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ZEITSCHRIFT FÜR
PÄDAGOGISCHE
PSYCHOLOGIE
UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK
HERAUSGEGEBEN VON
O. SCHEIBNER UND W. STERN
UNTER REDAKTIONELLER MITWIRKUNG VON
A. FISCHER UND H. GAUDIG
XX. JAHRGANG
1919
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
Druck yon J, B. Hirschfeld (August Prieg) in Leipzig.
Inhaltsverzeichnis.
A. Abhandlungen.
Seite
Verjüngung. Von Universitätsprof. Dr. W. Stern in Hamburg 1
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter. Von Seminarlehrer
M. Kesselring in Kaiserslautern 12; 89
Über die Beziehungen zwischen Intelligenz und Moralität bei jugendlichen Ver-
wahrlosten. Von Dr. P. Riebeseil in Hamburg 37
Muster eines Tagebuches über Kinder. Von Dr. St. v. Maday inMiskolo in Ungarn 44
Die Unterricht liehe Behandlung Kopfschußverletzter. Von Prof. Dr. A. Stößner
in Dresden 48
Statistische Erhebungen über sprachgebrechliche Kinder in den Hamburger Volks-
schulen. Von Schulleiter W. Carrie in Hamburg 53
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule. Von Rektor E. Haase
in Halle 60; 108
Zur Sammlung jugendkundlicher Beobachtungen in der Zeit des deutschen Staats-
umsturzes. Von Universitätsprof. Dr. A. Fischer in München . . 81
__^ Die Erlernuns: und Beherrschung fremder Sprachen. Von Universitätsprof. W.
Stern in Hamburg 104
Psychologie und Schule. Von Universitätsprof. W. Stern in Hamburg . . . 145
Das Zusammenwirken der Schule und des Psychologen bei der Begabung«- und
Eignungsauslese. Von Dr. O. Lip mann in Klein-Glienike bei Berlin 153
Höhere Intelligenzprüfung an Jugendlichen mit Hilfe des Bindeworttests. Von
Marx Lobsien in Iviel 157
^Die Nebensätze in der Kindersprache. Von A. Huth in München 163
Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes. Von Prof.
K, Bergmann in Darmstadt 183; 238
Schuloriranisatorisches Denken. Von Oberschulrat Prof. Dr. H. Gau d ig in Leipzig 209
Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten. Von P. Wischer in Berlin 219
Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit. Von M. Lobsien in Kiel .... 231
Begabungsprüfungen in FachschuU'n. Von Universitätsprof. W. S t e r n in Hamburg 235
Die Untersuchung der Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallen-
versuchs. Von Dr. R. Prantl in Würzburg 245
Bildsamkeit und Persönlichkeit. Von Gymnasiallehrer W. Saupe in Chemnitz 289
Beobachtungsbogen und Schülerauslese. Von M. Muchow und W. Höper in
Hamburg 301
1. Notwendigkeit und Möglichkeit der Heranziehung des Lehrerurteils bei
der Begabtenauslese. Von Martha Muchow 302
2. Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919. Von Dr.
Wilhelm Höper 308
Fragebogen zu psychologischen Ermittlungen im Kindergarten. Von J. Lichten-
stein in Breslau 315
Besinnliches zur Begabungsprüfung. Von Privatdozent Dr. M. Brahn in Leipzig 328
/ Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden im Dienste von Erziehung und
^^^ Unterricht. Von Universitätsprof. Dr. A. Fischer in München . 334
Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht. Von Prof.
P. Sickel in Aachen 369
IV Inhaltsverzeichnis
Seite
Über den Einfluß von Krics^s- und Zeitkomplexcn auf die Definitionsleistung bei
Kindern. Von Prof. Dr. A. Gregor in Leipzig-Döaen 379
Über das logisch-rechnerische Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen auf Grund
experimenteller Untersuchungen. Von Seminaroberlehrer Dr. W. Voigt
in Leipzig 386
/ Zum psychologischen Problem „Fremdsprachen und Muttersprache". Von Prof.
Dr. E. Lentz in Zoppot 409
Vom Kulturwert des Kinders piels. Von Verwaltungsdirektor Dozent Dr. J. P r ü f e r
in Leipzig 415
Die psycholosische Laborantin als Beruf. Von Institutsleiter Dr. Fr. Giese in
Halle a. S 418
Verzeichnis der Verfasser.
Seite Seite
Bergmann, K 238
Brahn, M 328
Carrie, W. 53
Fischer, A 81; 334
Gaudig, H . . . . 209
Giese, F 418
Gregor, A 379
Haase, E 60; 108
Höper, W 308
Lobsien, M 231
V, Maday, St 4*
Muchow, M 302
PrantUjfV, 245
Prüfer^^jJ. "' 415
Riebeseil, P 37
Saupe, W 289
Sickel, P 369
Stern, W 1; 104; 235
Kesselring, M 12; 89 j Stößner, A 48
Lentz, E 409 I Wischer, P 219
Lichtenstein, J 315 | Voigt, W. 386
B. Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Seite
Abteilung für Jugendkunde in Chemnitz 354
Amtliche Eintührong des pädagogisch-psychologischen Aufnahmeverfahrens in
Deutsch-Österreich . ^ 352
Arbeitsprogran m des Deutschen Ausschusses für Kleinkinderfürsorge 197
Ausbildungsstätte für heilpädairogische Lehrberufe 198
Auskunftst lle für Kleinkinderfürsorge 72; 359
Ausstellung für neuzeitlichen Anfangsunterricht 428
Bej.'abtenauslese in Berün 423
Begabtcnschulcn in Deutsch-Österreich 352
Begabungsprüfung am Gymnasium 424
Bremer Institut für Jugendkunde 354
Deutsche Gesellschaft für soziale Pädagogik 359
Elterubund „Neue Schule" 138
Förderung und Pflege der Erziehungswissenschaften 131
Grundsätze zur Neugestaltung dos Schulwesens 361
Heranbildung von Leitern für Stotterklassen und von Lelirern für Absehunterricht
\y bei Schwerhörigen und Ertaubten 198
Institut für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde an der Universität Leipzig 139
Institut für experimentelle Pädagogik und Psycholo^^ie im Leipziger Lchrerverein 283
Institut für Psychologie und Pädagogik an der Hamlelshochschule Mannheim . 425
Kölner Arbeitsgemeinschaft für normale und pathologische Psychologie .... 358
Krankhaftes religiöses Erleben 127
Kriminalilät der Jugendlichen während des Krieges 422
Laboratoriimi für industrielle Psychotechnik an der Technischen Hochschule zu
Charlottenburg 356
Leipziger Prüfamt 358
Inhaltsverzeichnis
Seite
Leitsätze zur Arbeitsschule 195
Materialsammlung zur Schülerbewegimg 359
Mitteilungen über die Schülerbewegung 132
Nachrichten 72; 139; 199; 285; 360; 429.
Neuordnung der niederösterreichischen Landesiehrerakademie 352
Pädagogische Fortbildung der Oberlehrer 193
Pädagogisch-psychologische Fragebogen , 424
Pädagogisch-psychologisches Laboratorium an der niederösterreichischen Landes-
iehrerakademie >Yien 199; 355
Prorinzialiustitut für praktische Psychologie in Halle 425
Psychologische Beobachtung der Fürsorgezöglinge 188
Psychologisches Laboratorium in Hamburg 278
Psychologisch-pädagogisches Preisausschreiben 285
Schullorderungen des Deutschen Lehreryereins 347
Sonderschule für sehschwache Kinder 428
V^ Sprechlehrerseminar 360
Tagung des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege und der Vereinigung
der Schulärzte Deutschlands 426
Vertretung der Psychologie und Pädagogik an den deutschen Universitäten im
Winterhalbj ihr 1918/19 68
Warnung vor dilettantischer Anwendung von Testprüfungen 353
Wiener Hauptstelle für Erziehung und Unterricht 72
Wirtschaftspsychologisches Laboratorium 284
Inhalt der Nachrichten.
Seite
Akademische Ferienkurse an der
Universität Leipzig 361
Ausbiidungskursus f. die Eignungs-
prüfung der industriellen Lehr-
linge 361
Auskunftstelle für Kleinkinderfür-
sorge 139
Ausschuß zur Erforschung der Ar-
beit 429
Erahn, Dr. Max 199
Cohn, Prof. Dr. Jonas 199
Deutscher Verein zur Fürsorge für
jugendliche Psychopathen . . . 140
Fischer, Dr. Aloys 73; 199
Handelshochschulkursus der Stadt
Nürnberg 140
Hönigswald, R., Dr. Prof 429
Institut für Erziehung^Unterricht
und Jugendkunde an der Uni-
versität Leipzig 139
Karamel, Prof. Dr. WiUibald ... 360
Seite
Katz, Prof. Dr. David 360
Lehmann, Prof. Dr. Rudolf ... 285
Lietz, Hermann f 285
Lehrgang für Studienreferendare 362
Lehrstuhl für Pädagogik in Jena . 360
Moede, Dr. Walter 140
Xohl, Dr 360
Pädagogische Osterwoche .... 73
Peters, Dr. Wilhelm 199
Poppelreuter, Dr. W 429
Psychologischer Ausbildungskursus
für Hilfsschullehrer 361
Psychologisches Institut des Leip-
ziger Lehrervereins 139
Schwartz, Dr. med. et phil., . . . 285
Seminar für Heilpädagogik . . . 429
Spranger, Prof. Dr. Eduard ... 360
Universitätsstudium der Volks-
schullehrer 360
Vorlesungen des Berliner Lehrer-
vereins 361
C. Literaturbericht.
Seite
Aster, E. v., Einführung in die Psychologie 286
Asmus, Prof. Dr. W., Notstände an höheren Schulen . 79
Barth, Dr. P., Ethische Jugendführung 363
Bauch, Dr. Bruno, Zeitfragen der Gegenwart in Fichtes Reden an die
deutsche Nation 80
VI Inhaltsverzeichnis
Seite
Bericht des Deutschen Kinderschutzverbandes. Der vorbeugende
Kinderschutz in Stadt und Land 80
Bergemann-Könitzer, Erziehung zur Plastik 432
Berufswahl und Berufsberatung 207
Brahn, M., Anweisungen für die psychologische Auswahl der jugendlichen
Begabten 367
Braunshausen, Dr. N., Einführung in die experimentelle Psychologie . . 287
Buchenau, Dr. A., Die deutsche Schule der Zukunft 78
Buchenau, Dr. A., Pestalozzis Sozialphilosophie 362
Buchenau, Dr. A., Die Einheitsschule 432
Bühler, Charlotte, Das Märchen und die Phantasie des Kindes .... 202
Bühler, K., Die geistige Entwicklung des Kindes 365
Bürgler, K., Das Tastlesen der Blindenpunktschrift 76
Christian, Dr. M., Psycho-physiologische Berufsberatung der Kriegsbeschä-
digten 75
Dessoir, M., Vom Jenseits der Seele 140; 429
Ebbinghaus, Prof. H., Abriß der Psychologie 74
Engel, E., Der Weg der deutschen Schule 208
Faßbinder, N., Am Wege des Kindes 79
Frischeisen-Köhler, M., Grenzen der experimentellen Methode .... 141
Fuchs,A., Die heilpädag. Behandlung der durch Kopfschuß verletztenKrieger 79
Gaupp, Prof. K., Psychologie des Kindes 75
Goldstein, Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten 430
Grau, Dr. K.. Grundriß der Logik 74
Grunwald, Dr. G., Philosophische Pädagogik 205
Hegels Philosophie 200
Hessen, Johannes, Die Begründung der Erkenntnis nach dem hl. Au-
gustinus 200
Hildebrandt, Paul, Vom Seelenleben unserer Schüler 201
Höfler, Dr. A., und Witasek, Dr. St., Hundert psychologische Schulver-
^ suche mit Angabe der Apparate 142
Hunzinger, A., Das Christen tum im Weltanschauungskampfe der Gegenwart 362
Jacob, J., EinBeitrag zur Frage nach den psychischen Rasseunterschieden 75
Jahnke, Dr. R, Werden und Wirken 206
Jäger, Dr. G., Schulgemeinde und Schülerausschuß 207
Klumcker, Prof. Dr. Chr. J., Fürsorgewesen 144
Kreuser, Dr. med. H., Krankheit und Charakter 201
Kruse, Uve Jens, Lebenskunst 204
Lay, Dr. W. A., Experimentelle Pädagogik mit besonderer Rücksicht auf die
Erziehung durch die Tat 77
Lazarus, Prof. Dr. M., Das Leben der Seele in Monographien über seine
Erscheinungen und Gesetze 140
Lehmann, Prof. Dr. R., Lehrbuch der philosophischen Propädeutik . . • 14l
Lindemann, F., Beiträge zur Geschmacksbildung 144
Lorenz, Prof. Dr. G., Drei National-Schulentwürfe aus klassischer Zeit . . 208
May dorn, Dr. B., Zeitfragen der Gegenwart in Fichtes Retjpn an die deutsche
Nation 201
Meinong, A., Beiträge zur Pädagogik und Dispositionstheorie 36
Messer, Dr. A., Ethik 73
Meyer, Dr. E., Vom pädagogischen Lebenswege 78
Meyer, Johannes, Erziehung und Leben 206
Moede-Piorkowski-Wolff, Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organi-
sation und experimentellen Methoden der Schülerauswahl .... 288
Queisser,F., Aus meiner Sammelmappe psychologischer Unterrichtsversuch e 203
Pauli, Dr. R., Psychologisches Praktikum 286
Paulsen, F., Geschichte des gelehrten Unterrichtes auf den deutschen
Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur
Gegenwart 80
Inhaltsverzeichnis Vü
Seite
Peper, W., Jugendpsychologie 287
Prochnow, Dr. Oskar, Wissen oder Können? 206
Reinhardt, K., Die Neugestaltung des deutschen Schulwesens 430
Reuinuth, K., Die logische Beschaffenheit der kindlichen Sprachanfänge . 365
Roth, Dr. H., Das sittliche Urteil der Jugend 142
Rupp, Dr. H., Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik und
Jugendpsychologie 286
Ruscheweyh, Dr. H., Die Entwicklung des deutschen Jugendgerichtes. . 80
Rzehak, A., Der gegenwärtige Stand der Wünschelrutenfrage 288
Sallwürk, E. v., Die Seele des Menschen 74
Schneidemühl, Dr. G., Die Handschriftenbeurteilung 77
Schomburg, H. E., Der Wandervogel, seine Freunde und Gegner .... 204
Schönhuber, Fr. X., Das Kino im Lichte von Schülerantworten .... 143
Schulz, Fr., Wollen und Vollbringen 204
Schuster, Dr. P., Das Nervensystem und die Schädlichkeiten des täglichen
Lebens 364
Stadelmann, Dr. med.. Die Bedeutung des Kindheitserlebnisses für die
Ausgestaltung der Lebensführung 201
Sternheim, Dr. K., Einführung in die Philosophie vom Standpunkte des
Kritizismus 362
Volkelt, J. Prof., Religion und Schule 363
Wundt, W., Logik 3&4
Wyenbergh, J. van, Dr., Die Organisation des Volksschulwesens auf diffe-
rentiell-psychologischer Grundlage 143
Zillig, P., Die innere Einheit aller Lehrenden 144
Der vorbeugende lünderschutz in Stadt u. Land. Bericht über die Kinder-
schutztagung des deutschen Kinderschutzverbandes ...... 80
Verjüngung.
Von William Stern.
In zwei Schlagw^orten sucht man das zusammenzufassen, was die große
Umwälzung dem deutschen Volke bringen soll: Demokratisierung und
Sozialisierung. Neben diesen beiden aber steht noch eine dritte Ziel-
richtung, die grundsätzlich nicht minder wichtig, aber viel weniger be-
achtet ist: die Verjüngung. Unser gesamtes öffentliches Dasein in Staats-
leben und Kultur wird in Zukunft eine ganz andere Altersver-
teilung der wirksamen Kräfte zeigen — zugunsten der Jugend.
Vergegenwärtigen wir uns, was das bedeutet.
