) die Stelle finden müssen : „Während der bisherigen Versuche
in den kalten Märztagen herrschte im Turnsaal eine Temperatur von
7—10"". Die Zahl der Versuche hätte er auf den Seiten 141 — 156 bei
jeder Versuchsperson ablesen können. — Er findet schon dort mehr als
800 Plattenversuche verzeichnet — und später noch rund 300. — Dazu
kommen die vielen Personen, welche kein Ferngefühl zeigen, für die
also nichts notiert wurde. In dieser Arbeit werden weitere 300 ver-
zeichnet sein. Daß ich das „Loch" nicht fürchtete, zeigt die Wieder-
holung der Versuche mit den meisten verfügbaren Versuchspersonen.
Die Ergebnisse dieser Wiederholung bei anderer Temperatur findet er
auf den Drucktabellen 1 — 8 bei 20 Personen verzeichnet, (15 sind auf
S. 157 schon genannt) die im Erühjahr 1907 schon hier waren. —
Bei einer Reihe von Personen haben die angeblich unterlassenen
Wiederholungen schon damals stattgefunden. Dr. Krogius zieht also
aus seinem Versehen unrichtige Folgerungen.
Es ist allerdings wahr, daß ich anfänglich nicht für jede Versuchs-
reihe die Lufttemperatur einzeln verzeichnet habe. Ich dachte damals
ebensowenig an den großen Einfluß der Lufttemperatur als Dr. Elrogius,
bei dem ich die Bekanntgabe dieser Temperatur während seiner Ver-
suche heute noch vermisse, wie auch diejenige der Erblindungs-
ursachen seiner Versuchspersonen. Dies sind wesentlich Dinge, um die
wir nicht herum kommen ! —
Gerade für die Beurteilung seiner rein thermischen Theorie wäre
ja die Kenntnis der jedesmaligen Laboratoriumstemperatur sehr
wichtig gewesen, — und meiner von ihm nicht geteilten Ansicht, daß
diese Hyperaesthesie der Haut, die sich in Fernempfindung äußert, ihre
Wurzel nicht in der Blindheit selbst habe (weil es viele fernfühlige
Sehende gibt), sondern in gewissen Erblindungsur sachen , meistens
Infektionskrankheiten (Blenorrhoe, Pocken, Scharlach, Masern etc.), wäre
er vielleicht durch Bekanntgabe der Erblindungsursachen seiner fern-
fühligen Versuchspersonen wirksamer entgegen getreten , als durch un-
8*
- 116 -
gläubiges Kopf schütteln. — Alle Wurzeln dieser abnormen Sensibilität
-kennen wir allerdings noch nicht, weil wir sehr oft die wahren Er
Windungsursachen nicht erfahren. —
Der Einfluß anderer Begleitumstände (Befinden, Aufmerksamk<'lt
Ermüdung etc.) auf die Femempfindung ist uns schon recht bald auf^r
fallen. — Wenn wir die einmaligen Angaben für absolute Werte ge-
halten hätten, wären nicht je 5—10 Versuche — vorn, rechts, linl'^
hinten und oben — nötig gewesen; auch die zahlreichen Wiedc
holungen bei höherer Temperatur, welche Dr. Krogius übersehen
hat, hätten dann unterlassen werden können. — Immer hat es sich ge-
zeigt, auch neuerdings wieder, daß höhere Lufttemperatur das
Ferngefühl steigert. Wenn Dr. Krogius die Beschreibung mein<M
Technik bei der Prüfung des Ferngefühls mit Platten beanstandet, so
bedaure ich wirklich, nicht klarer sein zu können. Ich glaube aber, daß
mich die meisten Leser verstanden haben. Schon 1907 und seither wie-
derholt, ist gesagt worden, das die ca. ^jio qm großen Filz-Glas-Hol/.-
platten an einer langen, dünnen Stange befestigt waren, (damit der Ex-
perimentator in größerer Entfernung von den Versuchspersonen bleiben
konnte. — Mittels dieser Stange wurden die Platten den Köpfen der
Versuchspersonen in bunter Reihenfolge von allen Seiten sehr langsam
genähert, bis diese sie lokalisierten. Eine zweite sehende Person maß
die Distanzen mit dem Meter und schrieb sie auf. Oft wurde letzteres
auch durch einen dritten Sehenden besorgt. Es waren also stets Augen-
zeugen dabei; ich selbst dagegen nicht immer. —
Diese Versuche wurden stets, bei hoher und niederer Temperatur,
auf dieselbe Weise ausgeführt. Die Platten hatten natürlich stets di<
Temperatur der Luft.
Dr. Krogius schreibt dann im Anschluß an die Kritik meiner Be-
schreibung: „Diese Experimente beweisen nämlich, daß der Fernsinn
in hohem Grade von der Temperatur abhängig ist". „Diese
Tatsache ergibt sich aus der Temperaturempfindungstheorie."
Nun, diese Tatsache habe ich ja auf Grund zahlreicher Versuche
behauptet. Daß sie sich aber der Temperaturempfindungstheorie, wie
Dr. Krogius sie versteht, erkläre, bezweifle ich. -—
Je wärmer die uns umgebende Luft ist, desto lebhafter empfinden
wir plötzliche Kälte. Wenn wir aus einem sehr kalten Gemach plötzlich
in ein mäßig warmes kommen, so empfinden wir die Wärme viel deut-
licher, als wenn beide Zimmer annähernd dieselbe Temperatur besitzen,
der Temperaturunterschied also kleiner ist. —
Höhere Lufttemperatur steigert wohl nicht die Temperaturem-
- 117 -
pfindlichkeit der Haut, wohl aber, wie mir scheint, die Tastem-
pfindlichkeit. —
Nun bestreitet aber Dr. Krogius plötzlich wieder die „Tatsache",
die sich aus seiner Temperaturempfindungstheorie ergeben soll! Er
sagt nämlich: „aus meinen weiter angeführten Versuchen wird aber un-
zweideutig zu ersehen sein, daß hohe Umgebungstemperatur auf den
Fernsinn durchaus nicht fördernd einwirkt, ja unter Umständen (bei
Durchtrennung (Durchtränkung?) der Objekte mit siedendem Wasser)
ihn bedeutend beeinträchtigt". Sonderbar! Die „Tatsache", die sich 3
Zeilen weiter oben aus seiner Temperatur empfindungstheorie „ergab",
soll nun schon keine Tatsache mehr sein!!
Mir scheinen diese entgegengesetzten Behauptungen nur zu beweisen,
daß Dr. Krogius die Umgebungstemperatur, das heißt diejenige des La-
boratoriums, nicht nur nicht verzeichnet, sondern überhaupt
nicht berücksichtigt hat. — —
Das Durchtränken der „Zwischenobjekte" mit siedendem Wasser,
also das Erhitzen dieser „Zwischenobjekte", die doch auch Objekte
— und zwar näherstehende Objekte — sind, erhöht also die
Wärme- Strahlung und ihre Wirkung nicht! Das ist doch merk-
würdig! Wer gräbt sich denn da „ein Loch"?
Daß das Durchtränken eines Papierschirms mit siedendem Wasser
den Saal, d.h. die Luft des Saales, nicht heizt, also auch die Haut-
sensibilität für taktile Reize nicht erhöht, glaube ich gerne. —
Von dieser Lufttemperatur habe i'ch aber behauptet, daß sie
die Hautempfindlichkeit für Druckreize, nicht aber die für Wärmestrahlen,
steigere. (Es dürfte dies mit Ausdehnung und Zusammenziehung der
Haut durch Wärme und Kälte in Verbindung stehen). Das Wasser des
Schirmes wird verdunsten und Wärme binden, statt viel solche
auszustrahlen. Der Papierschirm stand auch still und die Zylinder
bewegten sich hinter demselben. Die durch die Annäherung des kl.
Zylinders erzeugte schwache Luftbewegung wurde durch den Schirm,
welcher zwischen Gesicht und Zylinder stand, natürlich abgelenkt;
die Wirkung also notorisch abgeschwächt, — nicht aber durch die Tem-
peratur dieses Schirmes! Daß man durch Zwischenobjekte hin-
durch, kleinere „Hauptobjekte" empfinde, ist mir ja gar nicht ein-
gefallen !
Die „durchtränkten" Schirme sollen aber das Ferngefühl nur „be-
einträchtigt", nicht aufgehoben haben. Dies ist mehr als ich verlangen
kann. Es beweist ja wieder, daß Luftdruck den Weg, nicht nur um
steife Binden, sondern auch um Schirme herum findet. —
— 118 —
Die Temperaturerhöhung der Luft wirkt auch nicht plötzlich,
sondern nur langsam fördernd auf die Hautempfindlichkeit ein. \rh
habe dies unter No. 38, S. 13 dieses Bandes besonders deutlich gezeigt.
— Als er mit bedecktem Kopf aus einem warmen Saal in einen kalten
(8°) geführt wurde, setzte das Ferngefühl (Platten) zuerst mit 50 und
50cm ein, sank aber mit dem Erkalten des Gesichts nach und nach
auf 12 cm. Als er wieder in den warmen Saal kam, setzte es, weil die
Kopfhaut noch kalt und unempfindlich war, vor dem Gewicht bei 24 cm
ein, stieg aber nach und nach bei 13 Grad derart, daß trotz der ge-
ringen Anfänge, ein Mittel von 60 cm und bei 1 6^ ein solches von 63 cm
erreicht wurde. Auf ähnliche Erscheinungen ist auch an mehreren an-
deren Stellen meiner Schriften hingewiesen worden. Ich kann hier nicht
alles wiederholen. So plötzlich ändert also ein heißer Wasserguß auf
einen Papierschirm die Temperatur des Saales und damit die Haut-
sensibilität nicht! —
Wenn unsere Finger durch große Kälte empfindlich geworden sind,
genügt es nicht, sie einige Sekunden an den warmen Ofen zu halten,
um ihnen ihre normale Tastempfindlichkeit wieder zu geben. Da wir.
wie gesagt, über die Laboratoriumstemperatur während der Versuche
von Dr. Krogius nichts erfahren, können wir also auch nicht beurteilen
ob höhere Temperatur dem Ferngefühl seiner Versuchspersonen genützt
oder geschadet hat.
Wenn das Ferngefühl nur auf Wärmestrahlung beruhte, müßte
es, wie gesagt, mit der Temperaturdifferenz zwischen Gesicht und
Objekt steigen und fallen. —
Auch über die Versuche des Herrn Dr. Krogius möchte ich mir
noch einige Bemerkungen erlauben. Die Wärmestrahlung erfolgt nach
den Gesetzen der Lichtstrahlung. Die Wärmestrahlen müssen also durch
einen Zylinder radial zerstreut werden — und nur diejenigen Strahlen
können das Gesicht treffen, welche zwischen den von beiden Ohren zur
Achse des Zylinders gezogenen Linien verlaufen. Wenn wir für das Gesicht
mit Einschluß der Ohrmuscheln eine Breite von 18 cm annehmen, so kann
bei 20 cm Abstand des Zylinders vom Kopfe nur ein 21 mm breiter Streifen
der Zylinderoberfläche das fast zehnmal breitere Gesicht bestrahlen
Bei 40 cm Abstand schrumpft dieser Streifen zu einem Centimeter zu-
sammen. Es wird mir deshalb recht schwer zu glauben, daß so
schmale, nur luftwarme Streifen allein auf das so viel breitere Ge-
sicht die von Dr. Krogius behauptete momentane Wirkung ausüben
können. — Wie viel bedeutender müßte sonst die Wirkung der wohl
20000 mal größeren, gleich warmen oder kalten Laboratoriums-
— 119 —
wände sein! ! Diese setzen doch nicht ihre Strahlung aus , sobald der
kleine Zylinder sie beginnen soll?
Wir haben hier wieder die Kerze vor dem heißen Ofen. —
Den Apparat, welchen Dr. Krogius S. 179 beschreibt, kann ich mir
vielleicht nicht recht vorstellen ; seine Beschreibung ist für mich viel-
leicht nicht anschaulich genug. Nach meiner Auffassung handelt es sich
um einen oben geschlossenen, unten und hinten offenen, über den Kopf
gestülpten Papierzylinder, dem zwei durch senkrechte Stützen ver-
bundene Drahtringe oben und unten die nötige Festigkeit gaben. Vorn
war, der Atmung wegen, ca. 6— 8 cm vor dem Munde eine 4^2 qcm große
Öffnung im Papier. —
Ich glaube nun nicht, daß der Luftstrom beim Ein- und Ausatmen
den Weg nur durch diese kleine Öffnung genommen habe, weil der
Zylinder ja unten und hinten offen war. — Der vom Munde oder der
Nase aufsteigende warme Strom der ausgeatmeten Luft dürfte die
Stirn erwärmt und für taktile Reize günstig beeinflußt
haben, wohl günstiger als die Strahlung des leeren Zylinders, welcher
ja nur Lufttemperatur hatte. Es sind also auch in diesem Falle taktile
Reize nicht ausgeschlossen, sondern wahrscheinlich. —
Dr. Krogius hat auch hier festgestellt, daß beim Grehen die Trag-
weite viel größer war als bei ruhiger Lage. Ich wiederhole
deshalb die Frage: Ist durch das Grehen die Wärmestrahlung
vermehrt, oder ist die Haut dadurch sensibler geworden
oder ist vielleicht doch Luftbewegung, also Druck,
vielleicht verbunden mit Abkühlung, im Spiel?
Es bleibt, wie meine Beispiele (warmer Ofen, offene Türe, kaltes
Fenster etc.) gezeigt haben, auch noch fraglich, ob das, was die Blinden
und Sehenden bei der Annäherung des warmen Zylinders im Gesicht
spüren, nicht b e wußte Temp er aturwahrnehmung, sondern das
ist, was viele Fernfühlige als undefinierbare Empfindung im Gesicht,
sehr viele als Druckempfindung, andere als Berührung und die
Russen nach Krogius als Schatten bezeichnen und das wir Ferngefühl
nennen. Sollte nicht wieder einer der Summanden des „Fernsinns",
d.h. derOrientation, mit der Summe verwechselt worden sein?
Dr. Krogius legt Wert darauf, daß die Blinden die Fernemp fin-
dung im Gesicht lokalisieren. Hier sind ihm die Blinden kompetent.
Warum berücksichtigt er nicht auch die Tatsache, daß fernfühlige Per-
sonen, sehende und blinde, diese Empfindung als Druck, Berührung,
Schatten etc. bezeichnen, aber nie von Wärme und Kälte sprechen?
Bewußte Temperaturwahrnehmung ist also das eigentliche Fern-
gefühl nicht, während diese bei der Orientation oft eine führende
— 120 -
Rolle spielt (oiFene Tür, Wind und Windschatten, Keller oder Zimmer,
Lage der Sonne, warmer Ofen etc.). —
Dr. Woelfflin schließt Temperatureinflüsse deshalb aus, weil seine
fernfühligen Blinden die Gegenstände auf größere Entfernungen wahr-
nahmen als Temperaturunterschiede, also die eigentliche Femempfindung
von Temperaturwahmehmungen zu trennen vermochten. —
Sind übrigens die Hände weniger temperaturempfindlich als das
Gesicht? Ich sehe im Winter mehr Leute mit Handschuhen als mit
Masken. Man klagt öfter über kalte Hände als über Kälte im Gesicht.
Dagegen ist bei Personen mit erheblichem Ferngefühl die Stirn 100 bis
500 und mehr mal druckempfindlicher als die Hände, besonders als
die Fingerspitzen. Warum lokalisieren nun die fernfühligen Personen,
wie Dr. Krogius auch feststellt, diese Femempfindung gerade in dem
druckempfindlichen Gesicht, und nicht in den ebenso tempera-
turempfindlichen Händen, oder auf dem entblößten Oberkörper. (Siehe
Versuch von Dr. Woelfflin.)
Der Nacken scheint nach allgemeiner Erfahrung viel temperatur-
empfindlicher zu sein als das Gesicht. Fernempfindung zeigt er bei
ruhiger Körperhaltung aber doch nicht — und beim Gehen (nachrückende,
seitlich abgeprallte Luftwellen) nur, wenn er gleichzeitig sehr
druckempfindlich ist. —
Dr. Krogius hat den Einfluß des heißen Messingzylinders auf einen
durchsichtigen und einen geschwärzten, mit Manometer ver-
sehenen Glaszylinder untersucht und damit die Diathermanität gewisser
Schirme und Binden geprüft. Was beweist dies aber für die Einwirkung
der strahlenden Wärme auf die Gesichtshaut? Wenn er diese ge-
schwärzt oder gepudert hätte, dann wäre ein Rückschluß auf den
Einfluß oder die Einflußlosigkeit der Wärmestrahlung vielleicht möglich
gewesen. Er hätte aber auch nur luftwarme Objekte verwenden dürfen,
denn heiße fühlt jeder in der Nähe des Kopfs, gleichviel, ob er „fern-
fühlig" sei oder nicht. Die Wärmeempfindung wird ihm dann aber als
solche — und nicht als „Druck" oder „Schatten" — bewußt. Man wird
also, wenn heiße Objekte zur Verwendung kommen, kaum jemals genau
erfahren, welcher Anteil an der Wahrnehmung bewußter Temperatnr-
empfindung und welcher dem eigentlichen „Ferngefühl" das von fern-
fühligen Personen niemals als solche bezeichnet wird, zuzuschreiben sei. —
Von der bekannten Tatsache ausgehend, daß schwarze Gegenstände
mehr Wärme „einsaugen" als weiße, daß somit schwarze Gesichter,
wenn die Fernempfindung der Haut ausschließlich auf Wärmestrahlung
beruhte, femfühliger sein müßten als andere, haben wir zwei blinde
Mädchen (No. 9 und No. 22) zuerst bei natürlicher Gesichtsfarbe,
— 121 —
vorn, rechts und links, je 6 mal mit der Griasplatte geprüft und ihnen
dann die Gesichter und die Ohrmuscheln mit Kienruß geschwärzt und
nachher mit Reismehl gepudert. Für die vierte Versuchsreihe mit
Xo. 1 wurde die Griasplatte mit Lampenruß geschwärzt. Das
Gresicht war wieder rein. Für die letzte Reihe bei höherer Temperatur
wurde auch die Platte wieder gereinigt. — Während der 3 ersten
Reihen zeigte das Thermometer 19^ C; während der beiden letzten
Reihen stieg es auf 22^. —
Es ergaben sich folgende Resultate:
(Siehe Tabelle S. 122).
Aus umstehender Tabelle scheint mir wieder hervorzugehen, daß
der Temperatursinn (speziell Wärmestrahlung) beim eigentlichen Fern-
gefühl nicht die Rolle spiele, welche Dr. Krogius ihm zuschreibt. Ge-
schwärzte Gesichter spürten die Platte sogar weniger weit als die
reine, oder die weiß gepuderte Haut. Auch die mit Lampenruß ge-
schwärzte Glasplatte wurde von der äußerst zuverlässigen und intelli-
genten Versuchsperson No. 9 nicht weiter gespürt (durchschnittlich
77 cm) ; als gleich nachher bei größerer Ermüdung und gleicher Tempe-
ratur die wieder gereinigte Platte (79 cm). —
Man könnte dieses negative Ergebnis dicker Bedeckung mit einer
Kienrußkruste zuschreiben. Ich muß deshalb gleich bemerken, daß ich
den Kienruß mit Watte auf das trockene Gesicht rieb, so daß keine
Kruste entstand. Auch ließ ich nach der Schwärzung eine Pause ein-
treten, damit die Haut zur Ruhe kam, ehe die Experimente wieder auf-
genommen wurden. — Diese Versuche strengen aufs äußerste an. Es
wird s. z. s. jeder Nerv angespannt. Sobald infolge der Ermüdung die
Aufmerksamkeit nachläßt, sinken die Zahlen. Ich habe deshalb, wie
früher, gelegentlich auch innerhalb der Versuchsreihen Pausen eintreten
lassen. Während einer solchen wurde No. 22 die Platte von vorn ge-
nähert, bis sie die Nasenspitze berührte, ohne daß vorher eine Wahr-
nehmung erfolgt war. — Dies zeigt den Einfluß der Aufmerksamkeit.
Es entspricht dem, was Dr. Krogius S. 183 über Mangel an Wahr-
nehmung während eines Gesprächs sagt. Sobald die Aufmerksamkeit
nachläßt, stößt ja auch der Fernfühligste an. —
Auch der Einfluß der Lufttemperatur tritt hier wieder deutlich zu
Tage. — Ich habe aber schon gesagt, daß es nicht auf die absolute
Temperatur, den Thermometerstand, sondern auf die Wärmeempfin-
dung ankommt. Im Winter ist es bei 14—15 Grad behaglich, im Sommer
nach großer Hitze aber nicht ; im Sommer ertragen wir leicht 23"; wenn
aber im Winter die Zimmertemperatur über 20^ steigt, ist es „zum Er-
sticken." So erklärt es sich, daß die Tragweite im Winter bei 19^
— 122 —
f
r
3
^
s
g
o
s
CS
5
er
1
>•
3
5
(0
^
5*
P?
r.
Ch
f*-
s
^ ^1 O« CO ^ o«
O» O O» © CS ©
s
i
OS O fcS fcO o o
B
i
t
s
^
o«
cS
g§^^^;jf
•}
-Cl
Ol
§gS^3§
i
a
o
CO
Ci
o
Ol
er
s* ^
OB
tf>^
1— t—
tU.
B
•<
8S
SS
SSSSSä
SS
i
©©»(>> OS © CO
o
5
s;
to
c: lo o* t*^ Ol »^
»(^
i
tU »t^ Ol »U Ol 03
5
=:
2
;o
O» O --J ^ o o
et
Ol Ol a ^ © Ol
Ä-
co
i
BT
s
»^
)U
^
to O« -M »^ CS (O
Ö5 J
SS
CO
CS
CS © 00 Ol Ol ©
B
i
« >—
S '
C5
o»
Ol U)0 *-© it-
6^
K^
sr
1 -
1
Ol
i
Ol «q t^. C5 (^ C»
o« © 00 ^ o o»
^
OS
8SS^8gi
B
><
o
In9
oo
CS
3
03
/
»«>^
^-
Ol
Ol
ü^ OS >tk rfi. •^ 00
CS
©
CS CS CS 00 •>) lU
«
n
o
(0
;0
o»
O lO Ol rf». 03 ^
-vi
oo
^ rf»- ^ to OD Ol
B
K*
OS
1
o
2
Cl
03
»;>. Ci CS ^ ►t». OD
-v}
CS
s
CS CS c: CS CS ^
B
^
1
»*•
-^
U) üi <| O © 03
h* '
•>J
CO
OO »K <» CS CS lO
er
ST
'S =
1
c»
4^
-<
a
a
Oi
g
Cn »t.. ^ Cw 00 00
"^
"M
^ OD 00 00 <I CS
s
o
CC to rf>> to lO 09
CS
c:
CO ^ OD to <l 03
5
'
^
O
<l
CS
OD OD <l ^1 <1 ^
B
c*
O
S
gJg-S 5
CS
°
>*». t*»- to Ol © o»
OB
ä- 1 i. ^ f
^
il
»3
'S <
CS
i
Ot
Ol Ol OD <» -^ «
© "^ to © CS ©
3
3
sr
i 1
n
s
^ig^^s
§
<
1
i'l s-f §
4^
4^
sssäss
§
1
s
s
Sl
SäSSSS
§
er
sr
« < 1
Ol
Nu* N« B«
^
s
1
D T er
§
3
ssssss
B
5
— 123 —
Wärme diejenige bei viel höherer Sommertemperatur übersteigen kann.
— Dies muß berücksichtigt werden. —
Bei No. 9 betrug im Frühjahr 1907 an einem kalten Tage (unter
10^), allerdings ca. 2 Monate nach überstandener Augenoperation, die
Tragweite des Femgefühls im Mittel nur 19 cm. Im Sommer stieg sie
auf 53 cm , letzten Winter im überhitzten Zimmer auf 70—75 und
kürzlich an einem kalten Oktobertage im überhitzten Zimmer (22 — 23*^)
bis auf ein Mittel von 140 cm. —
Für No. 22 haben diese Zahlen folgende Steigerung erfahren:
Bei 7—10« 41 cm
„ 23« Sommer 61 „
„ 19« Winter 70 „
Folgende Zusammenstellung zeigt den Durchschnitt :
No. 17 Bei 7—10« Wärme 59 cm Bei 23« (Sommer) 91 cm
1 „ . . 39 „
2 „ . „ 34 „
20 4
21 „ . . 38 ,
11 , , , 32 „
29 „ „ , 0 „
14 „ „ . 20* ,
3 ;? ;, » 0 „
41 41
29 „ „ „ 19 „
■24 „ „ . 0 „
27 , . „ 12 „
9 „ „ „19 (Winter 75) „ 53 ,
22 „ „ „ ^l_ (Winter 70) „ J^ „
385 cm 629 cm.
Diese Summen verhalten sich zu einander wie 100 zu 163,3. Die
Durchschnittstragweite war als im Sommer (im Schatten) um 63,3 «/o
gestiegen. In einzelnen Fällen ist aber der Prozentsatz viel höher, be-
sonders , wenn wir die Ergebnisse im künstlich überhitzten Zimmer
(Winter) berücksichtigen. In einem Falle steigt er auf 700 «/o. — Die
Platten (Objekte) hatten natürlich immer nur die Temperatur der Luft.
— Obige Zahlen scheinen mir denn doch den Einfluß der Luft-
temperatur auf die Tragweite der Fernempfindung, den Dr. Krogius
(S. 174) bald aus seiner Strahlentheorie erklären will, bald wieder be-
streitet, zu beweisen. Daß sich dieser Einfluß aus Wärmestrahlung
der Objekte nicht erklären läßt, habe ich weiter oben gezeigt. Mir
»
75
57
V
77
48
7)
r
4
n
55
54
75
75
34
v
77
0
71
77
38
55
75
7
75
55
61
55
77
53
77
77
34
77
n
5
77
77
29
— 124 —
scheint nur die Haut durch Wärme für taktile Reize sensibler zu
werden. — Wir wissen ja alle, daß warme Finger besser tasten als
kalte. Kälte macht sie unempfindlich. —
Dr. Krogius schreibt S. 1G9, es sei aus meinen Angaben durchaus
nicht zu ersehen, daß eine „strenge Proportionalität" zwischen der
Druckempfindung und dem Fernsinn existiere.
Eine solche Proportionalität, wie ich sie verstehe und in verschiedenen
Arbeiten, die auch Dr. Krogius zugänglich waren, erklärt habe, besteht
aber. Ich habe schon 1907 (Archiv S. 172) Jubil.-Bach S. 334 gesagt:
„Da es mir ferner nicht möglich gewesen ist, ein Tasthärchen zu
finden, das auf Wimpern — meistens auch Brauen — , auf der Innen-
seite der Ohrmuschel und an der Gehörgangsmündung nicht auch von
den Hartfühligsten äußerst lebhaft empfunden worden
wäre, so daß an diesen Körperstellen ein Unterschied zwischen Em-
pfindlichen und Hartfühligen nicht festgestellt werden konnte, obgleich
er offenbar vorhanden ist, dürfen die Ziffern, welche sich auf
die genannten Stellen beziehen, nicht in Rechnung ge-
bracht werden. Ich habe sie deshalb eingeklammert*). —
Es zeigt sich dann, daß für die Hartfühligen, die auch kein
Ferngefühl haben, No. 3, 20, 29, 24 (später 42 und 43), in Ko-
lonne I nichts oder so gut wie nichts mehr übrig bleibt.
Bei allen Fernfühligen dagegen bleiben in Kolonne I noch 4 bis 11
Ziffern stehen.
Von besonderer Wichtigkeit scheint wohl, außer dem Trommelfell,
infolge ihrer großen Angriffsfläche, die Stirn zu sein.
Woelfflin bestätigt dies.
Alle diejenigen, welche auf der Stirn das Härchen I regelmäßig
spüren, haben Ferngefühl.
Je mehr sich die „Fünfer" nach rechts in den folgenden
Kolonnen zerstreuen, desto geringer ist das Ferngefühl. **
Dr. Krogius scheint dies alles übersehen zu haben. Von No. JI,
das die Herren Gegner, trotz obiger Stelle, auch in Rechnung gebracht
haben, ist hier gar nicht die Rede. —
Meine Erklärung in der „Antwort" habe ich weiter oben S. 97 zi-
tiert. Man findet sie auch im ersten Abschnitt der Seite 22 dieses
Bandes. („Feines Druckgefühl — bedeutendes Ferngefühl, Einseitiges
Druckgefühl — einseitiges Ferngefühl, Hartes Druckgofühl — Fehlen
des Femgefühls etc. so verstehe ich die Proportionalität").
Dr. Ejrogius berücksichtigt dies nicht, sondern zählt einfach die Ge-
1) Diese Einklammcrung ist auf den Drucktabellen 7 und 8, die in dieser Zeit-
schrift crscliienen sind, allerdings leider vergessen worden. —
— 125 —
biete, welche I empfanden (auch ohne Rücksicht auf ihre Ausdehnung)
zusammen! Nach meiner obigen Erklärung hätten vorerst die einge-
klammerten Zahlen ausgeschieden werden müssen. Bei No. 5 kommen
also nicht 10, wie Krogius „meint", sondern nur 10 — 5 = 5 Hautstellen
in Betracht; bei denen, welche kein oder nur minimales Femgefühl
zeigen, bleibt in der ersten Kolonne überhaupt so gut wie nichts mehr
übrig (No. 20, 29, 3, 24, 42 und 43). —
Es ist nun, wie ich in der oben zitierten Stelle angedeutet und in
dieser Arbeit schon gesagt habe, klar, daß eine druckempfindliche
Stirn infolge ihrer Größe 50 unempfindliche Ohrläppchen oder Augen-
lider aufwiegt. Dr. Krogius zählt aber einfach die „Grebiete", ohne
Rücksicht auf ihre (xröße und Wichtigkeit zusammen — und findet na-
türlich 8 sei mehr als 6. —
Es gibt eben Gebiete und Gebiete wie fagots et fagots. — Ein
Hektar ist ein Gebiet und 1 Ar auch. — Rußland, Deutschland, Öster-
reich-Ungarn, England, Frankreich und Italien sind 6 Gebiete ; Andorra,
Monaco, San Marino, Luxemburg, Liechtenstein, Montenegro und Serbien
sind aber 8 Gebiete. 8 ist natürlich mehr als 6 1 Folglich hat Kunz
sich geirrt! Dr. Krogius weiß dies alles natürlich viel besser als ich;
er hat sich mit seiner Addition offenbar nur einen mathematischen
Scherz erlaubt. — Es ist wohl auch klar, daß nicht alle Personen,
welche z. B. auf der Stirn das Härchen No. I noch regelmäßig spürten,
genau gleich druckempfindlich sind. — Für manche würde wohl
ein feineres Härchen ausreichen. —
Wer im geschlossenen Räume das Ticken einer Taschenuhr auf
3 Meter wahrnimmt, kann wohl als „feinhörig" gelten. Aber nicht
alle, die es auf diese Entfernung wahrnehmen, sind gleich feinhörig.
Bei unseren Versuchen zeigten 15 Personen größere (bis auf 12 Meter)
und 20 geringere Hörweite. Ahnlich dürfte es sich mit der Druck-
empfindlichkeit verhalten. Unsere Druckversuche haben nur ergeben,
daß sichere Wahrnehmung des Härchens I auf den für das
Ferngefühl wesentlich in Betracht kommenden Hautstellen mit mehr
oder weniger Fernempfindung verbunden war, nicht aber,
daß dies die Grenze der Druckempfindlichkeit sei. Noch feinerer
Drucksinn erklärt wohl größere Tragweite des Femgefühls. —
So ungleiche Werte dürfen aber nicht mechanisch addiert werden.
— Wenn dies angängig wäre, hätte ich es wohl selbst besorgt. —
Daß die eingetragenen Zahlen für die Tragweite des Femgefühls
nicht absolute Werte sind, ist schon durch die Wiederholung der
Versuchsreihen anerkannt und gezeigt worden. Sie schwanken je nach
der Aufmerksamkeit, der Ermüdung, dem Befinden und besonders der
- 126 —
Lufttemperatur, welche die Drackempfindlichkeit augenscheinlich
heeinflußt. Annähernd feste Zahlen könnten nur gefunden werden,
wenn es möglich wäre alle Versuche unter denselben Umständen
und Bedingungen auszuführen. Dies wird in einer Anstalt, wo man
auch noch anderes zu tun hat, niemals möglich sein, besonders, wenn
man nur vor Zeugen Experimentieren will und die Heizung nicht mit
absoluter Sicherheit zu regeln vermag. (Dies gilt aber auch von den
Herren Gegnern, welche nicht einmal die Lufttemperatur beachtet haben).
Dieselbe Konstanz der Temperatur wäre aas den eben angeführten
Gründen auch für die Druckversuche erforderlich. Unsere Versuche
haben sich aber durch lange Monate hingezogen (März 1907 — Okt. 1909).
Konstanz der Temperatur war ausgeschlossen. Auch kannten wir an-
fänglich den EinHuß derselben auf die Hautsensibilität noch nicht. —
Neue Versuchsreihen, zu denen uns die Zeit fehlt, bei gleicher Tem-
peratur für alle Versuche würden gewiß auch die Drucktabellen
etwas modifizieren, aber nach meiner Überzeugung ebenso sicher unser
Hauptergebnis, die Übereinstimmung des Drucksinns mit dem Ferngefühl
ergeben. — Daß auch der Temperatursinn mit dem Drucksinn steige
und falle habe ich nicht finden können. —
Wenn dieselbe Übereinstimmung der Hautsensibilität für kalorische
oder andere Reize mit dem Ferngefühl nachgewiesen würde, wie sie
zwischen letzterem und dem Drucksinn besteht, dann müßte mein Er-
gebnis ergänzt oder modifiziert werden.
Nun noch die Druckversuche des Herrn Dr. Krogius! (Zu
vergleichen S. 25—28 dieses Bandes).
Wenn ich auch mit Vergnügen gelesen habe, daß Dr. Krogius eine
Durchschnittsüberlegenheit, „eine Vervollkommnung" des
Drucksinns seiner (fern fühligen) Blinden über den der wohl meistens
nicht fernfühligen, geprüften Sehenden gefunden hat, was meine An-
nahme stützt, so muß ich doch bekennen, daß mir seine Druckversuche
mit der Wage bei ungewohnter Rückenlage und Annahme eines „Nor-
maldrucks" von 4 Gramm für Stirn und Hand für unseren Zweck
genau so ungeeignet zu sein scheinen wie ihm meine Temperaturver-
suche.
Auch finde ich es sonderbar, daß er von einer „Vervollkomm-
nung" des Drucksinns seiner Blinden spricht, was so gedeutet werden
könnte, als ob die Blindheit sie bewirkt habe, während er die Personen
doch vor ihrer Erblindung nicht geprüft hatte, also auch nicht wissen
konnte, ob eine „Vervollkommnung" eingetreten war. —
Schon die Lage mußte die Frauen oder älteren Mädchen befangen
machen. Dann wendet Dr. Krogius, wenn ich ihn richtig verstanden
— 127 —
habe, ja (sogar für Druckpunkte) auf Hand und Stirn denselben
„Normaldruck" von 4 Gramm an, während von fernfühligen Per-
sonen, sehenden und blinden, auf der Stirn ein Druckreiz von 1 Milli-
gramm regelmäßig empfunden wurde, ohne daß ich Druckpunkte gesucht
hatte, — wogegen für die Hände ein solcher von 100 — 500 Milligramm
und mehr erforderlich war ! — Für die Stirn war sein „Normaldruck"
m. E. 4000 mal und für die Hände 80 bis 400 mal zu groß. Durch
solchen Druck, der einer Gesamtbelastung der Stirn mit 50 — 60 Kilo-
gramm entsprechen möchte, wenn er gleichzeitig auf alle Druckpunkte
ausgeübt würde, müßten doch die zarten Endigungen der Drucknerven
bis zur Unempfindlichkeit gequetscht werden. — Wohin kämen wir mit
ähnlich bemessenen Normal-Temperaturreizen ? !
Unter solchen Umständen kann ich auch seine Blinden nur be-
wundern, wenn sie noch kleine Druckunterscbiede empfinden!
Und doch hat ihm sein Verfahren noch erlaubt festzustellen, daß
bei den Blinden die Druckempfindlichkeit der Stirn größer sei als die
der Hände. Einen Maßstab für diese Überlegenheit der Stirn, die ge-
rade bei fernfühligen Blinden 100 — 500 und mehr Prozent beträgt,
liefert es ihm allerdings nicht.
Bei den Sehenden soll es umgekehrt sein! (Band V, S. 80).
0, dieses „Sinnenvikariat !" Ich habe diese Umkehrung nicht
gefunden. Gibt es denn besondere Blinden-Nervensysteme, die nach der
Erblindung eingetauscht werden können? Oder wird das Nervensystem
eines Menschen, den ein Flintenschuß des Sehvermögens beraubt, dadurch
völlig umgekrempelt?
Die Sehenden verhalten sich nach meinen Versuchen ganz wie die
Blinden; nur haben sie keine Leseschwielen an den Zeigefingern. Bei
ihnen treffen wir durchschnittlich nicht den großen Unterschied zwischen
der Druckempfindlichkeit des Zeigefingers und der anderen Finger. Auch
Griesbachs Raumschwellenmessungen zeigten diesen Unterschied weder
bei Vollsinnigen, noch bei Taubstummen. —
Die Erblindung rührt sehr oft von Krankheiten der Sehnerven oder
von Veränderung und Zerstörung der Sehzentren in der Gehirnrinde
her. Sollten dadurch andere Teile des Gehirns günstig beeinflußt, gestärkt
werden?? Veränderung oder Zerstörung anderer Teile der Hirnrinde
hat ja, wie Dr. Krogius besser weiß als ich, Störung der geistigen
Funktionen zur Folge. Werden dadurch andere Teile der Hirnrinde
derart gestärkt oder „verfeinert", daß sie das Vikariat für die zerstörten
Teile übernehmen können? Ich bin immer noch und immer mehr der
Meinung: Wo ein „Glied" leidet, da leiden alle. — Von einem Vikariat
im physiologischen Sinne kann keine Rede sein. Daß der Blinde
- 128 —
für sein Geistesleben andere Eingangstore offen halten muß, weil ihm
das wichtigste verrammelt ist, braucht wohl nicht gesagt zu werden. —
Der Psychologe Volkmann hat dies schon vor 25 Jahren richtig ausge-
drückt. Er sagt : „Die Frage nach dem Sinnesvikariat gehört in die
Physiologie oder ist vielmehr in der Physiologi e bereits ziemlich
antiquiert. In der Psychologie kann sie nur eine Stelle erhalten,
wenn man das Vikariat als Surrogat auflaßt , d. h. dia Frage nach dem
Ersätze stellt, den die Ausbildung des einen Sinnes dem Zurück-
bleiben oder Ausfall anderer gegenüber für die Entwicklung des Seelen-
lebens zu gewähren im Stande ist. In dieser Bedeutung besitzen im
allgemeinen die Sinne der sensoriellen Nerven ihr Surrogat an denen der
sensitiven und besitzt insbesondere der Gesichtssinn sein Surrogat an
dem Drucksinn und das Gehör an dem Körpersinn, so daß für die beiden
edelsten, aber auch am meisten gefährdeten Sinne in zuverlässigster
Weise gesorgt ist".
Es handelt sich hier also um den Gebrauch der anderen Sinne
als Ersatz (Surrogat) für das verlorene Gesicht. Daß der unausgesetzte
Gebrauch ein Sinnesorgan nicht unbedingt stärkt, dürfte bekannt sein.
Wäre es anders, so müßten die „Studierten" durchwegs bessere Augen
haben als Bauern, Förster, Hirten, Handwerker etc. — Ich glaube
nicht, daß es so sei.
Nur dem Verfahren des Herrn Dr. Krogius kann ich das mindestens
sonderbare Ergebnis zuschreiben, daß bei den Sehenden die Hände
druckempfindlicher seien als die Stirn. Ich habe stets, bei
Blinden wie bei Sehenden das Gegenteil gefunden. Die Hände sind
fast immer 100 bis 500 mal weniger druckempfindlich. Bei den
Blinden fällt nur die durch das Reiben auf den Punkten bewirkte, be-
sondere Hartfühligkeit der Lesefinger auf, während bei Sehenden ein
solcher Unterschied zwischen Zeigefinger und Ringfinger in der Regel
nicht besteht. Es hängt dies vom Beruf ab. Bei grobem Handwerk
und Feldarbeit wird meistens die Kuppe des Zeigefingers infolge seiner
größeren Inanspruchnahme auch härter als die des Ringfingers. Die Haut
wird verdickt; mit dem Nervensystem als solchen hat dies wohl nichts
zu tun; denn es ist nicht einzusehen, warum und wie ein Mensch durch
Erblindung oder durch grobe Handarbeit ein anderes Nervensystem be-
kommen sollte. Dies aber wäre nötig, wenn nach der Erblindung eine
allgemeine Umkehrung erfolgte.
Um sicher zu gehen, habe ich in den Weihnachtsferien 10 Sehende
auf Druckempfindlichkeit mit dem Tasthärchen geprüpft und zwar eine
Lehrerin, einen Lehrer, eine Näherin, zwei Dienstmädchen, eine sechzehn-
jährige Schülerin, meine Frau, den Werkmeister für Seilerei, den Fuhr-
— 129
mann, welcher auch im Garten arbeitet und den Hausdiener, — also
Vertreter recht verschiedener Berufsarten. Diese Versuche haben das
Gresagte vollauf bestätigt.
Die folgende Tabelle, auf welcher die auf jeder geprüften Haut-
stelle (Stirn und Hände) noch regelmäßig empfundenen Härchen I bis VII
eingetragen sind, wird darüber Auskunft geben.
(Beugungwiderstände. No. I = 0,001 gr
„ n = 0,002 „
„ III = 0,003 „
„ IV = 0,01 „
„ V = 0,02 „
. VI = 0,1 „
„vn = o,5 „)
Regelmäßig empfundenes Druckhärchen
Rechte Hand
Linke Hand
Ferngefühl
<ü
ü
S
ü
''ersuchsperson
Stand
Stirn
1
B
j3
-2
a
'S
s
§0
1
(FUzplatte
von
9 qdm)
13
ci
s
c
'Ö
s
S
1
n
Co
i
p
%
iJX)
2
W
1
2
ro.37. H.?J.L.
Lehrer
36
I
Meist VI
sicherVII
VH
VI
VI
VI
VI
VI
VI
ca. 26 cm
a 36.Frl.R.Il.
Lehrerin
34
I
VI
vn
VI
VI
VI
VI
VI
VI
ca. 24 „
„ 62. FrLL.K.
Schülerin
16
I
VI
VI
VI
V
V
V
V
V
ca. 25 „
„ 63. B. T.
Dienst-
mädchen
18
H
VII
VII
VH
VII
vn
vn
VII
vn
„ 58. M.A.
Küchen-
mädchen
16
Fast
immer I
VI
VII
vn
VII
VI
VII
VII
VII
ca. 10 „
„ 64. A. G.
Näherin
28
1. 1. r. n
VII
vn
vn
vn
VI
VI
VII
VI
Spuren
„ eS.Fr.M.K.
Hausfrau
57
I
Meist V
sicher VI
VII
VII
VI
Meist V
sicher VI
VI
VII
VI
ca. 27 cm
„ 66. K. H.
Seiler-
meister
46
II
VII
?
'
VI
VII
?
?
vn
„ 67. M. L.
Fuhrmann
47
IV
vn
VII
?
VII
vn
VII
?
VII
« 68. Ph. Seh.
Hausdiener
26
II
VH
VII
VII
vn
VII
VII
vn
VII
Zimmertemperatur 12°.
Wo ein ? steht, war auch VII nicht ausreichend.
Bei zwei Sehenden, dem Seilermeister und dem Fuhrmann war für
Zeigefinger und Daumen, wie für den Lesefinger des Blinden No. 38,
das stärkste Härchen noch zu schwach. Sie sind aber, wohl infolge
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 9
- 130 —
ihrer fortwährenden Beschäftigung im Freien, auch auf der Stirn ver-
hältnismäßig hartfühlig. No. 66 empfand dort noch, wie die meisten
nicht fernftthligen Blinden, No. II (0,002 gr. Druck), No. 67 aber
erst 10 Milligramm (No. IV). Doch selbst bei No. 67 sind die Finger-
spitzen noch ca. 60mal hartfühliger als die Stirn! Bei den
meisten betrug dieser Unterschied 100—500 %. —
Mit der größeren Druckempfindlichkeit der Hände Se-
hender gegenüber der Stirn ist es also nichts. —
Fünf von diesen 10 Sehenden, d. h. alle diejenigen, welche das
Härchen I auf der Stirn empfinden, haben Ferngefühl. Bei vieren
beträgt der Durchschnitt 26 cm. Dies übersteigt die Durchschnittstrag-
weite wie sie im Frühjahr 1907 bei den Blinden ermittelt wurde. —
No. 58 zeigt es in schwächerem Grade. Ihre Stirn empfindet I meistens,
aber nicht immer ; No. 62 und 65 haben an Scharlach gelitten;
von No. 58 weiß ich dies nicht sicher. — (Ausgetreten).
Auch No. 64 zeigt Spuren, aber unsichere Lokalisation, wie fast
alle unsere für Druck einseitigen Versuchspersonen. Sie empfindet No. I
nur auf der linken Stirnseite. —
Ich habe bis jetzt hier 15 Sehende auf Femgefühl geprüft, ohne
sie besonders auszusuchen (No. 36, 37, 44, 53, 56, 57, 58, 62, 63, 64, 65,
66, 67 u. 68). Sechs von ihnen besitzen es in normaler Stärke (No. 36,
37, 44, 53, 62, 63) ; ohne daß sie es früher wußten ; zwei zeigen Spnren ;
sieben empfinden nichts. — Außerhalb der Anstalt kenne ich z. Z. 2
Femfühlige. Die Zahl der fernfühligen Sehenden ist offenbar viel größer,
als man ahnt. Auch Dr. Allers, von dem noch die Rede sein wird, hat solche
entdeckt. — Von einem „sechsten Sinn der Blinden" kann also keine
Rede sein; denn unter unseren Blinden zeigen sehr viele kaum bemerk-
bares Ferngefühl, oder keine Spur desselben, besonders alle dieje-
nigen, welche an Unfällen (Verletzungen des Augapfels) erblindet
sind. Ich brauchte also die Unempfindlichen nicht, wie Dr. Krogius
meint, herauszusuchen. Mehrere solche wurden sogar nicht in die
Liste aufgenommen, weil mir dies zwecklos schien. —
Ein blindgeschossener Knabe (No. 20), welcher minimales Femgefühl
zeigt, „verdankt" dieses offenbar nicht seiner Blindheit. Er war wäh-
rend seines Aufenthalts in der Augenklinik durch Masemgift infiziert
worden. Er litt schwer an dieser Krankheit. — Sein Orientierungs-
vermögen ist sehr gut; er verdankt es aber nicht der geringen Fern-
empfindung. Ich vermag also in der Fernfühl igkeit nur eine Übcr-
cmpfindlichkeit der Haut zu erkennen (darin wird mir Dr. Krogins
wohl beistimmen), die wohl in den allermeisten Fällen auf infektiöse
— 131 —
Krankheiten zurückzuführen ist. (Immer erfahren wir ja die wahren
Erblindungsursachen nicht.)
Solche Krankheiten dürften in Rußland heute noch, wie bei uns vor
30—50 Jahren, 80 % der Anstaltszöglinge und Pfleglinge liefern. Die
übrigen 20 % verschwanden s. Z. auch bei uns in der Menge.
So konnte die Fabel von dem „6. Sinn der Blinden", d.h. aller
Blinden und nur der Blinden, entstehen. (Dr. Woeliflin hat unter
40 Blinden nur 9, also 22,5 °/o, wirklich fernfühlige (mit fein entwickeltem
„Fernsinn") konstatiert).
Sie paßt nicht mehr in unsere Zeit und in unser Land!
Unter allen Umständen haben die Druckversuche von Dr. Krogius
in Bezug auf die Fernempfindung nichts zu Tage gefördert, das
meiner Auffassung widerspricht. Die behauptete „Vervollkommnung",
des Drucksinns bei seinen fernfühligen Blinden, gleichviel ob sie be-
deutend oder unbedeutend sei, stützt die Druck-Theorie, statt sie zu
stürzen.
Der Alleinherrschaft der Wärmestrahlung vermag ich nicht zuzu-
stimmen, obgleich ich thermische Einflüsse nicht ausschließe, wenn nicht
Dr. Woelfl'lin etwas Besseres an ihre Stelle setzt. Auch wenn nach-
gewiesen würde, was mir nicht gelungen ist, daß die Hautsensibilität
für kalorische Reize mit der Druckempfindlichkeit steigt und fällt, könnte
erst von gleicher Beteiligung des Druck- und Temperatursinns
und nicht von der Alleinherrschaft des letzteren gesprochen werden. —
Nicht erklären kann ich aus Wärmestrahlung allein fol-
gende Tatsachen:
1. Beim Gehen gegen Objekte oder neben diesen (also bei rascher
Luftbewegung) ist die Tragweite des Ferngefühls größer als bei
ruhiger Körperhaltung und langsamer Bewegung der Objekte.
Dr. Krogius hat dies auch gefunden. (Erhöht das Gehen, die Wärme-
strahlung der Objekte ?)
2. Wenn die Platten (Glas, Filz etc.) bei den Versuchen rascher
genähert oder entfernt werden, oder wenn sie an der Stange
schwanken, werden sie in der Regel auf größere Entfernung
wahrgenommen, als wenn sie sich sehr langsam bewegen und ruhig
hängen. Dies könnte sich aus Wellenwirkung, Druck und Abküh-
lung, aber nicht aus Strahlung erklären.
3. Das Umwickeln des Kopfes mit einem schwarzen Tuch bewirkte
bei dem Fernfühligsten (No. 17) keine Erhöhung der Fernempfindung,
eher das Gegenteil. Ein dicker weicher Verband hatte sogar an
einem kalten Tage günstigere Wirkung. (Die Hautsensibilität für
taktile Reize war durch Warmhaltung der Kopfhaut off'enbar er-
9*
— 132 —
höht worden. Sie glich die Schädigung durch Bedeckung eines Teils
der Gesichtshaut wieder aus.)
4. Das Schwärzen der Gesichter mit Kienruß steigerte das Fem-
gefühl nicht nur nicht, sondern setzte es bei unseren Versuchen
um 23 Proz. herunter.
5. Weißer Puder hob es wieder, aber nicht auf die normale Höhe.
6. Die mit Lampenruß geschwärzte Glasplatte wurde nicht weiter em-
pfunden als das reine Glas.
7. Die Blinden lokalisieren das Femgefühl auch nach Dr. Krogius
im Gesicht. (Er hätte sagen müssen: Die fernfühligen Blinden:
denn es gibt sehr viele, die es nicht sind.) Nun ist aber das Ge-
sicht, weil es Sommer und Winter unbedeckt getragen wird, wohl
der für Temperatareinflüsse unempfindlichste Teil des Körpers. Wir
gehen bei Temperatur von 10—15^ unter Null ins Freie, ohne daß
das Gesicht friert. Andere Körperteile entblößen wir aber schon
bei 10° über Null nicht, sondern stecken sie in den Überzieher.
Und nun soll gerade dieses Gesicht die „Wärmestrahlung'^
eines kalten, d. h. nur luftwarmem, Zylinderstreifens von V» qdm
spüren, andere Körperteile aber nicht!
8. Der Nacken ist aber für Temperatureinflüsse viel empfindlicher als
das Gesicht. Bei ruhiger Körperhaltung und sehr langsamer
Annäherung der Filz- oder Glasplatten erfolgte aber hinten bei
Temperatur unter 10 Grad nie eine Wahrnehmung. Im Hoch-
sommer und in überheiztem Zimmer zeigten sich bei den Fern-
fühligsten hinten Spuren.
9. Beim Gehen neben Wänden und Bäumen aber, also wenn stär-
kere Luftbewegung entstand, spürten f ernf ühlige Blinde m i t
freiem Nacken die Wände und Bäume, sogar im kalten März,
auch von hinten, so weit die an den Wänden und Bäumen ab-
geprallten, seitlich nachrückenden „phantastischen" Luft wellen sie
treffen konnten. — (Zu vergleichen meine Zeichnungen und Berech-
nungen im J. Archiv für Schulhygiene. Band IV. S. 100 — 127,
oder im Jubiläumsbuch. Großquartseiten 295 — 302).
Ans Strahlung läßt sich dies nicht erklären. Dagegen habe ich
gerade in diesen Fällen auch an Temperaturwirkung durch Wellen,
nicht durch Strahlung gedacht.
10. Je größer der Unterschied zwischen der Temperatur des Ob-
jekts und derjenigen des menschlichen Köi'pers ist, desto größer
muß auch die Wirkung der Wärme- oder »Kälte^-Strah-
1 u n g sein !
— 133 —
Wenn dieser Unterscliied 26—30^ betrug (Versuclie im kalten Turn-
saal) war aber die Tragweite der Femempfindung bei denselben Per-
sonen viel kleiner, als wenn sieb die Lufttemperatur, also auch die
unserer Platten , der Körpertemperatur näherte. (Versuche im Hoch-
sommer und in sehr warmem Zimmer.)
Dr. Krogius irrt sich also , wenn er meint, das Steigen des Fern-
gefühls mit der Lufttemperatur stütze seine Strahlentheorie.
Es lassen sich somit sehr viele Erscheinungen nicht aus Reizung
des Temperatursinns durch Wärmestrahlung erklären, wohl aber
aus Druckreizen, wenn auch Temperatureinflüsse in vielen Fällen
mitzuwirken scheinen, falls es nicht Radiationen anderer Art sind. —
Fraglich bleibt aber noch, ob immer von Wärmestrahlung ge-
sprochen werden muß und ob nicht auch von Leitung und Strö-
mung gesprochen werden darf. — Ich erinnere an meine auf S. 106
angeführten Beispiele. (Kalte Mauer, Fenster etc.). — Unsere Haut
scheidet fortwährend Feuchtigkeit aus, sie perspiriert. Je höher die
Lufttemperatur, desto höher diese Perspiration. Die
Feuchtigkeit verdunstet , was Abkühlung bewirkt. Der leiseste
Luftzug (auch meine phantastischen Wellen) erhöht die Verdunstung und
kühlt ab, wie jeder weiß, der den Durchzug fürchtet, obgleich das
Thermometer nichts davon merkt, ja im Sommer sogar steigen kann.
Kienruß und Puder können die durch die Haut abgesonderte Feuchtig-
keit aufsaugen, also die Verdunstung und somit die Abkühlung ver-
mindern. So ließe sich wohl das durch Pudern und Schwärzen des
Gesichts bewirkte Sinken des Ferngefühls erklären. — (Es dürfte sich
bei künftigen Versuchen empfehlen, auch den Feuchtigkeitsgrad der
Luft, der die Verdunstung beeinflußt, mit zu berücksichtigen) — Es
ist auch klar, daß sich infolge der Körperwärme eine warme Lufthülle
um das Gesicht legen muß — und daß diese durch die leiseste Luft-
bewegung zerrissen wird. So könnte aus Strömung die Tempe-
raturwirkung meines Erachtens besser erklärt werden, als aus Strahlung
— und die Mitwirkung des Temperatursinns wäre verständlicher. —
An letztere Wirkung der Luft wellen habe ich gedacht, als mir
bei den Gehversuchen an Bäumen, Bretterwänden und hängendem
Brett die Wirkung der Temperatureinflüsse (Luftströmung und Wind-
schatten) auffiel. Allerdings handelte es sich dort jedenfalls oft um
bewußte Temperaturwahrnehmung. Deshalb habe ich an vielen Stellen
von Wind und Windschatten gesprochen. Auf die wahrscheinliche
Wirkung der Feuchtigkeitsabsonderung der Haut hat mich
der berühmte Dermatologe Prof. Dr. Unna in Hamburg freundlichst
aufmerksam gemacht, dem ich an dieser Stelle danke. Ich möchte Herrn
— 134 —
Dr. Krogius wirklich bitten, dieser Anregung auch etwelche Beachtung
zu schenken! Daß zuweilen neben sehr kalten oder heißen Ob-
jekten auch Strahlung im Spiele sein mag, habe ich bedingt zugegeben,
indem ich die Differenz der Tragweite vor luft warmen und heißen
Zylindern als kalorische Wirkung gelten ließ. Es bleibt aber auch in
diesem Falle noch die Frage offen, ob nicht Strömung, oder aber auch
bewußte Temperaturwahmehmung im Spiele ist, die mit dem eigent-
lichen Ferngefühl nichts zu tun hat. Nach Dr. Woelfflins Beobach-
tungen ist letztere mindestens nicht ausgeschlossen. —
Mich hat, außer den früher angeführten Beobachtungen (Wind,
Windschatten etc.), auch eine gewisse Persistenz der Empfindung, nach-
dem die Platten zu relativer Ruhe gekommen waren, auf den Gedanken
gebracht, daß Temperatureinflüsse wirksam sein könnten. Ich habe
Temperaturversuche gemacht, ehe ich an Druckversuche dachte. Dr.
Woelfflin hat nun aber festgestellt, daß der Fernreiz bei seinen großen
Objekten wohl einige Zeit (V'2 — 1 Minute) andauert, dann aber rasch
abfällt „bis zu einer Minimalempfindung, die weiter bestehen bleibt."
Versuche, welche hier in letzter Zeit gemacht worden sind, haben
dies bestätigt. Ich muß aber bemerken, daß es unmöglich ist, die
Platten am Ende einer langen Stange ganz unbeweglich zu halten.
Kleine Bewegungen gegen den Kopf oder von demselben weg, sowie
Schwankungen der Platte, sind immer zu beobachten. Deshalb ist die
Möglichkeit, ja sogar die Wahrscheinlichkeit nicht ausgeschlossen, daß
sich der Druckreiz (vielleicht auch Abkühlung) fortwährend er-
neuere. — Dr. Woelff'lins Platten stehen allerdings fest, sind aber
zehnmal größer als die unsem. Auch war deshalb der Abstand zwischen
ihnen und den Personen viel größer als bei unseren Versuchen. Es
scheint mir nun, daß der Ausgleich des Drucks bei seinen Objekten
und Abständen viel länger dauern müsse als bei unserer Einrichtung.
Genauer könnte auch die Dauer des Reizes nach völligem Still-
stand der Personen und Platten nur durch Vexier versuche geprüft
werden. Die Objekte müßten plötzlich, wenn möglich ohne Luft-
bewegung, verschwinden. Ich vermute nämlich, daß mancher Blinde,
auch ohne eine Täuschung zu beabsichtigen, eine wahrgenommene Wand
z.T. deshalb immer noch zu spüren glaubt, weil er weiß, daß diese
Wand nicht weicht.
Nach den übereinstimmenden Angaben der Kollegen, welche bei
uns fast alle Versuche mit Filz-, Glas- etc. Platten ausgeführt haben,
sind solche Trugwahmehmungen oft markiert worden. — Die Versuchs-
personen behaupteten öfter, die Platten noch zu spüren, wenn dieselben
nicht mehr in ihrer Nähe waren. Der fernfühlige Kollege J. Lay hat
— 135 —
dies auch an sich selbst beobachtet. Angaben über die Dauer des
Eeizes sind deshalb nicht immer ganz zuverlässig. Die Autosuggestion
spielt in solchen Dingen zuweilen eine große Rolle. — Um Genaueres
zu erfahren, haben wir hier in letzter Zeit solche Versuche gemacht.
Die Blinden wurden aufgefordert zu sagen, wie lange sie die wahrge-
nommenen Platten spürten. Letztere wurden dann möglichst sachte in
die Höhe gehoben oder rückwärts gezogen. Fünf bis sieben Sekunden nach
der Entfernung der Platte erfolgte dann die Angabe: „Mcht mehr hier"
etc. — Die Nachwirkung scheint also bei unseren Platten einige Se-
kunden zu dauern. Bei größeren Objekten wird sie länger anhalten. —
Die Persistenz von Gresicht seindrücken, welche rasch auf einander
folgende, aber unterbrochene Reize mit einander verbindet (Kinemato-
graph, Photo typie) ist bekannt. Sie besteht auch für das Grehör.
Sollten die niederen Sinne davon ausgeschlossen sein? Ich glaube so-
gar, daß sie beim Geruch- und Geschmackssinn und wohl auch bei den
Hautsinnen viel länger andaure. Eine Wärme- oder Kälte-Empfindung
verschwindet nicht so rasch wie sie gekommen ist, und einen ekel-
erregenden Geruch werden wir oft tagelang nicht los. — Ahnlich scheint
es sich mit Druckempfindungen zu verhalten. Ich habe die Härchen-
versuche, wenn es sich um Prüfung nur einer Hautstelle handelte,
also wenn kein Wechsel stattfand, gerade der lange anhaltenden Nach-
wirkung wegen öfter unterbrechen müssen, weil sich sonst Trugwahr-
nehmungen mit den wirklichen Emfindungen mischten. —
Deshalb glaube ich, auch bei einem gewissen Andauern des Fern-
gefühls der Persistenz der Hautempfindungen jeder Art eine bedeutende
Rolle zuschreiben zu dürfen. — Unter allen Umständen läßt sich die
Erscheinung aus der Hautsinntheorie erklären, ohne daß wir
Schallwellen indirekt auf die Haut wirken lassen müssen.
So kann ich denn — unter den auf Dr. Woelfflin bezüglichen Vor-
behalt — nur wiederholen, was ich vor 2 Jahren, d. h. zu einer Zeit,
wo ich von den Arbeiten des Herrn Dr. Krogius noch keine Ahnung
hatte, über den Gegenstand geschrieben habe: „Es (das Ferngefühl)
beruht also meines Erachtens in erster Linie auf taktilen, in zweiter
auf thermischen Reizen, also auf dem Hautsinn.
Ganz auf meinen Standpunkt stellt sich in einem längeren Artikel,
welcher im „Corriere della Sera" erschienen ist, der von Jugend auf
blinde Dr. Aug. Romagnoli, Professor der Philosophie am Lyceum zu
Massa. Dieselbe Ansicht vertreten femer Mac Kendrik, emerit. Professor
der Physiologie an der Universität Glasgow in der engl. Zeitschrift
„ Natur e" und H. de Varigny im „Temps". —
In neuester Zeit hat auch Dr. Allers (Psychiater) in einer bedeutenden
— 136 —
Arbeit „Zur Pathologie des Tonuslabyrinths" im XXVI. Band S. 134 u.a.
von Prof. Dr. Ziehens Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie diese
Frage gestreift, ohne zu beabsichtigen, das Problem zu lösen. Er hat
deshalb auch die einschlägige Literatur nur unvollständig zu Rate ge-
zogen. Die Arbeiten von Dr. Krogius und die meinigen kannte er
nicht. —
Er schreibt S. 134, Truschel habe in seiner Schrift (Exper. Päd.
1906 im VII. Band) „nachgewiesen", daß der „Femsinn", der sog. 6. Sinn
„der Blinden", als eine Funktion der Halbzirkelkanäle anzusehen sei
und zwar, daß er eine Tätigkeit des Tonuslabyrinths vorstelle und daß
sich als eigentliches Organ des sechsten Sinns der Vestibularapparat
ergebe. — Nun finde ich aber in den genannten Abhandlungen Truschels
auch nicht eimal einen Hinweis auf das Tonuslabyrinth und den
ganzen Vestibularapparat, geschweige denn einen „Nachweis".
Ich lese dort immer nur die Behauptungen, daß der x-Sinn I, den andere
Leute Gehör nennen, auf der Unterscheidung der Tonhöhe, besonders
in den Trittgeräuschen, — und der x- Sinn II, der bei uns Ferngefühl
heißt, auch auf Erregung oder Reizung der Gehörorgane durch reflek-
tierte, nicht mehr als solche perzipierte Schallwellen beruhe, oder daß
auch die x-Reize No. II „ausschließlich reflektierte Schall-
wellen sind". Diesen „Nachweis" behauptet Truschel erbracht zu
haben. — (S. 148). —
Es handelt sich für ihn also um Gehör und akastische Reize. —
Auf die Möglichkeit, daß das dem Gehörorgan benachbarte stati-
sche Organ, der Vestibularapparat, unter Umständen im Spiele sein
könnte, hat ihn m. W. gleich nach dem Erscheinen seiner Schrift und
dem Bekanntwerden von Cyons Untersuchungen gerade Griesbach auf-
merksam gemacht, dessen Versuche ihm so wenig passen. — Aber auch
in seinem Bericht über den Hamburger Kongreß , der so viel Falsches
enthält, finde ich den Vestibularapparat noch nicht erwähnt. Tmschel
hält dort noch an der akustischen Hypothese, von der bei James und
Javal etc. schon die Rede war, fest und hat noch kürzlich behauptet, seine
Auffassung sei noch genau dieselbe, wie sie in seiner ersten Schrift dar-
gelegt worden sei. —
Er schrieb also noch vor einem halben Jahre die eigenartige, durch-
weg auf der unbedeckten Kopfhaut, mit Einschluß des TrommelfeUs,
lokalisierte Empfindung der Erregung der Gehörorgane durch re-
flektierte Schallwellen zu und stützte seine Behauptungen auf Versuchs-
ergebnisse, die z. T. an den von ihm genannten Versuchspersonen (Zög-
lingen unserer Anstalt), trotz der Band VII S. 107 angewandten Spitz-
findigkeiten, hier und auch anderswo, als falsch nachgewiesen
— 137 —
worden sind. Aber selbst wenn das Tonuslabyrinth, der Vestibular-
apparat überhaupt, bei dem Ferngefühl im Spiele wäre, was durchaus
nicht bewiesen ist, würde letzteres noch nicht auf der Erregung
der Grehörorgane durch reflektierte Schallwellen beruhen, weil das
Tonuslabyrinth auch nach den Feststellungen von Dr. Allers ganz
anderen Herren dient. (Muskeltonus , Gleichgewicht , Lage des
Körpers und seiner Anhängsel etc.).
Möglich wäre es aber doch, daß infolge des örtlichen Beisammen-
seins der eigentlichen Gehörorgane und des statischen oder Vesti-
bularapparats bei einer Erkrankung des letzteren durch Übergreifen
der Eiterung etc. auch erstere in Mitleidenschaft gezogen würden, wie
etwa bei starkem Stockschnupfen auch die Augen tränen. Ich kenne
Fälle, wo der statische Apparat mit dem akustischen gelitten hat. So
ließe sich allenfalls eine Schwächung des Orientierungsvermögens, d. h.
des „Fernsinns" nach Mells Lexikon, nicht aber eine Herabminderung
des eigentlichen Ferngefühls erklären; denn das Gehör als
solches ist der wichtigste Fern- oder Orientierungssinn der
Blinden !
Ich lasse hier die Krankengeschichte des von Dr. Allers behandelten
Blinden folgen, soweit sie für unsere Frage Bedeutung hat :
Krankengeschichte: Am 27. VI. 1908 Avurde unserer Ambulanz der
20jährige G. I., Zögling des Klarsehen Blindeninstitutes , zugeführt. Der be-
gleitende Wärter teilte mit, daß der Kranke seit 3 Jahren an „Nervenschwäche"
leide, seiner eigenen Angabe nach vergeßlich geworden sei , viel herumsitze und
grüble.
Bei der Untersuchung des Kranken ergab sich alsbald, daß wir es mit einem
Menschen von bedeutender Intelligenz und vortrefflicher Beobachtungsgabe zu tun
hatten, ein Umstand, der die Klärung der eigenartigen Symptome wesentlich er-
leichterte.
Pat. ist kongenital blind. Die Ursache sei, wie er selbst erzählt, nach dem
Befunde eines Augenarztes eine intrauterine Neuritis optica gewesen.
Die folgende Darstellung seines Lebenslaufes und seiner Krankheit ist aus
den Angaben bei den ambulatorischen Untersuchungen und der Krankengeschichte
über seinen Aufenthalt an der Klinik vom 29. XL bis 20. Xlt. zusammen-
gestellt.
Pat. ist im Jahre 1888 geboren ; Yater war Steinmetz, starb an unbekannter
Krankheit. Die Mutter lebt. Im Alter von 1^/2 Jahren wurde die Diagnose
auf Atrophie infolge von Neuritis gestellt.
In seinem 12. Jahre kam er in die Blindenanstalt.
Pat. war als Kind sehr schreckhaft. Er litt an abendlichen Angstanfallen,
welche in so früher Kindheit begonnen hatten, daß er sich an den Beginn nicht
mehr erinnern kann. Diese Anfalle traten mit unüberwindlicher Gewalt und ganz
plötzlich ohne Vorzeichen mitten in guter Stimmung auf. Er bekam dann eine
intensive Beklemmung und mußte sich zusammenkrümmen, Augen und Mund fest
schließen , die geballten Hände fest an sich drücken ; auch die Zehen habe er
— 138 —
biegen müssen. Es kam ihm die Vorstellung einer haarigen Gestalt oder von
furchtbaren Stimmen, die ihn ängstigten. I>ie Gestalt war die eines Menschen,
aber von ungeheurer Größe, die Haare ähnlich denen eines Hundes, aber länger,
steifer, klebrig und ekelhaft. Die Stimmen waren zwar menschenähnlich, aber
furchtbar laut und tief, meist nur grunzend, selten hat er Worte verstanden. Er
erinnert sich, einmal gehört zu haben: „Jetzt zerreißt es dir die Seite", ein an-
deres Mal: „Jetzt zerreißt es dir die Kleider".
Pat. gibt ausdrücklich an, auch während dieser Angstanfalle das deutliche
Bewußtsein gehabt zu haben , daß diese Erscheinungen nicht wirklich sind ; sie
hätten nur in seiner „Vorstellungskraft", wie er sich ausdrückt, existiert. Die
klebrigen Haare habe er nicht getastet, noch die Stimmen mit den Ohren gehört;
er habe vielmehr mit seiner „geistigen vorgestellten Hand" die vorgestellten Haare
der Gestalt getastet, mit seinem geistigen Ohr die vorgestellten Stimmen gehört.
Pat. illustriert dieses Verhalten wörtlich folgendermaßen : „Wenn Sie jetzt mit mir
sprechen, und ich erinnere mich nach einer Stunde daran, so höre ich dieselben
Worte genau mit dem Klang Ihrer Stimme, so wie Sie dieselben zu mir ge-
sprochen haben. Wenn ich mit jemandem Ann in Arm gehe und später daran
zurückdenke, so fühle ich geistig in der Vorstellungskraft den Druck des Armes".
Auf genaueres Befragen stellt er entschieden in Abrede, daß er bei dem
Erinnern an einen Tasteindruck etwas in der Hand spüre; es sei vielmehr seine
geistige (vorgestellte) Hand, mit der er glaube, das, was er früher angegriffen,
wieder zu betasten. Bei den Schreckgestalten sei es ebenso nur die vorgestellte
Hand gewesen, die gefühlt, nur das vorgestellte Ohr, das gehört habe. „Die
Haare waren so klebrig, daß sich die geistige Hand mit Gewalt davon abreißen
mußte".
Während dieser Anfälle habe er niemals das Bewußtsein seiner Umgebung
verloren und sei sich über die Unwirklichkeit der Erscheinung immer klar
gewesen.
Solch ein Anfall dauerte nur ganz kurze Zeit, wiederholte sich aber an einem
Abende 4 — 5 mal mit kurzen Unterbrechungen. Dieses Symptom bestand bis zum
Sommer d. J. , in welchem es wahrend einer Brom-Arsen-Kur (die ihm in der
Ambulanz verordnet worden war, allerdings uns anderen Gründen, da er von den
Angstanfällen, wie er später angab, aus Furcht, verlacht zu werden, nichts erzählt
hatte) verschwand.
Vor vielleicht 11 Jahren erschrak Pat. über einen Sessel, der während des
Mittagessens umfiel, heftig. Er hatte eben kalte Milch getrunken, die ihm, wie
kalte Dinge überhaupt, auf einen Augenblick den Atem benahm. Gerade in
diesem Momente fiel der Sessel unter lautem Krachen um. Er erschrak entsetz-
lich; das Herz schlug ihm eine lange Weile so, daß er nicht atmen konnte. Er
war etwa 2 Stunden laug sehr aufgeregt. Angeblich seit diesem Tage litt Pat
an heftigen Kopfschmerzen. Diese traten anfangs in Inter\'allen von 14,
dann von 8 Tagen auf. Es war stets ein halbseitiger Schmerz, haupt^tächlich in
der rechten Stirn- und Schläfengegend, während dessen es zmu Erbrechen kam.
Schwindel hatte er keinen. Die Kopfschmerzen verschwanden allmählich. Seit
etwa 2 Jahren ist nur ein ständiges Brennen im Kopf, speziell in der
Stirne, zurückgeblieben.
Dagegen bestehen seit 2 oder 8 Jaliren andere Erscheinungen. Pat begann
an Schwindel zu leiden und beobachtete an sich eine Reihe von Phänomenen,
die er als „Gefühlstäuschungen" bezeichnet. AnfWrdem klagte er über zeitweiaen
— 139 —
Kopfdruck, ein kontinuierliches Brennen in der Stirn e, über Ver-
geßlichkeit und allgemeine Mattigkeit. Der Schwindel sowohl als die Gefühls-
täuschung treten spontan auf, aber meist dann, wenn er sich angestrengt, mehr
oder intensiver als gewöhnlich gearbeitet hatte.
Hervorzuheben ist, daß bei all' den angeführten Störungen der „Femsinn
der Blinden", welcher bei unserem Kranken ziemlich entwickelt
war, vollkommen wegfiel und er dessen Unterstützung ganz verlor.
Nach Schwindelanfällen, wobei der Fernsinn geschwunden war und er sich
daher nur tastend über die Stellung der Gegenstände orientieren konnte, hatte er
häufig den Eindruck , als ob die sonst vertikal stehenden Gegenstände geneigt
wären und zwar nur in der Sagittalebene — entweder auf ihn zu oder von ihm
weg. Nie wurde beobachtet, daß der eine Gegenstand etwa nach vorne, der
andere nach hinten geneigt war, auch niemals, daß ein Wechsel der Neigungs-
richtung stattfand, sondern die Dinge waren entweder nach vorne oder nach
hinten geneigt. Die Neigungsgröße betrug dabei ca. 30 — 45 ^ von der Vertikalen
gemessen. Der Kranke demonstrierte dies mit Hülfe eines großen Metallschirmes.
Bemerkenswert ist, daß der Kranke angibt, durch alle diese Störungen in
einer Hinsicht doch behindert zu werden — die Sicherheit und Schnelligkeit
seiner Bewegungen beim Arbeiten ist wesentlich beeinträchtigt.
Nochmals sei darauf hingewiesen , daß bei sämtlichen angeführten Erschei-
nungen immer zugleich der „Fernsinn" schwand oder bedeutend herabgesetzt war.
Auch scheint es nicht unwichtig, daß Fat. angibt, die Schärfe dieses Fernsinnes
habe seit dem Bestehen der Störungen beträchtlich abgenommen.
Während seines Aufenthaltes auf der Klinik traten die Symptome spontan
fast überhaupt nicht auf. Der Kranke gab auch an, daß zu Zeiten der Ruhe die
Erscheinungen sehr zurückgingen und sich nur im Gefolge körperlicher Anstrengung
wieder einstellten; nach Turnübungen, besonders mit Hanteln, traten sie am hef-
tigsten auf
Unter einer leichten hydrotherapeutischen Behandlung und diätetischen Maß-
regeln zusammen mit einer Arseneisenmedikation gingen die Störungen zurück.
Gegen das kontinuierliche Brennen in der Stirn e verwendete Pat. mit
Erfolg Mentholpinselungen.
Da der Prager Blinde vor seiner Labyrintherkrankung nicht auf
Ferngefühl geprüft worden ist, weil Dr. Allers denselben erst ca. 3 Jahre
nach deren Beginn zu Gesicht bekam, wäre es möglich, daß auch dieser
Blinde das Ferngefühl nicht von der Summe der ihn leitenden Fern-
wahmehmungen zu trennen vermöchte und daß er die schlechter gewor-
dene Orientation zu Unrecht dem Schwinden des Ferngefühls allein zu-
schriebe. Es gibt viele Blinde , besonders traumatische , die , wie die
meisten Sehenden, welche immer von dem „Fernsinn der Bünden'' reden
hören, das Ferngefühl als obligatorische Zugabe zur Blindheit
betrachten, ohne zu wissen was es ist. — So sagte mir vor einiger Zeit
ein vor ca. 4 Jahren durch Schuß in den Kopf erblindeter junger Mann :
,,Ich fühle die Gegenstände jetzt doch schon etwas besser". Tatsächlich
hat er heute noch keine Spur von Ferngefühl. (Zu vergleichen Druck-
— 140 —
tabelle 7 No. 42. GK im ersten Heft des VII. Bandes. Sein Drnck-
sinn ist, wie diese Tabelle zeigt, außerordentlich hart). —
Wie schwer es auch für gebildete Leute zu halten scheint, die ver-
schiedenen Komponenten des Orientierungsvermögens scharf von ein-
ander zu trennen, habe ich in diesen Tagen wieder erfahren. Ein hoch-
gebildeter französischer Blinder, mit dem ich früher nicht über diesen
Gegenstand gesprochen hatte, sagt mir über den „sens des obstacles" :
— „Das kommt von dem Rückstoß der Luft her. Das Gehör scheint
aber doch beteiligt zu sein ; denn wenn wir Gummischuhe tragen, finden
wir uns viel weniger gut zurecht." Auf meine Frage: „Ja spüren Sie
das im Gesicht? — antwortete er: Nein das höre ich!
Auch er verstand also unter „sens des obstacles" die ganze Orien-
tation.
Auf die prädominierende Rolle, welche das Gehör bei derselben
spielt, habe ich oft genug und schon vor langen Jahren hingewiesen. —
Diese Bemerkung ist allgemeiner Natur. Sie bezieht sich nicht nur
anf den uns beschäftigenden Fall; denn aus einem letzter Tage einge-
gangenen Briefe geht hervor, daß Dr. AUers an das eigentliche Fern-
gefühl gedacht hat. Auch scheint das Gehör dieses Blinden nicht
gelitten zu haben.
Dr. Allers schreibt darüber S. 122:
„Der Schwindel wies auf eine labyrinthäre Störung hin. Eine ge-
naue Untersuchung des Patienten auf der hiesigen Ohrenklinik er-
gab zunächst ein vollkommenes Intaktsein des akustischen
Apparats. Patient hörte Töne bis zu 46000 Schwingungen (Galton-
Pfeife) beiderseits. Er verfügt über ein nahezu absolutes
Gehör, indem er sich bei der Prüfung nur ein einzigesmal bei der
Angabe des Tones irrte, da er das h" für c" ansprach; er gab an,
jetzt außer Übung zu sein, weil er lange kein Instrument gespielt habe;
80 lange er Geige spielte, konnte er sich auf die Exaktheit seines
Gehörs vollkommen verlassen."
Dies zeigt aufs neue, daß das Tonuslabyrinth, der statische
Apparat überhaupt, mit den Gehörorganen, also auch mit der
Erregung derselben durch Schallwellen und der Unterschei-
dung von Tonintervallen, nichts zu tun hat, wenn nicht die
Krankheit (Entzündung , Eiterung) auch den akustischen ergreift ;
sonst hätte ja in diesem Falle durch die Labyrintherkrankung auch
das Gehör leiden müsssen! —
Wenn das Ferngefühl auf Erregung der Gehörorgane beruhte,
müßte es also gerade bei diesem Blinden bedeutend sein und bleiben.
— 141 —
Als Folgen dieser Erkrankung nennt Dr. Allers in übersiclitliclLer
Zusammenstellung S. 122 aber nur folgende Syptome.
1. „Spontaner Schwindel, der im Stehen oder Sitzen auftritt, wobei sich
der Fußboden dreht ;
2. dem vorigen gleichartiger Schwindel, der auftritt, wenn Pat. mit vor-
oder seitlich geneigtem Kopfe geht, nicht aber, wenn er den Kopf nach hinten
beugt ;
3. Pendelbewegung des Bettes, zuweilen um eine vertikale Achse am Kopf-
ende, zuweilen um eine querverlaufende, horizontale;
4. plötzliches Ansteigen oder Abfallen des horizontalen Fußbodens während
des Gehens;
5. Stellungsänderung vertikal stehender Gegenstände im Sinne der Vor- oder
Eückwärtsneigung ;
6. Größer- und Kleiner-Erscheinen solcher Gegenstände, die mit der Hand
umfaßt werden können, zugleich Schwerer- bezw. Leichterwerden derselben;
7. Schwerer- und Leichterw^erden langer, mit der Hand nicht umgreifbarer
Gegenstände ;
8. Verlust der Richtungs- und Distanzbemessung beim Gehen; dadurch Des-
orientiertheit in vertrauten Räumlichkeiten;
9. zeitweises objektiv festgestelltes Taumeln ohne subjektive Empfindungen;
10. Schwinden der Wahrnehmungen des Fernsinnes."
Daß das Gehör intakt blieb, haben wir gesehen. Von diesem spricht
er also nicht. Wenn Truschel heute wirklich (auch morgen?) den sta-
tischen oder Vorhof- Apparat, speziell das Tonuslabyrinth, und
nicht mehr, wie früher, den Hörapparat als Organ des „Fern-
sinns" der Blinden (nicht auch der Sehenden?) ansieht, dann hat er m. E.
nicht nur, wie Dr. Allers sich euphemistisch ausdrückt, seine frühere
Ansicht „etwas modifiziert", sondern die Schallwellen-
theorie, deren Unhaltbarkeit durch Dr. Krogius, Dr. Woelfflin und
uns wohl genügend nachgewiesen worden ist, TÖllig aufgegeben, —
obwohl er in der Februarnummer 1909 des „Blindenfreund" sagt:
„Meine Auffassung vom Wesen des sog. sechsten Sinnes der Blinden ist
heute noch genau dieselbe, wie sie in meiner ersten Arbeit dargelegt
wurde."
Diese Behauptung ist dann eben wieder „unzutreffend." —
Die Nachbarschaft des akustischen und des statischen Apparats
hilft ihm nicht, weil deren Funktionen nach dem heutigen
Stande der Forschung völlig getrennt sind. —
Ich kann nicht, sobald es mir paßt, den G-eruch dem Gesicht sub-
stituieren, weil die Augenwinkel die Nasenwurzel berühren, — und
dann behaupten, es sei dies dasselbe.
Und wenn ich es nach „berühmt" werden wollenden Mustern doch
täte, so würde mir kein vernünftiger Mensch Griauben schenken.
— 142 —
Truschel anerkennt ja jetzt auch zunächst ein taktiles („Kinder-
fehler", April 1908) und dann ein thermisch-taktiles Ferngefühl
(Ex. Päd. Bd. VIII, S. 192) und will dessen Existenz nie in Abrede
gestellt haben, während er sie in seiner ersten Schrift und noch in
Hamburg nach allgemeiner Auffassung fanatisch bestritt! —
In dem Archiv für Psj^chologie zieht er sich allerdings wieder mehr
auf die Reizung der Gehörorgane zurück. —
Wenn man bald „weiß" und bald „schwarz" schreibt, kann
man ja immer behaupten, man habe stets ;,grau" gemeint. Hasen-
haken!
Herr Truschel wundert sich u. a. auch darüber , daß ich in der
letzten Arbeit im VII. Bande die in meiner früheren Abhandlung und
auch in Hamburg aufgestellten Thesen wiederholt habe, obgleich sie von
ihm in Hamburg „Punkt für Punkt widerlegt" worden seien. Wenn
dies geschehen wäre, hätte ich nichts wiederholt! Er hatte aber
weder einen Punkt, noch ein Pünktchen „widerlegt", sondern
nur alles bestritten, z.T. auch seine eigenen früheren Behauptungen.
(S. S. 81 — 83 und meine Antwort im offiziellen Kongreßbericht). Sonder-
abdrücke stehen noch zur Verfügung. Herr Truschel scheint eben die
sonderbare Gewohnheit zu haben, seine ungereimtesten Behauptungen
als Beweise anzusehen. —
Der besprochene Einzelfall spricht also nicht für, sondern ent-
schieden gegen die Schallwellenhypothese.
Es stellt sich nun die Frage, wie nach meiner Auffassung, sagen
wir nach der Hautsinntheorie, im vorliegenden Falle die dauernde
Abnahme des Ferngefühls oder das Schwinden desselben während der
Krisen zu erklären sei. —
Nach dem Krankenbericht klagt der Blinde über Druck in den
Schläfen und über seit 2 Jahren andauerndes, ständiges Brennen in
der Stirn, das er durch Mentholeinpinselungen zu lindern
sucht. — Die Fernempfindung lokalisiert er hauptsächlich in der
Ohrengegend (wohl im Trommelfell). — Gerade weil er sie dort loka-
lisiert, kann sie m. E. nur taktiler Natur, Haut sinn sein; da die
Haut niemals akustische Reize lokalisiert. — Wenn ein starker Knall
das Trommelfell erschüttert, handelt es sich nicht um Schall-, sondern
um Druckreize. —
Entscheidend ist für mich — neben dem Druck in den Schläfen -
das ständige Brennen in der Stirnhaut, also die Schmerzem-
pfindung in denjenigen Teilen der Kopfhaut, auf welchen
— neben dem noch viel empfindlicheren Trommelfell —
das Ferngefühl durchweg lokalisiert wird. Letzteres ist
— 143 —
eine sehr schwache Hautempfindung. Der Druck in den Schläfen
und das quälende Brennen müssen doch diese schwache Em-
pfindung übertönen, völlig verwischen.
Wenn das Femgefühl des Blinden vor der Erkrankung des Tonus-
labyrinths wirklich viel feiner gewesen ist, was nicht festgestellt werden
kann, so darf wohl angenommen werden, daß durch das unauf-
hörliche Brennen und die Mentholeinpinselungen die Empfindlichkeit
der betreffenden Hautpartien für taktile oder andere Reize herab-
gemindert worden sei — und daß nur noch das empfindlichste
Tastorgan, das Trommelfell, diese zarten Reize wahrnehme. So er-
klärt sich die Lokalisation in der Ohrengegend.
Ich kenne drei gebildete Sehende, welche die Annäherung der Platten
etc. zuerst im Trommelfell empfinden (nicht hören) und erst nach-
her im Gresicht, wenn die Reize infolge größerer Annäherung der
Platten stärker werden. Die leisesten Druckschwankungen müssen
m. E. durch das wie in einem Rahmen festgehaltene, nur an einer
Stelle (Hammer) gestützte Trommelfell und dessen Umgebung früher
empfunden werden als durch die fest aufliegende Gresichtshaut. Es kann
also wohl noch Reize wahrnehmen, welche für die durch Schmerzen und
Gegenmittel abgestumpfte Stirnhaut zu schwach sind. — Ich denke da
an eine mit einer Tapete überspannte Türöfi'nung. Die leiseste Luft-
bewegung bringt das Papier zum Zittern, während die auf die Wand
geklebte Tapete nichts von der Bewegung „spürt." —
Wenn das Brennen in der Stirn wirklich eine primäre Folge der
labyrinthären Erkrankung ist (Reflex durch Neuronenkontakt von der
vorderen Hirnrinde auf die Stirnhaut), dann kann m. E. die Abnahme
des Ferngefühls nur eine Folge dieses Brennens, d. h. nur eine indi-
rekte, sekundäre Folge der Erkrankung des Tonuslabyrinths sein.
Und diese primäre Folge, das Brennen ist in diesem Falle wohl
rein individuell. Ehe nachgewiesen ist, daß jede Erkrankung des Tonus-
labyrinths dieselbe Wirkung auf die Stirnhaut ausübt, dürfen allgemeine
Schlüsse nicht gezogen werden.
Wenn labyrinthäre Erkrankungen stets das Ferngefühl
aufhöben, müßte wohl auch jedes gesunde Labyrinth Organ
des „Fernsinns der Blinden^^, sagen wir lieber des Fern-
gefühls, sein. Jeder Mensch, ob sehend oder blind, der
nicht an Schwindel leidet und Herr seiner Bewegungen
ist, müßte also m. E. auch fernfühlig sein! Nun wissen wir
aber, daß sehr viele Blinde, besonders traumatische, und noch mehr
Sehende, deren statischer Sinn völlig normal, deren Vestibularapparat
also gesund ist, kein Ferngefühl besitzen. —
— 144 —
Daß unter Umständen auch der statische oder Vorhof- Apparat,
wohl infolge örtlichen Beisammenseins, mit dem akustischen und mit
dem Sehorgan erkranken kann, d. h. daß Blindheit, Taubheit und Störung
des Gleichgewichts sekundäre Folgen einer und derselben Krankheit
(Scharlach, Masern, Pocken etc.) sein können, glaube ich längst ge-
wußt zu haben. Schon vor langen Jahren habe ich w^iederholt darauf
hingewiesen, daß Blindheit und Taubheit oder Schwerhörigkeit sehr oft
Hand in Hand gehen und daß bei Taubblinden meistens auch der sta-
tische Sinn gelitten habe. — In meiner Schrift „Zur Blindenphysiologie"
ist S. 33 (Sonderabzug aus der Wiener Mediz. Wochenschrift) zu lesen:
„Der unsichere, wackelige Gang der meisten Taubblinden (sie gehen^
meistens wie Betrunkene) dürfte darauf hinweisen, daß auch der sechste,
der Grleichgewichtssinn, gelitten hat, das heißt, daß auch die Wasser-
wage ^) im Ohrenlabyrinth nicht in Ordnung ist" etc. —
Es ist aber wohl nicht der Verlust des einen oder anderen dieser
Sinne, welcher den Nachbarsinn schädigt — oder, wie viele heute noch
zu glauben scheinen, sogar stärkt ! (Sinnen vikariat). Eine gemein-
same Ursache hat diese verschiedenen Wirkungen hervorgebracht.
Eine Scharlacherkältung kann Erblindung bewirken und eine Ohren-
eiterung hervorrufen , welche das akustische wie das statische
Organ schädigt. — Ob dadurch die Femfühligkeit , wo sie vorhanden
war, direkt beeinflußt wird, ist noch mehr als zweifelhaft. In dem uns
beschäftigenden, absonderlichen Einzelfall läßt sich dessen Abnahme
ganz gut aus der Hautsinntheorie erklären. —
Wir wissen ja auch, daß starker Schnupfen das Ferngefühl
herabsetzt oder aufhebt. Es könnte also leicht noch jemand für
den Geruchsinn eine Lanze brechen. Oder wirkt die Entzündung der
Nasenschleimhaut, die sich oft auf ihre Umgebung fortpflanzt (gerötete
Nase, rotes Gesicht, tränende Augen etc.) auch auf das Tonuslabyrinth
und durch dieses auf die Gesichtshaut — und nicht etwa direkt
auf den Trigeminus, welcher in diesen Hautpartien sich
verästelt — und den Dr. Heller, Dr. Krogius, Dr. Woelfflin und ich
als Träger des Ferngefühls betrachten? Ich glaube letzteres. — Auch
Dr. Allers anerkennt übrigens den Trigeminus (also nicht den Hör-
apparat) als Perzeptionsorgan der Fernwahrnehmungen,
glaubt aber, daß dies die Mitwirkung des Vestibularapparats (wohl
als Reflex, weil die Bahnen des Trigeminus und des Vestibulamervs
neben einander verlaufen) nicht auszuschließen brauche. £r glaubt nicht,
1) Da die Schrift auch als Beilage zu meinem Jahresberichte Verwendung finden
sollte, habe ich diesen populären Ausdruck gewählt —
— 145 —
daß ein gesunder Vestibularapparat Ferngefühl schaffe, nimmt aber,
gestützt auf den vorliegenden Einzelfall an, daß dessen Erkrankung
dasselbe zu scbwäclien oder aufzuheben vermöge. —
Ich fühle mich natürlich nicht kompetent, um diese Frage zu ent-
scheiden, glaube aber, daß ein solcher Schluß erst gezogen werden dürfte,
wenn nachgewiesen wäre, daß jede Erkrankung des Tonuslabyrinths,
auch ohne Druck in den Schläfen und Brennen in der Stirn-
haut zu verursachen, dieselben Folgen hat. Es müßte ferner in
solchen Fällen durch die Sektion nachgewiesen werden, daß das Laby-
rinth selbst erkrankt ist und nicht die es beherrschenden Nerven-
zentren im Gehirn. —
Unter allen Umständen hätte aber das Femgefühl, selbst wenn es
bei Erkrankungen des Tonuslabyrinths immer schwände, mit Schall-
wellen nichts zu tun; denn der Trigeminus perzipiert keinen Schall
— und unterscheidet nicht Tonhöhen, Intervalle etc.
„Veränderungen der Tonhöhe, besonders in den Trittgeräuschen",
sollen aber nach Truschel „das Hauptkriterium der x-Empfindungen
sein." —
Diese Schalldifferenzen in den Trittgeräuschen sollen nach ihm
zwischen einer Sekunde und einer Septime schwanken. — Daß es auch
Sehende gibt, die solche Intervalle, sogar halbe und Yiertelstöne zu
unterscheiden vermögen, habe ich längst gewußt. Sonderbar ist nur,
daß der einzige wirklich musikalische Blinde unter seinen 15
Versuchspersonen (seine No. 10, meine No. 34 F. W.) solche Intervalle
nicht herauszufinden vermochte, während die absolut unmusikali-
schen Blinden, darunter mehrere Halb- und Ganz-Idioten, sich wohl
willig ^belehren" ließen, so lange H. Truschel die Aufsicht bei
Tisch führte und über Brotkorb und Weinglas verfügte. —
Einige Jahre nach dem Austritt aus der Anstalt haben gerade die
intelligentesten und unabhängigsten unter ihnen meine Frage, ob
sie wirklich an diese Wirkung der Schallwellen auf ihr Gesicht geglaubt
hätten, einzeln, aber übereinstimmend folgendermaßen beantwortet:
„Ja, es war halt so schwer zu widersprechen!" Gewiß!
Dr. Acker knechts Hypothese, daß der in seiner Wirkung aufs
Hörlabyrinth Gehörqualitäten erzeugende Reiz (Schallwellen) in seiner
Wirkung auf das Tonuslabyrinth (also den Vestibulär- Apparat des sta-
tischen Sinns) Raumqualitäten, eben die eigentlichen x-Empfindungen
auslöse, scheint mir denn doch nach dem Stande der heutigen Forschung
noch etwas zu hypothetisch zu sein, um zu einem „Nachweis^ oder
Beweis auszureichen. — Ob Dr. Ackerknecht selbst mit Blinden ex-
perimentiert hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er sich einfach
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 10
— 146 —
auf Tmschels Behauptungen gestützt. Andere einschlägige Arbeiten
hatte er wohl noch nicht gelesen, als er dies schrieb. —
Daß das Ferngefühl mit keiner bekannten Funktion des Hör-
apparats (Hörweite, Musikgehör, Lokalisation der Schallquelle und
Knochenleitung des Schalls) in irgendwelchem Zusammenhang steht, ist
in der früheren Arbeit im VII. Band gezeigt worden. Ich verweise
besonders auf Tabellen und Farbentafeln, die sich leider ohne meinen
Namen am Ende des betreffenden Hefts befinden. —
Über weitere Versuche mit den neuen Versuchspersonen No. 69 — 80
werde ich nächstens berichten. Bis jetzt haben diese das früher Gesagte
vollauf bestätigt. —
Bemerkungen zu der obigen Abhandlung von M. Kunz.
Von £. Meumann.
Die obige Abhandlung von Herrn Direktor Kunz nötigt mich zu
folgenden Bemerkungen. Zunächst muß ich dem Herrn Verfasser die
volle Verantwortung für den Ton überlassen , in welchem er sich mit
seinen Gegnern, insbesondere mit Herrn Truschel, auseinandersetzt. Ich
habe aber die möglichste Objektivität in der solange schon geführten
Diskussion über den Fernsinn der Blinden wahren wollen und habe
daher Herrn Kunz in seiner Abhandlung volle Kedefreiheit gelassen.
Sodann muß ich auf einige Irrtümer des Herrn Kunz aufmerksam
machen, die so offen zu Tage liegen, daß ich es seinen Gegnern wohl
ersparen kann auf sie einzugehen. Was zuerst die Terminologie der
Begriffe „Sinn" und „Gefühl" betrifft so kann über diese für den Psy-
chologen von Fach kein Zweifel sein. Seit dem achtzehnten Jahrhundert
hat die Psychologie die Ausdrücke Empfindung und Gefühl fest geprägt
und sei mit bestimmten Definitionen gestützt. Damach sind Empfin-
dungen für uns durch die Merkmale ausgezeichnet, daß sie immer
„Sinnesempfindungen" sind; sie sind diejenigen elementaren Bewußt-
seinsinhalte, deren Auftreten an die Funktion eines bestimmten Sinnes-
organs und an die Einwirkung äußerer Reize gebunden ist. Gefühle
dagegen sind immer Lust und Unlust. Es besteht also für den Psy-
chologen eine scharfe Unterscheidung zwischen Empfindungen unsrer
Sinne einerseits und Gefühlen der Lust oder Unlust anderseits. Beides
zu verwechseln, wie es die populäre Sprechweise noch heute tut, ist
ein verhängnisvoller sachlicher Fehler und diese Terminologie zu ver-
— 147 —
mengen, wie es Herr Kunz — und ebenso auch mancher der Psychologie
femstehende Physiologe — tut, das kann nur Verwirrung stiften.
Es ist nicht erlaubt, wie das von Herrn Kunz geschieht, sich auf
den allgemeinen Sprachgebrauch zu berufen, gegenüber der feststehenden
Terminologie einer Wissenschaft, ebenso wenig kann man sich darauf
berufen , daß Vertreter einer anderen Wissenschaft, die in der Psycho-
logie nicht genügend gebildet sind und deren bestimmte Terminologie
nicht kennen, gewisse Begriffe nicht auseinander halten. Jede Wissen-
schaft prägt ihre eigene Terminologie und muß verlangen, daß diese
beibehalten wird, zumal wenn es sich um toto genere verschiedene Tat-
sachen handelt, wie bei der Bezeichnung der Empfindungen und der
Gefühle. Der allgemeine Sprachgebrauch ist für keine Wissenschaft
maßgebend, wenn sie ihn irgendwo als ungenügend erkannt hat und
wenn sie Unterscheidungen eingeführt hat, die der allgemeine Sprach-
gebrauch nicht zu machen pflegt. Was würde wohl ein Mediziner
dazu sagen, wenn man die zahlreichen ungenauen und irre-
führenden Bezeichnungen der Krankheiten, die in dem
allgemeinen Sprachgebrauch üblich sind in der wissen-
schaftlichen Diskussion über medizinische Probleme bei-
behalten wollte unter Berufung auf irgend ein „Lexikon"
des allgemeinen Sprachgebrauches! Die allgemeine Sprech-
weise bezeichnet z. B. (um nur eine Probe aus hundert Fällen heraus-
zugreifen) den Geisteskranken durchweg als „gemütskrank" und man
würde sich zweifellos in der Erörterung psychiatrischer Fragen lächer-
lich machen, wenn man diesen Ausdruck gemütskrank in der wissen-
schaftlichen Diskussion beibehalten wollte unter Berufung auf den
allgemeinen Sprachgebrauch; etwa mit der Wendung: weil die Geistes-
kranken „im allgemeinen Sprachgebrauch (nicht in der Psychiatrie) unter
dem Ausdruck Gemütskranke" zusammengefaßt werden. Genau so urteilt
(mutatis mutandis) wörtlich auf S. 74 der obigen Abhandlung in dem
zweiten Absatz Herr Kunz!
Die Ausdrücke „Ferngefühl" und erst recht der Ausdruck „Druck-
gefühl", „Temperaturgefühl" u. s. w. sind also unwissenschaftliche und
irreführende Wortbildungen, die jeder Psychologe, der auf korrekte und
konsequente Ausdrucksweise und begriffliche Unterscheidung drängt,
verwerfen muß.
Herr Kunz sieht ferner nicht, daß der Ausdruck „Femsinn" gar
nicht verwendet wird um die Empfindungsgrundlage der Fem-
wahrnehmung der Blinden zu bezeichnen. Den Ausdruck „Sinn" ge-
brauchen wir im Deutschen, sowohl im allgemeinen Sprachgebrach wie
damit übereinstimmend in der psychologischen Forschung, ebenso wie
10*
— 148 —
den Ausdruck Wahrnehmung für komplizierte Wahrnehmungs- und
Erkennungsakte, und niemand vermutet überall da ein besonderes Sinnes-
organ, wo wir von einem Sinn sprachen. So spricht man in der Psy-
chologie im Deutseben (und ähnlich im Englischen und Französischen) oft
von einem Raum- und Zeitsinn ohne daß es einem Psychologen in den
Sinn kommt, auf Grund dessen ein einzelnes bestimmtes Sinnesorgan
anzunehmen, das ausschließlich für die Raum- und Zeitwahmehmimg zu
dienen hätte. Der Ausdruck „Sinn" ist in allen diesen Fällen eine zu-
sammenfassende Bezeichnung für einen komplexen Wahrnehmungsvor-
gang, der damit noch keinem besonderen Sinn zugeschrieben wird. Der
Ausdruck „Fernsinn der Blinden** bezeichnet also nichts weiter als die
zusammengesetzten Vorgänge, mit denen Blinde Objekte in der Feme
wahrnehmen und jeder Psychologe weiß, daß damit noch keine be-
stimmte Empfindungsgrundlage für diesen komplexen Vorgang angedeutet
wird. Man würde aber besser den Ausdruck „Fernwahrneh-
mung** der Blinden gebrauchen, um den Schein zu vermeiden, daß
man bei der Bezeichnung dieses Vorganges irgend etwas über einen beson-
deren Sinn sagen will.
Auf alle Fälle ist es aber noch immer besser von einem „Femsinn*'
der Blinden zu reden, als von einem ,,Ferngeführ*, ein „Femgefühl"
wäre eine Lust oder Unlust, die die Ferne wahrnimmt! Alles das sind
Ausführungen, die keinem Psychologen etwas neues sagen.
Es würde ferner die Verständigung des Herrn Kunz mit seinen
Gegnern sehr erleichtern , wenn Herr Kunz in den einschlägigen psy-
chologischen Fragen überhaupt etwas besser bewandert wäre. Fort-
gesetzt stößt man bei ihm auf Vermutungen und Hypothesen über Fragen,
über welche längst bestimmte psychologische Untersuchungen vorliegen
und deren Beantwortung Herr Kunz in jeder größeren experimentellen
Psychologie finden könnte. So spricht Herr Kunz z. B. auf S. 127 der
obigen Abhandlung über die „Persistenz** von Eindrücken verschiedener
Sinne und stellt darüber Vermutungen auf, während er sich in jedem
Handbuch, das die Ergebnisse der experimentellen Psychologie berück-
sichtigt, darüber bestimmte Zahlenangaben verschaffen konnte (z. B. bei
Külpe und Wundt). Ferner sind die S. 123 unter Nr. 1 und 2 auf-
geführten Erscheinungen für jeden Psychologen leicht erklärlich, der
die Psychologie der Veränderungsauffassung kennt. (Vgl. z. B. die Ver-
suche von Stratton, und dazu Wundt, Physiolog. Psycho!., Bd. 1, S. 537
u. öfter; 5. Anfl.). Nach den bekannten Gesetzen der Veränderungs-
empfindlichkeit muß die schneller angenäherte Platte eine rascher an-
steigende Empfindung der Veränderung bewirken, die nach Strattons
Versuchen leichter bemerkt wird als die langsam ansteigende. Dazu
— 149 —
bedarf es also niclit gewagter Hypothesen über bis jetzt noch unbe-
kannte „Wellen^'.
Um so merkwürdiger muten die Belehrungen an, die Herr Kunz
Herrn Dr. Krogius über Wärme- und Kälteempfindung erteilt, das sind
Dinge, die sich Herr Dr. Krogius an den Kinderschuhen abgelaufen hat
und die jeder Student im ersten Kolleg über Psychologie erfährt. Wohl
aber ist es kein gutes Zeugnis von den physikalischen Kenntnissen des
Herrn Direktors Kunz, wenn er in Anführungszeichen von „Kälte-
strahlen" spricht, und die polemische Bemerkung des Herrn Dr. Krogius
gegen diesen Punkt war vollständig berechtigt.
Ich hofi'e, daß Herr Kunz sich durch diese Bemerkungen veranlaßt
sieht, bei den einschlägigen Fragen nicht Hypothesen aufzustellen, ehe
er sich über den Stand unsrer psychologischen Kenntnisse orientiert
hat; wie weit ähnliche Bemerkungen zur Psychologie der Schalllokali-
sation am Platze sind, darauf komme ich vielleicht zurück, wenn die
Gegner der Auffassung des Herrn Kunz noch einmal gesprochen haben.
Zeichnen, Sprechen, Rechnen.
Von F. Graberg- Zürich.
Neben der Werkstattlehre sind Zeichnen, Sprechen und Rechnen
die wichtigsten Übungen des gewerblichen Berufsunterrichtes. Sie sollen
den Handwerker zu zielbewußter Teilnahme am geschäftlichen Verkehre
befähigen. Zeichenübungen gewöhnen nämlich den Arbeiter an über-
sichtliches Auffassen und Darstellen von Körperformen zur raschen Ver-
ständigung mit den Mitarbeitern über die zweckmäßige Regelung der
technischen Verfahren. Sprech- und Aufsatzübungen setzen den Hand-
werker instand, sich im mündlichen und schriftlichen Geschäftsverkehr
verständlich und genau auszudrücken. Das Rechnen und die Buchhaltung
machen denselben vertraut mit dem Werte der Raumgrößen, der Zeit-
maße und Gewichte und halten ihn an zum raschen und sichern Vollzug
der Rechenverfahren, welche die Verhältnisse der Zahlwerte ermitteln.
Zeichen-, Sprach- und Rechenunterricht leiten aus Erlebnissen der
mechanisch-technischen Arbeit die Sachbegriffe und Tätigkeits-
formen ab, welche man zeichnend durch Flächenumrisse darstellt,
sprechend und schreibend in Sätzen aufeinander bezieht, rechnend nach
Zahlen wertet und nach Ziffernfolgen aneinanderreiht. Dabei dienen die
Flächenumrisse, Worte und Ziffern als Sinnbilder von Tast- und
Sprechbewegungen, welche die Erinnerungen an äußere Wahrnehmungen
- 150 —
zusammenfassen, die Einbildungen von Verrichtungen regeln. Auf dem
genauen Verständnis und der zweckmäßigen Verwendung dieser Sinn-
bilder beruht die klare Auffassung der Sach Verhältnisse und der geistige
Verkehr. Dazu müssen die Organtätigkeiten der Sinne und Muskeln
mit Erinnerungen und Einbildungen zusammenwirken. Prüfen wir dieses
Zusammenwirken beim Zeichnen, Sprechen und Rechnen.
I. Zeichnen.
1. Tastbewegungen. Begrenzte Strecken und unbegrenzte Strahlen,
mit dem Stift längs gerade gehobelten Linealkanten gezogen, sind Sinn-
bilder von Reihen benachbarter Punkte des Zeichenfeldes, welche in
gleicher Richtung nebeneinanderliegen und gelten deshalb als Sinn-
bilder von Richtungen. Augenmaß und Erinnerung erfassen die Länge
der Strecken nach Vergleichung mit vorgezeichneten Strecken. Die Ein-
bildung bestimmt die Richtung eines Strahles von gegebenem Ansatz-
punkte aus nach Erinnerung kinästhetischer Empfindungen'), welche bei
Tastbewegungen nach gleicher Richtung erlebt werden. Der Strahl
dient der Einbildung als Sinnbild des Gleitens eines Punktes in der
angedeuteten Richtung. Soll eine Strecke zwischen zwei vorgezeichneten
Punkten ohne Führung des Lineales gezogen werden, so muß man jede
Abweichung von der nach Erinnerung des Zielpunktes eingebildeten
Richtung vermeiden, indem man störende Triebregungen des Handmuskels
hemmt. Ebenso dient der Kreisumriß als Maßzeichen der Drehung
wirklich erst, wenn es gelingt, denselben von freier Hand zu ziehen.
Dazu müssen Augenmaß und Erinnerung die gleichen wagerechten und
senkrechten Abstände der 4 Scheitelpunkte vom Mittelpunkt feststellen,
Einbildung und Handführung das Gleichmaß der Verschiebungen des
Stiftes nach den Zugrichtungen (Tangenten) und der Drehungen dieser
Zugrichtungen regeln.
2. Flächenumrisse. Der Streckenumriß wird durch Ein-
stellpunkte gegliedert. Beim Zeichnen wechseln Einstellen des Blickes
zum Merken der Punkte, Einbilden der einzuhaltenden Streckenrichtungen
und Handführung mit dem Auffassen der Längen und Flächenweiten zum
Prüfen derselben nach der Erinnerung und dem Tastmaß ab. Die Ge-
samtform solchen Umrisses wird vollständig aufgefaßt und kann genau
dargestellt werden, wenn die Prüfungen durch Augenmaß, Erinnerung
und Tastmaß die Ergebnisse der Einbildung und Handführung bestätigen.
Beim Zeichnen von Bogenumrissen (Schleifen, Ovale) bezeugt zunächst
die Rückkehr zum Ausgangspunkt oder der Ausgangsrichtung das über-
einstimmende Zusammenwirken der Einbildung und Handführung mit
1) Ebbinghaus, Systemat. Philosophie, S. 197, LeipEJg 1908, B. 0. Teubner.
— 151 —
dem Augenmaß und der Erinnerung. Im weiteren bedingen die Form
solcher Bogenumrisse die Maßverhältnisse der Hauptrichtungen und
-krümmungen für Einbildung und Handführung, der Längen- und Flächen-
weiten für Augenmaß und Erinnerung. Dabei soll die Einbildung den
Wechsel der Richtungen mit genauer Einfühlung der wechselnden Müskel-
spannungen vergegenwärtigen, wie die Erinnerung die gegenseitige Ab-
hängigkeit aller Maßverhältnisse. Dann erfassen Verständnis und Takt-
gefühl zusammen die Form des Bogenumrisses und dient dieselbe als
Maßzeichen dem geistigen Verkehre. Tastend wird das Einhalten
der Maßverhältnisse mittelst Berührstrahlen , Kreisbogen und Strecken
geprüft, welche nach geregelter Reihenfolge an die Bogen- und Haupt-
richtungen gelegt werden. Das übereinstimmende Zusammenwirken von
Einbildung und Handführung mit dem Augenmaß und der Erinnerung
zur vollständigen Auffassung und richtigen Darstellung bestätigt wiederum
die Prüfung durch Vergleichung mit dem Vorbild und mittelst der Meß-
werkzeuge.
3. Körperumrisse. Zuverlässige Gresamtansichten von Bauteilen
und mechanischen Vorrichtungen verschafft sich der Techniker nur, wenn
er fähig ist, deren Auf- und Grundrisse nach dem Augenmaß von
freier Hand nach den geforderten Maß Verhältnissen zu entwerfen. Dazu
muß er sich einbilden, daß die Zeichenebenen dieser Umrisse in ihre
rechtwinklige Lage zusammengestellt werden und nach dieser Anordnung
mittelst der Richtebenen (Kreuz-, Wag- und Stirnebenen) aus den Rissen
die Lage und Gestalt der Grenflächen der Werkstücke, den Bau des
Gesamtwerkes und die Bewegungen der einzelnen Glieder ableiten. Beim
Gestalten und Zeichnen müssen die Schätzungen des Augenmaßes nach
Erinnerung der Maßverhältnisse stattfinden, die Bewegungen und die
Reihenfolge der Verrichtungen nach Einbildung der Richtungen und
Fahrzeiten geregelt werden.
4. Erinnerung und Einbildung. So gehen aus dem überein-
stimmenden Zusammenwirken der Einbildung und Handführung mit dem
Augenmaß und der Erinnerung die Sinnbilder räumlicher Vorstellungen
hervor. Als „gleichartige Zeichen in regelmäßiger Verknüpfung"^) dienen
sie zur Verständigung über die mannigfaltigen Erscheinungen der Natur
und die Gestalten der Werktätigkeit. Wohl liegen den Regungen der
Einbildung „funktionelle Dispositionen" ^) der Nervenzellen zugrunde,
wie auch die Erinnerungen aus der Verknüpfung (Assoziation) simultaner
nnd verwandter Empfindungsinhalte erwachsen. Aber man kann sich
1) Ebbinghaus, a. a. 0., S. 220.
2) Offner, Gedächtnis, S. 17, Berlin 1909, Reuther & Reichard.
— 152 —
die Zeichenvorgänge rascher vergegenwärtigen, wenn man sich beim
Beobachten und Prüfen der Zeichen tätigkeit der Namen von Wirkungen
erinnert, die man sich analog dem äußeren Bilden vorstellen kann, als
wenn man die Namen vermuteter innerer Zustände einführt.
Die Einbildungen sind überdies nicht nur Nachwirkungen von äußern
Reizen und von Erinnerungen. Sie gehen, gleich den Tastbewegungen,
aus ursprünglichen Triebregungen hervor*). Darum können sie den
feinsten Veränderungen der Tastbewegungen folgen und solche bestinmien.
Zeichner und Kupferstecher treffen die naturgetreuen und scharfen Um-
risse der Bergketten, des Baumschlages, der Gesichtszüge nur dann mit
freien und sichern Strichen, wenn sie sich die Wechselwirkung der
Wahrnehmungsinhalte von Umrissen mit den kinäs thetisch en
Empfindungen einbilden können, welche die Tastbewegungen aus
eigenem Triebe begleiten. Bekanntlich folgen die Kinder bei spielenden
Bild- und Zeichenversuchen viel mehr ihren Einbildungen als ihren lücken-
haften sachlichen Erinnerungen, weil die Einbildungen sich nach den
ursprünglichen Trieben und Gewöhnungen richten. Auch die Kinder
müssen die Wechselwirkung zwischen den sichtbaren Spuren ihrer trieb-
artigen Tastbewegungen und den kinäs thetischen Empfindungen erleben,
bevor sie fähig sind, solche Tastbewegungen ihren Erinnerungen an
wahrgenommene Umrisse anzupassen. Stets hat der Werk- und Zeichen-
unterricht nicht nur gegen lückenhafte Erinnerungen, sondern auch
gegen voreilige Einbildungen zu kämpfen, weil die Schüler nach rascher
Ausführung ihrer Verrichtungen drängen. Neben dem Gefühl des Be-
kanntseins mit dem Inhalt der Wahrnehmungen, der Verschmelzung
neuer Wahrnehmungen mit Erinnerungen bestimmt das Interesse, die
innere Stellungnahme zu einer Zeichenaufgabe das Gefühl des Zustande-
bringens in einer dem natürlichen Takt angemessenen Zeit, der Kraft-
ersparnis, welche sich an den steten Verlauf der Vorstellungen und
Verrichtungen knüpft.
5. Taktgefühl. Gliedert man nämlich einen Streckenzug durch
Einstellpunkte in Teilstrecken, so merkt man nicht nur auf die Länge
der Teilstrecken, sondern auch auf die Gliederung der Fahrzeit in eine
Eolge von Einstellungen und Zügen. Die Wirkung dieses Wechsels von
Triebregungen auf die Betätigung des Nervensystemes wird man durch
das Taktgefühl inne*), wie die Wirkung des Wechsels von Tönen und
1) Bewegung geht sinnlicher Wahrnehmung voraus und tritt anfangs von äußeren
Reizungen unabhängig auf. Sie ist inniger und untrennbarer mit unserer Natur ver-
bunden als sinnliche Wahrnehmung. Höffding, Psychologie in Umrissen. Deutsch v. Ben-
dixen, S. 427, Leipzig 1892, R. Reisland.
2) Zeitschrift f. exp. Päd., VII, S. 73.
— 153 —
Schritten. Überhaupt wird man die Wechselwirkung der Wahrneh-
mungsinhalte von Strecken, Flächen und Körpern mit den Bewe-
gungsformen nach Richtungen und Ebenen, Bogen und Rundflächen
durch das Taktgefühl inne, wenn Inhalts- und Formelemente reihen-
weise gleichzeitig sich wiederholen oder wechseln, wie es bei den
zirkulären Wiederholungen von Bewegungen oder Lauten der Kinder
geschieht. Solche Taktreihen steigern indessen die Geisteskraft nur in
dem Grade, wie sie zugleich die Wechselwirkung zwischen sachlichen
Erinnerungen und persönlichen Einbildungen regeln.
6. Richtlinien und Richtflächen. Das spielende Kind freut
sich nur der Striche oder Töne, die es hervorbringen kann und diese
Lust treibt zur Erneuerung der Versuche, die sich gleichförmig wieder-
holen und zur Gewohnheit werden. Wenn das Kind aber die Begierde
nach einer Frucht stillen oder einen Stuhl verschieben will, dann haben
seine Versuche einen Zweck und nach der größeren oder geringeren
Anstrengung , mit der seine Versuche diesen Zweck erfüllen , haben die
Versuchsbewegungen für das Kind geringeren oder größeren Wert.
Dann fordern die mißlungenen Versuche nicht nur zu erneuter Anstren-
gung, sondern auch zur Abänderung der Bewegungen auf und führen
dadurch möglicherweise zur zweckmäßigeren Ausführung derselben, zum
genaueren Anpassen der Bewegungen und der Einbildungen an die sach-
lichen Bedingungen und Erinnerungen.
Auch der Zeichner, der es nur darauf anlegt, ein gegebenes Vorbild
getreu nachzuahmen, vervollständigt zwar seine Erinnerungen und erlangt
formale Zeichenfertigkeit, aber dadurch allein wird er noch nicht fähig,
Zeichenaufgaben nach gestellten Bedingungen zu lösen. Denn er gewöhnt
sich beim Nachzeichnen nur die Punkte als Grenzpunkte gemessener
Längen, nicht dieselben als Zielpunkte angedeuteter Richtungen von dem
sichtbaren Zusammenhang mit seinen Nachbar punkten zu sondern (abstra-
hieren). Ebenso lernt er Strecken und Bogen nur als Grenzumrisse von
Flächen auffassen, nicht aber als von der Zeichenfläche gesonderten Ort
für die Kreuzung von Richtungsparen, welche vorgeschriebene Bedin-
gungen erfüllen ; wie z. B. auf der winkelhälftenden Richtlinie alle Pa-
rallelen zu den Schenkeln sich kreuzen, welche von diesen gleich weit
abstehen. Durch das Zeichnen nach Modellen lernt man wohl deren
Grenzflächen im Zusammenhang mit der Körpermasse aufi*assen, nicht
aber als gesonderte Ebenen oder Rundflächen, welche durch Verschiebung
von Strahlen längs gegebener Richtung oder durch Drehung von solchen
um feste Punkte erzeugt werden. Diese von dem Zusammenhang mit
den sichtbaren Strecken, Flächen und Körpern gesonderten Zielpunkte,
Richtlinien und Rieht flächen sind die maßgebenden Raumelemente,
— 154 -
welcher sich die Einbildung beim übersichtlichen Anordnen und Gestalten
von Flach- und Körperformen bedient. Man erwirbt sich deren Kenntnis
nicht durch Zeichnen nach Augenmaß und Handführung allein, sondern
dazu ist die genaue Feststellung von Richtungen, Bogen und Körper-
umrissen und die Prüfung der Maßverhältnisse mit Tastwerk-
zeugen unentbehrlich, weil solche Feststellung und Prüfung den zuver-
lässigen Zeichenverkehr zwischen den Zusammenwirkenden an größeren
Werken gestattet, während die Schätzungen des Augenmaßes und die
Erzeugnisse der Handführung stets von dem Grade persönlicher Begabung
und momentaner Aufmerksamkeit abhängen, darum nicht allgemeine
Geltung erlangen. Wohl verwendet das frei nachbildende Zeichnen ein-
zelne Merkpunkte, Hauptaxen und Hauptumrisse zur Anordnung der
Formen im Zeichenfelde. Sein Ziel bleibt aber die anschauliche
Wiedergabe der wirklichen Erscheinungen, während die Aufgabe des
messenden Werkzeichnens in dem regelmäßigen Gestalten von
Werkstücken besteht, die weiteren technischen Zwecken dienen sollen.
7. Zeichenverkehr. Bei diesem regelmäßigen Gestalten dienen
die Grenzpunkte, Grenzlinien und -flächen als Merkzeichen der Vorstellungs-
inhalte, die Richtzeiehen zum Regeln von Einbildungen und Verrichtungen.
Die zweckmäßige Verwendung der Merk- und Richtzeichen leitet der
Lehrer durch den Zeichenverkehr mit dem Schüler ein, indem er, das
sachliche Vorbild mit seiner Vorzeichnung vergleichend , auf die maß-
gebenden Merkzeichen hinweist, die Reihenfolge der Verrichtungen an
Hand der Richtzeichen erklärt und die Zeichnung des Schülers mit
diesem nachmessend prüft.
Der Geolog, Prof. A. Heim, schon früh ein gewandter Panoramen-
zeichner, erzählt, er habe als Knabe auf den Karten mit dem Finger
die Küsten der Kontinente verfolgt. Solange man eine Zeichnung nur
anschaut, prägt sich nur die Flächenausdehnung der Erinnerung ein.
Wenn man aber mit dem tastenden Finger den Umrissen nachfährt, dann
löst sich von der Flächenanschauung, nicht die Erinnerung der Blick-
bewegung, sondern die Einbildung von den Richtungen der
Linienzüge ab. Damit also der Schüler sich die Umrisse des Vor-
bildes und der Vorzeichnung wirklich einbilde, muß der Lehrer dieselben
mit Zeigebewegungen verfolgen und vom Schüler verfolgen
lassen. Die Worte dienen dann nur dazu, die Einbildungen durch
Klangbilder, die Namen der Linien, zu gliedern und zeitlich zu regeln.
Durch regelmäßige Zeigebewegungen regt (suggeriert) also der Lehrer
den Schüler zu solchen Einbildungen an. Durch passende Benennungen
werden die Inhalte der Sehwahrnehmungen befestigt. Wer aber un-
nütze Fragen stellt, der stört die Entwicklung der visuell-motorischen
— 155 —
Einbildungen durch akustisch - motorische. Nur solche Begleitworte
fördern die Einbildung von Bewegungsrichtungen, deren Bedeutung mit
den Sehwahrnehmungen verknüpft ist.
8. Die Vorzeichnung ist eine sichtbare Spur der Zeigebewe^
gungen und soll dem Schüler schrittweise die Anordnung der Merk-
punkte und Richtlinien im Zeichenfeld veranschaulichen, damit er beob-
achten lernt in welcher Reihenfolge die maßgebenden Grrundlinien
anzuordnen, die Ansatz- und Zielpunkte der Richtungen zu merken, die
Richtstrahlen und Richtebenen einzubilden und zu verwenden sind, um
die Zeichenform auf dem kürzestenWege genau herzustellen. Die
Vorzeichnung regelmäßiger Streckenumrisse weist die winkelhälftenden
Richtlinien an, welche die Grrenzpunkte der ähnlichen Umrisse mit pa-
rallelen Seiten enthalten, weil die Angabe einer solchen Seite genügt,
um auch die Lage der übrigen nach dem Augenmaße zu schätzen und
die geforderten Strecken mittelst Winkel Verschiebung zu zeichnen. Nach
der Vorzeichnung konzentrischer Umrisse soll sich der Schüler den
Mittelpunkt merken, in dem sich die Durchmesser kreuzen, weil dieser
Punkt die Prüfung der in den Durchmessern liegenden Grenzpunkte
der Umrisse gestattet, deren Lage auf anderem Wege bestimmt ist. Ein
Bogenumriß wird vorgezeichnet durch die Richtungen der größten und
kleinsten Ausdehnung, die Tangenten zu den Grrenzpunkten derselben
und Zwischentangenten. Solche Tangenten leiten das Augenmaß, das
Tastmaß der Handführung und die Einbildung der Bogenteile sicherer
als Grenzpunkte. Denn die Strecken zwischen den Berühr- und Scheitel-
punkten der Tangenten winkel lassen die Abweichungen der Bogen von
den Tangentenrichtungen schätzen und die längeren Bogenstücke ge-
statten genauere Vergleichung und Prüfung der Krümmungen als die
Verbindung benachbarter Grenzpunkte. Der stehende prismatische Voll-
körper wird durch seinen Grundriß vorgezeichnet mit den Wagebenen,
welche seine senkrechte Höhe begrenzen. Durch den Umriß einer Stirn-
ebene sind die Umrisse aller Lotebenen vorgezeichnet, welche sich um
eine senkrechte Axe der Stirnebene drehen.
9. Lesen der Zeichnung. Die Vorzeichnungen ergänzen die
wörtliche Erklärung der Zeichenvorgänge, indem sie die Anordnung der
Richtungen, die Stellungen der Ansatz- und Zielpunkte, die Richtungs-
wechsel der Tangenten, die Stellungen der Kreuz-, Wag- und Stirn-
ebenen zu den Zeichenebenen im Zusammenhang veranschaulichen
und dadurch die Aufmerksamkeit des Schülers auf die Seh Wahrnehmungen,
die Reihenfolge der Einstellungen des Blickes und die Zugrichtungen
beschränken, die Wechselwirkung zwischen visuellen Erinnerungen und
motorischen Einbildungen in stetigem Fluß erhalten.
— 156 —
Wenn der Lehrer die Erinnerung des Schülers weder an wörtlich
überlieferte Zeichenregeln noch an Maßzahlen bindet, die dem Zweck
der Darstellung fern liegen, sondern dessen Aufmerksamkeit auf die
maßgebenden Merk punkte, Richtlinien und Richtebenen hinweist, so lernt
der Schüler die Bedingungen zur Lösung der Zeichen- oder Gestaltungs-
aufgaben in den vorgezeichneten Raumelementen erkennen, An-
lage und schrittweise Ausführung einer Zeichnung prüfend verfolgen,
nicht nur das Endergebnis betrachten. Er lernt die Zeichnung lesen
und dadurch deren Vorstellungsinhalt im ganzen Umfang erfassen, die
Art der Ausführung nach allen Richtungen würdigen.
10. Zerlegen der Sach- und Zeichenformen. Das Erkennen
der Zeichen- und Gestaltungsbedingungen aus den vorgezeichneten Raum-
elementen fordert die Zerlegung der vorbildlichen Sach- und der Zeichen-
formen, die Unterscheidung der Merk- und Richtzeichen von den Grenz -
umrissen. Die Vorzeichnung erleichtert diese Zerlegung, wenn sie schwarze
Sachumrisse von roten Richtzeichen unterscheidet und die Merkpunkte
nach der Reihenfolge ihrer Verwendung beziffert.
Wohl stellt die Beobachtung maßgebender Merkpunkte der Zeichen-
aufgabe strengere Forderungen an die Erinnerung als das mechanische
Bestimmen von Kreuzungen nach der Regel. Das Einbilden einer zweck-
mäßigen Folge von Verrichtungen setzt freieren Überblick über die
Zeichnung voraus als das Befolgen einer gebräuchlichen Regel. Aber
das Beobachten der Merkpunkte in der Vorzeichnung, das Einhalten der
Richtlinien nach Vorschrift derselben setzen Augenmaß und Handführung,
Erinnerung nnd Einbildung unmittelbarer in Wechselwirkung als die
Erinnerung an Regeln, die in Worten überliefert sind.
Auch die Betrachtung des Körpers ersetzt die Mitwirkung des Vor-
zeichnens bei der Erklärung nicht, weil dieses die Zerlegung der Körper-
form in ihre Zeichenelemente vermittelt. Zu diesen gehören näm-
lich nebst den Umrissen der Grenzebenen die Maßzeichen der Merk-
punkte und Richtlinien, welche die Körperform und die Zeichenvorgänge
gliedern. Zur Vergleichung der gezeichneten Flächenumrisse mit ihrer
Erscheinung am Körper und zum Verständnis des körperlichen Zusam-
menhanges von Kanten und Grenzflächen muß allerdings das Modell
herangezogen werden. Dann lenkt man aber die Aufmerksamkeit des
Schülers auf bestimmte Ziele und überläßt ihn nicht seiner oberfläch-
lichen Anschauungsweise.
11. Stufenfolge der Maßzeichen. Doch das AofiPassen und
Einüben der Zeichenvorgänge müssen sich stufenweise steigern, damit
Augenmaß und Erinnerung in geregelter Wechselwirkung mit der Hand-
führung und Einbildung sich ausbilden. Dazu soll die Vorzeichnung für
— 157 —
jeden Zeichenvorgang und für jede Stufe der Ausführung einer Zeichen-
form die Anordnung der Merkpunkte überblicken lassen, welche die Züge
miteinander verbinden, während Erklärung und Bezifferung die Reihen-
folge der Züge andeuten.
Dem Anfänger müssen die Verbindungslinien : die Umrisse und Richt-
linien in voller Ausdehnung vorgezeichnet sein. Er soll aber lernen
solche Umrisse und Richtlinien in der Einbildung zu ergänzen, wenn
deren Richtungen nur durch Grrenz- oder Kreuzstriche angedeutet sind.
Er soll lernen nach vorgezeichneten Umrissen und Richtlinien Parallele
oder Rechtwinklige ziehen mittelst Verschiebung oder Drehung des
Rechtwinkelmaßes, nach vorgezeichneten Umrissen und Axen symmetrische
Umrisse mittelst der Merkpunkte auf der Axe und der Parallelen zu
dieser bestimmen. Aus vorgezeichneten Grund- und Aufrissen soll er
die Kreuzrisse und Lotschnitte ableiten lernen bei recht- oder schief-
winkliger Stellung der Schnittebene zur Wand.
Mit den maßgebenden Richtlinien der Flächenumrisse sind deren
Maß Verhältnisse vorgezeichnet, sie dienen dem Augenmaß und der Zeichen-
erinnerung als Maßzeichen zur zweckmäßigen Gliederung des Zeichen-
feldes, wie die Teilstriche des Maßstabes zur Teilung der Längen. Mit
den Sachformen, welche die Umrisse andeuten, steigert sich stufenweise
der Vorstellungsinhalt der Maßzeichen und vervielfältigen sich die Maß-
verhältnisse, die aus der Verbindung der Merkpunkte und Richtlinien er-
wachsen. In gleichem Grade sollte sich deshalb auch der Überblick über die
Maßzeichen erweitern, die Einbildung der Verrichtungen entwickeln. Die
Vorzeichnung, welche den Zusammenhang der Umrisse und Richtzeichen
vergegenwärtigt und die wörtliche Erklärung der Zeichenvorgänge sind die
Mittel, durch welche der Lehrer den Überblick des Schülers stufenweise
erweitert, dessen Einbildungen regelt und dessen Taktgefühl verfeinert.
12. Freies und messendes Werk zeichnen. Nach den Maß-
zeichen regelt die Einbildung die Handführung und die Reihenfolge der
Verrichtungen beim frei gestaltenden wie beim messenden Werkzeichnen.
Denn auch die Naturformen dienen den Zwecken des gestaltenden Zeichnens
nur in dem Grade, wie das Augenmaß und die Zeichenerinnerung frei
über die Maßverhältnisse der sichtbaren Formen verfügen. Je mehr die
Bautätigkeit und das Kunstgewerbe den sachlich begründeten Zwecken:
Materialeigenschaften, Arbeitsverfahren und Verwendung der Erzeug-
nisse , zu genügen suchen , umso mehr müssen auch Natur- und Zier-
formen sich diesen Zwecken anpassen. Es müssen deshalb ihre Maß-
verhältnisse bei deren Gestaltung über die individuelle Erscheinung vor-
herrschen. Nicht die Formähnlichkeit mit einzelnen Blättern und Blüten
entscheidet über deren Verwendung, sondern die typischen Kennzeichen
— 158 —
der Gattung fügen sich den baulichen Zwecken ein. Zu diesen gehören
auch die allgemeinen Maßverhältnisse.
13. Vorzeichnen und Erklären. Beim freien wie beim mes-
senden Zeichnen vermittelt der persönliche Zeichenverkehr die genaue
Anpassung der Zeichenvorgänge an die Fassungskraft und das Takt-
gefühl des einzelnen Schülers durch individuelles Vorzeichnen und wört-
liches Erklären. Dabei tritt das Vorzeichnen der sichtbaren Merk- und
Richtzeichen in Wechselwirkung mit dem hörbaren Aufzählen der Zeichen-
vorgänge, ihrer einzelnen Bewegungen und zusammenhängenden Ver-
richtungen. Stetig ist solche Wechselwirkung, wenn der Schüler auf
die Zeichen merkt und die Bewegungen nach der in Worten angedeuteten
Reihenfolge vollzieht. Dem Anfänger gelingt das nur schrittweise,
indem er seine Wahrnehmungen und Erinnerungen an Merk- und Richt-
zeichen selbst aufzeichnet und einprägt, die Bewegungen und Verrich-
tungen einübt und deren Ergebnisse nach der Vorzeichnung prüft. Dieser
schrittweisen Ausführung der Zeichenvorgänge müssen die erklärenden
Sätze folgen, damit sie sich der Fassungskraft und dem Taktgefühl
des Schülers anpassen. Je leichter der Schüler die gleichartigen Merk-
zeichen wiedererkennt, je sicherer derselbe die Bewegungen nach eigenem
Taktgefühl ausführt, die Richtzeichen einhält und verwendet, umso mehr
darf die Erklärung der Zeichenvorgänge neben der Vorzeichnung zurück-
treten, indem der Lehrer dem Augenmaß und der Erinnerung des Schülers
das Auffassen der Maßzeichen, dessen Einbildung und Handführung das
Einhalten der Maßverhältnisse überläßt. Wenn dann an die Vorzeich-
nung sich beim Schüler zwanglos Erinnerungen an eigene Erlebnisse aus
seiner Berufstätigkeit knüpfen, so kann der Lehrer mehr und mehr die
sachliche Bedeutung der Maßzeichen besprechen und begründen. Damit
hat der formal vorbereitende Unterricht zum Verständnis und zur Dar-
stellung der Werkformen sein Ziel erreicht. Er hat als Grundlage des
beruflichen Zeichnens gedient.
Vermöge geregelter Wechselwirkung zwischen Augenmaß und Hand-
führung, Erinnerung äußerer Anregungen und Einbildung kraft innerer
Triebregungen erwirbt der Zeichner die Kenntnis der Maßverhältnisse
von Gegenständen und die Fähigkeit solche zielbewußt zu verwenden
zur Darstellung des Gesehenen, zur Verwirklichung technischer
Zwecke und zur Verwertung im geistigen Verkehre.
II. Sprechen.
Die Zeichnung stellt den räumlichen Zusammenhang und die Maß-
verhältnisse der Richtungen und Flächenausdehnungen übersichtlich dar.
Aber die Reihenfolge der Vorgänge und die Zahlwerte der Maßverhält-
— 159 —
nisse müssen in W o r t e n erklärt und in Ziffern beigeschrieben werden.
Die Worte der Sprache sind hörbare Sinnbilder für Merkmale und Vor-
gänge, welche man teils selbst erlebt, teils durch Überlieferung erworben
hat. Die sichtbaren Umrisse der Zeichnung stimmen dem Inhalte nach
mit den Sehwahrnehmungen an den Gregenständen überein. Ebenso geben
die Tastbewegungen des Stiftes der Form nach ähnliche Zeigebewegungen
an den Dingen wieder. Aber hörbare Worte sind mit den Wahrneh-
mungen anderer Sinne nur durch gleichzeitige Erinnerungen verknüpft
und die Sprechbewegungen geben andere Bewegungen nur nach gleicher
Zeitfolge wieder. Sprechend kann man deshalb die Beziehungen zwischen
Sachen und Tätigkeiten nur andeuten. Dafür werden die Einbildungen,
welche beim Zeichnen im Wechsel des Beobachtens und Ziehens schritt-
weise von den Erinnerungen der sichtbaren Umrisse sich ablösen, beim
Hören und Sprechen der Sachnahmen und Tätigkeitsworte im fließenden
Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen geregelt.
1. Wortinhalt und Satzfor m. Solcher Zusammenhang genügt
indessen den Forderungen der Wirklichkeit nur, wenn die Erinnerungs-
inhalte der Worte sachgemäß geordnet sind, die Einbildungen der Satz-
formen den tatsächlichen Vorgängen gerecht werden, wenn die Sätze
sagen, was tatsächlich geschieht. Darum fordert R. Hildebrand ^)
mit Recht, daß der Sprachunterricht „mit der Sprache zugleich den
Inhalt der Sprache, deren Lebensgehalt voll und frisch und warm er-
fassen sollte". Wenn er aber glaubt, daß zum Verständnis des Wortes
„Berg^^ die besondere Betonung und eine leichte Handbewegung nach
oben genügen, so sind wir der Ansicht, daß dieses Verständnis weit
besser begründet sei, wenn der Schüler die Umrisse von angeschauten
oder erstiegenen Bergen gezeichnet oder modelliert hat. Ebensowenig
wird der Lebensgehalt von Tätigkeitsworten , wie : sägen , hobeln voll
und frisch erinnert, wenn man blos deren Handbewegungen andeutet.
Sondern dazu ist notwendig, daß der Knabe die Wirkungen solcher
Tätigkeit erfahre. Handarbeit und Zeichnen ergänzen überhaupt den
sprachlichen Unterricht nicht nur in der Hinsicht, daß durch ihre Er-
zeugnisse der Vorstellungsinhalt vervollständigt wird, den die Sinnbilder
der Sprache, die Worte, andeuten, sondern auch insofern die Tastbe-
wegungen die Bedeutung der formalen Einbildungen sichern und damit
die Beziehungen zwischen Sachbegriffen und Tätigkeitsformen, zwischen
Ursachen und Wirkungen klarstellen, welche jeder Satz aussagt. So
sichern auch physikalische und chemische Versuche die Einsicht in Ur-
sachen und Wirkungen der Naturerscheinungen und -Vorgänge.
1) Vom deutschen Sprachunterrichte, 10. Aufl., Leipzig 1906, J. Klinkhardt,
~ 160 —
2. Wortform und Bedeutung. Das Bestreben, den sprach-
lichen Ausdruck mit dem wirklich erlebten Vorstellungsinhalt in Ein-
klang zu bringen , führt femer zu genauer Prüfung der überlieferten
Wortformen hinsichtlich ihrer Bildung und Bedeutung. Dies gilt be-
sonders bei den Fremdwörtern. So macht Hildebrand *) darauf auf-
merksam, daß das Wort „Zusammenhang" viel genauer die lebendige
Entwickelung der Sprache andeutet als das altüberlieferte „System".
Denn alle Sprache, nämlich die dem einzelnen innewohnende, ist im
Grunde schon ein Zusammenhang von in lebendiger Selbsttätigkeit er-
worbenen Worten und Sätzen, ein wunderbar verflochtenes und doch
geordnetes Gewebe , wenn auch nur dunkel gefühlt und voller Stellen,
die der Ergänzung und Berichtigung bedürfen. Auf die Fremdsprachen
näher einzutreten, gestattet der Zweck dieser Arbeit nicht.
3. Einbildung ein Erlebnis inneren Bildens. Eben-
sowenig hält der Name „Phantasie" vor der genaueren sachlichen Prü-
fung stand. Von (paivetv, ans Licht bringen abgeleitet, weist der Name
auf das äußerlich erscheinende hin, gegenüber dem in abgeleiteten Sinn-
bildern Erdachten. Mit dem Namen „Einbildung" verbinden wir aber,
wie das Vorausgegangene zeigt, die Vorstellung der persönlichen Selbst-
tätigkeit die sich in Bewegungen, in geregelten Verrichtungen, in freiem
Schaifen nach eigenem Taktgefühl kundgibt, aus den ursprünglichen
Triebregungen in der Lebensgemeinschaft der Nervenzellen stammt und
den individuellen Charakter bestimmt. Wer freilich diese Bewegungen
nur als Gegenwirkungen gegen die Eindrücke der Außenwelt auffaßt*),
denkt weniger an die ursprünglichen Triebregungen des Seelenlebens.
Für den beruht die Phantasie nur auf den „Ausdeutungen und Umge-
staltungen der Erinnerungsbilder durch hineinassoziierte und neben ihnen
bestehende Vorstellungen und kann nicht als neue von den andern ab-
zulösende Grundfunktion der Seele gelten, sondern als ein Resultat der-
selben elementaren Betätigungen, die ihr insgemein entgegengesetzte Er-
innerungen liefern". So schreibt der Forscher, für den Erinnerungen
und Erkenntnisse den größten Wert besitzen. Für den Lehrer aber,
der die Schüler zu freier Selbsttätigkeit erzieht , die ursprünglich zu-
fälligen Triebregungen der Jugend in geregelte Verrichtungen über-
führen und doch die persönlichen Taktgefühle wahren soll, für diesen
sind Einbildungen als Erlebnisse inneren Bildens ein wichtiger
Faktor des Seelenlebens. Sie erwachen mit dem Spieltrieb in frühester
Jugend, wirken mit und gegen die Erinnerungen fort und erlangen, von
1) A. a. 0. S. 17.
2) Ebbingbaus a. a. 0. S. 211 u. f.
— 161 —
diesen gemäßigt , als zielbewußte Tätigkeit im geistigen Verkehr einen
bestimmten Wert.
4. Selbst finden. Von Erlebnissen inneren Bildens redet auch
der erfahrene Sprachlehrer Hildebrand, wenn er fordert, daß „der Lehrer
des Deutschen nichts lehren sollte, was die Schüler selbst aus sich finden
können ^y. Dieses Selbstfinden ist von höchster Wichtigkeit, weil da-
durch der Unterricht dem Leben vorarbeitet, indem er die Schüler an
eigenen Spracherlebnissen die logischen Beziehungen prüfen lehrt. Die
Freude am Selbstfinden regt in dem Schüler den Trieb zum Selbst-
beobachten seiner Umgebung und zur Selbsttätigkeit an. Denn das
Selbsterkannte und durch eigene Prüfung bestätigte weiß er besser nach
seinem Werte zu schätzen als das in Zeichen oder Worten überlieferte
Wissen , das mit seinen ursprünglichen Erinnerungen und Einbildungen
nur äußerlich durch Licht- oder Klangbilder zusammenhängt. Solche
Selbstbeobachtung und Selbstprüfung muß indessen an sachlichen und
sprachlichen Erlebnissen übereinstimmend geübt werden, damit die Be-
deutung der sichtbaren Zeichen räumlicher Dinge und von hörbaren Be-
nennungen der Vorgänge sich in zeitgemäßer Folge verknüpfen.
5. Schriftzeichen stellen die Sachnamen und Tätigkeitsworte
der Rede nach zeitgemäßer Reihenfolge übersichtlich dar. Gleich den
Umrissen der Zeichnung und den Worten der Rede sind die Schrift-
zeichen gleichartige Sinnbilder in regelmäßiger Verknüpfung und dienen
deshalb dem geistigen Verkehr als Sammelstelle der sachlichen Erin-
nerungen und der motorischen Einbildungen. Faulmann bietet in
seiner illustrierten Geschichte der Schrift ^) einen reichen Überblick über
die Schriftsysteme der Völker : Aus diesem ersieht man, wie im Norden
Europas, wo nur Holzstäbe zum einschneiden von Rissen nach verschie-
denen Richtungen dienten , sich auch die Schriftzeichen mit den ein-
fachsten Elementen der Rede, den Lauten, verknüpften, während in
Egypten an Felswänden und Tempelbauten eine farbenreiche Bilderschrift
sich entfalten konnte. Auch diese flächenhafte Bilderschrift verdichtet
sich durch den Gebrauch, zu linearen Zeichen der Handführung, wie sich
mit den Zeichen nach und nach statt der verschiedenen Lesarten durch
den Verkehr herrschende Bedeutungen verknüpfen.
6. Satz bau. Während die Laute der mündlichen Rede nach dem
Gehör sich fortpflanzen, die Züge der freien Hand nach dem Augen-
maße geregelt werden, überliefert die Schrift die Worte in Sätzen,
welche nach allgemein gültigen Regeln gebaut sind, wie die Maßzeichen
1) A. a. 0. S. 20.
2) Wien 1880 A. Hartleben.
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 11
— 162 -
nach allgemein verwendbaren Tastmaßen geprüft werden können. Wie
die Zeichenformen werden anch Satzformen als richtig erkannt, wenn
deren Inhalt mit den erlebten Tatsachen übereinstimmt und das läßt
sich nach schriftlichen Darstellungen genauer prüfen als nach fließenden
Aussagen. Aber die Zeichen formen sollen übersichtlich, die Satzformen
faßlich sein, damit sie vom Leser oder Hörer rasch verstanden werden.
Ohne Zweifel muß darum beim Prüfen geschriebener Sätze das Sprach-
gehör, beim Prüfen der Zeichenformen das Augenmaß mitwirken. Bei
der schriftlichen Fassung eigener Erlebnisse sind grammatische Über-
legung und Sprachgehör mit mehr Übersicht wirksam als beim geläu-
figen Reden und Lesen fremder Schriftstücke. Darum muß man die
Schüler anhalten eigene Erlebnisse wie mit eigenen Zeichen, mit selbst-
gewählten Worten in selbstgebildeten Sätzen schriftlich mitzuteilen.
Dann lernen sie ihre persönlichen Erinnerungen und Einbildungen
in allgemein verständlichen Sprach- und Zeichenformen zur Gel-
tung bringen.
III. Rechnen.
1. Zuordnen. Wenn das Kind Knöpfe, Stäbchen oder Bauhölzer
in Reihen oder Gruppen zusammenlegt, so ordnet es diese greifbaren
Stücke einander zu. Ebenso ordnet man beim Zeichnen Punkte und
Striche einander zu, wenn man sie in Reihen oder Umrissen im Zeichen-
feld zusammenstellt. Beim Sprechen ordnet man einander Sachen und
Tätigkeiten zu. Endlich werden Schritte, Züge der Hand oder Töne
einander zugeordnet, wenn man Takte zählt.
2. Maßzahlen. Die Anzahl gleicher Strecken - Einheiten einer
vorgezeichneten Richtung zählt man auf einem Maßstab, den man
tastend an diese Richtung anlegt. Da die Teile des Maßstabes allgemein
gültigen Wert im Verkehre besitzen, kommt auch der Anzahl solcher
Maßeinheiten und der damit gemessenen Länge ein allgemein gültiger
Wert zu. Die nach dem Augenmaß entworfene Werkskizze erhält durch
die Ausführung nach den eingeschriebenen Maßzahlen technischen Wert
für den Verkehr zwischen Werkführer und Arbeiter. Durch beige-
zeichnete Maßstäbe und eingeschriebene Höhenzahlen bieten Pläne und
Panoramen eine sichere Grundlage zur genauen Auffassung der wirk-
lichen Flächenausdehnung und Bodengestalt, sowie zur wirtschaftlich
geregelten Bodenkultur und Bautätigkeit. Die Ziffern und Namen der
Zahlwerte ergänzen also die Zeichen der Werkrisse, Pläne und Dia-
gramme durch die Ergebnisse, welche genaue Messungen von Wegen,
die Zählungen von Mengen der Bevölkerung, die Wägungen von Kräften,
— 163 —
die Schätzungen von Arbeitsleistungen und Tauschmitteln nach gleichen
Zeitabschnitten ergeben haben. Desgleichen veranschaulichen Schichten-
umrisse die flächenweise Verbreitung gleicher Höhenzahlen , gleicher
Temperaturgrade und Luftdruckverhältnisse. Sie bieten so einen zu-
sammenhängenden Überblick über die Maßzahlen der Bodenerhebung und
Luftströmung. Dieser zusammenhängende Überblick wird zum Sinnbild
für die Gesamtheit der Zahlwerte, welche durch einzelne Messungen
nach gleichen Zeitabschnitten oder an verschiedenen Stellen der Erd-
oberfläche erhoben werden, vermöge der Einbildung von Wegen,
welche ein Punkt nach den Zeitabschnitten oder von Stelle zu Stelle
beschreibt.
3. Weg und Zeit. Wenn man ferner im Quadratnetz auf der
wagrechten Grundlinie die Einheiten der Zeitabschnitte bezeichnet, auf
jeder der Senkrechten, welche diesen Einheiten zugeordnet sind, die
Anzahl der Wegeinheiten eines Punktes anmerkt und die obern oder
untern Grenzpunkte der Senkrechten durch Strecken verbindet, so bildet
man sich ein , der Punkt durchlaufe in den gleichen Zeitabschnitten
diese Strecken , deren Richtung sich nach dem Verhältnis zwischen
Wegen und Zeiten, nach der Geschwindigkeit des ursprünglich beobach-
teten Punktes verändert und erhält durch die Einbildung des ganzen
Verlaufes jener Strecken eine Gesamtvorstellung von dem Wechsel der
Geschwindigkeiten des ursprünglichen Punktes, welchen die Maßzahlen
seiner Wege andeuten.
4. Bei Rechenvorgängen verschmilzt die Einbildung
Zählakte gleicher Einheiten. Der visuell -motorische Zeichen-
vorgang zur Ableitung der Geschwindigkeitsänderung aus den wech-
selnden Verhältnissen von Weg und Zeit eines Punktes vergegenwärtigt
die visuell- oder akustisch numerischen Rechen Vorgänge zur Ableitung
von Zahlwerten aus der Verbindung von in Ziffern vorgeschriebenen
oder in Zahlwort en vorgesprochenen Zahlen. Bei jenem visuell-mo-
torischen Zeichenvorgang verschmilzt nämlich die Einbildung die ein-
ander folgenden Akte der wagrechten und der senkrechten Stiftführung
zu einem Bewegungsakte in schiefer auf- oder absteigender Richtung.
So verschmilzt die Einbildung beim Zusammenzählen von je vier in ver-
schiedener Anordnung vorgezeichneten Punkten oder von je vier nach
wechselnder Folge gezählten Münzen die gleichen Zählakte zu einem
Zählakt von vier gleichen Einheiten. Ebenso verschmilzt die Einbildung
beim Vervielfältigen einer Reihe vergezeichneter Punkte oder einer
Anzahl gewerteter Münzen im ersten Fall die Reihenzahl mit der An-
zahl von Punkten jeder Reihe, im zweiten die Wertzahl der Münzen
mit der Anzahl der Stücke. Die Prozentzahl gilt als einheitlicher Zahl-
— 164 —
wert für die Schätzung des Wertes von Reihen gleichartiger Vorgänge
z. B. der Zu- oder Abnahme der Bevölkerung, der Gewinne aus dem
Geschäftsbetriebe, der Zinsen von geliehenem Kapital. Überhaupt ist
jeder Rechenvorgang aufzufassen als Verschmelzung vorgezeichneter
Größen oder vorgezählter Werte vermöge der geregelten Einbildung
einer Kette von Verrichtungen.
IV. Zusammenwirken von Zeichnen, Sprechen, Rechnen im Geistesleben.
1. Einklang zwischen persönlicher Einbildung und
sachlichen Forderungen. Die Verschmelzung von Zügen za
Strecken von gleicher, zu Bogen von wechselnder Richtung gelingt der
Einbildung erst nach einer Anzahl von Versuchen die spontanen Trieb-
regungen nach Maßgabe der Erinnerungen gleicher oder wechselnder
Richtung mit den geforderten Maßverhältnissen der Strecken oder Bogen
in Übereinstimmung zu bringen und diese mit dem Augenmaß oder mit
den Tastmaßen zu prüfen. Die Übereinstimmung zwischen der Ein-
bildung und den geforderten Maßverhältnissen ist gesichert, wenn die
Prüfung nach Augen- und Tastmaß bestätigt, daß Strecken und Bogen
nach dem Taktgefühl in stetem Zuge genau ausgeführt werden. Ebenso
ist die Übereinstimmung zwischen der Einbildung einer Folge von
Zeichen Vorgängen und den sachlichen Maßverhältnissen der Zeichenform
gesichert , wenn diese Vorgänge ohne Anstoß nach dem Taktgefühl in
zweckmäßigem Wechsel von Einstellungen und Zügen einander ablösen
und deren Ergebnisse einander wechselseitig bestätigen. Der Einklang
zwischen der Einbildung einer Folge von Sprach- oder Rechenvorgängen
und den Beziehungen, welche die Sprach- oder Rechensätze andeuten, ist
gesichert, wenn diese Vorgänge ohne Besinnen über einzelne Worte oder
Zahl werte nach dem Taktgefühl in zweckmäßiger Folge der Aussagen
oder Verrichtungen einander ablösen und die sachliche Prüfung deren
Schlüsse bestätigt. Zeichen-, Sprach- und Rechenformen sind sinnbild-
liche Träger des geistigen Verkehres. Ihr Verkehrswert richtet sich
nach der Sachgemäßheit ihres Erinnerungsinbaltes und nach der Zweck-
mäßigkeit ihrer Einbildungsform.
2. Die Erzeugnisse der wissenschaftlichen Literatur und des ge-
schäftlichen Verkehres, die natur- und völkerkundlichen Vorträge mit
ihren Vorweisungen und Sammlungen , die Verhandlungen der Parla-
mente mit dem Geleit ihrer wirtschaftlichen Ausweise zeigen, wie in
dem Geistesleben der Gegenwart technische Arbeit, Zeichen-,
Sprach- und Rechenverkehr zusammen die wirkliche Fort-
bildung des Einzelnen und der Gemeinschaften bestimmen. Bei tech-
— 165 —
nischer Arbeit erlebt der Mensch die Eigenschaften der Stoffe, die Wir-
kungen der Naturkräfte und seiner Tastbewegungen. Durch sichtbare
Zeichen hält er sich die räumlichen Maßverhältnisse gegenwärtig, deutet
durch solche die Ziele seines räumlichen Gestaltens an. In fließender
Kede und schriftlicher Darstellung gibt er seine Beziehungen zwischen
Sachbegriffen und Tätigkeiten kund. Durch den Rechenverkehr regelt
er das wirtschaftliche Walten mit Stoffen und Kräften, mit Besitz und
Arbeit.
Weder Worte noch Zeichen allein fassen den Inhalt der sachlichen
Erinnerungen und die Formen der Einbildungen vollständig. Bei den
Worten fehlen die Anschauungen und aus den Zeichen erkennt man die
Zeitfolge der Vorgänge nicht. Wenn man aber die fließenden Worte im
richtigen Takt mit Zeichen begleitet, stellen diese bestimmte Anschau-
ungen fest. Wenn man die Zeichen mit treffenden Worten erklärt, so
erwecken diese aus den sachlichen Erinnerungen folgerichtige Einbil-
dungen, wie die Zeigebewegung den Blick von Stelle zu Stelle führt.
Das gilt für den formalen Sprach- und Rechen-, wie für den sachlichen
Zeichenunterricht.
Durch zielsicheres Vorzeichnen und Vorsprechen regt
also der sachkundige Lehrer im persönlichen Verkehr mit dem Schüler
die zweckmäßigen Erlebnisse inneren Bildens an, welche aus
sachgemäßen Erinnerungen erwachsen und in zeitgemäßem
Takte fortschreiten. Dann wird der Schüler durch zusammenwir-
kende Zeichen-, Sprech- und ßechenübungen belähigt zur zielbewußten
Teilnahme an den Kulturaufgaben der Zeit.
Literaturbericht.
Schule, Leben und Bildung heißt der Titel eines Vortrages, ^) den Herr
Dr. A. Schräg, Kektor der Mädchenschule St. Gallen, in der Pauluskirche zu Bern
gehalten hat.
„Die Lernschule muß zur Arbeitsschule werden" , hatte Herr Stadtschulrat Dr.
Kerschensteiner aus München am Pestalozzitage in Zürich erklärt. Der Verfasser dieses
Vortrages sagt dagegen: „Die Arbeitsschule muß auch Lernschule bleiben". Denn das
Hauptziel der Schule soll klares Denken und zweckmäßiges Wollen
sein.
Der Satz, daß das Kind Anspruch erheben dürfe auf Berücksichtigung seiner Indi-
1) Bern 1908. A. Franke.
— 166 —
vidualität, scheint dem Vortragenden von hervorragender Bedeutung zunächst für die
ersten Kinderjahre, für die Erziehung im Elternhaus. Wir müssen uns daran gewöhnen
im Kind ein Wesen für sich zu erblicken, nicht unsere Anschauungs- und Denkweise von
ihm zu verlangen. Femer ist die indirekte Einwirkung durch das Beispiel ein vornehm-
ster erzieherischer Faktor. Das schließt aber direkte Einwirkung der Älteren, Erfah-
renen in einem vernünftigen Erziehungssyssteme nicht aus. Educare: ernähren und pflegen,
leiblich und geistig, ist Naturpflicht der Eltern und der Schule. Das Kind hat ein Recht
auf natürliche Entwickelung seiner Geisteskräfte und dazu darf die Nachhülfe anknüpfen
an den Bewegungstrieb.
Schon beim zweijährigen Knirps kann die Mutter den Bewegungstrieb zweckmäßig
betätigen, wenn sie diesen zur Mithülfe bei ihren Hausarbeiten heranzieht.^) So lernt
das Kind die bewegten Dinge mit den festen Stellen in Beziehung bringen. Später gibt
man dem Kinde das Bilderbuch und läßt es die abgebildeten Gegenstände benennen, ohne
immer gleich zu korrigieren. Dann Spiel und Beschäftigung im Freien, mit Schaufel und
Spaten.
Die Lebensgemeinschaft der Schule erschließt dem Kinde schon ein Stück öffent-
liches Leben. Dieses fordert als Gegenleistung für seine vielseitigere Anregung das
Lernen. Aber es gibt auch lehrreiche Spiele , wie die Beschäftigungsspiele Fröbels.
Der Anschauungsunterricht muß durch darstellende Arbeiten unterstützt werden. Die An-
wendung des Arbeitsprinzips soll auf jeglichen Unterricht ausgedehnt werden. Doch
darf man dabei nicht unterlassen die Einzelanschauungen maßgebenden Hauptformen unter-
zuordnen und aus den Reihenfolgen von Verrichtungen allgemein gültige Regeln abzu-
leiten. Die Handfertigkeit soll der Raum- und Naturlehre die sichere Grundlage schaffen.
Aber dabei müssen die räumlichen Maßverhältnisse und physikalischen Gesetze eine prak>
tische Formulierung linden, damit das Auffassungsvermögen gestärkt werde.