Vorweggenommen sei ein Tatbestand scheinbar äußerlicher Art; aber
er greift doch tief in unser Innerstes hinein. Der Krieg hatte vier Jahre
lang unsere männliche Jugend, insbesondere die beweglichsten und
strebsamsten Jahrgänge zwischen 20 und 30, an die Front gezogen und
aus der Mitarbeit am heimischen Kulturleben ausgeschaltet; diesem fehlte
damit der frische Antrieb zum geistigen Fortschritt; eine Überalterung
setzte ein.
Blicken wir auf die Schulen. Hierwiarden die Lehrkörper mehr und mehr
zu Senioren-Versammlungen; zwischen Schülerschaft und Lehrerschaft
klaffte meist ein Altersabstand von mehreren Jahrzehnten. Wohl war
es in jedem Einzelfalle der höchsten Anerkennung wert, daß die älteren
Herren, die in normalen Zeiten längst die behagliche Ruhe nach getaner
Arbeit genossen hätten, die Pflicht zum Durchhalten so ernst nahmen,
um die durch den Krieg gerissenen Lücken auszufüllen; aber die Ge-
samtwirkung war doch eine Verarmung des Schullebens. Die Schul-
kinder — und gerade die feinfühlenderen und regsameren — haben
schwer darunter gelitten; es stockte jener lebendige Pulsschlag gegen-
seitigen Verständnisses, jenes Sichfinden in gemeinsamen Interessen
und Idealen, wie es das Zusammenarbeiten von Schülern und jugend-
frischen Pädagogen verschönt. Neben den Schäden, welche die Schul-
erziehung durch die Störung des Schulbesuches und durch die Ver-
wahrlosung der Jugend erlitten hat, ist die ideelle Schädigung der Kinder
durch die Überalterung der Lehrerkollegien nicht zu gering einzuschätzen.
Und nun wird das anders werden. Jetzt kehren die jüngeren Päda-
gogen zurück, die wir so lange entbehren mußten; nach furchtbarer
Zerstörungsarbeit sind sie voller Sehnsucht, endlich aufbauend tätig zu
sein! Sie haben im Leben draußen viele der alten Wertungen und
Bindungen abgeschüttelt und schauen nach neuen Zielen aus. Und sie
kommen in ein umgewandeltes Deutschland, in dem der Boden für
solche Entdeckungsfahrten in geistiges und sitthches Neuland bereitet
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 1
William Stern
ist, in dem eine empfängliche und seelisch ausgehungerte Schuljugend
ihrer wartet. Welch unermeßliches Tätigkeitsfeld liegt vor diesen
Männern !
Was hier von einem Teilgebiet der Kultur gesagt ist, gilt nun aber
von unserm gesamten heimischen Leben: die Jüngeren standen im Kämpft
die Älteren gaben allein den Ton in der Heimat an, und die Folge war
eine gewisse geistige Erstarrung. Schauen wir jetzt zurück auf die
Jahre des Krieges, so müssen wir bekennen, daß sie recht arm gewesen
sind an wahrhaft neuen, lebenswirksamen Ideen. All das Große, ja Er-
schütternde und Erhebende, das der Krieg in der Heimat auszulösen
vermochte, war doch vor allem eine ungeheure quantitative Steigerung
alter Leistungsformen und Werthaltungen gewesen. Das nationale
Machtstreben, das in bestimmten führenden Kreisen alle anderen
Betrachtungsweisen in den Hintergrund drängte, die gewaltige Fähigkeit
zum Organisieren, die umfassende Indienststellung von Wissenschaft
und Technik für die Aufgaben der Selbstbehauptung — das waren
Höchstmaße bekannter und schon in früheren Jahrzehnten gepflegter
Züge deutschen Lebens, aber nichts Schöpferisch-Neues, nichts Gegen-
wart-Überwindendes und Zukunft- Verkündendes. Wir waren von vorn-
herein geistig in die Defensive gedrängt; das Volk der Dichter
und Denker litt an Ideenarmut! Diplomatisch, politisch, erzieherisch,
kulturell bedienten wir uns überkommener Formen, während die Feinde
begannen, ein neues geistiges Rüstzeug zu schmieden. Nur zögernd
folgten wir und übernahmen jene Ideen, und merkten kaum, daß wir
deutsches Geistesgut in fremdem Gewände von außen wiedererhielten!
So mußte es geschehen, daß die von Kant zuerst verkündete Idee des
ewigen, auf den Völkerbund gegründeten Friedens erst von dem ameri-
kanischen Präsidenten in praktische Form gegossen wurde, um von
uns dann widerstrebend zu eigen gemacht zu werden. So mußte es
geschehen, daß die ebenfalls von Kant verkündete Forderung der Auto-
nomie (Selbstbestimmung) der sittlichen Persönlichkeit nicht von den
Deutschen, sondern von den andern auf die Völkerpersönlichkeiten und
deren Autonomie übertragen wurde. Und schließlich mußte es geschehen,
daß die in Deutschland aus Hegelischem Geiste geborene und von Marx
und Lassalle geprägte Idee des Sozialismus nicht in einer bodenständig
deutschen, sondern in der zunächst von Rußland vorgemachten Form
einer Räteverfassung bei uns nach Verwirklichung strebte.
Das wird, das kann nicht so bleiben. Haben die Älteren darin ver-
sagt, den schöpferischen Ideen der kommenden Zeit die dem deutschen
Wesen angemessene Gestalt zu verleihen, so müssen wir auf die Jugend
hoffen. Aber wir müssen dann auch zugleich der Jugend den Platz
und das Recht zubilligen, um ihren tätigen Anteil am Neuaufbau zu
nehmen. Und deshalb sind im Politischen die Verleihung der Wahl-
fähigkeit an die Altersstufe 20 — 25, im Pädagogischen die aktive Be-
teiligung der Schüler an der Gestallung des Schullebens nur die ersten
Erscheinungen, in denen sich die allgemeine und grundlegende Forderung
der Verjüngung unseres Lebens verwirklicht.
Um das ganz zu verstehen, was jetzt unsere Jugend von 15 — 25 er-
füllt, müssen wir zurückgreifen auf eine Erscheinung der Vorkriegszeit,
Verjünsrung 3
die Jugendbewegung. Alle jene Strömungen, die sich im Wander-
vogel und in der Freideutschen Jugend, in der Freien Schulgemeinde,
im „Anfang", im „Vortrupp* usw. geltend machten, waren bereits etwas
durchaus Neues und Beispielloses: sie erhoben den individuellen Seelen-
zustand der Pubertätszeit ins Sozial-Psychische, sie suchten die subjek-
tive Verfassung des einzelnen Jugendlichen in objektive Kulturwirksam-
keit zu verwandeln. Die Pubertätszüge sind ja der psychologischen
Jugendkunde wohl bekannt : die Wendung des Bhckes, der bisher naiv
und empfangend nach außen gerichtet war, ins eigene Innere, und die
plötzliche erschütternde Entdeckung des eigenen Ich mit seinen Abgründen
und Höhen, seinen Rätseln und Forderungen ; das Schv/anken zwischen
einer hemmungslosen Hingabe an neu erwachende Triebe und Leiden-
schaften und der scheuen Verdrängung dieser Strebungen ins Unbewußte,
wo sie seltsame Umformungen erfahren; das Ringen um ein eigenes
Recht und einen eigenen Wert, der niemals nur von außen her — auch
nicht von den wohlmeinendsten Erziehern — aufgepfropft werden kann,
sondern selbst erarbeitet werden muß; das dumpfe Bewußtsein neuer
Ziele, die aber immer wieder dem Versuch der Aussprache und Gestal-
tung entgleiten; die innere Auflehnung gegen die Gängelung durch Auto-
ritäten und überlieferte Normen; die unhistorische und anti-historische
Stimmung, welche alles Gewordene, schon deshalb, weil es aus der Ver-
gangenheit stammt, als zukunftsfeindlich empfindet; die Unstimmigkeit
zwischen Wollen und Können; die Unbedingtheit und selige Unbesonnen-
heit, welche für die Durchführung neuer Ideale keine Kompromisse,
keine real-pohtische Vorsicht kennt, sondern geradewegs in die Sonne
zu fliegen sich vennißt; die Feinfühligkeit für das Maskenhafte, inner-
lich Unwahre und Unlebendige an Konventionen und gesellschaftlichen
Sitten; die Empfindlichkeit gegen die Unsittlichkeit im landläufigen
politischen, sozialen, sexuellen Treiben; nüt alledem zusammenhängend
aber auch die maßlose Ungerechtigkeit in der Beurteilung von Menschen
und Einrichtungen; eine Überheblichkeit und Ehrfurchtslosigkeit, die oft
genug die Hauptlinien in das Bild zu bringen scheint und die positiven
Züge allzusehr verblassen läßt.
All das hatte man schon immer gekannt; aber die meisten merkten nicht,
welch fundamentaler Wandel es war, als aus den individuellen „Jugend-
Eseleien" eine kulturelle „Jugend-Bewegung" wurde. Zum ersten Male
eine große Strömung unseres öffentlichen Lebens, die nicht von den
reifen Erwachsenen gemacht, sondern aus der Jugend selbst hervor-
gegangen war! Die daher etwas völlig Anderes war als alle, auch die
besten und idealsten Bestrebungen der älteren Generation, von sich aus
durch Arbeit an der Jugend dieser selbst und der Zukunft des Volkes
zu helfen. Gewiß lag in diesen Bestrebungen der Älteren schon ein
gewaltiger Fortschritt gegen frühere Zeiten; denn Schul- und Erziehungs-
Reform, Jugend-Pflege, -Fürsorge und -Gerichtsbarkeit usw. waren, im
Gegensatz zu vergangenen Epochen, von der bewußten Absicht geleitet,
der Jugend und ihrer Eigenart gerecht zu werden; und sie haben ja
eben deshalb auch die Jugendkunde zu ihrer Führerin erkoren. All
diese Arbeit der Älteren wird auch in Zukunft weiter gehen und sich
hoffentlich noch reich entwickeln, auch wohl wandeln in Rücksicht auf
William Stern
das Neue, das im Werden ist. Aber eine Schranke war ihr doch durch
ihr Wesen gesetzt: die Jugend war in allen diesen Maßnahmen in erster
Linie Gegenstand, nicht Subjekt, nicht Träger des Geschehens - Gegen-
stand der Erkenntnis in der Jugendkunde, Gegenstand der Behandlung
in Jugenderziehung und Jugendpflege. Die Pädagogen fühlten sich
als die Gebenden und die Jugendhchen als die Empfangenden; auch
dort, wo Entwicklung der jugendlichen Selbsttätigkeit als Grundsatz
aufgestellt wurde, war es eine durch die Erzieher angeregte und zu-
gelassene, dosierte und geleitete Selbsttätigkeit; auch dort, wo die Frei-
heit der Jugend ausdrücklich anerkannt wurde (z. B. bei der freieren Ge-
staltung des Unterrichts auf den oberen Stufen), war es eine von oben
und außen her verliehene Freiheit,
Die Jugendbewegung aber wollte gänzlich anderes: Neugestaltung des
Jugendlebens aus sich heraus und Umgestaltung der Volkszukunft von
der Jugend aus! Diese hohe Zielsetzung wurde freihch durch manche
unerfreuliche Äußerlichkeiten, persönliche Unstimmigkeiten, Unklarheiten,
Anmaßlichkeiten so überdeckt, daß die weitaus meisten Erwachsenen
durch diese siebenfache Haut nicht auf den Kern der Anschauungen
hindurchzublicken vermochten ; daher war bei der großen Mehrzahl der
berufsmäßigen Erzieher entweder Empörung über die Dreistigkeit oder
ein herablassendes Belächeln der Verstiegenheit die einzige Gefühls-
reaktion. Man übersah, daß ja die erste Phase einer solchen neuen
Lebensform zunächst in Maßlosigkeit geraten mußte, daß sie vor allem
auf Opposition, auf lauten Protest angewiesen war, da ihr die Macht
zum positiven Tun ja eben fehlte.
Diese vorwiegend negative Phase der Jugendbewegung findet nun
ihr Ende durch die Umwälzung. Die Wahlberechtigung ruft die Jugend
zu positiver Arbeit auf. Jetzt darf sie ihre Forderungen, ihre Ideale
vor der großen Öffentlichkeit vertreten und mit den neuen Mitteln des
politischen Kampfes zu verwirklichen suchen — in voller Legitimität, aber
auch in voller Verantwortlichkeit. Eben diese Verantwortlichkeit
ist das Neue auch für die Jugend selbst. Sie fordert für sich, gewiß;
aber sie muß auch vieles fordern von sich, in weit höherem Maße,
in weit größerem Umfang als bisher. In höherem Maße : denn ihre Taten
sind nicht mehr jene seligen Höhenflüge zur Sonne, sondern reale Mit-
bestimmungen der harten irdischen Wirklichkeit . . In weit größerem
Umfange: denn es kann nicht mehr genügen, daß eine kleine Auslese
Geistiger und Begeisterter die Jugendbewegung ausmacht, sondern die
ganze Jugend muß mittun; mit dem neuen Recht entsteht ihre neue
Pflicht. Soll sich die politische Welt verjüngen, dann muß sich
die junge Welt politisieren. Aber wohl gemerkt: sie muß sich selbst
politisieren, nicht etwa politisiert werden. Die frühere Methode, von
den Älteren her auf die Jugend zu wirken, darf in Zukunft keinesfalls
das allein seligmachende Verfahren bleiben.
Verjüngung des politische» Lebens kann nicht allein heißen, daß sich
in den bestehenden oder jetzt neu bildenden großen Parteien die untere
Altersgrenze für die Mitgliedschaft bis in frühere Jahrgänge verschiebt
und daß durch Bildung von Jugendgruppen die Jugend für die von den
Älteren aufgestellten Programme gewonnen werde; es muß auch heißen,
Verjüngung 5
daß das Eigenleben und Streben der Jugend eine eigene mitwirkende
Macht innerhalb der Gesamtgestalt unseres Volksdaseins \\ird, daß die
Jugend sich selbst über ihre neuen Ideale klar zu werden versucht und
mit ihnen die Programme der Älteren durchsäuert und durchglutet. 0
Wohl ist die Jugend noch politisch unerfahren; sie wird daher
vor allem die Aufgabe haben, sich zu orientieren, zu belehren und ein-
zuarbeiten; und sie wird wegen ihrer Unerfahrenheit so manches Lehr-
geld zahlen müssen, das keinem Neuling erspart bleibt. Sie ist aber
zugleich auch politisch unbelastet; und vielleicht ist es ihr beschieden,
wenigstens darin auch im realen Leben ihren idealen Sinn zu wahren,
daß sie den politischen Kampf entgiftet und wieder ethisiert. Neue
edlere Formen dieses Kampfes sind von den alten Parteien kaum zu
erhoffen; dagegen regen sich schon jetzt in den politischen Jugend-
bestrebungen verheißungsvolle Anfänge; die Jugend verschiedenster
Richtungen sucht miteinander Fühlung zu gewinnen, sich in großen,
jenseits der Parteien stehenden Versammlungen auszusprechen und sich
gegenseitig das Vertrauen zu bekunden, daß jeder von seiner Stelle aus
das Beste für die Allgemeinheit erstrebt. Wenn es doch der Jugend ver-
gönnt wäre, zu beweisen, daß das Bismarckische Wort „Politik verdirbt
den Charakter" nur für die Politik des alten Regimes, nicht aber für
jede Politik überhaupt gilt! Und noch ein anderes Wort der alten Zeit
muß übe/wunden werden : „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft". Es
war ein frevlerisches Wort, sofern es bedeutete, daß die Jugend als
Mittel zur Verewigung gegenwärtiger Machtverhältnisse benutzt werden
sollte. Heute wollen wir den Satz umkehren: „Wer die Zukunft will,
hat die Jugend!" Es ist der Ansporn für die Älteren, ihr Tun und
Streben nicht nur auf die Sicherung des Gegenwärtigen, sondern auf
die Formung des Zukünftigen zu richten und hierbei für die Stimmen
derjenigen hellhöriger zu werden, die in dieser Zukunft die Träger der
Volksgemeinschaft sein werden.