Schon bisher hat die Schule die Pflege des Arbeitsprinzipes nicht völlig außeracht
gelassen. Seit Jahren werden in vielen Schulen die Schüler zum Anlegen von Herbarien
ermuntert. Doch hat man vorwiegend Pflanzen getrocknet und aufgezogen, um ihre Namen
zu behalten. Formen sind aber mindestens ebenso bildend wie Namen. Man sammle
deshalb auch nach biologischen Gesichtspunkten: Wurzeln, Stengelformen, Rinden, Holz-
arten, Blatt- und Blütenformen, Fruchtarten, biologische Beobachtungen, alles nach dem
Prinzip der Arbeitsteilung. Eine Ausstellung der gruppenweise von jedem Schüler
zusammengestellten Formen führe allen Schülern das Gesamtergebnis der Klassenarbeit
vor. Vergleichende Besprechungen und Zeichenübungen fassen die Einzelbeobachtungen
zusammen und prägen die Formen dem Gedächtnis ein.
In den obem Mädchenklassen, namentlich in der weiblichen Fortbildungsschule und
in der Töchterschule, einschließlich Lehrerseminar zu St. Gallen findet das Arbeitsprinzip
Berücksichtigung in der Physik, mehr noch in der Chemie mit Laboratorium und in der
praktischen Haushaltungskunde. In der Literar- und Handelsabteilung setzt die
Hauswirtschaft erst mit der 3. Klasse ein. Daneben besteht eine Hauswirtschaftabteilung.
Deutsch und Französisch sind obligatorische Sprachfächer, Englisch ist fakultativ für die
sprachlich gut Veranlagten. Das Rechnen stellt sich ganz in den Dienst der Hauswirt-
schaft. Für weibliche Handarbeit und Hauswirtschaft sind je 6 Wochenstunden angesetzt,
nämlich 2 Stunden Lebensmittellehre neben einem 2—3 stündigen Kurs in Chemie der
Küche und des Haushalts, 4 Stunden Übungen in der Schulküche.
1) Sie kann den Kleinen leichte Dinge (Kleider, Qer&t) von Stelle zu Stelle tragen
heißen, ihm lehren Brosamen mit dem Wischer auf die Schaufel zu sammeln.
— 167 -
Die Eltern wollten diese Abteilung anfänglich als Versorgungsstelle für Schwach-
begabte taxieren und erhoben die Einwendung, die Mädchen seien im 15. Jahre noch zu
jung zum Kochen lernen, sie hätten vorerst für ihre geistige Ausbildung zu sorgen. Da-
gegen wurde erklärt, daß die geistige Ausbildung eben durch diesen Unterricht wirksam
begründet werde. Da die manuelle Fertigkeit mit der wissenschaftlichen Grundlage
— der Chemie — in ein förderndes Wechselverhältnis trete. Auf das kommende Schul-
jahr liegen für die hauswirtschaftliche Abteilung 40 Anmeldungen vor, unter denen sich
eine große Anzahl hervorragend Begabter befindet.
Im weitern stimmen wir mit dem Verfasser überein, wenn er die Schüler durch
Selbsttätigkeit zur Selbständigkeit erziehen will. Nur sei gestattet daran zu erinnern,
daß im geschäftlichen Verkehre, der doch die Mehrzahl der Gebildeten miteinander in
Beziehung bringt, neben dem sprachlichen Austausch der Gedanken auch das technische
Schaffen und die wirtschaftliche Verwaltung einen großen Teil an der Berufstätigkeit und
dem sozialen Leben haben. Daß also neben der Vertiefung in die Werke der Schrift-
steller auch die Einsicht in die Wirkungen der technischen Erfindungen und der wirt-
schaftlichen Vorgänge mehr und mehr zu den unabweislichen Forderungen an das Geistes-
leben der Gebildeten gehören.
F. Graberg, Zürich.
Namen und Zeichen der Naturkunde. G. Niemann und W. Wurthe,
Präparationen für den naturgeschichtlichen Unterricht 1. Teil Mittelstufe. Osterwieck
1907. A. W. Zickfeldt.
Im Anschluß an Rude's Methodik des gesamten Volksschulunterrichts ^) wenden
die Verfasser die in dem verbreiteten Lehrbuche niedergelegten Grundsätze auf den Un-
terricht in der Naturkunde an. Um die häusliche Arbeit des Lehrers zu erleichtem,
stellen sie die Lehre von den Lebensformen, von Pflanzen und Tieren, in Garten und
Feld, Haus und Hof anschaulich dar, indem sie dieselben durch den Wechsel der Jahres-
zeiten verfolgen.
Beobachtungen bilden den Ausgangspunkt einer jeden Lektion, leichte experimentelle
Demonstrationen begleiten die Besprechungen. Die Darstellung will die Naturerschei-
nungen nur begründen, nicht deren Zwecke nachweisen, weil diese Vorgänge aus dem Zu-
sammenwirken vielseitiger Ursachen sich ergeben, nicht Erzeugnisse einheitlichen Willens
sind.
Die Verfasser wünschen, daß die Lehrer über den übersichtlich dargestellten Lehr-
stoff nach den Zeitumständen und der Fassungskraft der Schüler frei verfügen.
Die dem Texte beigegebenen Schemabilder sollen nicht dem Lehrer zur Erklärung
oder Verdeutlichung des Lehrstoffes dienen, wohl aber Beispiele für das naturkundliche
Zeichnen der Schüler sein. Sie sollen in gemeinsamer Arbeit des Lehrers mit den Schülern
an der Tafel entstehen oder von den Schülern selbständig entworfen werden. Sie sind
so ausgewählt, daß sie entweder wichtige morphologische Verhältnisse zum Ausdruck oder
biologische Momente zur Darstellung bringen.
Im Sinn einer engeren Verbindung zwischen sprachlichem Ausdruck und Zeichnen,
wie sie Elssner andeutet und bei den Amerikanern gepflegt wird, wäre aber zu wünschen,
daß schon Darbietungen und dann auch Zusammenfassungen von Zeichenversuchen be-
gleitet würden. Denn die Namen der Gesamtvorstellungen und der Teilvorstellungen,
1) 5. Aufl. Osterwieck/Harz. 1907. Zickfeldt.
— 168 -
der Bestandteile werden durch schematische Umrisse nicht nur ergänzt, sondern auch
deren Bedeutung im Gedächtnis vertieft. Erkennt man doch in Garten, Feld und Wald
die Pflanzen und Tiere zunächst aus ihrer sichtbaren Erscheinung und erinnert sich erst
nachher der Benennungen. Richtige Einsicht in Entwickelang und Pflege verschafft zu
dem das genaue Vergegenwärtigen der wechselnden Zustände ihres Baues.
Auch im naturkundlichen Unterrichte kann der Lehrer die Klasse zur Abwechslung,
statt mit Erzählen und Liedern, mit Zeichnungen erfreuen und seinen Unterricht durch
den Wechsel der Betätigungen beleben. Gleich den Aufsätzen, veranschaulicht die Aus-
führung der Zeichnungen, Erlebnisse des Kindes unter neuen Gesichtspunkten und fördert
dadurch dessen Selbsttätigkeit.
Möge solcher Weise der in vorliegendem Buch gebotene planmäßige Überblick über
den naturkundlichen Lehrstoff in reger Betätigung der Jugend nicht nur deren Kennt-
nisse vermehren, sondern auch deren Fertigkeit in Darstellung und Verwendung ihres
Wissens steigern.
F. Graberg, Zürich.
.A-bhaiidluiigeii.
Die wichtigsten Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen
über das Lesen.
Von Oberlehrer Dr. Jak. Schwender, Biebrich a. Rh.
Einleitung.
In der Geschiclite der experimentellen Untersucliiingen über das
Lesen können wir deutlich drei Perioden unterscheiden. Die erste Pe-
riode reicht von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis ungefähr zum
Jahr 1885. Sie umfaßt die Arbeiten zur physiologischen Optik und die
Untersuchungen der Ophthalmologen, in denen gelegentlich einzelne
Seiten des Leseproblems gestreift werden.
Eingehendere und mehr spezielle Untersuchungen über die Be-
dingungen des Erkennens der Schriftzeichen hat zuerst Cattel angestellt.
Fast gleichzeitig mit ihm hat Grashey seine Ergebnisse, zu denen er
auf ganz anderem Wege gekommen ist, veröffentlicht. Neben und nach
den beiden Forschern haben Männer wie Pillsbury, Wernicke, Gold-
scheider und Müller weitere Untersuchungen angestellt, ohne in den
wichtigsten Fragen der psychophysiologischen Vorgänge des Lesens be-
friedigende Resultate zu erzielen.
Einen neuen Fortschritt bedeuten die „Psychologischen Unter-
suchungen über das Lesen", die Erdmann und Dodge 1898 veröffentlichten.
Die Resultate dieser Autoren blieben nicht unbestritten. Sie gaben
Veranlassung zu vielfachen psychologischen Erörterungen und Unter-
suchungen, die zum Teil die Erdmann-Dodgeschen Ergebnisse bestätigten,
zum Teil andere Resultate zeitigten.
In der nachfolgenden Abhandlung sollen nur die beiden letzten Pe-
rioden, also die Zeit von 1885—1907, berücksichtigt werden. Von dem
erstem Zeitabschnitte glaubten wir absehen zu dürfen, da die Ergebnisse
Meumann, Exper. Pädagogik. X. Band. 12
— 170 —
bereits von Erdmann-Dodge gewürdigt sind, zum andern aber auch, weil
die Resultate, soweit sich dieselben als richtig erwiesen haben, in spätere
Werke übergegangen sind. Aber auch von den beiden letzten Zeit-
abschnitten konnten nur die wichtigsten Veröffentlichungen herangezogen
werden. Einige Werke wie Judd, McAlister und Steale, Introduction
to a Series of Studies of Eye Movements, Yale Psych. Studies 1905/6,
waren dem Verfasser erst nach Abschluß dieser Arbeit erreichbar und
konnten nur nachträglich berücksichtigt werden.
Den verschiedenen Untersuchungen entsprechend können wir unsere
Darstellung in zwei große Abschnitte gliedern.
I. Zunächst haben wir von der optischen Seite des Leseaktes, den
physiologischen Untersuchungen über die Augenbewegungen zu sprechen.
II. In einem zweiten Abschnitt sollen sodann die psychologischen
Vorgänge genauer gewürdigt werden. Die Untersuchungen hierüber
lassen drei Methoden erkennen.
a) Die erste Methode studiert den Leseprozeß, wie er sich darstellt,
wenn Buchstabenreihen und Wörter für kleine, aber fest bestimmte
Augenblicke sichtbar sind.
b) Die zweite knüpft an die physiologischen Untersuchungen an
und schließt von den Augenbewegungen auf den inneren Vorgang.
c) Die dritte endlich geht von Zeitmessungen aus und sucht durch
mannigfache Variierung der Versuche genauere Kenntnisse über die
inneren Vorgänge zu ermitteln.
Wir wollen in Abschnitt II die Untersuchungen nach den drei Me-
thoden ordnen und am Schlüsse eine kurze Zusammenfassung über das
Lesen des Bandes geben, so daß wir folgende Punkte zu besprechen
haben :
A. Die tachistoskopische Methode.
B. Die physiologische Methode.
C. Die Methoden, welche von Zeitmessungen ausgehen.
D. Das Lesen des Kindes.
Ein III. Abschnitt, der die pathologischen Untersuchungen des
Lesens darstellen sollte, blieb unausgeführt, um den Umfang der Arbeit
nicht noch mehr zu erweitern.
171 —
I. Abschnitt.
Die physiologischen Untersuchungen über die Augen-
bewegungen.
" (Optischer Teil des Leseaktes).
1. Kapitel.
Allgemeines (Methode und Apparate.)
Die Angenbewegungen beim Lesen lassen sich subjektiv nicht er-
kennen. Darum war man lange über die Art dieser Bewegungen nicht
unterrichtet. Die frühesten für uns wichtigen objektiven Beobachtungen
rühren von Javal und Lamare^). Sie scheinen die ersten gewesen zu
sein, welche erkannt haben, daß das Auge beim Lesen keine kontinuier-
lichen Bewegungen ausführt, sondern sich ruckweise über die Zeile fort-
bewegt. Mit Hilfe einer kleinen Kontakt- Vorrichtung, welche sie am
obem Augenlide befestigten und mit einem Mikrophon in Verbindung
stellten, machten sie die Bewegung des Auges für das Ohr wahrnehm-
bar. Jedesmal, wenn der Augapfel sich bewegte, vernahmen sie einen
leisen Ton, der um so länger andauerte, je ausgedehnter die Bewegung war.
Späterhin haben Landolt, Erdmann, Dodge, Huey und Dearborn in
der Hauptsache nach drei Methoden die Augenbewegungen studiert.
1. Nach der direkten Methode verfuhren Landolt^) und Erd-
mann-Dodge^). Sie beobachteten das Auge der lesenden Versuchsperson
und zählten die ausgeführten Bewegungen. Landolt kam dabei zu dem
Ergebnis, daß bei einer Leseentfernung von 30 cm im Durchschnitt ca.
1^2 Wort pro Fixation gelesen werden kann. Erdmann und Dodge be-
trachteten das Auge des Lesenden im Spiegel. Auf die Ergebnisse
ihrer Untersuchungen werden wir im Verlauf unserer Darstellung zu-
rückkommen.
1) Verschiedene Artikel in der Rev. Scientifique 1879/1881 und: Javal, Die Phy-
siologie des Lesens und Schreibens. Deutsch von F. Haas, Leipzig, Engelmann 1907.
Vergl. E. B. Huey, On the Psychology and Physiology of Reading I. Americ. Journal
of Psychology 11 1889/1890, ferner von dems. Verf. The psychology and pedagogy of
reading, New York, Macmillan 1908.
2) Landolt, Nouvelles recherches sur la physiologie des mouvements des yeux.
Archives d'Opthalmologie XI, 1891, S. 385 ff.
3) B. Erdmann und R. Dodge, Psychologische Untersuchungen über das Lesen.
Halle 1898.
12*
Die direkte Methode ist unzulänglich. Sie gestattet keinerlei
Messungen über die Ausdehnung der Bewegungen und die Schnelligkeit,
mit der sie sich vollziehen. Zur Messung der Zeitgrößen bedienten sich
Erdmann und Dodge einer Methode, die schon Lamanski *) bei seinen Unter-
suchungen benützt hat^). Nach derselben fanden sie, daß das Auge
einen Winkel von 3—5° in 0,015" durchläuft, während es zu einem
Winkel von 10° = 0,02" braucht. Um allen Fehlem vorzubeugen, haben
nun Erdmann und Dodge für jede Bewegung nach rechts und ebenso für die
längere Bewegung nach links eine durchschnittliche Zeitdauer von 0,02"
angenonmien. Mit Hilfe dieser Zahl und der gefundenen Anzahl der
Fixationspunkte ließ sich die Gesamtdauer der Augenbewegungen pro
Zeile durch eine einfache Multiplikation [(Anzahl der Fixationen — 1).0,02]
berechnen. Subtrahiert man die so gefundene Größe von der Zeit, die
zum Lesen einer Zeile nötig ist, so bleibt als restierender Betrag die
Gesamtzeit für die auf eine Zeile fallenden Ruhepausen*).
2. Der Amerikaner Huey*) untersuchte die Augenbewegungen nach
der sogenannten ßegistriermethode. Er befestigte auf der Horn-
haut des linken Auges eine in der Mitte durchbohrte, leichte Kappe
1) Lamanski, Über die Winkelgeschwindigkeit der Blickbewegungen. Pflügers Archiv
1869 IL S. 418 fr.
2) Die Methode geht von folgender Erwägung aus : „Wenn das Auge während einer
Bewegung der Reizung eines intermittierenden Lichtes ausgesetzt wird, so wird die Zahl
der hierbei gesehenen Nachbilder von der Zeit abhängen, in der die einzelnen Lichtreize
nacheinander folgen, sowie von der Geschwindigkeit, mit der das Auge seinen Weg zu-
rücklegt." (Erdmann-Dodge, a. a. 0., S. 349). Eine gleichmäßig rotierende Scheibe trug
am Ende eine Anzahl gleichgroßer und gleich entfernter Einschnitte. Bei der Bewegung
dieser Scheibe wurde ein hinter ihr aufgestelltes Licht abwechselnd verdeckt und ex-
poniert Fixierte die Versuchsperson den Mittelpunkt der Scheibe, so erschienen die
aufeinander folgenden „Expositionsblitze" als Lichtpunkte. Bewegte sie aber ihr Auge,
80 fielen die sukzessiven Expositionen auf verschiedene Stellen der Netzhaut und wurden
demgemäß als eine Reihe von Punkten gesehen. Die Zeitintervalle zwischen den aufein-
ander folgenden Expositionen konnten aus der Zahl der Umdrehungen und der Anzahl
der Einschnitte berechnet werden und geben mit der Anzahl der gesehenen Nachbilder
ein Mittel die Geschwindigkeit der Bewegung zu bestimmen.
3) W. Wundt (Philosophische Studien XVI S. 65) hält die Berechnungen der Ver-
fasser über die Dauer der Fixationspausen für völlig illusorisch, weil
einmal die von Lamanski angewandte subjektive Methode zur Messung der Ge-
schwindigkeit der Augenbewegungen ziemlich unsicher sei, und
cum andern, weil es nicht möglich sei, aus der Geschwindigkeit, mit der eine
Strecke in kontinuierlicher Bewegung durchlaufen werde, auf die Geschwindigkeits-
verh<nisse einer durch mehrere Pausen unterbrochenen Bewegung und aaf die Dauer
dieser Ruhepausen zu schließen.
4) E. B. Huey, Americ. Joum. S. 286—302.
173 —
und verband dieselbe mit Hilfe eines feinen Aluminiumfadens mit einer
Schreibvorrichtung, die auf der berußten Trommel eines Kymographen
jede Bewegung des Auges verzeichnete. Auf der entgegengesetzten
Trommelseite vermerkte eine Viertelsekundenuhr die verstrichene Zeit.
Um auch für die kurzen Bewegungen genaue Zeitangaben zu erlangen,
stellte fluey den Äluminiumdraht des Registrierapparates mit den Polen
eines Induktionsapparates in Verbindung und leitete den anderen Pol
zur Trommel hin. In Zeitintervallen von -~" sprangen Funken vom
Aluminiumzeiger zur Trommel über und hinterließen auf dem berußten
Papier helle Punkte, die sich zu hellen Elecken erweiterten, wenn das
Auge ruhig stand. Die nachfolgende Figur stellt in schematischer Form
eine solche Aufzeichnuno; dar.
Fixationspausen.
Fig. 1.
Die dunkeln Flecken bedeuten Ruhepausen, während die kleinen
Punkte die durch die überspringenden Funken geschaffenen hellen Stellen
bezeichnen sollen. Die drei ersten Linien geben die Länge der Zeilen
an. Es mag noch vermerkt werden, daß der Kopf während des Ver-
suches ruhig blieb und die Augenlider getrennt gehalten wurden.
Hueys Messungen bedeuteten ohne Zweifel einen Fortschritt. Indes
auch sie sind nicht vollkommen einwandfrei ^). Die Bewegung des langen
Zeigers an dem Hebelwerk verlangte unstreitig eine gewisse Muskel-
anstrengung, die sicherlich nicht ohne Einfluß auf die Geschwindigkeiten,
der Bewegungen geblieben ist.
3. Die dritte Methode suchte diesem Fehler zu begegnen. Sie
benutzte als registrierendes Mittel einen vom Auge reflektierten Licht-
strahl. Von einer elektrischen Bogenlampe fiel ein Lichtbündel unter
einem Winkel von 30^ auf die Hornhaut des Auges. Er wurde hier
unter gleichem Winkel reflektiert und traf auf eine photographisch
wirksame Platte, die sich in einer Dunkelkammer in senkrechter Richtung
1) R. Dodge, The Angle Velocity of Eye Movements. The Psych. Review 8. 1901,
S. 147.
L
— 174 —
nach unten bewegte. Vor der Versuchsperson befand sich in der üb-
lichen Leseentfernung und genau in der Mitte zwischen dem auffallenden
und dem reflektierten Strahlenbündel eine zur Aufnahme des Leseobjekts
geeignete Vorrichtung. Stand das Auge der Versuchsperson still, war
es also unverwandt auf einen Punkt des Leseobjekts gerichtet, so er-
zeugte der gleichbleibende, ruhende Strahl auf der abwärts ziehenden
Platte eine vollkommen oder nahezu vollkommen gerade, senkrechte
Linie. Bewegte sich aber das Auge nach rechts oder links, so ent-
standen auf der Platte seitlich gerichtete Linien, die den senkrechten
Zug unterbrachen und ihn nach rechts und links verschoben. Die bei-
gefügte Zeichnung, die von unten nach oben zu lesen ist, ist einer
solchen photographischen Darstellung entnommen.
1) Rückläufige Bewegung
2) Schiebebewegung.
Fig. 2.
Auf derselben stellen die senkrechten Linien die Ruhepausen dar,
während die kleineren Striche nach rechts und die größeren nach links
die entsprechenden Augenbewegungen vermerken. Die Zeiten für die
Bewegungen und Pausen wurden mit Hilfe eines „spring pendulums"
und einer schwingenden Stimmgabel gemessen.
Einige Schwierigkeit verursachte die Behandlung und Deutung der
— 175 -
photographischen Aufnahmen, aber dafür gestatteten sie auch die Grröße
und Dauer der Augenbewegungen und die Dauer und Lagen der Fixations-
pausen für die gelesenen Texte aufs genaueste zu bestimmen.
Aus den verschiedenen Versuchen ging einhellig hervor , daß das
Auge sich beim Lesen nicht kontinuierlich durch die Reihe fortbewegt,
sondern in kleinen Absätzen, ruckweise also, die Linie durchzieht. Auf
schnelle Bewegungen folgen Momente, in denen das Auge verhältnismäßig
ruhig steht und die man deswegen auch Ruhepausen oder Fixations-
pausen bezeichnet hat. In diesen Pausen vollzieht sich das Lesen. Dabei
umspannt das Auge Teile der Linie, die links und rechts von dem fixierten
Punkte liegen. Man hat dieses Gebiet allgemein als Lesefeld bezeichnet.
Im nachfolgenden werden wir die einzelnen Punkte nacheinander zu
würdigen haben, wir werden also zunächst von den Augenbewegungen,
dann von den Ruhepausen und zuletzt von dem Lesefeld reden.
2. Kapitel.
Angenbewegungen beim Lesen.
Die mannigfachen Bewegungen, die das Auge beim Lesen ausführt,
lassen sich, wenn wir von minimalen Schwankungen der Blicklinie ab-
sehen, in drei große Gruppen bringen.
1. Die erste und zugleich wichtigste Gruppe bilden die sogenannten
Interfixationsbewegungen. Sie leiten die Blicklinie von einer
Fixation zur andern und werden sowohl von links nach rechts als um-
gekehrt von rechts nach links vollzogen. Die nach rechts gerichteten
Bewegungen sind kurz. Sie beginnen bei dem ersten Fixationspunkt,
wiederholen sich mehrfach im Innern der Zeile und endigen schließlich
mit der letzten Ruhepause. Die nach links gerichteten Bewegungen
ziehen von der Endfixation der einen zur Anfangsfixation der nächsten
Zeile hin. Die nachfolgende Figar stellt den ganzen Vorgang sche-
Fig. 3.
matisch dar. Sie zeigt zugleich, daß die Bewegung nur den innern Teil
der Zeile umspannt. Huey ^) hat die so durchlaufene Strecke auf 82 ^lo
1) a. a. 0., S. 290.
— 176
der ganzen Zeile berechnet; auch Dearborn') hat bei einer Zeilenlänge
von 56,8 nun ein ähnliches Ergebnis, 80,3 %, erhalten.
Die Größe des durchlaufenen ßogens ist selbst bei gleichgerichteten
Bewegungen durchaus verschieden. Zuweilen kommt es vor, daß eine
Vorwärtsbewegung nur 2—3 Buchstaben umfaßt, während sie ein ander-
mal über mehrere Wörter sich ausdehnt *). Für die nach links gerich-
teten Bewegungen übrigens scheint es, als ob sich leichter eine gewisse
Gleichheit herauszubilden vermöchte.
Die Zeitdauer dieser Bewegungen wurde von verschiedenen Forschem
bestimmt. Wir haben die gefundenen Resultate in Tabelle I zusammen-
gestellt.
Tabelle 1.
Augenbewegung nach rechts
Augenbewegung nach links
Verfasser
Aus-
dehnung in
Bogenmaß
Zeitdauer
in jM'
Mittlere
Variation
in iihz"
Ausdeh-
nung in
Bogenmaß
Zeitdauer
in iM'
(= 0)
Mittlere
Variation
in Wzz"
Erdmann-Dodge . .
3,50—4,60
20
--
—
50-60
—
Huey
3046'
43,9
2,7
120 12'
57,9
—
Dodge-Cline») . .
20-70
22,9
4,61
120—140
40,7
2,8
Dearborn ....
—
—
9,80
39
—
Sie zeigt zunächst den großen Unterschied, der zwischen den Angaben
Hueys und denjenigen Erdmann - Dodges und Dodge-Clines andrerseits
besteht. Hneys Zeitbestimmung ist offenbar unzutreffend. Oben haben wir
schon erwähnt, daß die ungewohnten Leseumstände, die Bewegung des
mit den Augen verbundenen Hebelwerkes, eine Verzögerung der Zeiten
herbeigeführt haben dürfte. Richtiger sind vielleicht die auf Grund
sorgfältiger Untersuchungen gewonnenen Resultate Dodge-Clines, der
für die rechtsseitigen Bewegungen eine durchschnittliche Dauer von
22,9 6f für die nach links gerichteten von 40,7 6 fand. Seine Angaben
stimmen im ersten Teil mit den Resultaten Erdmann-Dodges, im zweiten
Teil aber nahezu mit dem von Dearborn gefundenen "Werte (39 6 für
9,8«) überein.
1) W. F. Dearborn, The Psychology of Reading. Archives of Philosopby, Psycbo-
logy and Scientific Methods. New York 1906.
2) Vergl. Dearborn, a. a. 0., S. 78 Zeüe 5 ; S. 79 Zeüe 12 ; S. 81 ZeUe 6 etc., femer
Huey, a. a. 0., I, S. 290.
3) R. Dodgc and Tb. Cline, The Angle Velocity of Eye Movements. Tbe Psycb.
Review 8, 1901, S. 146 flf.
— 177 —
Die Dauer bleibt für die verschiedenen gleichgerichteten Bogen
nahezu gleich , was um so mehr auffallen muß , als die Bogen selbst in
so verschiedener Grröße erscheinen. Huey^) berichtet, daß bei einer ge-
lesenen Stelle, in der der kürzeste zum breitesten Interfixationsbogen
sich wie 7,5 zu 26 verhielt, die Zeiten nur im Verhältnis wie 6 zu 7
schwankten. Im allgemeinen dürfte die mittlere Schwankung kaum
mehr als 5 — 6 ^/o betragen. Damit hängt vielleicht zusammen, daß die
Versuchspersonen auch bei schnellem Lesen kaum imstande sind, die
Zeit für die Bewegung zu verkürzen. Die Zeitdauer der Bewegung,
22,9 6, ist so kurz , daß eine deutliche Wahrnehmung während der Be-
wegung unmöglich ist. Eine Wahrnehmung aber findet immerhin statt.
Die Untersuchungen Dodges ^) haben gezeigt , daß das Auge , wenn es
sich über das Gesichtsfeld hinbewegt, verschwommene, neutrale Eindrücke
der gesehenen Objekte bekommen kann. Eine auf weißem Felde expo-
nierte Druckzeile erscheint dem vorüberziehenden Auge als eine Reihe
nicht unterscheidbarer grauer Striche , die bei hinreichender Schnellig-
keit dieser Willkürbewegung in einen grauen Streifen zusammenfließen.
Beim normalen Lesen können wir nun allerdings niemals eine ähnliche
Erscheinung beobachten, niemals erscheinen uns Buchstaben verschwommen.
Die Ursache dürfte vielleicht darin zu suchen sein, daß wir beim Lesen
unsere Aufmerksamkeit niemals einer ähnlichen Erscheinung zuwenden,
zum andern aber scheint die starke INTachwirkung des Reizes der voraus-
gegangenen Lesepause und die Interfererenz mit den intensiven Reizen
der nachfolgenden Fixation die an und für sich schwachen Reize wäh-
rend der Bewegung des Auges vollkommen zu unterdrücken^).
Es erübrigt uns noch zu zeigen, wem das Auge bei dieser raschen
Bewegung die richtige Führung verdankt. Nach Javal bewegt sich die
Blicklinie in der oberen Hälfte der mittelzeiligen Buchstaben ^). Ob die
Behauptung den wirklichen Verhältnissen entspricht, ist unseres Wissens
nicht weiter nachgeprüft worden. Aber sollten selbst kleine Schwan-
kungen nach oben und unten stattfinden, so muß es immerhin auffallen,
daß es dem Auge verhältnismäßig leicht fällt, eine genaue Richtung zu
wahren. Nach Meumann^) ist diese Sicherheit im indirekten Sehen ^)
1) Huey, Americ. Journ. I, S. 292. The forward movement of the eye in reading are
found to occupy a tolerably constant time, almost irrespective of the arc traversed.
2) B,. Dodge, Visual Perception during Eye Movemement. The Psych. Review 7, 1900,
S. 454 ff.
3) R. Dodge, Visual Perception etc., a. a. 0., S. 465.
4) E. Javal-F. Haas, a. a. 0., S. 214.
5) E. Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik. 1907,
S. 240. Bd. IL
6) „Man versteht unter indirekten Sehen alles dasjenige Sehen, bei welchem die
— 178 —
begründet, wenigstens hat er gefanden, daß Personen, bei denen durch
eine geeignete Brillenvorrichtang das indirekte Sehen vollkommen aus-
geschaltet war, nur unbeholfen gelesen und fortwährend die Zeilen ver-
loren haben.
2. Die zweite G-rappe von Bewegungen bilden die kleinen rückläu-
figen Bewegungen^). Sie erfolgen stets von rechts nach links und
treten ein, wenn das Auge einen ungünstigen Fixationspunkt gewählt hat,
von dem aus nicht alle Objekte des Lesefeldes deutlich erkannt werden
können. Besonders häufig erscheinen sie nach den langen Rückwärtsbe-
wegungen von einer Zeile zur andern, also am Anfang der Linie. Das Auge
unterschätzt die weite Entfernung, macht den Bogen zu klein und ist nach
kurzer Rast gezwungen aufs neue „randwärts" zu wandern. Diese kleinen
Bewegungen erfolgen in der Richtung der ersten, ergänzen und ver-
längern dieselben^). Im Innern der Zeile wird umgekehrt die Entfer-
nung manchmal überschätzt. Jetzt wird der Bogen zu groß und das
Auge muß eine kleine, der ursprünglichen Richtung entgegengesetzte
Bewegung vollführen.
Auch hier wollen wir wieder in einer Figur die wirklichen Verhält-
nisse darlegen. Die Beispiele sind den Dearbomschen Tabellen ent-
nommen und geben genau die Größe der Zeilen und die Lage der Punkte
wieder.
Dearboni, S. 76, Z. 8 l-'-X^"^^^ X- X----|
2 1 3 i
ff
\. 78, Z. 14. I-* X X X^^^ X--I
1 2 3 Sie
S. 76IB, Z. 2 xx^ x-.-X*^^--—^^ X )f-
12 SS St 6 7
Fig. 4.
Die mit Zahlen bezeichneten Stellen geben die neuen Fixationen an,
während die Pfeile die Richtung der Rückwärtsbewegung andeuten. Wir
sehen, daß diese letzteren oft größer als die nach rechts gerichteten Inter-
Eindrücke nicht genau im Zentrum der Netzhaut, auf der sog. Zentralgrube, sondern aaf
den seitlichen Partien abgebildet werden**. Meumann, a. a. 0., S. 240.
1) Bearbeitet nach Dearborn, a. a. 0., S. 30 ff. Wir wollen unter „rOckl&ofigen Be-
wegungen** die kleinen Korrekturbewegungen, unter „Rückwärtsbewegangen" aber die
großen Bewegungen von einer Zeile zur anderen verstehen.
2) Dearborn, a. a. 0., hat die ergänzenden Bewegungen am Anfang der Zeile Supple-
mentärbewegungen (supplementary movements) und die riickläufigen Bewegungen im Innern
der Reihe Regressivbewegungen (regressive movements) benannt.
- 179 —
fixationsbewegnngen sein können. Vielleicht könnte man aus diesem
Grrunde auch von „nach links gerichteten Interfixationsbewegungen"
sprechen. Die kleinen rückläufigen Bewegungen sind keineswegs gleich-
mäßig über das Lesegebiet verteilt. Sie erscheinen, wie wir bereits
erwähnt haben, sehr häufig am Anfang der Linie. Und in verschiedenen
Leseabschnitten sind es immer wieder die ersten, zuweilen auch noch
die zweiten Zeilen, welchen prozentual die meisten rückläufigen Bewe-
gungen zukommen.
Von großem Einfluß auf die Anzahl dieser Bewegungen ist die Länge
der Zeilen. Längere Zeilen haben im Verhältnis mehr rückläufige Be-
wegungen als kurze. Dearborn hat bei einem gelesenen Abschnitte, der
aus Zeilen von 107 mm Länge bestand , gefunden , daß im Durchschnitt
58 ^/o aller Linien rückläufige Bewegungen zeigten, während für die-
selben Personen in einem Abschnitte von 56,5 mm langen Zeilen nur ca.
16 % der Linien rückläufige Bewegungen vermerkten. Da nun diese
rückläufigen Bewegungen die Exaktheit der Vorwärtsbewegung beein-
trächtigen und einen verzögernden Einfluß auf die Schnelligkeit der
Wahrnehmung ausüben, so darf man wohl annehmen, daß kürzere Linien
leichter und schneller zu lesen sind als längere.
Auch individuelle Unterschiede machen sich in bezug auf die rück-
läufigen Bewegungen geltend. Doch kommen sie mehr bei den längeren
als bei den kürzeren Zeilen zum Ausdruck.
Um die Ursache dieser eigenartigen Erscheinungen zu finden, hat
Dearborn (34 und 35) in einem Versuch den Lesestoff* so geordnet, daß
die einzelnen Zeilen in verschiedener Länge erschienen und mehr oder
weniger über den Leserand vorstießen. Er wollte dabei die Rückwärts-
bewegung ^) des Auges in verschiedener Weise variieren.
Aus diesem Versuche ging hervor, daß die ungünstige Wahl der
Fixation und damit die rückläufige^) Bewegung in erster Linie ihr
Entstehen der undeutlichen Wahrnehmung zu verdanken haben. Während
das Auge an einem Punkte weilt, nimmt es zugleich den Rest der Zeile
wahr. Und diese Wahrnehmung wird um so undeutlicher, die lokale
Unterscheidung um so schwerer und demgemäß die Abschätzung der
Entfernung um so unsicherer, je weiter eine Stelle vom Eixationspunkt
entfernt liegt. Das ist nun aber besonders für den Anfang der Zeile
der Fall, wenn das Auge auf dem letzten Eixationspunkt der vorher-
gehenden Zeile weilt. Darum zeigen gerade die Anfänge der Linien die
meisten rückläufigen Bewegungen, darum auch begegnen uns diese in
langzeiligen Texten öfter als in Texten mit kurzen Linien. Im Innern
1) Siehe die Anmerkung 1, S. 178..
^ 180 —
der Zeile beschreibt das Auge nur kleine Bogen. Darum wird die neu
zu fixierende Stelle deutlicher gesehen und falsche Entfernungsschätzungen,
ungünstige Fixationswahlen, kommen seltener vor.
Ein anderer Faktor, der gleichfalls eine bedeutende Rolle spielt,
liegt in der Tendenz eine ein- oder zweimal ausgeführte Bewegung auch
für die Folge in derselben Ausdehnung beizubehalten. Nach großen
weiten Bewegungen wollen ebenso große, nach kurzen Bewegungen
ebenso kurze folgen. So bilden sich für das Auge Bewegungsgewohn-
heiten, die zuweilen zu falschen Fixationen und damit zu rückläufigen
Bewegungen führen. Vielleicht ist ein Teil der rückläufigen Bewegungen
im Innern der Zeile diesen Bewegungsimpulsen zuzuschreiben.
Die große Anzahl der rückläufigen Bewegungen am Anfang eines
Textes zeigt, daß die Abschätzung der linearen Entfernung noch un-
sicher ist und daß die motorischen Impulse dem neuen Texte noch nicht
angepaßt sind.
Wir haben oben gehört, daß die kürzeren Zeilen leichter zu lesen
sind als die langen ^) ; unter Bezugnahme auf das soeben Gesagte können
wir anfügen, daß diejenige Textanordnung die beste ist, bei der die
Zeilenlänge durch die ganze Stelle hindurch gleichbleibt. Nur so stellt
sich eine gewisse Gleichmäßigkeit der Bewegung ein, die namentlich
beim Übergang von einer Zeile zur andern eine sichere Fixation er-
leichtert.
3. Eine dritte Gruppe von Bewegungen sind die sogenannten
Schiebebewegungen (shifting movements). Es sind dies äußerst lang-
sam verlaufende Änderungen in der Lage des Fixationspunktes. Nehmen
wir an , unser Auge schließe eine Interfixationsbewegung bei 2 (Fig. 5).
1 M 1
fr^ 1 h^
Fig. 5.
Nach unseren bisherigen Erörterungen sollten wir erwarten, daß für
die Dauer der Fixation der Blick auf diesem Punkte weilt Das ist
auch meistens der Fall. Zuweilen aber kommt es vor, daß die Blick-
linie in dieser Zeit eine langsame Bewegung nach rechts Zeile 1 [ )) oder
nach links (Zeile 2 ( ]) vollführt, um dann aufs neue wieder in eine rasche
Interfixationsbewegung überzugehen. Die Geschwindigkeit dieser Schiebe-
1) S. 179, Abschn. 2.
— 181 —
bewegung ist so klein, daß eine deutliche Wahrnehmung möglich ist.
Dearborn hat darum die „shifting movements" den Fixationspausen zu-
gezählt , obwohl sie bisweilen einen Umfang von 1 — 2 Interfixations-
bewegungen annehmen.
Auffallend ist dabei der große Unterschied, der sich hinsichtlich
dieser Bewegungen bei den verschiedenen Personen geltend macht. Es
gibt wohl keinen Leser, bei dem sie gänzlich fehlen; aber während sie
bei dem einen mir selten und dann mir in geringem Umfange sich zeigen,
sind sie bei anderen eine ausgedehnte Erscheinung. Im engsten Zu-
sammenhang damit lassen sich noch andere Unterschiede in den Augen-
bewegungen erkennen, sodaß es angängig erscheinen dürfte, bei den
Lesern nach der Art der Augenbewegungen beim Lesen zwei Typen
zu unterscheiden, zwischen denen sich allerdings eine Reihe von Über-
gängen finden.
Bei Typus I sind die Augenbewegungen schnell und präzis. Während
der Fixation kommt das Auge auch wirklich zur Ruhe, so daß zwischen
jedem Haltepunkt eine scharfe Bewegung deutlich erkennbar ist. Direkt
umgekehrte Erscheinungen zeigt Typus IL Seine Augenbewegungen
sind weniger exakt. In den Fixationen bleibt das Auge nicht immer
still auf einen Punkt geheftet, sondern bewegt sich langsam nach rechts
oder langsam nach links (shifting movements). Es ist bei diesem Typus
darum oft schwer zu erkennen, wo die eine Interfixationsbewegung auf-
hört und die andere anfängt.
3. Kapitel.
Die Fixationspausen.
Die Augenbewegungen werden unterbrochen durch die Fixations-
pausen, durch Momente also, in denen das Auge fest auf einen Punkt,
den sogen. Fixationspunkt , gerichtet ist. Vollkommen ruhig allerdings
bleibt es auch dann nicht. Dodge^) hat gezeigt, daß das ruhende,
scheinbar auf einen Punkt geheftete Auge mannigfache, unbewußte, un-
regelmäßige Bewegungen ausführt. Diese aber dürfen durchaus nicht
mit den oben erwähnten rückläufigen Bewegungen und den Schiebebewe-
gungen des Blickpunktes verwechselt werden. Sie sind sehr klein, werden
rasch vollzogen und scheinen mit der Ermüdung des Auges zu wachsen *).
Zum Teil sind diese kleinen Unregelmäßigkeiten in körperlichen Zuständen
1) R. Dodge, An Experimental Study of Visual Fixation. The Psych. Review. Mono-
graph. Suppl. No. 35. 1907.
2) Vergl. Kapitel 9.
— 182 -~
begründet. Pnlsschläge und Atemstöße veranlassen leichte Bewegungen
des Kopfes, die eine passive Verschiebung der Augen herbeiführen. Nun
werden allerdings diese schwachen Erschütterungen durch geeignete,
nach entgegengesetzter Seite gerichtete Augenbewegungen zum Teil
kompensiert. Ganz beseitigt aber werden sie nie.
Eine weitere Ursache solch unwillkürlicher Aagenbewegungen dürfte
in der Ermüdung der Netzhautelemente zu suchen sein. Bei starrer
Fixation fällt ein Lichtpunkt ständig auf ein und dasselbe Netzhaut-
element. Die Ermüdung desselben aber muß eine Abschwächung des
Eindruckes bis zum Verschwinden zur Folge haben. Es wäre darum
nicht unmöglich, daß, um die Klarheit der Wahrnehmung zu wahren,
der Reiz von dem ermüdeten Netzhautelement zum benachbarten nicht
ermüdeten überspränge und so eine leichte Augenbewegung hervorriefe ^).
Kann sonach auch von einer absoluten Euhe der Augen nicht die
Rede sein, so kann man immerhin die Momente, in denen die Blicklinie
nur diese kleinen Schwankungen ausführt, als Momente der Ruhe, als
Ruhe- oder Fixationspausen jenen großen nach rechts und links gerich-
teten Bewegungen, von denen im vorigen Kapitel die Rede war, gegen-
überstellen.
1. Die Zahl der Fixationspausen pro Zeile ist durchaus ver-
schieden. Im allgemeinen können wir sagen, daß auf eine Zeile gewöhn-
licher Länge eines leichtverständlichen Textes 3—5 Ruhepausen treffen;
aber auch 7, 8, ja sogar 9 Haltepunkte sind bisweilen beobachtet worden.
Die untere Grenze liegt naturgemäß bei eins. Die Anzahl wechselt mit
der Leseübung. Das Kind macht im allgemeinen mehr Haltepunkte pro
Zeile als der Erwachsene, der ungeübte Leser mehr als der geübte.
Beide, das Kind und der Ungeübte, haften mehr an der optischen Form
der Buchstaben und können darum, wie später klar werden wird*), nur
kleine Gebiete auf einmal bewältigen.
Zum andern ist die Anzahl der Ruhepausen abhängig vom Lesestoff*.
Je schwieriger die zu lesende Materie ist, um so mehr Fixationen ent-
fallen auf die Zeile. Und umgekehrt läßt die größere Vertrautheit mit
der Lesematerie ein deutliches Abnehmen der Zahl der Ruhepausen er-
kennen. Damit hängt aufs engste zusammen, daß bei fremdsprachlichen
Texten mehr Fixationen auftreten, als wenn muttersprachliche Abschnitte
gelesen werden.
TjT)engröße und Leseentfemung scheinen keinen großen Einfloß auf
die Anzahl der Lesepausen auszuüben ^). Dagegen macht sich eine ganz
1) R. Dodge. Visual Fixation etc., a. a. 0., S. 10.
2) Vgl. den übernächsten Abschnitt des gleichen Kapitels.
8) Vgl. E. Javal-F. Haas, a. a. 0., S. 185—143.
— 183 -
bedeutende Zunahme geltend, wenn die Aufmerksamkeit des Lesenden
niclit auf den Inhalt des Gelesenen, sondern auf den Bestand der Schrift-
zeichen gerichtet ist, wie dies beim Korrekturlesen, beim Entziffern von
Urkunden etc. der Fall ist. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über
die Zahl der Fixationspunkte wollen wir an der Hand der Dearbomschen
Abhandlung die Verteilung der Ruhepausen auf die einzelnen Linien
und die Bedingungen ihrer wechselnden Zahl genauer verfolgen. Wir
geben zunächst (S. 16) eine Tabelle, welche die Anzahl der Ruhepausen
für die aufeinanderfolgenden Zeilen eines leichtverständlichen Textes
darstellt.
Die Angaben in dieser Tabelle beziehen sich auf vier Personen, von
denen H und T schnelle, S und M aber langsame Leser sind. Fürs
erste läßt sich ersehen, daß die schnellen Leser für eine Zeile weniger
Fixationen benötigen als die langsamen. Die durchschnittliche Zahl der
Haltestellen beträgt für sie, wenn wir die 2. Lesung in Betracht ziehen,
nur 3,9 bez. 3,7, während sie bei den langsamen Lesern auf 5,5—6 bez.
6,1 für eine Zeile ansteigt. Aber auch ein anderer Unterschied macht
sich zwischen diesen beiden Gruppen von Lesern geltend. H und ebenso
auch T lesen die einzelnen Zeilen fast mit der gleichen Pausenzahl, für
mehrere Reihen bleibt die Anzahl der Fixationen konstant. Dadurch
kommt eine gewisse rhythmische Gliederung in die Bewegung, die wir
bei S und M nicht finden. Bei ihnen wird umgekehrt fast jede Zeile in
anderer Weise geteilt.
Läßt man den einmal gelesenen Text des öftern lesen, so wird die
Zahl der auf ihn entfallenden Pausen geringer und eine größere Präzi-
sität und Exaktheit der Bewegung tritt ein. So stellte sich bei der
oben angegebenen Versuchsperson S die mittlere Durchschnittszahl der
Pausen pro Zeile in der 15. Lesung auf 3,4, während sie in der ersten
Lesung 5,4 betrug. Ein ähnlicher Unterschied ist bei H für die erste
und zweite Lesung erkennbar. Immerhin scheint es, als ob die Vorteile
der Wiederholung sich mehr bei den langsamen Lesern geltend machten.
Auch mit der Verlängerung und Verkürzung der Zeilen tritt eine
Änderung in der Zahl der Fixationen ein. Schon Huey und Erdmann-
Dodge haben darauf hingewiesen. Aus den von diesen Männern ge-
wonnenen Angaben, die wir in Tabelle III zusammengestellt haben, läßt
sich ersehen, daß mit der Verkürzung der Zeilen wohl eine Verminderung
der Pausen eintritt, daß aber für gleiche lineare Strecken die kürzeren
Zeilen mehr Pausen besitzen als die längeren.
— 184
TabeUe IV).
Zahl
der
Worte
pro
ZeUe
Schnelle Leser
Langsame Leser
Zeilen
Versuchsperson
Versuchsperson
T
Versuchsperson
S
Versuchsperson
M
1.
Lesung
2.
Lesung
1. 2.
Lesung Lesung
Lesung
2.
Lesung
1.
Lesung
2.
Lesung
1
6
7
4
—
4
5
4
9
8
2
8
6
4
—
3
5
8
6
5
3
9
6
4
3
5
5—6
6-7
9
8
4
8
6
4
4
5
8-9
7
7
7
6
8
6
4
4
4
4
5
7
7
6
7
—
6
3
5
5—6
6
7
7
6
4
—
—
4
5
4
6
5
8
4,5
4
4
—
3
—
5—7
- 5
9
7,5
—
4
4
4
—
6
—
4
10
8
—
4
4
4
—
—
—
6
11,
6
—
5
4
4
—
—
—
—
12
9
—
5
3
4
—
—
—
—
13
8
—
4
3
4
—
—
—
—
14
6,5
—
4
3
3
—
—
—
—
16
8
—
2
3
-
—
—
—
16
8,5
—
—
3
-
—
—
—
17
6
—
—
4
-
—
—
—
18
8
—
—
4
—
—
—
—
19
7
-
—
3
—
—
—
—
20
7
1 "
—
3
—
—
—
—
Durch-
schnitt
7.1
r,,4
3,9
3,8
3,7
|6,3— 5,G
5,5-6
1
7.1
6,1
1) Dearbom, a. a. 0.. S. 27.
— 185 —
Tabelle III.
Verfasser
Ver-
suchs-
person
Lesestoff
Zeilenlänge
in cm
Zahl der
Fixationen
Zahl der
Fixationen
für eine
Zeilenstrecke
von 100 cm
Erdmann-Dodge
Dt
Helmholtz, Optik
12,2
^>
46 7
E
» »
12,2
Huey
Hu
Ho
Am. Journal of Psych.
V n n r)
9,8
9,8
Z\'-
48,4
Erdmann-Dodge
D
Locke, Essay
8,3
4
48,2
Huey
X
Cosmopolitan Magazin
6,05
3,6
59,5
Y
Z
Newspaper
5,2
5,2
3,8
69,2
Nun aber dürfen wir dieser Tabelle nicht allzu große Bedeutung bei-
legen, weil zu einer richtigen Vergleichung die notwendigen Vorbe-
dingungen, gleicher Stoff, gleicher Druck, gleiche Personen etc. fehlen.
Dearborn hat dieser Frage ein längeres Kapitel gewidmet. Er fand,
daß ein und derselbe Lesestoff für ein und dieselbe Person mehr Fixa-
tionen benötigt, wenn er in kurzen, als wenn er in langen Zeilen gedruckt
ist. Zur Illustration seiner Behauptung führt er folgende Tabelle an^).
Tabelle IV.
Länge der Zeilen
in mm
Verhältnis
der langen
zu den
kurzen Zeilen
Zahl der Fixationen
Bemerkungen
I
II
I
II
179—190
179—190
86-98
86—98
1 -^
40
44
47
50
I = lange „ „
-_ 1 Zeilen
II = kurze)
179—183
97—106
5:3
35
46
179—183
97—106
41
47
113,5
87,5
IVa:!
51
53
Die von Dearborn gewonnenen Ergebnisse stimmen sonach mit den
in Tabelle III dargestellten überein. Es fragt sich nur, wie diese ver-
hältnismäßige Zunahme der Fixationen mit der Verkürzung der Zeilen
1) Dearborn, a. a. 0., S. 107.
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band.
13
— 186 —
zu erklären ist. Im nachfolgenden Kapitel werden wir hören, daß das
Lesefeld, also die Anzahl der Buchstaben, die man während einer Fixation
erkennen kann, am Anfang und am Ende der Zeile vielfach verkürzt
erscheint, weil der Fixationspunkt zu nahe an den Rand der Zeile rückt.
Am Anfang der Linie ist es die linke, am Ende die rechte Hälfte des
Feldes, der dieser Abbruch geschieht. Nun bietet, wie leicht einzusehen
ist, gerade ein kurzzeiliger Text einer Verkürzung des Feldes besondere
Chancen, eben weil er in einer größeren Zahl von Reihen erscheint, weil
Anfang und Ende bei ihm häufiger auftreten. Je größer nun in einem
Texte die Anzahl der verkürzten Lesefelder ist, um so größer muß natur-
gemäß auch die Zahl der Fixationen sein. Schon Lamare hat diese Er-
scheinung beobachtet und ihr eine ähnliche Deutung gegeben^).
2. Für die Dauer der Fixationspausen lassen sich schwer
einheitliche Zahlen geben. Sie sind nach den einzelnen Personen ver-
schieden. Nach Erdmann-Dodge ^) beträgt die durchschnittliche Dauer
für drei Versuchspersonen 226 bez. 374 und 387 6, Huey hat für zwei
Personen 183 bez. 290,9 6 gefunden. Nach Dearborn steht die Dauer
der Fixationspausen im engsten Zusammenhang mit der Lesegeschwin-
digkeit. So stellt sich für die in Tabelle II S. 184 erwähnten Versuchs-
personen T, H, S und F, von denen die beiden ersten schnelle, die beiden
letzten aber langsame Leser sind, die mittlere Dauer der Fixationen in
folgenden Zahlen dar: T = 160,82 <y; H = 216 s; S = 255,5 ö und
F = 401,9 6, Mit der Schwierigkeit und Unbekanntheit der Materie
nimmt naturgemäß auch die Dauer der Pausen zn. Und ebenso ändern
sich die Werte mit der Zeilenlänge. Daß kleinere Zeilen im allgemeinen
auch kürzere Pausen haben, durfte wohl erwartet werden, nachdem wir
oben erwähnten, daß mit der Verkürzung der Zeilen eine relative Meh-
rung der Pausen sich einstellt. Aber auch für die Gesamtheit der Pausen
eines bestimmten Textes läßt sich mit der Verkürzung der Reihen viel-
fach eine Verkürzung der Gesamtlesedauer erkennen.
Interessant ist die Verteilung der Lesezeiten in den einzelnen Zeilen.
1) E. Javal-F. Haas, a. a. 0., S. 139 : „ZeUen von verschiedener Länge werden mit
derselben Zahl von Abschnitten gelesen: ein Abschnitt nimmt daher nicht immer den-
selben Raum ein. In dem Augenblicke, wo der Abschnitt eine gewisse Größe erreicht,
hat das Auge das Bestreben, auf die Zeile einen Abschnitt mehr zu machen and folglich
die Länge der Abschnitte so zu verkleinern, daß er nicht mehr als 12 bis 13,6 mm beträgt.
Außerdem ergeben die Zeilen, je länger sie sind, um so weniger leicht neue Abschnitte,
indem diese dann um so leichter die maximalen Größen einzunehmen geneigt sind".
2) Erdmann-Dodge, a. a. 0., 8. 67. Diese drei Zahlen sind aus den von Erdmann-
Dodge für die Gesamtpausen einer Zeüe beim Lesen eines ungeläufigen muttersprachlichen
Textes gegebenen Zahlen berechnet.
— 187 —
Die erste Pause ist gewöhnlich am längsten. In vollem Umfange aller-
dings gilt dies nur für die schnellen Leser und wiederum nur für kür-
zere Zeilen. Bei langsamen Lesern wechseln längere und kürzere Pausen
in mehr unregelmäßiger Weise ab. Und auch bei langen Zeilen scheint
ebenso eine gewisse Regellosigkeit zu bestehen. Indes auch hier trifft
der Schwerpunkt vielfach auf den Anfang der Zeile, wenn wir die
Doppelpausen (nahe zusammenfallende Pausen) und ebenso die Fixationen
und Eefixationen (die Pause nach einer rückläufigen Bewegung) als
eine Pause betrachten. Die Ursache dieser eigenartigen Erscheinung
liegt wohl darin, daß das Auge am Anfang der Zeile eine allgemeine
Übersicht über die ganze Zeile gewinnt, was bei den folgenden Fixationen
nicht mehr in gleichem Umfange notwendig erscheint. Eine solche Über-
sicht aber läßt sich für kleinere Zeilen leichter gewinnen als für längere,
die durch ihre Ausdehnung eine peripherische Wahrnehmung weniger
deutlich hervortreten lassen. Daß für schnelle Leser diese Übersicht
leichter zu nehmen ist als für langsame, hängt wohl damit zusammen,
daß jene einen größeren Aufmerksamkeitsumfang besitzen als diese.
Ein zweiter Höhepunkt in der Zeitdauer der Pausen tritt vielfach
am Ende der Zeile ein. Auch diese Erscheinung ist insbesondere bei
schnellen Lesern und für kurze Zeilen zu beobachten. Sie zeigt, daß
für das Ende der Zeile die zuerst gewonnene allgemeine Übersicht nur
oberflächlich erreicht wurde.
Ein ähnlicher Unterschied, wie wir ihn hier für verschiedene Per-
sonen fanden, läßt sich auch bei einzelnen Personen erkennen, wenn wir
vom normalen zum schnellen Lesen übergehen. Die Gesamtdauer der
Pausen wird kleiner, aber die Verkürzung ist nicht gleichmäßig über
die Zeile verteilt. Am meisten ist sie in der letzten Hälfte bemerkbar;
für die erste Pause aber tritt vielfach eine leichte Vergrößerung ein.
Aus allem aber folgt, daß ähnlich wie in der Verteilung der Pausen
auch in der Verteilung der Zeiten eine gewisse Rhythmik beim Lesen
hervortritt. Sie wird am klarsten bei schnellen Lesern und beim Lesen
von kürzeren Zeilen erkannt und besteht darin, daß auf eine große Pause
am Anfang, kleinere Pausen in der Mitte und wiederum größere Pausen
am Ende der Zeilen folgen.
3. Es erübrigt uns noch mit einigen Worten auf die Lage des
Fixationspunktes einzugehen, hauptsächlich deshalb, weil er den
Punkt bildet, um welchen beim Lesen die Aufmerksamkeit sich verteilt.
Allgemeine Gesetze lassen sich hier allerdings nicht geben. Die Fixation
hängt aufs engste mit dem Apperzeptionsumfang zusammen. Ist das
Gebiet, das wir auf einmal zu lesen vermögen groß, so rücken die
Fixationen weit auseinander , werden aus irgend einem Grunde kleine
13*
— 188 -
Leseumfänge nötig, so kommen sich naturgemäß die Fixationen nahe.
So kommt es, daß die Fixationspunkte sich vollkommen regellos über die
Wort- und Satzgebiete verteilen. Dodge *) hat mit Hilfe der Nachbilder-
methode gezeigt, daß in aufeinander folgenden Expositionen der Fixations-
punkt jedesmal auf einen andern Wortteil fällt. Als Beispiele mögen
folgende Worte angegeben werden.
1 I 2
plojpililar, th(l)|ug|hts ; paj|5es|th|at foUow.
8 2 3 2 d 1
Die Zahlen und Striche geben die Fixationspunkte in drei aufeinander-
folgenden Expositionen an. Für zusammenhängende Texte hat Dearborn
gezeigt, daß bei wiederholten Lesungen und ebenso wenn Wörter in
einer andern Verbindung auftreten, die Lage des Fixationspunktes sich
ändert. So hatte, um auch hier einige Beispiele zu erwähnen, das Wort
Ad|miralty einmal nur eine, ein andermal für dieselbe Person aber zwei
Fixationen (Adm|iralt|y). Und ähnlich verhielt sich das Wort Evolutio-
nary, das im gleichen Text von derselben Person mit folgenden Fixationen
gelesen wurde.
1) |Evolu|tiona|ry. 2) Evolutionar|y. 3) evolultionary*).
2 8 1
Indes auch hier lassen sich einige charakteristische Merkmale er-
kennen. Zunächst fand man, daß die Anfangs- und Endfixation fast
immer im Innern der Zeile liegen und daß diese innere Abweichung am
Anfang der Zeile größer als am Ende ist.
Zum andern hat man bemerkt, daß kleinere Worte, Konjunktionen,
Adverbien, Präpositionen etc. oder, allgemein gesagt, Worte, die sich
nicht leicht zu einer Einheit zusammenschließen lassen, die Fixationen
anziehen. Es dürfte dies wohl darauf zurückzuführen sein, daß sie in-
folge ihrer mehr isolierten Stellung eine deutlichere Wahrnehmung ver-
langen. Auch die Interpunktionszeichen, die Lücken, die sich zwischen
den Wörtern finden, scheinen für die Augenbewegung gewisse Hinder-
nisse zu bieten, so daß die Bewegung öfters an ihnen abbricht und eine
Fixation einsetzt.
Innerhalb kleiner Grenzen endlich haben sicherlich auch die domi-
nierenden Buchstaben einen gewissen Einfluß. Sie drängen sich zur
Wahrnehmung und ziehen so die Aufmerksamkeit auf sich.
1) Dodge, Visual Fixation, a. a. 0., S. 32.
2) Dearborn, a. a. 0., 6. 81.
- 189
4. Kapitel.
Über Lesefeld, Lesetypen und die Bedeutung der Zeilenlänge.
Unter Lesefeld verstehen wir die Anzahl der Buchstaben und Wörter,
die man während einer Fixationspause zu. erkennen imstande ist. Die
durchschnittliche Grröße desselben wird annähernd erhalten, wenn man
die Länge der Zeilen oder die Zahl der anf sie entfallenden Worte durch
die Anzahl der Fixationen teilt. Nach den Berechnungen Erdmann-
Dodges beträgt sie 2,44 cm oder 13 Buchstaben. Dearborn hat gefunden,
daß seine Personen im Durchschnitt 1,68 Worte pro Fixation zu lesen
vermochten. Vollkommen richtig ist allerdings diese Abgrenzung nicht,
weil am Anfang und am Ende der Zeile der Fixationspunkt so häufig
an den Eand der Linie rückt, daß nur ein Bruchstück des Feldes für
eine solche erste oder letzte Fixation vorhanden ist. Die Angaben
bleiben darum immer etwas hinter den wirklichen Grrößen zurück.
Wie das Lesefeld sich in den aufeinander folgenden Lesungen und
mit der Verkürzung der Zeilen ändert, möge die nachfolgende Tabelle
zeigen.
Tabelle V^).
Versuchs-
1. Anzahl der ge-
lesenen Wörter für
schnelle und lang-
same Leser.
(Lange Zeüen)
2. Anzahl der gelesenen
Wörter bei der
3. Anzahl der gele-
senen Wörter in der
personen
1.
Lesung
2. 3.
Lesung Lesung
langen
Zeile
kurzen
ZeUe
Schnelle Leser
H
1,2
1,9
2,1
2,3
1,2
T. Exakte Augen-
bewegungen
[ 1,9
1,9
1,9
1,9
1,5
1,9
Langrsame Leser
S
F. Exakte Augen-
bewegungen
1 1,25
1,35
1,25
1,4
[2,1]
15. Lesung
1,4
1,09
1,35
1,57
1,48
1,74
2
1,57
1,46
1) Zusammengestellt aus den Angaben Dearborns S. 25 u. 26.
— 190 —
Aus ihr geht zunächst hervor, daß die schnellen Leser ein größeres
Gebiet umspannen als die langsamen und daß das Lesefeld sich mit den
aufeinander folgenden Lesungen erweitert (1,48 bez. 1,74 und 2). Für
die einzelnen Personen kommt diese Erweiterung nicht immer klar zum
Ausdruck. So nimmt das Lesefeld bei H rasch zu, bleibt aber für die
folgende Lesung nahezu gleich. Bei S zeigt es erst in der 15. Lesung
einen merklichen Zuwachs, und für T läßt es keinerlei Veränderung er-
kennen.
Beachtenswert sind die Zahlen unter 3. Sie zeigen, daß mit der
Verkürzung der Zeilen im allgemeinen eine Einschränkung des Lese-
feldes verbunden ist (1,57 — 1,46), daß aber die einzelnen Personen sich
nicht immer in ähnlicher Weise verhalten. Es ist vielleicht kein Zufall,
daß bei T und F, welche beide eine exakte Augenbewegung zeigen, das
Lesefeld mit der Verkürzung der Zeilen zunimmt, während es bei H
und S, welche mehr unexakte Bewegungen ausführen, abnimmt.
Daß ferner die Größe des Lesefeldes auch mit schwierigen Texten
abnimmt, daß es bei fremdsprachlichen Stoffen kleiner als bei mutter-
sprachlichen ist, braucht wohl nach dem Gesagten nicht weiter betont
zu werden.
Noch wichtig ist aber die Frage, welchen Einfluß Wörter und Buch-
staben auf die Ausdehnung des Lesefeldes ausüben. Huey und Dearbom
haben darüber Untersuchungen angestellt. Sie haben einmal gefunden,
daß schwierige und unbekannte Wörter das Lesefeld einengen. Und
ähnlich wirken auch die kleinen Wörter, die Präpositionen, Konjunktionen,
Pronomen etc. , wenn sie in größerer Zahl sich häufen. Die Ursache
ist klar. Alle diese Wörtchen haben keine engere assoziative Verbin-
dung, sie stehen mehr isoliert nebeneinander und verlangen demgemäß
eine genauere Wahrnehmung. Auch die Interpunktionszeichen scheinen
hemmend auf die Ausdehnung des Lesefeldes zu wirken. Li bezug auf
die Buchstaben bemerken Erdmann - Dodge , „daß die kleinen innerhalb
der Zeile verbleibenden Buchstaben deutlich einschränkend wirken, wäh-
rend große Anfangsbuchstaben oder Buchstaben, die über die Zeüe
hinausragen, die Felder vergrößern helfen^).
Zum Schlüsse möge noch erwähnt werden, daß der Fixationspunkt
das Lesefeld in zwei ungleiche Teile zerlegt. Der Unterschied zwischen
beiden ist oft beträchtlich^).
1) Krdmann-Dodge, a. a. 0., S. 82 haben diese Bemerkung mit Bezug auf die Blick-
felder (Gebiete des deutlichen Wabrnehmens) geschrieben. Sie dürften aber auch für die
Lesefelder Geltung haben.
2) Näheres darüber bei Huey I, a. a. 0., S. SOG.
— 191 —
Es dürfte sich zum Schluß empfehlen, die zerstreuten Bemerkungen
über individuelle Unterschiede beim Lesen und über den Einfluß der
Zeilenlänge auf die Geschwindigkeit des Lesens nochmals im Zusammen-
hange darzustellen.
1. Wir unterscheiden zunächst rasche und langsame Leser. „Der rasche
Leser liest sowohl sinnloses wie sinnvolles Material viel schneller als
der langsame und erfaßt auch den Sinn des Gelesenen schneller" ^). So-
viel im allgemeinen. Im einzelnen läßt sich ein vierfacher Unterschied
zwischen beiden Typen erkennen.
a) Der schnelle Leser vermag ein größeres Gebiet auf einmal zu
umspannen; sein Aufmerksamkeitsumfang ist groß. Darum ist die Zahl
der Fixationspausen pro Zeile verhältnismäßig klein, und die Anfangs-
und Endfixationen bleiben stets eine kleine Strecke vom Rande entfernt.
Beim langsamen Leser machen sich genau die gegenteiligen Erschei-
nungen geltend. Er besitzt nur einen kleinen Aufmerksamkeitsumfang,
so daß er für die Zeile eine größere Zahl von Fixationen benötigt. An-
fangs- und Endfixati on treten bei ihm näher an den Zeilenrand heran.
b) Die durchschnittliche Dauer der Ruhepausen ist für den schnellen
Leser kürzer als für den langsamen.
c) Beim schnellen Leser bildet sich leicht eine gewisse Rhythmik in
der Bewegung der Augen. Er liest die aufeinander folgenden Zeilen
annähernd mit der gleichen Pausenzahl und verteilt die für die Zeile
notwendige Lesezeit in der Weise, daß auf eine lange Initialpause zwei
oder drei kleinere und am Ende wiederum längere Pausen folgen. Auch
hierin zeigt sich der langsame Leser wiederum verschieden. Die Zahl
der Pausen variiert für eine Reihe von Zeilen in weiteren Grenzen, und
längere und kürzere Pausen wechseln in mehr unregelmäßiger Weise ab.
d) Auf einen vierten Unterschied endlich kommen wir in Kapitel 9
zu sprechen. Er besteht darin, daß der schnelle Leser mehr in Wort-
bildern liest, während beim langsamen Leser der Wortteil, die Wortsilbe
vielfach die Einheit bildet.
2. Im Verlaufe unserer Darstellung sind wir des öftern auf die
Bedeutung der Zeilenlänge für schnelles und langsames Lesen gekommen.
Allgemein haben wir gehört, daß bis zu einer gewissen Grenze kleinere
Zeilen leichter und schneller gelesen werden können als lange. Dieser
Vorteil ist im folgenden begründet.
a) Kleinere Zeilen ermöglichen leicht die Bildung rhythmischer Be-
w^egungen, welche darin besteht, daß die aufeinander folgenden Zeilen in
annähernd der gleichen Pausenzahl gelesen werden und daß die Zeit-
1) Meumann, a. a. 0., S. 250,
— 192 —
dauer für die Anfangspause groß, für die mittelzeiligen Pausen geringer
und für die Endpausen wiederum größer ist.
b) Kleinere Zeilen lassen wenig Unregelmäßigkeiten in den Augen-
bewegungen erkennen. Rückläufige Bewegungen sind seltener als in den
längeren Linien, und "Worte , welche in benachbarten Zeilen zuweilen
gesehen werden, vermögen nicht wie in langen Zeilen den Fortgang des
Gedankens zu stören.
c) Und drittens hat Dearbom nachgewiesen, daß Ermüdungserschei-
nungen sich weniger bei kurzen als bei langen Zeilen zeigen. Er maß
für lange und kurze Zeilen die Dauer der 1., 2., 3. etc. Rückwärtsbe-
wegung von einer Zeile zur andern. Dabei fand er, daß bei den langen
Zeilen die Dauer der Rückwärtsbewegung mit jeder folgenden Zeile zu-
nahm, eine Erscheinung, die sich bei kurzen Zeilen nicht beobachten ließ.
IL Abschnitt.
Die psychologische Analyse des Lesevorgangs.
(Innerer Leseakt).
A. Tachistoskopische Methode.
5. Kapitel.
Allgemeines (Methode und Apparate).
Die tachistoskopischen Untersuchungen gehen von sehr kleinen Ex-
positionszeiten aus. Gewöhnlich wird das Leseobjekt nur 10 oder 100 tf
(Itf = ^") dargeboten. Der Leseakt wird auf diese Weise unter-
brochen, in einzelne Teile aufgelöst und läßt sich in seinem Verlaufe
leicht verfolgen.
Zur Ausfuhr ung dieser Versuche bedient man sich gewöhnlich des
Tachistoskops. Dasselbe kommt in mehreren Formen vor. Cattel, Erdmann-
Dodge, Zeitler, Meumann und Messmer gebrauchten das Falltachistoskop,
das folgende Einrichtung zeigt. Zwischen zwei senkrechten Messingsäulen,
die auf den einander zugekehrten Seiten kleine Rinnen tragen, läßt
sich eine aus schwarzem Eisenblech gefertigte Fallscheibe auf- und ab-
bewegen. Vom obern Rahmen der Scheibe führt ein dünner Faden auf-
wärts über ein Rad und trägt am andern Ende ein Gewicht, das es
— 193 —
möglich maclit, der fallenden Scheibe bald eine größere, bald eine ge-
ringere Greschwindigkeit zu geben. In die Mitte der Fallscheibe ist
eine variable Öffnung geschnitten, durch die das hinter der Säule auf
einem Karton aufgedruckte Leseobjekt sichtbar gemacht werden kann.
Im Zustande der Ruhe ist die Fallscheibe durch einen in der Höhe an-
gebrachten Elektromagneten festgehalten, während gleichzeitig ein
schwarzes Blech, das in der Mitte eine helle Fixiermarke trägt, das
Objekt verdeckt. Wird der Strom unterbrochen, so fällt der Schirm,
stößt das Blech herab und enthüllt das Leseobjekt für einen bestimmten
Augenblick. Die Dauer der Exposition wird durch die Aufzeichnungen
einer Stimmgabel auf berußtem Papier erhalten ^).
Schumann, teilweise auch Erdmann-Dodge benützten zu den Unter-
suchungen das sogenannte Rotationstachistoskop, eine rotierende Scheibe,
die am Rande einen kleinen Sektorausschnitt hat, der das hinter der
Scheibe befindliche Leseobjekt auf Sekundenteile sichtbar macht. Der
Apparat arbeitet geräuschlos, aber die Notwendigkeit eines Elektro-
motors zum Antrieb der Scheibe und die etwas schwierige Lösung der
Lesezeiten stellen ihn hinter das Falltachistoskop zurück.
Einen ähnlichen Apparat haben auch Goldscheider und Müller ver-
wendet. Bei ihnen aber drehte sich die Scheibe in horizontaler Richtung,
und die Versuchsperson blickte von oben auf das zu lesende Objekt herab.
Beim Lesen in kurzen Zeiten werden die Objekte entweder in rich-
tiger oder in veränderter Grestalt exponiert. Als richtig bezeichnen
wir sie, wenn sinnlose Buchstabenverbindungen, Wörter und Sätze auf
der Bildfläche erscheinen. Verändert ist das Objekt, wenn der Ex-
perimentator bei der Exposition Wortteile wegläßt , oder im Objekt
Buchstaben durch andere ersetzt, so daß auf den flüchtigen Blick wohl
ein ähnliches Gebilde, aber im Grunde ein ganz neues Leseobjekt ent-
steht. Wir wollen in unserer nachfolgenden Darstellung diese beiden
Versuchsreihen trennen und zunächst von den Erscheinungen bei der
Exposition der Objekte in richtiger Gestalt und dann von den Er-
scheinungen bei der Exposition veränderter Objekte sprechen. An-
schließend daran soll in einem eigenen Kapitel die Interpretation der
Erscheinungen im Zusammenhang dargestellt werden.
1) Abbildungen des Tachistoskops : Wundt, Völkerpsychologie 1. Bd., I.Teil, S. 568,
0, Messmer, a. a. 0., S. 6 und Meumann, Vorlesungen z. E. i. d. exp. Pädag. IT, S. 243.
Neuerdings ist das Fallblech durch ein geräuschlos arbeitendes Blatt aus schwarzem
Samt ersetzt worden.
— 194 —
6. Kapitel.
Erscheinungen beim tachistoskopischen Lesen „richtiger Objekte."
Am Taciiistoskop werden für gewöhnlich Buchstaben, Wörter und
Sätze exponiert. Bei der ersten Lesung wird dabei vielfach nur ein
kleiner Teil des Bestandes erkannt. Der übrige Teil wird falsch ge-
lesen oder bleibt vollständig fremd. Erst in den sich wiederholenden
Expositionen wird nach und nach auch der Rest des Objektes gelesen.
Der Experimentator hat nun bei diesen Versuchen auf drei Reihen von
Erscheinungen zu achten. Einmal muß er die Anzahl der richtig ge-
lesenen Buchstaben feststellen, um den Leseumfang (Aufmerksamkeits-
umfang) zu erkennen. Dabei ist es vorteilhaft, psychologisch richtig,
nur die ersten Expositionen in Betracht zu ziehen. Zum andern hat
er sein Augenmerk auf alle Erscheinungen zu richten, welche in den
aufeinander folgenden Expositionen auftreten, und endlich sind die sub-
jektiven Eindrücke der Versuchsperson zu befragen und darzustellen.
1. Unter Leseumfang verstehen wir die Maximalzahl der bei einer
einmaligen Exposition gelesenen Buchstaben. Er ist gewöhnlich aus
einer Reihe von ersten Lesungen gewonnen. In der nachfolgenden Tabelle
(S. 195) haben wir die gefundenen Ergebnisse übersichtlich zusammen-
gestellt. Ein eingehender Vergleich ist kaum möglich ; denn einmal sind
die benützten Apparate, zum andern die angewandten Zeiten verschieden.
E. Becher^) hat seine Ergebnisse bei Funkenbeleuchtung gewonnen,
während CattelP), Goldscheider - Müller ^), Zeitler*) und Messmer*) die
Leseobjekte 10 6, Erdmann-Dodge^) sogar 100 <y sichtbar lassen. Auch
die Buchstaben sind nicht von der gleichen Beschaifenheit, und endlich
haben selbst die Zahlenwerte nicht die gleiche Bedeutung. Cattels Er-
gebnisse sind Schlußergebnisse. „Er exponierte in der Regel fünfmal
nacheinander d. h. wenn bis zur fünften Exposition nichts oder nicht
1) £. Becher, Experimentelle und kritische Beiträge zur Psychologie des Lesens
in kurzen Expositionszeiten. Zeitschr. für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane
3<;. 1904.
2) J. M. K. Cattell, Über die Trägheit der Netzhaut und des Sehzentrums. WuAdt,
Philos. Studien III, S. 126.
8) A. Goldscheider u. F. Müller, Zur Psychologie und Pathologie des Lesens.
Zeitschrift für klinische Medizin XIII, S. 142.
4) .1. Zeitler, Tachistoskopische Untersuchungen über das Losen. Wundt, Philos.
Studien 16, S. 410 ff.
5) 0. Meßmer, Zur Psychologie des Lesens. Ltii./i ^. ...ff,
6) Krdraann-Dodge, a. a. 0., Kap. 5, 0, 7.
195
EH
' o
s-<' c
§11
1
1
T
1
1
S Oh
>o2f)
<M
QQ
« «2
bDHM
a
O J3
1
1
^
1
1
So'^
> 03
Nl
^^
G
^ T^
o
§s
1
1
tH
1
1
c« c3
> u
N g
^ s
ö
^
o
a
c S
1
w
(M
CO
1
o
o iS
I
<N
I
1
'r*
> :C8
1
o
's
CG
<N
O
S i|s
-
_ 1q &ß
1 — 1
2|
;-■
Ut
00 « a
r^ «<ä
'S
I
(M
S3
1
1
CO
u
^^
O <N
ee
«3 «
s
lO
,-H <M
«3
o
a>
1?
ES
1
1
O
r- 1
1 1
(M CT
1— 1 1— (
Iss-s
1
1
1
o
o
^ «1 ■-1 Sh
§"5r. ^
1
1
1
1
CO
1
1)
TS
>
§!■§
1
1
^
2
o
>
1 »5 1
lll In
Tl^
■=|i
'«*<
s
o
S
> > 1
^. .. 1
bß ,
ÄrJ
^ -
~—
— ~.^-— -
-— — V^-i^
Apparate
und Art de
p]rgebnisse
«^5 .2
11
II
11
o c
1 a
R
c
R
jq^f
s
g
CO
05
o
s
00
-sSunqoT{;aoj50J8^
2
CD
00
I-H
I-H
00
«4
1 C3 •—
^^
j^
1
^
o
o
o
TS^O -Ö
O)
«
5
ü
3 'SS
CO C
'S
N
1
.-^
-M
. — — i^'^^ ^
OQ
a>
o o 2 -§-
■«<
^
Ja
.= 1
^ s sh 'ö :r-
c
o
O
1
s
5
- 196 —
Anmerkungen zu Tabelle VI.
1) J. Cattel, a. a. 0., S. 127. „Man kann dreimal soviel Buchstaben auffassen, wenn
sie Worte bilden, als wenn das nicht der Fall ist. Bilden die Wörter einen Satz, so
kann man die doppelte Zahl derselben auffassen, als wenn sie ohne Zusammenbang
nebeneinander stehen."
2) Diese Zeit brauchte die ganze aus drei Zeilen bestehende Leseprobe, um das
Gesichtsfeld zu passieren. Die einzelne Zeile blieb nur 0,02" sichtbar.
3) A. Goldscheider u. R. Müller, a. a. 0., S. 146. „Wörter die aus fünf Buchstaben
bestehen, werden nicht ausnahmslos richtig gelesen. Ein aus sechs Buchstaben zusammen-
gesetztes Wort wurde indes von einem Beobachter richtig erkannt."
4) Aus Zeitlers Angaben ist die Zeit der Exposition nicht deutlich erkennbar.
Wundt, Physiologische Psychologie III, S, 603 nimmt l(X)tf an, während Schumann, Be-
richt über den 2. Kongreß für experimentelle Psychologie, Leipzig 1907, S. 166 mit
,01" rechnet.
5) Zeitler, a. a. 0., S. 412. „Je nach dem Grade der Bekanntheit und Geläufigkeit
eines Wortes variiert der umfang zwischen 15 und 25 Buchstaben.
6) 0. Messmer, a. a. 0., S. 77. „Beim Lesen von ganzen Sätzen bei einer Expo-
sitionszeit von U)i)a werden trotz der langen Reizdauer nicht mehr Wörter gelesen, als
ungefähr in den maximalen Umfang der betreffenden Versuchsperson fallen." Diese Be-
merkung bezieht sich auf das Lesen bei der Fixation des Satzanfanges.
Viel erkannt wurde, so nahm er an, daß eine weitere Wiederholung
nutzlos sein würde." Die Ergebnisse der andern Forscher sind, wofern
wir richtig verstanden haben, auf die erste Exposition zu beziehen.