Diese Verjüngung wird selbstverständlich nicht ohne schwere Er-
schütterungen vor sich gehen, da sowohl der Inhalt unseres Kultur-
bestandes wie das Kraft getriebe des Kulturgeschehens plötzlich grund-
stürzend verändert werden.
Nicht nur vieles von dem, was uns Älteren aus Gewöhnung und Pietät
subjektiv wertvoll geworden war, sondern auch so manche objektiven
Dauerwerte, die in der Vergangenheit unseres Geisteslebens historisch
verankert sind und berufen wären, uns auch für die Zukunft etwas zu
bedeuten — sie sind in Gefahr, bei diesem Neuerungsstreben auf den
Scherbenhaufen zu geraten. Dem Einzelnen von uns muß es je nach Tem-
perament und Neigung überlassen bleiben, ob er sich vor allem der
neuen Entfaltungsmöglichkeiten zu freuen vermag oder den bitter emp-
fundenen Verlusten nachtrauert, ob er in erster Linie mitgestalten will
') Verrnntlich werden sich auch hier die beiden psychologischen Typen der Jugendlichen
scheiden, die auch sonst bemerkbar sind: der Typ des vorwiegend empfänglichen und anlehnungs-
bedürftigen, und der des selbständigkeitsdurstigen imd spontan handelnden Jugendlichen. Im
Unpolitischen wurde jener vorwiegend von der Jugendpflege, dieser von der Jugendbewegung
erfaßt. Im Politischen wird jener zu den Jugendgruppen bestehender Parteien, dieser zur Bil-
dung eigener Jugendbünde neigen.
6 William Stern
an dem, was werden will, oder sich an der Rettung des kostbaren Geistes-
gutes beteiligen will, welches verdient und verlangt, auch in Zukunft
bewahrt zu werden. Beide Verhaltungsweisen sind gleich berechtigt
und notwendig.
Fast noch mehr ist die veränderte Dynamik des Geschehens geeignet,
das Gleichgewicht des Daseins zu erschüttern. Jenes überstürmische
Tempo freihch, in welchem jetzt die größten Wandlungen spielend voll-
zogen werden, das wirre Hin und Her von Maßnahmen und Gegenmaß-
nahmen, Plänen und Experimenten, wird ja hoffentlich nur ein Merkmal
des Übergangs sein. Mit steigendem Verantwortlichkeitsgefühl (das sich
ja nicht von heut auf morgen entwickeln kann) wird auch die Jugend
ihr wild darauf los gehendes Reformieren und Revolutionieren etwas
zügeln. Aber wir dürfen nicht mehr erwarten, daß der gemächliche —
bald bedächtige, bald geradezu gehemmte — Fortschritt früherer Zeiten
wiederkehren wird. Unser öffentliches Leben wird von nun an durch
eine Beschleunigung des psychischen Tempos und eine Steigerung des
Temperaments gekennzeichnet sein ; der größere Anteil der Jugendlich-
keit wird sich in erhöhtem Radikalismus und abnehmendem Verständnis
für historisch Gewordenes, in stärkerem Einfluß stimmungsmäßiger
Faktoren und in geringerer Planmäßigkeit bekunden. So haben auch
diese Kraftverschiebungen ihr Gutes und ihr Böses; es ist wünschens-
wert, daß man diese veränderte Dynamik bei allem in Rechnung stellt,
was der Bestimmung unserer Zukunft gilt.
Welche Rückwirkung übt nun diese allgemeine Verjüngung des Lebens
auf das eigentlich pädagogische Gebiet aus? Von der Bedeutung
der nun heimkehrenden jungen Lehrer sprachen wir schon; weit wich-
tiger aber ist die zu erwartende innere Umgestaltung der Schülerschaft
selbst.
Es geht nicht an, daß vom 20. Jahre an der junge Mensch plötzlich
zum vollberechtigten Staatsbürger wird, daß aber in den Jahren vorher
alles beim Alten bleibt. Die neuen Rechte, Pflichten und Forderungen
verlangen eine gründliche innere Vorbereitung. Schüler und Schülerinnen
können nicht bis zum 19. Jahre bloße Erziehungs- und Unterrichtsobjekte
sein, um dann im nächsten Jahre plötzlich Selbstbestimmungs- und Selbst-
verantwortungssubjekte zu werden. Wir haben es schon früher an
jungen Studenten erlebt, wie schädhch es sein konnte, wenn sie aus
dem Zwangskurs der gymnasialen Arbeit unvermittelt in die Autonomie
der akademischen Freiheit versetzt wurden; ähnlich war es bei vielen
jungen Lehrern, die aus der klösterhchen Zucht des Seminars direkt
in die selbständige Verwaltung einer Dorfschule kamen. Die entsprechende
Gefahr gilt aber in weit höherem Maße für die allgemeinen staatsbürger-
lichen Aufgaben. Soll das engere Gebiet der Schule eine wirkliche Vor-
bereitungsanstalt für das Leben, und zwar auch für das politische Leben
werden, so ist selbst mit dem besten staatsbürgerlichen Unterricht wenig
getan; mit dem Prinzip der Selbsttätigkeit muß hier mehr als auf
irgendeinem Gebiet Ernst gemacht werden. Darum muß die Selbst-
verwaltung der Schüler kommen, nicht als spielerische Atrappe, als
welche sie in dem autokratischen Gefüge der bisherigen Schule hier und
Verjüngung 7
da bereits ihr Plätzchen im Winkel hatte, sondern als mitgestaltender
Faktor des ganzen Schullebens.
Aber nicht nur als Vorschule zur Politik muß die Selbstverwaltung
kommen; ja, ihre eigentliche Begründung liegt in der Wandlungsbedürftig-
keit des Schullebens und in den inneren Bedürfnissen der Schuljugend
selbst. Es muß endhch einmal mit der eingewurzelten Auffassung ge-
brochen werden, als ob Lehrerschaft und Schülerschaft als zwei kompakte
Massen von ganz verschiedenartiger, ja gegensätzlicher Struktur sich
gegenüberstehen, von denen die eine zu befehlen und zu verbieten, die
andere zu folgen und zu unterlassen hat, von denen die eine aufgibt,
die andere ausführt, von denen die eine der andern die von ihr für gut
befundenen Kulturwerte und Ideale, Stoffe und Methoden aufdrängt.
Gewiß hatte diese Auffassung, ganz ähnlich wie beim Militarismus, auch
ihre großen Vorzüge; und sie hat um die Erziehung zum Pflichtbewußt-
sein und zum Fleiß, zur Straffheit der Selbstzucht, zum Besitz mannig-
facher Kenntnisse, zur Einordnung in eine Organisation große Verdienste.
Aber sie kam an das lebendige Selbst der Schüler nicht heran, und
zw^ar um so weniger, je älteren Jahrgängen die Schüler angehörten.
Die Altersstufen bis zum 12., 13. Jahre haben weniger darunter gelitten;
denn die Kindheit empfindet es als natürlich, daß die Älteren ihr als
Richtung- und Inhaltgebende gegenüberstehen; sie lehnt sich wohl oft
genug gegen einzelne Handlungen und Urteile des Lehrers auf, weiß
aber noch nichts von der prinzipiellen Oppositionsstellung gegen die
schulmeistern che Bevormundimg. Ganz anders bei den älteren Schülern.
Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, daß 80 ",o unserer
höheren Schüler in den schönsten Jahren ihrer Jugend von aus-
gesprochenem Schulüberdruß erfüllt waren, daß sie lediglich um der zu
erlangenden Berechtigung willen gleichgültige Stoffe nach freudlosen
Methoden über sich ergehen ließen und daß sie einen ständigen Geheim-
krieg gegen diejenigen führten, die ihre älteren Freunde und Führer
hätten sein sollen. Dann wieder hatten sich in vielen Internaten wie
Waisenhäusern.Fürsorgeanstaltenusw.unerfreulicheZustände entwickelt:
die Nummer, die Maschinerie, die schematische Verordnung regierte;
Handlungen und Unterlassungen der Zöglinge — auch solche, die sich
auf das persönliche Innenleben (Religion!) erstreckten — waren bis ins
Einzelnste vorgeschrieben; die Gelegenheit zur freien Betätigung indivi-
dueller Interessen, zur Einsamkeit, zum Gedankenaustausch mit Gleich-
gesinnten konnte oft genug nur auf Schleichwegen gesucht werden.
Jene — die höheren Schulen — brauchen etwas vom Geiste der „Freien
Schulgememde" nach dem Beispiel von Wickersdorf; diese — die dis-
ziplinaren Anstalten — etwas vom Geist der amerikanischen Junior-
RepubUk, die eine Fürsorgeanstalt mit sehr weitgehender Selbstregierung
der Insassen ist. I^türlich soll die obige Schilderung nicht allgemein-
gültig sein. Ich weiß w^ohl, daß es eine Reihe von Schul- und Erziehungs-
anstalten gibt, in die durch neuzeithch gerichtete, warmherzige Pädagogen
ein anderer Geist und durch freiere Organisation unter Beteihgung der
Zöglinge eine feinfühligere Berücksichtigung der Jugend eingeführt worden
ist. Aber diese Vorzüge dürfen eben in Zukunft nicht mehr vereinzelte,
dem Zufall überlassene Erscheinungen bleiben; sie sollen Allgemeingut
8 William Stern
unseres Schullebens werden, und dies kann nur geschehen, wenn die
oben geforderte durchgängige Umgestaltung der Schulgemeinschaft, zu-
gleich aber auch der durchgreifende Gesinnungswechsel bei Lehrerschaft
und Schülerschaft zur Wirklichkeit wird. Doch auch andere Anstalten:
die Volksschulen (zum mindesten in ihren Oberklassen), die Fachschulen,
Fortbildungsschulen, Lehrerseminare müssen von diesem Streben nach
Verjüngung ergriffen werden.
Die hier aufzustellenden Forderungen sind auf zwei Formeln zu bringen :
1. Um Lehrerschaft und Schülerschaft muß sich ein wirkliches Band der
Gemeinsamkeit schlingen, der gemeinsamen Interessen am Schulleben
und an den geistigen Dingen überhaupt, des gemeinsamen Suchens nach
dem besten Weg, auf dem jugendüches Streben und Können entwickelt
zu werden vermag.
2. Die Schülerschaft muß von sich aus aktiv teilnehmen können
an der Gestaltung der Schultätigkeit.
Jene Forderung führt zur Idee der „ Schulgemeinde ", diese zu der des
„Schülerrates", der „Schülervertretung", des „Schülerausschusses", oder
wie man es nennen mag. Bisher ist in der Öffentlichkeit und wohl
auch bei den Schülern selbst zu einseitig von der zweiten Idee die Rede,
während vor allem die erste anzustreben ist. Die unglückliche Anwen-
dung des Modeworts „Rat" auf die Schüler führt zu dem Gedanken,
daß es sich vor allem um eine Interessen- Vertretung und Kampfgemein-
schaft der Schülerschaft handle — als solle jener geheime Guerilla-Krieg
der Schüler gegen die Lehrer, von dem oben die Rede war, nun in ein
offenes Sichmessen anerkannter und gleichberechtigter Parteien verwandelt
werden. Das wäre freilich für keinen Teil eine erfreuliche Entwicklung;
würde durch sie doch die zu überwindende Anschauung, als ob die
Lehrer die gebornen Feinde der Jugend wären, geradezu legalisiert und
verewigt. Ganz anders, wenn man die Idee der Schulgemeinde in
den Vordergrund stellt, die innere Zusammengehörigkeit, den freien Ge-
dankenaustausch, die gemeinsame Interessengestaltung aller an der
Schule beteiligten Menschen. Im Rahmen dieser Schulgemeinde wird
dann natürlich auch die Schülerschaft eine selbständige Tätigkeit aus-
zuüben haben, ihre Vertretung wählen, ihre Wünsche formulieren, eine
offene Aussprache über gemeinsame Schulangelegenheiten herbeiführen,
die Selbstverwaltung vieler einzelner Veranstaltungen in die Hand nehmen;
aber dies dürfen doch immer nur Teilaktionen sein in dem umfassenden
Organismus des Schulstaates, zu dem alle Beteiligten gehören.
Die Schaffung der Schulgemeinde und insbesondere ihre Durchdringung
mit wirklicher Gemeinschaftsgesinnung wird natürlich noch auf manche
Schwierigkeiten stoßen. Aber Schwierigkeiten sind da, um überwunden
zu werden ; man muß ihnen nur klar ins Auge sehen. Da ist zunächst
hervorzuheben, daß das Vorbild der freien Schulgemeinde Wickersdorf
nicht einfach auf unser gesamtes Schuhvesen übertragen werden kann.
Denn jene Anstalt ist ein Internat, in welchem ein ununterbrochenes
und durch keine anderen Einflüsse gekreuztes Zusammen- und Ineinander-
leben von Lehrern und Schülern möglich ist. In der gewöhnlichen
Schule aber bringt der Schüler nur einen Teil seines Tages zu; mit
einem andern, großen und wichtigen Teil seines Ich gehört er anderen
Verjüngung 9
— und zwar sehr verschiedenen — Lebenskreisen an; dasselbe gilt von
jedem Lehrer. Deshalb wird hier nicht jene Restlosigkeit des Gemein-
schaftsgeistes zu erwarten sein, und man muß sich mit Bescheidenerem
zufrieden geben - was immerhin noch sehr viel mehr sein kann,
als was heute in der Schule an innerer Zusammengehörigkeit der Be-
teiligten zu finden ist. Ja, man wird jene in Internaten möghche Rest-
losigkeit des Lehrer-Schüler-Gemeirischaftsgeistes gar nicht wünschen
w^ollen; denn sie setzt die Ausschaltung der Familie voraus. Und es
ist hoffenthch nicht nur ein Zeichen bereits eingetretener Überalterung,
wenn man in Familie und Familienleben Werte sieht, die erhalten, ja
wiederum gesteigert und ebenfalls einem Verjüngungsprozeß unter-
zogen werden sollten. Somit wird die künftige Schulgemeinde einer-
seits den Schülern genug Freiheit lassen müssen, um ihre außerschuli-
schen (Familien- und anderen) Interessen zu pflegen; und sie wird
andererseits die Eltern nicht bei Seite stehen lassen dürfen, sondern als
^größere Schulgemeinde* auch ihnen Sitz und Stimme, das Recht des
Einblicks und der Mitwirkung bei gewissen Schulangelegenheiten von all-
gemeiner Wichtigkeit gewähren.
Zunächst müssen natürlich organisatorische Maßnahmen getroffen
werden, um dieser Neubelebung des Schulorganismus die Wege zu ebnen;
wir dürfen aber nicht vergessen, daß Schulgemeinde und Schülerver-
ti'etung an sich rein äußerliche Einrichtungen sind, die alles oder
gar nichts bedeuten können, je nach dem Geist und der Gesinnung, die
darin zum Ausdruck kommen. Die Eltern müssen lernen, daß die Schule
für sie nicht länger ein mit chinesischen Mauern umschlossenes Sperr-
gebiet sein darf, dem sie gleichgültig oder kritisch gegenüberstehen,
sondern daß diese Schule ihrer Kinder Jugendbegleitung und Lebens-
vorbereitung unddamitihrer (der Eltern) ureigenste Herzenssache sein soll.
Die Schülerschaft soll Heimatsgefühl in der Schule gewinnen, soll zu
dem Bevvußtsein kommen, daß dort die jugendlichen Ki-äfte nicht gehemmt
und mißachtet, sondern belebt und gefördert werden, soll in den Lehrern
gereifte und erfahrene Freunde sehen, die nach bestem Wollen und
Können an dem großen gemeinschaftlichen Werke führend mitarbeiten.
Besonders hohe und fieue Anforderungen stellt die verjüngte Schul-
gesinnung an die Lehrerschaft. Viele werden meinen, der Lehrer ver-
here nun seinen ganzen Einfluß, denn er habe ja in der Schule nichts mehr
zu sagen. Gewiß, er hat weniger zu „sagen'' im Sinne von autokratischem
Anordnen. Aber er wird viel, ja weit mehr als früher zu „sagen" haben
im Sinne von Beraten, Anregen, suggestivem Beeinflussen und freund-
schaftlichem Verkehren. Die Pädagogik soll nicht etwa aufhören; aber
sie wird aus der groben Form der Stoff- und Vorschriftübermittlung
mehr und mehr in die feinere intimere Form der persönlichen Einwirloing
überführt, die der Pädagoge durch sein reicheres Wissen und Können,
sein reiferes (aber nicht diktatorisches) Urteil, seine Einfühlungsfähig-
keit in die Jugendseele, seine eindrucksvolle und liebenswerte Wesen-
heit ausübt. Freilich : eindrucksvolle und liebenswerte, erziehungsfreudige
und innerlich jugendfrische Persönlichkeit muß der Lehrer sein, um
so zu wirken; und so .wird hier das Problem der erzieherischen
Berufseignung brennend. Hoffentlich wird die neue Schule auf
10 William Stern
viele zum Lehrberuf innerlich „berufene" Menschen die Anziehungs-
kraft ausüben, die sie früher nicht besaß, und alle fern halten, die keine
Erziehungsmission und keinen Herzenszug zur Jugend in sich fühlen —
mögen sie auch noch so gelehrt oder zum drillmäßigen Unterricht be-
fähigt sein.
Zu allen bisher genannten Formen der Verjüngung tritt nun noch
eine ganz andersartige: Die soziale Schichtenverjüngung. Die
führenden Schichten wurden bisher in weitem Ausmaß gebildet durch
„alte" oder doch „ältere" Familien. Das gilt zunächst im eigentlichen
Sinne vom Adel, dem bürgerlichen Patriziat, dem alteingesessenen
Bauernstande. War auch die Blütezeit dieser genealogischen Alters-
wirkung seit langem vorüber, so waren doch genug bedeutende Reste
übrig geblieben ; es sei an das bekannte Überwiegen des Adels in Di-
plomatie, höherer Verwaltung und höherem Offizierskorps erinnert.
Daneben hatte sich im letzten Jahrhundert die soziale Vorherrschaft
derjenigen Familien mehr und mehr durchgesetzt, die ein gewisses
kulturelles Alter besaßen. Dies brauchte garnicht sehr hoch zu sein;
entscheidend war, ob Kulturniveau, Bildungsstand und Finanzlage es der
älteren Generation nahe legte und ermöglichte, ihren Kindern die höhere
Schulbildung zu gewähren, die vermittels des Berechtigungswesens den
Weg zu allen führenden Berufen und Stellungen öffnete. Solche „ge-
hobenen" Familien stellten schon eine Lockerung der rein familiären
Altersherrschaft dar; denn sie ergänzten sich fortwährend durch Auf-
stieg Tüchtiger aus den breiten Schichten. Nur ging dieser Aufstieg
langsam und ungeregelt vor sich; Zufall und Gunstwesen, Freistellen
und Stipendien gaben den Ausschlag, welche Kinder der einfachen Kreise
in die höheren Schulen und damit in die oberen Schichten gerieten.
Die Umwälzung will nun grundsätzlich und endgültig die Bevorzugung
der älteren Familien beseitigen. Die Einheitsschule kommt und mit
ihr die allgemeine Zugänglichkeit aller Berufe für alle Geeigneten.
„Das rechte Kind in die rechte Schule, und der rechte Mann an die
rechte Stelle" — der „Rechte" bedeutet aber hier nicht der durch Ahnen-
kette, Geldbeutel oder Bildungshöhe Bevorzugte,» sondern der durch seine
individuelle Tüchtigkeit und Leistungsmöglichkeit Berufene. Das führt
zum ungehinderten Eintritt „junger" d. h. bisher kulturärmerer Familien
in diejenigen Berufsgruppen, die an der Führung der Volks- und Staats-
geschicke vorwiegend beteiligt sind.
Diese soziale Verjüngungs Wirkung wird sehr bedeutend sein. Die
neue Schulorganisation wird als geistige Schatzhebung wirken ; sie wird
Anlagen pflegen und ausbilden, die früher unbemerkt geblieben oder
jedenfalls nicht zur völligen Entfaltung gebracht worden waren ; frische,
unverbrauchte Energien werden neu dem Volkskörper und Volksgeist'
zugeführt werden. Und vor allem: geistige Fähigkeiten, die sich bisher
wegen der ihnen gesetzten Hemmungen tiur verneinend und auflösend
betätigen konnten, werden nun der positiven Mitarbeit an Staat und
Gesellschaft gewonnen. Natürlich wird auch dieser soziale Verschie-
bungsprozeß die uns bekannten Merkmale der „JugendHchkeit" auf-
weisen: in die positive Ausgestaltung des Lebens wird ein gewisser
Verjüngung 11
Radikalismus einziehen; so manclie feineren, unwägbaren Kulturwerte,
die dem geschichtlich Gewordenen und organisch Gewachsenen an-
hangen, werden bei den aus kulturärmeren Schichten stammenden
führenden Persönlichkeiten nicht auf das Verständnis und die Einfüh-
lung rechnen können, die man ihnen wünschen möchte.
Was aber wird aus den kulturälteren Schichten? Soll ihr Einfluß
künftig ganz ausgeschaltet werden? Keineswegs. Wie im Indivi-
duellen, so bedeutet auch im Sozialen die Verjüngung nicht
einfache Ausraerzung der Alterseinflüsse, sondern deren
Umgestaltung.
Das genealogische Alter an sich freilich, also der bloße Umstand, daß
eine Familie bisher schon zu den oberen Schichten gehört hatte, gibt
keine Anrechte mehr auf besondere Beschulung und Berufszulassung.
Für die öffentliche Schulpolitik dürfen nur noch die individuellen Fähig-
keiten des Geistes und Charakters, und die, auf Grund dieser Fähig-
keiten zu erwartende, künftige Tüchtigkeit zu wertvollen Leistungen
bestimmend sein. Alte Familienkultur kann hieran Anteil haben, sofern
sie sich als Fähigkeit und Tüchtigkeit in einzelnen Nachkommen be-
kundet. In doppelter Weise kann die Zugehörigkeit zu einer solchen
Familie die Befähigung des Kindes beeinflussen: von innen her durch
Vererbung wertvoller geistiger Eigenschaften — eben jener Eigen-
schaften, die früher der Familie den Aufstieg zur sozialen Höhe und
das Verbleiben auf ihr ermöglicht hatten — ; von außen her durch die
besondere geistige Atmosphäre des Elternhauses, die das Kind vom
ersten Lebensaugenblick an umgibt. Sind diese Bedingungen im Kinde
lebendig, so wird es den Wettbewerb mit den begabten Kindern aus
der Masse des Volkes gut bestehen und mit diesen hinaufsteigen zu
den Höhen der Bildung und der Berufsstellung ; und ich zweifle keinen
Augenblick daran, daß bei dieser rechtmäßigen, durch und durch demo-
kratischen Konkurrenz der verhältnismäßige Anteil der Kinder aus bis-
her kulturtragenden Familien ein beträchtlicher bleiben wird. Es sind
dann eben diejenigen „alten" Familien, die noch ,jugendhch" genug
sind, um die Altersschätze geistigen Erbgutes in junge frische Gegen-
wartskraft umzusetzen. Und es wird ein Glück sein für den Kultur-
fortschritt, daß dieses lebenskräftige Geisteserbgut, welches die Kon-
tinuität mit der Vergangenheit wahrt, das unhistorische Neuerungs-
streben der neu in die Kultur Eintretenden durchsetzt und abmildert.
Ja noch mehr; auch bereichert wird der Kulturfortschritt durch dieses
Nebeneinanderwirken von fähigen Individuen verschiedener Schichten ;
denn die Tüchtigkeit der Kinder älterer Famihen wird zum Teil auch
ein qualitativ anderes Gepräge tragen als die der neu Emporgestiegenen;
Züge, die diesen fehlen, werden dort mehr ausgeprägt sein und um-
gekehrt. Die künftige Auslese der Tüchtigen wird eine Beweglichkeit,
Feinfühligkeit und Vielseitigkeit besitzen müssen, die alle Arten der
Fähigkeit zu ihrem Rechte kommen läßt, nicht etwa nur die, die dieser
oder jener sozialen Schicht besonders eigen sind. Hier wird die Psycho-
logie der Begabungsauslese zugleich zu einer sozialpolitischen Ange-
legenheit von höchster Wichtigkeit werden.
Jene alten Familien freilich, bei denen das Alter sich nicht mehr in
12 William Stern, Verjüngung
gegenwärtige Tüchtigkeit umsetzt, gehen des Anspruchs verlustig, eine
besondere Rolle im öffentlichen Leben zu spielen; sie sind überaltert
und müssen der genealogischen Verjüngung Platz machen.
Politik, Schulwesen und Volksschichtung sind die Gebiete, auf
denen das Prinzip der Verjüngung schon jetzt seine Wirksamkeit zu
entfalten beginnt; sie sind aber nicht die einzigen Lebenssphären, die
ihm unterliegen. Vielmehr wird die Verjüngung mit der Notwendigkeit
eines historischen Grundgesetzes alle Daseinsformen unseres Volkes
durchsetzen; und es wäre die Aufgabe nicht eines einzigen Aufsatzes,
sondern einer ganzen Reihe von Betrachtungen, dieser Allseitigkeit des
Prinzips gerecht zu werden. Um nur noch einige besonders wichtige
Teilgebiete herauszugreifen, so seien genannt: die Verjüngung des
inneren Familienlebens, die Verjüngung des Hochschulwesens
und — was wir besonders nötig haben — eine Verjüngung und geistige
Wiedergeburt des nationalen Gedankens!
Und so darf wohl der eingangs aufgestellte Satz auf Zustimmung
rechnen, daß die Verjüngung für die kommende neue Lebensphase
unseres Volkes von gleicher Bedeutung ist, wie die Demokratisierung
und Sozialisierung. Sie bildet aber zugleich einen besonders starken
Hoffnungsanker in der Not der Zeit. Bleibt das Auge auf die Gegen-
wart und unmittelbare Zukunft geheftet, so blickt es in ein trostloses
Grau; und man könnte verzagen und verzweifeln — wenn nicht zu-
gleich das Streben nach Verjüngung uns in eine neue lichtere Zukunft
wiese. Vertrauen wir dem Instinkt der Jugend, die gerade jetzt, gerade
in der furchtbarsten Zeit der deutschen Geschichte, mit neuem Mut
und neuen Idealen einen neuen Weg beginnt; hoffen wir auf sie, und
hoffen wir mit ihr!
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter.
Vorgenommen in einem bayrischen Lehrerseminar.
Von Michael Kesselring.
L Über die Methode.
Die bisherige Ausfragemethode bei der Erforschung von Idealen der
Schüler wurde auch in dieser Untersuchung verwendet. In den ersten Unter-
suchungen wurde die Frage vorgelegt: „Wem möchtest du ähnlich werden?
Warum?" Später zeigte sich eine erw^eiterte Form, indem die Schüler kurz
auf die möglichen Quellen ihrer Ideale hingewiesen wurden und das kurze kalte
Warum? eine sprachliche Milderung erfuhr. So fragte Goddardl): „Welcher
Person unter denen, die du gesehen oder von denen du etwas gehört oder
gelesen hast, möchtest du am liebsten ähnlich sein? — Warum?" Diese
Formulierung legte auch Richter 2) seiner Befragung zugiunde, während
») Z. f. exper. Pädagogik, Bd. V, S. 156«. Goddard, Ideale der Kinder.
*) Z. f. pädag. Psychologie, Bd. XIII, S. 252 ff. Richter, Ideale von Volksschulkindem.
Michael Kesselring, Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 13
Reymert I*) mit geringer Umstellung dieselbe Aufgabe stellte und damit
auch für Elias -) die Frage festlegte. Für die norwegischen Lehrerschulen
wählte Reymert 11 3) die kürzere Aufgabe: „Welcher Person möchtest du am
liebsten ähnUch sein und warum?" Meist wurde die Frage an die Tafel
geschrieben, welche Maßnahme sich auch dringend empfiehlt, wenn verschie-
dene Experimentatoren die Befragung ausführen.
In der vorliegenden Untersuchung nahm nur ein Experimentator an bay-
rischen Seminaristen (Rheinpfalz) die Umfrage vor, entschloß sich für die
mündliche Vorgabe der Frage und griff zu folgender Form : „Sie haben wohl
schon viele Personen gesehen und kennen gelernt oder beobachtet. Von
anderen Persönlichkeiten haben Sie schon gelesen oder gehört. Welcher
Person unter diesen möchten Sie am liebsten ähnhch sein und w^arum?
Oder anders ausgedrückt: Welchem idealen Vorbild strebe ich nach und
warum wählte ich dieses?" Im mündhchen Verkehr wirkt diese Frage-
gestaltung erschöpfender und anregender. Von der allgemeinen Aufgabe
wird zu einem persönlichen Bekenntnis hinübergeführt. Allerdings liegt ein
Gedankensprung von der „Einzelperson" zum „idealen Vorbild" vor, der
aber durch Voruntersuchungen nahegelegt wurde, um solchen Schülern ge-
recht zu werden, die sich ein freies selbstgewähltes Idealbild geschaffen
haben. Im Laufe der verschiedenen Jahre konnte die Erfahrung gemacht
werden, daß die letzte allgemeine Fragestellung in der Ich-Form (besonders
bei schriftlicher Vorgabe) vollständig genügen dürfte. Bei Seminaristen der
letzten Klasse kann der Hinweis ^uf die Quellen der Ideale eine kritische
Stellungnahme hervorrufen und von der Aufgabe ablenken. So führte einer
kurz aus:
„Von jeder Person, die mir entgegentritt und die bewundernswerte
Charaktereigenschaften besitzt, wird mein Idealbild immer in irgendeiner
Weise ergänzt und vervollständigt. Es kommt mir vor, daß ich immer in
der Person, die mir gerade in der Gegenwart Achtung ihrer Charaktereigen-
schaften wegen abnötigt, mein Ideal sehe. Aber bald tritt diese Person
wieder in den Hintergrund und zwar stets dann, wenn ich unbewußt ihre
bes. Charaktereigenschaften auf mein Ideal übertrage, d. h. wenn ich von
der Erreichbarkeit einer derartigen Ausbildung überzeugt bin. Dieses Ideal-
bild hat nicht nm- geistige Seiten von Personen meines Umganges und der
Geschichte, sondern bezieht sich auch auf die körperliche Ausbildung, wie
Gang, Gesichtsausdruck ..." Ein anderer Seminarist schrieb: „Keine Person
ist mir bis jetzt entgegengetreten, die für mich hätte Ideal werden können.
Vielmehr hat meine Phantasie vollendet ausgebildete Charakterseiten solcher
Gestalten, die tiefere Eindrücke in meiner Seele hinterließen, zusammen-
gefügt zu einem Idealbild. Besonders Gestalten der Literatur lassen oft
einzelne Seiten des Vorbildes schärfer hervortreten. Doch sind bei mir
immer noch gewisse Schwankungen vorhanden . . ."
Die Frage nach negativen Idealen scheint uns nicht berechtigt zu
sein. Die positive oder negative Stellungnahme der Schüler zu den Unter-
' ) Z. f. pädag. Psychologie. Bd. XVII, S. 226 ff. Reymert, Zur Frage nach den Idealen
des Kindes (Rey. I).
^) Z. f. pädag. Psychologie, Bd. XVIII, S. 464 ff. Elias, Ideale jüdischer Kinder.
3) Z. f. pädag. Psychologie, Bd. XIX, S. 10 ff. Reymert, Über Persönlichkeitsideale im
höheren Jugendalter (Rey. II).
14 Michael Kesselring
richtsfächern erkunden zu wollen, ist ein zu rechtfertigendes Unternehmen.
Anders liegt die Sache bei der Frage nach idealen Vorbildern, wo entweder
eine positive Stellung oder überhaupt keine in Frage kommen kann, wenigstens
im Jünglingsalter. Auch sträubt sich die Überzeugung von dem Werte der
raodestia oder humanitas i. S. Spinozas dagegen: in der Erziehung müsse
man sich hüten, von den Lastern der Menschen zu erzählen und solle von
der menschlichen Schwäche nur wenig sprechen, jedoch ausführlich von der
menschlichen Tugend oder Stärke und dem Wege ihrer Erreichung. Leider
sind uns die Ergebnisse Goddards^ nicht zugänglich; aber es ist be-
zeichnend, daß Elias 2) das Ergebnis seiner Frage nach negativen Idealen
nicht mitteilt.