Immerbin lassen sich aus der Betrachtung der Zahlen manche
Schlußfolgerungen ableiten. Zunächst sehen wir, daß im allgemeinen
3—4 Buchstaben auf einmal wahrgenommen werden. Erdmann und Dodge
haben Buchstabenverbindungen bei 0,00025" (= -^ der gewöhnlichen
Expositionszeit) exponiert, aber die Zahl der simultan wahrgenommenen
Schriftzeichen hat sich kaum merklich geändert. Andrerseits haben
anch die mannigfachsten Verbindungen, Verbindungen von unterzeiligen,
oder nur oberzeiligen Konsonanten, von Konsonanten und Vokalen, ja
selbst von Verbindungen, in denen die Buchstaben eine gewisse rhyth-
mische Anordnung zeigten, kaum höhere Resultate gebracht. Nur Zeitler
hat bei der Exposition von Konsonanten und Vokalen, Messmer für den
subjektiven Lesetypus ein etwas günstigeres Ergebnis erzielt. Werden
sinnlose Silben exponiert, so wird der Umfang des Gelesenen größer.
Noch mehr aber erweitert sich das Gebiet, wenn wir Buchstaben
zu Wörtern zusammenlügen. Sehen wir von den Ergebnissen, die Gold-
scheider und Müller gefunden haben, ab, so zeigen auch hier die
gewonnenen Werte nicht allzu große Differenzen. Sie bewegen sich
um 20. Dabei wurde des öftem die Beobachtung gemacht, daß der
Leseumfang von der Schwierigkeit des Wortes abhängt. Völlig unbe-
kannte Wörter stehen sinnlosen Silbenverbindungen nahe, lassen also
— 197 —
kaum mehr als 6 — 10 Buchstaben erkennen. Bei fremdsprachlichen
Wörtern erzielte Dodge nur einen Maximalumfang von 9—11 Wort-
elementen. Bei allzu langen Wörtern bleibt die Zahl der erkannten
Buchstaben hinter dem Maximalwert des Erkennens zurück.
Wiederum größer wird das Grebiet der erkannten Buchstaben bei
der Exposition von Sätzen. Wenn Messmer hier ein weniger günstiges
Resultat verzeichnet, so liegt dies wohl daran, daß der Anfang des
Satzes fixiert wurde. Auch hier wiederum spielten die mehr oder mindere
Bekanntheit mit dem Texte, „der geläufige oder weniger geläufige Sinn
des Satzzusammenhanges" eine bedeutende Rolle. Bekannte Sätze oder
Sprichwörter brauchten nur in einem dominierenden Worte erkannt zu
werden. Dabei ist bemerkenswert, daß der Beobachter alle, auch die-
jenigen Schriftzeichen deutlich gesehen zu haben glaubte, welche be-
trächtlich über das Gebiet des deutlichen Wahrnehmens hinausragten.
Auf eine andere Eigentümlichkeit beim Lesen von exponierten Sätzen
weist Zeitler hin ^). Er fand, daß das Lesegebiet sich verkleinerte,
wenn in der Mitte desselben bedeutungslose Worte standen, daß es aber
wuchs, wenn daselbst ein für den Satzzusammenhang charakteristisches
Wort sich befand.
2. Der Leseumfang bedeutet einen Grrenzwert. Für gewöhnlich
werden, wie wir bereits erwähnt haben, nur wenige Buchstaben wahr-
genommen. Erst in den darauffolgenden Expositionen wird der ganze
Buchstabenbestand erfaßt. Die Zahl der dazu notwendigen Wieder-
holungen ist bei den einzelnen Leseobjekten durchaus verschieden.
Längere Wörter brauchen im allgemeinen mehr Expositionen als kurze,
unbekannte mehr als bekannte. Granz geläufige Wörter werden vielfach
schon in der ersten Lesung erkannt. Wörter von gleichmäßiger Konfi-
guration sind schwerer erkennbar als solche mit optisch charakteristi-
schen Formen^). Kinder und ungeschulte Personen oder, allgemein aus-
gedrückt, Leute mit engbegrenztem Wortvorrat verlangen öftere Ein-
wirkungen als Erwachsene und Gebildete, als Personen also, die über
einen großen Sprachschatz verfügen.
Interessant ist die Art und Weise, wie das Wortganze sich all-
mählich entwickelt. Wir haben dabei zwei extreme Eälle zu behandeln,
die durch eine Reihe von Abstufungen ineinander übergehen.
Einmal kann es vorkommen, daß neben den richtig erkannten Buch-
staben kein weiteres Wortelement gelesen wird. Sukzessiv reihen sich
in den aufeinander folgenden Lesungen kleine Buchstabenkomplexe an,
1) Zeitler, a. a. 0., S. 420.
2) Erdmann-Dodge, a. a. 0., S. 157.
— 198 —
bis schließlich das ganze Wort erkannt ist. Das Erkennen vollzieht
sich langsam, aber alle Lesungen zeigen eine gewisse objektive Treue.
So wurden die Wörter, „goldrand" und „Kastanien verkauf er" in folgender
Weise sukzessiv bestimmt.
1. E
xposi
tion and ')
2.
n
and
3.
it
drand
4.
n
goldrand
3.
»
kauf er ^
4.
n
Verkäufer
5.
f)
astanienverkäufer
6.
n
Kastanienverkäufer.
In den angeführten Beispielen bildete das Wortende den Ausgangs-
punkt des Erkennens. Ganz in derselben Weise aber können auch Wort-
anfang und Wortmitte den Ausgangspunkt bilden. Dabei läßt sich stets
die Beobachtung machen, daß besonders charakteristische Buchstaben,
die durch ihre Länge oder eine ausgeprägte geometrische Form hervor-
stehen, sich zuerst zur Wahrnehmung drängen.
Für die andere Leseart soll das gleiche Wort Kastanienverkäufer
als typisches Beispiel gelten.
1. Exposition Kleinverkäuferin
2. „ Kleinverkäufer
3. „ Kannenverkäufer
4. „ Kastanienverkäufer.
Hier werden jedesmal ganze Wörter gelesen. Lesungen bloßer Teile
oder einzelner Buchstaben sind selten. Dafür aber fehlt auch den Le-
sungen die objektive Treue; Buchstaben, besonders mittel- und unter-
zeilige, werden in mannigfacher Weise verwechselt. Vergleicht man
aber das gelesene Wort mit dem exponierten, so zeigt sich, daß die
Länge des Wortes im großen und ganzen gewahrt bleibt. (Hast für
Habe, Einsam für Eisbaum), obwohl es nicht selten vorkommt, daß
kurze Wörter in längere hineingelesen werden, wie „einfallen" in »ein-
gefallen'^ oder „bundische"*) in „burgundische" *). Auch die optischen
Formen oder besser gesagt, die Umgrenzungslinien beider Wörter sind
1) Goldscheider und Müller, a. a. 0., S. 147.
2) Messmer, a.a.O., S. 14.
8) Messmer, a.a.O., 8. 18.
4) Messmer, a.a.O., S. 69.
— 199 —
im allgemeinen gleich. Es bleibt uns noch übrig, auch einige andere
Erscheinungen zu erwähnen, die sich beim tachistoskopischen Lesen auf-
drängten. Der Bedeutungsinhalt eines Wortes tritt immer plötzlich
auf. Dann aber erscheint das Wort in voller Klarheit. Selbst falsch
gelesene Wortteile, ja sogar Buchstaben, die außerhalb des Gebietes des
deutlichen Sehens liegen, also gar nicht gesehen werden können, werden
aufs deutlichste wahrgenommen. Die Bedeutung ist es auch, die das
Wort zusammenhält. Ist das gelesene Wort unbekannt, so zerfällt es
beim Lesen vielfach wieder in Buchstaben und Silben. Zeigen dabei die
Buchstabenkomplexe Ähnlichkeit mit bekannten Silben, so treten diese
für die Buchstaben ein. Beim Lesen von Sätzen zeigt sich stets, daß
der Sinn des Satzes das nachfolgende Wort schon mehr oder weniger
determiniert, so daß das Erkennen eintritt, ohne daß die Wörter deutlich
gesehen werden.
3. Die subjektiven Beobachtungen der Versuchspersonen sind nicht
immer zuverlässig, da namentlich ungeübte Leser' sich durch die Frage-
stellung stark beeinflussen lassen. Einiges läßt sich indes immerhin er-
kennen. Zunächst hat man feststellen können, daß einzelne Personen
imstande sind, noch lange nach der Exposition das visuelle Bild in der
Erinnerung festzuhalten, während bei andern das optische Bild sofort
hinter dem entsprechenden Klang- und motorischen Bilde zurücktritt.
Man hat nach diesem verschiedenen Verhalten zwei Typen, einen visu-
ellen und einen akustischen oder akustisch -motorischen Typus unter-
schieden. Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, als ob bei den Per-
sonen des visuellen Typus gar kein Klangbild sich auslöse. Vielfach
sind sie sich dessen allerdings nicht bewußt. Doch scheint es nach
Schumann^) wahrscheinlich, daß ein flüchtiges Klangbild sich häufiger
einstellt, als die Versuchspersonen selbst vermuten. Es entgeht aber
der inneren Wahrnehmung, weil die Aufmerksamkeit dem Gesichtsbilde
sich zuwendet. Zwischen beiden Typen gibt es eine Eeihe von Ab-
stufungen, Übergängen, denn bei den meisten Personen wirken optische,
akustische und motorische Bilder zusammen.
Ein weiteres Problem, das man durch subjektive Beobachtung
zu fördern suchte, betrifi't die Frage nach der Sukzession oder Simul-
taneität des Leseaktes. Erdmann und Dodge haben stets betont, daß ihre
Versuchspersonen den Eindruck der simultanen Wahrnehmung gehabt
hätten. Man hat ihnen entgegnet, daß bei ihrer hohen Expositionszeit
1) Schumann, Bericht über den 2. Kongreß für experimentelle Psychologie. Leipzig
1907, S. 172. Seh. und Wiegandt bestreiten mit unzureichenden Gründen den Unterschied
des objektiven und subjektiven Lesers. In Wiegandts eigenen Versuchen tritt dieser
Unterschied deutlich hervor.
— 200 —
(100 (?) die rasch aufeinander folgenden Teilakte beim Lesen sich nur
scheinbar als simultanes Wahrnehmen dargestellt hätten und daß eine
innere Wahrnehmung der Sukzession wohl deshalb nicht erfolgt sei,
weil man von vornherein nicht darauf geachtet habe. Im Gegensatz
zu ihnen haben Zeitler, Messmer und Schumann ein sukzessives Er-
kennen durch innere Wahrnehmung konstatieren können, das bei Wörtern
über 15 Buchstaben sich schon deutlich darstelle.
Daß die Versuchspersonen auch die außerhalb des Gebietes der
deutlichen Wahrnehmung gelegenen Buchstaben deutlich gesehen zu
haben glaubten, ja daß selbst ganz fremde Bestandteile sich deutlich
vor dem geistigen Auge abbildeten, haben wir bereits des öfteren er-
wähnt.
7. Kapitel.
Erscheinungen beim Lesen veränderter Objekte in kurzen Expositionszeiten.
Die Versuche, von welchen wir in Kapitel 7 sprechen wollen, gehen
von veränderten Objekten aus, also von Objekten, in denen entweder
Buchstaben fehlen, oder Buchstaben durch andere, ähnliche substituiert
sind. Sie schließen sich nicht alle ans Tachistoskop an, aber sie gehen
in ihrer großen Mehrzahl von kurzen Expositionszeiten aus. Die we-
nigen Versuche, in denen andere Zeiten in Betracht kommen, haben wir
hier eingefügt, weil sie sich inhaltlich mit den Versuchen des Kapitels
decken.
Die veränderten Objekte lassen zwei Lesungen zu, sie können in
ihrer ursprünglichen oder in ihrer neuen Gestalt, in unveränderter oder
veränderter Form gelesen werden, je nachdem die Abänderung über-
sehen oder erkannt wird. Dieses tritt ein, wenn die Abänderung do-
minierende Buchstaben, oder Buchstaben in bevorzugter Stellung be-
trifft, jenes haben wir zu gewärtigen, wenn die Abänderung sich nur
auf neutrale Buchstaben bezieht, oder wenn der Bewußtseinszustand
eine zur Wahrnehmung des ursprünglichen Bildes günstige Beeinflussxmg
erfährt. Aus dem Gesagten geht schon hervor, daß diese Leseversuche
an veränderten Objekten einem doppelten oder besser gesagt einem drei-
fachen Zwecke dienen.
Objektiv stellen sie fest, welche Bedeutung den Buchstaben
a) nach ihrer Stellung im Worte,
b) nach ihrem Charakter zukommt.
Subjektiv aber zeigen sie,
c) welche inneren Faktoren im Leseprozeß mitspielen.
— 201 —
1. Die Lage der Buclistaben ist in den einzelnen Wörtern durchaus
verschieden. Sie stehen bald am Anfang, bald am Ende, bald in der
Nachbarschaft von Vokalen, oder umgeben von ober- mittel- und unter-
zeiligen Konsonanten. Es ist klar, daß alle diese Umstände nicht ohne
Einfluß auf ihre Bedeutung im Wortbilde sein können. Aber die Unter-
suchung begegnet manchen Schwierigkeiten, sie hat darum bis jetzt nur
die verschiedene Stellung im Worte ohne Rücksicht auf benachbarte
Buchstaben betont.
Zuerst hat Pillsbury ^) sich mit der Frage beschäftigt. Er ließ in
seinen exponierten Wörtern am Anfang, in der Mitte oder am Ende
einen oder mehrere Buchstaben verändern und stellte fest, wie oft die
Versuchsperson imstande war, den Fehler zu erkennen. Dabei war aufs
deutlichste eine Abnahme von links nach rechts wahrzunehmen. Am
Wortanfang wurde der Fehler häufiger als in der Wortmitte und hier
wiederum häufiger als am Wortende erkannt. Das Verhältnis^) stellt
sich etwa wie 13 (Anfang) zu 8 (Mitte) zu 6 (Ende). Eine andere Er-
scheinung bestätigt diese Entdeckung. Waren in einem Worte zwei
Buchstaben verändert und blieb der eine unerkannt, während der andere
erkannt wurde, so war der erkannte Buchstabe in den meisten Fällen
der erste.
Auch Huey ') hat festgestellt, daß die erste Worthälfte für das Er-
kennen des Wortganzen wichtiger ist als die letzte. Ein sinnvoller
aber durch Fortlassen von Worthälften verstümmelter Text konnte
schneller und sicherer aus den ersten als aus den zweiten Worthälften
wieder hergestellt werden. Fehlten die ersten Partien eines Wortes,
so wurde ein Wort des Textes in 2,44" gelesen, und nur 69.9 ^/o aller
Wörter waren korrekt; fehlten die zweiten Partien, so brauchte man
pro Wort nur eine durchschnittliche Dauer von 2,21", und trotzdem
waren mehr als 85 ^/o aller Wörter richtig erkannt.
2. Etwas zahlreicher sind die Arbeiten, welche über die Wichtig-
keit des Charakters eines Buchstabens für das Erkennen berichten. Sie
rühren von Goldscheider und Müller, von Zeitler und von 0. Messmer
her. Letzterer hat nun allerdings seine Ergebnisse auf rein theore-
tischem Wege erhalten, aber wir schließen sie hier an, weil sie inhalt-
lich zu diesem Abschnitte gehören.
1) W. B. Pillsbury, A Study in Apperception. Am. Journal of Psychology 8. 1897,
S. 315 ff.
2) W. B. Pillsbury, a. a. 0. Aus Tabelle IV, S. 350.
3) E. B. Huey, Preliminary Experiments in the Physiology and Psychology of Rea-
ding Am. Journal of Psych. 9. S. 580 u. 581.
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 14
— 202 —
Aus den Versuchen der genannten Forscher geht hen^or, daß es
Buchstaben gibt, die determinierenden nach Goldscheider und Müller,
die dominierenden nach Zeitler und nach Messmer, welche vermöge
ihrer Größe, ihrer Gestalt etc. für das Erkennen des Wortbildes be-
sonders wichtig sind, während andere nahezu ohne Einfluß bleiben. Sie
werden beim tachistoskopischen Lesen vielfach zuerst und deutlich er-
kannt. Sind sie im Leseobjekt vertauscht, oder hat man sie gänzlich
beseitigt, so wird das exponierte Wort nur selten in seiner ursprüng-
lichen Form gelesen. In den meisten Fällen tritt der Buchstabe so
stark hervor, oder wird das Fehlen so deutlich bemerkt, daß die ge-
wollte Assimilation nicht eintritt.
Zuweilen ereignet es sich gar, daß diese dominierenden Buchstaben
zu ganz anderen Wortgebilden führen wie
Physik in Plagwitz ^)
Malerei in Materie ^).
Direkt umgekehrt verhalten sich die unbetonten (optisch) Buch-
staben. Sie treten im Wortbilde weniger deutlich hervor, darum werden
sie auch leicht verwechselt und können, ohne das Erkennen des Wortes
zu stören, in größerer Anzahl ausfallen.
Damit aber sind nur im allgemeinen die beiden Gruppen charakte-
risiert. Wie die Buchstaben auf die eine oder die andere Abteilung zu
verteilen sind, ist im einzelnen nicht leicht zu bestimmen. Die Stellung
im Worte, von der wir bereits gesprochen haben, hat dabei einen nicht
zu unterschätzenden Einfluß.
Vielleicht hängt es auch damit zusammen, daß die Verfasser unklar
lassen, welchen Buchstaben sie eine so hervorragende Rolle zuschreiben.
Goldscheider und Müller zählen zu den determinierenden Buchstaben
die Anfangsbuchstaben. Im übrigen aber sind ihre Bemerkungen undeutlich.
Die determinierenden Buchstaben „sind durchaus nicht immer Konso-
nanten, wenn auch diese dadurch, daß sie zum Teil die Schriftlinien
nach oben und unten überragen, vornehmlich dazu beitragen, dem Wort
sein charakteristisches Gepräge zu geben" ^). ^Sie erwecken*', schreiben
die Verfasser an einer anderen Stelle, „die zu ihnen gehörigen Buch-
stabenklangerinnerungen, welche ihrerseits das vollständige Wortklang-
bild hervorrufen". Daraus aber dürfte hervorgehen, daß sie neben der
äußeren Form oder vielmehr neben der Länge der Buchstaben auch
deren Klangwirkung als bestimmtes Merkmal der determinierenden
Buchstaben ansehen.
I
1) Zeitler, a. a. 0., S. 449.
2) Goldscheider and Müller, a. a. 0., S. 161.
— 203 —
Zeitler scheint unter den dominierenden Buchstaben die ober- und unter-
zeiligen Konsonanten zu verstehen. Wenigstens dürfte dies aus den für Assi-
milationsversuche zusammengestellten Beispielen, in denen die Verände-
rungen gerade dominierende Buchstaben betrafen (Sculgtur — Sckichsal) ^),
hervorgehen. Als besondere Merkmale der dominierenden Buchstaben führt
er an, daß sie beim tachistoskopischen Lesen stets zuerst und am klarsten
erkannt würden und daß sie am wenigsten den Verlesungen ausgesetzt wären.
Eine genaue und eingehende Grruppierung der Buchstaben nach ihrer
optischen Bedeutung hat Messmer ^) gegeben. Er hat die einzelnen Buch-
staben nach ihren Maßverhältnissen (ihrer Höhe, ihrer Breite) und nach
ihrer speziellen geometrischen Form untersucht. Dabei hat er nachge-
wiesen, daß die Buchstaben zuerst ihre Typenbreite, dann ihre Höhe und
erst in dritter Linie ihre geometrische Form an die Gresamtform ab-
geben. Darum kommt die Breite als charakteristisches Merkmal nicht
in Betracht. Auch die Höhe ist nur für die großen ^) und hier wiederum
nur für die oberzeiligen Konsonanten eine hervorstechende Eigenschaft.
Die unterzeiligen Konsonanten haben weniger Bedeutung, sie werden
vielfach auch mit mittelz eiligen Buchstaben verwechselt, was wohl darauf
zurückzuführen ist, daß unser Auge beim Lesen sich in der Nähe des
oberen Randes der mittelzeiligen Buchstaben hinbewegt ^). In bezug
auf die geometrische Form unterscheidet Messmer vier Kategorien von
Buchstaben , Buchstaben , die im wesentlichen aus senkrechten Strichen,
aus gebogenen Linien, aus einer Kombination von senkrechten und ge-
bogenen Linien und endlich aus schrägen Strichen bestehen. Am meisten
kommen hier die drei letzten Gruppen zur Geltung, und da sie außerdem
am seltensten auftreten, dürften sie iu bezug auf die geometrische Form
die wichtigsten Buchstaben bilden. Werden nun nach den beiden Ge-
sichtspunkten, der Typenhöhe und der geometrischen Form, die Buch-
staben gruppiert, und wird dann die Typenhöhe als oberstes Einteilungs-
prinzip benutzt, so erhalten wir nach Messmer folgendes Büd:
L
optisch dominierende Buchstaben
(große Buchstaben)
n.
nicht dominierende Buchstaben
(kleine Buchstaben).
1) Zeitler, a. a. 0., S. 447.
2) Messmer, a. a. 0., S. 28 ff.
3) Vergl. die folgende Buchstabenzusammenstellung I.
4) Vergl. Abschnitt 2 S. 177.
14*
1.
2.
3.
k
bd
hjtlf
4.
5.
6.
w, V, y, X, z
0, e, c, a, sgpq
rin, m, u
— 204 —
Nan müssen wir allerdings bemerken, daß hier rein optische Verhältnisse
in Betracht kommen. Es fragt sich nun aber, ob beim Lesen die Buch-
staben sich auch in dieser Rangordnung ins Bewußtsein drängen. Messmer
hat hierüber Untersuchungen angestellt und gefunden , daß wohl im all-
gemeinen die Buchstaben den Grad ihres optischen Wertes auch im Er-
kennungsakte beibehalten, daß aber im einzelnen Falle optischer Wert
und Erkennungswert sich nicht decken, daß also die optisch dominie-
renden Buchstaben nicht notwendigerweise auch psychologisch bevor-
zugte sind. Er sieht die Hauptursache darin, daß der Aufmerksamkeits-
punkt im Momente der Exposition für alle Leser sich bereits in Be-
wegung befinde und daß es dann nur ein Zufall sei, ob die Bewegungs-
tendenz mehr nach dieser oder nach jener Richtung verlaufe.
3. Um die inneren Faktoren, die beim Lesen mitspielen, kennen zu
lernen, hat man vor oder während der Exposition den Bewußtseins-
zustand der Versuchsperson in bestimmter Richtung beeinflußt. Der
Zweck war, die Assimilation zu erleichtern oder in irgend einer Weise
zu henmien.
Das erste wurde durch folgende Versuche erreicht. Vor der Expo-
sition eines in einem oder in mehreren Buchstaben abgeänderten Wortes
wurde der Versuchsperson ein Wort zugerufen, das mit dem exponierten
in irgend einem associativem Zusammenhang stand, wie style, wenn
fashxon. oder son, wenn fathex exponiert war. Unter dem Einfluß des
zugerufenen Wortes wurde das exponierte Wort gelesen. Dabei wurde
der Fehler häufig übersehen , die Assimilation stellte sich also leichter
ein, als wenn das Wort ohne Associationshilfen gelesen worden wäre.
Nach der von Pillsbury ^) angeführten Tabelle dürfte sich das Verhältnis
für die Zahlen der richtig und falsch gelesenen Fälle wie 3 : 2 gestalten.
Zuweüen allerdings zeigte sich die Suggestion so stark , daß der Ge-
sichtseindruck vollkommen wirkungslos blieb und ein ganz anderes Wort
nicht nur gelesen sondern auch tatsächlich gesehen wurde. So las eine
Versuchsperson scholar und glaubte auch genau die Buchstaben des
Wortes gesehen zu haben, als vor der Exposition von teocher das asso-
ciative Wort pupil zugerufen worden war; ein anderer las unter dem
Einfluß des zugerufenen Wortes prison für Xrixoner das Wort dungeon.
Zeitler ist zu ähnlichen Resultaten gekommen, als er in stark abgeän-
derten Wörtern die Assimilation dadurch zu beeinflussen suchte, daß er
die Exposition richtiger Wörter derjenigen der falschen vorausschickte.
Auch er fand, daß die richtige Reproduktion, die Assimilation, unter
dem Zwang der Association sich leichter vollzog als ohne dieselbe.
1) Pülsbury, a. a. 0., S. 869.
— 205 —
Ging bei der Exposition einer Serie von Wörtern dem zu le-
senden, abgeänderten Worte ein inhaltlich nicht mit ihm zusammen-
hängendes Wort voraus, so zeigte das gelesene Wort oft Bestandteile
seines unmittelbaren Vorgängers. Die nachfolgenden Lesungen geben
davon ein Beispiel: ^
1. es ging voraus 2. es war exponiert 3. es wurde gelesen
whatevea whenevxer whatever
kommonly strijight straightly
outright downwark downright.
Auch die vorausgegangene Beschäftigung zeigte ihre Wirkung. Hatten
sich Pillsburys Versuchspersonen unmittelbar vor der Exposition mit
deutscher Sprache beschäftigt, so wurden vielfach englische Wörter als
deutsche gelesen (schrecklich als shredly exponiert war), ging der Ex-
position eine französische Lektüre voraus , so sah man oft englische
Wörter für französische an, wie souvenage für ovenage.
Aus alledem aber geht hervor, daß beim Lesen neben dem expo-
nierten Wort der Bewußtseinsinhalt des Lesenden eine große EoUe
spielt. Es können infolge assoziativen Zusammenhangs Wörter gelesen
werden , welche gar nicht vorhanden sind und ebenso können vom gei-
stigen Auge Wörter wirklich gesehen werden , von denen nur einzelne
Buchstaben im exponierten Wort zu finden sind.
8. Kapitel.
Interpretation der Erscheinungen.
In Kapitel 6 und 7 haben wir gesehen, daß beim Lesen von sinn-
vollen Buchstab env erbindungen , von Wörtern und Sätzen die Leseum-
fänge in immer steigendem Verhältnis wachsen. Grieichzeitig haben wir
eine Eeihe von Erscheinungen beobachtet, die darauf hindeuten, daß
äußere und innere Faktoren beim Lesen mitwirken und daß individuelle
Unterschiede sich geltend machen. Im nachfolgenden wollen wir nun
zeigen, wie diese wechselnden Umfang Verhältnisse und die mannigfachen
Erscheinungen, die man beim Lesen von sinnlosen Buchstabenverbindungen,
von Wörtern und Sätzen kennen gelernt hat, erklärt werden.
1) Bei der Exposition sinnloser Buchstabenverbindungen wurden in
der Eegel vier Buchstaben auf einmal wahrgenommen. Auch bei den
Versuchen, die Erdmann -Dodge bei einer Expositionszeit von 0,00025"
anstellten, hat sich die Zahl der simultan erfaßten Buchstaben kaum ver-
ringert. Es scheint sonach, daß wir für gewöhnlich vier Buchstaben zu
— 206 —
erfassen vermögen. D amit stimmen auch die Ergebnisse von Goldscheider-
Müller überein, nach welchen vier Striche, vier Zahlen*) auf einmal er-
kannt werden können. Auffallen aber muß, daß mit vier Buchstaben
zugleich das Maximum [des Leseumfangs für sinnlose Buchstabenverbin-
dungen nahezu erreicht ist. Erdmann - Dodge haben nachgewiesen , daß
man in der Tat 6—7 Buchstaben optisch auf einmal zu erkennen ver-
mag. Wenn nun aber trotzdem eine kleinere Anzahl von Buchstaben
gelesen wird, so kann die Ursache nicht im Gebiet der optischen Wahr-
nehmung liegen, sondern dürfte vielmehr in der zweiten Phase des
Lesens, im Hersagen der Buchstaben, zu suchen sein. Nun ist das Er-
kennen ein simultaner Vorgang, während das Hersagen sukzessiv verläuft.
Das Zeitintervall zwischen Erkennen und Hersagen eines Buchstabens
wird darum umso größer, je weiter derselbe in der Eeihe nach rechts
steht. Da nun die Buchstabenreihen weder nach innen noch nach außen
einen wirksamen assoziativen Zusammenhang haben, lassen sich die Ver-
bindungen nur schwer zusammenhalten. Sie fallen auseinander, wir ver-
gessen sie. Und ganz besonders sind es die letzten Buchstaben der ex-
ponierten Reihe , die diesem Schicksal verfallen. Die Tabellen , welche
Erdmann-Dodge in ihrem Werke geben ^), zeigen aufs deutlichste, daß
gerade die letzten Wortelemente am meisten unerkannt bleiben. Sobald
sinnlose Silben exponiert werden, wird der Umfang des Gelesenen größer,
weil nunmehr ein fester assoziativer Zusammenhang gegeben ist, der
das Auffassen, insbesondere aber das Hersagen erleichtert. Schon die
Einschaltung von Vokalen in exponierten Konsonantenreihen zeigt eine
Erweiterung des Leseumfangs , weil durch Anklänge an bekannte Silben
das Aufzählen der Buchstaben etwas erleichtert wird.
2) Wir haben oben gehört, daß beim Lesen von Wörtern der Lese-
umfang zuweilen bis 25 Buchstaben ansteigt und daß Buchstaben weit
über die Grenze des deutlichen Sehens vom Lesenden noch klar erkannt
werden können. Daraus geht hervor , daß neben dem unmittelbaren Ge-
sichtseindruck die „Reproduktion der ganzen Wort Vorstellung eine be-
deutende Rolle spielt". (Vergl. Kap. 7, 3). Es fragt sich nun aber, wie
diese Wortvorstellung hervorgerufen wird , ob das exponierte Wort als
Ganzes, in seiner Gesamt form, wirksam ist, oder ob einzelne hervor-
stechende Buchstaben schon ausreichen, die Wortvorstellung zu repro-
duzieren.
a) Cattel, Erdmann-Dodge und neuerdings auch E. Becher neigen
zur ersten Erklärung. Cattel hat seine Ansicht nicht weiter ausgeführt,
1) Siehe TabeUe VI. S. 195 und vergl. Kapitel 9.
2) KrdmaDD-Dodge, a. a. 0., S. 831.
^ 207 —
er betont nur, daß das Schriftwort als Ganzes aufgefaßt wird. Dabei
aber läßt er unklar, ob er dieses Ganze optisch, akustisch oder mo-
torisch versteht.
Ausführlicher sind Erdmann-Dodge. Nach ihnen geht alles Wort-
erkennen vom optischen Wortbild, von der Gesamtform aus. Sie ver-
stehen darunter ,,den Inbegriff der gröberen Züge eines Wortes, welche
deutlich bleiben können, auch wenn kein einzelner von den Buchstaben
erkennbar ist, die das Wort konstruieren. In weiterer Bedeutung schließt
sie alle die Einzelheiten ein, in denen die schwarze Zeichnung der Buch-
staben mit den weißen Flächen des Untergrundes konstrastiert''. Die
Verfasser machen sonach einen Unterschied zwischen einer gröbern und
einer feinem Gesamtform oder, anders gesagt, zwischen der äußern Um-
grenzungslinie und den innerhalb derselben gegebenen Buchstaben. Auf
Grund ihrer tachistoskopischen Untersuchungen, bei denen sie stets
beobachtet zu haben glaubten, daß das Wortbild simultan deutlich er-
faßt werde , schlössen sie , daß für das Erkennen lediglich die gröbere
Gesamtform in Betracht komme, daß sie allein, ohne Mithilfe der ein-
zelnen Buchstaben die Reproduktion des gesehenen Wortes auslöse. Zur
Unterstützung ihrer Behauptung machten sie folgenden Versuch. Sie ex-
ponierten Wörter in einer solchen Entfernung vom Lesenden , oder
machten bei gewöhnlicher Leseentfernung die Typen der Buchstaben so
klein, daß es vollkommen unmöglich war, einzelne Buchstaben zu be-
stimmen. Dennoch konnten sie die dargebotenen Worte etwa bis zur
Hälfte der Expositionen erkennen. Die Anschauungen Erdmann-Dodges
sind nicht ohne Widerspruch geblieben ^). Man betonte, daß die äußeren
Bedingungen, unter denen die Verfasser gearbeitet hätten, die Zuver-
lässigkeit ihrer Resultate in Frage stellten. Ein richtiges Erkennen
der Teilvorgänge sei nur bei sehr kleinen Expositionszeiten möglich, die
alle jene Faktoren ausschlössen, die zu ihrer Mitwirkung längere Zeiten
bedürften^). Auch die erwähnten Versuche, welche als wichtige Be-
weise für das simultane Erfassen ins Feld geführt werden, sind von
Zeitler ^) und neuerdings von Schumann *) stark angezweifelt worden.
E. Becher^) hat späterhin durch seine Versuche bei Funkenbeleuchtung
die Erdmann'sche Ansicht zu verteidigen gesucht. Daß wir aber auch
1) W. Wundt , Zur Kritik tachistoskopischer Versuche Philosoph. Studien XV
S. 287—317 und XVI S. 62—70.
2) Messmer, a. a. 0., S. 1.
3) Zeitler, a. a. 0.
4) Schumann, a. a. 0., S. 174,
5) E. Becher, a. a. 0., Bd. 36, S. 19,
— 208 —
bei ihm nach der kurzen Expositionszeit mit einer erheblich langen Dauer
des Bildes im Bewußtsein zu reebnen haben, hat Schumann in seinem
bereits angeführten Werke ebenfalls erwähnt.
b) Eine direkt entgegengesetzte Anschauung wird durch Gold-
scheider - Müller und Zeitler vertreten. Sie gehen von dem Gedanken
aus, daß zur Hervorbringung der Erinnerungsbilder nicht alle Teile des
Leseobjekts notwendigerweise erkannt werden müssen. Nach ihnen bilden
die determinierenden (Goldscheider-Müller) bez. die dominierenden Buch-
staben (Zeitler) die für das Erkennen der Schriftzeichen wichtigsten
äußeren Faktoren. In der Art aber, wie diese charakteristischen Buch-
staben sich wirksam erweisen, gehen die beiden Autoren auseinander.
Nach Goldscheider-Müller erwecken die determinierenden Buchstaben
die zu ihnen gehörigen phonetischen Buchstabenklangerinnerungen. Und
diese erst rufen die durch Assoziation mit ihnen verbundenen Buch-
stabenklänge, also die Buchstabenklänge der nicht dominierenden Buch-
staben und damit das vollständige Wortgebilde hervor. „Außer diesem
Vorgange scheint es uns dann vorzukommen, daß von den determinie-
renden Buchstaben aus die Wortklangerinnerung ausgelöst wird , wäh-
rend der Weg via Ergänzung des optischen Wortbildes wohl am sel-
tensten eingeschlagen wird". „Auch ein Lesen in Wortbildern kommt
vor; da mehrere Buchstaben gleichzeitig erkannt werden, so kann zu-
nächst schon ein sehr kurzes Wort sofort erkannt werden". Die Ver-
fasser verlegen sonach einen großen Teil des Leseaktes in die aku-
stische Sphäre. Es ist unzweifelhaft, daß die Wortklangerinnerung für
akustisch - motorisch veranlagte Personen nicht ohne Bedeutung ist; es
gibt sicherlich Buchstaben und Buchstabenkomplexe, die eine Wortklang-
erinnerung erwecken, aber in der Goldscheider - Müllerschen Verallge-
meinerung dürfte die Erklärung falsch sein.
Zeitler bleibt der optischen Sphäre treu. Nach ihm bilden die
Wörter gewissermaßen Reliefe, in denen die dominierenden Buchstaben
die Erhöhungen , die neutralen aber die Vertiefungen darstellen. Die
Erhöhungen, die dominierenden Buchstaben, werden zuerst erkannt ; aber
das Erkennen geschieht nicht gleichzeitig, sondern, wenn wir Zeitler
richtig verstehen , nach einer doppelten Abstufung , einmal nach der
Stellung im Wortbilde von links nach rechts und zum andern nach dem
Grade der Domination *).
1) Zeitler, a. a. 0., S. 402 „bietet sich der Apperzeption ein Hindernis in Ge-
stalt eines falschen Buchstabens, so kann der ganze Prozeß stocken. In der Unmög-
lichkeit die weiter nach rechts liegenden Wortbestandteüe richtig aufzufassen, liegt ein
klarer objektiver Beweis für die Succession". . . . „aber im Grunde reihen wir die do-
— 209 —
Neben den dominierenden Buchstaben sind es vor allem die mit
ihnen unmittelbar verbundenen Komplexe, welche sich zur Auffassung
drängen. „Diese dominierenden Elemente und Gebilde, als die bevor-
zugtesten Merkmale des Schriftzeichens, erwecken mit ihnen überein-
stimmende reproduktive Elemente".
Zeitler hat diesen ^eil des Lesevorgangs als apperzipierendes Lesen
bezeichnet. In ihm überwiegt der Einfluß der direkten Eindrücke. Die
Aufmerksamkeit ist mehr nach außen gerichtet und läßt eine gewisse
Spannung erkennen.
Diese reproduktiven Elemente rufen andere Elemente , mit denen
sie häufig verbunden waren, ins Bewußtsein; aus dem Innern heraus
treten zu den erkannten Elementen neue Elemente hinzu, „mit denen
sich die unbetonten und nur dunkel percipierten Strecken des Wort-
bildes verbinden". In diesem zweiten Teil des Leseaktes überwiegen die
sekundär reproduzierten Elemente vor den direkten. Die Aufmerksamkeit
verhält sich dem äußern Eindruck gegenüber mehr passiv. Diesen
zweiten Teilprozeß nennt Zeitler assimilierendes Lesen.
Nun lassen sich in Wirklichkeit diese beiden Teilvorgänge nicht
scharf trennen. Sie laufen vielmehr parallel, denn mit dem Erkennen
eines dominierenden Buchstabens setzt auch sofort der Assimilations-
prozeß ein.
Goldscheider - Müller und Zeitler betonen zu einseitig die Wirkung
der dominierenden Buchstaben, während sie den Einfluß der Gesamtform
vollkommen verneinen, oder ihn höchstens nur für ganz kleine Wörter
gelten lassen (Goldscheider-Müller).
c) Eine vermittelnde Stellung nimmt Messmer ein. Er unterscheidet
zunächt zwei Typen von Lesern , den objektiven und den subjektiven
Typus. Beim objektiven Leser hält sich der Aufmerksamkeitspunkt
stets in unmittelbarer Nachbarschaft des physiologischen Fixations-
punktes. Er fluktuiert nur wenig, darum ist der Aufmerksamkeits-
minierenden Komplexe ähnlich successiv aneinander, wie beim primitivsten buchstabie-
renden Lesen der Buchstaben" (403). Hier ist also von einer Aufeinanderfolge von links
nach rechts die Rede. An einer anderen Stelle (403) schreibt Zeitler: „Zuerst tauchen
die einzelnen Buchstabengruppen in verschiedener zeitlicher Abstufung auf, wofür we-
niger ihre räumliche Reihenfolge als vielmehr die Gliederung nach ihrer determinierenden
Beschaffenheit in Frage kommt". In dieser Stelle legt Zeitler wiederum mehr Gewicht
auf die Abstufung nach der Domination.
S. 404 endlich befindet sich folgende Stelle : „die beiden Componenten, auf deren
Grundlage die Succession sich aufbaut, sind :
a) die Gliederung der dominierenden Buchstaben von links nach rechts,
b) die verschiedene Höhenlage der Buchstaben im Wortbilde in der Vertikalrichtung.
— 210 —
umfang klein *). Das tachistoskopische Lesen vollzieht sich genau in der
S. 198 angegebenen Weise. Bei der ersten Exposition werden nur we-
nige Buchstaben erkannt, und erst in den folgenden Wiederholungen
wird nach und nach der ganze Buchstabenbestand gelesen. Dabei muß
jedesmal die Fixation eine neue Lage wählen. Die Aufmerksamkeit ist
beim objektiven Leser mehr nach außen gerichtet, darum ist das Er-
kannte objektiv treu. Zwischen Wahrnehmung und subjektiver Ergän-
zung vermag er genau zu unterscheiden.
Der subjektive Leser zeigt direkt umgekehrte Merkmale. Seine
Aufmerksamkeit ist nicht an den physiologischen Fixationspunkt ge-
bunden, sie kann sich weiter von diesem entfernen und über das Wort
hinwandern. Darum vermag er Buchstaben zu lesen , die weit vom
Fixationspunkt entfernt sind. Sein Aufmerksamkeitsumfang ist groß.
Er beträgt für sinnlose Buchstabenverbindungen 7, für Wörter sogar
22—25 Buchstaben. Am Tachistoskop liest der subjektive Leser in
ganzen Wörtern, ein Lesen bloßer Wortteile findet nur selten statt.
Aber dafür fehlt dem Gelesenen die objektive Treue ; nicht selten treten
falsche Lesungen ein , weil oft mehr erraten als wirklich beobachtet
wird. Die Aufmerksamkeit ist mehr nach innen gerichtet ; „der fluktuie-
rende Leser sieht und analysiert eben weniger die dargebotenen Worte,
als seinen eigenen früher erworbenen Wortschatz, mit welchem er den
ganz flüchtig aufgefaßten Eindruck des Wortbildes zu interpretieren
sucht ^)". Zwischen objektiver Wahrnehmung und subjektiver Zutat ver-
mag er nicht mit Sicherheit zu unterscheiden ^).
Was den Vorgang des Erkennens betrifft, so wirken nach Messmer
die beiden äußeren Faktoren, die Wortform und die dominierenden Buch-
staben, zusammen.
a) Wenn die Aufmerksamkeit über das Wortbild hinzieht , so
bietet sich ihr einmal die optische Gesamtform dar. Messmer hat
zum erstenmale eine genaue Definition des Begriffes Gesamtform ge-
geben. Li seinem mehrfach erwähnten Werke hat er gezeigt, daß in
die Gesamtform drei Faktoren eingehen, die Typenbreite, die Typenhöhe
und die optische Form der Typen. Die Typenbreite geht in die Wort-
1) Vergl. Tabelle VI S. 195. Er beträgt bei der Exposition sinnloser BuchsUben-
verbindungen 3 und steigt bei der Exposition von Wörtern auf 12—15 Bncbstaben an.
2) Meumann, a. a. 0., S. 253.
3) Schumann, a. a. 0., S. 169 hat die beiden Versuchspersonen, die Messmer lor
Aufstellung dieser Typen Veranlassung gaben , zu psychologischen Untersuchungen be-
nutzt. Er ist dabei zu andern Resultaten als Messmer gekommen und glaubt, daß die
Unterscheidung der Leser in objektive und subjektive Leser sich nicht aufrecht er-
balten lasse. Vgl. oben Anm. 1, S. 199.
— 211 —
länge ein. Die Typenhöhe liefert den Eindruck des schwarzen Streifens
mit dominierend-rythmisier enden Teilen. Die geometrische Form liefert
den Eindruck relativer Starrheit. Demnach ist die Gresamtform folgen-
dermaßen zu beschreiben: „Das Wortbild besteht seinem optischen Ge-
samtcharakter nach aus einem schwarzen Streifen von relativ abschätz-
barer Länge, über den einzelne rhythmisierende Gipfel dominieren und
der seinem Hauptcharakter nach aus senkrechten Strichen besteht, deren
Starrheit belebt wird durch mehr oder weniger häufige Zeichen von
gebogener Form" (33). Die Wortform kann allein schon zur Erkennung
des Wortes ausreichen. Sie wird dies um so leichter tun, je einheit-
licher sie gestaltet ist, je weniger sie Elemente besitzt, die eine Glie-
derung (dominierende Buchstaben) und Belebung (Buchstaben von rund-
lichen Formen) herbeiführen. Ein Beispiel möge das Gesagte illustrieren.
Die Wörter
wimmern , nennen , weinen ,
bestehen zumeist aus Buchstaben , die keine „individuell geometrische
Form" besitzen. Darum kommt l)ei ihnen mehr die Gesamtform zur
Geltung, und die Wörter werden simultan, auf Grund ihrer Gesamtform
erkannt. Allerdings hat die gleichförmige Konfiguration aber auch an-
drerseits wiederum den Nachteil, daß gerade die so beschaffenen Wörter
leicht Verwechselungen und Verschmelzungen ausgesetzt sind. Umge-
kehrt verhalten sich die Wörter:
physiologisch , psychologisch , philologisch.
Sie sind durch dominierende Buchstaben und Buchstaben von rundlich
geometrischen Formen gegliedert und belebt. Darum werden sie nur
analysierend , in Stücken , also successiv gelesen , aber die Lesungen
sind genau ^).
ß) Den zweiten Faktor im Erkennen des Wortbildes bilden wie gesagt
einzelne Buchstaben, die im optischen Bilde ungleich dominieren. Sie treten
sukzessiv ins Bewußtsein und zwar so, „daß zuerst die höchsten Gipfel
und dann die kleineren folgen". Nicht selten kommt es auch vor, daß
die mit den Buchstaben benachbarten Elemente ins Bewußtsein eintreten.
Dies geschieht namentlich dann , „wenn sie infolge einer individuellen
Konfiguration mit den dominierenden Buchstaben sich zu einer Gruppe
vereinigen wie sw, kt, schw etc.". Aber das prinzipielle Verfahren be-
deutet dieses letztere Lesen, das Lesen in Komplexen, nicht.
Je nach der Art des Zusammenwirkens der beiden Faktoren lassen
sich drei Erkennungsbedingungen feststellen:
1) Messmer, a. a. 0., S. 35 und Dearborn, a. a. 0., S. 51.
— 212 —
Einmal können sie beide in gleichmäßiger Weise zur Geltung kom-
men, ^das ist der günstigste Fall für die beiden Typen".
Zum andern tritt die Gesamtform allein als wirksamer Faktor
hervor, während die dominierenden Buchstaben sich aus ihr fast nicht
herauslösen. „Das ist der gewöhnliche Fall für den subjektiven Typus-.
Und drittens endlich werden in erster Linie die dominierenden Buch-
staben erkannt, aber der Gesamtcharakter tritt in seiner Wirkung zu-
rück. „Das ist der gewöhnliche Fall für den*^ objektiven Typus".
Aus der bisherigen Darstellung ergibt sich, daß die Gesamtform
des Wortes beim Lesen eine bedeutende Rolle spielt, daß aber daneben
auch einzelne Buchstaben und Buchstabenkomplexe, die dominierenden,
wirksam sind. Sie treten von allen Buchstaben zuerst ins Bewußtsein
und helfen durch Reproduktion der übrigen Wortteile die anfangs nur
dunkel perzipierten Stellen deutlich erkennen. Ob aber dabei eine Wan-
derung der Aufmerksamkeit stattfindet, wie Zeitler und Messmer an-
nehmen, dürfte fraglich sein.
E. Becher *) und Dearborn ^) haben gezeigt , daß bei einer Exposi-
tionszeit von 100 6 keinerlei Auf merksamkeits Wanderungen vorkommen.
Der erste ließ am Tachistoskop von einander entfernte Buchstaben
a b
in der Weise lesen, daß einmal der Fixationspunkt und der Aufmerk-
samkeitspunkt auf „b" fielen, während ein andermal der Fixationspunkt
in „b" verblieb und die Aufmerksamkeit sich auf „a" richtete. Es zeigte
sich dabei, daß jedesmal derjenige Buchstabe am häufigsten gelesen
wurde, auf welchem die Aufmerksamkeit ruhte, also im ersten Fall „b'^,
im zweiten Fall „a". Eine Aufmerksamkeits Wanderung fand also beide-
mal nicht statt. Denn wäre die Aufmerksamkeit gewandert, so hätten
beide Punkte jedesmal in gleich starker Anzahl gelesen werden müssen.
Dearborn hat nach seiner in Abschnitt I dargestellten Methode
Photographien von Augenbewegungen während einer Lesezeit von 100 6
hergestellt. Ausgehend von dem Gedanken, daß jede Aufmerksamkeits-
wanderung auch eine Augenbewegung nach sich ziehe, untersuchte er
die auf der Photographie gegebenen senkrechten Linien, die den Ruhe-
pausen beim Lesen entsprechen. Unter vier Versuchspersonen ließen
zwei gar keine Bewegung des Auges erkennen, zwei andere zeigten wohl
Bewegimgen, aber dieselben konnten keineswegs auf Aufmerksamkeits-
wanderongen zurückgeführt werden. Sie hingen vielmehr von der Er-
1) K. Becher, t. a. 0., S. 87 ff.
2) Dearborn, a. a. 0., 8. 64 ff.
— 213 —
müdung des Auges ab und setzten schon ein , bevor die zu lesenden
Wörter auf der Expositionsfläche erschienen.
3) Auch das Lesen der Sätze vollzieht sich in ähnlicher Weise wie
das Lesen der Wörter; nur daß hier manchmal kleinere Satzteile auf
Grund ihrer Gesamtkonfiguration erkannt werden können. Die äußere
Assoziation der Wörter und ebenso der Bedeutungszusammenhang spielen
hier eine so bedeutende Rolle , daß oft geläufige Sätze an einem Wort
erkannt werden oder aber Wörter gelesen werden, bevor sie im Gesichts-
feld erscheinen.
Es erübrigt noch in aller Kürze auf die Bedeutung der akustisch-
motorischen Eaktoren beim Lesen einzugehen. Wir haben oben bereits
erwähnt, daß nach der Anschauung Goldscheider-Müllers jeder deter-
minierende Buchstabe sein entsprechendes Klangbild auslöse. Diese An-
nahme aber haben spätere Untersuchungen nicht bestätigt. Nach Messmer
schließt sich das Klangbild eines Wortes erst an das fertige, apper-
zipierte optische Bild an und mit ihm, dem Klangbild, verläuft gleich-
zeitig das Sprachbewegungsbild. Es wäre sonach für das Erkennen
des einzelnen Wortes vollkommen bedeutungslos. Eine größere Rolle
übrigens scheint das Klangbild beim Lesen eines Satzes, oder im zu-
sammenhängenden Lesen zu spielen, wenigstens dürfte es vorkommen,
daß im Verlaufe des Lesens schon das Klangbild eines nachfolgenden
Wortes reproduziert wird.
B. Die physiologische Methode.
9. Kapitel.
Dearborns Hypothese über den inneren Leseakt M-
Die Untersuchungen nach der zweiten Methode gehen ähnlich wie
die tachistoskopischen Untersuchungen von sinnlosen Buchstabenverbin-
dungen, von Wörtern, Sätzen und Zahlenreihen aus. In der Anordnung
des Lesestoffes aber halten sie die Mitte zwischen den isolierten Dar-
bietungen der ersten und den zusanamenhängenden Reihen vieler Ver-
suche der dritten Methode ein. Dearborn hat nach kleinen Buchstaben-
(Zahlen-)gruppen immer wieder größere Lücken gelassen , so daß eine
Anordnung entstand , wie sie die nachfolgende Serie sinnloser Silben
verdeutlicht.
SEAG TUIE WERQ TIOE ERSA.
1) Dearborn, a. a. 0., S. 65 flf.
— 214 —
Diese Aufeinanderfolge ließ nur für die fixierte Gruppe eine deut-
liche Wahrnehmung zu, aber sie gestattete zugleich — und darin kommt
dieser Versuch dem normalen Lesen nahe — , den ganzen Rest der Zeile
peripherisch zu erblicken. Außerdem hob sie jede Störung durch be-
nachbarte Buchstaben, benachbarte Reihen auf. Die Untersuchungen
selbst waren doppelter Art :
1) An der Hand der gewonnenen Photographien stellte Dearbom
zunächst für jedes einzelne Leseobjekt die Dauer der Fixationspause
fest. Er machte dabei die Beobachtung, daß in sinnlosen Silbenverbin-
dungen die Dauer der Pausen, also die Dauer der Lesezeit abnahm, so-
bald die Buchstabenverbindung sich bekannten und geläufigen Wörtern
näherte. So wurden, um bei Dearborns Beispielen zu bleiben, Verbin-
dungen wie werq , enfa etc. viel leichter und schneller gelesen als die
Silbenzusammensetzungen dpiu , weao etc. Zum großen Teil ist nun
allerdings diese Kürze auf eine leichtere Sprechweise zurückzuführen.
In bezug auf die Wörter konnte Dearbom aufs neue bestätigen,
daß größere Wörter nicht notwendigerweise auch längere Lesezeiten
bedürften. Zehnbuchs tabige Wörter verlangten vielfach nicht mehr
Zeit als solche , die nur drei Buchstaben hatten. Ja zuweilen kam
es vor, daß längere Wörter in kürzeren Zeiten bewältigt wurden als
kurze.
Ganz anders zeigten sich die Verhältnisse bei den Zahlen. Einmal
beanspruchte ihr Lesen mehr Zeit als eine gleichzahlige Buchstabenreihe,
und zum andern wuchs die Dauer der Pausen (Lesezeiten) im direkten
Verhältnis mit der Vergrößerung der Gruppe. Bestand eine Gruppe
aus vier Elementen, so überstieg die Lesezeit um mehr als die Hälfte
die Zeit, die für eine dreigliedrige Gruppe notwendig war. (Mittlerer
Durchschnitt der Lesezeiten für eine viergliederige Gruppe = 955 tf, für
eine dreigliederige 452 6 S. 69).
Auf Grund der beschriebenen Erscheinungen nahm Dearbom wie-
derum an, daß die Wahrnehmung der Wörter simultan erfolge, während
die Wahrnehmung der Zahlen in sukzessiver Weise stattfinde ^). Die Ur-
sache dieser Erscheinung liegt, wie auch aus den Versuchen nach der
ersten Methode hervorgeht, in der Assoziation. In Wörtern erscheinen
die Buchstaben stets an derselben Stelle, stets in der gleichen Ver-
bindung. Darum kann sich gleich ein Gesamtbild entwickeln, das das
1) Dearbom, a. a. 0., S. 70. „This seems to justify but one conclusion, the
words are read as wholes, and the fact that there is a constantly increasing ratio
of time taken in reading the larger numbers shows that the latter are not so read. The
Innervation is split up and, as said, it is first necessary to analyse and than combine
into wholes".
I
1
- 215 —
simultane Erfassen ermöglicht. Die Zahlengruppen aber erscheinen sehr
häufig in anderer Zusammensetzung, die Gesamtinnervation wird ver-
eitelt , weil die einzelnen Elemente immer wieder in ihrer Stellung
wechseln. Mehrstellige Zahlen können darum in ihrer Gesamtheit erst
erkannt werden, wenn sie nach und nach in ihren einzelnen Ziffern
wahrgenommen sind. Zwischen beiden Extremen bewegen sich die sinn-
losen Silbenverbindungen, die je nach ihrer Buchstabenfolge bald mehr
den Zahlenreihen, bald mehr den Wörtern sich nähern^).
2. In zweiter Linie untersuchte Dearborn die kleinen Schwankungen
der Blicklinie, die sich während der Fixationspausen einstellten. Sie
waren beim Lesen zusammenhängender Stoffe nur selten zu sehen, zeigten
sich aber in größerer Anzahl beim Lesen von Zahlen. In den meisten
Fällen konnten 2 — 5 kurze, scharfe Bewegungen während einer Fixation
beobachtet werden. Nun wissen wir allerdings aus Kapitel 3, daß das
Auge nie vollkommen ruhig ist, daß es vielmehr während der Fixation
mannigfache Bewegungen ausführt, dia mit der Ermüdung des Auges
zunehmen. Wenn aber für ein und dieselbe Person unter sonst gleich-
bleibenden äußeren Umständen ein so bedeutender Unterschied in der
Fixationssch wankung hervortritt, wie er beim Lesen von Wörtern und
Zahlen sich geltend macht , so dürfte doch daraus folgen , daß beide in
durchaus verschiedener Weise gelesen werden^).
Beim Lesen bekannter Wörter und Sätze bleibt das Auge ruhig, die
Aufmerksamkeit ist über das ganze Gebiet verteilt, und die Wahrneh-
mung erfolgt simultan. Beim Lesen von Zahlen bewegt sich, das Auge
vor- und rückwärts, die Aufmerksamkeit umfaßt nur einen kleinen Raum
und ist gezwungen, das ganze Gebiet zu durchwandern.
Dearborn unterscheidet demnach zwischen Verteilung und Schwanken
der Aufmerksamkeit. Eine Verteilung der Aufmerksamkeit und dem-
gemäß ein simultanes Erfassen ist überall da vorhanden, wo die einzelnen
1) Dearborn, a. a. 0., S. 71. „Groups of numerals (except in the case of familiär
dates. as 1905, which are exceptions that prove the rule) are so seldom made up of
the same series of digits that they never acquire a „Gesamtbild", and are therefore
recognized as totals only after a successive perception of the digits has taken place.
The case is exactly similar in the reading of groups or lines of consonants ; where
vowels are added as in nonsense words , the span of attention is somewhat widened by
the occasional recognition of a familiär syllable".
2) Dearborn, a. a. 0., S. 71 : „These differences (in der P'ixationssch wankung) appear
in the reading of numerals only because the process of perception in the latter case is
materially different from that which takes place in the reading of words. In reading^
groups of three or more numerals the process of innervation is broken into smaller di-
visions ; in the reading of familiär words and phrases , it is a unit coextensive with the
whole immediate area of the fixation".
— 216 —
Elemente in inniger assoziativer Verbindung stehen, während ein Auf-
merksamkeitsschwanken und sohin ein sukzessives Lesen überall da statt-
findet, wo zwischen den einzelnen Elementen eine assoziative Verbindung
fehlt oder wenigstens für den betreffenden Leser nicht vorhanden ist
(fremdsprachliches, unbekanntes Wort)*).
Dies scheint jedoch in vollem Umfang nur für den schnellen Leser
zu gelten, der, wie wir gehört haben, einen großen Aufmerksamkeits-
umfang besitzt und darum wohl meistens in ganzen Wörtern liest, für
den langsamen Leser dagegen bildet sehr oft die Einheit die Silbe, also
nur ein kleinerer Wortteil.
Die beiden Untersuchungen Dearboms führen zum gleichen Resul-
tate. Beidemal ergibt sich, daß je nach dem assoziativen Zusammenhang
der Leseelemente ein simultanes oder sukzessives Erkennen erfolgt.
Simultan werden bekannte Wörter gelesen, weil ihre Teile asso-
ziativ zusammenhängen; successiv werden Zahlengruppen erfaßt, weil
die Ziffern in stets wechselnder Anordnung sich finden. Von einem
simultan-successiven Lesen könnte man beim Lesen von Buchstaben-
verbindungen, von Silben und fremden Wörtern sprechen, weil hier der
assoziative Zusammenhang nur bis zu bekannten Silben ansteigt, weil
nicht das ganze Objekt, sondern nur ein Teil desselben auf einmal in
unser Bewußtsein eintritt.
Diese Gesetzmäßigkeit erfährt nun insofern eine Einschränkung, als
schnelle Leser auch größere Wörter simultan zu erfassen vermögen,
während langsame Leser nur kleinere Wortteile auf einmal erkennen*).
1) Dearborn, a. a. 0.: „The question of the distribution or fluctuation of attention
simply resolves then into one of the success or failure in forming unitary groups" (S. 72).
„The general conclusion is that there is strictly no such thing as a distribution of atten-
tion to disparate and unassociated things, and that such distribution is a psychological
and logical impossibüity. When things are isolated in association there is a finctaation
of attention between them. "W'hen by means of the many tricks of association they
are groaped into a conscious unity, this fluctuation is no longer necessary" (S. 73).
2) Es wäre interessant zu erfahren, ob nicht der Charakter der Wortform (versl.
Messmers Definition) die von Dearborn gefundene Gesetzmäßigkeit gleichfalls l)eeintriuh-
tigt, ob nicht Wörter mit einfacher Gesamtform andere Ergebnisse liefern wie solche,
bei denen dominierende Buchstaben und Buchstaben von rundlich geometrischen Formen
die Gesamtform gliedern und beleben. Dearboms Beobachtungen führten zu einem ne-
gativen Ergebnis. (Vergl. Dearborn, a. a. 0., S. 51.)
217
C. Methoden, welche von Zeitmessungen ausgehen.
10. Kapitel.
Allgemeines.
Die dritte Methode oder, besser gesagt, die dritte Gruppe von Me-
thoden sucht die psychologischen Vorgänge dadurch zu beleuchten, daß
sie Zeitmessungen ausführt. Dieselben können dreierlei Art sein.
Zunächst läßt sich bestimmen, wie lange man braucht, um Buch-
staben und Wörter zu 1 e s e n, wenn sie im Zusammenhang gegeben
sind. Diese Untersuchungen schließen sich an gewöhnliche Texte an
und lassen sich in mannigfacher "Weise, unter starker Variation der
äußeren Verhältnisse ausführen.
Sodann kann die Zeit gemessen werden, welche man braucht, um
einzelne Buchstaben oder einzelne Wörter zu erkennen. Dabei wird
gewöhnlich in der Weise verfahren , daß die Versuchsperson auf einen
Buchstaben- oder einen Wortreiz mit einer Hand- oder Lippenbewegung
reagiert. Durch eine geeignete Vorrichtung wird dann die Zeit vom
Beginn des Reizes bis zum Beginn der reagierenden Bewegung gemessen.
Sie heißt Reaktionszeit. Hierher zählen auch die Versuche, welche
Teilvorgänge der Reaktion, die einfache Reaktionszeit, die Unterschei-
dungs- und die Wahlzeit, messen.
In dritter Linie endlich kann die kleinste Expositionszeit
für ein Schrift zeichen ermittelt werden. Man versteht darunter die-
jenige Zeit, die ein Buchstaben- oder ein Wortreiz wirken muß, um er-
kannt zu werden. Grewöhnlich beginnt man dabei mit sehr kurzen Ex-
positionszeiten und variiert dieselben solange, bis das Objekt in seinem
ganzen Umfange erkannt wird.
Diesen Methoden wollen wir auch noch diejenigen Messungen bei-
zählen, welche bei festgehaltener Zeit bestimmen, wie oft in einer Reihe
von Versuchen ein Buchstabe oder ein Wort erkannt wird. Formell
schließen sich diese Versuche mehr an die Methode A an, aber in ihren
Ergebnissen rücken sie den „C-Methoden" näher.
Es läge nun nahe, die folgende Darstellung nach den verschiedenen
Versuchsreihen zu gliedern. Indes es erscheint vorteilhafter, mehr nach
den Aufgaben, denen diese Versuche dienen, die Behandlung einzurichten.
In einem 1. Kapitel (Kap. 11) haben wir sonach von den Versuchen
zu berichten , welche die Zeit bestimmen , die man braucht , um Buch-
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 15
— 218 —
staben nnd Wörter zu lesen oder zn erkennen (Lese- and Reaktionszeit).
Sie wollen durch Festlegung der Zeiten einen tiefern Einblick in den
innem Lesevorgang vermitteln.
Eine zweite Gruppe umschließt Versuche, welche außerhalb unseres
Körpers liegende Faktoren, die beim Lesen eine Rolle spielen, beleuchten.
Sie suchen günstigere Lesebedingungen zu erforschen und dienen somit
praktischen Zwecken.
Zu einer dritten Gruppe endlich gehören Versuche, welche indivi-
duelle Unterschiede beim Lesen zu ermitteln suchen. Huey *) und Quantz ^)
haben nach dieser Richtung geforscht ; aber ihre Resultate sind unsicher^).
Wir haben darum von einer Besprechung desselben abgesehen und wollen
hier nur erwähnen, daß nach Quantz Personen von visuellem Typus ein
wenig rascher als solche von akustischem Typus lesen und femer, daß
die ausgesprochenen Vertreter dieser Typen im Erfassen der Leseobjekte
oft gehemmt werden, wenn beide Sinne, also Auge und Ohr zusammen-
wirken, wie es beim eignen lauten Lesen geschieht.
11. Kapitel.
Lese- und Reaktionszeit.
Die Messungen, welche man unternommen hat, um die Zeitdauer des
Lesegangs zu bestimmen, gehen in der Hauptsache auf Cattell*) und
Erdmann-Dodge '^) zurück. Sie lassen sich, wie wir oben gehört haben,
nach drei Richtungen ausführen.
1. Zunächst wurde die Zeit gemessen , die man zum Erkennen und
Benennen der Schrift zeichen braucht und die man gemeinhin als Lesezeit
bezeichnen könnte. Man ging dabei von bestimmten mutter- oder fremd-
sprachlichen Texten aus. Cattell und Messmer^) ließen jedesmal 100 oder
500 Buchstaben und Wörter in normaler und schneller Weise lesen.
1) a. a. 0.
2) J. 0. Quantz, Problems in the Psychology of Reading. The Psychological Review.
2, 8. 1—60.
8) Schumann, a. a. 0., S. 160.
4) a) .1. M. K. Cattell, Über die Zeit der Erkennung und Benennung der Schrift-
zeichen etc. Wundt, Philos. Studien, II, S. 635 fr.
b) J. M. K. Cattell, Über die Trägheit der Netzhaut und des Sehzentrums. Wundt,
Philos. Studien, III, S. 94—127.
c) J. M. K. Cattell, Psychometrische Untersuchungen. Wundt, Philos. Studien, III
S. 305—385 u. 452—485.
5) Erdmann-Dodge, a. a. C, Kapitel 9, 10 u. 11.
6) Messmer, a. a. 0., S. 79 ff.
— 219 —
Las man wie gewöhnlich von links nach rechts, so waren Buchstaben
und Wörter in sinnvollem Zusammenhang gegeben; um sie beide auch
in sinnloser Aneinanderreihung zu bekommen, wurde die gleiche Anzahl
der Schriftzeichen von rechts nach links, also rückwärts gelesen. Die
Versuchspersonen gewöhnten sich rasch an die anfangs fremdartige Lese-
weise. Mit Hilfe eines Taschenchronoskops bestimmten die beiden Forscher
zuerst die Gresamtlesedauer und berechneten aus ihr die durchschnittliche
Zeit, die zum Erkennen und Benennen eines Buchstabens oder eines
Wortes nötig ist. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die so gewon-
nenen Werte hinter den wirklichen Zeitgrößen zurückstehen, da das Aus-
sprechen eines Schriftzeichens noch in die Wahrnehmung des nächstfol-
genden hineinreicht.
Die Versuche ergaben zunächst, daß sinnvolle Buchstaben Verbin-
dungen (Wörter) und sinnvolle Wortverbindungen (Sätze) in viel kür-
zerer Zeit gelesen werden als Buchstaben, die keine Wörter und Wörter,
die keine Sätze bilden. Dieser Unterschied tritt namentlich beim ge-
übten Leser hervor, der zum Vorwärtslesen nur etwa die Hälfte der
Zeit beansprucht, die zum Bückwärtslesen nötig ist. Gewiß spielt dabei
die Grewohnheit, von links nach rechts zu lesen, eine Rolle, aber die
Hauptursache dieser Verschiedenheit liegt oiFenbar darin, daß der Sinn
die Schnelligkeit des Lesens bedeutend fördert. Darum ist auch der
Unterschied geringer beim Lesen der Anfänger und geringer, wenn völlig
unbekannte oder fremdsprachliche Stoffe gelesen werden. Ein anderes
Ergebnis bezieht sich auf Buchstaben- und Wortlesen. Cattel fand, daß
die Zeit des Erkennens und Aussprechens für Buchstaben ein wenig,
aber nicht beträchtlich kürzer sei als für Wörter. Messmer konnte sogar
feststellen, daß bei geübten Lesern die Buchstabenzeiten die Wortzeiten
bedeutend überragten. Mag dem nun sein, wie es will, eines steht wohl
fest, daß die Wörter im allgemeinen keine höhere Zeitdauer zum Lesen
verlangen als die Buchstaben. Ob aber darum die Folgerung Cattels,
daß die Wörter als Ganzes, also simultan gelesen werden, in dieser All-
gemeinheit richtig ist, darf nach den Untersuchungen am Tachistoskop
bezweifelt werden. Auch dieses Ergebnis ist nur in seinem vollen Um-
fang für den geübten Leser gültig, „für den Anfänger im Lesen sind
die Buchstabenzeiten meistens kleiner als die Wortzeiten".
Als letztes für uns wichtiges Ergebnis möge noch angeführt werden,
daß die Zeiten zum Erkennen und Benennen der Schriftzeichen größer
sind, wenn längere (500 Buchstaben bez. Wörter) als wenn kürzere
Stellen (100 Buchstaben bez. Wörter) gelesen werden. Dieser Einfluß
der Ermüdung macht sich insbesondere beim schnellen Lesen und beson-
ders beim Lesen von Buchstaben bemerkbar. Er tritt weniger scharf
15*
— -220 —
beim normalen Lesen hervor. Messmer hat sogar nachweisen können,
daß sich bei manchen Personen eine Verminderung der Zeitwerte ein-
stellte, wenn sie die längeren Texte lasen. Er schloß daraus, daß für
fortgeschrittene Leser sich beim normalen Lesen Ermüdung und Übung
(darunter versteht er alle günstigen Momente, welche eine kürzere Lese-
zeit verursachen) die Wage hielten.
2. Die zweite Grappe von Messungen bezieht sich auf die Reaktions-
zeit, also die Zeit, die notwendig ist, um Buchstaben und Wörter zu
erkennen. Die zur Aussprache erforderliche Zeit ist dabei nicht in
Betracht gezogen. Bei diesen Versuchen hat sich gezeigt, daß vierbuch-
stabige Wörter eine etwas geringere Zeit beanspruchen als Buchstaben
und daß mit der Verlängerung der Wörter die Erkennungszeiten um
geringe Beträge zunehmen. Auffallend ist namentlich das erste Ergebnis.
Es beruht darauf, daß bei Wörtern zwischen Vorstellung und Name eine
innigere Beziehung besteht als bei Buchstaben. Und darum, so folgern
Erdmann-Dodge, kann das Wortlesen in keinem Sinne buchstabierend er-
folgen. Die Zeitverschiebungen mit der Verlängerung der Wörter sind auf
zunehmende motorische und sensorische Komplikationen zurückzuführen.
3. Auf die Untersuchungen Cattells über einfache Reaktionszeit.
Unterscheidungs- und Wahlzeit wollen wir hier nicht näher eingehen.
Sie sind von Erdmann-Dodge in einem längeren Abschnitte (Kap. 9 u. 1<»)
eingehend erörtert worden.
12. Kapitel.
Praktische Fragen des Leseproblems ^).
Wie in Kapitel 10 bereits erwähnt wurde, sollen im nachfolgenden
alle Versuche behandelt werden, welche sich mehr der Lösung prak-
tischer Fragen des Leseproblems zuwenden. Welche Typen am leich-
testen zu lesen sind, welche Druckanordnung die günstigsten Lesebedin-
gungen bietet, welche Beleuchtung, welches Papier am wenigsten er-
müdend wirkt, auf alle die Punkte hat man eine Antwort zu geben
versucht.
Die Buchstabentypen sind verschieden nach ihrer Struktur, nach
ihrer Größe und nach der Dicke der sie zußammensetzenden Linien. Sie
1) a. J. M. K. Cattell, Über die Trägheit der Netzhaut und des Sehzentrums. Wundt,
Philosoph. Studien, II, S. 107 ff.
b. II. Qrifflng and B. Franz, Conditions ofFatique in Reading. The Psych. Review,
8, 1896, 8. 618—630.
c. Messmer, a. a. 0., S. 84. 86.
I
— 221 —
sind umso leichter zu lesen, je einfacher sie gestaltet sind, je weniger
Verzierungen sie zeigen. Darum sind die deutschen Buchstaben weniger
vorteilhaft als die lateinischen und die großen deutschen Buchstaben
wiederum weniger empfehlenswert als die kleinen. Aber auch innerhalb
eines und desselben Alphabetes sind die Buchstaben nicht alle gleich
gut zu lesen. Cattell hat nach dieser Richtung die verschiedenen Buch-
staben des Alphabets untersucht. Er benützte zu dem Zwecke sein
Fallchronoskop , exponierte darin die Buchstaben in wechselnder Folge
für sehr kurze Zeiten (0,75 — 1,25 (?) und stellte fest, wie oft in einer
Reihe von Versuchen ein Buchstabe erkannt werden konnte. Dabei
machte sich für die einzelnen Zeichen ein bedeutender Unterschied geltend.
So wurden unter 270 Versuchen W = 241 mal, E aber nur 63 mal richtig
erkannt. Und ähnlich ist das Verhältnis für die kleinen Buchstaben,
wo unter 100 Versuchen „d" = 87 mal, s aber nur 28 mal sicher gelesen
wurden. Für viele Buchstaben liegt diese schwere Lesbarkeit in ihrer
Ähnlichkeit mit andern begründet, wodurch leicht Verwechslungen ent-
stehen, wie bei X und IST, J und F, Q und 0, G und C, V und Y, F
und E, oder bei i, j, t und 1; bei c und e, h und b, u und n und vielen
andern. Die Lesbarkeit der einzelnen Buchstaben stellt sich nach dieser
Untersuchung in folgender Ordnung dar.
1. G-roße Buchstaben:
W, Z, M, D, H, K, N, H, A, Y, 0, G, L, Q, I, S, C, T, R, P, B, V,
F, U, J, E.
2. Kleine Buchstaben:
d, k, m, q, h, b, p, w, u, 1, j, t, v, z, r, o, f, n, a, x, y, e, i, g, c, s.
Um sicheres Erkennen der Buchstaben zu fördern , macht Javal ^) ver-
schiedene Abänderungsvorschläge, die in der Hauptsache die obere Hälfte
der Buchstaben betreffen, und zwar deshalb, weil das lesende Auge gerade
diese Stellen beim Durchwandern der Zeilen passiert. Den Einfluß der
Typengröße haben Griffing und Franz nach drei Richtungen geprüft.
Sie ließen Stellen , die in großen und kleinen Typen (1,8 mm bez.
0,9 mm Höhe) gedruckt waren, mit größter Geschwindigkeit lesen. Dabei
zeigte sich, daß die großen Typen nur etwa 7io der Zeit verlangten,
die zum Lesen des kleintypigen Textes nötig war. Noch schärfer kam
der Vorteil der großen Typen in den beiden andern Versuchsreihen
zur Geltung, von denen die eine eine Wiederholung oder, besser gesagt,
eine Ergänzung der soeben erwähnten Cattelschen Versuche darstellte,
während die andere für jedes Wort die kleinste Expositionszeit er-
1) E. Javal-F. Haas, a. a. 0., S. 201 ff.
— 222 —
mittelte. Die letztere betrug für breitere Typen (1,6 mm) 1,5 <y, für schmälere
(0,8 mm) 2 <y, so daß das gegenseitige Verhältnis der notwendigen ge-
ringsten Expositionszeiten lür die beiden Typen sich wie 3 : 4 gestaltete.
Auch die Breite, die Dicke der Buchstabenstriche macht sich beim Lesen
bemerkbar. Fettgedruckte Buchstaben sind bis zu einer gewissen Grenze
viel leichter als Buchstaben mit dünnen Linien zu lesen. Doch vermögen
selbst zahlreiche Haarstriche, die sich zwischen dicken, breiten Strichen
im Buchstaben finden, die Lesegeschwindigkeit kaum zu beeinflussen.
Über die vorteilhafteste Anordnung der Buchstaben und Wörter hat
Huey Untersuchungen mit sinnlosen und sinnvollen Lesestoffen angestellt.
Er hat dabei gefunden, daß für sinnvolle Stellen die horizontale Anord-
nung in allen Fällen die geeignetere ist. Doch würde eine etwas größere
Buchstabenentfernung einen leichten Vorteil bewirken^).
Bezüglich der Beleuchtung sei bemerkt, daß Intensitätsänderungen,
wie sie beim Tageslicht vorkommen , für die Lesetätigkeit vollkommen
belanglos sind. Sinkt jedoch die Beleuchtung unter drei Kerzenmeter,
80 macht sich rasch eine negative Einwirkung bemerkbar.
Unter den künstlichen Lichtsorten ist das weiße Licht entschieden
vorzuziehen. Damit hängt aufs engste zusammen, daß weißes Papier
eine vorteilhaftere Wirkung ausübt als braunes, graues oder gelbes. Die
letzteren Papiersorten absorbieren zudem einen Teil der Lichtstrahlen
und beeinträchtigen somit eine günstige Beleuchtung.
Javal *) ist in diesem Punkte anderer Meinung. Er verlangt gerade
gelbes Papier in der Farbe der Holzpapiermasse (ein Gelb, das aus der
Abwesenheit der blauen und violetten Strahlen entsteht), weil der
Kontrast, der durch die schwarzen Buchstaben auf weißem Grunde ent-
steht, für die Augen nachteilig wirke.
D.
13. Kapitel.
Das Lesen des Kindes ^).
Die psychologischen Untersuchungen über das Lesen beziehen sich
großenteils auf Erwachsene. Erst in den letzten Jahren hat man be-
gonnen, auch dem Lesen des Kindes eine größere Aufmerksamkeit zu
1) Oriffing and Franz, a. a. 0., S. 525.
2) Javal, a.a.O., S. 201.
8) a) Mcssmer, a. a. O. S. 20 ff.
b) Dearborn, a. a. 0., S. 96.
c) Meumann, a. a. 0., S. 254 ff.
— 223 —
schenken. So lückenhaft die gewonnenen Resultate auch sind, so zeigen
sie doch, daß das Lesen des Kindes in vieler Beziehung von demjenigen
des Erwachsenen abweicht.
Granz besonders tritt dieser Unterschied bei Anfängern, also bei
Kindern des zweiten und dritten Schuljahres zu Tage. Ihr Aufmerk-
samkeitsumfang ist eng, darum sind die Augenbewegungen klein, aber
die Zahl der Eixationen ist groß. Von einem simultanen Erfassen des
ganzen Wortbildes kann bei ihnen keine Rede sein. Sie lesen vielmehr
Buchstabe um Buchstabe, sprechen Laut um Laut. Ihr Lesen erfolgt,
nach Messmer und Meumann, in optisch und entsprechend in lautmotorisch
geteilten Innervationen. Damit hängt aufs engste zusammen, daß das
Kind beim Lesen eines zusammenhängenden, seinem Verständnis ange-
paßten Abschnittes eine viel größere Zeit beansprucht als Erwachsene.
Auffallend aber ist, daß sich die Zeit zum Erkennen xmd Benennen eines
Wortes wesentlich vermindert, wenn das Kind längere Abschnitte in
normaler Weise liest, eine Erscheinung, die wir bei Erwachsenen nur
teilweise beobachten konnten. Es scheint sonach, daß die Übung, welche
das Eand beim Lesen längerer Stellen erwirbt, die Müdigkeitserschei-
nungen vollkommen beseitigt. Aus diesem Buchstabenlesen des Anfän-
gers erklärt es sich ferner, daß das Kind die Buchstaben in kürzerer
Zeit als die Wörter liest, daß bei ihm das Lesen sinnloser Texte dem
Lesen sinnvoller Texte nahesteht und endlich, daß der Anfänger beim
raschen Lesen das schnellste Tempo am Anfang entwickelt, aber später-
hin unberechenbare Schwankungen zeigt.
Mit fortschreitendem Alter kommt das Kind immer mehr dem Lese-
typus des Erwachsenen nahe. Die Augenbewegungen werden ausge-
dehnter, die Zahl der Fixationen wird geringer und die Aufmerksamkeit
spannt sich über ein weiteres Grebiet. Das Buchstabenlesen tritt immer
mehr hinter dem Lesen in Worteinheiten zurück, und schon vom 11. Jahre
ab scheint das buchstabierende Lesen bei guten Schülern nicht mehr
aufzutreten. Während also der Anfänger noch in geteilten Innervationen
liest, vermag der Geübte mehr inGresamtinnervationen zu lesen, also
in einem psychischen Akte ein Wortbild optisch und akustisch-motorisch
zu erfassen.
Immerhin lassen sich auch zwischen dem Lesen des geübten Kindes
und dem des Erwachsenen manche Verschiedenheiten bemerken.
1. Einmal treten beim Kinde individuelle Unterschiede weniger
hervor. Die meisten Kinder stehen in ihrem Lesen dem subjektiven
Typus ^) nahe. Objektive Leser sind selten. Die Kinder haben einen
1) Vergl. Kap. 8, 2 c.
— 224 —
weiten Anfmerksamkeitsumfang und vermögen in sinnlosen ßuchstaben-
verbindungen 4 — 7, in Wörtern 13 — 18 Buchstaben bei einer Fixation
zu erfassen. Am Tachistoskop lesen sie meistens in Wörtern, bedürfen
aber, da sie lange auf einem vermeintlichen Wortbilde verharren, oft
eine lange Reihe von Expositionen, um ein ihrem Sprachschatz entnom-
menes Wort in allen seinen Teilen zu erkennen.
2. Die Ursache dieser Erscheinung liegt nicht in einer nach innen
gerichteten Aufmerksamkeit ^), sondern darin , daß dem Kinde nur eine
geringe Beobachtungsschärfe zukommt und daß sein Wortschatz nur
klein und wenig mobil ist.
3. Auch Augenbewegungen und Fixation sind zwischen Erwach-
senen und geübten Kindern verschieden. So scheinen die Augenbewe-
gungen in ihrer Ausdehnung viel stärker zu schwanken und reicher an
rückläufigen Bewegungen zu sein. Die Fixationen treten oft über die
Reihen hinaus und zeigen in ihrer Dauer größere Verschiedenheit.
1) Vergl. Kap. 8, 2 c.
— 225 —
Pädagogik und Psychologie der Mathematik.
Von Dr. Theodor Lessing.
Privatdozent der Philosophie und Pädagogik in Hannover.
Durch unser Schal- und Bildungwesen klafft ein Zwiespalt, der
vielen Schulmännern in der Natur menschlichen Wissens oder mensch-
licher Seele begründet zu sein scheint: der Unterschied zwischen „hu-
manistischer" und „realistischer" Bildung! —
Wenn man Gegenstände des Unterrichts in „Wissenschaften des
Geistes" und „Wissenschaften der Natur" sauber einteilt, dann glaubt
man wohl, „über das Wesen aller Bildung" Klarheit zu besitzen. In
Wirklichkeit aber hält man an einem alten Vorurteil fest, welches aus
zufälligen historischen Konstellationen sich entwickelte. Man setzt bei
der Unterscheidung von Gymnasium und Eealschule eine begriffliche
Tradition voraus, die erkenntniskritischer Analyse nicht im mindesten
standhält. . . . Als „realistische" Unterrichtsfächer bezeichnete die neue
Schulpraxis alle das, „was fürs Leben nützlich ist". Die Ausbildung
der alten Klassiker- und Gelehrtenschule, in deren Mittelpunkt formal
die lateinische Sprache, inhaltlich die Überlieferung griechischer
Schriftsteller stand, erwies sich für die völlig veränderten wirtschaftlich-
technischen Bedingungen modernen Lebens als unzweckmäßig und
veraltet. — ,.Real", „aktuell" aber heißt man, was just für den Augen-
blick nützlich und notwendig scheint, ohne daß darum im mindesten
Gewähr gegeben ist, daß etwa die „moderne Entwickelungslehre" we-
niger „Scholastik" oder weniger „Ideologie" enthält, als irgend ein
klassischer Autor des Altertums. Der Unterschied von Humanismus und
Realismus ist in der Schulpraxis der Gegenwart somit in zahllosen
Fällen nichts anderes, als ein Unterschied von Unnötigem und (mo-
mentan) Nützlichem. Das Unnötige erhält seine Würde für die-
jenigen, die es noch nicht entbehren gelernt haben, dadurch daß man
es mit den schönen Worten „Ideal" und „Idealismus" ausschmückt. Der
Kampf der Eealschulmänner gegen die Anhänger der „gymnasialen
Bildung" scheint manchmal ein Kampf der Utilitarier gegen die Idea-
listen zu sein! In Wahrheit aber ist der ganze Streit ein rein histo-
risches Faktum! Man sucht es gedanklich zu rechtfertigen durch
scheinbare „Prinzipien", hinter denen garnichts gesacht werden darf,
als Mangel philosophischen Denkens und psychologischer Erfahrung.
. . Dies soll im folgenden an einem Gebiete dar getan werden, das mitten
inne steht zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, an der
Mathematik, deren Wesen unendlich verkannt wird, wenn man die
gleiche geistige Konstitution, die für die Entwickelung der Natur-
— 226 —
Wissenschaft entscheidend ist, auch auf die mathematische, aller Er-
fahrbarkeit weit entrückte Forschung übertragen will. Die Wort-
verbindung „Naturwissenschaft und Mathematik" gehört zu jenen ge-
dankenlosen „Unds" über die Nietzsche weidlich spottet! Aber die
Redewendung „Schiller und Göthe", „Beethoven und Mozart" erscheint
im Zusammenhange deutscher Kultur ungleich begründeter, als die
völlig absurde unpsychologische Heiratsstiftung zwischen
den beiden Begriffen „Naturwissenschaft" und „Mathe-
matik". Solange diese höchst ungleiche Ehe nicht geschieden wird,
kann die moderne Schulreform nicht zur Klarheit kommen. Es scheint
mir schon viel erreicht, wenn ich mit den folgenden vorläufigen Er-
wägungen einsichtige Pädagogen stutzig machen und zu der Überlegung
verleiten kann, ob denn wirklich die Verbindung zwischen Naturwissen-
schaft und Mathematik, die beute überall naiv hingenommen wird, für
ewige Zeiten unlösbar sei, ob es denn wirklich klug und zweckmäßig
ist, den Schnitt zwischen zwei verschiedenen Typen der Ausbildung und
Didaktik just so zu legen, daß Mathematik und Naturwissenschaft auf
die eine Seite, Sprachen, Literatur und Geschichte auf die andere Seite
fallen.
2.
Blicken wir einen Augenblick rückwärts, um uns zu vergewissern,
wie denn eigentlich diese falsche Zweiteilung der Wissensfächer, an der
wir kranken, entstanden ist. Die letzten 50 Jahre des 19. Jahrhunderts
waren von einem naturwissenschaftlichen Taumel beherrscht! Die Natur-
wissenschaft, (und zwar nicht die reine Naturwissenschaft im Sinne
Kants, sondern Naturwissenschaft in ihrer Anwendung auf mensch-
liche Wohlfahrt und menschlichen Naturfortschritt), zog alle Interessen
des Geistes in ihre Dienste. Gerade diejenigen Wissenschaften, die
sich mit Vorliebe als „Geisteswissenschaften" bezeichnen, wie die Sprach-
forschung oder die Geschichte koquettieren seither aufs eifrigste mit
der sogenannten „naturwissenschaftlichen Methode".
„Tatsache" und „Erfahrung" sind seit dreißig Jahren die Lieblings-
worte aller lesenden und schreibenden Männer und Frauen. Ja, manche
Wissenschaft, die in dem beliebten Gegenspiel von Natur und Geist auf
die Seite des Geistes gestellt wird, wie zum Beispiel die Psychologie
oder die Soziologie, würde doch andererseits sehr beleidigt tun, wenn man
sie heute nicht als besondere Art von Erfahrung — Tatsachen — Natur
— Wissenschaft respektieren wollte. Am schlimmsten in dieser all-
gemeinen Begriffsunklarheit scheint die Lage der Mathematik. Da selbst
der unkritischste Kopf nicht darauf verfallt, in der heutigen Mathematik
„ Erfahrung s Wissenschaft" zu suchen, so sucht man die festgehaltene
— 227 —
Verbindung zwischen Mathematik und Naturwissenschaft nicht aus dem
Wesen der Mathematik zu rechtfertigen, sondern aus ihren Effekten,
aus der Nützlichkeit für die moderne Naturforschung, als „angewandte"
Mathematik. Damit aber bringt man zwei ganz verschiedene Ein-
teilungsprinzipien durcheinander. Bei den sogenannten Natur-
wissenschaften, die auf den Worten „Erfahrung", „Empirie", „Konkret-
heit", „Sinnlichkeit", „Anschauung" herumreiten, hat man die eigne
Natur des Wissensgebietes selber vor Augen. Indem man ihnen aber
die Mathematik zugesellt, blickt man viel weniger auf das Eigen-
wesen der Mathematik hin, als auf ihre Erfolge und Nützlichkeiten im
Dienste von Prinzipien, die der mathematischen Forschung selber ganz
ferne stehen. Es war die Tat der (für die Form des ganzen natur-
wissenschaftlichen Unterrichts, ja für die ganze moderne Pädagogik in
Deutschland und speziell in Preußen ungemein einflußreichen) Göttinger
Mathematikerschule, daß überall angewandte Mathematik in den Vorder-
grund trat, während doch grade von den großen Mathematikern dieser
Schule die Erforschung der nichteuklidischen Verhältnisse im dreidimen-
sionalen Eaum, die Begründung der elliptischen Geometrie und damit
eine neue Wertung vom „Wesen" der Mathematik vor mehr als einem
Menschenalter ausging.
Es handelt sich hier nicht um die mathematische Bedeutung des
Lebenswerkes von Felix Klein. Sie gehört der Geschichte menschlichen
Erkennens für alle Zeiten an. Aber es ist ja nichts gegen die Größe
Leibnizeus, gegen Hallers Größe nichts gesagt, wenn jemand etwa die
Überzeugung äußert, daß die schulpolitische Wirksamkeit dieser beiden
anderen unsterblichen hannoverschen Organisatoren kein Glück für
deutsche „Kultur" gewesen ist. Erziehungswesen und Wissenschaft,
seelische Kultur der Deutschen und Geistesleistung auf deutschen
Schulen, das ist Zweierlei, — mag auch immer das eine die Funktion
des andern sein. — Von Göttingen aus entfaltete sich unsere theore-
tische Paschawirtschaft ! Wenn aber die autorative Sanktion eines in
seiner Art noch so ehrwürdigen, noch so großen Mannes die päda-
gogische Theorie zum Monopol der Gruppe, die praktische Besetzung
aller, für deutsche Kultur entscheidender Professuren der rein geistigen
und theoretischen Fächer zum Privileg engumgrenzter Schulen macht,
dann ist um so notwendiger, ist es um so mehr an der Zeit, daß Männer
leben, die um jeden Preis Unabhängigkeit wahren, und auch ehrfürchtig
Widerstand leisten, wo schlechterdings keine noch so gerechtfertigte
Fachautorität entscheiden darf.
Erziehungswesen, Kunst, Philosophie, das sind die großen sozialen
— 228 —
Angelegenheiten. Das sind Angelegenheiten der Kultur, nicht aber eines
Kreises von Fachmännern. Alle „Philosophie" insbesondere ist Sache
der „Taf^, der gesamten Weltgesinnung und Lebenshaltung, nicht aber
theoretisches Übungsfeld intellektueller Gymnastik unserer speziellen
theoretischen Schulprobleme. Wir weben nicht Filigranspitzen, sondern
wir bekämpfen des Menschen Teufel. Es geriet noch allemal zum Unglück,
wenn die Kompetenz eines bestimmten Greistesgebietes zum Ministerium
der Kultur und insbesondere zum Ministerium für die Hauptangelegenheit
aller Kultur, für das nationale Erziehungswesen erweitert wurde.
Heute aber, wo wir uns von der didaktisch orientierten alten Pädagogik
der „Unterrichtsfächer" zu einer wahren „Erziehungswissenschaft" des
Menschen, zu einer auf Psychologie oder Sozialwissenschaft basierten
„Eugenetik" durchkämpfen, da wird die Macht des einzelnen Gelehrten
für die Gestaltung der künftigen deutschen Schule und Universität zur
schweren Gefahr. Denn die nicht kontrollierbare Autorität des Faches
erdrückt und lähmt alle die kleineren Geister, welche nicht die Kraft
finden, so gut oder so schlecht es eben geht, „aus dem eigenen kleinen
Glase zu trinken". Wenn aber der größte lebende Mathematiker das
Unterrichtsprogramm für die Mittelschulen der Knaben und Mädchen
gestaltet, so ist klar, daß diesem Programm so wenig widersprochen
werden kann, als ein kleiner katholischer Pfarrer dem Urteil der
Kurie widerspricht. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, daß „der Narr
im eigenen Hause besser Bescheid weiß als der Weise im fremden" ;
und so sei denn an dieser Stelle die Narrenweisheit gesagt, daß die von
Felix Klein im Verein mit E. Ricke und R. Schimmack verwaltete neue
Organisation des Unterrichts in Naturwissenschaft und Mathematik
praktisch nicht taugt. Sie taugt uns deswegen nicht, weil sie zwei
Sphären starr zusammenbringt, auf deren Unterscheidung der Pädagoge
gar nicht genug drängen kann.
Es sei eine Behauptung gewagt, die vielleicht manch einem paradox,
verletzend, verstimmend, ja vielleicht völlig absurd erscheint, die sich
aber ans immer neuen und neuen Erfahrungen in mir befestigt hat:
Die großen Naturwissenschaftler sind typisch unmathematische
Köpfe! Es herrscht ein gewisses Liebäugeln der Naturforschung
mit der Mathematik, das uns über den wahren psychologischen Sach-
verhalt hinwegtäuscht. Alle Chemiker, Physiologen, Psychologen, Bio-
logen, die man über Notwendigkeit der Mathematik im naturwissen-
schaftlichen Unterricht befragt, sprechen sich zu Gunsten der Mathe-
matik aus. Denn einmal gehört es zu den Gewohnheiten unseres Fach-
bildungswesens, daß der mathematische und naturwissenschaftliche Unter-
— 229 -
rieht von den selben Lehrkräften getragen wird, obwohl keineswegs
feststeht, daß ein bedeutender Lehrer in Zoologie oder Botanik nun
auch ein bedeutender Lehrer in Arithmetik oder Analysis sein muß.
Sodann braucht man nur ein physiologisches oder psychologisches Lehr-
buch aufzuschlagen, um zu sehen, daß jeder Naturforscher sein Wissens-
gebiet ungemein gern mit einigen meist sehr billig bezogenen mathe-
matischen Formeln ausstattet. Wenn man die Herbartsche Psychologie,
die Wundtsche Logik, die Hartmannsche Naturphilosophie vornimmt, dann
gewinnt man den Eindruck eines profunden mathematischen Tiefsinns.
Dringt man tiefer, dann kann man den Verdacht nicht los werden, als
ob die mathematische Einkleidung Maskerade sei, genau so wie bei Spi-
noza die Mathematik (sehr zum Schaden der Philosophie) bloße Kulisse
ist. Am peinlichsten wird das Problem, wenn die starke Akzentuierung
des Mathematischen von solchen empirischen Wissenschaften ausgeht,
deren ganze Konstitution mathematischer Denkart entgegengesetzt
ist. — Bernstein und Fick, bedeutende Physiologen führten Klage über
den Mangel mathematischer Kenntnisse bei den jungen Medizinern. Das
hat nicht gehindert, daß ein Gegner Bernstein sogar vorwerfen konnte,
daß er — keine Logarithmentafeln richtig zu gebrauchen verstünde.
Die medizinische Fakultät der Universität Bonn gibt das Gutachten ab,
daß eine Spezial-Vorlesung über Physiologie der Sinnesorgane nicht ab-
gehalten werden könne, weil den Medizinern die mathematischen Vor-
kenntnisse fehlen. Diese Spezialvorlesung wurde , als ich in Bonn
studierte , von dem Physiologen Kochs abgehalten , der jedenfalls
aller Mathematik völlig fem stand. Aber auch von sämtlichen
übrigen Mitgliedern der medizinischen Fakultät hätte ich seinerzeit
beschwören können, daß kein einziger spezial-mathematische Studien be-
trieben hat. Alles, was an Mathematik in den Arbeiten Pflügers, eines
der größten deutschen Physiologen, vorkommen mag, kann einem gut
vorgebildeten Primaner nicht unerschwinglich sein. Vollends aber
möge man sich doch fragen, was wohl August Weismann, oder Häckel,
oder was Darwin selber an mathematischen Spezialkenntnissen verwenden
oder an mathematischem Interesse besitzen mögen. Ich habe mehrfach
Physiologie gehört, bei Pflüger, Voit, Verworn, Chemie bei Kekule,
Bayer, Fischer, Baumann, Biologie bei Weismann. Ich behaupte seelen-
ruhig, daß ich seinerzeit weit mehr Mathematik gewußt habe, als ich je
in einem physiologischen, chemischen, biologischen oder gar in einem spe-
ziell medizinischen Kolleg zu hören bekam. Um die primitiven Vor-
stellungen der medizinischen Kurven, der Pulskurve, der Zuckungskurve
des Muskels, die Verhältnisse des Blutdrucks, der Temperaturschwan-
kungen, oder um die einfachen Experimente der Psycbyphysiker zu ver-
- 230 —
stehen, genügen die Anfangsgründe der Differentialrechnung. Ja, ich
behaupte, daß selbst auf dem ganz speziellen Gebiete mathematisch
orientierter Mechanik, etwa bei Physikern, wie Heinrich Herz, den ich
als meinen Lehrer verehre, oder bei Lennartz, von dem ich geprüft
bin, eine andere Konstitution wissenschaftlichen Denkens sich darstellte,
als den großen Förderern der reinen Mathematik, etwa einem Hubert
oder auch einem Gauß zu eigen ist. Vollends aber, was hat die
Psychologie oder die Philosophie in ihren Formen als Naturphilo-
sophie oder als Ethik, was hat schließlich Soziologie oder Wirtschafts-
Wissenschaft mit Mathematik zu tun? Wilhelm Wundt spricht in seiner
Logik über Mathematik oft in einer Weise, daß man argwöhnt, er
könne seit einem Jahrzehnt keine Mathematik (im engeren Sinne) mehr
getrieben haben. In den Werken von Theodor Lipps findet sich nicht
eine einzige mathematisch interessierte Zeile. In den Werken der
großen Sozialwissenschaftler, etwa Georg Simmeis, spürt man deutlich,
daß die vollkommen andersartige Welt mathematischer Fragestellungen
ihnen niemals nahe gekommen ist. Warum also diese allgemeine Be-
geisterung der Wissenschaftler äußerer oder innerer Erfahrung für
Mathematik? Warum die Unehrlichkeit, die sich davor fürchtet, ehrlich
zu sagen, mir liegt mathematische Denkungsart femer als naturwissen-
schaftliche ? . . . Zuweilen taucht in mir ein fürchterlicher Verdacht auf !
Hat vielleicht die Tatsache, daß Mathematiker und Naturforscher alle
Jahre zusammen tagen, daß sie einmal im Jahre gemeinsam in den ver-
schiedenen europäischen Hauptstädten „zweckessen" den anderen Um-
stand zur Folge gehabt, daß Männer aus beiden Lagern ohne besonderes
Bedürfnis nach erkenntnistheoretischer Klärung sich zusammenfanden
und Mathematik und Naturwissenschaft mit einander verheirateten ? . . .
Ist die zufällige Eingliederung der Mathematik in die „naturwissen-
schaftliche Fakultät" daran Schuld, daß man über das eigene Wesen
der Mathematik sich wenig Gedanken machte und die Unvergleichlichkeit
ihrer kontemplativen Denkart gröblich verkennt? Oder erfolgte die
Verknüpfung nur auf Konto jener engeren Diszipline der mathematischen
Naturwissenschaft, der theoretischen Physik, der Astronomie, der phy-
sikalischen Chemie, die allerdings nichts anderes sind, als Übertragung
rein mathematischer Spekulation auf ein ganz anderes Genus von Wissen-
schaftsbetrieb. Man bedenke zunächst, daß diese Naturwissenschaft im
engeren Sinne nicht das ist, was Zeitalter, Volk und Schule im Sinne
hat, wenn man von „naturwissenschaftlicher Bildung" redet. Man be-
rücksichtige sodann die eigentümliche Zwitterstellung, der abstrakten
Naturwissenschaft. Wenn schon der physikalische Chemiker so einsam
ist, daß zweifellos zahllose Professoren der Chemie existieren, die sich
I
— 231 —
niemals über die Prinzipien und Axiome ihres Arbeitsgebietes graue
Haare wachsen ließen, so ist vollends Physik als naturwissenschaftliche
Prinzipienlehre ein rein wissenschaftliches Gebiet, das man analog reiner
Mathematik oder reiner Logik von allem sogenannten Erfahrungswissen
vollkommen abtrennen und isoliert anbauen kann. — Im übrigen handelt
es sich hier ja aber nicht darum, ob es Naturwissenschaften ohne Ma-
thematik geben könne. Alle Wissenschaft ist Wissenschaft im engeren
Sinne gerade so weit, als sie mathematisch begründbar ist. Hier
aber steht in Frage, ob Naturwissenschaft und Mathematik im prak-
tischen Unterricht verknüpft werden sollen und ob ein Schüler, der
„Naturwissenschaft studieren" will, zugleich auch auf höhere Mathematik
verpflichtet werden muß. Und diese Frage verneine ich. Eben darum,
weil die prinzipielle Vereinigung naturwissenschaftlichen und mathe-
matischen Unterrichts dem Lehrer das Individualisieren gemäß der Be-
gabung des Kindes abschneidet. Ich behaupte, daß im Klassenunterricht
es keinen auffallenderen und klareren charakterischen Gegensatz gibt,
als den zwischen Kindern, die mehr mathematisch oder mehr natur-
wissenschaftlich veranlagt sind.
Dieser Gegensatz geht bis ins graue Altertum zurück. Die älteste
philosophische Antithese, von der wir wissen, der Gegensatz der grie-
chischen Naturphilosophen und Eleaten, der Atomistiker und Pythagoräer
war ein Gegensatz zwischen mathematisch und naturwissenschaftlich
interessierten Gruppen. Die schärfste, klarste Ausprägung dieses Kon-
trastes offenbarte sich in dem Jahrhundertelangen Streit zweier großen
Philosophen und Philosophenschulen, an dem Gegensatz zwischen Plato
und Aristoteles. Alles, was die Schriften des Aristoteles gegen die
„Ideenlehre" und den Piatonismus vorzubringen wissen, zeugt von dem
erstaunlichen Unverständnis, das der „Vater der Logik" gegenüber dem
Wesen rein logischer und mathematischer Erkenntnis offenbar bewiesen
hat. Aristoteles ist durch und durch Genetiker, Plato durch und durch
Aprioriker. Wo Aristoteles den Wesenszusammenhang der Erkenntnis
zu untersuchen glaubt, da steht für ihn in Wahrheit die Frage ihrer
Existenz, ihres Werdens oder ihrer Entwicklung im Mittelpunkt. So
sehr ist er auf den Kausalzusammenhang erfahrbarer Gegenstandswelten
erpicht, daß er nicht einmal das Problem der Ideenlehre, nicht einmal
jenen tiefen Unterschied zwischen Wissenschaft und Erkenntnis £7ti,6t7]^rj
und ^d&7]6Lg verstanden hat, der für Plato eine fundamentale Entdeckung
war. Wie tief Plato von diesem Gegensatz zwischen Erfahrungswissen und
reiner Mathesis durchdrungen ist, das zeigt vor allem sein Theätet. Die
Überschrift aber über seinem Hörsaal : „niemand möge hier ohne Geometrie
— 232 —
eintreten", beweist, auf welcher Seite er selber gestanden hat. In
allen folgenden Jahrhunderten zeigt sich immer wieder, daß das gröbste
Mißverstehen der Mathematik, die größte Unfähigkeit, in mathe-
matischen Vorstellungen zu leben, sich mit den stärksten Pathos der
Naturforschurg und des Erfahrungswissens verknüpft. . . . Jener enra-
gierte Naturforscher, der sich ausdrücklich den Beinamen „Empirikus"
beilegte, hat die wütendsten Angriffe „gegen die Mathematiker" gerichtet
und in drei Büchern, „in mathematicos" mit zahllosen Argumenten die Evi-
denz mathematischen Erkennens zu bestreiten versucht. So oft die Mensch-
heit einen neuen Aufschwung der Naturwissenschaft und Technik erlebte,
war immer das erste, daß die reine Mathematik in Mißkredit kam.
Die großen Naturforscher der Renaissance hatten oöenbar zur logischen
und mathematischen Spekulation ein viel weniger inniges Verhältnis, als
die viel geschmähten Scholastiker. Am auffallendsten aber war diese
Gegensätzlich lichkeit zwischen Naturwissenschaft und Mathematik bei
dem Manne, den man so gern als den Begründer der modernen natur-
wissenschaftlichen Methodenlehre, als den Vater der induktiven Logik
und Wissenschaftslehre zu bezeichnen liebt. Bei Baco von Verulam.
Es ist nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, daß das große Selbst-
bewußtsein Bacos wesentlich aus dem negativen Pathos floß, das die
Mathematik als schädlich, kraftabsorbierend und unnötig bekämpft, so-
weit sie nicht technisch anwendbar ist und in den Dienst menschlicher
Nützlichkeiten gezogen werden kann. Einer der merkwürdigsten Baco-
schen Aussprüche dieser Art ist der folgende : fastidio delicias et super-
biam mathematicorum, usui et commodis hominum consulimus (wir ver-
achten den Hochmut und die Ergötzungen der Mathematiker, denn wir
dienen dem Nutzen und Vorteil des Menschengeschlechtes). Die ganze
Reihe der großen Erfahrungsphilosophen Englands und Frankreichs
steht der Naturwissenschaft eben so nahe, als die Mathematik ihnen
innerlich fern bleibt. Eine ganz neue Entwickelung mathematischer
Erkenntnis erwächst erst aus Völkern und Rassen, deren Anlage von
früh auf introspektiv geartet war, aus niederdeutschem, nordischem
und jüdischem Geiste. Descartes, Spinoza und Leibniz bringen eine
völlig neue Wertung der Mathematik im Gegensatz zur Natur-
wissenschaft auf. Am klarsten wird dieser Kontrast bei Leibniz, als
dem ersten großen deutschen Denker, der sich auf beiden Gebieten
gleich sicher und gleich zu Hause fühlt und darum auch ihre fundamen-^
tale Verschiedenheit am tiefsten durchschaut, eine Verschiedenheit, diJ§
bei ihm in dem prinzipiellem Gegensatz der verit^ de fait und der v^
t'M de raison ihren Aasdruck fand.
- 235 —
Erst mit dem Auftreten und der Wirkung der nichteuklidischen
Geometrie konnte die prinzipielle Loslösung der Mathematik von der
Naturwissenschaft sich vollenden. Es war nicht zum wenigsten die
Lebensarbeit Kleins , daß diese Yerselbständigung einer rein mathe-
matischen Erkenntnis klar bewußt wurde. Es ist um so widerspruchs-
voller, daß schließlich der praktische Pädagoge und Organisator Felix
Klein, diesen notwendigen Dualismus wieder vernichtet oder verwirrt hat.
Eine wirkliche Einsicht in das Wesen der Mathematik wurde erst mög-
lich, mit dem Auftauchen der neuen Diszipline, der reinen Mengenlehre
und Zahlentheorie. Die erkenntnistheoretische Begründung, die schließ-
lich Hilbert einer reinen Wissenschaft der Mathematik schaffen konnte
ist der äußerste Gegensatz zu jenen erkenntnistheoretischen Voraus-
setzungen, die der moderne Naturforscher mit sich herumträgt. Das
ganze Menschenalter berauschte sich an der Evolutionsphrase.
Man kann aber getrost sagen, daß jene mystische Naturphilosophie der
Hegel und Schelling, deren Verpönung das beliebteste Steckenpferd aller
vermeintlich exakten Naturforscher ist, dem Geiste „wissenschaftlicher
Exaktheit" im Sinne der Mathematik viel näher stand, als die ganze
„moderne Entwickelungslehre". Ein Phantast, ein Dichter wie Novalis,
der die schönsten Worte über Mathematik schrieb, die wohl je ge-
schrieben sind, stand seiner ganzen Geistesart nach mathematischem
Denken näher, als der Naturforscher moderner Richtung von der Art
Spencers oder Häckels, bei denen, wo immer nur ein Hinweis auf Ma-
thematik in Frage kommt, die größte Hilflosigkeit und Unfähigkeit ma-
thematischer Überlegung zu Tage tritt.
Diesem Gegensatz nun zwischen introspektiven und extrospektiven
Naturen findet man im Schulunterricht schon bei ganz jungen Kindern
ausgeprägt. Es zeigt sich dem psychologisch interessierten Lehrer klar,
daß Kinder, die früh zur Naturbeobachtung neigen, zum Sammeln von
Pflanzen, Steinen, Zerlegen und Beobachten der Tiere keineswegs die-
selben sind, die in mathematischer Kombination und Spekulation ihre
Stärke haben. Ich möchte aber keineswegs diesen fundamentalen cha-
rakterischen Gegensatz als einen Gegensatz zwischen „konkreten" und
„abstrakten" Naturen ausgedeutet sehen. Diese Entgegensetzung von
Konkretheit und Abstraktheit ist unendlich grob und unklar. Es
gilt vielmehr erst die verschiedenen Arten des Generellen oder Ab-
strakten zu analysieren und voneinander unterscheiden lernen! Man
bezeichnet mit dem Worte ;,abstrakt" gewöhnlich alle das, worin man
zufällig nicht zu leben gewöhnt ist, und was man selber nicht zu
durchbluten vermag. Es ist insbesondere eine völlig falsche Be*
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 16
— 234 —
Zeichnung, wenn man die Mathematik „abstrakt^ nennt. Im Gegenteil
ist die Unfähigkeit zum Vollziehen von Abstraktionen im Gebiete täg-
licher Erfahrung eine bei mathematisch veranlagten Naturen ungemein
häufige Erscheinung. Man könnte beinah glauben, daß ein Mathematiker
viel zu konkret und anschaulich denkt, um etwa in der Art der re-
flektierenden Philosophen „Abstraktionen vorzunehmen". Es stehtauch ein
großer Unterschied der Veranlagung hinter dem Vollziehen von Abstrak-
tionen im Sinne des Begriffs-Allgemeinen oder im Sinne des Typus. Es
ist ein großer Unterschied ob der Geist auf den „Begriff" oder auf dem
„Inbegriff" der Erscheinungen gerichtet ist. So ist zum Beispiel die
ganze Denkungsart Göthes charakteristisch für die Richtung aufs Uni-
verselle im Sinne des, aus einzelnen Erfahrungen „herausgeschauten"
Allgemeinen. Dagegen liegt das Verallgemeinern im Sinne begriff-
lichen Zusammenschauens und Zusammendenkens der Goetheschen
Seelenart unendlich fern. Es gilt hier zunächst feinere charakterolo-
gische Orientierungen zu schaffen. Hier hat die Psychologie und die
psychologische Pädagogik Brachland vor sich. Man könnte z. B. glauben,
daß hinter den Streitigkeiten der Scholastiker über die verschiedenen
Arten von „Universalia" (hinter den Dingen, vor allen Dingen und in
den Dingen selbst) ganz verschiedene Modalitäten geistigen Erlebens
durcheinander geworfen sind. Man müßte versuchen, die verschiedenen
Formen von „Allgemeinheit^ scharf gegeneinander abzugrenzen. Man lerne
scheiden das Generelle vom Universellen im Sinne Kants, das Typische vom
Gesetzmäßigen oder Gesetzlichen im Sinne der Mathematik, das heraus-
geschaute Allgemeine, von jenem anderen Allgemeinen, das durch einen
Akt des Zusammenschauens gestaltet wird. Erst solche Untersuchungen
könnten uns einige Klarheit darüber geben, warum Anschaulichkeit der
Naturforschung und mathematische Anschauung (etwa im Sinne der
Zahlenspekulation) zwei ganz verschiedenen Welten zugehören, und
warum ein Mensch, der mit festen mathematischen Größen konkret zu
operieren vermag, dennoch für die Konkretheit im Sinne des Natur-
gegenstandes keinerlei Sinn hat, oder warum (ein FaU, den man unge-
mein häufig erlebt), ein Mensch, der über das Gesetzmäßige und Ty-
pische in jeder neuen Erfahrung die sichersten Worte und Begriffe be-
sitzt, dennoch gegenüber dem einzelnen individuellen Erlebnis voll-
kommen versagt und danebentappt.
Für die Anfänge einer didaktischen Psychologie der Mathematik,
«u der bisher noch nicht einmal die gröbsten Vorarbeiten geleistet sind,
scheint mir die Beobachtung spezieller Eigenarten der Völker und
Rassen von einigem Wert zu sein. Von allen geistigen Typen stellt
— 235 -
sich aber kein anderer uns übersichtlicher und charakteristischer dar, wie
der des Juden in seiner spezifischen mathematischen Begabung. In ihm
sehen wir eine besondere Form der Vergeistigung, die aus Jahrtausende
langem Insichhineingetriebenwerden und aus der Tragik der „SchoUen-
losigkeit" erwachsen ist. Es ist nun zunächst eine typische Erfahrung,
daß der jüdische Einschlag in den Naturwissenschaften sich entweder
auf die rein abstrakte Wissenschaft, oder auf die praktische Verwendung
der Naturwissenschaft, etwa in Medizin oder Astronomie bezieht. Da-
gegen hat der Jude wenig Fähigkeit für deskriptive Fächer, etwa be-
schreibende Botanik, beschreibende Zoologie. Er strebt überall danach,
Relationen zwischen einzelnen Objekten und Objektgebieten herzustellen.
Im mathematischen Unterricht sehen wir etwas Verwandtes. Einem
Kinde jüdischer Abkunft fällt im allgemeinen schwer, konkrete Haum-
vorstellungen , etwa die Vorstellungen der Stereometrie festzuhalten,
dagegen zeigt sich eine geistige Überlegenheit, sobald die Verknüpfung
und Beziehung verschiedener Elemente des Vorstellens in Frage steht.
Es ist somit klar, daß die Eigenart jüdischer Veranlagung gerade den
Notwendigkeiten der modernen Mathematik entgegenkommen mußte.
Für eine Geistigkeit, der das optische Element der Raumvorstellung
ermangelt, mußte die Arithmetisierung der Geometrie naheliegend sein.
Der ungemein große Prozentsatz von Gelehrten jüdischer Abkunft unter
den Gründern der nichteuklidischen Geometrie und der reinen Anzahlen-
lehre ist denn auch kein Zufall. Die „Arithmetisierung der Geometrie"
wurde wesentlich ein Werk der Gelehrten jüdischer Abkunft, wie
Hanckel, Cantor, Schönfließ, Minkowski, Wellstein, Wiener, Pringsheim
und auch bei Weierstraß, Riemann und Klein darf man aus rein psycho-
logischen Gründen irgend einen jüdischen Bluteinschlag in der Deszendenz
vermuten. Das wesentliche charakterologische Moment, das hier in
Frage steht, kann man am besten als die Tendenz des Geistes zur
Fluxibilität und Agilität kann man als Versabilität und SchoUenlosigkeit
der Denkkonstitution bezeichnen. Es handelt sich nicht um Unkonkretheit
und Un Wirklichkeit des Denkens in d e m Sinne, als ob irgend eine Art von
Mystik, Irrealität oder Irrationalität für die Denkart charakteristisch wäre,
sondern nur in dem Sinne, daß das Spezifische des einzelnen Falles das
„Jetzt und Hier^ das tödstL, die haecceitas zu Gunsten allgemeiner und
idealer Relation übersehen wird. — Einen ganz ähnlichen Unterschied
kann nun auch der Pädagoge bei verschieden veranlagten Kindern sehr
scharf wahrnehmen. Es gibt „sinnliche" Typen, die sich mit Vorliebe
in die qualitativen Einzelheiten und einmalige Besonderheit des konkreten
Falles versenken. Es gibt „geistige" Typen, die von vorn herein vom
konkreten Erlebnis zu reflektieren pflegen, sei es, daß sie das „Generelle",
16*
— 236 —
das „Typische" oder das „Abstrakt- Allgemeine" suchen. Solche Unter-
schiede hängen wiederum zusammen mit dem Gegensatz des visuellen,
durch Raumeindrücke und optische Vorstellungen orientierten Lebenstyps
und des vorwiegend akustisch - motorischen Typus des Seelenlebens.
Der Gegensatz der Begabung für Naturwissenschaft oder für Mathe-
matik fällt nun freilich nicht glatt mit dem Gegensatz zweier solcher
psychischen Dispositionen zusammen. Dieser Kontrast von Naturwissen-
schaft und Mathematik, von Erfahrungswissen und Vernunftwissen, von
Wissenschaft im engeren Sinne und Erkenntnis im engeren Sinne ist
zunächst nur eine menschliche Tatsache, deren psychologische Fundierung
untersucht werden müßte. In dieser Richtung liegen vielleicht einige
wertvolle Erkenntnisse in den Schriften der vielgeschmähten Graphologen,
Physiognomiker und Psycho-Diagnosten verborgen. Es bleibt auf diesem
Gebiete noch unendlich viel zu tun, —
Es wird die große Aufgabe des mathematischen Unterrichts für die
Mittelschulen bleiben, die richtige Mitte zwischen Mathematik als Wissen-
schaft und Mathematik als Erkenntnis einzuhalten. Es braucht nicht
erst gesagt zu werden, daß der Koordinationsbegriff mit seinen unend-
lich mannigfaltigen Anwendungen auf alle praktischen Wissenschaften
der Menschen, daß ferner die Elemente der Infinitesimalrechnung, daß
der Funktions- und Grenzbegriff jedem Schüler, der auf höhere Bildung
Anspruch erhebt, unbedingt geläufig werden muß. Andererseits aber
erscheint mir die Mathematik in ihren speziellen Teilen für das Bildungs-
wesen genau so viel und genau so wenig zu bedeuten, wie etwa Griechisch,
Sanskrit oder Sinologie. Das alles ist Wissenschaft und Erkenntnis im
engsten Sinne, ganz unabhängig vom Wesen der seelischen oder geistigen
Bildung. Die Schule, wie die Universität hat weder die Aufgabe eine
Sammlung fachwissenschaftlicher Institute zu sein, noch die ganz anders-
artige Aufgabe, die erkenntnistheoretische Durchdringung und mathe-
matische Auswertung menschlicher Wissenschaften zu verwalten. Sie
haben vielmehr die Aufgabe, ein bestimmtes und beständig steigendes
Niveau der Kultur für die Nation zu erhalten, von dem aus dann inmier
wieder einzelne große Leistungen der Erkenntnis oder der Wissenschaft
möglich sind. Man verwirrt und mißkennt aber den ganzen Sinn von
Schule und Universität, wenn man ihre Aufgabe der persönlichen Bildung in
eine wissenschaftliche oder erkenntnistheoretische Leistung verwandelt.
Heute arbeiten wir daran, die Unterrichtsschulen der alten Art in mo-
derne Erziehungsschulen umzuwandeln! Für die Erziehungsschule aber
besteht nicht mehr der falsche Schnitt zwischen humanistischer und
alistischer Bildung. Ich besuchte als Knabe ein Gymnasium, das
— 237 —
gleichen Gebäude mit der Realschule untergebracht war. Über dem
Portal des linken Flügels, der das Gymnasium beherbergte, befand sich
die Statue Göthes. Über dem rechten Portal, das zur Realschule führte,
stand die Statue Alexander Humboldts. Schon als Knabe schien mir
dieser Gegensatz ganz unbegreiflich, da ich in der ganzen Literatur
keine zwei Männer fand, die in Denkart und Seelentypus einander so
verwandt schienen, wie Göthe und Humboldt. Heute weiß ich, daß der
Schnitt zwischen zwei Bildungswelten, deren eine man humanistisch,
deren andere man realistisch nennt, auf einem falschen gedankenlosen
Prinzip beruht. Eine richtige Gabelung der Schulen, eine vernünftige
Einteilung der Bildungstypen wird man erst dann erreichen, wenn man
die pädagogische Psychologie zur Grundlage der praktischen Schul-
organisation macht. Heute kommt es nicht mehr darauf an, die Wissen-
schaften gegeneinander zu klassifizieren, sondern darauf, den Menschen
schon im Kindesalter zu verstehen, und zu ergründen. Achtet man
aber eifriger als bisher geschah auf die ungemein große Spannweite
kindlicher Anlagen und auf die Differenzen der Denkart und Geistes-
haltung schon im ersten Unterricht, dann wird man finden, daß die
Zusammenstellung Naturwissenschaft und Mathematik recht nichtssagend
und unglücklich ist. Man wird schließlich gezwungen sein, diese schein-
bar glückliche Ehe wieder zu scheiden, und da Göthe gesagt hat, daß
der Mensch sich schließlich immer nur auf die eine Seite legen kann, so
wird man den Mut finden und nicht für ein Manko erachten, ruhig ein-
zugestehen, daß man nur für eine dieser beiden Sphären interessiert und
begabt ist, oder daß innerhalb der Naturwissenschaften und der Mathe-
matik jeder von uns nur ein ganz bestimmtes Gebiet und ein eng um-
grenztes Feld von Problemen besitzt, auf das ihn seine ganz spezielle
Eigenart und Veranlagung hinweist. Diese spezielle Veranlagung gilt
es zu finden. Es ist ganz selbstverständlich, daß jede Stärke nach der
einen Seite hin immer einen Verlust in irgend einer anderen Richtung
in sich schließt. Die moderne Erziehungsschule aber und die Reform
der Universität aus einer Sammlung von Fachschulen zur Stätte na-
tionaler Kultur hat andere Ziele, als die äußerliche Reform des „mathe-
matisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts". —
^ 238 —
Der Stand der Heilpädagogik in Ungarn') im Jahre 1907/08.
Von Fräulein Helene Goldbaum in Wien.
Wie Prof. Berkes Janos in der Dezembernummer des „Gjermek"
mitteilt, haben die heilpädagogischen Bestrebungen in Ungarn, nament-
lich der Unterricht der Taubstummen, der Blinden und der Schwach-
sinnigen, in den letzten zehn Jahren einen erfreulichen Aufschwung ge-
nommen.
^Die Zahl der in Ungarn bestehenden heilpädagogischen Institute
ist 16, mit einer Schüleranzahl von 1232 im Schuljahre 1907/08. In
zwei Instituten erhalten 207 blinde Kinder Unterricht. Ein drittes Er-
ziehungsinstitut — das Wechselmannsche — hat seine Tätigkeit im lau-
fenden Schuljahre (es wurde am 20. Dezember 08 eröffnet) mit 30 Zög-
lingen begonnen."
Für arbeitsfähige Blinde gibt es sechs Beschäftigungsanstalten mit
289 blinden Arbeitern. Für 269 Schwachsinnige existieren drei staat-
liche und ein privates Institut. Außerdem besitzt die Residenz einige
Schulen für den Unterricht der Schwachsinnigen; zu Beginn des lau-
fenden Schuljahres wurden auch in Eger und Szongrad eine Hilfsschule
errichtet.
„Wenn wir die bis heute erreichten Resultate mit jenen des Jahres
1900 vergleichen, so müssen wir uns sagen, daß wir auf diesem Gebiete
noch manches zu vollführen haben. Laut Volkszählung vom Jahre 1900
betrug die Zahl der Schwachsinnigen in Ungarn 65266. Unter diesen
befanden sich 12344 sechs bis vierzehnjährige Kinder, also schulpflichtige
Schwachsinnige. Ziehen wir nun von dieser Summe die im Jahre 1907/08
Unterricht genießenden Schwachsinnigen ab, so müssen wir konstatieren,
daß 10347 Schwachsinnige noch ohne jedem Unterricht heranwachsen
und die Zahl der teils Arbeitsunfähigen und teils Gemeingefährlichen
vermehren.
Ein Teil der bestehenden Institute hat mit materiellen Sorgen zu
kämpfen. Der Staat hat in seiner Opferwilligkeit die Bezahlung sämt-
licher in heilpädagogischen Instituten angestellten Lehrkräfte sowie die
totale Erhaltung von sechs derartigen Instituten auf sich genommen."
In seinem interessanten Referat weist Prof. Berkes darauf hin, daß
der Unterricht der Schwachsinnigen nicht bloß Aufgabe des Staates,
nicht bloß eine Frage allgemeiner Wohltätigkeit, sondern vielmehr eine
Gemeinde-, Konfessions- und Gesellschaftsfrage sein sollte. Die nicht
staatlichen Institute sammeln daher die zu ihrer Erhaltung notwendigen
1) Nach einem im Ojermek (Dez. 1908) enthaltenen Referate des Ilerm Prof.
Berkes Janos.
— 239 —
Büttel aus verschiedenen staatlichen und privaten Quellen. Die Ge-
sellschaft opfert gerne für den Unterricht der Schwachsinnigen; doch
verringern sich durch die Vermehrung und Entwicklung dieser Institute
von Jahr zu Jahr die ihr zur Verfügung stehenden Mittel; die Aus-
gaben sind durch die Vermehrung der Zöglinge im Steigen begriffen,
und dieser Umstand gefährdet das weitere Bestehen mehrerer heil-
pädagogischer Institute.
Prof. Berkes betont, daß die Errichtung neuer Anstalten nicht an
dem schlechten Willen, sondern lediglich an der Unzulänglichkeit aller
Mittel scheitert. Aber noch ein zweiter Umstand wirkt hemmend auf
die Fortschritte der heilpädagogischen Bestrebungen: Viele Eltern
schwachsinniger Kinder wollen nicht anerkennen, daß es eigentlich ihre
elterliche Pflicht ist, ihre Kinder durch Überweisung in eine Hilfsschule
der gänzlichen Hilfslosigkeit zu retten.
Auch die im schulpflichtigen Alter stehenden Blinden und Taub-
stummen bleiben oft ohne Unterricht und werden von den Eltern — die
meisten Blinden und Taubstummen entstammen armen Familien — zu
einer die menschliche Würde erniedrigenden Bettelei angehalten, statt
einem ehrlichen Broterwerb zugeführt zu werden.
Prof. Berkes meint, daß nur eine allgemeine Aktion aller Gesell-
schaftsklassen diesem Übel abhelfen könnte. Das beste und sicherste
Mittel zur Bekämpfung desselben wäre aber in erster Linie : die Ein-
führung der Schulpflicht für Schwachsinnige.
Ein Bedenken über „Einige Gedanicen" von Frau Dr. L. Hösch-Ernst.
Von Alexander Netschajeff (St. Petersburg).
Der Artikel von Frau Dr. L. Hösch-Emst ,, Einige Gredanken zur
Frage der Körperstrafe" (Exp. Pädag., Bd. VIH, H. 1 u. 2, S. 95) gibt
mir die Gelegenheit ein paar Fragen an die Verfasserin zu richten, da
ohne Antwort auf diese Fragen der Grundgedanke dieses^ Artikels mir
völlig dunkel erscheint.
1) Frau Dr. L. Hösch-Ernst findet die Körperstrafe „sicher am Platz
bei vorgefaßtem wiederholtem Auflehnen gegen den Willen der Eltern
(eine sehr unbestimmte Formel), bei hartnäckigem Trotz (wobei genau
auf die Motive des Trotzes zu achten ist), bei wiederholter Lüge, vor
allem aber und am längsten bei Grausamkeit gegen Tiere oder bei Ge-
walthandlungen gegen jüngere und schwächere Genossen, auch gegen
Untergebene der Eltern (G. 100). Aber spricht Frau Doktor weiter;
„als Mittel gegen Faulheit würde ich nie Körperstrafen gebrauchen*
— 240 —
Zunächst gilt es hier zu prüfen, wo die Faulheit ihren Ursprung nimmt.
Sie beruht sehr oft auf physiologischen und gar pathologischen Gründen"
(105). Läßt Frau Doktor nicht zu, daß der Ursprung eines hartnäckigen
Trotzes, wiederholter Lüge, Grausamkeit u. s. w. auch sehr oft auf phy-
siologischen und gar pathologischen Gründen beruht?
2) Frau Dr. Hösch-Ernst sieht, wie es scheint, die große pädagogische
Bedeutung des Gefühls des sich Schämens ein. Was für einen Einfluß
auf die Entwicklung dieses Gefühls bei Kindern soll das Beispiel des Er-
ziehers erweisen, der selbst eine schamlose Strafe „auf das entblöste
Sitzteil" ausübt, und in einigen Fällen keine Altersgrenze kennen will?
3) Indem die Verfasserin als belehrendes Beispiel den Fall des eigen-
händigen Prügeins des 4jährigen „schwachen Mädchens", das sie für die
Sommerzeit zu sich genommen hat, um es ;,ein wenig aufzufüttern" be-
schreibt, sucht sie zu beweisen, daß dieses Kind ohne Rute nicht im-
stande gewesen sei sich ernst gegen die Worte und andere pädagogischen
Maßregeln seiner Erzieherin zu verhalten. Es ist sehr schade, daß Frau
Hösch, die ziemlich eingehend die Szene des wirksamen Prügeins be-
schreibt*), sehr wenig von den andern positiven Erziehungsmaßregeln
spricht, die sie gegen das arme schwache Kind angewandt hat. Ist sie
denn wirklich so vollständig überzeugt, daß alle ihre pädagogischen
Mittel (das Prügeln ausgenommen) so rechtzeitig vorgenommen wurden
und daß an ihrem Platze kein noch so talentvoller Pädagoge die vor-
liegende Aufgabe besser lösen könnte? Wenn das geprügelte Kind nach
dreistündigem Geschrei und Weinen endlich „zur Ruhe kam" und „ganz
artig mit noch etwas stockender schluchzender Stimme" die geforderte
Entschuldigung stammelte, so könnte man hier nicht statt des wert-
vollen logischen Prozesses (Böse gewesen — Nelly weh getan — selbst
weh) eine natürliche Lösung des Affektes erblicken, der durch die Rute
schnell seinen Höhepunkt erreicht haben soll? Wenn dem so wäre, so
ist dies alles eine Illusion der Erziehung!
4) Zu dem Grundsatz Sylvius „Schläge sind für Sklaven — nicht
für Kinder" fügt Frau Dr. Hösch hinzu „und ich gehe noch weiter, wenn
ich sage: aus Kindern wird man Sklaven und Sklavennaturen züchten,
wenn (nach einem gewissen Alter) das Hauptmittel die Rute ist" (105).
Heißt es denn weiter gehen, wenn man den oben erwähnten Grandsatz
einschränkt?
1) Hier darf ich gelegentlich eine Frage stellen: als Frau Hösch-Ernst ihren Zücht-
img „ziemlich gründlich, nach der alten Weise, auf das entblöste Sitzteü** prügelte, hat
sie dabei nicht vergessen, die Kute zu desinfizieren, wie sie es mit der Stecknadel getan
hat, mit der sie zur Strafe dem Knaben der einen Maikäfer quälte den Fuß durch-
-Btochen hat?
— 241 —
Das städtische pädologische Laboratorium Antwerpens.
Von Direktor Dr. M. C. Schuyten.
Wenn ich der freundlichen Einladung der Eedaktion dieser Zeitschrift *), eine
Mitteilung zu schreiben über dieses Thema, gern Gehör gebe, so tue ich es aus-
schließlich des Nutzens wegen, den ein Aufsatz dieser Natur, für die Entstehung
analoger Einrichtungen als das Antwerpner kinderkundige Laboratorium, hervor-
rufen kann. jVlit meiner Darlegung vom Urspining, Ziel und Arbeitsmethode des
Laboratoriums sind in der Tat Schwierigkeiten verbunden welche ich glaube erst
nach langem Denken überwunden zu haben. Habe ich doch unbewußt die unver-
meidliche Neigung, die Sache an deren Entwicklung ich persönlich direkt beteiligt
bin, im schönsten Lichte darzustellen, demnach Gefahr zulaufen solche heutige
Zustände, welche ich nicht mehr billigen kann, und denen ich nicht im Stande
bin abzuhelfen, in den Schatten zu stellen oder nur schwach zu beleuchten. Ich
kann sie auch, wenn ich z. B. pessimistisch gestimmt bin, zu schwarz malen und
dann bin ich wieder unwahr im entgegengesetzten Sinne. Endlich ist eine beliebige
Verwaltung ungemein empfindlich was ihre Schöpfungen betrifft und es wird eine
ev. nicht beistimmende Kritik von Seite ihrer Beamten nicht selten höchst übel
aufgenommen. Ich will es aber versuchen, im Interesse der Sache allein und
ganz abgesehen von allen etwaigen tendenziösen Nebenabsichten, eine genaue
Beschreibung von der bis jetzt einzigartigen wissenschaftlichen, im Interesse des
Kinderstudiums gestifteten Einrichtung meiner Vaterstadt zu geben; nachdem ich
auch noch den Umstand, verpflichtet zu sein so fortwährend über mich selbst
reden zu müssen, mutig zur Seite geschoben habe. Ist doch die Geschichte des
Laboratoriums bis jetzt nur diejenige Schuytens.
Das Laboratorium besteht nun genau zehn Jahre. "Wenn ich am 1. Januar
1909 wie gewöhnlich am fi'ühen Morgen in das Gebäude trat — meine AVohnung
ist nur 5 Minuten davon entfernt — bemerkte ich auf meinem persönlichen Arbeits-
zimmer, daß Guido Gezelle's ^) Bisskalander ^) sein letztes Stichwort gab. Der
Gedanke: „Heute beginnt ein neues Jahr" gab Anstoß zur Erinnerung an 08, 07
06 . . .; ich murmelte ungefähr unbewußt etwas über meine wissenschaftliche
Tätigkeit, zählte zurück an meinen Fingern. ... Ist es möglich? Bereits 10 Jahre
Ich setzte mich nieder, schloß die Augen. Ich übersah die vergangenen Zeiten. . .
1885. Gemeindeschullehrer. Ernennung 1886. Acht Jahre ununterbrochener —
zugleich privatim, eigene, fieberhafte naturwissenschaftliche Bildung — Klassenarbeit
1893 Juli. Genehmigung von Seiten der Behörden^), während der Stunden
und ohne Schaden für den Unterricht, mit meinen kleinen Schülern psychologische
Versuche zu machen; AVidersetzung von Seiten des Schuldirektors; Spötterei
1) Vlämischer Dichter.
2) Niederländisch: Duikalmanak.
3) Unterrichtsschöffe: Dr. V. Desguin.
*) Anm. der Redaktion: Wir veröffentlichen gern diesen interessanten persönlichen
Bericht von Herrn M. C. Schuyten über die Gründung des pädologischen Laboratoriums
in Antwerpen. Er ist typisch für die Schwierigkeiten, welche die experimentelle Päda-
gogik überhaupt zu überwinden hat, wir können in Deutschland von ähnlichen Er-
fahrungen leider nicht auch von den gleichen Resultaten berichten. Ganz be-
sonders vorteilhaft sticht das tatkräftige Vorgehen Schuytens von den papierenen Be-
strebungen mancher Paedagogen ab, die sich damit beschäftigen, die „Möglichkeit und
Notwendigkeit" paedagogischer Laboratorien „theoretisch zu zeigen. E. M.
— 242 —
der Herren Kollegen. Erste Kurve der jährlichen Aufmerksamkeits-
schwankungen.
1894. Promotion zum Doktor in der Chemie und Gymnasialprofessor an der
Universität Gent*) mit einer Dissertation „Neue Derivate von Phenyldimethyl-
pyrazolon" und zwei öffentliche Vorlesungen (eine Über Säuren, Basen, Salze",
eine „Über die Blumen" ^.
1895 Februar. Genehmigung meine Untersuchungen, über die Aufmerksam-
keitsschwankungen im großen auszudehnen. Ich verlasse vorläufig die Schule,
bekomme ohne offiziellen Charakter den Auftrag, mich mit den Schulen überhaupt
für meine neuen Arbeiten zu verständigen.
1896. Giündung einer wissenschaftlichen Fakultät an der Neuen Universität
Brüssel — entstanden 1893 durch den Bemühungen von Elis^ Reclus, Degreef und
Picard, nachdem diese Professoren sich von der Freien Universität ihrer Pinzipien
wegen losgerissen hatten. Ich wm*de mit den Vorlesungen über organische Chemie
(ai'omatischc Reihe) beaufti-agt. (Seit 1899 aufgegeben).
1898. Mein Vorschlag an Dr. Desguin, einen Plan zum Aufbau einer Organi-
sation zur Kinderforschung zu studieren, wird angenommen. 30. Dezember. Offizielle
Ernennung zum Direktor des „Pädologischen Schuldienstes" mit einem Minimum-
gehalt von 3100 Fr. und ein Maximum von 4200 Fr. nach 12 Jahrenzu erreichen *).
1899 Auf meinen Vorschlag wird in der Fakultät für soziale Wissenschaften
der Brüsseler N. Universität ein pädologischer Km's mit Laboratorium gegründet.
Ich wurde zum Ordinarius ernannt. Bis jetzt habe ich dauernd die Vorlesungen
aufrecht gehalten jedes Jahr von Mai bis Juli, aber nur wenn meine amtlichen
Verpflichtungen in Antwerpen solches gestatteten. In dem übrigen macht die Stadt
nie Schwierigkeiten. Auch haben die Studenten Erlaubnis, das städtische Labora-
torium zu besuchen.
1899 I.Januar. Theoretische Eimichtung eines „pädologischen Laboratoriums"
mit einem jährlichen Kredit von 1500 Fr., im Jahre 1901 auf 2500 Fr., im
Jahre 1906 auf 3500 Fr. gebracht. Das „Laboratorium" wurde verbunden mit
dem „Dienst" gedacht, immer auf meine Anregungen. Ich suchte das Lokal in einer
städtischen Schule und fand etwas — eine verlassene enge Klasse — in der
Mädchen-Mittelschule der Lange Leemstr. wobei ich noch eine der Mauerfeuchtig-
keit wegen verlassene Kellerküche bekam. Aber bereits nach wenigen Monaten
wurde diese Vorrichtung als unzureichend anerkannt; jedoch erst im Jahre 1903
wiu*de meine Bitte, ein selbständiges geräumiges Unterkommen zu erlangen, nach
reifer Überlegung zugestanden. Dafür wurde mii' ein städtisches Gebäude, Privat-
1) Besondere Genehmigung der wissenschaftlichen Fakultät, welche wußte, daß ich
nie im Stande gewesen war, einer einzigen Vorlesung beizuwohnen. Laboratoriums-
arbeiteu im Hause, während der Ferien aber an der Universität.
2) Hier widme ich eine dankbare Erinnerung an die Professoren Th. Swarts,
Plateau, E. Van Beneden, H. Denis, J. Mac Leod, Renard die mir, überhaupt bei meinem
ersten Schritte ein liebenswürdiges Entgegenkommen zu sichern wußten; an die Ant-
werpner Verwaltung, welche in der Person ihrer succ. Unterrichtsschöffen Jan Van
llyswyck und Victor Desguin stetig die amtlichen Schwierigkeiten, die durch meine Privat-
studien erzeugt wurden, am vorteilhaftesten zu lösen versuchten.
3) Gehalt der Gemeindeschuldirektoren, welche überdies eine Entschädigung für
Wohnung, Licht und Feuer bekommen (zu 5000 Fr.); die meisten haben dann noch in
ihrer Schule Abendkurse, wofür sie ebenfalls entschädigt werden (zu GOO Fr. Sonstige
Lehrer erreichen mit ihren Nebenverdienst 6250 Fr.). Diese Vorteile bekomme ich nie. Über
drei Jahre wiude das Gehalt auf 4400 Fr. gebracht. Ich wurde 1JSU9 als Professor der
Chemie an der Gewerbeschule mit 10 wöchentlichen Abendstunden ernannt (Gehalt 2200 Fr.).
— 243 —
Wohnung mit zwei Etagen Brederodestr. 141, zur Verfügung gestellt mit dem
Auftrag die neue materielle Eimichtung in Verband mit dem städtischen Bau-
meister persönlich aufzunehmen. Nachdem Wasser-, Gas- und Stromleitung nach
einem gut durchdachten Plan in Ordnung gebracht wai'en, wurde überall repariert,
desinfiziert, angestrichen. Dann kam im Juli ohne Entgelt eine Hauswärterin
und endlich die definitive Möbelierung:
1. Im Erdgeschoß. Das Vorzinuner bekam an beiden Seiten des Schornsteins
eine eichene Bibliothek, einen dito Tisch in der Mitte und sechs Stühle. Elek-
trische Beleuchtung und Klingel, zwei Auerbrenner an der Mauer. Auf Wand-
platen sind die Resultate meiner wichtigsten Untersuchungen gi'aphisch dar-
gestellt ^). Auf den marmornen Schornsteinplatten und der Lade der Bibliotheken
sind die laufenden Nummern der Zeitschriften geordnet. Die Hinterstube mit
kleiner Veranda gibt Aussicht auf einen kleinen Hofraum mit einem Streifchen
Garten. Rechts lange Arbeitstische (3.68 X 0,68) versehen mit Wasser-, Gas-
und Stromquelle (110 Volt); links zwei Pulte, jedes für eine Person. 5 elektrische
Lampen, 2 Auerbrenner, Gasfeuer, Waschvorrichtung, 2 Stühle. Die wichtigsten
anthropometrischen Apparate, verstellbare schwarze Tafel. Die zwei Pulte müssen
hauptsächlich für die interessierten Pädagogen und Arzte dienen, welche die Zeit-
schriften und eingekommenen Drucksachen konsultieren wollen. Auch ist es dies
Zimmer, in welches ich die Kinder für individuelle Untersuchungen kommen lasse.
— Die Küche und die Keller wm^den der Hauswärterin überlassen.
2. Zwischenstock (oben die Küche). — Geräumiges Zimmer für dunkle
Kammer eingerichtet mit elektrischer Beleuchtung (rot und weiß), Gas, Wasser,
Projektionsapparat, Planken an den Wänden, Gasheizung.
3. Erster Stock (Privat- Aufenthalt). — Vorzimmer; geräumig, drei Fenster
mit Balkon, lange Schreibtische (2.5 X 0.78) mit Pult, hohe viereckige Zeichen-
und Schreibtische (1.00 x 0.98) mit Pult. An beiden Seiten des Schornsteins
zwei große Bibliotheken (3.20 X 1.54) mit 40 verstellbaren Planken (von 0.75 m).
Rechts am Eintritt kleine Tische mit zwei chemischen Wagen (eine technische
auf 0,001 g und eine analytische auf 0,0001 g sensibel). Gasheizung (Siemens-
feuer). Elektrische Beleuchtung und Klingel, Auerbrenner, vier Stühle und ein
Schreibsitz. — Hinterstube: Komplettes chemisches Laboratoriimi (siehe unten).
4. Zweiter Stock. — Hinterstube. Ausschließlich für Archive (meine Manu-
skripte, Separate, Versuchsmaterial u. s. w.) eingerichtet. Zwei ganz die Wände
in der Länge bekleidende Gerüste mit verstellbaren Planken; Auerbrenner. —
Vorzimmer und 5. Drittes Stock, Privatwohnung der Hauswärterin. 6. Im ganzen
Haus Bodenbekleidung Linoleum.
Wie ersichtlich, ist die materielle Gestaltung des Laboratoriums eine ziemlich
hübsche. Nur muß erwähnt werden, daß die Unterhaltung des Gebäudes, abhängig
vom Dienste der Stadtgebäude, ungemein schwierig und langsam von statten geht.
Man nennt so etwas ein „detail" ! Aber davon können nur diejenigen einen
Begi'iff haben, die an dergleichen Mächte gebunden zu sein, noch nicht gelernt
haben, leider zum Schaden des allgemeinen Interesses, „Gottes Wasser über Gottes
Deich" laufen zu lassen.
In Bezug auf die Appai'ate habe ich dieses mitzuteilen: Immer kaufte ich
nur dasjenige, was ich unmittelbar füi* meine Untersuchungen nötig hatte. Ich
1) Jetzt ist auch schon die Hinterstube mit Wandplatten besetzt und ich suche für
diese neue angepaßte Stellen.
— 244 —
kaufte nicht, wie es Läufig der Fall ist, alles was in einem päd ologiscben Labo-
ratorium zu gebrauchen ist, z. B. mit der Absicht auf den neugierigen Besucher
Eindruck zu machen. Ich habe nur die Sammlung von allem, was ich brauchte.
Ich kann diese Arbeitemethode leicht aufrecht erhalten, da ich stets ganz allein
im Betriebe bin. In der Tat habe ich keinen Assistenten, keinen Diener, nur
gelegentlich darf ich einem Lehrer oder einer Lehrerin umfangreiche bezahlte
Kcchen- oder Kopienarbeiten auftragen. Aber der Mangel eines elementaren
Personals macht sich sonst recht schmerzlich geltend. Habe ich doch im Auslande
allein etwa 400 Korrespondenten! Dies abgesehen von meinen wissenschaftlichen
Bestrebungen.
Nie wurde mir gesagt was ich tun muß. Schöffe Dr. Desguin gab mir
anfangs „carte blanche" und sofort konnte ich dem neuen Organismus den wahren
Ton geben: Er würde streng wissenschaftlich sein. Von meiner Person
aus betrachtet, wäre eine andere Organisation bestimmt unmöglich gewesen. Wäre
ich an ein bm'caukratisches Regime unterworfen gewesen, ich glaube die ganze
Sache wüi*de verloren gewesen sein. Aber etwas ähnliches ist nicht vorgekommen.
Immer möchte ich mich erfreuen an der idealen Freiheit, nicht nur in meinem
persönlichen Tun und Lassen, sondern auch in meinen Veröffentlichungen. Big
jetzt wurde mir nie eine etwaige Bemerkung über das Pädologische Jahrbuch oder
meine sonstigen Schriften gemacht, obwohl mir von Zeit zu Zeit aus bestimmten
Milieus der Stadtobrigkeit Nachklänge ohne Bedeutung zukommen.
Demnach sind die Bestrebungen des Laboratoriums ziemlich abgerundet: ich
untersuche die Phänomene des Schulkindes nach meinem freien Gedankenlauf,
dabei angeregt durch die gelegentlichen Beobachtungen in den Schulen *), — ich
habe unbedingt alle städtischen Schulen zur Verfügung — und die große Zahl
von Zeitschriften, welche dem Laboratorium zukommen.
Aber daneben liegt noch ein anderes Arbeitsfeld, das sich hauptsächlich in
der chemischen Abteilung des Laboratoriums lokalisiei-te. Dort beschäftige ich
mich seit langen Jahren mit dem Studium der chemischen Reaktionsgeschwindig-
keiten mit dem Zweck, diese mit den psychischen vergleichen zu können. Ist
Ermüdung wie eine Sättigung zu betrachten, mit Zerfallpro-
dukten des Milieus, worin sich diese anhäufen? Die ersten positiven
Resultate könnte ich erst jetzt sammeln. Die gi-oße Wichtigkeit dieses Haupt-
problems der geistigen Tätigkeit ist durch niemanden zu leugnen. Wir müssen
einmal wissen, ob die Gehirnzelle ihre geheime Macht ausübt einfach und aus-
schließlich im Sinne eines molekulai-en Gleichgewichts, oder ob hierbei ein unln»-
kanntes Moment eine Rolle spielt In andern Worten: Wird die mathematische
Integi-alformel, welche die chemische Reaktionsgeschwindigkeit regiert, auch die-
jenige der psychischen Tätigkeit sein? An dieses Problem verwende ich nicht
Bclten meine schönsten Kräfte mit einer ungeahnten Seelenfreude. Muß ich sagen,
daß ich auch hier keiner einzigen philosophischen Schule Rechnung trage?
Nun ein Wort über das Pädologische Jahrbuch. Sobald das Labora-
torium zustande kam, wurde der Gedanke, ein wissenschaftliches kindcrkundliches
Organ zu schöpfen, geboi-en. Es lag auf der Hand, ein Jahrbuch zu wählen,
statt eine Zeitschrift, die verechiedene Male in einem Jaliro ci*8choinen würde, da
ich nur Original-Untersuchungen publizieren wollte und auf keine Mit-
arbeiter, wenigstens am Anfange, zu i-echnon hatte. Diese Richtung habe ich bis jetit
1) Psychologische, physiologische, hygienische, pädagogische u. s. w.
— 245 -
leicht halten können, indem ich schon mehr Probleme gesammelt habe, als ich
in meinem Leben zu lösen vermag. Meine Schüler aus der Neuen Universität
Brüssel, alle Ausländer, machen keine pädologische Dissertationen *), obwohl sie
dafür in Antwerpen Gelegenheit genug haben; und hier, in meiner Vaterstadt,
gibt es niemand, der ohne Nebeninteresse mit mir mitgehen will. Höchstens
kommt dann und wann ein Student einer ausländischen Universität zur Prüfung
seiner Dissertation für eine kurze Zeit „unter Dach" ^) fragen. Von Seiten der
Lehrer habe ich nichts zu erwarten, darüber habe ich zu vieles erfahren. Nur
eine kleine Schar, für die Mehrzahl Damen, bleibt mir treu und folgt sympathisch
den zweimonatlichen Sitzungen der Pädologischen Gesellschaft, welche am 1. Jan.
1902 gegründet ist und konstant rund 130 Mitglieder (ungefähr 40 Ausländer)
zählt, seit 1905 ein eigenes „Bulletin" veröffentlicht^). Aber auch hier ist von
Mitarbeit natürlich nicht die Rede. Ich habe es dann endlich aufgegeben, aus
der Schulwelt Antwerpens ein Zentrum von wissenschaftlicher Tätigkeit aufzu
bauen. Ich ziehe mich mehr und mehr in mein Laboratorium zurück. Außerhalb
Antwerpens ist im Gegenteil mein Beispiel in Belgien — und selbstverständlich
auch im Auslande — sehr ansteckend und fruchtbar gewesen ^). Aber das Jahr-
buch ist, trotz meinen rastlosen Bestrebungen, mit nur meinen eigenen Veröffent-
lichungen gefüllt, allein geblieben. Nicht weil die Mitwirkung z. B. aus Holland
ausgeblieben, ist aber weil von Amts wegen auf nicht von meiner Hand ge-
schriebene Veröffentlichungen ein Verbot gelegt wurde. Das Jahrbuch wird
assimiliert an die Bulletins der übrigen städtischen Dienste! Ich muß mich
natürlich unterwerfen, bin aber darüber sehr betrübt. Antwerpen wird kein
pädologisches Weltorgan besitzen. Es sei denn, daß ich ohne offizielles Ent-
gegenkommen eine eigene Zeitschrift gründe. Die Haltung der Antwerpner Ver-
waltung in dieser Sache mag eine ziemlich rätselhafte heißen — obwohl ich sie
nicht zu beurteilen habe — da sie doch in anderen Umständen so außerordentlich
liberal reagiert. Ich zitiere nur ihre stark ausgesprochene Tendenz nie fremd
zu bleiben für die wichtigsten ausländischen Bestrebungen auf jedem Gebiet.
Dafür sendet sie jährlich ihre Beamten-Spezialisten nach Ausstellungen, Kongressen,
Fabriken u. s. w., wo vermutlich Nutzen und neue Gedanken zu ernten sind. Ich
gebe mich selbst als Beispiel: Seit 1900 ging ich zwei Mal nach Paris (das
erste Mal im Jahre 1900 als Vertreter der Stadt auf dem IV. Internationalen
Kongreß für Psychologie, das zweite Mal im Jahre 1906 mit dem Zweck, im
chemischen Laboratorium von Montsouris die neuen Apparate zur Luftanalyse von
Levi-Pecoult zu prüfen), nach Nürnberg (I. Internationaler Kongreß für Schul-
hygiene 1904); Berlin (I. Deutscher Kongreß für Kinderforschung, 1906);
Amsterdam (I. Internationaler Kongreß für Psychiatrie u. s. w. 1907); Rundreise in
Holland mit Schöffe Desguin um die Einrichtungen für den Unterricht der fehlerhaft
sprechenden Kinder zu besuchen, 1908; London (II. Internationaler Kongreß für
Schulhygiene, 1907; Besuch mit Schöffe Desguin am I. Internationalen Kongreß
für moralische Erziehung, 1908); Deutscher Schulhyg. Kongreß in Darmstadt 1908;
1) Es scheint, ich setze die wissenschaftlichen Forderungen zu hoch!
2) Siehe z. B. Abelson (A.R.): Mental Fatigue and its Measurements by
the Aesthesiometer. Diss. Engelmann. Leipzig 1908.
3) Die zwei ersten Jahre sind publiziert im pädologischen Jahrbuch III— IV u. V.
Von 1909 ab bekommt die Gesellschaft von der Stadt eine jährliche Zulage von 200 Fr.
4) Siehe Meumanns. Vorlesungen zur Einführung in die Experimen-
telle Pädagogik. Vorwort Seite 11.
— 246 —
u. in Dessau 1909 mit Schöffe Desguin. Genf (VI. Internationaler Kongreß für
Psychologie, August 1909). Man erinnere sich auch der Schöpfung, des Ehren-
titels „Korrespondent van den Antwerpschen paedologischen Schooldienst", welche
auf meine Anregung geschaffen wurde und nur an bedeutende ausländische Kinder-
kundige verliehen wird ^).
Die wichtigsten im Laboratorium benutzten Ztntschriften sind folgende in will-
kürlicher Keihe. Die mit Stern versehenen sind in vollständiger Sammlung voirätig.
1. * Zeitschrift für Experimentelle Pädagogik. Nemnich, Leipzig.
2. * Journal de Psych, norm, et pathologique. Alcan, Paris.
3. ^Gesunde Jugend. Teubner, Leipzig.
4. *Eos. Pichler's Ww. & Sohn, "Wien und Leipzig.
5. *Arcliiv für die gesamte Psychologie. Engelmann, Leipzig.
6. *Rivista di Psicöl. applicata. Bologna.
7. * Zeitschrift für angeivandte Psychologie und psydiologisdie Sammelforsehung.
Barth, Leipzig.
8. * Internationales Archiv für Schulhygiene. Engelmann, Leipzig.
9. *Sammlung von AhJtandlungen aus dem Gebiete der Pädagogik^ Psychologie und
Physiologie. Reuther & Reichard, Berlin.
10. American Journal of Psyclwlogy. Chandler, Worester, Mass.
11. *Gesond}ieid in de School. Van Kampen, Amsterdam.
12. *J7ie British Journal of Psychdogy. University Press, Cambridge.
13. * Zeitschrift für Psycfwlogie und Physiologie der Sinnesorgane. Barth, Leipzig.
14. *Zeitsdirift für ScHiuJgestmdheitspßege. Voß, Hamburg und Tjeipzig.
15. *Zeitsc}irift für Kinder forsdiung. Beyer, Langensalza.
16. * Zeitschrift für pädagogisdie Psyctiölogie^ PcUhdlogie und Hygiene. Walther, Berlin.
17. Revue Sdentifique. Paris.
18. ^Pädagogisüi-psychölogisclic Studien. Brahn, Leipzig.
19. The Pedagogicdl Seminary. Chandler, AVorcester, Mass.
20. Psycfiiatrische en Neurologische Bladen. Van Rossen, Amsterdam.
21. *Arclnvos de Pedagogia y Ciencias afines. Universidad National. La Plata
(R. Arg.).
22. *Vannie psycJwlogique. Masson, Paris.
23. Onderzockingen gedaan in het Physid. Lahoi'atorium der Utrechtsdie IJoogeschod.
Oosthoek, Utrecht.
24. *Archive8 de Psychdogie. Kundig, Geneve.
25. *La Revue Psyclwlogique. 35, Avenue Paul de Jaer, Bruxelles.
26. *.B. A. P. G. (BuUetyn v. h. Algemoen paedol. Gezelschap). Paedolog.
Laborat. Antwerpen.
27. *Paeddogisch Jaarhoek, Ibid.
28. *Bulletin de la SHi lihre p<mr VHude psycJtdogiqtU de fenfant. Alcan, Paris.
29. * Psychciogiche Arbeiten. Engelmann, Leipzig.
30. Mind. Mc Millan. London, New York.
31. * Beiträge ». Psychd. d. Aussage. Barth, Leipzig.
Hierbei sind noch zu erwähnen:
1) Siehe die Jahrbücher. Bis jetzt wurden ernannt: Binet-Paris, Burgerstein-Wien,
Chabot-Lyon, Chrisman-Emporia, Ebbinpliaus-Halle, Fletcber-Beach-London, Qriesbach-
Mühlhansen, Mac-Donald-Washington, Mcumannllallc, Notschajeff-St. Petersburg, Scbmid-
Monnard-Ualle, Stanley-Ilall-Worccster, Yaschidc-Paris, Warner-London.
— 247 —
1. GyermeJcvedelmi Lap (Budapest), TJie Training School (Vineland N. Y.),
L' Lducateur moderne (Paris), L'Ecöle Nationale (Bruxelles), Tijdsclirift vom- Armen-
zorg en Kinderhescherming (Haarlem), Vaktydschrift van Onderwyzers (Groningen),
V. E. 0. Berichten an Mededeelingen van de Vereeniging tot vereenvoudiging en ver-
betering van Examens en Ondemys (Arnhem) und sonstige wissenschaftlich wenig
bedeutungsvolle pädagogische Blätter, welche einen mehr praktischen, nicht
experimentellen Charakter besitzen, aber nicht selten wertvolle Anregungen zum
Studium, insbesondere des Schulwesens, hervorrufen.
2. Die „Memoires" und „Bulletins" von einigen wissenschaftlichen Aka-
demien, welche ich wegen ihres nicht pädologischen Charakters hier nicht zu
erwähnen brauche.
3. Einige wichtige, für mich nicht zu entbehrende chemische Zeitschriften:
CJiemisches Zentralblatt (Berlin), Chemiker- Zeitung (Cöthen, Anhalt), Chemical News
(London) u. s. w.
AVas Bücher, Dissertationen, Gelegenheitsschriften, u. s. w. betrifft, so glaube
ich alles zu besitzen was wichtiges in der Welt erschien.
Vielleicht ist nun noch die Liste meiner Veröffentlichungen (bis Ende Mai
1909) erwünscht. So gebe ich ein Bild der Tätigkeit des Laboratoriums. Dabei
sind die Arbeiten chemischer Natur (ca. 50 Nummern) nicht erwähnt.
A. Einderstudium.
I. Experimentelle Beiträge.
1893
1. Contribution ä Tetvde des essais d'education experimentäle. Sur un nouveau
moyen d'observer les enfants en vue de la d^termination approximative du
degre de la force intellectuelle. Impr. Van Tendeloo, Anvers, 1893.
2. Quels sont les rayons du spedre dont Vexdtation sur la retine des enfants est Ja
joius i7itense? Belgique medicale, II, 1893, n° 38.
1896
3. Influence des variations de la temperature atmospherique sur V attention vdlontaire
des eleves. Premiere communication. Bul. de l'Acad. roy. de Belg. Classe des
Sciences. 3'»« serie. XXXII, 1896.
1897
4. Ibid. Deuxieme communication. Bull, de l'Acad. roy. de Belg. Classe des
Sciences. 3™® sörie. XXXIV, 1897. Zusammenfassung in Paedol. Jaarb. 11,
1901.
1900
5. Over de toename der spierkracht bij hinderen gedurende het schooljaar. Paedol.
Jaarb. I, 1900. Auszug in Handel, van het 3® Vlaamsch Natuur- en Ge-
1) Den Niederländischen Verhandlungen im Jahrbuch sind immer fremdsprachliche
(hauptsächlich französische) Auszüge beigelegt.
— 248 —
neesk. Congres gehouden te Antwerpen in 1899 imd in Zeitschr. für Psych,
u. Phys. der Sinnesorgane, Bd. 28.
ü. In hoeverre is het gezicht der meisjes aangepast hij het verrichten van handwerk
in de gewone onderrichtsldassen der Antwerpsche gemeenteschölen? Paedol.