Als Ort, wo unsere Befragung ausgeführt wurde, kam nur die Schule in
Betracht. Nachdem kurz auf den Ernst der Unternehmung hingewiesen
worden war, dadurch daß von ähnlichen Umfragen, die im Dienste päda-
gogisch-psychologischer Forschung stehen, gesprochen wurde, begann sofort
die Bearbeitung der Aufgabe. Während für jüngere Schüler zur Bewahrung
der Unbefangenheit und zur Erzielung einer wirklich inneren, unreflektierten
Stellungnahme in der Form eines freien Aufsatzes die beste Einkleidung zu
erblicken ist, dürfte bei Sem. unser Verfahren gerechtfertigt sein, weil sie
dadurch zugleich zur Mitarbeit an der Lösung eines pädagogischen Problems
herangezogen werden, wozu sie durch den Psychologieunterricht des 1. Seminar-
Jahres teilweise befähigt sein können. Für die Sem. der letzten Klasse im
Alter von 19 — 20 Jahren kann sogar die häusliche Bearbeitung versucht werden.
Daß dieser Weg gangbar sein kann, beweisen die Versuche Kammeis 3)
mit Abiturienten einer Wiener Staatsoberrealschule über die Beliebtheit der
Unterrichtsfächer. In einer Besprechung mit Sem. der 2. Kl. im 4. Kriegs-
jahre nach Vornahme des Experiments trat der Wunsch nach Bearbeitung
zu Hause bei der Mehrheit hervor.
Nach der Stellung der Aufgabe müssen natürlich Erläuterungen oder
Beeinflussungen vollständig vermieden und etwaige Fragen nur mit dem
Hinweis beantwortet werden, daß jeder sich selbst folgen dürfe und müsse.
Den Versuchen des Besprechens oder gar Abschreibens brauchte bei den
Sem. kaum begegnet zu werden. Mit Eifer und ernstlichem Bemühen machte
sich die überwiegende Mehrzahl der Schüler an die Beantwortung, wenn
auch einige wenige erst nach zweifelndem Lächeln an die Niederschrift
gingen und mancher sich auch zweifellos ernster und tiefer gab als seinen
wirklichen seelischen Neigungen und Charakteranlagen entsprechen mag.
Im ganzen mußte der Ernst der Sem. wohltuend berühren, und der Ver-
fasser muß gestehen, daß er manche abgegebene Antwort mit innerer Er-
griffenheit gelesen hat. Auch Reymert^) verwirft jecie Erläuterung; aber es
ist doch bedenklich, wenn er nach der Fragestellung sofort beifügt, daß
Gott und" Jesus außer Betracht zu lassen seien, weil damit ein besonders
gearteter Gedankenablauf erzeugt wird: entweder andere Gestalten aus dem
religiösen Gebiet zu wählen oder sie ganz zu übersehen. Richter^) will die
Befragung auf Jugendliche von 14 — 17 Jahren (Fortbildungsschüler)
*) Goddard, Negation Ideals in Studies in Education, Vol. II, S. 392.
') a. a. O. 3) pharus IV, S. 297 ff.
*) Rey. II. a. a. 0. S. 11. '*) a. a. 0. S. 252.
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 16
nicht ausdehnen, weil „von Seiten der Lehrer der Ernst dieser Schüler bei
Beantwortung der Frage stark in Zweifel gezogen wurde". Dieser Auf-
fassung scheint sich auch Rey. 11. ^) anzuschließen. In der Form eines Auf-
satzes als Klassenarbeit läßt sich aber wohl Material, das der Verarbeitung
entgegengeführt werden kann, gewinnen. So machte die Beantwortung
unserer Frage durch Präparanden (14 — 17 Jahre) keine Bedenken gegen
den Ernst ihrer Auskünfte geltend, wie auch eine Befragung bei Fortbildungs-
schülern auf dem Lande und einer Mädchenfortbildungsklasse in einer Stadt
sich gut durchführen ließ.
Bezüglich des Zeitpunktes für die Vornahme des Experiments ist wohl
der Anfang einer Unterrichtsstunde der geeignetste. Wenn die erste Unter-
richtsstunde vermieden werden kann, so ist dies wegen der Bewußtseinslage
der Schüler am Tages- und Unterrichtsbeginn unbedingt zu tun. Mehr als
20 Minuten konnten wir für die Beantwortung nicht Zeit geben, was sich
auch in der 1. Klasse als ausreichend erwies; während in der 2. Klasse diese
Zeitspanne wiederholt zu knapp war, da manche Schüler erst nach reiflicher
Überlegung ihre Gedanken niederschrieben. Einfluß auf die Ergebnisse ge-
winnt natürlich auch das Datum des Versuchstages im Laufe des Schuljahres;
das letzte Drittel eines solchen dürfte ungefähr den richtigen Zeitpunkt um-
grenzen, da sich dann der Erfolg der Neuarbeit nach den Lehrplänen der
betr. Klassen geltend machen kann, ein Umstand, der besonders für die
1. Seminarklasse größere Bedeutung hat. (Bemerkt sei noch, daß zur Zeit
der Durchführung dieser Untersuchung das bajTische Lehrei-seminar noch
zwei Jahresklassen umfaßte (jetzt drei), denen drei Jahre Präparandenschule
vorausgehen. Das Lebensalter der Schüler bewegt sich zwischen I6V2 bis
20 Jahren. In anderem Zusammenhange — Untersuchung über die Beliebt-
heit der Schulfächer — ist der frühere und jetzige Lehrplan der bayrischen
Lehrerbildungsanstalten mitgeteilt-).
Alle bisherigen Untersuchungen wie auch diese erblicken eine wichtige
Voraussetzung zum Gelingen des Experiments in der unerwarteten, unvor-
bereiteten Befragung. Man glaubt dadurch um so echtere, unverfälschtere,
der Wahrheit entsprechende Ant\s^orten zu erhalten. Allerdings können da-
bei manche zeithch und örthch bedingten Umstände die Stellungnahme der
Schüler beeinflussen, denen der Bearbeiter solcher Umfragen bei der Ver-
öffentlichung immer einige Aufmerksamkeit schenken muß. (Siehe w. unten !)
In Kürze wollen wir die innere Berechtigung und Möglichkeit
der Idealforschungen etwas prüfen. Viele Sem. erklärten nach dem
Experiment, die Frage sei zu plötzlich an sie herangetreten, sie seien über-
rumpelt worden, manche zu verblüfft gewesen, so daß die Ergebnisse recht
zufälliger Natur sein müßten. Solche Gründe führen auch interessierte Er-
wachsene gegen unsere Versuche ins Feld, und selbst die betr. Experimen-
tatoren werden sich nicht dagegen verschließen können. Um so größer ist
die Überraschung, wenn bei Sichtung des Materials sich typische Ergebnisse
herausstellen, welche die Vorwürfe gegen diese Methode nicht nur mildern,
sondern ganz zum Schweigen bringen müssen. Wenn äußere ZufälMgkeiten,
Unüberlegtheit, Laune und Willkür bei der Beantwortung eine so große
») a. a. 0. S. 11.
*) Deutsche Psychologie Bd. I, S. 319.
16 Michael Kesselring
Rolle spielten, wie wären eindeutige klare Aufstellungen in den Einzelunter-
suchungen überhaupt möglich, und wie könnten sich weitgehende Überein-
stimmungen bei verschiedenen Schulen, Klassen, Beobachtern ergeben?
Bei psychologischer Vertiefung und Besinnung in den vorliegenden Frage-
komplex stoßen wir auf die elementare Gegebenheit der Wertgefühlsdis-
positionen für solche Bekenntnisse und Erkenntnisse. Die Wahl eines Ideals
im Momente des Versuchs geht zurück auf frühere Bekanntschaft und Be-
rührung mit einer idealen Person (einer konkreten oder abstrakten), wobei
das Erlebnis lebhaft betonte Gefühls- und Gemütsbewegungen ausgelöst
haben dürfte und zugleich eine Wertung in bezug auf das eigene Subjekt
und eine Festsetzung im Gedankenkreis des eigenen Ich erfolgte. Für eine
spätere Stellungnahme zu einem Ideal, zu einem Bekenntnis über ein Vor-
bild sind also immer Dispositionen vorhanden, die den Inhalt des Urteils
ergeben, der durch die Wertgefühle und das gegenständliche Interesse bedingt
ist. Nach einem Unterrichtsgespräch in der 2. Klasse im 2. Versuchsjahr
ergab sich auch etwa folgendes: Ideale sind oft nicht ganz klar im Bewußt-
sein, jedoch liegen der gefühlsmäßige Hintergrund und die Eigenschaften
derselben schon fest. Gewöhnlich sind Idealbilder von selbst in uns ge-
wachsen und brauchen nur klar ins Bewußtsein gerückt zu werden. Geradezu
unmöghch ist es, im Moment der Fragestellung und bei der beschränkten
Zeit ein Ideal sich plötzlich zu bilden oder zu schaffen. Wenn viele Züge
nicht in uns schon gegeben sind, kann auch keine Stellungnahme erfolgen.
Daß Ideale vom 18. Lebensjahre noch wesentlich wechseln könnten, wurde
vielfach bestritten. Wir waren schließlich überzeugt von der Berechtigung
unseres Experiments, ebenso von der Gewinnung objektiv richtiger Ergeb-
nisse unter Berücksichtigung der Ausschaltung mancher Fehlerquellen wie
besonderer Zustände, Anonymität. — Die Schüler betonten auch, daß die
Ideale oft besonders solche Züge enthalten, die dem betreffenden Jugend-
lichen mangeln und deren Besitz erstrebt wird. Einige hoben auch hervor,
daß genannte Persönlichkeiten z. B. aus Geschichte und Dichtung mehr als
Beispiel zu dem im Innern selbst geformten Ideal zu betrachten seien. Über-
haupt mußte uns auffallen, daß die Wahl von selbstgebildeten Idealen mit
einigem Stolz genannt wurde und die Mehrzahl es als höchste Stufe für die
möglichen Arten der Stellungnahme empfand, ein allgemeines, freies Menschen-
ideal sich gestaltet zu haben. Solche Vorbilder shid entweder in allgemeineren
Umrissen im Sinne eines Humanitätsideals gehalten oder ti'eten geschlossener
in der Form des Berufsideales auf; dabei tragen beide Formen den Charakter
eines „Strebe-Ideals" an sich. Unsere Untersuchung ist den Strebe-Idealen
noch nicht eingehend nachgegangen, doch sind die meisten von ihnen unter
der Klasse der Berufs- und der freien Ideale zu finden. Da einige der
Sem. innere Unzufriedenheit mit dem erwählten Beruf empfinden, stellten
sich auch ein paar reine Wunschideale ein, die sich nicht rubrizieren ließen.
Einige Schülerzeugnisse:
1. Wie Ideale in uns entstehen: „Ein direkt persönliches Ideal habe ich
nicht. Das Ideal, das mir vorschwebt, hat sich in mir unwillkürlich
(vom Sem. mehrfach unterstrichen) gebildet, d. h. aus allem bisher
Gelesenen, Gehörten und Geschehenen hat sich in mir das zum Ideale
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 17
festgesetzt, was mir am besten gefiel, mich am meisten anzog, so
Hauptzüge aus konkreten Persönlichkeiten wie Bismarck, Jesus,
Goethe." 19 J.
2. Belege für Strebe-Ideale:
a) „Ein persönliches Vorbild habe ich nicht. Aber ein Idealbild, dem
ich nachstrebe, schwebt mir deutlich vor. Ich möchte sittlich frei
werden, weil ich darin das Hauptziel des Lebens erbhcke. Im Ver-
gleich zu früheren Jahren kann ich wohl auch schon einen Fort-
schritt bemerken." 18^2 J.
b) „Der verstorbene Lehrer N. N., weil ein gerechter und ehrlicher
Mann, wegen seines sittlichen Ernstes, wegen seines unermüdlichen
Fleißes und seiner Ausdauer, wegen seiner unermüdüchen Geduld,
wegen der offenen Geradheit in seinem ganzen Wesen. Vielleicht könnte
ich mir ein noch besseres Ideal vor Augen stellen ; aber mir genügt
schon, wenn ich auch einmal so geehrt, geachfet, geliebt und ge-
schätzt werden könnte von Schülern, Lehrern und Fremden," 19 J.
c) (Aus dem vierten Kriegsjahre) : „Als mein Vorbild gelte die Person
Hindenburgs. Wie dieser durch seinen starken Willen und durch
seine Charakterstärke alles vollbringt, was er beginnt, so will
auch ich mich bemühen, meinen Willen zu stählen, um mein Ziel
als Lehrer zu erreichen.'' 17 "2 J.
d) (Strebe- und Berufsideal zugleich): „Der Lehrer N. N., weil er ein
solider, einfacher Mensch ist und daneben ein großes Wissen besaß.
Danach strebe ich auch am meisten : möglichst viel zu lernen. Neben
der Bildung eines guten Charakters ist mein einziges Trachten in den
Spuren dieses Herrn zu wandeln,'' 18 J.
Die Frage, ob der Jugendliche über Ideale verfügt, braucht wohl
keine längere Erörterung zu finden. Daß sie vorhanden sind, ist nicht nur
eine feste Tatsache für Dichter und Künder des Menschenherzens, sondern
auch für Durchschnitts-Erwachsene, die wohl über frühere phantastische
Ideale lächeln können, aber dabei doch irgendeinem innig gehegten
Ziele nachstreben, ja nachstreben müssen, wie es Ibsens „Wildente" er-
schütternd zeigt — ist noch mehr eine Selbstverständlichkeit für die befragten
Schüler, von denen nur einzelne trägere Naturen in sich keine Ideale ent-
decken können.
Alle bisherigen Untersuchungen gewannen ihr Material in den betreffenden
Orten, Schulgattungen und Klassen durch eine einmalige Erhebung. Des
Verfassers Bestreben war es nun, in verschiedenen Schuljahren die gleichen
Klassen zu befragen. In derselben Klassen- und Altersstufe unterzogen sich
also jeweils andere Vpn. der Untersuchung, so daß zunächst Einflüsse zu-
fälliger Art sich ausmerzen können, zugleich aber ein objektiveres Bild der
Stellungnahme der Schüler sich ergeben muß. Es war uns möglich, in der
1, Klasse das Experiment in drei aufeinanderfolgenden Jahren, in der 2. Klasse
in zwei folgenden Jahren vorzunehmen. Die praktische Erwägung, daß in
höheren Schulen die Klassenfrequenzen geringer sind imd die Menge der
gleichzeitig in einer Stadt oder Provinz zu erreichenden Stimmzettel gegen-
über Volksschulenqueten eine kleine bedeutet, nötigt zu einer mehrmaUgen
Durchführung des Experiments in jährlichen Abständen. Die Einbuße an
Zeitsclirill f. pädagog. Psychologie. 2
18 Michael Kesselring
Zuverlässigkeit der Ergebnisse aus dem Material von weniger Vpn. wird
durch den höheren objektiven Wert der Aussagen Jugendlicher aus mehreren
Jahren dann wieder wettgemacht.
Äußerst wertvoll wäre natürlich ein Einblick in die Entwickelung der
Vpn. von einer Klasse zur andern und den Wechsel in der Wahl der
Ideale, welchen Einblick wir uns leider schwer verschaffen können, da wir
an der Forderung unbedingter Anonymität festhalten. Nur wenn die
Schüler von der Wahrung der Anonymität vollständig überzeugt sind, geben
sie rückhaltlos Auskunft, obwohl sie auch dann noch eine gewisse Scheu
vor der Niederschrift zu überwinden haben. Manche schrecken zuerst zurück,
Bekenntnisse aus ihrem persönlichsten Innenleben dem Papier anzuvertrauen,
und gehen schließlich doch an die Beantwortung, weil sie diese ohne Namens-
nennung abgeben können, wozu allerdings noch das Vertrauen zum Experi-
mentator, daß kein Mißbrauch mit ihren Arbeiten getrieben werde, und die
Überzeugtheit, daß« die Bekenntnisse mit einer gewissen Achtung behandelt
werden, zu einer wahrhaften Antwort ergänzend hinzutreten müssen. Wenn
Rey. — in seiner 1. und wohl auch 2. Untersuchung — außer dem Alter
der Schüler noch den Vornamen und die Berufsstellung des Versorgers auf
die Zettel schreiben ließ, so ist damit nur eine teilweise Anonymität ver-
bürgt, und die Schüler werden nicht mit der gleichen Unbeengtheit wie im
anderen Falle an die Beanhvortung gehen.