Jaarb. I, 1900. Handel, van het 3® VI. Natuur- en Geueesk. Congres ge-
houden te Antwerpen in 1899.
1901
7. Over de veranderlijkheid der spierkracht hij kinderen geduzende het kniender- en
het tchodljaar. Paedol. Jaarb. II, 1901. Französisch auf dein 4. Congrös
intern, de Psychologie, tenu k Paris, Aoüt 1900.
8. Het oorspronkdijk teekenen als bijdrage tot kinderanalyse. Paedol. jaarb. II, 1901.
9. Steilschrift of Sdminschriß? Paedol. jaarb. II, 1901.
10. Experimentacd te ontmkkden thesen. Paedol. jaarb. II, 1901.
1903
11. Zijn de sdiodkinderen der weist eilende Antwerpsdie hurgers spierkradUiger dun
die der min gegoede hevdking? Paedol. Jaarb. III — IV, 1903. Handel, van
het 6® VI. Natuur- en Gen. Congres, gehouden te Kortrijk- in 1902.
12. Knijpkraditvariatie en Verstatidsontwikkding der Sdwoikinderen. Paedol. Jaarb.
III— IV, 1903. Handel, van het 6® VI. Natuur- en Geneesk. Congres, ge-
houden te Kortrijk in 1902.
13. Klassenhoogte en ouderdorn der normale sdioolgaande jeugd. Paedol. Jaarb.
III— IV, 1903.
14. Over geheugenvariatie hij schodkinderen. Paedol. Jaarb. III — IV, 1903. Handel
van het 6*^ VI. Natuur- en Geneesk. Congres, gehouden te Kortijk in 1902.
15. Eene proeve ran vdledige kinderanalyse. Paedol. jaarb. III — IV, 1903.
IC. Sur les metlwdes de la viensuration de la fatigue diez les ecdiers. Compte-
rendu du Congres intern. d'Hygiene et de Demographie, 1903. Arch. de
Psychologie, II, 1903. Niederländische Übersetzung in Medisch Weekblad.
Dec. 1903 und Handel, van het 7« VI. Natuur- en Geneesk. Congres, geh.
te Gent in 1903.
1904
17. De oorspronkdijke „ventjes"^ der Antiverpsche sdiodkinderen. Paedol. Jaarb. V, 1904.
18. JYu5e«, de geestesnevd der normale sdwdgaande jeugd. Paedol. Jaarb. V, 1904.
19. Over de toename der spierkradd hij kinderen gedurende het schodjaar (Tweede
mededeeling). Paedol. Jaai-b. V, 1904.
20. Over redUs- en UnksJiandigheid hij kinderen, Paedol. Jaarb. V, 1904.
21. Comment doit-on mesurer la fatigue des icdiers? Rapport fait au 1*' C
intern. d'Hygiene scolaire t\ Nurenberg en 1904. Arch. de Psycholo^
1904, 113. Handel, van het S* VI. Natuur- en Geneesk. Gongree gehoudtn
te Antwerpen in 1904.
22. Over de leidende faktoren der spierhradUvariatie» Paedol. Jaarb. V, 1904.
1906
23. ExperimenteBes mim Studium der gehräudüid^sten M '
UnterridU. Die Experimentelle Pädagogik, 111. 1, . \. i. -i.-.. :
B. A. P. G. n, 1906, 25.
J
— 249 -
24. Über den Farhensinn bei Schulkindern. Die Experimentelle Pädagogik, III,
1906 (Siehe n'* 2).
25. Sur la vcdidite de Venseignement intuitif primaire. Arch. de Psych. Y, 1906.
Niederländisch in B. A. P. G. II, 1906, 61.
26. Onderzoekingen wer Esthesiometrische variatie bij hinderen gedurende het schodl-
jaar. Paedol. Jaarb. VI, 1906/07. Spanische Übersetzung von V. Mercante
in Archivos di Pedagogia y Ciencias afines, III, 186.
1907
27. Over Geheugenvariatie bij ScJioolkinderen. Paedol. Jaarb. VI, 1906 — 07, 91.
28. De Oppervlakte van het geschrift. Paedol. Jaarb. VI, 1906 — 07, 129.
29. Over Vom-- en Namiddagonderwijs. Paedol. Jaarb. VI, 1906 — 07, 159.
1908—09
30. Over Broodopname bij hinderen en de Jaarcurve der Levensenergie. Paedol.
Jaarb. Vn, 1908—09.
31. La anirbe annueüe de T Energie vitale. Eevue de Psychol. I, 1908. (Zie n' 30).
32. Esthesiometrische onderzoekingen op volicassen leerlingen die een avondcursus vdlgen.
(Bijdrage tot de studie der dagverdeeling in de school). Paedol. Jaarb YII,
1908—09.
33. Linkshandigheid der hovenste ledematen en verstanddijke hoogte bij kinderen.
Paedol. Jaarb. VH, 1908—09.
34. Bijdrage tot de kennis der Hechts- en Linkshandigheid van de onderste ledematen.
Paedol. Jaarb. YII, 1908—09.
35. Onderzoekingen over Verstandelijke Indeeling van normale Schölieren. Paedol.
Jaarb. YII, 1908—09.
36. Onderzockingon over Ononderbroken Veranderlijkheid van het kinderlijke Psyche.
Paedol. YII, 1908—09.
n. Synthesen und Artikel.
37. Een kijkje in de Paedologie. Paedol. Jaarb. III— lY, 1903, 438.
38. Quelle est Vinfluence psychique des alienes d^une colonie sur les individus et les
enfants norviaux qui les entourent? Compte-rendu du Congres intern, de
l'assistance des alienes tenu ä Anvers en 1902. Paedol. Jaarb. III — lY, 1903,
467. Handel, van het 7® Yl. Natuur- en Geneesk. Gongres te Gent, in 1903.
39. Gelegenheidsrede. Paedol. jaarb. III — lY, 1903.
40. A quel dge doit-on mettre Venfant ä Vecole? L'Ecole nationale, lY, 1904 — 05, 2.
41. Kwäjongensstreken en geestrijke zetten. B. A. P. G. (Bull, van het Algem. PaedoL
Gezelschap), I, 1905, 14.
42. lets over het Congres van Nurenberg. B. A. P. G., I, 1905, 18.
43. Vinstructicm obligatoire. L'Ecole Nationale, YI, 1906—07, 388, 387.
44. Note pedagogique sur le dessin des enfants. Arch. de Psych. YL 1907.
45. Het eerste Duitsch paeddogisch Congres, te Berlijn 1906. B. A. P. G., III, 1907, 7.
46. Over de methodiek van het aanvankdijk Chemie-onderwijs. Openingsrede. Handel,
van het XI® Yl. Natuur- en Geneek. Congres gehouden te Mechelen in 1907.
47. Some synthetic Mesults of my Paedological investigations in Antwerp during ten
Years (1896 — 1906). Second Int. Congress on School Hygiene held in
London, 1907.
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 17
— 250 —
48. Quelques pröblemes de la Peddogie actueüe. Congr^s intern. Psychiatrie, Neuro-
logie et Psychol. tenu a Amsterdam en 1907.
49. Wat is Overlading? Omtaat zij door een te ved of door eenzijdige lading?
V. E. 0., n' 15, 1908. Paedol. Jaarb. VII, 1908—09. Französische Über-
setzung von Mevr. Lievevrouw-Coopman in La Revue Psychologique (loteyko),
I, 1908.
50. Mesure de la fatigue inteUectueUe chez les enfants des deux sexes aoec Festhisio-
metre. Revue de Psychiatrie, Avril 1908 (20 p. 1 fig.).
51. Der gegenwärtige Stand der angewandten Psychologie in den einzelnen KuUur-
Hindern. Vll. Belgien. Zeitschr. f. angew. Psych, u. psychol. Sammelforschung,
I, 1907, 278. Französische Übersetzung in la Revue Psychologique (loteyko),
I, 1908.
52. L'^ßducation de la femme. 1 vol. in 18° de Xu + 458 p. Doin, Paris, 1908.
53. Etüde critique des MHliodes americaines d^Education. Discours public prononc^
k rUniversitd Nouvelle de Bruxelles le 2. Dec. 1908. Rev. Psych. I, 1908,
263—274. Niederl. Übersetzung in V. E. 0., No. 21, 1908.
B. Physiologie.
1898
54. Over den invloed der atmosferische toestanden op de levende wezens der gematigde
luchtstreken. Handel, van het I® VI. Natuur- en Geneesk. Congres, gehonden
te Gent in 1897.
55. Over de metingen der gezichtsscherpte uitgevoerd op de Antwerpsche schocHkinderen
door Dr. De Mets. Handel, van het II® VI. Natuur- en Geneesk. Congres
gehouden te Gent in 1898.
1899
56. Contribution ä nos connaissances du chimisme stomacal. Bull, de l'Aead. roy.
de Belg. (Classe des Sciences) 1899, 776. Deutsch in Chem. Ztg., XXTV,
1900, n" 23. Niederl. in Handel, van het 3« VI. Natuur- en Geneesk.
Congres gehouden te Antwerpen in 1899 (mit 1 fig.).
1903
57. Over de sndheid der uitstraJingswarinte van het lichaam. Handel, van het ♦>*'
VI. Natuur- en Geneesk. Congres gehouden te Kortrijk in 1902. Paedol.
Jaarb. V, 1904 (recenzion).
1904
58. Over de densiteit van takjes, Handel, van het 7« Yi Natuur- en GFeneesk.
Congres gehouden te Gent in 1903.
1905
59. Over cijferfrequentie in het proefondervindelijk massaonderzoek. Handel, van het
8* VI. Natuur- en Geneesk. Congres gehouden te Antwerpen in 1904.
1
251
Zur physiologischen und pathologischen Psychologie der elementaren
Rechenarten.
Von Dr. Paul Ranschburg, Nervenarzt.
Leiter des königL ungar. heilpädagogisch-psychologischen Laboratoriums zu Budapest.
Zweiter, abschließender TeiP).
IL Zur pathologischen Psychologie der elementaren
Rechenarten.
Im I. Teile dieser Arbeit versuchte ich auf Grundlage ziemlich aus-
gedehnter Untersuchungen, die ich mit Hülfe der experim. Sektion des
Ungar. Vereins für Kinderforschung an normalen Kindern verschiedener
Volksschulen zu Budapest angestellt hatte, einen Einblick in die Natur
der verschiedenen elementaren Eechenarten zu gewinnen. Auch die
Normalwerte des TJmfanges, der Dauer und der objektiven Sicherheit
des normalen Schülers innerhalb der Rechenarten der ersten und zweiten
Stufe in ihrer Abhängigkeit vom Alter und von der Befähigung der
Zöglinge versuchten wir zu bestimmen.
Nunmehr wollen wir uns ein vergleichendes Bild von der Rechen-
fähigkeit des pathologisch-schwachen Endes, dessen intellektuelle
Minderwertigkeit sich in der Mehrzahl der Fälle vor allem in seiner
Unfähigkeit oder Schwäche im Rechnen zu äußern pflegt, verschaifen.
Hierbei wollen wir jedoch nicht nur das schwachbefähigte Kind mit
dem normalbefähigten Kinde vergleichen, sondern innerhalb der Schwan-
kungsgebiete der Normalität hauptsächlich die unteren Grrenzen der
Normalität zum Vergleich heranziehen.
Um jedoch unsere Untersuchungen nicht ins Unendliche auszudehnen,
wählte ich zu diesen Untersuchungen bloß eine einzige Rechenart, und
zwar die schwierigste (s. Bd. VII S. 160), nämKch die Subtraktion,
und führte meine Untersuchungen persönlich an 29 Schülern der 11.
und IV. Klasse unserer Budapester staatlichen Hilfsschule aus,
1) Die ursprüngliche Absicht, die ganze Arbeit in dieser Zeitschrift zu veröffent-
lichen, habe ich infolge übermäßigen Anwachsens des Materials im Einvernehmen mit
dem Herrn Herausgeber und Verleger der Zeitschrift dahin geändert, hier in gegen-
wärtiger Mtteilung bloß das Wichtigste über das pathologische Verhalten der Bechen-
fähigkeit, als Gegenstück der im TeUe I (Bd. VII. S. 135—162) mitgeteilten Normen zu
geben, die ausführliche Aufarbeitung des ganzen, wohl auch weitere Kreise interessierenden
Stoffes hingegen als „Psychologie des Einmaleins", Experimentelle Beiträge zur
physiologischen und pathologischen Psychologie der elementaren Eechenarten" in einem
selbständigen Hefte zu veröffentlichen. Der Verfasser.
17*
— 252 —
wozu noch die Werte von 18 schon vorher von meinem gew. Assistenten
Dr. Margit Rev^'sz untersuchten Zöglinge der III., je 9 Zöglinge der
V. und VI. Hilfschulklasse hinzukamen, insgesamt also Subtraktions-
werte von 67 schwachbefähigten Zöglingen der II.— VI. Hilfsklasse im
Alter von 8 — 16 Jahren.
"Wir werden nunmehr gesondert den Umfang und sodann die
Schnelligkeit der Subtraktionen bei sämtlichen Normalen, bei den aller-
schwächsten Normalen und endlich bei den pathologisch Schwachbegabten
mit einander vergleichen. Um jedoch aus den Normalen die eventuellen,
noch nicht als pathologisch erkannten Schwachen mit möglichster Sicher-
heit auszuscheiden, ziehen wir zum Vergleich — abweichend von unseren
vorhergehenden Untersuchungen — bloß die II. — IV. Klassen der Volks-
schule heran, und zwar insgesamt 117 normale, verschieden befähigte,
hiervon 46 als die schwächsten Rechner der untersuchten Klassen
bezeichnete Schüler.
1. Der Umfang der Rechenleistung.
Tabelle XH.
Der Umfang der Subtraktionsfähigkeit bei normalen
Volksschülern und bei den allerschwächsten Rechnern der
Volksschule im Alter von 7—10 Jahren.
1.
2.
3.
4.
5.
80,1—100
60,1—80,0
40,1—60,0
20,1—40,0
0,1—20,0
Prozent
. der Subtr
aktionen h
aben richtig gelöst
aus den 13 schwächsten Rechnern
der IL Klasse:
100,0 «/o
0,0 o/o
0,00/0
0,00/0
0,0%
aus den 18 schwächsten Rechnern
der III. Klasse:
89,0 o/o
11,0%
0.00/0
0,00/0
0,00;.
aas den 15 schwächsten Rechnern
der IV. Klasse:
100,0 o/o
0,0 o/o
0,00/0
0,00/0
0,0 0,
aus den 46 schwächsten Rechnern
der II.-IV. Klasse:
95,6 0/0
4,4 0/0
0,00/0
0,00/0
0,0 •/,
aus sämtlichen 117 öchülern der
II.— IV. Klasse:
97,6 o/o
2.40/0
0.00/0
0.00/0
0,0 o/o
Es haben also sämtliche schwächsten Rechner der 11. und
Klasse die Subtraktionen in mehr als */6 der Fälle richtig gelöst un<
bloß in der III. Klasse fanden sich 11 °/o der Schwachen, d. h. 2 zu W
schwache Rechner, deren Werte unterhalb 80 °/o betrugen. Es ist nicht
253
ohne Interesse zu erfahren, daß die Werte dieser beiden Schwächsten
5,0
unter 46 Schwachen: 75,0, resp. 75,0
= 77,5 7o betrugen.
Demnach fand sich unter den 117 Normalschülern der
II.— IV. Klassen im Alter von 7 — 10 Jahren, eingerechnet
die 46 schwächsten Rechner dieser Jahrgänge, kein ein-
ziger Schüler, der aus 20 unbenannten Subtraktionen des
Zehnerzahlenkreises weniger als 15, d.h. weniger als 75 ^/o
richtig gelöst hätte.
Und es geht aus derselben Berechnung klar hervor, daß unter den
Normalen schon im Alter von 7 — 8 Jahren auch der beschränkteste
Rechner aus den Rechnungen genannter Art mit der Wahrscheinlichkeit
von 97 : 100 einen Umfang von mindestens */5 richtiger Lösungen ergibt,
daß es also innerhalb der Normalität in dieser Hinsicht
keine unberechenbaren und auch keine exzessiven Schwan-
kungen gibt.
Hingegen fanden sich in der IL — VI. Hilfsschulklasse unter
67 schwachbefähigten Schülern, auf die zumeist eine größere Zahl
von Schuljahren entfällt, als der lOassenstufe entsprächen, und die im
Alter von 8 — 16 Jahren stehen, in der IL und IV. Klasse ein Viertel,
in der III. ungefähr ein Zehntel der Schüler, die nicht mehr als 0 — 60 ^/o
der Aufgaben richtig gelöst hatten und innerhalb der IL — IV. Klasse
fanden sich durchschnittlich 70 ®/o, die die Aufgaben zu */5— Vs richtig
gelöst haben.
Tabelle XIII.
Der Umfang der Subtraktionsfähigkeit bei 8 — 16jährigen
Schwachbefähigten der Hilfsschule.
80,1—100
2.
60,1—80,0
3.
40,1—60,0
4.
20,1—40,0
5.
0.0—20,0
Prozent der Subtraktionen haben völlig gelöst
Aus 17 Schülern der II. Hilfs-
schulklasse :
Aus 20 Schülern der III. Klasse:
Aus 12 Schülern der IV. Klasse:
Aus insgesamt 18 Schülern der
V. und VI. Klasse :
70,0 7o
6,0 o/o
6,00/0
12,0 o/„
65,0 «/o
15,0 o/o
5,00/0
0,00/0
75,0 o/o
0,0 o/o
8,00/0
0,00/0
94,4 0/,
5,6 o/o
0,00/0
0,0%
76,0 0/0
7,50/0
4,50/0
3,00/0
6,00/0
15,00/0
17,00/0
0.00/,
Aus 67 Schülern der II.— VI.
Hilfsschulklasse :
9,00/0
— 254 —
Im Dorchsclinitt fanden sich demnach unter 67 schwachbefähigten
8— 16 jährigen Schülern, gegenüber den 95,6 °/o der schwächsten Rechner
der Normalen, bloß 76,0 %, die mehr als 80 7o richtige Losungen lieferten.
Hingegen befinden sich unter denjenigen 16 Schwachbefähigten, die
weniger als *!& Lösungen lieferten, 13 Schüler, d. h. ungefähr 20°/o
sämtlicher Untersuchten, deren Umfang weniger als 75%, also weniger
als das Minimum der normalen Schwachen beträgt.
Diese unterhalb der Minimalwerte der Normalen stehenden Werte
der Hilfsschulen waren innerhalb der einzelnen Klassen die folgenden:
IL Klasse: 0,0, 25,0, 29,0, 58,8;
in. Klasse: 0,0, 0,0, 20,0, 57,5, 70;
IV. Klasse: 2,5, 15,0, 45,0;
V. und VL Klasse: 70,0.
Vergleichen wir demnach den Umfang der Subtraktionsfähigkeit
bei normalen Rechenschwachen und bei pathologisch Schwachbefähigten,
so finden wir, daß bei ungefähr ein Fünftel der letzteren (13 : 67) das
Ergebnis ein derartig schwaches ist, daß es unterhalb der Mindestleistung
der normal Schwachen bleibt. Erst bei den Schülern der V. und VI.
Hilfsschulklasse zeigen sich Werte, welche dem Durchschnitt der nor-
malen Schwachen ganz nahe stehen.
Diese Eeststellungen zeigen schon an und für sich, daß es zwischen
der Leistungsfähigkeit der normalen Schwachen und der Schwach-
befähigten nicht nur den komplizierten, sondern auch den elemen-
tarsten Rechenaufgaben gegenüber schon bezüglich
des Umfanges der Leistung gewisse Unterschiede
geben kann, und daß es gewisse Grenzen gibt, welche
auch von den schwächsten Normalen schon im Alter von
8 Jahren überschritten werden, während die patholo-
gisch Schwachbefähigten zum Teil erst nach mehr-
jährigem speziellem Unterricht, mit bedeutender Ver-
spätung, zum Teil jedoch überhaupt nicht über die-
selben hinwegkommen.
Ein wirklicher prinzipieller Unterschied bezüglich des Wissens -
umfanges der physiologisch und der pathologisch schwachen Rechner
läßt sich trotz allem dennoch nicht nachweisen.
Von praktischem Standpunkt hingegen läßt sich den erhaltenen
Ergebnissen ein gewisser Wert dennoch nicht absprechen. So manches,
was bisher im besten Fall vermutet werden konnte, ist nunmehr als
bewiesen zu betrachten.
So ist es, wenigstens für Kinder, welche städtische Schalen absol-
vieren, als erwiesen zu betrachten, daß
— 255 —
a) Um fangswerte, die tief unterhalb 75 ^/o stehen,
entschieden stark auf pathologische Schwachbefähi-
gung verdächtig sind.
b) Vielleicht noch wichtiger ist die Feststellung der Tatsache, daß
die Lösung der Subtraktionen des Zehnerzahl enkreises
selbst bei 100 Prozent richtiger Lösungen überhaupt
kein Beweis normaler Befähigung ist und auch nichts
gegen die Annahme pathologischer Schwachbefähigung
beweist.
c) Von forensischem und psychiatrischem Stand-
punkte aus kann es ferner in gewissen Fällen wichtig sein, zu wissen,
daß es relativ leichte Fälle von Schwachbefähigung gibt, wo trotz mehr-
jährigem Unterricht das Ergebnis, besonders bei den reziproken Rechen-
arten gleich Null ist, daß also in diesem Punkte absolutes Unwissen
nicht als Zeichen von Simulation gedeutet werden kann.
b) Die ßaschheit der Subtraktionsleistung.
Einen besseren Einblick in die Differenzen der Eechenfähigkeit der
normalen Schwachen und der pathologisch Schwachbefähigten bietet uns
der zeitliche Verlauf der Subtraktionsleistungen beider Gruppen, deren
Häufigkeitswerte wir in Prozenten ausgedrückt in den beiden hier fol-
genden Tabellen finden.
TabeUe XIV.
Der zeitliche Verlauf der Subtraktionsleistung bei den
schwächsten Rechnern der Volksschule.
Mit einer mittleren Geschwindigkeit von
1,0—2,0 Sek.
2,1—3,0 Sek. 3,1-4,0 Sek. 4,1— X Sek.
lösten die Subtraktionen in Prozenten der Schüler:
Aus 13 Schülern der II. Volks-
schulklasse :
7,7
30,8
38,5
23,0
Aus 18 Schülern der III. Klasse :
88,9
11,1
0,0
0,0
Aus 15 Schülern der IV. Klasse :
73,3
13,3
6,7
6,7
Aus insgesamt 46 Schülern der
IL— IV. Klasse:
60,9
17,4
13,0
8,7
- 256 —
Wie aus einer Vergleichung dieser Tabellen mit denjenigen der
Tabellen VI., VII. und VIII. ersichtlich ist, sind die Unterschiede bezüg-
lich des zeitlichen Verlaufes der Subtraktionsleistung tatsächlich bedeu-
tend größer, als diejenigen, die wir bezüglich des Leistungsumfanges der
beiden Gruppen nachweisen konnten.
Untersuchen wir vorerst die Zeitwerte der normalen schwachen
Rechner, so fällt vor allem auf, daß die Zahl der besonders langsam
rechnenden Schüler in der II. Klasse eine verhältnismäßig sehr große
ist, und daß dieses Verhalten sich von der U. zur III. Klasse auffallend
TabeUe XV.
Der zeitliche Verlauf der Subtraktionsleistung bei
67 (64) schwachbefähigten Schülern der IL — VI. Hilfs-
schulklasse.
Mit einer mittleren Geschwindigkeit von
1,0—2,0 Sek.
2,1—3,0 Sek.
3,1—4,0 Sek. 4,1— X Sek.
lösten die Subtraktionen
n Prozenten der Schüler:
Aus 17 (16) Schülern der II.
Hiltsschulklasse :
0
41
12
47
Aus 20 (18) Schülern der III.
Klasse:
5
17
17
61
Aus 12 Schülern der IV. Klasse:
25
33
0
42
Aus 18 Schülern der V. und VI.
Klasse:
28
33
22
17
Aus insgesamt 67 (64) Schülern
der II.— VI. mifsschulklasse:
14,0
31,3
14,0
40,7
Die in Klammem befindlichen Schülerzahlen geben die Zahl derjenigen Schüler an,
deren Zeitdauer in Berechnung kam. Da bei einem Schüler der II. und 2 Schülern der
III. Klasse A = O war, konnte die Zeitdauer dieser 3 Schüler nicht berechnet werden,
während der Umfang ihrer Leistung in den Berechnungen der Tabelle XIII eine Rolle spielt.
ändert. So ist die Prozentzahl derjenigen Schüler, deren durchschnitt-
liche Subtraktionsdauer länger als 3 Sekunden ist, in der 11. Klasse
61,5 zu Hundert, während wir in der III. Klasse keinen einzigen, i^^
der IV. IClasse 13,4 zu Hundert Schüler mit einer derartig langen Rc
Produktionszeit finden.
— 257 —
Die Erklärung dieses Verhaltens wird wohl z. T. die wachsende
Reife der Schüler von der U. bis III. Klasse sein, infolge deren die
empirischen Grundlagen der elementaren Subtraktionen sich infolge der
stetigen Übung befestigen und der Verlauf der zahllose Male eingeübten
und aufgefrischten Assoziationen teils eben infolge der stets wachsenden
Übung, teils infolge der zunehmenden physiologischen Reifung ein
rascherer wird. Andererseits aber werden die allerschwächsten Rechner
zur Wiederholung der Klasse verhalten, kommen daher nicht in die
III. Klasse hinüber, werden auch hie und da als pathologisch Schwach-
befähigte erst in der II. Klasse endgültig erkannt und der Hilfsschule
überwiesen, wogegen es durchaus nicht ausgeschlossen erscheint, daß es
zwischen den auffallend langen Werten der II. Klasse auch einige wirk-
lich Schwachbefähigte geben mag.
Unter sämtlichen (33) Schülern der III. und IV. Klasse fand sich
ein einziger, 10 Jahre alter Knabe, D. Zs., dessen Subtraktionsdauer mehr
als 4 Sekunden, und zwar 4,3 Sekunden, betrug. Dieser Knabe war
von seinem Klassenlehrer schon ein Jahr vorher mittels meiner Methode
untersucht worden. Seine Subtraktionsdauer hatte damals 7,8 Sekunden
betragen. Im Untersuchungsprotokoll dieses vergangenen Jahres steht
folgendes: „In den 2 ersten Schuljahren hatte der Knabe keine Idee
von einer Zahl, doch nahm ihn sein Klassenlehrer, da er in den
übrigen Lehrgegenständen Erträgliches leistete, in die III. Klasse mit
sich. Hier löste er schon die Aufgaben des Zehnerzahlenkreises, ja auch
einfachere Beispiele aus höheren Zahlenkreisen. Er rechnet an
seinen Fingern."
In der IV. Klasse steht in seinem Protokoll folgendes: Zensur:
aus Rechnen: befriedigend; durchschnittliche Zensur: gut. Er denkt
sehr langsam. Im Notfall rechnet er an den Fingern."
Da also auch dieses Protokoll gleich demjenigen der III. Klasse
aus den übrigen Lehrstoffen über einen durchschnittlich guten Fortschritt
des Knaben berichtet, ist anzunehmen, daß es sich hier anscheinend um
einen Fall isolierter Schwachbefähigung im Alter von 10 Jahren
handelt. Der Knabe ist — trotzdem seine Note „befriedigend" lautet,
nach unseren objektiven Untersuchungen nicht nur aus der Subtraktion,
sondern auch auf dem Gebiete der 3 übrigen elementaren Rechenarten
der allerlangsamste der 3 Schulen zugehörigen 37 untersuchten Schüler
der IV. Klasse. Seine Zeitwerte (Multiplikationsdauer 2,0, Additions-
dauer 3,1, Divisionsdauer 4,2) muten an, als wäre er irrtümlich aus der
n. in die IV. Klasse hinübergeraten.
Hingegen wird die Behauptung des Lehrers, daß der Knabe höchst
langsam denke, aber befriedigend rechne, durch den Umstand bekräftigt,
— 258 —
daß er wohl als der langsamste unter seinen Genossen, aber, wenn auch
nicht immer sofort präzise, dennoch sämtliche Aufgaben aller Rechenarten
richtig löst. Sein Leistungsumfang ist aus der Addition A = 100 ^/o,
aus der Multiplikation 90 + 10/2^0, aus der Division 70 + 30/2%, aus
der Subtraktion 93 + 7/2 °/o , d. h. er rechnet fehlerhaft, korrigiert aber,
aufmerksam gemacht, sämtliche Fehler ohne Ausnahme.
Diese isolierte Schwachbefähigung im Eechnen unterscheidet sich
also von der pathologischen Schwachbefähigang auch in dem Verhalten,
daß sie sich, wenigstens bezüglich unseres Prüfungsstoffes, ausschließlich
auf den zeitlichen Verlauf des Rechenvorganges beschränkt.
Unter den 15 schwachen, und zugleich unter den 37 genannten
Rechnern der IV. Volksschulklasse fand sich noch ein zweiter Schüler,
dessen Rechendauer die 3 Sekunden überschritt, und zwar war dies ein
12 Jahre alter Schüler namens Gr. Gz., der die Klasse wiederholt, den
sein Klassenlehrer als „nicht besonders intelligent" charakterisiert, und
der nicht bei seinen Eltern, sondern bei der Familie eines Kellners ge-
pflegt wird. Auch die Rechenzeiten dieses Schülers sind, wenn auch
kürzer, als diejenigen des vorangehend besprochenen D. Zs., mit Aus-
nahme der Multiplikation die längsten von 16 untersuchten Schülern
seiner Klasse. Hingegen ist sein Wissensumfang aus sämtlichen vier
Rechenfonktionen rund A = 100, d. h. er löste sämtliche Operationen
des Zehnerzahlenkreises, obwohl sehr langsam, aber ohne Ausnahme so-
fort richtig. Seine Zensur aus Rechnen ist: ungenügend.
Wie ersichtlich, ist bei den schwach rechnenden Normalen
schon die Subtraktionsdauer von 3,0 Sekunden von der 3. Klasse, also
vom 7. — S.Lebensjahre an eine seltene Ausnahme ; die Subtraktions-
dauer beträgt bei mehr als 80^/o der Schüler 1,0 — 2,0 Sek.
Hingegen entfallen unter den pathologisch Schwachbefähig-
ten in der zweiten Klasse auf 17 Schüler 7, in der III. Klasse auf 18
Schüler 11, in der IV. auf 12 Schüler 5, in der V. — VI., also auf der
höchsten Stufe, auf 18 Schüler noch immer 3 (insgesamt also 26 auf 65)
solche, deren Subtraktionsdauer mehr als 4 Sekunden beträgt,
und ist die Subtraktionsdauer bei 25 von diesen 26
Schülern eine längere, als die bei den schwächsten Nor-
malen überhaupt vorkommende Subtraktionsdauer.
Übrigens folgen hier die mittleren Subtraktionszeiten der schwächsten
Normalen und der Schwachbefahigten.
I
259 —
Tabelle XVI.
Die Subtraktionszeiten der schwächsten normalen
Rechner.
1,0—2,0 Sek.
2,1—3,0 Sek. 3,1—4,0 Sek.
4,1— X Sek.
II. Klasse
(13 Schüler)
m. Klasse
(18 Schüler)
lY. Klasse
(15 Schüler)
1,8
1,0, 1,4, 1,4, 1,4,
1,4, 1,6, 1,6, 1,7,
1.8, 1,8, 1,8, 1,9,
1.9, 2,0, 2,0, 2,0
1,2, 1,2, 1,3, 1,4,
1,4, 1,4, 1,4, 1,6,
1,8, 1,9, 2,0
2,2, 2,4, 2,9
2,1, 2,8
2,2, 2,3
3,1, 3,2, 3,2, 3,8,
3,8
4,3, 6,7, 9,9
3,4
4,3
TabeUe XVII.
Die Subtraktionszeiten der Schwachbefähigten.
1,0—2,0 Sek.
2,1—3,0 Sek.
3,1—4,0 Sek.
4,1— X Sek.
II. Klasse
(17 Schüler)
III. Klasse
(18 Schüler)
IV. Klasse
(12 Schüler)
V.— VI. Klasse
(18 Schüler)
2,0
1,8, 1,8, 1,8
1,4, 1,6, 1,8, 2,0,
2,0
2,2, 2,6, 2,7, 2,8,
2,8, 3,0, 3,0
2,4, 2,4, 3,0
2,1, 2,2, 2,4, 3,0
2,1, 2,1, 2,2, 2,2,
2,4, 3,0
3,4, 3,6
3,2, 3,8, 3,9
3,1, 3,2, 3,4, 3,9
4,2, 5,0, 5,6, 5,8,
7,4, 12,0, 14,6
4,4, 4,7, 4,8, 5,0,
5,0, 5,1, 5,6, 5,6,
6,8, 8,1, 12,0
4,6, 4,7, 5,6,
12,6, 15,0
5,6, 11,7, 14,1
Wie ersichtlich, finden wir auch bei der intellektuellen Schwach-
befähigung die Besserung der Resultate von Jahr zu Jahr, parallel mit
der langsam steigenden Reife der assoziativen JBahnen und der stets
wachsenden Übungj eine Besserung, die sich in der steten Häufung der
kürzeren, und Abnahme der abnorm langen Reproduktionswerte kundgibt.
Dennoch finden wir zwischen normalen Schwachen und pathologisch
schwachbefähigten Rechnern einen wesentlichen, wenngleich bloß quan-
titativen Unterschied. Bei den normalen Schwachen über-
— 260 —
schreitet nämlich die Subtraktionsdauer vom 8. — 9. Jahre
an in mehr als 70°/o der Fälle die Zeitgrenze von zwei
Sekunden nicht, wogegen wir in Fällen pathologischer
Schwachbefähigung im Alter von 8 — 10 Jahren (II. Klasse
der Hilfsschule) keinen einzigen, im Alter von 9 — 12 Jahren
(III. Klasse der Hilfsschule) insgesamt 5°/o, und im Alter von
12 — 16 Jahren (IV., V. und VI. Hilfsschulklasse) ebenfalls bloß
26% Fälle finden, in welchen die Subtraktionsdauer nicht
über 2,0 Sekunden hinausginge*).
Umgekehrt finden sich bei den schwächsten Rechnern
der Normalen im Alter von 8 — 9 Jahren (III. und IV. Klasse)
insgesamt 6,6% mit einer die 3 Sekunden überragenden
Rechendauer, wachsend die Zahl der Schüler mit einer
mehr als 3,0 Sekunden betragenden Subtraktionszeit bei
den wirklich Schwachbefähigten 55% beträgt.
Während endlich unter den normalen Schwachen von der III. Klasse
angefangen die Zahl derjenigen, deren Subtraktionszeit mehr als 4,0
Sekunden beträgt, sich insgesamt auf 3,31 % (1 : 33) beläuft, ist die
Zahl der Schüler mit einer Rechenzeit von mehr als 4 Sekunden in der
II. Klasse der Hilfsschule fast 50 ®/o, in der III. Hilfsschulklasse mehr
als 60 %, in der IV. — VI. Hilfsschulklasse durchschnittlich mehr als 20 ^/o.
Bei den pathologisch Schwachbefähigten erreicht also die Mehrzahl
im Alter von 13 — 14 Jahren nicht die bescheidene Geschwindigkeit,
welche wir bei der Mehrzahl der schwächsten Rechner der Normalen im
Alter von 8 — 9 Jahren vorfinden.
Von praktischem (pädagogischem, psychiatrischem, forensischem)
Standpunkte aus lassen sich aus der Untersuchung der Subtraktions-
dauer innerhalb des Zehnerzahlenkreises folgende Sätze feststellen:
a) Subtraktionszeiten von 2 Sekunden und weniger
sprechen imAlter von 9 — 12 Jahren mit einer Wahrschein-
lichkeit von mehr als 90% gegen intellektuelle Schwach-
befähigung, während im Alter von 12 — 17 Jahren die Be-
deutung dieser kurzen Rechendauer — angenommen, daß das
Kind ständig speziellen Unterricht genießt — stets abnimmt, d.h.
ungefähr mit einer Wahrscheinlichkeit von 25:100 ver-
wertet werden kann.
1) Vergleichen wir die Werte der Schwachbefähigten mit denen der Nor
sämtlicher Begabungsstufen, so finden wir (Teil I., S. 151. Bd. VII) schon in der 11. Volksi-
schnlklasse 48,8 o;©, in der III. Klasse 93,7, in der IV. Klasse 86,6 «o der Schüler inner-
halb der Zeitgrenze von 2,0 Sekunden.
— 261 —
b) Subtraktionszeiten von mehr als 3 Sekunden Dauer
können im Falle normalen Schulbesuches höchstens bis
zum Alter von 7 — 8 Jahren (IL Klasse) als normal betrachtet
werden. Im Alter von über 8 Jahren sprechen Subtrak-
tionswerte von mehr als 3 Sekunden Dauer mit einer
Wahrscheinlichkeit von mehr als 90%, die 4 Sekunden
übersteigenden Subtraktionszeiten mit einer Wahrschein-
lichkeit von fast 100% gegen eine normale geistige Ent-
wicklung.
— 262 -
Literaturbericht.
William Douglas Morrison, Jugendliche Übeltäter. (Mit be-
sonderer Beriicksichtigung Englands). Autorisierte deutsche Ausgabe, frei bearbeitet von
Leopold Katscher, Leipzig. Verlag von Freund und Wittig Leipzig 1899. 146 S.
Morrison stellt sich die Aufgabe, zu erforschen, welche Ursachen die große Zahl
der Jugendverbrechen hervorrufen und welche Mittel dagegen anzuwenden wären. Er
beherrscht nicht nur alles einschlägige Material Englands und der übrigen Kulturstaaten,
sondern er bietet auch ein Muster in der sorgfältigen Verwertung desselben. Seine
Methode ist die des modernen Experiments : in einem Komplex von Faktoren ist dem ein-
zelnen nur soviel Wirkung zuzuschreiben als sich bei einer Variation desselben und beim
völligen Gleichbleiben der übrigen an Änderung ergibt. Das Buch ist jedem, der die
hier behandelte Frage studieren will, aufs angelegenste zu empfehlen.
Dr. Ludwig Pfeiffer, Schweinfurt.
R. Schulze, Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie
und Pädagogik. Leipzig, R. Voigtländer, 1909. — 292 Seiten. — Preis 5 Mark.
Verfasser bestimmt sein Buch für solche, die ohne besondere Vorstudien gemacht
zu haben, die experimentellen Methoden der Psychologie und Pädagogik kennen lernen
wollen, sodann aber auch zur Belebung des Unterrichts in der Psychologie an Seminaren
und anderen höheren Schulen. Da er nur einführen und Interesse wecken will, ver-
zichtet er auf Vollständigkeit der Darstellung und bietet in möglichst verständlicher Form
und unter Heranziehung reichlichen Anschauungsmaterials sozusagen nur Werkstatt-
proben. Als Grundlage für die mitgeteilten Forschungsergebnisse dienten dem Ver-
fasser die „Grundzüge der physiologischen Psychologie von Wundt, an dessen Termi-
nologie er, um Unklarheiten zu vermeiden, konsequent festhält, — dazu Meumanns
„Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen
Grundlagen".
Da das Buch, trotzdem sich hinsichtlich der Wahl der gebotenen Paradigmata im
einzelnen streiten ließe, wohl imstande ist, manchen bisher Fernstehenden
zum Nähertreten und Verweilen zu veranlassen, so sei sein Hauptinhalt
zwecks allgemeiner Orientierung hier mitgeteilt : Grundregeln experimenteller Untersuchung.
Richtungen der experimentellen Psychologie und Pädagogik. Anthropometrische Messungen.
— Maßbestimmungen in der Physik, Biologie, Psychologie, Kinderpsychologie und Päda-
gogik. — Psychische Maßmethoden der Empfindungsmessung. Analyse eines Empfindungs-
gebietes. Webersches Gesetz. — Räumliche und zeitliche Vorstellungen. Statistik der
Vorstellungen. — Die Ausdrucksmethode zur Untersuchung der Gefühle. Untersuchung
von Ausdruckssymptomen und -bewegungen. — Zeitfehler bei astronomischen Beobach-
tungen. Reaktionsversuche zwecks Untersuchung der Willensvorgänge nach graphischer
und registrierender Methode. Einschaltungsmethode. Muskuläre, sensorielle und natür-
liche Reaktion. Pädagogische Beeinflussung des Willensvorgangs. — Mimik und Umfang
der Aufmerksamkeit. Umfang des Bewußtseins. — Assimilation durch einzelne Vor-
stellungen, Gruppen von solchen und deren formale Verhältnisse. — Grundsätrliches fur
Methodik der Gedächtnisversuche. Gedächtnisapparate. Wiedererkennungs- und Repro-
duktionsmethoden. — Grundsätzliches über die experimentelle Untersuchung der Apper-
zeptionsverbindungen. Tachistoskopische Versuche. Statistik des VorstellungSTerlaufes
I
— 263 —
und der Reproduktionszeiten. Methodik der Zeitmessung bei Reproduktionsversuchen. —
Analyse der Sprachlaute und Sprachmelodie. Statistik der Wortformen und -Verbindungen,
Die Sprache als Ausdrucksmittel. — Der Ergograph zur Untersuchung körperlicher Ar-
beit. Maß der Arbeitsleistung. Rhythmus und Arbeit. Symmetrie der Bewegung. — Me-
thoden der Untersuchung geistiger Arbeit. Deutung der Arbeitskurve. — Korrelations-
rechnung und ihre Anwendung in Psychologie und Pädagogik.
Im Anhang bringt Verfasser ein von ihm erfundenes Chronoskop zur Darstellung,
nachdem er den Leser schon vorher mit einem von ihm konstruierten, anscheinend recht
brauchbaren „Gedächtnisapparat" bekannt gemacht hat. Für diejenigen Seminare und
höheren Lehranstalten, die geneigt wären, ihre physikalischen Cabinette mit den für
psychologische Experimente nötigsten Apparaten zu bereichern, gibt Verfasser schließlich
noch zwei Instrumentarien an, von denen das größere reichlich 900 Mk. kosten würde.
Das sorgfältig hergestellte Register erleichtert den Gebrauch des empfehlenswerten
Buches bedeutend.
Dr. Ernst Ebert-Zürich.
Gertrud Salin g, Assoziative Massenversuche. (Aus dem Psycholo-
gischen Institut der Akademie zu Frankfurt a. M.). Zeitschrift für Psychologie, Bd. 49.
1908. S. 238 If.
Die Verfasserin erwähnt zunächst die Möglichkeit, die geläufigsten und die gegen-
seitigen Assoziationen bei einer Anzahl von Menschen nachzuweisen. Wenn man einer
größeren Zahl Versuchspersonen, z. B. Verwandtschaftsnamen zuruft, so reagieren die
meisten wieder mit Verwandtschaftsnamen. Auf „Vater" z. B. wird vorwiegend mit
„Mutter" reagiert, auf Adjektiva, Förwörter, Orts- und Zeitadverbien und Zahlwörter wird
vorwiegend mit Wörtern derselben Klasse reagiert und für jedes zugerufene Reizwort
gibt es innerhalb dieser Klasse eine geläufigste Assoziation. Hierbei nennt die Ver-
fasserin im Anschluß an frühere Autoren eine Assoziation um so geläufiger, bei je mehr
Personen sie eintritt. So ist z.B. die Assoziation Vater-Mutter geläufiger, als irgend
eine andere Reproduktion, die sich an das Wort Vater anschließen kann.
Diese Erscheinungen lassen sich auch leicht vor einem größeren Auditorium de-
monstrieren, wie das von Dr. Otto Schultze in der Frankfurter Akademie ausgeführt
worden ist.
Die Verfasserin hat nun Versuche mit solchen Klassen von Reizwörtern an 34
Schulkindern von sieben bis acht Jahren angestellt (welche sämtlich Mädchen waren),
wobei sie sich an die Versuche von Thumb und Marbe anschließt, um deren Ergebnisse
an Erwachsenen mit ihren eigenen, an Kindern gewonnenen, zu vergleichen. Sie rief
also den Kindern zum Teil die gleichen Reizworte zu, welche Thumb und Marbe ver-
wendeten, um das Vorhandensein geläufigster Assoziationen nachzuweisen.
Es ergab sich, daß „die Geläufigkeit der bevorzugtesten Reaktionen bei Kindern
hinter derjenigen bei Erwachsenen im Allgemeinen wesentlich zurückbleibt", d. h. der
Prozentsatz geläufigster Reaktionen der auf Verwandtschaftsnamen, Eigenschaftswörter,
Fürwörter, Ortsadverbien, Zeitadverbien und Zahlen eintritt, ist bei Erwachsenen immer
größer, zum Teil beträchtlich größer, als bei Kindern.
Nachdem die Verfasserin noch darauf hingewiesen hat, daß sich aus Versuchen von
Watt dieselbe Erscheinung bei optisch dargebotenen Reizworten zeigt, macht sie An-
wendungen aus diesen Versuchen auf die sogenannten Komplex - Reaktionen und deren
Verwendung in der Kriminalpsychologie. Man hat in der Kriminalpsychologie bekanntlich
Versuche darüber gemacht, ob sich aus den Reproduktionen einer Versuchsperson darauf
— 264 —
schließen läßt, daß sie mit einem Tatsachenkomplex bekannt oder unbekannt ist. Sind
z. B. einer Versuchsperson die Bestandteile einer Zimmereinrichtung bekannt, so kann
sie auf ein zugerufenes Wort möglicher Weise anders reagieren, als wenn sie ihr unbe-
kannt sind. „Ist die Reaktion durch die Bekanntheit der Versuchsperson mit einem
Vorstellungskomplex beeinflußt, so liegt, wie wir nach Wertheimer sagen wollen, eine
Komplexreaktion vor. Man hat nun versucht, das Fehlen oder Vorhandensein
solcher Komplexreaktionen in kriminalistischem Interesse auszuwerten. Komplexreaktionen
Sollen auf die Bekanntheit von Angeklagten mit den fraglichen Komplexen hinweisen".
Mit Recht bemerkt die Verfasserin, daß dieses Beweismittel niemals unbedingt zuver-
lässig sein kann, denn in dem Einfluß der Bekanntheit eines Tatsachenkomplexes wird
die sogenannte Konstellation wirksam für die Reproduktion, man darf aber keines-
wegs aus der Gleichheit der Reproduktion auf eine Gleichheit der Konstellation schließen.
Dieser Schluß wird natürlich noch besonders unsicher, wenn man die Tatsache beachtet,
daß es für zahlreiche Reizworte solche geläufigste Reaktionen gibt, denn bei diesen
kann man immer annehmen, daß sie auch bei unbeteiligten Personen vorkommen. Mit
Recht fordert daher die Verfasserin, daß man in der kriminalistischen Praxis keine Asso-
ziationsversuche machen soll, ohne sich zunächst ein Bild von den Reaktionen bei unbe-
teiligten Personen zu machen. Dazu sind Massenversuche, wie die der Verfasserin sehr
geeignet. So verwandte sie z. B. bei den genannten 34 Schulmädchen solche Reizworte,
auf die früher Wertheimer nach seiner Meinung Komplexreaktionen erhalten hatte. Es
zeigte sich hierbei, daß auf « unter den zugerufenen 43 Reizworten mit den vermeint-
lichen Komplexreaktionen von Wertheimer reagiert wurde. In einem Falle war die ver-
meintliche Komplexreaktion sogar die geläuflgste Reaktion (nämlich bei Ständer: Noten-
ständer).
Hierauf bildete die Verfasserin neues Material, indem sie Reizworte verwendete,
aus welchen sowohl Wertheimer, wie Alfred Groß auf Kenntnis eines bestimmten Tatsachen-
komplexes geschlossen hatte. Diese Reizworte wurden von Herrn Dr. Otto Schnitze in
einem psychologischen Kursus achtzehn Personen zugerufen. Dabei ergaben sich Re-
aktionsworte, die auch Wertheimer und Groß erhielten und die von diesen Autoren als
Komplexreaktionen aufgefaßt worden waren. Mit Recht bemerkt die Verfasserin:
„Offenbar hätten Wertheimer und Groß manche Reaktionen nicht als Komplexreaktionen
oder als kriminalistisch verwendbar angesehen, wenn ihnen die Ergebnisse unserer Massen-
versuche vorgelegen hätten."
Sodann macht die Verfasserin noch den interessanten Vorschlag, auf Gnmd von
Massenversuchen ein Assoziationslexikon anzulegen, in welchem man die bei Massenver-
suchen erhaltenen geläufigsten Reaktionen zusammenstellt. „Das Lexikon könnte viel-
leicht verschiedene Abteilungen umfassen". Z. B. eine Abteilung für Ergebnisse bei er-
wachsenen männlichen und weiblichen Personen und für Ergebnisse mit Kindern beiderlei
Geschlechts und verschiedener Altersstufen, es könnte femer auch als wertvolles Material
für rein psychologische Untersuchungen dienen und zugleich von Sprachforschem benutzt
werden. Ein Entwurf eines solchen Lexikons wird von der Verfasserin mitgeteilt.
In einem letzten Paragraphen teilt die Verfasserin noch einzelne Reproduktionen
mit, die aus einer Kontamination (Verschmelzung) zweier Worte entstanden sind. So
ergab sich auf das Reizwort Herz das Reaktionswort Sc harz (verschmolzen aus
Schmerz und Harz), auf Ofen ergab sich Höfner (verschmolzen aus Oefen und H&fner),
auf Mund wurde reproduziert M a n d (verschmolzen aus Mund und Hand), auf dünn
wurde zweimal reproduziert duck (verschmolzen aus dünn und dick), auf M&rz wurde
reproduziert Monart (verschmolzen aus M&rz und Monat).
I
— 265 —
Man vergleiche zu dieser Abhandlung noch ThumbOund Marbe experimentelle Unter-
suchungen über die psychologischen Grundlagen der sprachlichen Analogiebildung Leipzig
1901, ferner Thumb, indogermanische Forschungen Band 22 1907, Seite 36 If., ferner
Zeitschrift für Psychologie, Band 28, Seite 84 ff. 1902 und Band 36 Seite 417 ff. 1904.
Wertheimer und Klein Archiv für Kriminalantropologie, Band 15, Seite 72 ff., 1904,
Wertheimer, Archiv f. d. ges. Psychol. 1906, Band 6, Seite 59 ff. Alfred Groß, Zeitschrift
für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 27, Seite 175 ff., 1907. Heilbronner, ebenda,
Seite 601 ff. Wreschner Ergänzungsband 3 der Zeitschrift für Psychologie 1907.
Zu bemerken ist noch, daß der Begriff der geläufigsten Reaktionen nach der Aus-
drucksweise der genannten Autoren und der Verfasserin keineswegs einwandfrei ist. Er
macht die Voraussetzung, daß die verbreitetsten Assoziationen auch für ein bestimmtes
Individium die geläufigsten sind, was keineswegs sicher erwiesen ist.
E. Meumann.
Die Technik des Tafelzeichnens.
Im Verlage von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, ist unlängst ein Werk erschienen,
das den Titel führt: „Die Technik des Tafelzeichnens". Von Dr. E. Weber, München.
Das Werk besteht aus 40, größtenteils farbigen Tafeln und einem Textheft mit Illu-
strationen in einer Mappe. (Preis 6 Mk.)
Da das Webersche Werk ganz eigenartig und interessant ist, dürfte es sich wohl
lohnen, es zum Gegenstand einer kleinen Betrachtung zu machen.
Die alte pädagogische Forderung: „Unterrichte mit der Kreide in der Hand" ist
jedem Lehrer bekannt, aber sie wird in Wirklichkeit nur selten erfüllt. Die Lehrer
können zwar an der Tafel schreiben, aber wollte man von ihnen irgend eine bildliche
Darstellung ihres Unterrichtsstoffes verlangen, so würden sie versagen. Das ist nicht
zu verwundern, denn bei ihrer Ausbildung wurde auf Wandtafelzeichnen kein Wert
gelegt. Der Verfasser zeigt nun im vorliegenden Werke, wie tief dieser Mangel an
zeichnerischer Ausbildung seitens der Lehrer zu beklagen ist, er hebt hervor, daß
„ethische und wissenschaftliche Qualitäten allein wohl einen braven Mann, einen gewissen-
haften und scharfsinnigen Sammler, Sichter und Anwender, aber noch lange keinen
idealen Lehrer verbürgen". „Der Lehrer sei ein Künstler!" — Es ist eine bekannte
Tatsache, daß das, was wir einmal wirklich erlebt haben, einen unauslöschlichen Ein-
druck bei uns hinterläßt. Von dieser Erkenntnis ausgehend wollte ein Teil der Päda-
gogen nur das Wirklichkeitserlebnis, als für die Schule in Betracht kommend, hin-
gestellt wissen. Mit Recht weist W. darauf hin, daß diese Forderung über das Ziel
hinausschießt und in allen Konsequenzen in der Schule undurchführbar ist. „Kein
Mensch verdankt seine Erfahrungen nur dem unmittelbaren Verkehr mit der Natur,
sondern der Natur und Kunst". Der Lehrer der künstlerisch gestalten kann, kann
seinen Schülern „das Leben des Menschlichen und Außermenschlichen vorführen". Hier
bieten sich, so fährt der Autor fort, dem Lehrer zwei Wege: „Entweder greift der
Pädagoge zu fertigen Kunstwerken, zu Dichtungen, Gemälden, Liedern, Skulpturen u. a.
und bietet sie seinen Schülern. In solchen Fällen wird er zum vermittelnden Künstler.
Oder er sucht, da ihm die geeigneten Kunstwerke fehlen, selbst zu gestalten; er wird
zum schaffenden Künstler". Das selbsttätige künstlerische Schaffen des Lehrers ist dem
Vorzeigen fertiger Kunstwerke vorzuziehen. Es ist selbstverständlich, daß hier keine
künstlerischen Gipfelleistungen vom Lehrer gefordert werden sollen. Wie der Lehrer
aber zu befriedigenden Leistungen an der Tafel gelangen kann, das will „die Technik
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 18
— 266 —
des Tafelzeichnens" lehren. Wir werden bekannt gemacht mit den verschiedenen Dar-
stellungsmöglichkeiten und Darstellungsweisen, mit der Behandlung der Kreide, der Psy-
chologie des Wandtafelbildes und mit dem technischen Problem. Was man bei all diesen
Ausführungen vermißt ist ein Eingehen auf die schöpferische Tätigkeit der Schüler. W.
beschäftigt sich nur mit dem Schaffen des Lehrers an der Tafel, die Kinder sind dabei
müssige Zuschauer und doch wie gerne schaffen die Kinder selbst. Sagt der Verfasser
doch selbst an einer Stelle: „Der jugendliche Mensch ist stoflfhungrig. Er braucht
Material für seine Selbsttätigkeit. Eine bloße Schaffensfreude reicht nicht aus". Wir
werden später auf diesen Punkt noch einmal besonders zurückkommen müssen. In meiner
Abhandlung: „Gedanken und Anregungen über Zeichen- und Kunstunterricht in der
Kinderstube" *) habe ich versucht eingehend auszuführen, wie jeder Lehrer und Erzieher,
jeder Vater und jede Mutter imstande sein kann, den künstlerischen Gestaltungstrieb in
den Kindern zu erwecken und weiter zu bilden. — Der Verfasser unterscheidet zwei
Arten von Tafelzeichnen: das wissenschaftliche Schema und die künstlerische Skizze.
Die erstere Art will er angewendet wissen, wenn es gilt etwas zu erklären, die letztere,
wenn es gilt ein Stück der Außenwelt zur Erscheinung zu bringen. „Das wissenschaft-
liche Schema ist Mittel zum Zweck, das künstlerische Bild in gewissem Sinne Selbst-
zweck". „Das wissenschaftliche Schema muß vor allen Dingen klar, ungekünstelt and
übersichtlich sein". Beide Arten von Zeichnungen müssen rasch vor den Augen der
Schüler entstehen. Das wissenschaftliche Schema kann in jeder Stunde und in jedem
Fache Verwendung finden. Es ist besser als der Anblick der Natur selbst, weil es den
ganzen Aufbau des Objektes Stück um Stück vor den Augen der Schüler erscheinen
läßt. Über die Richtigkeit der letzteren Ansicht des Verfassers läßt sich streiten, denn
das zeichnerische Bild an der Tafel entwickelt sich nicht nach der inneren, organischen
Entwicklung des betreffenden Objektes heraus, sondern nach den technischen Gesichts-
punkten des Zeichnens ; das Bild wächst nicht. W. verwahrt sich deshalb auch dagegen,
als ob er einen von der Natur losgelösten Bildunterricht das Wort reden wolle. „Das
Studium der Natur gilt mir als schlechterdings unersetzlich. Wo Natur, wo Wirklichkeit
gezeigt werden kann, soll sie vorgeführt werden". — „Das wissenschaftliche Schema
sollte jeder Lehrer zustande bringen können ; es erfordert keine besondere Höhe zeich-
nerischen Könnens. Das künstlerische Bild erfordert eine gewisse Begabung, die nicht
jedem Pädagogen eigen ist". Der Verfasser bespricht dann eingehend die Darstellungs-
möglichkeiten an der Wandtafel. Die Kreide ist nach seiner Ansicht das beste Dar-
stellungsmaterial; Wasserfarben werden von ihm verworfen, weil sie „an der senkrecht
oder schräg stehenden Tafel abfließen, auch erfordert ihre Zubereitung eine verhältsnis-
mäßig lange Zeit". Hierzu möchten wir bemerken, daß mit einzelnen Farben, dick auf-
getragen, sich doch bei weitem bessere Töne erzielen lassen, als mit Kreide. Wir denken
in erster Linie an Deckweiß. Die grünen Farben sind in Kreide zumeist sehr mangelhaft.
Durch geringen Zusatz eines Bindemittels z. B. Dextrin kann man, wo es nötig sein
sollte, das Abfließen der Farben verhindern und mit einem breiten Pinsel l&ßt sich mit
Farbe eine Fläche viel schneller zudecken, als mit Kreide. Ebenso lassen sich Glanz-
lichter mit dem Pinsel ungleich kecker und brillanter aufsetzen, als mit Kreide. Ist dio
Wandtafel nicht in tadellosem Zustand, so bleibt farbige Kreide oft nur mangelhaft
haften, da sie als Bindemittel immer mehr oder weniger ölige Bestandteile enth< Wir
1) F. Meumann-Celle, Gedanken und Anregungen aber Zeichen- u. Kunstunterricht
in der Kinderstube. Deutsche Blätter für Zeichen- a. Kunstunterricht. XU. Jahrgan i;
— 267 —
meinen , will man einmal farbig darstellen , so wäre es unvorteilhaft auf Wasserfarben
gänzlich verzichten zu wollen. Weber unterscheidet 5 Darstellungsarten:
1) Die reine Kreidetechnik.
2) Die trockene Wischtechnik.
3) Die feuchte Wischtechnik.
4) Die Technik mit aufgeklebtem Papier.
5) Die Technik mit angeheftetem Papier.
Diese fünf verschiedenen Techniken können auch untereinander kombiniert werden.
Am besten lassen sich die Techniken an der Hand der hier wiedergegebenen Tafeln
erklären. Leider mußte in unseren Reproduktionen auf die Wiedergabe der Farben
verzichtet werden; es konnten daher verschiedene sehr charakteristische Tafeln nicht
zur Darstellung gelangen. Von den einfarbigen Tafeln sind einige der charakteristischsten
hier wiedergegeben. Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß die
Herstellung der Originaltafeln äußerst sorgfältig und fein ist. Unter den 40 Tafeln ist
keine einzige, die mißlungen oder nur fehlerhaft wäre. Manche Stücke sind kleine
Kunstwerke, sowohl technisch, wie nach der Wahl des Motivs und entbehren nicht des
Reizes der individuellen Stimmung. Besonders beachtenswert ist, mit wie wenig Mitteln
stellenweise ein feiner Effekt erzielt worden ist. Bei den komplizierteren Bildern kann
man allerdings den Gedanken nicht zurückdrängen, daß wer diese und ähnliche Zeich-
nungen wirklich schnell an der Tafel entstehen lassen kann, ein Meister der Tafel-
technik sein muß. Sämtliche Tafeln sind mit schwarzem Hintergrund gedruckt, sodaß
man den Effekt der Wandtafel hat. — Was unter der „reinen Kreidetechnik" zu ver-
stehen ist, dürfte ohne weiteres verständlich sein. Die trockene Wischtechnik besteht
darin, daß man erst Kreide aufträgt und sie dann mit dem Wischer etc. verwischt,
wodurch die Farbe matter wird und ermöglicht mit kräftigeren Tönen wieder hinein-
arbeiten zu können. Trübe Stimmungen können auch so vorteilhaft hergestellt werden.
Die feuchte Wischtechnik ist ähnlich, nur tritt hier der nasse Schwamm statt des
trockenen Wischers in Tätigkeit. Tafel S. 271 ist ein Beispiel für das „wissenschaftliche
Schema". Unserer Meinung nach ist in diesen Darstellungen des „wissenschaftlichen
Schemas" die größte Bedeutung des ganzen Weberschen Werkes für den Schulgebrauch
zu erblicken. Alle Anforderungen, die an Tafeldarstellungen in dieser Art gestellt
werden können, werden hier erfüllt. Die Zeichnungen können schnell ausgeführt werden,
sie sind übersichtlich, einfach und klar und bedürfen keiner großen Vorbereitungen.
18*
L
— 268 -
Die Tafel 4 des Originals ist ein Beispiel, wie aufgeklebtes Papier als Mittel
schnellster Vervielfachung Verwendung finden kann •). Die Blüten sind aus Papier aus-
geschnitten. Man nimmt beim Ausschneiden mehrere Blätter Papier übereinander und
hat mit einem Ausschnitt gleich eine Menge Blätter zur Verfügung. Diese werden auf
die Tafel aufgeklebt und nur die Stengel mit Kreide gezeichnet. (Technik mit auf-
geklebtem Papier.) Sie veranschaulichen verschiedene Blütenstände. — Tafel 5 ver-
anschaulicht die Tätigkeit des Schwamms (feuchte Wischtechnik) als „Motivveränderer''.
Die in erster Reihe oben auf der Tafel stehende Abbildung gibt den Vertikalschnitt
einer Küste wieder; auf der linken Hälfte hat der nasse Schwamm die Küste verändert,
abgewaschen. In gleicher Weise ist die Abbildung in der zweiten Reihe behandelt. Bei
den Spechtbildern schuf der nasse Schwamm die Nesthöhle, beim Apfel den Gang der
Made. Die Abbildungen rechts zeigen, wie die Brandung den Fels aushöhlt. Die Skizzen
auf Tafel 10 bringen charakteristische Erscheinungen in wenigen Kreidestrichen. Man
beachte den gotischen Turm; wie primitiv und doch wie anschaulich! Beim Segelschiff
sind die Segel flott und fein gegeben. Mehr Zeit und Mühe erfordert schon die ]>ar-
stellung der Bäume auf Tafel 11. Es wird sich den Kindern nur hierbei immer die
Frage aufdrängen : „Warum sind die Bäume weiß V** Will man einmal auf farbige Kreide
1) Diese und die folgenden Tafeln sind leider nicht reproduziert worden. (M.)
I
— 269 —
nicht verzichten, so können diese Zeichnungen gerade so gut in einer einfachen Ding-
farbe dargestellt werden. (Pinseltechnik.) Bezüglich der Technik „mit angeheftetem
Papier" sei bemerkt, daß hier mit beweglichem Papier innerhalb einer Zeichnung gear-
beitet wird. Es ist z. B. auf einer Tafel die Tätigkeit der Saugpumpe dargestellt.
Kolben und Ventile sind aus beweglichem Papier und können also die verschiedenen
Stellungen bei der Tätigkeit der Pumpe einnehmen. — Tafel 19 bringt Beispiele für
die malerische Skizze. Man beachte, wie geschickt die weiße Kreide benutzt ist, um auf
— 270 —
dem schwarzen Untergrund ein positives Bild zu schafifen, statt des sonst üblichen nega-
tiven. (Vergl. auch Tafel 39 Dürerkopf.) Ein
schönes Beispiel wie der schwarze Grund zu
silhouettenhafter Darstellung, mit Verwendung
von nur einer Farbe, benutzt werden kann,
zeigt Tafel 21 rechte Hälfte. In gleicher
Weise ist der Schillerkopf auf Tafel 39 her-
gestellt, während der Bismark wieder die
Technik der Tafel 19 zeigt. —
Es fragt sich nun, ob die Tafeltechnik
W.s in der Schule eingehende Verwendung
finden kann. Von den schematischen Darstel-
stellungen sagten wir schon, daß sie jedenfalls
in der Schule reiche Verwendung finden kön-
nen. Bei den eigentlich malerischen Dar-
stellungen stoßen wir aber auf verschiedene
Schwierigkeiten. Gewiß, ein geschickter Zeich-
ner wird diese und verwandte Darstellungen
an der Tafel entstehen lassen können, wenn-
gleich einige Beispiele doch recht kompliziert
sind, viel Übung verlangen und dann kaum
lohnen, an der Tafel dargestellt zu werden,
über die vielleicht schon in der nächsten
Stunde der Schwamm fahren muß. Wie gesagt, der Lehrer kann die Bilder an der
Tafel entstehen lassen, aber das ist nur eine halbe Sache, wenn die Schüler nicht mit-
arbeiten können. Selbst wenn die Schüler schwarze Tafeln zur Verfügung haben, wird
es ihnen wenig Freude machen, auf diesen Tafeln mit vieler Mühe Arbeiten entstehen
zu lassen, die sie später wieder wegwischen müssen. Das Kind will etwas mit nach
Hause nehmen können, es will ein bleibendes Zeugnis seines Könnens vor Augen haben.
Auf weißem Papier läßt sich die Technik natürlich nicht ausführen; aber nehmen
wir selbst den günstigsten Fall an, die Kinder hätten dunkeles Tonpapier zur
Verfügung, so kann die nasse Wischtechnik z. B. garnicht in Anwendung kommen.
Außerdem würden die meisten der Weberschen Techniken für die Schüler viel zu viel
Zeit erfordern, jedenfalls viel mehr, als dem Lehrer zur Verfügung steht. In der von
— 271 —
mir vorher erwähnten Abhandlung über den Zeichenunterricht in der Kinderstube habe
ich dem Wunsche Ausdruck gegeben, daß in keiner Kinderstube eine Wandtafel fehlen
möchte. An ihr werden die kleinen Erlebnisse der Kinder (Weihnachten, Ostern, auf
Spaziergängen Gesehenes u. s. w.) zur Darstellung gebracht. Hier, in der Kinderstube,
denke ich mir das Webersche Werk von der größten Bedeutung. Im Hause, weniger in
der Schule, ist sein eigentlicher Platz. Viele Mütter und Erzieher klagen darüber, daß
sie den Kleinen nichts vorzeichnen können. Ihnen wird das W.sche Werk ein unschätz-
barer Helfer sein. Zu wirklich künstlerischen Leistungen braucht man es in der Kinder-
stube nicht zu bringen, die Kleinen sind für die minimalsten Leistungen unendlich
dankbar. Und was macht wohl mehr Freude, als vor einem dankbaren Publikum zu
arbeiten? Ich habe in meiner Kinderstube selbst den Versuch mit den Weberschen
Tafeln gemacht und meinen Kindern schon viele frohe Stunden damit bereitet. Anfangs
zeichnet man den Kindern vor, später läßt sich ihnen unmerklich der Stift in die Hände
spielen, sie arbeiten selbst und „die Technik des Tafelzeichnens" regt sie zu unendlicher
Schaifensfreude an.
Zum Schluß sei hier noch erwähnt, daß es hellgraue, gekörnte Metallwandtafeln gibt,
auf denen sich in jeder Technik brillant arbeiten läßt, namentlich mit Kohle und far-
bigen Kreiden. Auch die Darstellung mit Wasserfarben kann mit Erfolg angewandt
werden. Alles ist mit nassem Schwamm leicht wegwischbar. Die Schwierigkeit des
schwarzen Untergrundes fällt hier weg, das Korn der Tafel ermöglicht ein feines abtönen
vom dunklen zum hellen und der Lehrer kann genau so zeichnen, wie der Schüler auf
seinem Papier. Die Tafel braucht nie angestrichen zu werden und ist immer in einem
tadellosen Zustande. Ich kann nach langjähriger Erfahrung solche Tafeln sehr empfehlen.
Fr. Me um ann- Celle.
Bericht über den 3. schweizerischen Informationskurs in Jugend-
fürsorge vom 31. August bis 12. September 1908 in Zürich, veranstaltet von der
Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege. Zürich, Zürcher & Furrer 1909.
832 Seiten. Preis 15 Franken.
Nach kurzer Darstellung von Einrichtung und Verlauf der Veranstaltung sind auf
gegen 700 Seiten mit wohltuender Knappheit sämtliche fünfunddreißig Vorträge — nebst
den dazu gehörigen Diskussionen — wiedergegeben, die den Kursteilnehmern geboten
wurden. Sodann bringt der rührige Leiter jenes Informationskurses, Herr Erziehungs-
sekretär Dr. Zollinger, noch eine Reihe Einzeldarstellungen von Fürsorge-Einrichtungen
— 272 —
im Kanton Zürich, — über Wöchnerinnen- und Säuglingsfürsorge, Fürsorge-Einrichtungen
zur Ergänzung der häuslichen Erziehung, Ernährung und Bekleidung bedürftiger Schul-
kinder, Ferienkolonien, Anstalten für physisch anormale, gebrechliche und kranke
Kinder, Erziehungsanstalten für sittlich gefährdete und verwahrloste Kinder u. dergl. m.
Literatur-Angaben über Jugendfürsorge, sowie ein Sach- und Autorenregister bilden den
Schluß.
Der Bericht kann Behörden, gemeinnützigen Gesellschaften und Lehrervereins-
bibliotheken aufs beste empfohlen werden, da er zuverlässige Unterlagen über den Stand
der gegenwärtigen Bestrebungen und Ausgangspunkte für die Praxis auf dem Gebiete
der Jugendfürsorge gewährt. Bei der vortrefflichen Ausstattung des Buches erscheint
der Preis nicht zu hoch. Immerhin wäre zu wünschen, daß künftige Berichte im In-
teresse ihrer Verbreitung wohlfeiler hergestellt werden möchten, — zunächst durch Weg-
lassung einer Menge von Illustrationen, die im Grunde genommen nur eine leicht ent-
behrliche Dekoration darstellen.
Dr. Ernst Ebert, Zürich.
Dr. 0. Pfister, Religionspädagogisches Neuland. Zürich 19o«j,
Schulthess & Co.
Der Pfarrer in Zürich berichtet über eine Reihe von Versuchen zur Umgestaltung
des Religionsunterrichtes in dem Sinne, daß „die Selbstbetätigung des Einzelnen
gemäß seiner besonderen Eigenart hervorgelockt wird, der Nachhülfe zu freiem religiösem
Erlebnis, zu individueller Glaubenstat und damit Verinnerlichung der ganzen religions-
pädagogischen Arbeit". Die Schüler zählen 13 — IG Jahre und die Versuche verteilen
sich auf 4 Jahrgänge.
Um die Kinder daran zu erinnern, daß es sich im Religionsunterricht nicht um
ein bloßes Schulfach handle, ist es ratsam, dem Schulzimmer zu entfliehen. Der Pfarrer
pflegt bei warmer Witterung den Unterricht im Freien zu erteilen, im Garten, auf
Morgenspaziergängen zum Sonnenaufgang, auf dem Friedhof, oder dann in der Kirche.
Solche Exkursionen bilden Ausnahmen.
Zum regelmäßigen Unterricht gehören die Memorieriibungen. An diesen ließ man
die Schüler unter Ansetzung einer bestimmten Frist einen beliebigen Liedervers oder
Prosaspruch wählen, unter der Bedingung, daß das Gelernte ihnen gut gefalle und
womöglich selbständig gefunden sei. Dabei bot sich Gelegenheit nachzuforschen, wie
weit die Schüler das Gelernte überdachten und verstanden. Es erhob sich ein Wetteifer
den schönsten Spruch oder Vers zu suchen. Wer nach dem Urteil der Klasse die beste
Wahl getrofl'en und seinen Spruch am innigsten und einfachsten wiedergab, den schmückte
die schönste Blume. So war dem schrecklichen Auswendiglernen der Stachel genommen
und auch die gemeinsam zu lernenden Lieder gingen ohne Schwierigkeit ein.
Neben den Gedächtnisübungen wird gewöhnlich die reichliche Hälfte der Stunden
durch ein religiös oder sittlich wertvolles Lesestück eingeleitet. Beginnend mit Balladen,
erschließt sich der Jugend der Reichtum des großen, feierlichen Dichterwaldes an frommer
Poesie, die dem kindlichen Verständnis völlig angepaßt ist. Vertrauliche Besprechung
der persönlichen Erlebnisse mit den Einzelnen gestatten dem Religionslebrer tiefere Ein-
blicke in deren Seelenleben.
Das Unterweisungszimmer stattet der Pfarrer mit den schönen Steindrucken aus
dem Verlage von Teubner, Voigtländer, Künstlerbund Karisniho, Breitkopf und H&rtel
aus. Am Lichtschirm läßt er die religiösen Gestalten in Lebensgröße erscheinen. „Die
— 273 —
Gemeinsamkeit der geistigen Konzentration auf einen heiligen Gegenstand schafft eine
tiefernste, feierliche Stimmung, die durch das geheimnisvolle Dunkel des Zimmers wesent-
lich gehoben wird. Der unendliche Reichtum der göttlichen Werke, hier ist er auf
engen Raum zusammengedrängt. Mit schöpferischer Kraft schafft sich das Kind aus
der Darstellung eine unmittelbar empfundene Wirklichkeit, zu der es in Ehrfurcht auf-
schaut, und die es dankbar in seiner Seele aufnimmt". Der Lehrer wägt sorgfältig seine
Erklärungen ab. Die Kinder stellen bescheiden und klug ihre Fragen. Die Stimmung,
die aus solchen Anschauungen erwacht, findet in Gesängen ihren Ausdruck.
„Doch wie armselig ist alle Stellungnahme zu Kunst und Poesie, wie klein die
freie Wahl der religiösen Aufgabe und Lektüre, wie unbefriedigend die Aufstellung und
Beantwortung von Fragen, wo es sich darum handelt in der Liebe kräftig schaffende
Persönlichkeiten zu bilden". Alle erbaulichen Anschauungen und belehrenden
Besprechungen sind nur sinnbildliche Anregungen, wirkliche Erlebnisse sammelt der
Mensch nur im persönlichen Verkehr und durch sittliche Betätigung seiner physischen
und geistigen Kräfte.
Der Pfarrer sucht deshalb die persönlichen Beziehungen zwischen seinen Schülern
zu vervielfältigen durch Teilnahme der Klasse bei Krankheit oder Tod einzelner Ge-
nossen. Zu individuellen Willensübungen geben Dienstleistungen für Gebrechliche und
Bedürftige Gelegenheit: durch Singen oder Blumensträuße, zwei Freundinnen einer Ge-
lähmten führen diese bei schönem Wetter in die Anlagen und Sonntags zur Kirche.
Doch soll sich die Frömmigkeit auch bei hausbackener Arbeit kund geben. Große Freude
bereitet es dem Lehrer, wenn er die Klasse auf irgend einen Fall zu beseitigender Not
aufmerksam macht und sich freiwillig Helferinnen melden. Von solchen Dienstleistungen
ist der Schritt nur klein zu einer stets treueren Pflichterfüllung in Elternhaus und Schule
und Werkstätte, fügen wir hinzu. Denn auch die streng geregelte Handarbeit, das plan-
mäßige Zeichnen und Wirtschaften fordern gewissenhafte Pflichterfüllung.
In vielen Fällen endlich ist es nötig an einzelnen Schülern die allerspeziellste Seel-
sorge auch zur Erzeugung christlicher Selbstbetätigung auszuüben. Besonders dankbar
ist es einem Zögling einen anderen, seiner bedürftigen, zu empfehlen. Ein begabtes,
vornehmes Mädchen sollte ein verschüchtertes, armes kleines Kind gemütlich heben, was
trefflich gelang. Ein begabter Schüler wußte einen schwachen Knaben, dessen Eltern
dem Trunk ergeben waren, durch zahlreiche Spaziergänge und Besuche heiter zu stimmen
und selbst den Hausvater mit seinem Sohn zum Eintritt in einen Absistenzverein zu ver-
anlassen. Als vorzügliches Mittel, besonders gegen Jähzorn und harte Rede, hat sich
die freiwillige, aber gewissenhafte Führung eines genauen Tagebuches bewährt. Das
gemeinsame Geheimnis, das Pfarrer und Schüler möglichst sorgfältig hüten, schafft ein
inniges Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und die Fortsetzung der Arbeiten verbindet
den Lehrer mit seinen entlassenen Zöglingen oft noch jahrelang.
Solche Verknüpfung des Religionsunterrichtes mit persönlichen Erlebnissen und
Arbeiten beeinträchtigt unter keinen Umständen die Bedeutung des religiösen Wortes.
Sie soll vielmehr die sinnbildliche Lehre zur wirksamen Gehilfin und Befreierin der
Kindesseele erheben, indem sich das Bibelwort in den Prüfungen der Lebenstätigkeit
bewährt, die religiöse Stimmung durch begrenzte Anschauungen und geregelte Erfah-
rungen klärt, die Begriffe aus erlebten Tatsachen aufbauen. Laßt erleben, so schafft
ihr Leben!
F. Graberg, Zürich.
— 274 —
F. L. "Wells, Eine vernachläßigte Methode der Ermüdungsmessung.
(A Neglected Measure of Fatigue) American Journal of Psychology July 1908, Vol.
XIX, pp. 345—358.
Der Verfasser hat die Messung der Ermüdung mittelst möglichst schnell ausge-
führter willkürlicher Bewegungen insbesondere mit raschem Taktiere aufs neue genauem
untersucht und verteidigt dieses Verfahren in der vorliegenden Abhandlung.
Er bespricht zuerst alle irgendwie bemerkenswerten früheren Arbeiten, in denen
das Verfahren zur Anwendung kam. J. vonKries (Dubois-Reymonds Archiv, 1886,
Suppl. Bd. I, 1—16) hat wohl zuerst versucht, die größte Geschwindigkeit zu messen,
mit welcher wiederholte willkürliche Bewegungen ausgeführt werden können. Seine Me-
thode war sehr einfach. Er ließ mit den Fingern so schnell als möglich auf eine Unter-
lage tippen, wobei der tippende Finger einen Stromschluß machte. Er hob schon henor,
daß die Grenze der Geschwindigkeit solcher Bewegungen durch die Nerventätigkeit be-
dingt sein müsse und eine gewisse Beziehung zu dem unvollständigen Tetanus des belas-
teten Muskels bei dauernder Kontraktion haben müsse.
2 Jahre später hat Griffiths (Journal of Psychology, IX, 29—54) diese Versuche
wieder aufgenommen, speziell mit Rücksicht auf den Tetanus des belasteten Muskels.
Er fand, daß die Zahl der Kontraktionen bis zu einer gewissen Grenze zunimmt mit der
Zunahme des Gewichtes ; größere Belastung erzeugt eine Abnahme der Kontraktionszahlen.
Femer nimmt diese zu innerhalb der ersten Minute, um dann langsam abzunehmen.
Innerhalb der längsten von ihm beachteten Zeit (2 72 Minuten) fand er nur geringe Er-
müdungserscheinungen.