Die Methode der Berechnung der Versuchsergebnisse ist immer in
gleicher Weise geübt worden : in Prozenten auf die Zahl der Vpn. So wurden
dann nach einem Schema die Werte in einer Tabelle über die gewählten
Persönlichkeiten und einer solchen über die Eigenschaften auf Grund der
Motivierung festgelegt und der Behandlung untergelegt. Bezüglich der Ver-
rechnung der Eigenschaften der Idealbilder kamen uns jedoch Bedenken
und wir stellten neben das bisherige Verfahren der Beziehung auf die Zahl
der Vpn. ein solches, bei dem die Verteilung der Charaktereigenschaften auf
die Gesamtzahl der Nennungen von Einzelzügen prozentual berechnet wurde.
Bei den Begründungen wurde nämlich selten nur eine Eigenschaft genannt,
welche zur Wahl eines Vorbildes führte. Besonders die freien Menschen-
ideale sowie die Berufsideale waren in viele Einzelzüge zerlegt, so daß die
'Heraushebung eines Hauptzuges nur schwierig und mit Willkür zu vollziehen
gewesen wäre. Da von unseren 435 Vpn. — 7,8 Proz. gaben keine Aus-
kunft — 775 Nennungen von Gründen vorliegen, stellten wir neben die
bisher aufgestellten Tabellen eine neue, wobei versucht wurde, beide Be-
rechnungsmethoden einander gegenüber zu stellen und für eine Entscheidung
über ihre Brauchbarkeit den Grund zu legen.
n. Die gewählten Vorbilder.
Um über den Inhalt der Ideale eine Übersicht zu gewinnen, schlug
Goddard eine Gruppierung vor, welche die späteren deutschen und
nordischen Untersuchungen beibehielten, vorzüglich wohl aus dem Grund,
die Ergebnisse leichter in Vergleich bringen zu können. Doch hat jene
Tabelle auch ihre innere Berechtigung, indem den Persönlichkeitsidealen aus
dem persönlichen Bekannten- und Umgangskreis solche aus dem breiteren
öffentlichen Leben gegenübergestellt werden, wozu dann noch die Gruppen
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 19
von Gestalten aus dem Gebiete der Religion und aus dem Bereiche der
Dichtung und Sage treten. So ergeben sich vier Hauptgruppen für Persön-
lichkeitsideale, welche \e nach der Schulart, dem Entwickelungsstandpunkt
und Lebensalter der Vpn. verschiedene Unterabteilungen notwendig machen.
Nach der ersten Sichtung des Materials aus unseren Versuchen stellte sich
die Notwendigkeit einer fünften Gruppe heraus, welche neben die Persön-
lichkeitsideale als ein allgemeingestaltetes Idealbild, als allgemeines Menschen-
vorbild oder als „freies Ideal" tritt.
Die Gruppen des Bekanntenideals und der öffentlichen Persönlichkeiten
verlangten zunächst wohl die Zweiteilung in Lebende und Tote, welche
Grenzen jedoch schwer zu ziehen sind, besonders hinsichtlich der Bekannten-
ideale. Bei dieser Gruppe mußten wir auf Grund unserer Antworten folgende
Klassifikation eintreten lassen: Eltern — Verv^^andte — Bekannte — Lehrer
— Freunde (Mitschüler). Bezüglich der öffentlichen Personen ließe sich
leichter eine Teilung in große, ungekannte, verstorbene und bedeutende, un-
gekannte, lebende Persönlichkeiten durchführen. Zur ersten Abteilung ge-
hörten dann die großen Gestalten der Religionsgeschichte, der historisch-
pohtischen und der Kulturgeschichte (Dichter, Künstler, Philosophen, Päda-
gogen), zur zweiten markante Persönhchkeiten unserer Zeitepoche, die den
Jugendlichen im Gemeindeverband (Land oder Stadt), in Provinz und Kreis,
im engeren und weiteren Vaterland, aus dem internationalen Leben ent-
gegentreten, aus Gesprächen, Berichten, Zeitungen und Zeitschriften bekannt
werden, wie Fürsten, Forscher, Techniker, Erfinder, Dichter, Musiker. Aber
auch diese Scheidung Ueß sich vorerst nicht reinlich genug durchführen; in
unserm Schema sind für lebende Persönlichkeiten nur die Rubriken ^Fürsten"
und „Techniker'* vorgesehen. In unserer Untersuchimg zerlegte sich die
Gruppe der „öffentHchen Personen" folgendermaßen: Geschichte (eigenes
und fremdes Land) — Dichter (eigene und fremde) — Fürsten — Philo-
sophen — Künstler — Wissenschaft und Forschung — Technik — Erziehung
(Pädagogen), Die bei uns als neu notwendig gewordene Gruppe der „freien
Ideale" erfuhr noch keine genauere Klassifizierung, da noch ähnhche Experi-
mente im höheren Jugendalter erwartet werden sollen. Bis jetzt schälten
sich heraus als Untergruppen: allgemein-sitthches Menschentum — Berufs-
ideal — Wunschideal. Während bei den Bekanntenidealen subjektive Ent-
scheidungen die Wahl beeinflussen, greift bei den öffentHchen Charakteren
eine objektiv-gültige Wertung ein; bei den selbstgestalteten Vorbildern
vereinigen sich für die Stellungnahme objektive und subjektive Wert-
schätzungen.
Bevor wir die Tabelle der idealen Vorbilder der Seminaristen bringen, sei
eine Übersicht über den Versuch mit Präparanden gegeben, ausgeführt
an 45 Vpn. einer Präparandenschule in einem fränkischen Mainstädtchen. Die
Begründung des Urteils war leider nicht verlangt worden.
Besonders auffallen muß die hohe Zahl an Idealen aus öffentlichen Per-
sonen, welche diese 14— 16 jährigen wählen. Von 41 Nennungen fallen nur
zwei auf Dichtung und Sage (Zriny, Teil), gar keine auf das rehgiöse Ge-
biet und auch aus dem Bekanntenkreis ergibt sich nur ein Vorbild. Gegen-
über den Volksschulergebnissen im allgemeinen ist die geringe Wahl von
Bekanntenidealen ganz überraschend, obwohl eine absteigende Tendenz
derselben sich schon aussprach.
20 Michael Kesselring
Von den 37 öffentlichen Persönlichkeiten entfallen 7 Vorbilder auf den
Künstlerkreis, besonders in der 3. Klasse, die wohl mehr nach inneren auf-
tauchenden Neigungen wählt. Genannt wurde dabei Mozart 3 mal, Beethoven
1 mal, Dürer 1 mal, je 1 Sänger und Violinkünstler. Von den Dichtern
finden sich Körner 5 mal, Schiller 3 mal, Goethe, Lessing, Hauff je 1 mal.
Pestalozzi soll 2 mal Idealbild sein, Zeppehn 3 mal, France 1 mal. Unter
den geschichtlichen Persönhchkeiten erfahren Bismarck und Blücher die
häufigste Nennung (je 4 mal), Schill 2 mal, Armin, Scharnhorst, Jahn je 1 mal.
Frauen sind nie als Ideal genannt. (Vergl. Tab. S. 22.)
Wenn auch unser Versuchsmaterial für diese Stufe ein ganz geringes ist,
so können wir einen vergleichenden Blick auf die Ergebnisse bei 14 jährigen
Volksschülern nicht unterlassen. Bei Goddard i) haben sich 64 Knaben (Kn.)
geäußert; wenn auch keine genauen Zahlenangaben zu entnehmen sind, so
läßt sich ersehen, daß öffenthche Persönlichkeiten die Bekanntenideale über-
wiegen. Bei den 254 befragten Kn. dieser Altersstufe in Richters"^) Unter-
suchungen finden sich als Prozentsätze für Bekannte 8, für öffentliche
Personen 61, aus der Dichtung 8, aus dem religiösen Gebiet 13. Bei Rey. l.^)
nannten von 197 Kn. 37 Bekannte, 120 öffentliche Personen, 8 dichterische
Gestalten, 13 religiöse. Bei aller Vorsicht, keine voreiligen Folgerungen zu
ziehen, scheint es uns doch der Feststellung wert, daß bei den Jugendlichen
von 14 — 16 Jahren Bekanntenideale in auffallend geringer Zahl auftreten.
Indem wir uns nun unserer Untersuchung der Ideale der Seminaristen
zuwenden, fassen wir zuerst Tab. I (S. 23) über die gewählten Vorbilder ins Auge.
Für die Methodik der Idealforschungen interessiert wohl in erster Linie,
ob die Befragungen in den verschiedenen Jahren wesentlich andere Ergeb-
nisse zeitigten. Bei dem geringen Umfang des Materials können natürlich
Folgerungen nur mit allem Vorbehalt gezogen werden. Bei der 1. Klasse
ergibt sich, daß in den Hauptgruppen ungefähr dasselbe Nennungsverhältnis
sich findet und sich nirgends ein stärkerer Ausfall geltend macht. Wesent-
lich dasselbe Bild in den drei Versuchsjahren zeigt sich hinsichtlich der
Vater-Ideale, Dichter des eigenen Landes, Männer aus Wissenschaft und
Forschung, religiösen Gestalten. Ein mehr wechselndes Bild tritt uns ent-
gegen bei der Wahl von Lehreridealen, da in den einander folgenden Jahren
stets weniger Vorbilder dieser Gruppe genannt werden, was auch von der
Wahl historisch-politischer Persönlichkeiten gilt. Aus der Künstlergruppe
bringt besonders das dritte Jahr mehr Vorbilder, während es gegenüber der
Fürstengruppe im ersten und zweiten Jahr keine Nennung aufweist. Ge-
stalten aus Dichtung und Sage traten besonders im ersten Jahr mehr hervor.
Freie Ideale sind vom ersten zum zweiten Jahr gewachsen und blieben
letzteren im dritten Jahr an Zahl gleich.
Bei Betrachtung des verschiedenen Jahresbildes der 2. Klasse empfindet
man es zunächst als Mangel, daß aus einem dritten Jahre keine Ergebnisse
vorliegen. Die Stellungnahme innerhalb der Hauptgruppen ist jedoch auch
hier im wesentlichen die gleiche. Übereinstimmend ist die Wahl bei den
Bekanntenidealen, besonders hinsichtUch des Lehrervorbildes. Außerdem
sind Künstler, historische Persönlichkeiten, Erzieher, religiöse Gestalten in
beiden Jahren in gleicher Weise zu Vorbildern genommen. Auffallende
1) a. a. 0. S. 160. ») a. a. O. S. 255. ») a. a. O, S. 231.
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 21
Verschiebungen als idealspendender Quellen drängen sich bei den Gruppen
der Dichter und der freien Ideale hervor.
Es läßt sich also nicht verkennen, daß zur Gewinnung typischer Bilder
über die Wahl von Idealen innerhalb von Alters- und Klassenstufen die ein-
malige Befragung nicht ausreicht. Aus manchen Gruppen können manchmal
keine Vorbilder entnommen sein, z. B. Verwandte, Philosophen, Fürsten,
Erfinder, während in einem anderen Jahre um die Hälfte und mehr Ideale
aus einer Gruppe gewählt sein können, wie in der 1. Klasse bei den Rubriken
Lehrer, Dichtung und Sage, freie Ideale und in der 2. Klasse bei Dichtern,
Dichtung und Sage, freie Ideale. Die Schülerindi viduaM täten , welche die
Klassen jeweils zusammensetzen, können andere Gruppenverhältnisse hervor-
rufen, der Unterrichtsstoff kann verschieden weit gefördert und von Einfluß
geworden sein '), im Lehrkörper ist ein beeinflussender Wechsel von Lehrern
möglich, und endlich können besondere Zeitereignisse nachdrücklich auf be-
deutende Persönlichkeiten hinlenken. So müssen wir in letzterer Beziehung
darauf hinweisen, daß die neun Nennungen der Abt. „Fürsten" in der
1. Klasse auf den damals noch lebenden in Bayern hochverehrten, allgemein
geliebten, ehrwürdigen Prinzregenten Luitpold fielen, dessen 90 jähriger Ge-
burtstag in größerem Rahmen gefeiert wurde. In die Herzen der Mittelschüler
grub sich sein Andenken damals besonders tief durch die Schaffung eines
allgemeinen Turn- und Spielfestes, mit dem Wettkämpfe unter den Mittel-
und höheren Schulen verbunden waren. Auch das Jahrhundertgedenken der
deutschen Befreiungskriege führt auf manches ideale Vorbild hin.
Allgemein zeigt sich also, daß eine einmalige Befragung nicht genügt,
um die charakteristische Stellungnahme von Schülergruppen zu erkunden,
daß aber schon eine einmalige Erhebung in den Hauptzügeu typische Er-
gebnisse der besonderen Stufen und Gruppen festzuhalten vermag.
Nun wollen wir uns eine Gesamtübersicht über die Wahl der Vorbilder
in den Hauptgruppen von den beiden Seminarklassen verschaffen, wobei die
Werte gleich in Prozenten festgehalten sind. (S. die Tab. auf S. 22 u. 23.)
(Im 4. Kriegsjahr wiu-den von 27 Vpn. der 1. Klasse 11 Bekannten-Ideale,
7 öffentHche Personen, 9 freie Ideale, keine aus Religion oder Dichtung
gewählt — von 21 Vpn. der 2. Klasse 4 Bekannten-Ideale, 4 öffentUche Per-
sonen, 13 freie Ideale, 2 religiöse Ideale, keine aus Dichtung.)
Bei der immerhin kleinen Zahl unserer, Vpn. lassen sich nach den geringen
Zahlendifferenzen keine auffallenden Unterschiede zwischen den gewählten
Vorbildern bei der 1. und 2 Klasse feststellen, und es erweckt fast den An-
schein, daß für die 17 — 19 jährigen die Altersdifferenzen sich nicht besonders
geltend machen, was sich fast auch auf die Klassendifferenzen ausdehnen
ließe. Doch dürfte dies Ergebnis nur hinsichtlich der Hauptgruppen gelten ;
denn nach Tab. I zeigen sich beim Aufstieg zur 2. Klasse Vorbilder aus den
historisch-politischen Persönlichkeiten (18,4 — 9,4) in viel geringerem Grade,
während Ideale nach großen Erziehern (0,4—6,1) und freie Ideale (22,0—24,4)
mehr gewählt wurden. (Im 4. Kriegsjahre ergab sich bei der 2. Kl. die
doppelte Zahl von freien Idealen.) Das allgemeine Berufs- und Menschen-
ideal ist aber bei der 2. Klasse deutlich mehr vertreten als bei der 1. lOasse:
*) Der Versuch des 1. Jahres wurde im Januar, der des 2. und 3. im Mai ausgeführt.
22
Michael Kesselring
nehmen wir die Gruppen: Lehrer, Erzieher, freie Ideale zusammen, so er-
gibt sich ein Verhältnis von 33 : 38 O/o.
Vorbilder der Präparanden.
Klassen
I
II
III
Zu-
sammen
Zahl der Vpn
Keine Antwort
11
15 .
1
19
3
45
4
I. Bekanntenkreis:
Eltern
Verwandte
Bekannte
Lehrer
~
1
—
— 1 ^
1
n. Öffentliche Personen:
Geschichtliche Personen .
Dichter
Künstler
Wissenschaftler ....