1891 nahm Dreßlar die Versuche wieder auf (American Journal of Psychology FV,
S. 514 — 527) und arbeitete meist an sich selbst. Nur kleinere Beobachtungen gewann er
von anderen Personen. Er zählte die Zeit, die zu 300 Tipps gebraucht wurde (unter
Tipps verstehen wir im Folgenden die tipj)enden Bewegungen, die gewöhnlich mit dem
Zeige- oder Mittelfinger ausgeführt werden, wobei in der Regel der Unterarm im Ell-
bogengelenk mitbewegt wird). Sein Verfahren war zu unvollkommen, um gute Resultate
zu erzielen. Er fand nur geringe Ermüdung, während spätere Experimentatoren gerade
in den ersten 100 bis 200 Tipps sehr deutliche Ermüdung nachgewiesen haben. Dreßlar
meinte, daß durch Übung diese Zahl (300 Tipps) ohne Ermüdung ausgeführt werden
können, während spätere Autoren fanden, daß der Verlust an Tipps infolge der Ermüdung
sogar nach einiger Übungszeit größer sein kann, als am Anfang. Richtig war dagegen
die Beobachtung Dreßlars, daß die Ermüdungsempfindungen nach einigen Tagen
verschwinden. Der Verfasser fügt hinzu, daß nach seiner Beobachtung in der Tat durch
die Übung die Müdigkeitsempfindungen verschwinden, während die objektive Ermüdung
bestehen bleibt. Die durchschnittliche Geschwindigkeit war bei Dreßlar 8,5 Tipps in der
Sekunde mit der rechten Hand gegen 5,3 mit der linken Hand, was der Verfasser als
abnorm hoch bezeichnet. Die Arbeit eines Gliedes beeinflußte die anderen nicht viel.
Die Geschwindigkeit nahm a b nach körperlicher, z u , nach geistiger Arbeit, was der Ver-
fasser nach einigen Beobachtungen an sich selbst bestätigt.
Bryan verfolgte die pädagogische Bedeutung des Tippens als eines Test (Prüfungs-
mittels) zur Messung der Ermüdung (Am. J. Psych. V, 137 — 177). Er gebrauchte als
Apparat einen mechanischen Zähler, der die Zahl der Tipps von 5 zu 5 Sekunden angibt.
Nach 10 oder 15 Sekunden Arbeit wurde eine Abnahme des Tippens gefunden, gewöhn-
lich beginnt sie schon früher, konnte aber durch den Apparat nicht nachgewiesen werden.
Die Geschwindigkeit nimmt dann ab in ziemlich gleichmäßiger Weise von 10 zu 10 Minuten.
Die Geschwindigkeit wächst femer in hohem Maße mit dem Alter der Versuchsperson
— 275 —
und sie hat keine direkte Beziehung zu den Ermüdungserscheinungen. Ein Hauptbedenken
gegen sein Verfahren ist dies, daß es die der Übung und die Nachwirkung der voraus-
gegangenen Arbeit nicht genug erkennen läßt.
Bei Gilbert wird das Verfahren zum ersten Male als eigentliche Ermüdungsmessung
verwendet (Yale Studies (First Series) II, 64—68). Die Versuchsperson taktierte auf
einem Telegraphentaster 45 Sekunden lang. Die ersten und letzten 5 Sekunden wurden
registriert. Als Maaße der Ermüdung gebrauchte Gilbert den prozentualen Verlust an
Tipps, während der letzten 5 Sekunden im Vergleich mit der Leistung in den ersten 5
Sekunden. Die Ermüdbarkeit nimmt gleichmäßig mit dem Alter ab (und zwar für beide
Geschlechter). Die extremste Ermüdung beträgt für die sechsjährigen Kinder 2 P/o Ver-
lust, für die siebzehnjährigen 14% (beide Geschlechter zusammengenommen), dabei ver-
lieren die Knaben mehr an Tippzahl als die Mädchen, sind aber in der Anfangsge-
schwindigkeit den Mädchen überlegen. Hieraus hat Havelock Ellis geschlossen — wie
der Verfasser meint, mit Unrecht — daß die weibliche Arbeit gleichmäßiger sei; denn
offenbar haben die Knaben mehr Interesse für das Tippen gezeigt und sich daher anfangs
mehr angestrengt. Damit stimmt überein, daß der Verfasser bei Erwachsenen nach 30
Sekunden mehr relativen Ermüdungsverlust fand, als Gilbert an Kindern in 45 Sekunden.
In einer zweiten Reihe von Versuchen hat Gilbert ungefähr dasselbe wiederholt mit
ähnlichen Resultaten. (Iowa Studies I, S. 39). Dabei zeigten sich die begabten Kinder
den mittleren ungefähr gleichstehend, während die dummen eine geringere Leistung auf-
wiesen. Auch hierbei verloren die Mädchen durch Ermüdung im allgemeinen weniger
als die Knaben und die begabten Kinder verlieren mehr als alle anderen, (mit 6 Jahren),
weniger als alle anderen mit 19 Jahren. Sie werden also immer unzugänglicher für Er-
müdung. Diese Immunität für Ermüdung tritt im Durchschnitt aller Zahlen weniger
hervor, und am wenigsten bei den dummen Kindern. Gilbert und Patrick verwendeten
das Tippen als Test an drei Vpn. Sie ließen 60 Sekunden taktieren ; graphische Methode,
nur die ersten und letzten 5 Sekunden wurden registriert. Sie achteten nicht auf Übungs-
erscheinungen, was die Resultate etwas trübt. Sonderbarerweise ist der Ermüdungsverlust
bei ihren einzelnen Vp. ungleich, nämlich ganz unregelmäßig bei der zweiten Vp., nimmt
sogar bei der ersten ab und wächst bei der dritten. (Gilbert und Patrick, Psychological
Review III, S. 469 ff).
Seashore hat ferner die Zeit isolierter individueller Tipps gemessen (Seashore,
Iowa Studies II, 74 ff.) und mit den Reaktionszeiten verglichen.
BÜß untersuchte namentlich die individuellen Verschiedenheiten beim Taktieren.
Auch er verwendet die graphische Methode. Er fand nach 35 Sekunden den Beginn von
Ermüdungsverlusten. Die Veränderlichkeit der Tipps nimmt ab mit beginnender Er-
müdung. (Bliß, Yale Studies (First Series) I, 45 ff.).
Moore gebrauchte dieselbe Methode wie Bliß, aber sein Verfahren erlaubt keinen
direkten Vergleich mit den Resultaten der übrigen Autoren, da er die Bewegung auf
den Zeigefinger beschränkte, der einen Kontakt 5 mm vorwärts und rückwärts so schnell
als möglich zu schieben hatte. Bei ihm scheint die Ermüdung die Veränderlichkeit der
Tipps zu vermehren. Er ließ übrigens bis 480 Tipps machen, womit man der Grenze
der Erschöpfung nahe kommt. (Moore, Yale Studies, (First Series) III, 92 ff.).
Davis (yale Studies, (First Series) VI, 7 — 18) ließ auf einem Telegraphentaster
taktieren, wobei die Zahl der Tipps von 5 zu 5 Sekunden mit einem mechanischen Zähler
festgestellt wurde. Auffallend sind seine sehr geringen Geschwindigkeiten. Taktiert
wurde mit der rechten großen Zehe, und es wurde festgestellt, ob das Einfluß hatte auf
— 276 —
das Taktieren der Hand und der linken Zehe. Die Resaltate blieben recht unbe-
stimmt.
Binet und Courtier und ebenso Raif untersuchten die Beziehungen des Tippens
zum Klavierspiel. (B. und C. Ann^e psychologique 1895, S. 20<)fr. und Raif, Zeitschrift
f. Psych. 24, 352 ff.)
Die ersteren gebrauchten die graphische Methode mit Übertragung durch kompri-
mierte Luft. Für die einzelnen Finger wurden Geschwindigkeiten von 6 — 10 Tipps ge-
funden (in der Sek.). Die geübten Vpn. unterscheiden sich von nichtgeübten nicht sowohl
durch die Geschwindigkeit als durch die Regelmäßigkeit und Kraft des Taktierens.
Auch Raif fand, daß die geübten Spieler eher kräftiger als schneller arbeiteten als die
nicht geübten.
Binet und Vaschide führten eine wichtige Veränderung bei dem Verfahren ein.
(B. und V., Annee psychologique 1895, S. 200 ff.). Sie haben gegen die bisherigen Ver-
suche das Bedenken, daß die Prüfungen mit den Kontakta])paraten eine zu geringe Ana-
lyse der Bewegungen erlauben. Deshalb ließen sie mit einem modifizierten Ergographen
arbeiten, wobei ein Gewicht von einem Kilogramm gehoben wurde. Hiergegen bemerkt
Wells mit Recht, daß dabei etwas ganz anderes untersucht wird als in den bisherigen
Experimenten. Von Kries hatte schon hervorgehoben, daß es gerade darauf ankommt,
eine möglichst freie Bewegung zu messen, und femer bemerkt Wells mit Recht, daß
„wenn wir kleine Muskeln, wie die der Finger isoliert arbeiten lassen (wie beim Ergo-
graphen) und besonders wenn wir sie belasten, so komplizieren wir den Versuch durch einen
zweiten Ermüdungsfaktor, dessen Beziehung zu den spezifischen Ermüdungseflfekten der
Geschwindigkeit der Bewegung schwer zu bestimmen ist. Wir ermüden dann den Muskel
ebenso hinsichtlich der Kraft seiner Bewegung wie hinsichtlich der Geschwindigkeit''.
Die Geschwindigkeitseffekte prüft man aber nur rein, wenn man der Vp. erlaubt, ihre
freien Bewegungen so einzurichten wie sie will, und nur dafür sorgt, daß sie während
des Versuchs konstant bleiben, am besten mit gleichzeitiger Bewegung der Hand und des
Ellbogengelenks wobei der Ellbogen leicht auf den Tisch aufgestützt wird.
Trotz der Verschiedenheit des Verfahrens unterscheiden sich die Resultate der fran-
zösischen Autoren nicht viel von denen der früheren Autoren. Es wurden 25 Sek. lang
Bewegungen ausgeführt an 15 Vpn. Die Geschwindigkeiten variierten von 7—8 Bewegungen
in der Sekunde. Die durchschnittliche Geschwindigkeit im Beginn des Versuchs war 5
Bewegungen in der Sek., am Schluß 3,5; also ein beträchtlicher Ermüdungsverlust. Die
individuellen Verschiedenheiten waren größer als bei früheren Versuchen.
Marsh (Archives of. Phil. Psych, and scientif. Methods Nr. 7. , S. 24 flf.) kehrte
wieder zu dem einfachen von Krießschen Verfahren zurück. Die Vpn. taktierten mit
einem Stäbchen, das Kontakt machte. Die Tippzahl wurde mit einem Ewaldschen Chro-
noskop festgestellt (wie bei Gilbert). Als 'Norm wurden 100 Tipps geklopft und es wurden
mehrere Gruppen von Personen untersucht. Im Durchschnitt aus allen Gruppen ergab
sich für die rechte Hand 6,7 und 7,5 Tipps in der Sek. und für die linke 5,8 und 7.2;
ähnliches fand Wells selbst. Bemerkenswert ist, daß die Messungen nach dem ersten
Frühstück (afternoon records) ganz allgemein die am frühen Morgen gewonnenen
übertrafen. An sich selbst prüfte. dieser Autor noch die Schnelligkeit des Taktierens zu
verschiedenen Tageszeiten mit Ausführung von 200 Tipps. Es ergab sich eine etwas
andere Tageskurve als bei Dreßlar und es wurde abends am schnellsten taktiert.
Bagley arbeitete wiederum zu pädagogischen Zwecken (American Journal of
Psych. XII., S. 200) mit dem Telegraphenschlüssel und elektrischen Zähler. Er fand keine
spezielle Beziehung zwischen Taktiergeschwindigkeit und Klassenleistung.
i
— 277 —
Bolton (American Journal of Psych. XIV., 350 ff.) verwendete ebenfalls den mecha-
nischen Zähler, und hatte pädagogische Zwecke im Auge. Er machte Versuche an zwei
Gruppen von Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten von 8—9 Jahren. In der
Geschwindigkeit des Taktierens übertrafen die Kinder besserer Stände von 9 Jahren
die achtjährigen wesentlich mehr als die ärmeren neunjährigen die ärmeren achtjährigen
iibertrafen. Sonderbarerweise tippen die Mädchen schneller als die Knaben (im direkten
Gegensatz zu Gilberts Resultat).
Kelly (Psychological Review X, S. 357 ff.) gebrauchte das Verfahren wieder zur
Ermüdungsmessung, er ließ 60 Sek. lang tippen, gemessen wurde alle 10 Sek. W. G. Smith
(British Journal of Psych. I, S. 255 ff.) gebrauchte die graphische Methode mit Luftüber-
tragung. Er verglich das Tippen bei normalen und epileptischen Personen. Er fand die
merkwürdige Erscheinung (die auch sonst bei Psychosen vorkommt), daß die Epileptiker
fast nicht ermüden. Bei normalen Vpn. war die Durchschnittsgeschwindigkeit für die
ersten 8 Sekunden 6,3 Tipps, für die nächsten 8 Sek. 5,9 Tipps. Bei Epileptikern für
die ersten 8 Sek. 6,2 Tipps, für die nächsten 6,3. Bei den Epileptikern zeigte also das
Tippen eine Anregung (warming up).
Zusammenfassend glaubt der Verfasser, daß bei guter Messung (er verlangt gra-
phische Methode) das Tippen als brauchbarer Ermüdungstest verwendet werden kann, was
er selbst an 30 Vpn. bestätigt hat.
Bei allen Ermüdungsmessungen will der Verfasser unterscheiden zwischen der Kon-
trolle des Zustandes der Ermüdung und der Zugänglichkeit der Vpn. für
Ermüdung (individuellen Ermüdbarkeit).
Es folgen Bemerkungen über die übrigen Methoden der Ermüdungsmessung und all-
gemeine theoretische Ausführungen, wobei mit Recht betont wird, daß der Kausalkonnex
der Ermüdung ein sehr komplizierter ist. Sodann verteidigt der Verfasser die Methode
des Tippens. Allerdings kann man gegen sie einwenden, daß sie nicht unterscheidet
zwischen einem Individium, das beim Beginn der Versuche schon so ermüdet ist, daß es
keinen Ermüdungsverlust mehr erleidet und zwischen demjenigen, der zwar anfangs un-
ermüdet anfängt aber relativ immun gegen Ermüdung ist. Aber im übrigen hat die Me-
thode viele Vorzüge. Von einer brauchbaren Methode der Ermüdungsmessung verlangt der
Verfasser folgendes: 1. Die Tests müssen so gewählt sein, daß sie möglichst wenig An-
forderungen an die „bewußte Mitarbeit" der Vpn. stellen, denn durch diese kommt ein
unkontrollierbarer Faktor in die Messung hinein. Es ist einer der beiden Mängel der
Kräepelinschen Addiermethode, daß sie sehr viel Mitarbeit der Vpn. verlangt. 2. Sie muß
kurz sein und die Langeweile vermeiden. Das ist z. B. ein Vorzug des Ergographen,
daß er schnell zu Resultaten führt. Interessant ist das Ergebnis von Squire, dessen
Verfahren : consisted of the indefinite repetition of a rather complex motor act, recorded
upon a kymograph. Whie the test was thus motor in Character, the measure of fatigue
was concerned with the higher mental processes, beeing given an increase in the lapses
and irregularities in the Performance of the act". 3. Die Messung muß präzies sein.
Darin liegt der zweite schwache Punkt der Kräepelinschen Addiermethode. Was bei dieser
Methode zwischen den einzelnen Stadien der Messung liegt, wissen wir absolut nicht.
Dabei unterscheidet der Verf., zwischen Präzision der Methode als solcher und der Genauig-
keit der Messung des objektiven Tatbestandes. In allen den erwähnten Anforderungen
sind nun, nach des Verfassers Meinung, die motorischen Methoden den intellektuellen über-
legen, wenigtsens soweit die technischen Fragen des Gelingens, der Schnelligkeit, der ob-
jektiven Kontrolle, der Präzision in Betracht kommen.
Ferner bemerkt Wells, man habe bei den motorischen Methoden zu sehr auf die
— 278 —
Messung der Kraft gesehen ; nun wolle man aber doch nervöse Ermüdung maBen und
jedermann weiß, daß der Ergograph die spezielle Kraft miBt, aber keineswegs als ein
sicheres Maß der Nervenermüdung gebraucht werden kann. Dagegen sei die Ge-
schwindigkeit aufeinanderfolgender willkürlicher Bewegungen wesentlich, vielleicht
ausschließlich durch Nervenermüdung bedingt. Auch fordere der Ergo-
graph viel mehr bewußte Mitarbeit der Vpn., wie namentlich pathologische Erfahrungen
beweisen. Endlich beeinflussen die Ermüdungsempfindungen die ergographische Messung
bekanntlich in hohem Maße, das Tippen dagegen fast gar nicht.
Es ist dem Verfasser zweifellos gelungen, nachzuweisen, daß man die Methode des
Tippens, namentlich für die Ermüdungsmessung bisher unterschätzt hat. Aber er begeht
den Fehler, die Methode gewissermaßen als solche zu beurteilen und nicht darauf zu
achten, in welcher Beziehung sie steht zu dem gemessenen objektiven Tatbestande. In
welcher Beziehung stehen denn eigentlich die Tippbewegungen zu geistiger Ermüdung?
Darüber wissen wir nichts! Solange das aber unbekannt ist, welcher Kausalkonnex die
Verminderung der Arbeit des Tippens nach geistiger Arbeit bewirkt, schweben alle diese
Messungen in der Luft. Sie sind keine Messungen', sondern der Nachweis irgend eines
objektiven Symptoms der Ermüdung , dessen funktionelle Beziehung zur Ermüdung
sich aller Kontrolle entzieht. Ferner scheint der Verfasser die zu messende geistige
Ermüdung zu einseitig als Nervenermüdung aufzufassen, es ist doch sicher, daß wir auch
im eigentlichen Sinne muskulär ermüden, wenn wir geistig tätig sind. Schon die Spannung
der Aufmerksamkeit ist von beständigen Muskelspannungen begleitet, und auch der
übrige Muskelapparat ist teilweise in Tätigkeit.
Die Präzision der Methode ist also zwar wichtig, sie ist aber durchaus nicht das
einzige, was in Betracht kommt, und auch die übrigen Vorzüge werden durch diesen all-
gemeinen Mangel nicht aufgehoben.
E. Meumann, Münster i. W.
Dr.Theodor Elsenhans, Charakterbildung. 1. Bändchen Nr.32von
„Wissenschaft und Bildung", Einzeldarstellungen aus allen Gebieten
des Wissens. (Herausgeber: Dr. Paul Herre). — Quelle & Meyer, Leipzig, 1908.
135 Seiten. Preis 1,25 Mk.
Wenn wir uns im Nachstehenden mit Elsenhans Werkchen ausführlicher befassen,
als dessen äußerer Umfang zu rechtfertigen scheint, so geschieht dies vor allem deswegen,
weil darin die vielleicht wichtigste aller Zeit — undErziehungs-
fragen behandelt wird, — nämlich die nach der Bildungsmöglich-
keit und Sicherung des individuellen sittlichen Charakters
angesichts aller jener negierenden Faktoren des modernen
Lebens, die das Zustan dekommen des »C h ar akter s als Ausdruck
der Menschenwürde" so außerordentlich erschweren. L&ngst sind
es nicht mehr Philosophen und Pädagogen allein, von denen der Ruf nach vertiefter
Charakterbildung ausgeht. Das gleiche fordern vielmehr Juristen und Staatsm&nn« r,
Nationalökonomen und Ärzte, — letztere mit besonderen Nachdruck, es sei nur an
den Schweizer Psychiater Dubois erinnert, der in seinem Werke „die Psychoneuroson
und deren Behandlung" als eines der kräftigsten Palliative gegen die Gefahren des mo-
dernen Lebens eine wohlbegründctc Weltanschauung und einen gefestigten religiös-
sittlichen Charakter hinstellt. Treft'end bemerkt Elsenhans in seinem Einleittingswort:
„Die Religion wurde durch die moderne Wissenschaft in ihren Tiefen erschüttert l>ie
— 279 —
neue Entwicklung des staatlichen Lebens brachte dem Einzelnen, ohne ihn immer reif
dafür zu finden, eine viel größere Selbständigkeit und eine ganz andere Verantwortung
als bisher, und die ungeheure Entfaltung der Maschinentechnik und des Großbetriebes
nahm ihm die sittlich-festigende Freude an der Arbeit, die durch eigne Kraft ein Ganzes
hervorbringt, und verurteilte ihn vielfach zur eintönigen, tausendfachen Wiederholung
einer mechanischen Leistung, deren Sinn und Erfolg er selbst nicht übersah. Daß diese
Entwicklung der Dinge eine geschichtliche Notwendigkeit war, daß sie einen gewaltigen
Fortschritt der Menschheit bedeutete und Großes durch sie geschaffen wurde, wird kein
Einsichtiger leugnen. Aber für die Charakterbildung ist ihr Einfluß überwiegend
ein verderblicher gewesen, und es ist nicht zu verwundern, daß uns in einer Zeit, die
sich gerne ihrer freiheitlichen Einwirkungen rühmt , der Mensch selbst häufig nur noch
erscheint als ein Sklave der Jagd nach dem Erwerb, als ein kleines Rad in der unge-
heuren Maschine des Großbetriebs, als ein blinder Nachbeter der sogenannten öffentlichen
Meinung, — alles andere eher denn ein freier Charakter. Ist daher etwas
zeitgemäß, so ist es die Frage der Charakterbildung". Ihr geht nun Elsenhans nach,
in gedrängter Form eine reiche Fülle von Gedanken anregend.
Im ersten Teil des Werkchens , der vom Wesen des Charakters handelt , bestimmt
er den Hauptbegriff im weiteren und engeren Sinne und erörtert den wichtigen Begriff
der Persönlichkeit. Der zweite Teil ist der Frage nach der Entstehung des Charakters
gewidmet. Demgemäß wird hier das Problem des Angeborenen überhaupt besprochen, so-
dann der angeborene im besonderen der erworbenen Charakter gegenüberstellt, um schließlich
der schwierigen Frage nach dem Verhältnisse beider zu einander näher zu treten. Der dritte
Teil wendet sich mehr der konkreten Praxis zu, — der Erziehung des Charakters. Verfasser
spricht hier zunächst vom „Recht der Selbstentfaltung" in seinem Verhältnis zur Charakter-
bildung, sodann von den Schuleinrichtungen und der Berufswahl unter dem Gesichtspunkte der
Charakterbildung und endlich vom Verhältnis der einzelnen Erziehungsmittel zur Cha-
rakterbildung. Den'Schluß macht ein kurzer Hinweis auf die Hauptaufgabe der Erziehung
des Charakters, — auf die Vorbereitung der Selbsterziehung und auf die Vertiefung des
„sozialen Gemeingefühls". Die beigegebenen „Anmerkungen" machen den Leser mit aus-
erlesenen Quellenschriften bekannt. Dazu kommt noch ein Sach- und Namenregister.
Man muß den Verfasser beglückwünschen zu der geschickten,
taktvollen Art, wie er aus der Fülle der die Charak ter bildung
betreffenden Probleme dasjenige herausgegriffen und behan-
delt hat, was dem nicht wissenschaftlich gebildeten Leser
heutzutage zu wissen nottut. Kritisch feinsinnig findet er dazu gewissen
neueren pädagogischen Utopisten gegenüber das rechte korrigierende Wort, — so u. a.
gegenüber Ellen Key, Tolstoi, Berthold Otto etc. etc. In gleichem Sinne stellt er For-
derungen, wie etwa die nach pädagogischer Verwertung der „Suggestion" oder nach
dem Wirkenlassen von „Gedankenkräften" richtig. Vieles, was einer ausführlichen Dar-
legung wohl wert wäre, kann er nach der ganzen Anlage des Buches nur streifen, was
er aber z. B. über die in unserer Zeit so verpönte Körperstrafe oder etwa über den
Gesinnungsunterricht (Religion, Geschichte) sagt , ist bei aller Kürze schlechthin
mustergiltig und zeugt von reifer pädagogischer Einsicht.
Etwas weniger conciliatorisch hätte Verfasser gegenüber den Ansprüchen der Physiogno-
miker, Phrenologen und Graphologen als vertreten sie eine „Wissenschaft" sein dürfen,
ebenso Forschern von der Art Lombrosos gegenüber.
Berichterstatter erlaubt sich noch auf einige Punkte aufmerksam zu machen, die
im Interesse der Sache bei einer Neuauflage des Buches Berücksichtigung finden könnten.
— 280 —
Auf S. 10 behauptet Verfasser vom Charakter im enpreren Sinne: ;,Es ist ein Inbegriff
von Willenseigenschaften". Aus dem Zusammenhang ergibt sich nicht klar, ob hier
Willen im Sinne der älteren Psychologie als etwas Elementares, psychisch Letztes an-
genommen ist oder als ein Komplex, in den vor allem intellektuelle und emotionelle
Faktoren eingehen. Nur auf Grund bestimmter Vorstellungskomplexe und dominierender
Gefühle resultiert ein Charakter. Auf S, 59 wird gesagt, daß der „Kern des individuellen
Wesens" nicht von den Eigenschaften des Verstandes, sondern von denjenigen des Fiih-
lens und Wollens gebildet wird, und S. 69 wird aus Ribots „Psychlologie der Gefühle" an-
geführt: „Das Grundlegende des Charakters sind die Instinkte, Tendenzen, Impulse, Begeh-
rungen, Gefühle, und zwar alles dies zusammen und nur dies". „Die intellektuellen Anlagen
bilden erst eine zweite darüberliejrende Schicht". Abgesehen davon, daß Ribot mit „Instinkte,
Tendenzen, Impulse, Begehrungen" nur Worte aber keine klar umschriebenen
Begriffe bietet und es auf Grund des physischen Tatbestandes unrichtig ist, die in-
tellektuellen Anlagen als „zweite, darüber liegende Schicht" zu bezeichnen, muß noch-
mals betont werden, daß in den Charakter von vornherein so wesentliche intellek-
tuelle Elemente mit eingehen, daß man für das Verhältnis von Vorstellen, Fühlen und
Wollen im Charakter jedenfalls nicht obige Formeln aufstellen kann. Daß sich Ribot
überdies selbst widerspricht , zeigt die kurz darauf folgende Angabe der drei Haupt-
charakterzüge des „Humble", des Bescheidenen: „Übermäßige Sensibilität, beschränkte
oder mittelmäßige Intelligenz und vollständiger Mangel an Energie". Hier schaltet
also Ribot sofort wieder die intellektuellen Grundbestandteile des Charakters e i n. Daß
sich seine Auffassung des Bescheidenen mit der deutschen durchaus nicht deckt, braucht
wohl kaum erst bewiesen zu werden. „Übermäßige (?) Sensibilität" wäre fast patholo-
gisch, und daß dies Ausmaß der Intelligenz und Willenskraft z. B. nicht auf eine statt-
liche Reihe bescheidener Forscher und Arbeiter auf allen Gebieten anwendbar ist, liegt
auf der Hand, Hat ferner H e r b a r t mit seinem Wort „Stumpfsinnige können nicht
tugendhaft sein" Recht, so können wir auch wohl kaum von „sittlich guten Dummen
und Schwachsinnigen" reden. (S. 62). Verfasser spricht weiter nicht selten von psychi-
schen Gesetzen, wo wir im strengen Sinne des W^ortes keine solchen kennen und
höchstens von Bedingungen reden können. Auch die Bezeichnung „Kristallisation
der Gefühle" (S. 115) möchte einer angemesseneren Platz machen. S. 104 wird be-
hauptet, daß man Sonderschulen für hervoragend Befähigte eingerichtet habe. Dies
dürfte ein Irrtum sein und eine Verwechslung mit Petzolds Vorschlag dazu in den
„Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum etc.". Hier und da wären übrigens ty-
pische Belege etc. aus der Geschichte der Erziehung sehr am Platze gewesen. Beispiels-
weise hätte Verfasser dort, wo er sich gegen Schopenhauers Ansicht von der ünver-
änderlichkeit des Charakters wendet, auch gegen die Behauptung Robert Owens, des
Begründers der Milieutheorie, Front machen müssen: The character of man is formed
for him and not by him. — In einer der Anmerkungen spricht der Herr Verfasser die
Hoffnung aus, demnächst weitere Studien über das Angeborene als Problem der Wissen-
schaft und der Erziehung veröffentlichen zu können. Nach den Ansätzen, die vorliegende
Schrift dazu enthält , darf man der in Aussicht gestellten Publikation mit Spannuni:
entgegen sehen.
Dr. Ernst Ebert, Zürich.
Karl Roller, Hausaufgaben und höhere Schulen. Leipzig 1907. Vor-
lag von Quelle & Meyer. 148 Seiten. Preis 1,60 Mk.
Pädagogische wie hygienische Erwftgungen veranlaftten d
J
— 281 —
fasser, sich eingehend mit der Frage der Hausaufgaben auf höheren Schulen zu be-
fassen und an einer Darmstädter Oberrealschule Erhebungen hierüber anzustellen,
deren Ergebnis er im 19. Bande der „Zeitschrift für Schulgesundheitspflege" (Hamburg,
Voß) veröifentlichte. Ein weiterer Anlaß, der Frage näher zu treten, war für den
Verfasser das Referat, das er der VII. (Dresdener) Generalversammlung des deutschen
Vereins für Schulgesundheitspflege über jenes Thema zu erstatten hatte. Auch in vor-
liegender Publikation ist er bemüht, unter Berücksichtigung der besten Literatur zur
Klärung und Beantwortung der Frage beizutragen und seinerseits haupt-
sächlich zu zeigen, „daß es möglich sei, die Hausaufgaben in
solchen Grenzen zu halten, die jegliche Gefahr der Überbür-
dung ausschließen, und daß dennoch dem wissenschaftlichen
Schulbetrieb daraus kein Nachteil erwachs e". Er skizziert im ersten
Abschnitt die neueren Vorschläge zur Hausaufgabenfrage, prüft im zweiten, ob und in-
wieweit Hausaufgaben berechtigt sind, und bespricht im Dritten die Hygiene der Haus-
aufgaben. — Sein Thema auf hinreichend breiter Grundlage behandelnd, geht Verfasser
auch auf die experimentellen Beiträge zur Lösung der Frage
der Hausaufgaben ein und erhofft von den Bestrebungen im Sinne L a y s und
Meumanns wie auch von weiteren Ermüdungsmessungen im Sinne Griesbachs
wertvolle Beihilfen für die definitive Entscheidung Sehr beachtlich ist auch Rollers Zu-
sammenstellung der wesentlichsten Bestimmungen , welche die Regierungen der inzelnen
deutschen Bundesstaaten über die Hausaufgaben als integrierenden Bestandteil des Unter-
richts an höheren Schulen erlassen haben.
Der erfahrene Schulmann wird freilich trotz der Vielseitigkeit der Erwägungen
Rollers die Erörterung gewisser zentraler Punkte vermissen , die für die Regelung
der ganzen Sache von besonderer Bedeutung sind. Es kann nicht Aufgabe dieses Be-
richtes sein, die vorliegende Schrift zu ergänzen, — nur eins sei angedeutet: Sollen
sich die Lehrer bezüglich der Hausaufgaben pädagogisch korrekt verhalten, so muß auf
den Seminaren vorgesorgt werden, — wie? ist wieder eine Frage für sich. Wäre
auch die Vorbildung der Lehrer an Mittelschulen eine pädagogisch rationellere,
so würden sie weit weniger Schwierigkeiten mit den Hausaufgaben haben.
Im übrigen bietet Rollers Buch soviel kräftige Anregungen zum Besseren , daß
man nur wünschen kann, es möchte vor allem in leitenden Schulkreisen recht aufmerk-
same Leser finden.
Dr. Ernst Ebert, Zürich.
Dornblüth, Dr. med., Hygiene der geistigen Arbeit. 2. Aufl.
Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt, Berlin 1907. 248 S.
Der Verfasser bezeichnet es als die Aufgabe der Hygiene des Geistes, „sowohl den
Verstand, die geistige Arbeitskraft, nach Möglichkeit zu entwickeln, als den Charakter
und die davon abhängige Widerstandskraft gegen die Schwierigkeiten des Lebens zu
stärken". Wenn auch die psychologische Basierung der Ausführungen über das Ge-
dächtnis, Gefühlsleben und Willenskraft den modernen Auffassungen nicht ganz entspricht
— es mag der Mangel an wissenschaftlich genügender Darstellung dem Bestreben des
Buches, populär zu bleiben, zuzuschreiben sein — so entschädigt er uns sicher hinreichend
durch die sachkundigen hygienischen Ausführungen, die er uns aus seinen reichen Er-
fahrungen als Nervenarzt und Sanatoriumsleiter durch alle Kapitel hindurch zu geben
vermag. Unter diesen letzteren heben wir als für die Schule in erster Linie wichtig die
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 19
- 282 —
über „Arbeit und Ermüdung", „Arbeit und Stimmung", „Arbeit und Erholung", dann
das über die Hygiene des Geistes im Schulalter hervor. Besonders in diesem letzteren
Abschnitt zeigt der Autor, daß ihm als Arzt auch der pädagogische Scharfblick nicht
fehlt; was er hier über I'berbürdung, Lehrplan, Ferien, Prüfungen und das Problem der
geschlechtlichen Aufklärung der Jugend zu sagen weiß, muß die Zustimmung jedes mo-
dernen Schulmannes herausfordern. Daß das Buch auch in den Händen der Poltern, für
die es vor allem bestimmt ist, nur Segen stiften kann, wird von niemandem bezweifelt
werden.
Dr. Ludwig Pfeiffer, Schweinfurt.
P. Ephrussi, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ge-
dächtnis. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie (der Sinnesorgane). Leipzig
1904.
Bei dem immer mehr sich ansammelnden Material aus dem Gebiete der experimen-
tellen Psychologie ist es angebracht, einzelne, wenn auch ältere, Arbeiten einer einge-
henden Besprechung zu unterziehen und so Anregung zu geben zu weiterer exakten
Forschung in der Kleinarbeit dieses weiten Gebietes. Nicht so sehr durch das praktische
Interesse bewogen, wollte Verfasserin vielmehr „im Anschluß an die in den letzten zwei
Jahrzehnten gemachten Untersuchungen des Gedächtnisses und seiner Gesetzmäßigkeit
einen weiteren Beitrag liefern über die Vorgänge, die bei dem Auffassen, Behalten und
Reproduzieren von Lernmaterial im Spiele sind". In der Einleitung macht Verfasserin
uns mit den näheren Zielen ihrer Versuche bekannt, mit der Art des benutzten Materials
und der benutzten Methode, gibt eine Übersicht und Erklärung der erhaltenen Ergeb-
nisse und verspricht einige wichtige Beobachtungen, wie sie sich dem Versuchsleiter bei
der Durchführung seiner eigentlichen Aufgabe aufdrängen. Der erste Hauptteil der Unter-
suchungen betrifft das ökonomische Lernen bei paarweise einzuprägendem Stoffe und wird
beherrscht von der Frage: ,, Welche von den beiden Lernweisen ergibt innerhalb desselben
Zeitabschnittes eine höhere Gesamtleistung, das Lernen im Ganzen oder das Lernen mit
gehäuften Wiederholungen ?" Daneben erhebt sich die Nebenfrage : „In wie hohem Grade
beeinflußt der Umstand, ob das Einprägen ein wesentlich mechanisches oder ein unter-
stütztes ist, den Charakter der Resultate hinsichtlich der Assoziationsfestigkeit, objektiven
Richtigkeit und subjektiven Sicherheit?" Bei ihren Versuchen hat Verfasserin ein sehr
reichhaltiges Material. Sie benutzt sinnlose Silbenreihen, Wortpaare aus je einer russi-
schen und der zugehörigen deutschen Vokabel, Reihen, deren Paare aus je einem zwei-
silbigen Wort und einer dreistelligen Zahl zusammengesetzt waren, Strophen, Zahlenreihen
und Reihen sinnvoller Wörter. Die benutzte Methode war die Treffermethode im l. Teil
der Untersuchungen, im II. Teile Treffer- und teilweise Erlernungsmethode.
Im zweiten Hauptteile der Untersuchungen will E. feststellen, auf welchen psycho-
logischen Faktoren und Gesetzen der Einfluß der Lesegeschwindigkeit beruht.
Den Schluß der Abhandlung bildet eine Untersuchung über die Wirkung der ein-
zelnen Wiederholungen.
Nach einer solchen in jeder Hinsicht exakten Einleitung kann man wohl mit ge-|
spannter Erwartung an die einzelnen Versuche herantreten. Leider ist man da sei
enttäuscht! Abgesehen von einzelnen Zahlen und Rechnungen, die ich persönlich nie
recht verstehe, machen sich große Mängel bemerkbar. Die Rotationsgcschwiudigkeit
des Kymographions und die Wiederholungszahlen waren ie nach den Versuchspersonc
verschieden, ein Mangel, der sich besonders deutlich in § 7 geltend macht, wo die in^
viduellen Differenzen hinsichtlich des Richtigkeits- und Falschheitsbewußtseins einer
— 283 —
sprechung unterzogen werden. Gerade bei § 7 macht sich wie überhaupt bei fast allen
Versuchen ein Umstand unangenehm geltend: die verschiedenen Versuchspersonen haben
verschiedene Reihen zu lernen. Erst bei ganz gleichen, wenn möglich reichhaltigem,
Material, bei gleichen Versuchsbedingungen und einer größeren Anzahl von Versuchsper-
sonen kommen die individuellen Eigentümlichkeiten des Einzelnen im Gegensatz zu denen
der anderen zum Ausdruck. Wenn die Versuchspersonen A, B, C, D je eine verschie-
dene Reihe lernen, 2, 3, 4 oder 5 etwa, so wird man auch indifiduelle Eigentümlichkeiten
finden, aber diese lassen keinen Vergleich zu. Erst wenn die Versuchspersonen bei den
gleichen Reihen ihre Beobachtungen zu Protokoll geben, dann treten die Übereinstim-
mungen wie die Differenzen zu Tage und ermöglichen Schlüsse. Dann verwendet E.
meiner Meinung nach bei den einzelnen Beobachtungen, bei den Versuchen über das
unterstützte Lernen etwa, zu wenig Versuchspersonen. Nur die Beobachtung der indivi-
duellen Unterschiede und Eigentümlichkeiten vieler kann ziemlich genaue Resultate er-
geben. Auch nähere psychologische Angaben vermissen wir bei einzelnen Versuchen.
So § 2. : Versuchsperson 0., der das Lernen der Silben leicht fiel, zeigte , daß im Fort-
schritte der Versuchsreihe die Konzentration der Aufmerksamkeit immer mehr nachließ.
Eine nähere Begründung dieser Tatsache wäre psychologisch vielleicht sehr interessant
gewesen. Denn bloß Neuheit und Ungeläufigkeit der Silbenfolgen wird nach den ersten
Lesungen im Ganzen doch kaum wesentlich mehr Einfluß haben auf größere oder gerin-
gere Konzentration der Aufmerksamkeit als nach den ersten Lesungen mit gehäuften
Wiederholungen der einzelnen Takte ! Auch das Ergebnis : Bestehen die einzuprägenden
Paare aus ungeläufigen Gliedern, wie das bei Silben der Fall ist, so hat das Lesen mit
gehäuften Wiederholungen den Vorzug vor dem Lesen im Ganzen, hätte gleich von den
ersten Versuchen an, nicht erst in § 13, dahin erläutert werden müssen, daß die rück-
wirkende Hemmung bei dem Lernen im ganzen eine große Rolle spielt. Handelt es sich
nur um einen paarweise einzuprägenden Stoff, so wird beim Lernen im Ganzen die inten-
tionelle Assoziation, die die Glieder eines Paares mit einander verbindet, gewiß starke
Beeinträchtigung erleiden, durch die Assoziationen, die sich zwischen den einzelnen Paaren
etwa bilden. Beim Lesen mit gehäuften Wiederholungen kommt dies nicht so wesentlich
in Betracht.
Im zweiten Hauptteile untersucht Ephrussi den Einfluß der Lesegeschwindigkeit
auf das Einprägen nach dem Treffer- und nach dem Erlernungsverfahren hin. Verfasserin
kommt zu dem Resultat, daß, das rasche Tempo bei der Prüfung des Einflusses der
Lesegeschwindigkeit mittels des E-Verfahrens (Erlernungs-) sich ökonomischer als die
langsameren Tempi erwies, ergab bei Anwendung des T-Verfahrens (Treffer-) das rasche
Tempo minderwertigere Resultate als die andern Tempi. Auf die mitgeteilten Versuche
allein hin kann ich mich der Folgerung nicht anschließen. Von den mitgeteilten Ver-
suchsreihen bestanden zwei Reihen aus sinnlosen Stellen, eine aus Wort- und Zahlen-
reihen zur Prüfung des Trefferverfahrens. Zur Prüfung des Erlernungsverfahrens be-
standen zwei Versuchsreihen aus deutschen Strophen, eine Versuchsreihe aus russischen
Strophen. Die vierte Versuchsreihe aus sinnlosen Silben kann insofern nicht als voll-
gültig betrachtet werden, weil eine genaue Regulierung der Rotationsgeschwindigkeit
nicht möglich war. Leider ist aus diesen Gründen auf Grund der angeführten Versuche
eine Prüfung des obigen Resultates nicht möglich ; denn Verfasserin bemerkt sehr richtig
in der Einleitung: „Es hat sich dabei (gemeint ist die Anwendung verschiedener Arten
von Lemmaterial) herausgestellt, daß die Unterschiede in der Art des Lernmaterials
(namentlich die größere oder geringere Geläufigkeit desselben) die Resultate nicht nur
in quantitativer Beziehung beeinflussen, sodaß man bei verschiedenen Stoffen unter sonst
19*
- 284 —
gleichen Umständen direkt entgegengesetzte Resultate erhalten kann". Dazu kommt die
zum I.Teile gemachte Bemerkung, daß jede Versuchsperson verschiedenes Material hat.
Ob die weiterhin in § 19 angeführten beiden Versuche ihre volle Gültigkeit zur Erklä-
rung der Beobachtung der §§16 und 17 haben können, ist meines Erachtens zweifelhaft,
da besonders die Einstellung des Geistes eine ganz andere ist, wenn das E- Verfahren
Anwendung findet als wenn das T-Verfahron zur Benutzung kommt. Diese Einstellung
wird aber die erste Zeit ganz unterdrückt, wenn die Versuchsperson darüber im Zweifel
ist welches Verfahren angewandt wird. Eine Ergänzung in gewissem Sinne bieten zu den
g§ IG und 17 die Versuchsreihen 35 und 36 in § 21 in denen dargelegt wird, wie sich
der Einfluß der Lesegeschwindigkeit bei Anwendung des T- Verfahrens gestaltet, wenn
das Vorzeigen direkt auf das Lesen des Stoffes folgt.
In einem Anhang teilt Ephrussi einige Versuche mit über die Wirkung der ein-
zelnen Wiederholungen. Diese Versuche sind insoweit zuverlässiger, als wenigstens bei
einer Versuchsperson, bei Herrn Prof. Ebbinghaus, vier verschiedene Versuchsreihen be-
obachtet wurden.
All diese Bemerkungen verursachen eine recht große Enttäuschung nach den Er-
wartungen, zu denen die Einleitung berechtigte. Dazu kommt der Gedanke an das, was
p]phrussi hätte bieten können bei dem so reichhaltigen Material und bei der großen Zahl
der Versuchspersonen (über dreißig), die der Vcrsuchsleiterin zur Verfügung standen!
Clemens Knors, Münster.
Frederic Tracy, Psychologie der Kindheit. Eine Gesamtdar-
stellung der Kinderpsychologie für Seminaristen, Studierende und Lehrer. Deutsch von
Dr. Josef Stimpfl, Kgl. Seminarlehrer in Bamberg. Zweite, umgearbeitete Auflage. I^eipzig
1908. Verlag von Ernst Wunderlich. Preis geh. 2 Mk., geb. 2,40 Mk.
In klarer übersichtlicher Weise schildert der Verfasser , Professor der Psychologie
an der Universität zu Toronto) das allmähliche Erwachen der Kindesseele, wie sie sich
äußert in den Sinnen, dem Verstände, den Gefühlen, dem Willen, der Sprache, den ästhe-
tischen, moralischen und religiösen Vorstellungen. Das umfangreiche Material, auf das
sich die Beobachtungen stützen, wurde gewonnen an Fixperimenten an amerikanischen,
dänischen, deutschen, italienischen, schwedischen Schulkindern; die Beobachtungen selbst
wurden von bekannten Forschern gemacht, von Darwin, Kußmaul , Preyer, Sigismund,
Witkowski und vielen andern. Meistens gibt eine kurze Beschreibung der Versuche viele
Anregung für die eigene Beobachtung der Erzieher und Lehrer, zumal Verfasser die
experimentellen Ergebnisse neben einander stellen und vergleichen, dem Erzieher jedoch
an der Hand eigener Beobachtung eine eigene Entscheidung überlassen. Den Äuße-
rungen der Kindesseelc in ihrer mannigfachen Beziehung ist meist ein Hinweis auf ihre
Bedeutung beigefügt. Zahlreiche Winke für ihre besondere Ausbildung und Veredelung
und womöglich hygienische Bemerkungen folgen den Darstellungen.
Das mit zahlreichen Abbildungen nach Levinstein und Kerschensteiner eri
VI. Kapitel gibt eine interessante Darstellung der Entwicklung des kindlichen Schon-
heitssinnes, der Beurteilung des Schönen und der bildlichen Wiedergabe der dargo»" ♦♦-'>"
Gegenstände. Im Gegensatz zu der Entwicklung der zeichnerischen Dantelluii
des Kindes in Bezug auf die Gegenstände der Darstellung entwickeln Verfasser dei
heitssinn nach der Art der Darstellung. Sie dehnen die Untersuchungen aus >
Zeichnungen dreizehn- und vierzehnjähriger Kinder. Sie unterscheiden so fünf Stufen
1. Die Stufe des unbestimmten formlosen Gekritzels, 2. die Stufe des Schemas oder d
Wiederschrift begrifllicher Merkmale, 3. die Stufe des beginnenden Linien- und FornKl
'^
— 285 —
gefühls, 4. die Stufe der erscheinungsgemäßen Darstellung oder die Stufe der Silhouette
oder dss Umrisses, 5. die Stufen der formgemäßen Darstellung.
Nachdem Verfasser in den sechs ersten Kapiteln von den krankhaften Störungen
des kindlichen Seelenlebens nur die einfachen Störungen dargelegt haben, folgt im siebten
Kapitel eine allgemeine Übersicht über die zusammengesetzten Seelenstörungen, die Psy-
chopathien. So enthält das Werk alles, was man in einer Darstellung der Psychologie
der Kindheit zu finden erwarten darf. Nur einen wesentlichen Punkt im Kindesleben
haben meiner Meinung nach die Verfasser alzu wenig berücksichtigt, ich meine die Spiele
und die dichterische Phantasie des Kindes. Der Abschnitt über Einbildungskraft, in dem
sich ein Hinweis hierauf findet, ist doch allzu beschränkt für das unbegrenzte Feld, auf
dem sich hier das Kind bewegt. Unbedingt hätte auch darauf hingewiesen werden müssen
bei den Assoziationen. Statt dessen bringen Verfasser die alten Gesetze der Ähnlichkeit
und der Berührung oder Gleichzeitigkeit, Gesetze, denen doch gerade der Geist des Kindes
im Spiel und dichterischer Phantasie zu spotten scheint.
Das mit viel Liebe und Interesse geschriebene Werk ist nicht so sehr als wissen-
schaftliches Werk vielmehr als ein recht praktisches Handbuch für Erzieher und Lehrer
zu empfehlen. Es bringt in recht anschaulicher Weise die „Entwicklung des seelischen
Lebens im Kinde nach ihrem normalen Verlaufe und ihren wichtigsten pathologischen
Zuständen, sowie die hauptsächlichen Erscheinungen und Vorgänge des Seelenlebens und
ihre Gesetze zum Verständnis". (Neue Lehrpläne der preußischen Lehrerseminare).
Clemens Knors, Münster.
Gemelli, Sulla teoria somatika delle emozioni (Über die physiolo-
gische Theorie des Gefühls). Rivista di Filosofia Neoscolastica, herausg. von G. Canella
und A. Camelli. Jahrgang I, Nr. 1, Jan. 1909.
Der Verfasser gibt einen kritischen Bericht über die neueren Versuche, eine „so-
matische" Theorie des Gefühls zu gewinnen, und stellt die Veröffentlichung eigener Unter-
suchungen in Aussicht. Er erwähnt die Ansicht von de Sarle: „Man unterdrücke alle
physiologischen Phänomene, welche die Gefühle kennzeichnen und das Gefühl selbst exi-
stiert nicht mehr". Dagegen bemerkt der Verfasser, daß man dabei nicht scheidet zwischen
der Frage, ob die körperlichen Phänomene die notwendige Begleiterscheinung oder die
konstituierende Ursache der Gefühle sind. Zu der Theorie Carl Langes bringt der Ver-
fasser Einwände, die gewöhnlich erhoben werden. Den Ausgangspunkt der sematischen
Gefühlstheorien liegt nach G.s Ansicht in der Tatsache, daß jedes Gefühl begleitet wird
von miraischen und organischen Veränderungen, vor allem Zirkulationsveränderungen.
Durch die experimentelle Erforschung des Gefühls ist die Parallelität dieser körperlichen
Vorgänge mit den Gefühlen festgestellt worden. Danach muß man annehmen, daß jede
Steigerung der psychischen Tätigkeit eine Vermehrung der Zirkulation mit sich bringt,
und zwar eine Vermehrung der zerebralen Zirkulation bei gleichzeitiger Verminderung
der peripheren. Nach Lembard und Mosso haben ferner die Gefühle eine weniger deut-
liche zerebrale Zirkulationsveränderung zur Folge als die intellektuellen Prozesse. Sodann
erwähnt der Verfasser de Theorir von Francis Frank, nach der die Veränderung der
Aktivität des Gehirns abhängen von dem arteriellen Blutdruck. Sodann werden die The-
orien von Lange, James und Sergi erwähnt, ihre gemeinsamen Gedanken wurden zusammen-
gefaßt und an den bekannten Schematen dargestellt, und dann die Unterschiede der drei
Theorien besprochen. Nach Lange sollen bekanntlich die vasemotorischen Veränderungen
die primäre sein, was James und Sergi leugnen; da nun Lange natürlich die vasomoto-
— 286 —
rischen Reaktionen von einem bestimmten Zentnim ausgehen läßt, so kann man seine
Theorie auch eine zentrale nennen. Anders steht es bei der Theorie von James. J. legt
den Hauptnachdruck auf die viszeralen und vaskulären Reakrieren einerseits und die Ver-
änderungen des mimischen und physiognomischen Ausdrucks andererseits. Seine Theorie
ist in diesem Sinne eine wirklich periphere. Im Unterschiede von Sergi, der alle Gefühle
mit seiner Theorie erklären will, zieht James nur die gröberen Gefühle in den Bereich
seiner Theorie, (Furcht, Zorn, Liebe, Schmerz), während er die feineren davon ausnehmen
will (intellektuelle und aesthetische). Diesen Theorien steht bekanntlich gegenüber die „zen-
trale" Theorie von Sollier. Er läßt bekanntlich die Gefühlserregbarkeit (Emotivität)
scheiden von den einzelnen Gefühlen, Die erstere hängt ab von der Leichtigkeit, mit der
im Gehirn diffuse oder ausgebreitete Erregungen entstehen, auf Grund von Reizen, sei es
weil die Widerstandsfähigkeit der Zentren vermindert ist, sei es weil eine allzuheftige
Explosion der Erregung erfolgt, oder aus anderen Ursachen. Das Gefühl hat daher nach
S. ausschließlich zerebrale Ursachen. Mit Recht stimmt dann der Verfasser D' Allones
darin bei, daß Sollier irrt, wenn er die übrigen Theorien als rein periphere ansieht, und
unter dieser Voraussetzung bekämpft. Über die Fortsetzung des Artikels werden wir
nach Erscheinen berichten.
B. Rüders (Münster).
E p i 1 e p s i a , Revue internationale trimestrielle, consacree ä l'etude au point de vue
pathologique, therapeutique, social et juridique de l'Epilepsie et des maladies nerveuse»
du meme ordre, sous le patronage de W. Bechterew, 0. Binswanger, J. Ilughllns Jackson,
L. Luciani, IL Obersteiner, F. Kaymond, Amsterdam, Scheltema und Ilolkema; Leipzig,
J. A. Barth, 1909. Erster Jahrgang, Nr. 1. Jährlich Mk. 18.
Diese neue internationale Zeitschrift widmet sich ausschließlich dem Studium der
Epilepsie und verwandter Erkrankungen. Die Redaktiom wird geführt von Bruns (Han-
nover), Bramwell (Edinburg), Bratz (Wuhlgarten), Grainger Stewart (London), Lejonne
(Paris), Maes (Werwick, Belgien), Perusini (Rom), Southard (Boston), Stransky (Wien),
Suchof (Moskau), Heinrich Vogt, (Frankfurt a. M.).
Aus der Ankündigung sei hervorgehoben, daß die Zerstreuung der Literatur über
die wichtigsten Krankheitsformen allerseits als ein Mangel empfunden werde, aus diesem
Bedürfnis sind schon verschiedene internationale Zeitschriften auf dem Gebiet der Patho-
logie hervorgegangen. Einen weiteren Anlaß zur Gründung der vorliegenden Zeitschrift
gab die Erfahrung, daß ein Bestreben nach internationalem Zusammenarbeiten, speziell
auf dem Gebiete der medizinischen Wissenschaften sich überall Bahn gebrochen hat.
Grade für die Kenntnis der Epilepsie erscheint es aber wünschenswert, daß der Neurologe,
der Psychiater, der Chemiker, Jurist, Physiologe und Anatom zusammenarbeiten.
Die Zeitschrift ist vorläufig als Vierteljahrschrift gedacht. Sie bringt Originalartikel
und Referate. Der Inhalt dieses ersten Heftes ist: Raymond und Serieux, La responsa-
bilitd et la condition sociale des Epileptiques. (Darauf folgt eine Zusammenfassung
dieser Arbeit in deutscher Sprache). Otto Binswanger, Aufgaben und Ziele der Epilepsie-
forschung. Emil Redlich, Bemerkungen zur Alkoholepilepsic, (hierauf eine Zusammen-
fassung des Artikels in englischer S])rache). L. J. J. Muskens, Prodromal motor sensor}"
and other Symptoms and their clinical significance. (Deutsche Zusanunenfassoog dieser
Abhandlung). Es folgen reiche Referate über die verschiedenen Spezialgebiete der Epi-
lepsieforschung.
Meumann.
m
— 287 —
W. Wickley und H. Siihning, Neue Fibel nach rein phonetischem Prinzip und
der auflösend-zusammensetzenden Lehrweise. Ausgabe C für Volksschulen mit den Schrift-
formen des preußisclien Normalalphabets, A. Steins Verlagsbuchhandlung, Berlin-Ha-
lensee, Potsdam, Leipzig.
Wenn selbst der bewährte Lesemethodiker Heinrich Fechner-Berlin, der Träger der
phonetischen Idee, es für nötig erachtet, seinen bereits in X Auflagen und Y Ausgaben
erschienenen Fibeln den dermaligen Mode - Reklameschild „auf phonetischer Grund-
lage" beizugeben, so kann man es neueren Fibelschreibern gewiß nicht verübeln, wenn
ihre Büchlein ähnliche Zusätze auf dem Titel tragen. Wenn aber die Berücksichtigung
der Lautbildungslehre nun gar durch Aufschriften wie „nach rein phonetischem
Prinzip" angekündigt werden, dann ist es angesichts schreiender Fibelmißgeburten
denn doch endlich Zeit, im Interesse des ersten Schulunterrichts ernstlich Stellung gegen
eine folgenschwere Verirrung ins Bereich formalistischer Extreme zu nehmen. Gewiß
begrüßen auch wir älteren Fibelschreiber die uns von der Sprachphysiologie aus gewordene
Unterstützung bei der Verwirklichung des längst akzeptierten Grundsatzes : „Vom Leichten
zum Schweren !" ; wohl ist das phonetische Prinzip im Lehrgange des grundlegenden
Leseunterrichts tunlichst zu beachten, so sehr, daß wir seine Berücksichtigung für
selbstTerstäudlich erklären und jedem Fibelschreiber, der es gröblich ignoriert, die Kom-
petenz in der Elementarmethodik schlechterdings absprechen ; allein es ist eben, wie wir
schon oben bei der Besprechung des Kehrschen Sprachunterrichts betonten, nur ein
Prinzip, nicht das einzige und trotz allem nicht das höchste. Wo es sich nun um einen
Widerstreit methodologischer Grundsätze handelt, da reden wir immer einem versöhnlichen
Ausgleich im Sinne einer pädagogisch und didaktisch zweckdienlichen Rangordnung das
Wort. Sind doch selbst die Vertreter der AVissenschaft bezüglich der Reihenfolge, in
welcher die kleinen Leseschüler die Laute einzeln und in Verbindungen kennen lernen
sollen, nicht einig ; ist doch das Lesen nicht A und 0 des ersten Unterrichts und außer-
dem zu beachten, daß wir es bei normalen Schülern nicht mit der Heilung von Sprach-
fehlern zu tun haben, daß die uns zugewiesenen schulpflichtigen Kinder trotz erforder-
licher Sprachkultivierung zumeist samt und sonders schon sprechen können, nach unseren
Voraussetzungen sprechen können müssen; ja wir leben der durch Erfahrung und Expe-
riment gewonnenen Ueberzeugung, daß für unsere Anfänger die Sprech- und Leseschwie-
rigkeiten fast ebensowenig wie die Lese- und Schreibschwierigkeiten zusammenfallen, wie
auch anderseits bislang der Unterschied graduell so minimal ist, daß nur kleingeistige
Schulpedanterie oder schrullenhafte Neuerungssucht das Höhere dem Geringeren unter-
ordnen könnte. So weit dürfen sich, wollen wir nicht mit einem Schritt 100 Jahre rück-
wärts in das Zeitalter der ribs-rabs-rubs, schnirbls-schnarbls-schnurbls-Periode schreiten,
die Fachspezialisten denn doch nicht in unsere,. Berufswissenschaft einmischen.
Wer trotz dieser Erwägungen der geistlosen Betonung des phonetischen Prinzips
das Wort redet, der bleibe wenigstens seinem Versprechen treu ; inkonsequent aber wird
er unstreitig, wenn er beispielsweise wie Wickley und Lühning das n vor dem m, ja
schon als dritten Laut einführt, auf der dritten Seite schon zweiteilige Wörter wie ei-ne-
sei-ne aufwartet und durch die Reihenfolge: i, e, n, u (I. Stufe, I. Gruppe), der man
die graphischen Absichten auf den ersten Blick ansieht, klipp und klar verrät, daß es
ihm um die ausschließende „Reinheit" des phonetischen Prinzips nicht so ernst ist; voll-
ständig zugetan bleiben die Verfasser dem angekündigten Formalismus allerdings in-
sofern, als sie auf der ganzen ersten Stufe (bis S. 46) das Sachprinzip auch
in jeder Hinsicht schlankweg ignorieren und von A bis Z beweisen, daß es ihnen nur
ums gründliche Lesenlernen zu tun ist. Wer eine solche Fibel sucht, der gehe nicht
achtlos an vorliegender vorüber. L. F. Göbelbecker.
— 288 — .
Victor Mcrcante, Ensenanza de la Aritmetica. Libro I: Psicologia de la
Aptitud matematica del nino, ö90 Seiten. Bucno-Aires, Cabaut y C-ia. 1904. — Libro
II: Caltivo y desarrollo de la Aptitud matematica del nifio. 726 Seiten. Ebenda 11K)5)')
Das erste Buch ist eine eigenartige Psychologie der mathematischen Fähigkeiten
des Kindes (Schülers), das zweite eine eigenartige Methodikpflege und Entwicklung der
mathematischen Fähigkeiten des Kindes. Nach einer Uebersicht der Entwicklung der
Mathematik und des mathematischen Unterrichtes weist Mercante auf die Notwendig-
keit des psychologischen Studiums hin, wobei er einen ziemlich extremen physiologischen
Standpunkt vertritt.
Das Nervensystem, die letzte Etappe der Entwicklung der belebten Materie (R a m o n
y Cajal), ist wie ein Vervollkommnungsapparat, bestimmt zu sammeln, zu unterscheiden
und die peripherischen Reize zu klassitizieren, sowie auch um den Bewegungen selbst
mehr Schnelligkeit und Präzision zu geben, die unnötigen oder schädlichen Reaktionen
(parasitäre Reaktionen) zu entfernen. Auf den sensorischen Sphären des Gehirns proji-
zieren sich die Eindrücke der Sinne; die kortikalen Zellen ermöglichen die primäre
Identifikation oder das sensorielle Erkennen, die transkortikalen Fibrillenbündel realisieren
die sekundäre Identifikation. Das Gehirn ist also ein Assoziationsorgan und die höchste
seiner Aktionen, das Bewußtsein, eine Funktion der zentralen Projektionsgebiete, eine
Funktion der Gehirnrinde nach Wer nicke). Es gibt für den Autor keine anderen
Realitäten als die der Assoziationswege, unablässig durchlaufen von Eindrücken, welche
von der äußeren Welt sich auf die Territorien der Gehirnrinde i)rojizieren. Die peri-
pherischen Impressionen pflanzen sich von den Sinneszentren auf die Konduktoren. Neu-
ronen zum Zentralnervensystem fort gleich einer Lawine (Golgi, Gesetz der Lawine).
Die Intelligenz und die Extension der einzelnen Fähigkeiten hängt von der Qualität und
Quantität der Gehirnsubstanz und von der Schnelligkeit, mit welcher die Zentren inte-
grieren, ab. Die Intelligenz ist proportional der Zahl und Anordnung der Zellen. Die
Funktion einer psychischen Zelle ist um so lebendiger, je größer die Anzahl der proto-
plasmatischen Prolongationen ist und je reichlicher, größer und verzweigter die Kolate-
ralen der Axome sind (Kölliker). Die Aufmerksamkeit erzeugt, sobald sie sich auf
eine Idee oder eine kleine Anzahl von assoziierten Ideen rekonzentriert, außer der in-
tensiven Kontraktion der Zellen auch eine aktive Kongestion der Kapillaren des betreffenden
Zentrums, was die Intensität der Nervenwelle begünstigt, unter Erreichung des Maximums
der Phänomene der Wärme und des vitalen Metabolismus. Diese Hyperämien markieren
das Moment von größerer intellektueller Potenz, wenn das Blut reine Naturkraft be-
wahrt (mit Cajal). So können verschiedene physiologische Störungen die Zirkulation
verzögern und darunter leiden die psychischen Leistungen. Das ungefähr sind die llaui)t-
gedanken dieser etwas merkwürdigen „Psychologie".
Man muß den Schüler kennen, damit man ihn erziehen kann. Die Psychologie als
Hilfswissenschaft der Pädagogik ist aber nicht imstande, die nötigen Kenntnisse zu uebon,
wie es vom intellektuellen Gesichtspunkt aus behauptet wird; das mühevolle Studium
einer Psychologie, etwa von Sergi, Sully oder James ist für den Lehrer nichts weiter
als eine theoretische Uebung. Die Unterrichtsmethoden kommen nicht vorwärts dunh
die Kenntnis etwa des Prozesses oder der Wege, auf welchen eine Perzcption in eine
Idee und Bewegung sich umwandelt nach ilervorrufung einer komplizierten Reihe vcn
Integrationen Deswegen sind Experimente nötig, welche für die Schule zwei Zwecke
1) Abdruck aus dem Archiv für die ges. Psychologie, Band XV, 1909.
— 289 —
haben: einen psychologischen und einen pädagogischen. Die Pädagogik ist eine Kunst,
möglichst viel mit möglichst wenig Mitteln zu lehren. Das bisherige Verfahren der Pä-
dagogik, von zufälligen Beobachtungen aus schnell zu allgemeinen Prinzipien zu gelangen,
ist unzulänglich. Der Autor ist mit 13 o u r d o n darin einig, daß die alte Pädagogik sich
nicht verjüngen, sondern verschwinden soll. — Wie? — Durch Experimentieren. Eine
scholare kollektive Psychologie ist noch nicht geschaflfen ; der Autor glaubt, seine Skizzen
auf dem Gebiete der Arithmetik seien vielleicht die ersten Versuche dazu ^). Auch Psy-
chologen von Ruf, wie Bin et und andere, sind keine Lehrer; sie machen ihre Unter-
suchungen in den gut ausgestatteten Laboratorien und es ist deswegen nicht verwunderlich,
daß die Ableitungen solcher Gelehrter keine Anwendung in der Praxis finden können.
Die große Variabilität der einzelnen Schüler in einer Klasse der Begabung und dem
Alter nach erfordert besondere Untersuchungen, die die spezifischen Verhältnisse in Be-
tracht ziehen müssen.
Den experimentellen Untersuchungen, die der Autor zur Erforschung der mathe-
matischen Fähigkeiten des Schülers unternimmt, liegt die Annahme zugrunde, daß die
mathematische Fähigkeit des Schülers sich umgekehrt proportional verhält zu gewissen
„Reaktionszeiten", die man erhalten kann, indem man ihn Additionen, Subtraktionen,
Multiplikationen ausführen oder Zahlen lesen läßt. Das mathematische Phänomen ist
eine Integration, welche mit einer akustischen oder visuellen Perzeption beginnt und mit
einem motorischen Akt schließt nach einem komplizierten inneren Komperationsprozeß,
einem Prozeß von Abstraktion, Generalisierung und Kombination. Währenddessen prä-
sentieren schon konstituierte und ausgewählte Assoziationen ihren Zusammenfluß, und
von diesem Vorgang hängen zwei Fundamentalqualitäten ab:Exaktheit und Schnellig-
keit. Die rechnerische Fähigkeit entwickelt sich intensiv und extensiv. Der Prozeß
ist identisch für alle mathematischen Phänomene; es variiert nur die Qualität der Asso-
ziationen, welche als Elemente zusammenwirken, um andere kompliziertere Ganze zu
bilden. Merc ante unternimmt zwanzig verschiedene Experimente, die eine
nähere Betrachtung verdienen. Sie wurden während des Schuljahres 1902 gemacht mit
den Schülern einer sechsstufigen Schule. Die nachfolgende Tabelle I läßt die Zahl der
Knaben und Mädchen sowie die Altersverhältnisse jeder Klasse ersehen.
Tabelle L
Klassen
Summa
I
II
III (I.)^)
III (S.)
IV
V
VI
Anzahl der Schüler
Mädchen
Knaben
14
19
13
18
15
8
25
9
20
13
29
17
18
9
134
93
Alter der Schüler.
Mädchen
Knaben
7,7
7,8
10,1
10,1
11,15
11
12,5
12
13
12,7
14,1
13,5
15,30
15,1
1) Er hat die Absicht, in gleicher Weise die Methodik aller Lehrfächer auf Grund
^^^—'^w Experimenten zu bearbeiten, dabei sind ihm, wie es scheint, alle übrigen Bemühungen
der experimentellen Pädagogik, besonders in Deutschland, völlig entgangen.
2) III (Interior) ist eine Repititionsklasse.
— 290 —
Bevor aber die einzelnen Experimente besprochen werden, ist es nötig, einiges über
das Scliulprogramm in Argentinien 'vorauszuschicken. Dasselbe variiert sehr, weil die
einzelnen Provinzen in der Gestaltung des Unterrichts völlig freie Iland haben. Im
zweiten Buch des Werkes betrachtet Mercante die Frage sehr ausführlich. Er unter-
scheidet die bekannten drei Typen : synthetisch, synthetisch-analytisch und zyklisch ; er
selbst ist für den letzten und gibt auch ein besonderes Programm an, nach Monaten und
Stunden geteilt, welches er auf die Ergebnisse seiner Untersuchungen aufgebaut zu haben
glaubt. In Buenos-Aires scheint folgendes Programm vom synthetischen Typus geherrscht
zu haben, als die Experimente stattfanden: Erstes Jahr: Zählen bis KHK), Additions- und
Subtraktionsaufgaben. Kenntnis der Nationalmünzen und des metrischen Systems. —
Zweites Jahr : Zählen bis 1 ()0Ü OUü, Aufgaben der vier Operationen. Kenntnis der Na-
tionalmünzen und des metrischen Systems. — Drittes Jahr: Komplettes Zählen. Opera-
tionen mit Ganzen und Dezimalen. Kenntnis der Nationalmünzen und des metrischen
Systems. Geometrische Aufgaben. — Viertes Jahr: Konkrete Aufgaben über die vier
Operationen mit ganzen Zahlen und Dezimalen. Komplettes des metrischen Systems und
der Nationalmünzen. Kaufmännisches Rechnen. — Fünftes Jahr: Ilandelsarithmetik. —
Sechstes Jahr: Generalrevision des in den früheren Jahren Gelernten. — Dies Programm
muß man im Auge behalten, um die Versuche Mercantes verstehen zu können.
Das erste Experiment betrifft das Zählen bei angepaßter Aufmerksamkeit.
In der Mitte der Tafel, etwa in der Augenhöhe des Prüflings, wird ein Blatt weißes
Papier befestigt von 21 x 14,4 cm. Fläche karriert durch blaue Linien von geringer In-
tensität : jedes Quadrat mißt 5x5 mm. Der Schüler mußte die horizontalen Linien von
oben nach unten auf der vertikalen Linie, die durch den Mittelpunkt geht, zählen. Dabei
darf er nicht näher als 50 cm an die Tafel herantreten. Die „Reaktionszeit" wird von
dem Augenblick an gemessen, wo der Schüler auf den Befehl zu lesen mit 1 anfangt
und bis zu der letzten Zahl, die er ausspricht. Die einzelnen Schüler beginnen gewöhnlich
langsam zu zählen, gegen 5 oder 6 Linien scheint es leichter zu gehen, in mehr oder
weniger kurzen Zwischenräumen werden dann kleine Ruhei)ausen bemerkt. Der Schüler
versucht die Hand auf irgendetwas zu stützen, er sucht eine Festigkeit für seinen Körper
zu finden. „Wenn wir die Schüler der ersten Klasse ausscheiden", sagt der Autor, „ist
das Zählen ein Phänomen der visuellen Akkomodation. Die Augen realisieren eine Reihe
von Bewegungen und Ruhepausen, mit welchen die Aeußerung der Zahl zusammenfällt".
Die Fehler müssen dem Mangel an Koinzidenz zwischen den Linien und der gebührenden
Ruhepause und einer irrigen Bewegung des Auges zugeschrieben werden und sie ent-
stehen durch Kurzsichtigkeit, muskuläre Müdigkeit infolge der angestrengten Fixation,
Ermüdung der Retina, oder Bildung von Nachbildern.
Von den durch Tabellen und Kurven reichlich illustrierten Resultaten dieses Ex-
perimentes sei nur hervorgehoben, daß kein Mädchen der 1. Kl. und kein Knabe der 11.
Kl. die richtige Zahl getroffen hat. Von der I. Kl. haben nur 10 7o Knaben, von der
II. Kl. 15 7o Mädchen, von der III. (I.)-Kl. 50 7o Knaben und 2(>»/o Mädchen, von dor
III. (S.)-Kl. 220/ü Knaben und 20«/o Mädchen, von der IV. Kl. 45 »/o Knaben und 35 ,,
Mädchen, von der V. Kl. 33 7o Knaben und 507« Mädchen und von der VI. KI. 22",,
und 1 1 7o Mädchen richtig gezählt. Mit Ausnahme der I. Klasse zeigen alle anderen
Klassen mehr Ueberschüsse als Fehlbeträge beim Zählen. Mit Ueberschuß bzw. Fehllx -
träge wird bezeichnet die Differenz zwischen 31, der Zahl der zu zählenden Linien, und
einer größeren bzw. kleineren Zahl, die der Schüler angibt). Die mittlere Zeit, die zum
Zählen jeder Linie gebraucht wird, zeigt ein Verhältnis zwischen der I. und VI. KL von
— 291 ~
2,3 bei den Knaben und 1,5 bei den Mädchen. Demgemäß soll die intellektuelle Ent-
wicklung der Knaben beziiglieh der Schnelligkeit fast doppelt so hoch gewertet werden
als die der Mädchen.
Mercante fügt noch einige Bemerkungen zu den Ergebnissen, von welchen fol-
gende die wichtigsten sind: 1) Die Knaben zählen mit mehr Exaktheit als die Mädchen
(größere Kraft der Aufmerksamkeit). 2) Die Akkommodation und Konvergenz der Augen
ist bei den Knaben rascher und ermüdet weniger als bei den Mädchen, weshalb jene die
Tendenz haben, höhere Quantitäten anzugeben als diese. 3) Die Knaben zählen rascher
als die Mädchen (raschere intellektuelle Integration). Knaben brauchen pro Linie 0,657
Sekunden, Mädchen pro Linie 0,709 Sekunden. 4) Die Integration des Mädchens schwankt
mehr als jene des Knaben. 5) Die Beziehung zwischen Exaktheit und Reaktionszeit er-
gibt, glaubt der Autor, für jeden Schüler eine Konstante (Posivitätskoeffizient) , den nur
die Uebung modifiziert.
Ich habe das Experiment (mit Fräul. v. G., Lehrerin) wiederholt und es zeigte
sich, daß die Vp. die Distanz (50 cm) nicht einhalten konnte, sie mußte das Zählen bei
6 unterbrechen. Dann stellte sie sich die Entfernung her, die ihr am besten paßte
weniger als 40 cm und zählte die ganze Reihe innerhalb 21 Sek. (also pro Linie 0,636
Sek.). Dabei fixierte sie unwillkürlich mit den Augen jede zweite Linie. Beim zweiten
Lesen war sie in 18 Sek. fertig (pro Linie 0,545 Sek.) und hatte jede dritte Linie fixiert.
Schon daraus kann man ersehen, daß vieles von Mercante nicht beachtet wurde, was
beachtet werden muß, um allgemeines über den Prozeß des Zählens auszusagen. Weiter
*st zu bedenken, daß das Zählen nicht immer an die Wahrnehmung von Objekten ge-
bunden ist, sondern auch ohne sie von statten gehen kann. Das Zählen von Linien ist
nur eine Art des angewandten Zählens und umfaßt auf keinen Fall das ganze Gebiet
derselben. Ferner kann das Zählen innerhalb gewisser Grenzen auch ohne Sprechen ge-
schehen; es können auch akustische Elemente gezählt werden usw.
Das zweite Experiment untersucht das Lesen von Zahlen. Auf der
Tafel sind untereinander ohne vertikale Korrespondenz der Züfer die Zahlen
1010
2101
1934 ^^^ ^^^ ^'•^*® Klasse und 1010 für die übrigen Klassen geschrieben. Der
9030 2101
12934957
1010101
Schüler liest sie laut aus einer Entfernung von 1—2 m. Die Zeit wird gemessen von der
Enthüllung der Zahlen bis zum Aussprechen der letzten. Mit diesem Experiment glaubt
der Autor den Grund der mathematischen Bildung und die natürliche oder erworbene
Intelligenz des Schülers festsetzen zu können. Er stellt sich den Vorgang so vor: die
optischen Bilder der Zahlen rufen die auditiven Bilder hervorj; dazu muß der Schüler
1) die verschiedenen Ziffern beachten und 2) die entsprechenden Namen hinzufügen. Das
verlangt eine Teilung der Zahl von rechts nach links in Gruppen von je drei Ziffern,
mit welchen die Namen Tausend, Million usw. assoziiert sind, und dann kommt erst das
laute Aussprechen der Zahl. Die mit Null ausgefüllten Stellen bieten dabei besondere
Schwierigkeit ; bei der Zahl 12 934 957 z, B. spricht der Schüler innerlich Tausend,
nachdem er die drei rechtsstehenden Ziffern aufgefaßt hat, dnnn bei den nächsten drei
Zifi'ern Million und erst dann laut 12 Millionen usw. Bei der Zahl 1 010 101 dagegen
ist die Teilung schwerer und auch die Benennung, weil für ein und dieselbe Ziffer 1
verschiedene Namen angewendet werden müssen. Die Positivität sowie die Reaktionszeit
- 292 —
sind ersichtlich aus Tabelle II, die auch einen Vergleich zwischen den Knaben und den
Mädchen gestattet.
T
abell
eil.
Lesen'
von Qualitäten.
a
Positivitüt (Knaben)
Positivität (Mädchen)
Mittlere
Zeit
Maxi-
malzeit
Mini-
malzeit
i4
1 2
. .|
1
2 3
'1
K.
M.
K.
M.
K.
M.
I
55,5
44,4
88,8
66,6
33,3
41,6
66,6
33,3
35,8
39,5
156
73
12
15
II
88,8
72,2
83,3
38,8
88,3
58,3
75
41,6
35
44,8
110
HO
12
17
111(1.)
100
75
87,5
50
77,5
85,7
92,8
64,2
28,2
27,6
49
42
15
13
III (S.)
100
88,8
66,6
33,3
88
92
84
52
27,4
28,7
50
44
17
8,5
IV
100
100
1(K)
84,4
90,4
90,4
90,4
57,1
28,8
26,3
34
88
16
13
V
86
100
100
100
96
100
93,1
62
21,8
23,7
40
45
10
9
VI
100
100
100
66,6
100
100
82,4
76,5
15,4
23,7
24
75
11
9
630,3
580,4
626,2
439,7
569,5
568
584,3
386,7
1
Dazu macht der Autor die folgenden Bemerkungen: 1) Bei den Fertigkeiten rea-
giert das Mädchen mit mehr Exaktheit als der Knabe (V) 2) Die Zahlen, welche durch
Nullen besetzte Stellen abwechselnd mit Ziffern von bezeichnendem Wert bieten, sind
schwieriger zu lesen; die Positivitüt nimmt ab, je größer die Anzahl der Ziffern ist.
3) Beim Lesen von Zahlen, welche Unterscheidungen von höherer Ordnung erfordern
(intensive Aufmerksamkeit und Urteilskraft), integrieren die Knaben mit mehr Exaktheit.
4) Die „Fertigkeit" begeht weniger Fehler als das „Bewußtsein", 5) Die Knaben unter-
scheiden schneller als die Mädchen. 0) Die Positivitüt vermehrt sich und die Reaktions-
zeit nimmt ab von der I. bis zur VI. Klasse. 7) Die Integration der Mädchen, ausire-
nommen die der I. Klasse, schwankt viel mehr als die der Knaben; sie haben höhere
Maximal- und niedere Minimalwerte.