Erfinder
Erzieher
5
4
1
1
5
3
2
1
3
4
4
1
1
2
13
11
7
1
3
2
[ 37
III. Religiöse Gestalten . . .
—
—
~
—
--
IV. Dichtung und Sage . .
—
1
1
2
2
V. Freie Ideale
—
— 1
1
■ i
1
Wenden wir uns nun den Ergebnissen über den Inhalt der Ideale unserer
Seminaristen zu, indem wir die Gruppe ins Auge fassen
1. Bekannte als Vorbilder.
Solche zeigen sich in der 1. Klasse mit 17,3 O/o, in der 2. Klasse mit 20,0 o/o,
insgesamt mit 18,4 O/'o vertreten. Gegenüber Rey. II (Vergleiche mit dieser
Untersuchung werden, wie auch mit allen übrigen, nur mit dem Zahlen-
material der männlichen Vpn. angestellt), bei dem im höheren Jugend-
alter nur Werte zwischen 4 — 8^/0, insgesamt 50/o Bekannten-Ideale sich er-
geben, zeigt sich bei unseren Sem. eine wesentlich höhere Zahl dieser
Ideale. Für die Kurve des Bekannten-Ideals in den verschiedenen Lebens-
jahren, das bei Rey. 11^) aufgestellt ist, bedeutet unser Ergebnis für die
männliche Jugend eine wertvolle Ergänzung. Bis zum 14. Lebensjahre zeigt
sich nämlich bei allen Experimenten eine starke Abnahme dieser Ideale, so
bei Rey. (für männliche und weibliche Vpn.) von 76 o/o bis 18 o/o (20 jährige)
und 240/0 (25 jährige), beiGodd. 2) sowohl in Preußen, New-Yersey, London,
») a. a. 0. S. 17.
-) a. a. 0. S. 161
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter
23
Tab. 1.
Tabelle der gewählten Vorbilder.
Klassen
IL Sem.-
Klasse
L u. IL
Klasse
Versuchsjahre
1.
2.
3.
£^
«3 CS
•/o
1.
1
2.
^ ü
l|
"/o
G
c
<
«/o
•/o
I. Bekanntenkreis:
Vater
Mutter
Verwandte
Bekannte
Lehrer
Mitschüler
2
1
2
14
2
2
1
9
2
1
1
5
2
6
1
2
3
28
4
2,3
0,4
0,8
1^
11,0
1.6
1
2
1
13
1
2
2
13
1
3
2
3
26
2
1,7
1,1
1.7
14,4
1,1
9
1
4
6
54
6
2,1
0.2
0,9
1.4
12,4
1,4
18,4
IL Öffentliche Personen:
Geschichte, eigenes Land
„ fremdes
Dichter, eigenes Land
„ fremdes „
Fürsten
Philosophen
Künstler
Wissenschaft u. Forschung
Technik
Erziehung
20
2
8
4
3
2
1
15
1
12
5
1
1
1
12
12
6
2
47
3
32
9
3
5
1
1
18,4
12,5
3,5
1^
2,7
2,0
0,4
0,4
9
2
16
1
2
7
8
7
1
2
2
3
4
4
17
2
23
2
2
2
5
4
11
9.4
1,1
12,7
1,1
1,1
1,1
2,8
2,2
6,1
64
5
55
2
11
5
12
9
1
12
14.7
1,1
12,7
0.4
2,6
1,1
2,7
2,1
0.2
2,7
40.3
in. Religiöse Gestalten:
Jesus '
Biblische Personen . . .
1
1
1
2
1
0,8
0,4
1
i
1
2
1,1
4
1
0,8
0,2
}.,o
IV. Dichtung und Sage
12
5
5
22 8,6
11
7
18
10,0
40
9,2
9,2
V^. Freie Ideale
12
22
22
56 22,0
15
1
29
44
24,4
100
23,0
23,0
Keine Antwort
7
5
10
221 8,6 7
'
12
6,7
34
7,8
7.8
Gesamtzahl der Schüler
92
82
81
255
—
89
91
180
—
t35
1
—
Kleissifizierung
KlEissen
Gesamt-
1 ! 2
werte
I. Bekannte
17,3« j 20,0
18,4
IL Öffentliche Personen . .
42,3
37,6
40,3
III. Aus der Dichtung . . .
8,6
10,0
9,2
IV. Religion
1.2
1,1
1.0
V. Freie Ideale
22,0
24,4
23,0
VI. Keine Antwort ....
8,6
6,7
7,8
24 Michael Kesselring
Minnesota, New Castle abnehmend von 66^/0 bis zu 36 O/o bzw. 6 0/0 als
niedrigstem, beiRi. i) von 50 0/0 (9 — löjährige) sinkend bis 13 0/0 (14jährige).
Für das 14. — 16. Lebensjahr liegt noch keine ausreichende Untersuchung
vor außer unserem geringwertigen Anhaltspunkt der Befragung der Präp.,
wobei von 45 Vpn. nur 1 Bekannten-Ideal genannt wurde, und zwei kleinere
Umfragen vom Verf. in einer Mädchenfortbildungsklasse, wo 23 Vpn. kein
Bekannten-Ideal brachten, und einer ländlichen Fortbildungsschule, w^o bei
beiden Geschlechtern (zusammen 34 Vpn.) auch kein Bekannten-Ideal her-
vortrat. Dies legt uns die Vermutung nahe, daß die Kurve des Bekannten-
ideals vom 11. Lebensjahre fallende Tendenz zeigt, zwischen dem 14. bis
16. Jahre ihren Tiefstand erreicht und dann wieder schv/ach aufsteigende
Richtung gewinnt.
a) Eltern -Ideale. Als Vorbild erfolgt die Wahl der Eltern anderen Gruppen
gegenüber seltener. Von den 10 Fällen, wo von 435 Vpn. direkt Eltern als Vorbild
genannt sind, wird der Vater 9 mal, die Mutter 1 mal genannt. Bei den
selbstgeschaffenen Idealen spielt allerdings das Vatervorbild in bestimmten
Einzelzügen mit herein, welcher Einfluß jedoch in der Personentabelle zahlen-
mäßig nicht weiter zum Ausdruck kommt. Bei Rey. II finden wir Eltern-
ideale nur in 2 O/o der Fälle bei den männlichen Vpn. (bei weiblichen da-
gegen 140/0), so daß die nordische und unsere deutsche Untersuchung bezüglich
des idealbildenden Einflusses der Eltern übereinstimmende Ergebnisse zeigen :
dort 20/0 und hier 2,3 O/o. Für Rey.s II Vermutung 2), daß der Einfluß
früherer Generationen, wie Großvater und Großmutter für die Wahl besonders
auffallen, bieten sich bei uns keine Belege; denn auch die Verwandtenvor-
bilder beziehen sich auf Vetter und Onkel. Schülerzeugnisse, die das Vater-
vorbild begründen, muß man wiederholt mit wärmerer Anteilnahme lesen,
wenn die Liebe und die Achtung des Sohnes hervorleuchten. So deutet ein
Schüler an:
„Durch Fleiß schuf er sich eine gute Existenz; innige Liebe und
Fürsorge für uns alle"; und ein anderer berichtet: „. . . durch unermüdliches
Schaffen zu etwas gebracht. Gegen die Seinen zeigt er Liebe; noch nie
vernahm ich ein böses Wort aus seinem Munde. Seine Kinder macht er,
obwohl ich ihm selbst schon manchen Kummer bereitet habe, wenig Vor-
würfe; er verzeiht. Mit echt väterlicher Sorge überwachte er unsere Jugend,
ist besorgt für unser Wohlergehen. Er tut alles für andere, für sich nichts!
Man schätzt ihn in der Gesellschaft und oft kommen Leute zu ihm und ver-
trauen ihm ihr Leid und erbitten Rat."
b) Mitschüler und Freunde als Vorbilder. Als Quelle für Ideale
kommen solche Bekannte wenig in Betracht, in der 1. Klasse 1,6 O/o, in der
2. nur 1,1 0/0. Auch bei Rey. II finden sich nur 2 0/0 Bekanntenideale,
worunter also die Mitschüler sich befinden müßten. Mit echten Busen-
freundschaften, die zur Nachahmung des Freundes führen, ist also bei den
männlichen Jugendlichen kaum zu rechnen. Für weibliche Vpn. ergab sich
bei Rey. 11^) die hohe Zahl von 15 0/0 für den idealbildenden Wert dieser
Gruppe, welcher Umstand für die Mädchenerziehung Beachtung verlangt und
auf Kultivieren solcher Beziehungen hindeuten mag.
In den Begründungen für solche Ideale finden sich folgende Eigenschaften
a. a. O. S, 257. *) a. a. 0. S. 18. ^) a. a. 0. S. 18.
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 25
herausgehoben: An Wollen und Körper ein starker Mensch; wenn er spricht,
hat es Gehalt; nicht eitel, immer einfach und sauber; viel Freude an der
Natur — sein Eifer überträgt sich auf mich; wird erst beruhigt, wenn ich
den gleichen Standpunkt habe und auf der Höhe bin — Mensch, der nach
einer idealen Anschauung lebt und in der Erinnerung der meisten Schüler
gerne behalten wird — keine Gebundenheit an den Stoff und viele Freiheit;
aber doch geht ihm PfhchterfüUung vor und ein fester Charakter lebt
in ihm.
c) Lehrer als Vorbilder. Gegenüber Rey. II, wo nur 1 o/o Knaben und
2,5 o/o Mädchen Lehrerideale auftraten, zeigt sich bei uns ein wesentlich höherer
Prozentsatz, für die 1. Klasse 11,0 o o, für die 2. 14,4 O'o. Verf. hätte den ideal-
bildenden Einfluß der Lehrerpersönlichkeiten nicht so hoch zu veransclilagen
gewagt. Doch schon bei seinen Untersuchungen über die Beliebtheit der Unter-
richtsfächer 1) fiel es auf, daß besonders für die Unbeliebtheit die Lehrerper-
sönlichkeit von ziemlichem Rückschlag sein kann. Diesmal zeigt sich nun
der Einfluß in positivem Sinne als ein erfreulicher, zumal die letzte Klasse
mehr Lehrervorbilder als die 1. Klasse aufweist. Bei dem Kontrollversuch
in einem Kriegs] ahr ergaben sich in der 1. Klasse bei 27 Vpn. 6 Lehrer-
ideale, in der 2. lüasse von 21 Vpn. 3. Eine kleine Steigerung hätte
unsere Gesamtzahl noch erfahren, wenn auch die verschiedenen Lehrer, die
neben anderen Persönlichkeiten Züge zum freien Ideal liehen, hierzu rubri-
ziert wärer.. Jedenfalls bilden die Lehrer oft den Typus für das eigene
Berufsideal, das sich die Sem. schaffen, öder bilden den konkreten Ausgangs-
punkt für das im Gemüt verankerte Lehrerideal. Sachlich gerichtete Lehrer-
gestalten mit überragender intellektueller oder künstlerischer Autorität ge-
winnen meist den stärksten Einfluß auf die Schülerseele, am meisten eine
geschlossene Persönlichkeit mit „körperlich-geistig-sitthcher Harmonie". In
dem geschlossenen Anstaltscharakter unserer Lehrerbildungsanstalten mit
teilweisem In'ernatsbetrieb scheint uns ein Hauptfaktor vorzuliegen für die
häufigere Wahl von den gegenwärtigen Lehrern, weil hier zwischen Lehrern
und Schülern mehr persönhche Berührungspunkte gegeben sind und ein
Geist der Arbeitsgemeinschaft leichter herrschend wird und erziehhche Be-
deutung gewinnen kann.
Von den 54 Nennungen der Lehrerideale entfallen 23 auf frühere und
31 auf Anstaltslehrer. Unter den früheren Leiu-ern gewannen bleibenden
Einfluß in 2 Fällen der 1. Lehrer der Knabenzeit, 20 mal sonstige VoUcs-
schullehrer, 1 mal ein Rektor einer höheren Schule; von den damaligen
Anstaltslehrern wurden 7 ohne Namen angegeben, 24 namentlich aufge-
zeichnet, darunter eine Lehrkraft allein 13 mal. Hinsichtlich früherer Lehrer-
persönlichkeiten möge in StlchworLen folgendes aus den Charakterisierungen
herausgehoben sein:
Strafe und Lob so, daß jeder wußte warum; gleichmäßige gerechte Behand-
lung — Lebensfreude und Humor — Gerechtigkeit und Liebe, verabscheute
Anzeigerei — sicheres Auftreten, unnachsichtige Strenge, gerechtes Wesen,
pädagogische Fertigkeit — lebhafter Unterricht; man mußte Freude am Lernen
gewinnen — Willenskraft, Abstinenzler — freundlicher, offener Charakter;
fesselt durch seinen Umgang: weiß über alles Auskunft zu geben; bewandert
•) Deutsche Psychologie Bd. I und D.
26 Michael Kesselring
in Musik und Kunstgeschichte ; betrachtet alles tief von der religiösen Seite —
alter Lehrer, schon 60 Jahre im Dienst; alle seine Schüler hängen mit Liebe
an ihm — tüchtiger strebensvoller Mann und auf das Wohl der Schule bedacht —
Klarheit der Unterrichtsweise, Pfhcht- und Rechtsgefühl — erfahren, freund-
lich, gerecht, beliebt — tüchtig im Beruf, unabhängig, politisch tätig — tiefer
Eindruck aller seiner Worte und auch schon seiner Erscheinung; denn sein
Grundsatz: Je weniger man genießt, desto unabhängiger wird man. —
Warum Ideale aus dem Lehrkörper der Schule gewählt werden, mögen
folgende Zeugnisse kundtun:
FreundHchkeit, umfangreiches Wissen, Selbständigkeit — gerecht, beliebt,
zu Scherz aufgelegt; gewandt im Unterricht — harmonischer Mensch —
höflich und fleißig; große Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe — gibt klaren,
leichtverständlichen Unterricht; hält zu gründlichem Studium an; Benehmen
gegeu die Schüler — musikalische Begabung und großes Wissen; Liebe und
Güte zu Schülern — (Religionslehrer): riesige Geschichtskenntnis, nicht nur
in Religion; sein Wissen auf allen Gebieten muß man anstaunen; prahlt nicht
mit seinem Wissen; bei den Schülern großer Respekt und keiner wagt un-
vorbereitet zu kommen (!).
Die Begründungen, warum die eine Lehrerpersönlichkeit so oft genannt
wurde, lesen sich zusammen wie ein ehrender, unbewußt gegebener Nachruf
auf den leider durch Kriegsstrapazen viel zu früh Vollendeten: anziehendes
Wesen, praktische Gelehrsamkeit — feiner Unterricht, der vom früheren
so gut absticht — gute Methode, ausgezeichnete Schülerkenntnis —
Theorie und Praxis stimmen überein; schlägt nicht den Schulton an — be-
handelt alles vernünftig; gewährt Freiheit in Denken und Vortrag — Kinder-
freund, richtige Schülerbehandlung, gute Lehrmethode — kann etwas aus
einem machen — unser Freund und Führer; gerechter Lehrer; große Auto-
rität — kennt seine Schüler, ist offen und ehrhch gegen alle; großes Wissen;
treibt Sport; kann sich auch mit dem Geringsten unterhalten — intensive
Beschäftigung mit seiner Wissenschaft; Körperpflege, humanes Wesen — ist
eben das Ideal eines Erziehers und Lehrers.
Interessieren wird schließlich noch der Hinweis, daß besonders Lehrer,
welche in künstlerischen Fertigkeiten (hier besonders Musik) unterrichten,
mehr persönlichen Einfluß besitzen können als Lehrkräfte anderer Sparten.
2. öffentUche Persönlichkeiten.
Aus dieser Gruppe wählen unsere Sem. 40 o/o ihrer Vorbilder, gegenüber
18 0/0 Bekannten-Idealen. Der idealbildende Einfluß öffentlicher Persönlich-
keiten dürfte danach bei den Jugendlichen ein weit größerer sein als der
von Personen des direkten Bekanntenkreises.