Das dritte Experiment verlangt das Aufschreiben einer gehörten
Zahl. Es soll nach Mercantc auf auditivem Wege ein optisches Bild hervorgerufen
und von da aus die Bewegung der Finger ausgelöst und koordiniert werden. Folglich
sei der vorige Prozeß hier nur umgekehrt. Es bieten sich dieselben Schwierigkeiten,
jedoch vermehrt. Die nicht vorliandene Koexistenz der drei psychischen Einheiten oder
die Desintegration jedes beliebigen derselben während der Operation genügt, um den
Vorgang zu verzögern oder zu verhindern. Viele Schüler werden in der primären Iden
tifikation aufgehalten und realisieren die «weite nicht; sie wiederholen laut die Zahlen,
schreiben sie jedoch nicht, oder sie schreiben sie falsch, oder versuchen es mehrmals,
bis sie sie treffen; oft wird die falsch geschriebene Zahl als solche erkannt, da sie
Worte hervorruft, die mit dem (Jchörtcn nicht übereinstimmen. Die Positivität des Ex-
perimentes würde demnach die Fähigkeit der Schüler für die in der Mathematik st»
wichtige Integration offenbaren. Die automatische Assoziation der drei Zentren ist hier
die Hauptsache, aber primäre Bedeutung hat der Gehörs- und der Gesichtssinn. Die
Intelligenz assimiliert und äußert sich in den Prozessen beider Sinne, vornehmlich jedoch
— 293 -
in denen des Gesichtssinnes. Eine Aufgabe wird schlecht gelöst, wird schwierig lang
und ermüdend, wenn der Schüler unfähig ist, es auf eine einfache Formel zu reduzieren.
Der Schüler muß die Fertigkeit besitzen, der gehörten Rede das Bild und die Bewegung
der Hand zu assozieren.
Diese theoretischen Voraussetzungen bei diesem und dem vorigen Experiment
scheinen mir nicht durch Versuchsresultate gestützt zu sein. Die Vp. haben keine
Selbstbeobachtung getrieben, und ohne spezielle Untersuchungen anzustellen, spricht der
Autor von auditiven, visuellen und motorischen Elementen, die die Prozesse auf beson-
dere Art geleitet haben sollen. Das alles aber ist keineswegs selbstverständlich. Sogar
bei Erwachsenen, die Selbstbeobachtung treiben, ist es schwer, zu sagen, welche Rolle
die verschiedenen Sinnesgebiete gespielt haben und spielen. Ob eine gehörte Zahl immer
ein optisches Bild hervorruft und ob das Aufschreiben des Gehörten das Vorhandensein
eines solchen (optischen Bildes) voraussetzt, oder ob andere Möglichkeiten bestehen,
das zu entscheiden ist gar nicht leicht. Alles das, glaube ich, sollte erst besonderen
Untersuchungen unterworfen werden, und eben diese zeigen, daß eine Verschiedenheit
vorliegt, die kaum zu solchen Schlüssen führen kann. Es gibt z. B. Vp., die fast nie
eine optische Vorstellung haben, und andere, die nicht glauben, daß die akustischen Vor-
stellungen sich an die optischen 'Wahrnehmungen anschließen.
Die Anordnung dieses dritten Experimentes ist ähnlich der des vorigen. "Wenn der
Schüler bereit zum Schreiben ist, diktiert man ihm laut und deutlich die Zal 1001 für
die erste und 1 001 001 für die übrigen Klassen. Die Reaktionszeit wurde gemessen
vom Anfang des Diktierens bis Vollendung des Schreibens. Es wurde auch die Zahl
1021 auf dieselbe Weise untersucht, aber nur die Resultate der I. und II. Klasse ver-
wertet, da die oberen Klassen die Aufgabe sehr schlecht gelöst haben. Sie hatten ein
paarmal das falsch Geschriebene gestrichen und schließlich sich als unfähig bekannt.
Diese Tatsache beweist nach dem Autor : 1) daß das Schreiben von Zahlen ein unbewußter
Reflexakt ist, 2) daß es notwendig ist, die Fähigkeiten periodisch durch adäquate Übungen
zu erhalten, 3) daß jede Leistung vom arithmetischen Charakter, welche man gewohn-
heitsmäßig fehlerlos produziert, fehlerhaft zu werden tendiert, wenn es sich darum han-
delt, dieselbe bewußt zu produzieren.
Das vierte Exp eriment ist ein Niederschreiben der gehörten Zahl
1424 für die I. Klasse und der Zahl 937427 für die übrigen Klassen. Diese Aufgabe
ist derart vereinfacht, daß die Fehler allein dem Mangel an primärer Identifikation und
an graphischer Koordination zugeschrieben werden müssen. Es ist fast dieselbe An-
ordnung wie im dritten Experiment, nur daß der Schüler jetzt auf der Tafel schreibt
und die Zeit vom Aufhören des Diktierens bis zum Schluß des Schreibens gemessen
wird. Es war noch empfohlen worden, gleich mit dem Aufhören des Diktierens das
Schreiben zu beginnen, ohne daß für eine Ziffer mehr Zeit gegeben war als für eine
andere, oder daß dieselbe ausdrücklich betont wurde. „Jede auditive Empfindung", sagt
der Autor, „erweckt das klare optische Bild, die Assoziation erfordert eine so geringe
Anstrengung, daß man die Verzögerung der Langsamkeit der Handbewegung zuschreiben
muß, den großen Zügen der akustischen Aphasie von intermittierender Art, der Zer-
streuung oder dem Fehlen von Aufmerksamkeit".
Die wichtigsten Bemerkungen, die der Autor zu den letzten zwei Experimenten
beifügt, lauten vereinigt folgendermaßen: 1) Die Knaben integrieren bei der auditivo-
viso-motorischen Reaktion mit mehr Exaktheit und Schnelligkeit als die Mädchen; die
Knaben sind von auditivem, die Mädchen von visuellem Typus. 2) Wenn das Hören
verschiedene Bilder erweckt, bleiben die äußersten, das erste und das letzte mit mehr
Intensität, und das erste (links) mit noch mehr als das letzte. 3) Die Wiedergabe der
— 294 —
ersten Periode der linken Seite ist exakter als die der übrigen. 4) Die Schnelligkeit
und Exaktheit sind der Fertigkeit direkt proportional. Das Schreiben von Zahlen ist
eine Integration, welche man der Fertigkeit der visuellen Reproduktion verdankt. 5) Das
Hören einer Zahl mit Stellen, welche von Nullen eingenommen werden, ruft zwei oder
mehr Bilder hervor, die um so verschiedener und schwieriger zu verschmelzen sind, je
entfernter die signifikativen Ziffern sind. 1()01 z. B. wird oft geschrieben 10001. ß) Beim
Schreiben einer größeren Zahl wachsen die Fehler von links nach rechts zu und in der
Regel bei den Mädchen mehr als bei den Knaben. 7) Die Bilder der ersten Periode
links streben darnach, sich denen der rechten Periode in derselben Ordnung zu sul)-
stituicren mit so großer Intensität, daß sie manchmal allein das Gebiet der Aufmerk-
samkeit einnehmen und die Wiedergabe der rechten teilweise verhindern. 8) Die Ein-
führung von fremden Ziffern ist nur selten und soll als ein Phänomen graphischer
Paramnesie betrachtet werden. 9) Jede Klasse integriert mit mehr Schnelligkeit als die
frühere, was die Kommunität der Wege dieses Prozesses angibt.
Beim Wiederholen der zwei letzten Versuche zeigten sich fast dieselben Resultate
und Schwierigkeiten in bezug auf die mittlere Zeit, sowie auch in bezug auf die Fehler.
Nur zeigte sich sehr deutlich, daß hier die sprachmotorische Reproduktion eine größere
Rolle gespielt hat als die visuelle, obwohl die Vp. sehr lebhafte optische Vorstellungen
bei den anderen Versuchen gehabt hatte.
Das fünfte Experiment ist ein Massenversuch zur Untersuchung der
visuellen Reproduktion der Zahlen. Auf der hinteren Seite der Tafel steht
die Zahl 0,685 407 geschrieben von etwa 48 cm Länge und 12 cm Höhe, so daß sie auf
eine Entfernung von 10 m gut lesbar ist. Die Schüler sind mit Papier und Bleistift
ausgestattet und nicht mehr als 6 m von der Tafel entfernt. Sie haben die Anweisung
bekommen, gleich nach dem Verschwinden der Zahl sie niederzuschreiben. Man dreht
dreht die Tafel um, läßt die Zahl 5 Sek. sichtbar, und dreht sie wieder um. Wenn die
Schüler die Ziffern von 0—9 schon kennen, geschieht das Niederschreiben ohne eine
bewußte Integration. Bei der Hervorrufung des Bildes wird die Zahl in drei Partien
geteilt: a) Null, Komma, b) 685 und c) 407, wobei die Ordnung der Perioden und die
innere Hervorrufung der Worte, welche sie ausdrücken, assoziiert werden.
Tabelle III. Wie oft jede Ziffer geschrieben wurde.
Jede Ziffer'
mußte ge-
Man schrieb
Andere
Ziffern
Klas-
sen
schrieben
werden
0>)
6
8
5
4
7
K.
M.|
K.
M.
K.
M.
K.
M.
K.
—
M.
K.
M.
K.
M.
K
M.
I
19
12 1
_^
—
21
12
18
12
16
12
14
10
—
—
5
2
II
16
12
27
23
20
11
19
12
13
13
12
9
9
11
4
2
m(i.)
8
14
17
26
8
14
5
15
12
10
2
13
11
15
—
_»
III (S.)
9
26
18
48
9
26
9
23
7
26
9
29
8
24
—
2
IV
11
19
23
86
13
20
10
21
10
18
9
20
9
18
-
2
V
7
27
14
51
7
27
7
29
7
28
7
24
7
26
—
— i
VI
9
19
18
39
9
19
9
18
9
19
9
19
9
19
-
4
Total
1 100 100
97
95
111
100
89
100
|94
97
79
96
186
»6|
1
^
1) Die 0 mußte in doppelter Ansahl reproduziert werden.
-- 295 —
Die Tabelle III gibt an, wie oft jede Ziffer geschrieben wurde. Es seien noch
folgende Bemerkungen erwähnt : 1) Die .visuelle Aufmersamkeit der Mädchen ist viel
intensiver als die der Knaben. 2) Die optisch-graphische Assoziation ist die schnellste
und exakteste von allen, die unser Gehirn realisieren kann. 3) Die visuelle Aufmerk-
samkeit folgt einer Progression parallel dem Alter von der I. bis VI. Klasse. 4) Die
mittleren Ziffern werden mit weniger Exaktheit reproduziert als die übrigen. 5) Die
Fehler sind von vier Arten: Permutation, Substitution, Elimination und Aggregation.
6) Das Vergessen des Dezimalpunktes seitens der Knaben in Klassen wie der V. (42 "/o),
wo man mit Dezimalen arbeitet, erklärt, warum die Mädchen leicht die Positivität der
Knaben erreichen, ungeachtet eines langsameren Urteils. 7) Die Einführung von fremden
Ziffern ist hier häufiger als im auditiven Fall, gibt aber einen kleinen Prozentsatz.
8) Der grüßte Teil von Fehlern, welche die Knaben begehen, sind Permutationen von
Ziffern, bei den Mädchen Substitutionen. Die Knaben schreiben 704 für 407, die Mädchen
G85 807 oder G85 587 für 685 407. 9) Die Ziffern von links bewahren mehr die Ordnung
als die von rechts. 10) Die Vertauschung und Substitution erfolgen im Gegensatz zu
dem früheren Fall häufiger von rechts nach links als von links nach rechts, innerhalb
oder außerhalb derselben Periode.
Das sechste und das siebente Experiment untersuchen das Kopfrechnen
wobei das erstere eine einfache Summierung und das letztere eine Kombination von Ope-
rationen zu erproben strebt. Der Schüler wird einmal gefragt, wieviel ist 23 + 16 und
das andere Mal: ( j ([(9 x 8 + 3) : 3] x 4) : 10 — 1 — 1 — 1 — 4 j -|- 1) : 7 oder für die I. Klasse :
j [(8 X 9 — 2) : 19 X 7] — 1 j : 6. Die größere Aufgabe erfordert 15—17 Sek., die andere
9 Sek. passive Aufmerksamkeit. Die Reaktionszeit wird gemessen vom Anfang des Dik-
tierens bis zum Schluß des Schreibens. Der Autor macht die Voraussetzung, daß das
Kind die gehörte Aufgabe geschrieben auf einer Fläche sieht und die Operation so aus-
führt, als ob es an der Tafel rechnete. An dem Prozeß bei den kombinierten Opera-
tionen beachtet M er c ante: 1) die Schnelligkeit, mit welcher das Wort das Bild der
Zahl erweckt, 2) die Schnelligkeit, mit welcher sich zwei Bilder verschmelzen, um das
dritte ohne intermediäre Dekomposition zu erhalten, 3) das Bleiben bei einem einzigen
Bild, dem letzten, bevor der Lehrer die Zahl ausruft, welche die folgende geben muß.
Der optische Typus scheint hier die größte Zahl von richtigen Fällen erreicht zu haben.
Ein Schüler der II. Klasse konnte nach 28 Stunden und einem Tagunterricht die ganze
Aufgabe mit merkwürdiger Genauigkeit wiederholen. Die anderen Typen dagegen, be-
sonders der sprachmotorische, kommen nur selten nach, da die Retention bei ihnen nicht
die nötige Dauer erreicht. Die natürliche Entwicklung, welche auch die Schule unter-
stützen soll, ist nach Mercante die von viso-retentiven zu viso-eliminatorischem Typus.
Den ersten drei Klassen wurde noch die Aufgabe gegeben, die Tabellen VI—XXXXII
zu summieren, welche die Schüler spontan in die Multiplikationstabelle verwandelten.
Bei 23-1-16 sagte meine Vp., sie hätte nur 23 optisch lokalisiert und gleich die
Summe 39 erhalten, ohne Zwischenstufen. Das ist nach Mercante der schwierigste
Weg und erfordert eine feste optische Fixation der betreffenden Ziffer, die Vp. hat aber
die zweite Zahl gar nicht gesehen; es gibt wahrscheinlich noch andere Arten von Fixa-
tionen, die auch ohne optische Bilder zustande kommen können. Die Kombination von
Operationen konnte die Vp. nur durch nochmaliges Anfangen berechnen, wobei das Dik-
tieren über 20 Sek. dauerte. Sie mußte unbedingt hie und da innerlich nachsprechen.
— 296 —
Tabelle IV. Mentale Addition von 18 + 16 anf 100 Scbfiler.
Richtige
Resultate
Mittlere Zeit
Maximalzeit
Minimalzeit
Knaben
Mädchen
E.
M.
E.
^ M.
E.
M.
I
44 o/o
45 »/o
12
24
35
55
3
10
II
88 „
75 „
15
24
55
72
5
2
III (I.)
37 „
78 „
8
8
29
23
3
:5
III (S.)
89 „
84 „
8
6,6
14
15
3
2
IV
100 „
80 „
11
8
55
45
3
2
V
100 „
89 „
6,4
13
16
50
3
3
VI
100 „
88,
5,2
10
14
45
2,8
3
Die Tabelle illustriert die Ergebnisse des sechsten Experiments. Von den Bemer-
kungen Mercantcs zum sechsten und siebenten Experiment seien hier folgende er-
wähnt: 1) Die Exaktheit wächst von der I. bis VI. Klasse und die Integrationszeit wird
kurzer. 2) In der I. Klasse diskriminieren die Mädchen mit mehr Exaktheit als die
Knaben, 3) Trotz des Fehlens einer Beziehung zwischen der Exaktheit und der Zeit
pHegen die kleinsten Reaktionen fehlerlos, die größten fehlerhaft zu sein. (Das gilt nur
für das sechste Experiment, beim siebenten gibt es keine Beziehung zwischen Fehler-
losigkeit und den Zeiten.) 4) Die Fehlerlosigkeit ist eine Folge der Übung.
Das achte, neunte und zehnte Experiment umfaßt die Addition, Sub-
traktion und Multiplikation. Es werden die folgenden Aufgaben gelöst:
für die I. Klasse: für die oberen Klassen:
60322
00121
70232 +
9104
80210
+
322045
789675
983012
543610
8926087
3731084
4560071
2462042
5987
708
X
5987
8078
Der Autor geht ausführlich auf die spezifischen Schwierigkeiten und Besonderheiten
jeder dieser ()i)orationen ein, ohne dabei viel neues zu sagen, denn, daß z. B. die Schnel-
ligkeit bei der Addition davon abhängig ist, wie man die einzelnen Summanden einer
Kolonne addiert, wie die Reste zu der nächststehenden Summe hinzugesellt werden
(geschrieben oder gleich zugezählt usw.), daß die Subtraktion besondere Schwierigkeiten
aufweist, wenn die Minuendziffer grüßer ist als die des Subtralienden und daß die Mul-
tiplikation sich aus einfacheren Multiplikationen und Additionen lusammensetst luf^
sind bekannte Dinge.
Die erläuternden Tabellen vergleichen die Fehlerlosigkeit und die mittlere Reak-
tionszeit nach Klassen und Geschlecht, bringen aber kaum etwas Bemerkenswertes. Ans!
den Bemerkungen Mercantes sei folgendes hervorgehoben: 1) Die kleinsten Reaktioiis>
— 297 —
Zeiten geben fehlerlose Resultate, die größten fehlerhafte. 2) Die Exaktheit wächst aber
nicht einfach mit der Schnelligkeit. 3) Die Maxima-Minimadistanzen für die Reaktions-
zeiten sind größer bei den Mädchen als bei den Knaben. 4) Die Fehler bei diesem und
anderen Experimenten beweisen die Notwendigkeit, direkt oder indirekt, jedoch alle
Jahre und mit möglichster Häufigkeit den Schüler in allen Kenntnissen der früheren
Klassen zu üben, um in der VI. Klasse ein Maximum von Fehlerlosigkeit zu erreichen.
5) Abgesehen von einigen Ausnahmen erscheint die Addition als eine leichtere Operation
als die Subtraktion ; die Subtraktion ist leichter als die Multiplikation.
Damit schließt Mercante seine arithmetischen Untersuchungen und beginnt eine
Reihe von Versuchen über die Kenntnis des Raumes. Das erste Experiment dieser Art,
also das elfte Experiment, soll die primäre Identifikation der gerad-
linigen Entfernung erforschen. Er läßt die Schüler sechs Linien vergleichen,
die so eingeordnet auf der Tafel stehen:
"--^^ 3
Der Schüler muß einmal a mit h vergleichen und sagen, ob sie gleich oder verschieden,
dann a mit d und endlich c mit d. Die kleineren Linien a und d messen je 15 cm
und die größeren b und c je 17 cm. Folgende Bemerkungen genügen, die Resultate
dieses Experimentes zu charakterisieren: 1) Die Fehlerlosigkeit bietet keine Progression
parallel den Klassen. Für die erste Komparation z. B. bieten die Knaben der I. Klasse
72 %, die Mädchen 84 7o, und die V. Klasse nur 57 «/o bezw. 93 ^/o, für die dritte Kom-
paration aber bietet die erste Klasse 33 7o bezw. 61 ^o und die V. Klasse 71 7o bezw.
89 ^Iq. 2) Beim Vergleich gleichgroßer Strecken werden mehr Fehler gemacht als bei
den verschiedengroßen. 3) Die vertikale Komparation ist exakter als die horizontale
oder oblique. 4) Die Gleichheit wird besser geschätzt von den Knaben als von den
Mädchen, nicht so die Differenz.
In dem zwölften Experiment untersucht Mercante etwas ähnliches auf
akustischem Gebiet (auditive Identifikation). Er läßt eine elektrische Hammer-
glocke 3 Sek. läuten und nach einer Pause von 4 Sek. einmal 3 Sek. Die beiden Ton-
reihen, meint Mercante, erwecken und assoziieren sich zu zwei linearen Bildern,
welche der Schüler, ähnlich wie im vorigen Experiment die Raumstrecken, vergleicht.
Wegen ungünstiger Verhältnisse (man konnte die Zeit nicht genau messen) wurde das
Experiment bei den unteren Stufen nicht verwertet, nur bei der V. und VI. Klasse, bei
welchen die Fehlerlosigkeit 28 "/o Knaben und 27°io Mädchen für die V. Klasse und
55 7o bezw. 41 7o für die VI. Klasse beträgt.
Das zwölfte Experiment untersucht das Aufzeichnen einer gesehenen
Linie. Der Schüler beobachtet 4 Sek. lang eine 17 cm lange vertikale Linie *von einer
3 meterigen Entfernung aus und soll sie gleich nach der Verdeckung auf die vor ihm
befindliche Tafel zeichnen. Es findet dabei eine Vergleichung statt, meint der Autor,
Meumann, Exper. Pädagogik. IX. Band. 20
— 298 —
zwischen einer viftaellen Linie und einem Erinnerungsbild, wobei auch d&s Muskelgefühl
eine Rolle spielt. Nur S Schüler haben die Linie in horizontaler Richtung reproduziert.
Die Ergebnisse geben dem Autor Anlaß zu den folgenden Bemerkungen: 1) Die Schüler
unter 8 Jahren halten die Gegenstände für kleiner als sie sind. (Infantile Mikropsie.)
2) Die II. Klasse bietet dagegen einen Überschuß. (Infantile Makropsie.) 3) Im all-
gemeinen zeichnet das Mädchen die Bilder richtiger auf als der Knabe. 4) Die Knabeo,
ausgenommen die der I. Klasse, sind mehr geneigt, die T^iuie kleiner zu zeichnen als
größer. 5) Der Unterschied zwischen einer größten und kleinsten Wiedergabe ist in
jeder Klasse, außer in der I. und IL, größer beim Mädchen als beim Knaben, was eioe
geringere intellektuelle Stabilität beim Mädchen als beim Knaben erweist.
Vierzehntes Experiment. Die relative Schätzung der Länge prüft
der Autor folgendermaßen: Die Schüler sind mit Papier und Bleistift ausgerüstet, der
Lehrer zeichnet eine Horizontale 3 m lang auf die Tafel und zeigt 2 m weit davon in
horizontaler Richtung ein Lineal von 50 bezw. 25 cm. Die Schüler müssen nach einer
visuellen Vergleichung von 15 Sek. schreiben, wie vielmal das Lineal in der Linie ent-
halten ist. „Den Schlüssel des Prozesses", sagt Mercante, „geben einige, die Intelli-
genteren, welche sich nicht auf die Notierung der Zahl, wie wir es forderten, beschränken,
sondern aus eigenem Antrieb, indem sie in ihren Gedankengang folgendermaßen zusam-
menfaßten : ,Sie hat 3 m und wird 7 mal das große Lineal enthalten.' ,Die Tafel mißt
4 m und der Stab einen halben ; so ist es 8 mal.' ,Eine Tafel hat 2 m Länge und ein
Lineal 50 cm ; so wird dieses Lineal in der Tafel 10 mal enthalten sein* usw. Ob solche
Äußerungen der Schüler wirklich ihre Intelligenz verraten, oder nur Folge gewisser
Mißverständnisse sind, braucht man nicht zu untersuchen. Jedenfalls den Schlüssel des
Prozesses geben sie nicht. (Ein intelligenter Schüler hätte schon wissen sollen, daß 1 m
2 X 50 cm und 4 m 8 x 60 cm messen.) Denn es ist schlechterdings nicht zu erraten,
wie der Schüler die Aufgabe gelöst hat, wenn er es nicht selbst angibt. Folgende Be-
merkungen illustrieren die Resultate des Experimentes: 1) Die Schüler sind geneigt, bei
solcher Kalkulation überhaupt zu überschätzen. 2) Die oberen Klassen schätzen besser
als die I. und IL 3) Je größer die Länge und je kleiner das Maß ist, von einer be-
stimmten Grenze ab, desto mehr wächst der Schätzungsfehler. 4) Zwischen der größten
und kleinsten Schätzung der Knaben liegt eine kleinere Distanz als zwischen der größten
und kleinsten Schätzung der Mädchen.
Bei der Untersuchung der relativen Schätzung der Fl&chenexten-
sion (fünfzehntes Experiment) läßt Mercante eine Fläche (die Tafel), die
1,40 m breit und 3 m lang ist, mit einem auf der Tafel gezeichneten Quadrat von 0,20' m
vergleichen. Nach einem höchstens 20 Sek. dauernden Beobachten sollen die Schüler
niederschreiben, wie viclmal die Tafel die Figur enthält. Verschiedene Wege sind hier
möglich: 1) Der exakteste, von den Schülern der III, IV., V. und VI. Klasse oft ge-
brauchte Weg ist der einer Schätzung der Dimensionen der Tafel, um daraus ihre Fläche
zu berechnen; darauf wird dasselbe mit der VergleichsHgur gemacht und durch eine
Division der beiden gewonnen. 2) Der Schiüer kann auch durch Abmessen der Tafel-
selten mit Hilfe der Maßquadratseite und einfache Multiplikation dasselbe Resultat be-
kommen. 8) Der nnexakteste Weg, den die am wenigsten intelligenten Schüler gelegent-
lich einschlagen, ist der des Ratens ohne besondere Hilfsprozesse. Es gibt eine große
Zahl von Schülern, welche kaum 5 Sek. fixieren und dann die Antwort lunülig nieder-
8rhrcil)cn.
Um die relative Schätzung des Volumens zu untersuchen (sech-
Kobntcs Experiment), zeigt Mercante den Schülern ein Kästchen von rechtwiu-
— 299 -^
keligen Seiten, dessen Volumen 0,21 x 0,18 x 0,36 m beträgt, und ein Würfelchen von
0,03^ m, mit dem gemessen werden soll. Nach 20 Sek. sollten die Schüler schreiben,
wie vielmal das Würfelchen in dem Kästchen enthalten ist. Wie man sieht, potenzieren
sich hier die Schwierigkeiten. Während die lineare Schätzung eine anständige Quantität
von fehlerlosen Resultaten und Aproximationen ergab, und die Flächenschätzung nur
zwei fehlerfreie Fälle von 219 Schülern und eine geringe Zahl aprox^mative, ergab die
volumäre Schätzung keinen fehlerlosen Fall und nur eine geringe Zahl von Über-
schätzungen. Mercante fügt die folgenden Bemerkungen hinzu: 1) Die Fehler, welche
die Schüler begehen, gehen hervor aus Mangel an Übung. Die Knaben schätzen genauer
als die Mädchen. 2) Von der I. bis zur VI. Klasse wächst die Richtigkeit des Urteils,
trotz gewisser Schwankungen. 3) Die Fähigkeit, ein Volumen auf den einfachen Blick
hin zu schätzen, ist aproximativ dieselbe wie die der Schätzung einer Fläche. Flächen
werden schneller geschätzt als Linien. 4) Die Knaben kommen zu höheren Ziffern als
die Mädchen, was als Zeichen höherer Intelligenz angesehen werden kann. 5) Die
Distanz zwischen Maximum und Minimum einer und derselben Klasse ist größer als bei
den Knaben. Dieselben Bemerkungen gelten auch für die Flächenschätzung, nur daß
das Verhältnis zwischen Maximum und Minimum in jeder Klasse aproximativ das näm-
liche für die beiden Geschlechter ist.
Ähnlich wie die Flächenschätzung untersucht Mercante im siebzehnten Ex-
periment die Komparation mit bestimmtem Ziel. Der Schüler wird ge-
fragt: „Würde ein Hof von 8,5 m Länge und 5,5 m Breite, um gepflastert zu werden,
mehr oder weniger Steine von 1 qdcm Fläche brauchen als 200?" Wenn die Antwort
„mehr" lautete, wurde die Frage ergänzt: „oder als 900 Steine?" Die Schüler der
I. u. II. Klasse sollten die Frage beantworten : „Wenn 15 Schafe 38 Pesos kosten, würden
13 Schafe mehr oder weniger kosten ?" Beim ersten Fall sind die bei der Flächen-
schätzung angewandten drei Verfahren möglich, doch besteht eine Erleichterung in der
Beziehung, daß das Maß bestimmt ist und die Berechnung weniger Operationen erfordert.
Der zweite Fall bei der I. und II. Klasse kommt darauf hinaus, ob der Schüler den
Sinn der Aufgabe auffaßt oder nicht.
Die Ergebnisse faßt Mercante in folgende Bemerkungen zusammen: 1) Das
Kalkulieren nur mit internen Bildern ist mangelhafter als das mit gesehenen Bildern.
Der Hof bedurfte 4675 Steine. Auf die Frage, würde er mehr oder weniger bedürfen
als 900? antworteten von den 219 Schülern nur 22 mit mehr, der größte Teil der V.
und VI. Klasse; sie brauchten größere Zeiten als diejenigen, welche mit „weniger" ant-
worteten. 2) Der Vergleich mit dem fünfzehnten Experiment ergibt, daß die Fehler um
so größer sind, je größer die Differenz zwischen der Maßeinheit und der Maßfläche ist.
3) Die Knaben schätzen schneller und besser als die Mädchen. 4) Die mittelbaren
Reaktionen sind den intelligenten Schülern eigen. 5) Der Fortschritt von der I. zur
II. Klasse ist ein sehr beträchtlicher.
Mit dem achtzehnten Experiment sucht Mercante den Prozeß der
komplizierten Integration zu untersuchen, indem er den einzelnen Schülern der
I. Klasse die Aufgabe gibt: „Peter hatte 15 Apfelsinen in einem Korb und 22 in einem
anderen, er verschenkte 17, wieviel bleiben ihm? Welche Operation muß man
machen?" Den übrigen Klassen gibt er die Aufgabe: „Wenn 12 Schafe 72 Pesos
kosten, wieviel werden 8 Schafe kosten?" Die Schüler mußten die Aufgabe überlegen,
bevor sie antworteten. Aus den Antworten läßt sich ersehen, welchen Weg der Schüler
gegangen ist. Die I. Klasse gibt fünf verschiedene Antworten: 1) Addition und Sub-
traktion, 2) Subtraktion und Addition, 3) Addition, 4) Subtraktion und 5) Multiplikation.
20*
— aoo —
Ib den fibrigen Klassen kommen viele verschiedene Fehlerarten vor, die Mercante
auafülirlich bespricht. Der Autor fügt noch manche Bemerkungen hinzu, von welchen
folgende die wichtigsten sind: 1) Die fehlerlosen Leistungen der V. und VI. Klasse ver-
halten sich zu denen der IV. Klasse wie 87 : 33 ; dabei brauchen sie wahrscheinlich viel
weniger Zeit. 2) Das Qeläufigwerden der Additions- und Subtraktionsaufgaben genügt
nicht, um die Fertigkeit in der Lösung von Multiplikations- und Divisionsaufgaben und
ihrer Kombinationen auszubilden, offenbar weil die Wege der Lösung dort und hier ver-
schieden sind. 3) Die Leistungen zeigen eine rasch ansteigende Progression von der I.
bis zur V. Klasse, was wohl mit der raschen Entwicklung der Projektions- und Asso-
ziationsfasem zusammenhängt, hervorgerufen teils durch die Arbeit der Schule, teils
durch das Alter. Von der V. bis VI. Klasse ist die Progression bei den Knaben sehr
klein. Die Fertigkeit, solche verwickelte Aufgaben zu lösen, dürfte also in der V. Klasse
einem Maximum ihrer Entwicklung nahe sein. 4) Vom neunten Jahre ab übertreften
die Knaben die Mädchen. 5) Je mehr der Schüler die zentrale Integration vollendet,
verbannt er die peripherische von automatischem Charakter (?) ; er strebt danach, sie
nicht zu realisieren, indem er statt dessen die Formel bevorzugt. 6) Bei den niederen
Klassen merkt man eine mangelhafte und wortarme Begründung und das Bestreben, die
Operation mit der Operation selbst zu rechtfertigen; bei den höheren Klassen dagegen
bemerkt man Überschüsse an der Erklärung, als ob die Schüler befürchteten, dunkle
i'unkte zu lassen. 7) Die Mädchen, deren komplette Leistungen schon geringer sind als
die der Knaben, weisen auch einen größeren Prozentsatz von inkorrekten Leistungen
innerhalb der kompletten auf. So finden sich bei den Knaben der V. Klasse unter
87 Fällen kompletter Leistungen 25 inkorrekte; bei den Mädchen unter 48 Fällen kom-
pletter Leistungen 24 inkomplette. 8) Ein großer Teil der Resultate ist auf zufällige
Einflüsse (Ermüdung usw.) zurückzuführen, denn anders wäre die Tatsache nicht zu
erklären, daß verschiedene Knaben zwei Monate später (Vakanzmonatc) dieselben Aufgaben
mit Leichtigkeit lösten. 9) Ein Teil der Schüler beherrscht die Aufgabe und arbeitet
ohne Unterbrechung und ohne zurückzukehren, bis sie fertig sind, ein anderer Teil
dagegen erreicht eine gewisse Stelle, kehrt wieder zurück, schlägt einen anderen Weg
ein usw.
Sehr interessant und ausführlich ist das neunzehnte Experiment, welches
die „mnesische Potenz" („rekordati ve Fähigkeit" der Schüler zu unter-
suchen strebt. Es ist ein Massenversuch; der Klasse wird die folgende Aufgabe diktiert:
„Jemand hatte in einem Stalle 122 Schafe, in einem anderen 203, in einem dritten 17;
er verkaufte 220, jedes um 2 Pesos, 68 gingen zugrunde, den Rest verkaufte er zu je
1,60 Pesos; welchen Wert löste er aus seinen Schafen?" In der II. Klasse war die
Aufgabe vereinfacht: „Jemand hatte in einem Stalle 122 Schafe, in einem anderen 203,
in einem andern 17; 60 gingen zugrunde und den Rest verkaufte er zu je 2 Pesos; was
löste er dafür?" Nach 30 Sek. wird dieselbe Aufgabe wiederholt, wobei darauf geachtet
wurde, daß die Schüler keine Notizen machten. Dann mußten die Schüler die Aufgabe
auf dem Papier genau reproduzieren.
Mit diesem Experiment will der Autor ergründen: „1) Die Reproduktion der ge-
hörten Zahlen der Operationen, welche zu vollziehen wären." „2) Die koordinierte und
logische Reproduktion der Teile, welche von einer allgemeinen Lösung der Aufgabe
abhftngt" (Das nennt er Erkenntnis.) Zwei Wege sind nach ihm möglich bei der Re-
produktion: 1) entweder wird die Aufgabe in derselben sukzessiven Ordnung hervor-
gerufen, wie sie gegeben war, oder 2) das Problem wird in Teile zeriegt nach dem
logischen Sinn. Die intelligenteren Schüler bieten mehr Fehler bei den unter I) ge-
~ 301 —
nannten Leistungen, weil sie mehr Aufmerksamkeit auf den logischen Plan verwenden
als auf die Ziffern.
Bei der II. Klasse merkt man, daß der größte Teil der Schüler die Frage nicht
reproduziert und daß das Vergessen der Propositionen von den letzten zu den ersten
fortschreitet, derart, daß die erste von allen geschrieben worden ist. Die Ausdrucks-
weise ist korrekt, die Worte fast immer wie die gehörten; die Zahlen 17,50 und 2 sind
in Ausnahmefällen durch andere substituiert, nicht so 122 und 203, jedoch niemals mit
Zahlen von mehr als drei Ziffern, selten schon durch solche aus zwei. Die III. Unter-
klasse bietet keine so regelmäßige Reproduktion wie die IL dar, sie ist jedoch kompletter.
Wenige vergessen die Frage, viele die dritte Proposition, die auch oft verwechselt wird.
Die am häufigsten reproduzierte Zahl ist 50. Wie bei der IL Klasse ändert sich die
Benennung Schafe manchmal in Pferde, Kühe, Ochsen, eine Tatsache, der wir wiederholt
auch bei der V. Klasse begegnen. Bei der IIL Oberklasse bietet die Reproduktion der
Propositionen denselben Anblick wie die der früheren Klassen. Die Reproduktion der
Zahlen ist viel getreuer; 50 und 17 erscheinen allen Texten; 122 und 1,50 oft ohne
Vergessen des Dezimalkommas ; bei den Preisen pflegt 2 für 2,50 substituiert zu werden;
203 für 213; es gibt Vertauschungen in der Reihe der Quantitäten 213, 122 und 17 an
Stelle von 122, 203 und 17. Die Ausdrucksweise wird eigener und inkorrekter als bei
den früheren Stufen. Darunter kommt ein Text ohne Zahlen vor von einem Mädchen.
Die IV. Klasse bietet ein eigentümliches Phänomen reproduktorischer Aktivität, welche
der Autor als einen Fall von „kollektiver Hypermnesie" betrachtet, um so mehr, als die
V. Klasse das umgekehrte Phänomen darbietet. Es soll von einer physiologischen Krisis
zeugen. Der Text wird in fast allen Fällen bezüglich der Zahlen, Worte, Propositionen
und Konzepte bis auf die Zeichen getreu reproduziert, denn keiner vergaß das Frage-
zeichen ; nur 3 änderten die Ordnung der Quantitäten, 5 substituierten eine für die andere
und verschiedene machten Fehler bei der Frage. Kein Fall von Verschmelzung kommt
vor, darin ist die Erinnerung von größerem Umfang als bei irgend einer anderen Klasse.
Die V. Klasse bietet, wie erwähnt, die umgekehrte Erscheinung der IV. Klasse. Zahl-
reiche Fälle von inkompletten „Amnesien" und diffusen „Hypermnesien" kommen vor,
nur die VI. Klasse verbessert das in einer kaum bemerkten Weise. Diese Krisen können,
meint M er cante, wegen ihres kollektiven Charakters nur transitorisch sein und kommen
auch nur von einer transitorischen Ursache her, wird jedoch unvermeidlich in der psy-
chologischen Entwicklung des Individuums. Bezüglich der Zahlen bieten sich bemerkens-
werte Fälle von Substitutionen und Vertauschungen in fast allen Texten. Ein Mädchen
z. B. reproduziert: „Jemand hatte in einem Stalle 2,000 Schafe, 173 Lämmer; in einem
anderen 17,000, in einem anderen 320; es starben diese, und den Rest verkaufte er zu
17 Centaros pro Stück." Die Verwirrung ist hier so unnormal, wie keine Klasse eine
ähnliche bietet. Die VI. Klasse reagiert fast normal, jedoch nicht so, daß man sie für
außerhalb der Krisis halten kann. Die Ausdrucksweise ist korrekt und strebt nach
Eigenheit. Das beweist, daß die Aufmerksamkeit sich mehr auf die Ideen richtet. Die
Zahl 17 erscheint in fast allen Texten; häufig 50; dann 122, achtmal 203 (bei 33 Schü-
lern), oft substituiert durch 213 und 113. Das dürfte ein Fall von mangelhafter, audi-
tiver Perzeption und nicht von akustischer Amnesie sein.
Das zwanzigste Experiment trägt den Titel schöpferische Imagina-
tion. Damit hat sich der Autor vorgenommen zu untersuchen: 1) die Zahl der Kom-
binationen, welche der Geist der Schüler ohne Anstrengung hervorbringen kann ; 2) den
Grad von Koordination und Logik beim Beziehen der Daten unter sich, und 3) die
größere oder geringere Korrespondenz des Datums mit dem Objekt (Grad der Asso-
— 302 —
xiationsexaktheit). Hierbei kommt in Betracht die Konkurreni des Alters, der Übung,
der IJildiing, der natürlichen Entwicklung, der Intelligenz usw. Um die Imaginationskrafl
der Schüler zu ergründen, gibt Mercante den Schülern folgende Aufgabe: Es soll eine
Aufgabe formuliert werden betreffs der vor ihnen befindlichen Tafel, das Nähere steht
völlig frei.
Der größte Einfluß, den man da konstatieren kann, ist der des Unterrichtes. Es
werden meist die Aufgaben, die innerhalb de« Schuljahres vorgekommen sind, nachgeahmt.
Die einzelnen Schulklassen zeigen die nämlichen Unterschiede wie bei dem vorigen Ex-
periment. In betreff der Logik sind die Kesultate besser bei der freien Aufstellung des
Problems als bei dem nach Gehör reproduzierten. Die Korrespondenz der Daten mit dem
Objekt bietet einen wachsenden Grad von Exaktheit von der II. bis zur VI. Klasse mit
den besonderen Momenten der Krisis. Der Überschuß an Text, in reduzierter Anzahl
von Aufgaben , enthüllt ein begrenztes Gebiet der allgemeinen Lösung. Die Fälle von
Assintaxismus kommen nur da zum Vorschein, wo Aufgaben mit Kombinationen aus-
gedacht werden. Die Einbildungskraft der Knaben ist reicher und umfassender als die
der Mädchen. Die Progression bezüglich der Zahl der Kombinationen ist konstant von
der II. bis zur VI. Klasse. Bei den Operationen herrscht die Multiplikation vor. Die
Operation der Subtraktion erscheint nur in G Fällen (unter 180 Schülern), kombiniert mit
der Multiplikation, die Division nur in 2 Fällen, die Addition in 7, kombiniert mit
anderen Operationen in 14. Das hängt wahrscheinlich mit der Art der Aufgabe zusammen;
die Schüler haben die Fläche oder das Volumen der Tafel berechnet, manche haben sie
mit Ölfarben bemalen lassen, andere haben sie neu herstellen lassen, manche haben mit
einer Aufgabe angefangen, abes ohne Daten anzugeben. So schreibt ein Mädchen nur:
„Welches ist die Fläche der Tafel?" ein anderes: „Wieviel muß diese Tafel messen,
wenn sie 3,50 m Länge und 1,50 m Höhe mißt".
Diese zwanzig Experimente sind die Gnmdlage der Scholarpsychologie von Mer-
eante. Eine eingehende Kritik bedürfen sie nicht, die Fehler treten klar hervor, wenn
man nur die Versuchsanordnung liest. Wie erwähnt, tragen fast alle Versuche den Cha-
rakter der Zufälligkeit und die Resultate den der Überlegung und Konstniktion. Ein
einziges Experiment, mag es auch Massencharakter tragen, genügt nicht, das Wesen des
/ählens, des Lesens von Zahlen usw. zu ergründen. Eine einzige Wiederholung der
Untersuchungen über das Lesen der Zahlen (zweites Experiment), die Operationen (achtes,
neuntes, zehntes Experiment), die visuelle Komparation und Reproduktion der Linie
(elftes und zwölftes Experiment) unternimmt der Autor mit der V. Klasse nach 12 Tagen
und bemerkt: „Wenn die Repitition nicht unmittelbar ist, verbesserte sie die Leistung
nicht." Aber die Beding\ingen zu ändern, oder andere Mittel zur Untersuchung derselben
Phänomena lu unternehmen, daran hat der Autor nicht gedacht. Daher kommt dann
auch diese Unvollkommenheit der Resultate, die man leicht in den jedes Experiment be-
gleitenden Bemerkimgen findet. Die Initiative selbst aber ist zu loben und nachahmens-
wert; mit wenigen Instnimenten (nur einer Uhr), bei einer ganz einfachen Anordnung
der Untersuchung, kann man gute Resultate bekommen, die für den Lehrer von großmi
Wert sind.
Nur kurz eri^ähnt sei hier noch eine Untersuchung Mercantes über „Die Ästhe-
tik der Mathematik". Am Ende des Schuljahres (25. November) suchte Mercante
durch Anwendung der Fechner sehen Wahlmethode herauszufinden, welche Art Auf-
gaben den Schülern am meisten gefallen. Dazu stellte er folgende Fragen:
A. Welche von den folgenden beiden Übungen ist die schönere (angenehmere)?
— 303 —
a) Zu reduzieren auf die einfachste Art:
b) Zu addieren
4
13
+^ +
13
+ -^ +
(4 + 6 + 7 + 8) : (9+10+11 + 12)
(4 + 6 + 7 + 8): (18 + 20 + 22 + 27)
25 . 7 . 101
11
13 ' 7
B. Welche von 4en folgenden Aufgaben ist die schönste? a) Wenn 6 Mikronen
die Länge eines Bakteriums sind, wieviel dringen dann, in eine Reihe gesetzt, in einen
Dezimeter? — b) Ein Beobachter mißt drei Temperaturen während des Tages; um 7^
morgens beträgt sie 22°, um 2^1 mittags 34 ^ um 0*» abends 20"; wie groß ist die mitt-
lere Temperatur ? — c) Zwei Heere sind auf dem Marsch nach Pretoria ; das Burenheer
ist 120 km näher der Stadt als das von Lord Roberts und leistet einen Marsch von
25 kg pro Tag. Die Distanz zwischen dem Burenlager und Pretoria ist 450 km; wann
erreicht das englische Heer, das täglich 35 km zurücklegt, das Burenheer? Mit welcher
Schnelligkeit muß das Burenheer marschieren, damit das Zusammentreffen mit dem Feind
in Pretoria stattfindet ? — d) Jedesmal bei zwei Umdrehungen des Pferdes gibt die Eimer-
kette eines Wasserrades eine vollständige Drehung. Es sind 15 Eimer, jeder schöpft
3 Liter Wasser in den Trog. Wieviel Drehungen muß das Pferd machen, um den Trog
zu füllen, wenn seine Dimensionen 3,75 m Länge, 2 m Breite, 1,5 m Höhe sind?
C. Von allen während des Jahres gelösten Aufgaben soll derjenige Text gegeben
werden , welcher am besten gefallen hat und die größte Aufmerksamkeit hervorgerufen
hat. (Die Schüler hatten ein Aufgabebuch.)
Tabelle V.
Klassen
Es wählten A
Es wählten B
Es wählten C
a
b
a
b
c
d
Übungen
Aufgaben
V. Klasso ^"*''^°
Mädchen
IV. Klasse \ K"='^™
i Mädchen
6
16
8
12
8
1
15
2
9
1
5
1
2
3
1
8
1
2
3
13
7
8
1
3
3
5
5
21
7
12
Summa
42
14
17
6
12
31
12
45
Einige Schüler wählten zwei Aufgaben auf einmal.
Schön waren entweder die ganz einfachen Aufgaben, oder die anscheinend ver-
wickelten aber leichten Aufgaben. Viele Schüler wählten, ohne sagen zu können, warum
die betreffende Aufgabe ihnen gefällt.
Was den zweiten Teil des Werkes betrifft, so enthalte ich mich einer eingehenden
Besprechung. Die einzelnen Lektionen sind sehr ausführlich entwickelt ; es sind ange-
geben die Fragen des Lehrers sowie die Antworten der Schüler. Man bemerkt nicht die
fünf formalen Stufen in jeder Lektion, aber von einem anderen Formalismus ist der Autor
nicht frei; es findet sich immer ein Anfang, eine Mitte und ein Schluß. Die Entwick-
lung der Lektion wird von einem Plan eingeleitet. Der Stoff, den sich der Schüler ein-
prägen muß, ist sehr groß, und wenn die Kinder wirklich alles das beherrschen können,
dürften sie sehr gescheit sein. Die I. Klasse z. B. soll nach M er c ante am Ende des
Schuljahres alle Zahlen bis 10000 lesen und schreiben und außerdem einfache Additionen
und Subtraktionen mit denselben ausführen können. Dazu sollen noch manche Maß-
— 304 —
einbeiten und Münzen, mit welchen verschiedene Aufgaben kombiniert werden, gelernt
werden. Vielleicht ist für die lokalen VerhältnisBc in Argentinien der iweite Teil deg
Werkes von Bedeutung; für uns kommt nur der erste Teil in Betracht, dessen Inhalt
ich deshalb ausführlicher, als es an sich vielleicht die Resultate verdienen, wiederzugeben
bestrebt war, weil bis jetzt, außer einem kurzen Referat in der Rev. philos. keine größere
Besprechung in einer deutschen, französischen oder englischen Zeitschrift erschienen ist,
und das spanische Original doch wohl nicht allgemein zugänglich sein dürfte.
B. Seh an off (Würzburg).
Emile Ja vnl, Die Physiologie des Lesens und Schreibens. Autori-
sierte Übersetzung nach der zweiten Auflage des Originals, nebst Anhang über deutsche
Schrift und Stenographie. Von Dr. med, F. Haass, Augenarzt in Viersen. Mit 101
Figuren im Text und einer Tafel. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1907. M. 9. — ; geb.
M. IG.-.*)
Es ist sehr erfreulich, daß das berühmte Werk von Javal (der im Januar 1907
gestorben ist) nunmehr in deutscher Übersetzung vorliegt. Es hat sich seit seinem Er-
scheinen in französischer Sprache (erste Auflage 1905, zweite 1906) schon viele Freunde
erworben. Den Verf. hat das tragische Schicksal erreicht, daß er erblindet ist, er bemerkt
selbst darüber: „vielleicht ist mein Leiden aber doch nicht ohne Ausgleich geblieben,
denn es hat mich dazu beföhigt, die die Blindenschrift behandelnden Teile mit mehr Sach-
kenntnis abzufassen".
In der Einleitung tadelt es Javal zunächst, daß sich seit mehr als drei Jahrtausen-
den „die Buchstaben, deren sich der Mensch zum Aufschreiben seiner Gedanken bedient,
fast ohne Methode, nach dem Lauf der Umstände entwickelt haben". Daher seien unsere
modernen Schriftarten „eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes'* und werden
nur infolge des Jahrhunderte alten Schlendrians, der sie von Generation zu Generation
überliefert, geduldet. Bevor man aber Verbesserungen vorschlagen kann, muß man wissen,
was bisher in dieser Richtung geschehen ist. Deshalb will Javal im ersten Teile seines
Werkes einen Überblick geben über die Entwicklung der traditionellen Schrift, den Buch-
druck und drei neue künstlerische Schriftarten : die stenographische, die musikalische und
die Blindenschrift. In dem zweiten Teil wird dann die Optik des Auges, insbesondere
die Sehschärfe, der Einfluß der Beleuchtung auf die Sehschärfe, die Bedeutung der Gnind-
Haarstriche, dann die Tastschärfe, darauf der Mechanismus des Lesens und des Schreibens,
endlich die Schnelligkeit des Lesens und Schreibens behandelt. Der dritte sehr umfang-
reiche Teil bringt die Schlußfolger»ingen für die Praxis. Es sei nebenbei bemerkt, daß
das Werk mit besonderen Typen gedruckt ist, die nach den AA'ünschen des Verf. ausge-
mhrt sind.
Es folgt zunächst ein „Begleitwort" des Übersetzers, in welchem er über Javals
Lebensschioksal und seine Bedeutung als Forscher eine kurze Orientierung gibt, es ent-
hält femer'lehrreiche Mitteilungen über die Schwierigkeiten der Herstellung der vorliegenden
deutschen Ausgabe, an der verschiedene Kräfte zusammenwirken mußten, insbesondere der
Übersetzer und Verleger, namentlich bereitete es Schwierigkeiten, die von Javal gewünschten
Typen zu besorgen.
Der erste Teil des Werkes, die Geschichte der Schrift, hat am wenigsten psycholo-
gisches Interesse, wir deuten seinen Inhalt daher nur kun an. Das erste Kapitel gibt
*) Aus dem Arohiv für die ges. Psychologie Bd. XVI, mit einigen Zusätzen ab-
gedruckt.
— 305 —
einen Überblick über die Entwicklung der Inschriftenkunde. Der Verf. zeigt hier, wie
sich allmählich der Gebrauch des Haar- und Grundstriches entwickelt, wie die Initialen
aufkommen, die Apices, d. h. die kleinen wagerechten Striche am Ende der Buchstaben-
zeichen, u. a. m. Wichtig ist dabei, daß der Verf. zwischen vollkommener Sichtbar-
keit und liesbarkeit der Schrift unterscheidet ; die erstere wird am besten erreicht
von der quadratischen Antiqua, deren Buchstaben (bei den Griechen) überall die gleiche
Dicke hatten, die letztere erreicht man durch Vermehrung des Unterschiedes der Druck-
und Haarstriche und Verbreiterung des Zwischenraumes zwischen den einzelnen Buch-
staben : breite Grundstriche bei sehr dünnen Haarstrichen, wobei die Buchstaben ungefähr
Quadrate füllen, ergeben die größte Lesbarkeit. Das Schreiben in der wagerechten Zeile
verteidigt der Verf. nach der bekannten Leichtigkeit der Augenbewegungen in horizontaler
Richtung; dagegen will er den Wechsel der Leserichtung unserem System des bloßen
Lesens von links nach rechts vorziehen, weil das Einhalten der Zeilen bei unserem System
schwieriger sei.
Das zweite Kapitel behandelt in großen Zügen die Geschichte der Schrift.
Die Entwicklung der Form der großen Buchstaben verfolgt der Verf. nicht weiter, über
die Minuskeln bemerkt er, daß sie „das Ergebnis unzähliger Umänderungen sind, die
nebeneinander in Italien, Deutschland, Spanien, England und Frankreich sich vollzogen."
Bald entwickelten sich zahlreiche Schriftarten nebeneinander, der Verf. konnte natürlich
nicht auf sie alle eingehen, und er erwähnt nur ihre wichtigsten Arten. Allmählich bahnt
sich immer mehr die Rückkehr zur Antike an. Als 'treibende Ursachen in dieser Ent-
wicklung sieht er an die Veränderung der Papierpreise, der Form der Feder und den Ge-
brauch von Brillen. Die viereckige Form der Federspitze hat z. B. der gotischen Buch-
stabenform den Ursprung gegeben, und der zunehmende Gebrauch der Konvexbrille trug
zur Verkleinerung des Druckes bei.
Das dritte Kapitel behandelt die Entwicklung des Buchdrucks. Während eine
Kursivschrift vor allem die Forderungen der größtmöglichsten Leichtigkeit und Schnellig-
keit erfüllen muß, treten an die Druckschrift ganz andere Forderungen heran. Diese
werden nun vom Verf. auf das sorgfältigste untersucht, das vorliegende Kapitel macht sie
an der Hand der geschichtlichen Wandlungen der Antiquatypen klar, die diurch eine An-
zahl Abbildungen erläutert werden.
Es folgt im vierten Kapitel ein Überblick über die Entwicklung der Stenographie,
den wir hier nicht wiedergeben. Er enthält übrigens auch eine Auswahl des Materials,
die deutsche Leser nicht sehr interessieren kann.
Im fünften Kapitel folgt die Entwicklung der Musikschrift, im sechsten die der
Reliefschrift (Blindenschrift).
Der zweite Teil enthält dann „Theoretische Betrachtungen", er gibt die physikali-
schen, physiologischen und psychologischen Grundlagen einer Theorie des Lesens. Aus
diesen heben wir hier nur das nicht allgemein Bekannte hervor. Der Verf. entwickelt
zunächst die bekannten Verhältnisse des normalen emmetropen, des presbyopen, des my-
open und hypermetropen Auges, und zeigt dann das nach seinen Untersuchungen an
Schulkindern die Kurzsichtigkeit gewöhnlich im Alter von acht bis zehn Jahren zuerst auftritt
und dann sich noch leicht bekämpfen läßt, vor allem durch rechtzeitiges Tragen einer
Brille. Man sollte femer gerade in den ersten Schuljahren „die Kinder mit der größten
Sorgfalt davon abhalten, sich den Büchern und Heften allzusehr zu nähern". „Um dies
möglichst zu erleichtern, muß die Beleuchtung der Schulzimmer, der Druck der Bücher,
die Stellung der Tische und Bänke auf das peinlichste überwacht werden. Vor allem
— 306 —
mflBsen Schreibmethoden angewandt werden, welche mit einer guten Haltung der Schüler
vereinbar sind.
Ganz besonders genau erörtert der Verfasser sodann den Astigmatismus und beschreibt
dabei auch die von ihm erfundene Form des Ophthalmometers, die gegenüber dem viel
komplizierteren Helm holtz sehen Apparat einen großen Fortschritt bezeichnet. Mit der
Betrachtung der Anisometropie und interessanten Ausführungen über die Reguliervorrich-
tungen des Auges schließt dieses Kapitel.
Sehr ausführlich wird sodann die Sehschärfe behandelt, und zwar zunächst die Seh-
schärfe unabhängig von der Beleuchtung. Er widerspricht dabei in verschiedenen Punkten
S n e 1 1 e n und Vorschläge zur Verbesserung der S n e 1 1 e n sehen üptotypi. Auch Snellens
Begriff der normalen Sehschärfe verwirft der Verf., „S n e 1 1 e n hat tatsächlich das
für normale Sehschärfe genommen, was ich lieber mittlere Sehschärfe nennen
möchte". Eine gute Sehschärfe kann nach Javal „auf ein Meter Entfernung die Kapi-
talen der Antiqua, welche 1 mm hoch sind und aus '/ö nioi dicken Strichen bestehen,
lesen". Die Abstufungen der Sehproben wünscht der Verf. nach geometrischer Pro-
gression.
Sodann erörtert Javal (im nächsten Kapitel) den Einfluß der Beleuchtung
auf die Sehschärfe. Er betrachtet zunächst die Bedingungen der Sichtbarkeit eines
Punktes. Dabei kommt er zu dem Resultat, daß die „Sichtbarkeit eines weißen Punktes
auf vollkommen schwarzem Grunde proportional ist dem Quadrat des Durchmessers dieses
Punktes und proportional der Beleuchtung". Anders verhält es sich mit der Sichtbar-
keit einer Linie. Diese ist nur proportional ihrer Dicke und in hohem Maße un-
abhängig von ihrer Länge. Zugleich stellt der Verf. „im Gegensatz zu allen klassischen
Büchern" fest, daß die Lesbarkeit eines Buchstabens nicht, wie man gewöhnlich angibt,
zwei, sondern drei von einander unterscheidbare Punkte voraussetzt. Für die Lesbar-
keit der Buchstaben (aus großer Entfernung) stellt der Verf. die Regel auf, daß die
„schematische Buchstabenform" um so besser erkannt wird, je dünner ihre Striche bei
hellster Beleuchtung sind, denn die Lesbarkeit deckt sich nicht mit der Sichtbarkeit.
Das zehnte Kapitel betrachtet nun die Grund- und Haarstriche in der
Druckschrift. Wenn nun die Lesbarkeit der Buchstaben bei dünnen Strichen eine
besonders günstige ist, so stände nichts im Wege, recht dünne Typen zu empfehlen, vor-
ausgesetzt, daß man immer mit einer idealen B eleuc htung rechnen
könnte. Da aber diese nicht immer vorausgesetzt werden darf, so tut man gut, die
Dicke der Gnmdstriche so zu wählen, daß man mit dem Licht einer Kerze oder schlechten
Lampe rechnet. Femer kommt in Betracht, daß die Lesbarkeit der Buchstaben mit zu-
nehmender Kleinheit der Typen abnimmt, daher empfiehlt der Verf. mit der Verkleinening
der Buchstaben ihre Große so weit zunehmen zu lassen, als dieses Prinzip nicht gegen
den ästhetischen Eindruck verstößt. Wie dann ferner nocli mit den Fehlem des Auges
gerechnet wird, um die praktisch empfehlenswerteste Form der Buchstaben zu finden, das
ist mehr technisch als psychologisch interessant.
Das nächse Kapitel (elfte) beschäHigt sich mit der „Tastschärfe", als dem Äqui
valent dos lesenden Blinden für die Sehschärfe. Mit Recht spricht der Verf. dabei vun
Tastschärfe und nicht von der Empfindlichkeit des Tastsinns, weil es sich dabei um einen
Wahrnehmungsakt der Blinden handelt, nicht um die Feinheit ihres Hautsinni als
solche.
Hierbei macht der Verf. einige psychologisch interessante Mitteilungen über dos
Lesen der Blinden und die so viel erörterte Frage, ob die Tastschärfc der Blinden weni-
ger genau sei, als die der Sehenden. Der Verf. stellt zunächst fest, daß man nach den
— 307 —
üblichen Schwellenbestimmungen mit der Zweispitzenmethode in der Blindenschrift Di-
stanzen von 2 — 272 cm zwischen je zwei Punkten oder Linien zu wählen pflegt. Beim
Blinden findet man nun durchweg eine geringere Tastschärfe als beim vollsinnigen
Menschen, ein flotter Leser unter den Blinden kann in der Regel erst bei 3 mm Distanz
die Zirkelspitzen als zwei erkennen. Es ist nun besonders wichtig aus den Ausführungen
des Verf. zu ersehen, daß d'\e& gar nichts mit dem sogenannten Sinnenvikariat zu tun hat,
weil die ganze Erscheinung ein Produkt der Betätigung (Übung) des Lesens selbst
ist. So konnte Javal bei sich selbst beobachten, daß die Tastschärfe seines rechten
Zeigefingers viel geringer als die seines linken geworden ist, und er meint, daß das nicht
an der Verdickung des Epidermis liege (es ist aber ganz unzweifelhaft notwendig, daß
diese dazu beitragen muß, der Referent). Wie sehr die ganze Erscheinung von der Übung
abhängen muß, das sieht man aus der Bemerkung Javals, daß nach einigen Stunden
des Lesens die Empfindlichkeit des Zeigefingers sogar so weit abnimmt, daß „sie voll-
kommen ungenügend wird". „Wenn ich dann, so fährt Javal fort, die Spitze eines un-
gebrauchten Fingers auf d'e Buchstaben lege, um zu lesen, so kommen mir die Punkte
viel schärfer vor." „Diese Verminderung der Empfindlichkeit ist der vorübergehenden
Amaurose (Sehschwäche) vergleichbar. Die Ausübung des Lesens stumpft die
Tastschärfe ab, und ich habe den subjektiven Eindruck, daß die Verminderung der
Schärfe durch Abnahme des Empfindungsvermögens eintritt."
Diese Erscheinung ist nach der Meinung des Referenten nur zu erklären durch eine
zentralnervöse Abstumpfung des Tastmechanismus. Dazu stimmt auch die folgende Mit-
teilung Javals: „Ganz paradox hierzu ist folgende Erscheinung. Die Finger, welche
der Blinde gewöhnlich nicht zum Lesen benutzt, und deren Empfindlichkeit gewöhnlich
beträchtlich größer ist, sind nicht fähig, ebensogut zu lesen wie der Zeigefinger; eine
ähnliche Beobachtung, wie man sie bei so vielen Sehenden macht, die das Braille System
gut kennen, und die nicht imstande sind, durch Fühlen zu lesen. Nach der von dem
Ref. angedeuteten Erklärung ist diese Tatsache keineswegs paradox, denn für die gewöhn-
lich nicht zum Lesen benutzten Finger besteht eben die zentralnervöse Abstumpfung
nicht; außerdem sieht man aber aus dieser Mitteilung Javals, daß noch eine andre Mit-
ursache dabei eine Rolle spielen muß, nämlich offenbar die Bewegungsempfindungen der
tastenden Finger- und Hand-(Arm-)gelenke. Die nicht geübten Finger haben zwar eine
größere Tastschärfe, aber die mitwirkenden Gelenkempfindungen sind nicht durch Übung
verfeinet. Mit Recht weist denn auch Javal selbst darauf hin, daß das Lesen der
Blindenschrift ja nicht mit unbewegten Fingern geschieht, und er erinnert an die Beob-
achtung Hellers, daß die Blinden beständig mit der Fingerspitze sehr kleine Bewegun-
gen in senkrechter Richtung ausführen.
Das zwölfte Kapitel behandelt nun den Mechanismus des Lesens. Zuerst
erwähnt er die bekannte Beobachtung von Lamare, daß die Augen beim Lesen ruck-
weise über die Zeile bewegt werden, und er gibt an, daß die Zahl der rhythmisch er-
folgenden Rucke ungefähr einem Abschnitt von zehn Buchstaben entspricht. Zugleich
beschreibt der Verf. einen sinnreichen Apparat, mit dem sich die Anzahl der Rucke aku-
stisch zählen läßt. Javal hat femer festgestellt, daß die Zahl dieser Rucke gleich blieb,
wie groß auch immer die Entfernung des Beobachters vom Buche war. Der Verf. möchte
daraus folgern, daß der Leser die Druckzeile in Abschnitte einteilt, „die gerade so groß
sind, daß das auf die Mitte des Abschnittes gerichtete Auge in indirektem Sehen die
Anfangs- und Endbuchstaben desselben erkennen kann".
Aus den Untersuchungen von Lamare entnimmt der Verf. ferner eine Einschrän-
kung seiner früheren Polemik gegen die Verwendung langer Buchstaben im Druck, indem
— 308 —
er zugibt, dabei nur das direkte Sehen berücksichtigt zu haben; für das indirekte Sehen
sind offenbar die langen Buchstaben vorteilhaft, vorausgesetzt, daß der Druck nicht so
eng ist, daß die Vorsprünge dieser Buchstaben nicht mehr erkannt werden. Lamare
wandte vier Methoden an, um die Zahl der Rucke der Augen beim Lesen unter ver-
schiedenen Umständen festzustellen: Einmal bestimmte er die Oesamtschnelligkeit des
licsens für einen bestimmten Leser und berechnetedann die zum Lesen eines Abschnittes nötige
Zeitdauer. Hierbei gewinnt man natürlich nur einen Mittelwert für die Dauer der einzelnen
Abschnitte. Femer stellte er fest, wieviel Buchstaben man im peripheren Lesen ent-
ziffern kann, während man einen beliebigen Buchstaben in der Mitte der Zeile fixiert. Er
fand, daß die auf diese Weise lesbare Strecke für Buchstaben von elf Punkten (nach
Ja V als Berechnung) ungefähr 34mm beträgt und 21,7 Buchstaben enthält. Femer ließ
er die Bewegimgen des Auges durch einen Assistenten zählen, endlich wandte er die er-
wähnte mikrophonische Methode an. (Ergänzt sei noch, daß wir im indirekten Sehen
weit weniger Lesen, wenn man nur die vollkommen deutlich erkannten Buchstaben be-
rücksichtigt, die lesbare Strecke verkleinert sich dann auf die Hälfte, im Mittel auf 10,8
Buchstaben und 17mm). Femer versuchte Lamare festzustellen, welchen Einfluß die
Bekanntheit der Zeile, femer Poesie und Prosa hat. Die Versuche wurden ausgeführt
bei dem Licht einer 80 cm entfernten Lampe von 4—5 Kerzenstärke, bei einer Entfernung
des Papiers vom Auge von 34 cm. Hierbei trat zunächst für Verse ein gesetzmäßiges Ver-
halten der Abschnitte zu der Zeilenlänge hervor : „Zeilen von verschiedener Länge werden
mit derselben Zahl von Abschnitten gelesen : ein Abschnitt nimmt daher nicht immer
denselben liaum ein. In dem Augenblick, wo der Abschnitt eine gewisse Größe erreicht
(16 mm bei Buchstaben von 10 Punkten), hat das Auge das Bestreben, auf die Zeile einen
Abschnitt mehr zu machen und folglich die Länge der Abschnitte so zu verkleinern, daß
er [(!) der Ref.] nicht mehr als 12— 13,6 mm beträgt.
„Außerdem ergeben die Zeilen, je länger sie sind, um so weniger leicht neue Ab-
schnitte, indem diese dann um so leichter die maximale Größe einzunehmen geneigt sind".
Femer teilt Lamare mit, daß er versucht hat, in welchem Grade beim Lesen von Prosa
die verschiedenen Buchstabenelemente die Größe eines Abschnittes und die Zahl der darin
enthaltenen Buchstaben beeinflussen. „Diese Elemente sind besonders die Höhe und
Breite", „die Höhe wird nach typographischen Punkten von 376tauseudstel Millimetern
bewertet, die Breite nach einem Buchstaben taxiert, der die mittlere Breite der Buch-
staben eines und desselben Alphabetes hat (unserer Berechnung zufolge nach dem O)".
Den Einfluß der Höhe der so konstmierten Buchstaben auf die Größe eines Abschnittes
gibt L. dahin an, daß für Buchstaben von 6, 7, 8, 9, 10, 11 Punkten die Größe der Ab-
schnitte proportional der Höhe ist, zwischen der Breite der Buchstaben und der Größe
der Abschnitte ergab sich die Funktion: „die Ausdehnung eines Abschnittes ist gleich
der neunfachen durchschnittlichen Breite der Buchstaben vermehrt um 2 mm". Femer
wurde festgestellt, daß für den Einfluß der Entfernung auf die Zahl der Buchstaben
im Abschnitt das Gesetz gilt, „wie groß auch immer die Entfernung sein mag, in der ein
und derselbe Text gelesen wird (von 0,30 bis zu 1 m), so wechselt doch die Zahl der
Buchstaben im Abschnitt niemals". Diese Annahmen Lamares werden von Javal in
»wei Punkten berichtigt, „erstens haben wir jeden die Worte trennenden Zwischenraum
als Buchstaben gezählt, es ist wahrscheinlich, daß die Größe der Abschnitte von dem
Raum abhängt, den sie auf der Netzhaut einnehmen, \ind die weißen Zwischenräume be-
anspruchen daselbst ebensoviel Platz wie die Buchstaben". „Zweitens haben wir einen
Rechenfehler gemacht, indem wir Durchschnittszahlen annahmen um die Länge der Ab-
— 309 —
schnitte festzulegen". Die Korrektur dieses Fehlers kann natürlich nur auf experimentellem
Wege erfolgen.
Hierauf bespricht der Verf. die neuesten Experimente von Delabarre und Huey,
auf die wir in dieser Zeitschrift bald zurückkommen werden. Sodann betrachtet er die
Veränderungen der Akkomodation, welche die Folgen der Augenbewegiingen sind. Natür-
lich sind diese um so größer, je näher der Lesende das Buch vor seine Augen bringt.
J)a nun nach den Untersuchungen von Landolt die kleinen Augenbewegungen die er-
müdenden sind, so erklärt sich daraus einerseits die Neigung vieler Leser, das Buch nahe
zu bringen, andererseits sind dadurch Tatsachen verständlich wie die von Javal mitge-
teilte Beobachtung, daß Näherinnen verhältnismäßig viel seltener kurzsichtig sind als Per-
sonen, die viel lesen, bei den ersteren ändert sich die Akkomodation nicht.
Im dreizehnten Kapitel geht der Verf. auf den Mechanismus des Schreibens
ein. Hierbei geht Javal von der Beobachtung des Verhaltens sehr geübter Schreiber
aus und leitet aus diesem ab, daß die Bewegungen des Handgelenks die Schnellig-
keit und Regelmäßigkeit der Schrift garantieren, die der Finger ihre Leserlich-
keit. Dazu kommt die schiebende Bewegung des Unterarmes, welche die Fortgleitung
der Schrift über das Papier herbeiführt. Dabei liegt der Ellbogen fest auf, bleibt unbe-
weglich, und der Unterarm macht Winkelbewegungen.
Auf alle die zahlreichen Einzelbeobachtungen des Verf. können wir hier nicht ein-
gehen, es sei nur noch bemerkt, daß er für den Schnellschreiber und den Schönschreiber
verschiedene Regeln aufstellt sowohl für die Haltung der Hand wie für die Lage des
Papiers. Dem Schnellschreiber empfiehlt Javal das Papier nach links schief zu legen
„unter einem Winkel, der ungefähr gleich der Neigung der Schrift ist", wobei er zugibt,
daß das nicht ohne Nachteil für die Körperhaltung ist. Hierbei erwähnt Javal den
Versuch von Schubert in Nürnberg, der zwei Gruppen von zehn Mädchen in zwei
Klassen derselbe Schule photographierte, die einen schrieben Schräg- die anderen Steil-
schrift; es ergab sich, daß die Steilschriftschreibenden die bessere Körperhaltung hatten.
Das nächste, vierzehnte Kapitel handelt von der Schnelligkeit des Lesens
und Schreibens. Nachdem wiederum einige historische Notizen vorausgegangen sind,
gibt Javal interessante Angaben über Schnelligkeitsmessungen bei beiden Tätigkeiten,
die allerdings durch neuere Messungen, insbesondere solche der amerikanischen Psycho-
logen, zum Teil schon überholt sind. Für das stille Thesen nimmt Javal an, daß „man
mit Leichtigkeit, ohne etwas auszulassen, 500 Worte in der Minute ließt". Einer seiner
Freunde las bei einem Roman durchschnittlich 550 Worte in der Minute. Huey fand
(für Leser englischer Sprache), daß beim leisen Lesen mehr als 800, und beim lauten 360
Worte in der Minute gelesen wurden. Ein guter Klavierspieler kann nach Javal „un-
gefähr 700 gleiche Noten in der Minute spielen". Was das gesprochne Wort betrifft;,
so vermag nach Messungen des stenographischen Instituts in Paris der schnellste Redner
selten mehr als 200, der langsamste immer mehr als 100 Worte in der Minute zu
sprechen. „Ein geübter Maschinenschreiber schreibt stundenlang mit Leichtigkeit 40
Worte, der anläßlich der Ausstellung von 1900 erreichte Rekord war 67 Worte in der
Minute. Man kann also sagen, daß die Geschwindigkeit des Maschinenschreibers ungefähr
viermal geringer ist als die des lauten Lesens." „Ich schätze die Schnelligkeit einer voll-
kommen lesbaren Handschrift auf 20 Worte, also ungefähr die Hälfte der üblichen der
Maschinenschreiber." Eine sehr schnelle Schrift kann unter Weglassung von Akzenten
und I-Punkten 35 Worte erreichen. Geübte Telegraphisten übertragen mit dem Morse-
apparat in der Minute 25 Worte zu 5 Buchstaben, aber sie bezeichnen keine große Buch-
staben und keine Akzente. Die Blindenschrift (Brailleschrift) ist von allen die lang-
— 310 —
Javal lelbit, der sie erst spät erlernt hat, schreibt nur vier Worte in der Mi-
nute, und der geübteste Blinde kommt nicht über acht Worte. Einige, offenbar seltene
Ausnahmefalle werden von Javal angegeben. Das Lesen in der genannten Blindenschrift
geht ebenfalls nur sehr langsam vonstatten ; Javal selbst hat es dazu gebracht, 25 Worte in
der Minute zu lesen, viele Blindgeborene lesen 60, eine kleine Zahl bringt es auf 100, einige
sogar auf 120. Sehr interessant ist die Beobachtung an einem besonders
geübten Blinden", der mit der linken Hand dem Lesen mit der Rechten
vorauszueilen vermag, er muß also mit der Linken gewissermaßen im Unterbewußt-
sein lesen, und das wieder darauf schließen, daß ein Lesen ohne inneres Sprechen dem
Blinden leichter wird als dem vollsinnigen Menschen. Dieser von Javal selbst beob-
achtete Blinde, der Bibliothekar Dem^nieux, las laut fast 200 Worte in der Minute.
Mit interessanten Ausführungen über die in allem Fortschritt der Lese- und Schreib-
technik hervortretende Anwendung des Gesetzes der geringsten Anstrengung schließt dieses
Kapitel.
Es folgt nun der zweite Teil des Werkes, der Schlußfolgerungen für
die Praxis enthält. Wir können auf diese Ausführungen, entsprechend dem Charakter
dieser Zeitschrift nicht mehr ausführlich eingehen. Er bringt zunächst wichtige Anwen-
dungen der früher gegebenen Entwicklungen auf die „öffentliche und private Beleuchtung
vom Standpunkt der Hygiene des Auges", wobei der Grundsatz aufgestellt wird, daß für
ein normales Lesen von jedem Platz aus der Himmel sichtbar sein muß. Sodann wird
das Problem der Kunsichtigkeit eingehend mit Rücksicht auf die Schulverhältnisse be-
handelt und besonders über den Druck der Wandkarten und über die zweckmäßigste
Form der Buchstaben und der Zahlen gesprochen. Zur Erläuterung der weiteren Aus-
führungen gibt Javal dabei einige technische Mitteilungen, die zum Verständnis des fol-
genden unerläßlich sind: die Druckbuchstaben bestehen aus rechtwinkligen Prismen, deren
eine Seite den erhabenen Buchstaben trägt; „da die Drucker das Metersystem nicht an-
genommen haben, und ihre Längeneinheit der Punkt ('/e Linie oder V?» Zoll) ist, so sagt
man, ein Buchstabe mißt 7, 8 oder 9 Punkte, wenn die Höhe des Rechtecks 7, 8 oder
9 Punkte beträgt. Die Dicke der Durchschüsse oder Regletten, welche dazu d'enen, die
Zeilen eines durchschossenen Textes voneinander zu trennen, werden ebenfalls nach
Punkten gemessen. Die ausführlichen Angaben Javals über die von ihm empfohlene
Schrift müssen im Original nachgelesen werden.
Die Verbreitung der Steilschrift ist der nächste Punkt, auf den das Werk eingeht.
Wie wir schon angaben, ist Javal ein Anhänger der Steilschrift, und er wünseht, daß
sie in den Volksschulen obligatorisch werde.
Sodann geht Javal auf den Lese- und Schreibunterricht ein, hierbei vertritt er die
Schreib-Lesemethode.
Dann wird das Schreiben der Blinden behandelt und manches Interessante über die
Entzifferung schlechter Handschriften ausgeführt.
Der heutige Stand der Graphologie bildet den Inhalt eines weiteren Kapitels, das
sich durch summarische Kürze auszeichnet, indem Javal auf die noch ausstehenden Unter-
suchungen Binets und das Werk von Cr6pieux-Jamin verweist Der Verf. scheint
sehr skeptisch von der Graphologie zu denken.
Ebenso skeptisch urteilt er über die Tätigkeit der Schreibsachverständigen im Dienste
der juristischen Praxis. Dann wird die Untersuchung pathologischer Handschriften be-
sproohen. Sodann werden die Mittel zur Beschleunigung der Blindenschrift behandelt und
die Stenographie und Phonographie im Dienste der Bliiulen erläutert.
Schlußfolgerungen ftlr die P&dagogen schließen das Werk. Sie betreffen teils die
— 311 —
Hygiene der Augen in der Schule, teils das Problem des geringsten Kraftaufwandes für
den Schüler, Es seien hier einige Vorschläge zusammengestellt, die Javal für das Er-
lernen des Schreibens und der Orthographie nach seinen Erfahrungen erhebt. Er fordert :
1) Nur eine Schrift soll das Kind schreiben lernen, und zwar die Antiqua. 2) Alle Ab-
weichungen der Schreibweise von der Sprache sind durch besondere Zeichen in
der Schrift kenntlich zu machen. So z. B. die stummen Buchstaben im Französischen
durch doppelte Konturen. Mit diesem Kunstgriif sollte man auch in deutschen Schulen
Erfahrungen sammeln. Besonders interessant ist noch die Entschiedenheit, mit der Javal
für das Esperanto und seine Einführung in den Schulunterricht eintritt.
Der Verf. verspricht sich ^le\ davon, wenn die Schüler mit dieser leichten Fremdsprache
bekannt werden, sie würden, meint Javal, auch insbesondere die Orthographie der Mutter-
sprache leichter erlernen, weil sie an einem leichteren Falle in der Rechtschreibung vor-
geübt sind. (Es sei hier bemerkt, daß das Werk Ja v als dem Erfinder des Esperanto,
Dr. Zamenhof, gewidmet ist.) „Man stelle eine Klasse von Kindern," so bemerkt
Javal, „die nicht lesen können und obendrein verschiedenen Nationalitäten angehören,
zusammen, und schreibe" dem Lehrer vor, sich an das B er litz System zu halten, nach
welchem „nur die Sprache gebraucht wird, welche gelehrt werden soll ; nach einige Tagen
wird die ganze kleine Schar leicht dem Anschauungsunterricht des Esperanto folgen, und
nach wenigen Wochen werden es alle geläufig sprechen. Da die Sprache, welche sie
sprechen, streng phonetisch ist, so wird es den Kindern nur eine kleine Anstrengung
kosten, sie schreiben zu können, zuerst in Stenographie, dann in gewöhnlicher Schrift.
Obendrein sind sie, da sie zwei Sprachen, Esperanto und die Muttersprache kennen, be-
fähigt, schnell andere zu lernen."
Es folgt endlich noch ein „Anhang", in welchem über die sogenannte „Deutsche
Schrift", die bekanntlich gar keine deutsche ist, gesprochen wird. Die Überlegenheit
der Antiqua über die Fraktur für das Lesen und Schreiben wird ausführlich dargetan und
an der Hand von Messungen bewiesen.
Endlich betrachtet der Anhang noch die Entwicklung und Verbreitung der Steno-
graphie in Deutschland. E. Meumann (Halle a. d. Saale).