Es reizt natüriich wieder, die Ergebnisse von Rey. II mit den unsrlgen
in Parallele zu setzen. Doch ist dabei nicht ohne weiteres das Zahlen-
material zu vergleichen, da Rey. II in der Personentabelle bei der prozentualen
Berechnung nur die Anzahl der Beantwortungen in Betracht zog und die
Gruppe der Nichtbeantwortungen wegfallen ließ, ein Verfahren, das sich
rechtfertigen läßt. Für unsere;;Untersuchung stellen sich dann für Vergleiche
folgende Prozentwerte heraus-" I. Bekannte = 20 O/o, II. öffentliche Persön-
lichkeiten = 440/0, m. Religiöse Gestalten = iV^^^/o, IV. Dichtung = 10 0/0,
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 27
V. Freie Ideale = 25 o/o. Nun ergibt sich bei Rey. II ein Verhältnis von
95 o/o öffentlichen Personen gegenüber 5 ^ o Bekannten, wogegen sich bei
uns nur ein Verhältnis von 44 0;o zu 200,0 erblicken läßt. Rey. 11 hat jedoch
unter der Gruppe „Öffentliche Personen sonstiger Art" auch die Ideale nach
rehgiösen Gestalten und aus der Dichtung hinzugenommen, so daß sich für
uns ein Wert von 55 O'o für die „öffentlichen Persönlichkeiten" herausstellt,
der sich noch vergrößert bei Einbeziehung unserer freien Ideale auf 80 0/c.
Da sich die freien Ideale im Anschluß an Persönlichkeiten aus der Geschichte,
der Dichtung, der Religion und großen Männer der verschiedensten Kultur-
gebiete (allerdings auch Bekannten) zusammensetzen, können wir sie auch
in die Hauptgruppe der öffentMchen Personen mit einigem Rechte einstellen.
Sonach wäre das Verhältnis der idealbildenden Wirkung von Bekannten zu
öffenthchen Personen wie 1 : 4 (bei unseren Vpn. in jenen Jahren unter
den damaligen Umständen), während sich bei Rey. das von 1 : 19 gegen-
überstellt. Bei Betrachtung der Bekannten-Ideale wurde der das Verhältnis
verschiebende Faktor der Lehrerideale schon erkannt.
Bei den Volksschulknaben, welche Goddard untersuchte, stehen sich
hinsichtUch der Ideale von Bekannten und öffentlichen Personen 47 O/o und
350/0 gegenüber, bei Hinzunahme der Gruppen Religion, lebende Deutsche,
Dichtung die Werte 47 und 67, also ein Verhältnis wie 2 : 3 etwa. Nach
den Ergebnissen Richters in Sachsen stehen sich für Bekanntenkreis und
öffentliche Personen 25 0/0 und 41 0,0 gegenüber; wenn Ideale aus Rehgion
und Dichtung dazukommen: 25 Oo und 57 0,0, also etwa das Verhältnis
5 : 11. Für Rey. I zeigt sich ein Verhältnis von 48 0/0 zu 47 0/0, also 1 : 1,
wonach also bei den deutschen Volksschülem die öffentlichen Persönlich-
keiten von weit größerem Einfluß auf ihre Ideale sind als bei den nor-
wegischen. Mit dem zunehmenden Alter tritt in allen Untersuchungen eine
Zunahme der idealbildenden Kraft der öffentlichen Persönlichkeiten hervor,
so daß also ein Fortschreiten von engeren zu weiteren Idealen, von persön-
lichen zu abstrakten Autoritäten, von alltäglichen zu historisch allgemein
anerkannten Vorbildern festzustellen ist. Im höheren Jugendalter tritt end-
lich zu den enger umgrenzten Persönlichkeiten das selbstgeschaute und
selbstgestaltete freie Ideal als ein allgemeines Humanitätsideal. Für das
Jugendalter von 14 — 16 Jahren liegen noch keine Erkundungen über unser
Gebiet vor, doch scheint es nicht ausgeschlossen, daß in diesen Jahren der
Einfluß der öffentlichen Persönhchkeiten als Quelle für die Ideale seinen
Höhepunkt erreicht, um im höheren Jugendalter wieder etwas zurückzugehen.
Die Kurve dieser Entwicklung dürfte sonach ansteigen bis zum 14. — 16. Lebens-
jahre und dann etwas fallende Tendenz zeigen. Freilich sprechen die Er-
gebnisse Rey. lU) bezüglich der Seminaristen gar nicht dafür, während die
unsrigen wenigstens drängen, auf diese vermutliche Entwicklungskurve hin-
zuweisen. Die Volksschüler im 14. Lebensjahre wählen öffentliche Personen
zu Vorbildern bei Goddard -) in Preußen 53 0/0, in den Vereinigten Staaten ^)
bis 84 0/0, bei Richter^) 61 0/0 (13jährige 93 o/o), bei Rey. P) 54 0/0 (15jährige
= 66 0/0) mit Einrechnung von Dichtung, Religion, anderer Art jedoch 76 0/0
(15 jährige = 88 0/0), und beim Material unserer Präparanden ist es immer-
') a. a. O. S. 15, Tabelle. =*) a. a. O. S. 160, TabeUe I, ^ a. a. O. S. 162, Fig. 2.
*) a. a. 0. S. 255, Tabelle I. ») a. a. O. S. 231.
28 Michael Kesselring
hin auffallend, daß von 41 Beantwortungen 39 Ideale nach öffentlichen
Persönlichkeiten gewählt sind.
a) Geschichte des eigenen Landes. Von den Vorbildern nach
öffentlichen Persönlichkeiten entfallen die meisten Nennungen auf diese
Gruppe, nämlich 20^/0 in der 1. Klasse und 10 o/o in der 2., IG^/o also für
all unsere Vpn. Bei Key. II treffen auf diese Gruppe 9 o/o, so daß bei ihm
die geschichtlichen Größen weit hinter die Vorbilder nach Dichtern des
norwegischen Landes zurücktreten müssen. Unsere Sem. wählten die
Deutschen der Vergangenheit, darunter weniger die kriegerisch Gewaltigen
als mehr die Männer, welche politisch-soziale Höhepunkte bedeuten und in
deren Lebensführung und Lebensarbeit gewaltige Persönlichkeits- und Charakter-
werte enthalten sind. Bismarck und Friedrich der Große stehen in der
nachahmenden Würdigung obenan, dann folgen Luther, Moltke, Blücher,
Karl der Große. Die 1. Klasse erwählt sich Bismarck 17 mal, die 2. 3 mal
zum Vorbild. Friedrich der Große wird von der 1. Klasse 13 mal, von der
2. 5 mal genannt, Luther dort 4 mal, hier 2 mal, Moltke dort 3 mal, hier
1 mal, Blücher wird im ganzen 2 mal genannt. Je 1 Stimme erhalten
Karl der Große, Ludwig I. von Bayern, York, Körner, Ziethen. Auffallen muß
dabei, daß geschichtliche Persönlichkeiten idealbildend wirken, die besonders
in der 1. Klasse im Geschichtsunterricht gar nicht zur Behandlung standen,
ein Beweis dafür, wie nachhaltig früherer Unterricht gewirkt haben kann
oder wie sehr durch eigene Lektüre das Vorbild großer Männer sich in
die jugendlichen Seelen eingräbt, ganz abgesehen vom Fortwirken ihrer Ge-
stalten im nationalen Bewußtsein des Volkes überhaupt.
Während bei uns nur historisch gewordene Persönlichkeiten als Vorbilder
auftreten, muß Key. II ausdrücklich betonen, daß häufig große lebende Nor-
weger, darunter Minister und radikale Politiker, als Idealbilder vorschweben.
Da seine Vpn. in der Hauptsache mehrere Jahre älter als die unsrigen sind,
läßt sich diese Erscheinung einigermaßen begreifen. Als wichtigstes er-
klärendes Moment tritt allerdings die Eigenart der norwegischen Verfassung
hinzu, die den engsten Zusammenhang innerhalb des Familien-, Gemeinde-,
öffentlichen Lebens mit der Verwaltung des Königreiches hergestellt hat.
Die Altersstufen, welche Key. 11. untersucht hat, stehen schon in näherer
Beziehung mit dem politischen Leben des Landes, wobei noch der junge
Bestand des Reiches interessefördernd wirken kann und endlich die Neu-
einführung des allgemeinen staatsbürgerlichen und kommunalen Stimmrechts
der Frauen eine stärker betonte Fühlungnahme bedingt. Wie fern stehen
nach unserem Experiment die deutschen Besucher höherer Schulen dem
politischen Getriebe, worin vielleicht nach wie vor kein Nachteil unseres
Bildungsganges zu erblicken sein dürfte!
b) Persönlichkeiten fremder Geschichte. Solche sind unter den
Vorbildern mit 1^/4 ^/o vertreten. In der 1. Klasse tritt Karl XII. 1 mal auf
(begründet : Mut, Entschlossenheit, eiserner Wille, ungeheuere Ausdauer), Na-
poleon I. 2 mal ; letzterer ebenso oft in der 2. Klasse. Aus diesen wenigen
Anleihen in fremder Landesgeschichte ersehen wir den großen Reichtum
der deutschen Geschichte an vorbildlichen Stoffen, besonders im Hinblick
auch auf Rey.s Untersuchung, bei welcher 20^/0 der norwegischen Schüler
ihre Idealpersonen in ausländischer Geschichte suchen. Dazu stehen die
genannten »Ausländer" in engster Verknüpfung mit den Geschicken unseres
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 29
Vaterlandes und sind besonders durch ihre formalen Willenseigenschaften
von beeinflussender Wirkung. Allerdings ersehen wir beim Vergleich mit
Rey., wo z. B. Sokrates, Washington, Cäsar, Gladstone, Lincoln, Demosthenes
aufgeführt sind, daß bei uns manche Charakterköpfe fremder Geschichte
kaum nähere Beleuchtung finden.
c) Dichter eigenen Landes. In unseren beiden Seminarklassen ist der
Prozentsatz für die Wahl von deutschen Dichtern der gleiche: 13,70/o, womit
von den öffenthchen Personen die Dichter an idealbildender Kraft unmittel-
bar hinter den historisch-politischen Persönlichkeiten stehen. Goethe erfährt
in der 1. Klasse 15, in der 2. 6 Nennungen, Schiller tritt in der 1. Klasse
8 mal, in der 2. 5 mal auf, Körner in der 1. Klasse und 2. Klasse je 5 mal.
Die 1. Klasse erwähnte noch F. Dahn 2mal, 0. Ernst Imal, und Imal klingt
die Sehnsucht durch, ein Schriftsteller für die Heimat werden zu können
wie etwa Rosegger und der Pfälzer A. Becker. Welchen Einfluß behandelter
Unterrichtsstoff aus der Literaturgeschichte gewinnen kann, beweist der Um-
stand, daß in der 2. Klasse folgende Dichter neu genannt werden: Lessing 4mal,
Freiheitsdichter Imal, Hebbel Imal. Goethe und Schiller sehen wir in der
1. Klasse öfter zu Vorbildern erw'ählt, obwohl sie im Literaturunterricht noch
nicht aufgetreten waren, nur bei der Klassenlektüre von Werken dieser
Dichter. Gegenwärtig lebende Dichter scheinen unseren Vpn. noch ziemlich
fremd zu sein und können ihnen wohl auch ganz ferne gehalten werden
durch die intensive Beschäftigung mit den Schulstoffen. Zugleich aber zeigt
sich damit, in welch hohem Grade unsere großen Klassiker die Jugend immer
wieder in ihren Bannkreis schlagen und die Wahrheit eines Ausspruches
C. Flaischlens damit bestätigen: „Alte Fragen aus alten Tagen — und längst
erledigt wie sie sagen; jede neue Jugend aber wird sich immer wieder durch
sie durchzukämpfen haben."
Die norwegischen Seminaristen wählen mehr als die 2fache Zahl unserer
Vpn. heimische Dichter zu Vorbildern; gegenüber den 31 o/o bei Rey. II treten
unsere 13,7 o/o ziemlich zurück. Dabei gelten bei Rey. II lebende, z. Z. noch
umsh-ittene Schriftsteller als Ideale, was nach Rey. mit den nationalen und
sozialen Verdiensten eines Wergeland, Björnson aufs engste zusammenhängt.
Es muß also bei Rey. II manchmal zweifelhaft sein, ob große heimische
Dichter wegen ihrer national-politischen Bedeutung oder ihrem Künstlertume
zuliebe als Vorbilder genommen wurden.
d) Fremde Dichter. Die Zahl derselben ist bei uns kaum nennenswert;
denn die in dieser Gruppe verzeichneten Lenau 2mal, Stifter und Grillparzer
sind kerndeutsche Dichter, und auch der Imal genannte Shakespeare kann
nicht als Ausländer gelten. Fast möchte es scheinen, daß unsere Seminaristen
wenig läsen, besonders Werke fremder Dichter; eine ergänzende Umfrage
in dieser Richtung über behebte Lektüre und Schriftsteller förderte aber die
Kenntnis anderer Literatur in vielfacher Richtung zutage. (Z. B. G. Keller,
Storm, Mörike, Freytag, R. Wagner, Sudermann, Herzog, Frenssen, P. Keller,
E. Strauß, Ganghofer, Ibsen, Shakespeare.)
Bei Rey. 11 finden sich 4 O/o Dichtervorbilder nach ausländischen Mustern,
darunter z. B. Homer, Tolstoi, Goethe. Die älteren Vpn. Rey.s werden über-
haupt über eine größere Belesenheit verfügen als unsere 18 — 20jährigen.
e) Fürsten. Solche wm-den bei uns in 3 O/o der Fälle als Ideale hingestellt,
in der 1. Klasse mit 9, in der 2. Klasse mit 2 Nennungen. Prinzregent Luitpold
30 Michael Kesaelring
von Bayern vereinigte 10 Stimmen auf sich (sieh. Bem. S. 18!), der deutsche
Kronprinz Wilhelm tritt 1 mal auf wegen „Sportsliebe und Volkstümlichkeit".
Bei Rey. II finden wir Ideale nach lebenden Fürsten überhaupt nicht vor.
f) Philosophen. Sie finden sich nur mit II/4O/0 vor: Nietzsche und Schopen-
hauer zusammen genannt 2 mal, Schopenhauer allein Imal, Kant Imal. Rey. IT
brauchte diese Gruppe nicht aufzustellen.
g) Künstler. Bei 3 0/0 unserer Vpn. treten uns Künstlervorbilder entgegen,
nämlich 7 Nennungen in der 1., 5 in der 2. Klasse. Beethoven wurde 3mal
zum Ideal erwählt; alle übrigen fanden nur 1 Nennung: Bach, Reger, Rieh.
Wagner, Dürer, Kainz, ein Musiklehrer, ein Violin-, ein Klavier-, ein „Musik"-
Künstler. Rey. II hat ungefähr den gleichen Zahlenwert für diese Gruppe.
h) Wissenschaft und Forschung, Technik. Rey.s und unsere Seminaristen
wählen aus dieser Gruppe in gleich geringer Zahl ihre Musterbilder, 2^/0 und
2^/40/0. Als Personen finden sich Kolumbus, Liebig, Hedin; einige Male heißt
es allgemein „ein Naturforscher". Als Vertreter der Technik wäre Zeppelin
mit 1 mal. Nennung hierherzustellen.
i) Große Erzieher. Beide Klassen griffen dabei nach Pestalozzi 8 mal,
Comenius 2 mal, Rousseau Imal, so daß zusammen 3^/0 unserer Vpn. großen
Pädagogen nacheifern wollen. Rey. II hat den Wert von 6^/0 für diese
Gruppe, wobei auch 2 lebende norwegische Schulmänner zu Idealen dienen.
Von deutlichem Einfluß zeigt sich bei unserer 2. Klasse der Wert des Unter-
richts in Geschichte der Pädagogik und pädagogischer Lektüre; denn den
11 Nennungen großer Erzieher steht bei der 1. Klasse nur eine gegenüber.
3. Ideale aus Dichtung und Sage.
Bei Rey. 11 sind Personen der Dichtung, welche idealbildend gewirkt haben,
leider nicht festgehalten oder es müßte der Wert von l^/o sowohl bei M,
als Fr.i) der dafür genügende sein. Dann wäre bei unserer Untersuchung die
Dichtung eine weitaus wichtigere Quelle für Ideale; stammen doch 10 0/0 der
Ideale aus derselben! Der Einfluß der freien Lektüre ist dabei bedeutend
und es zeigt sich, welche Sorgfalt den SchülerbibUotheken angedeihen muß.
Die Gestalt des Helmut Harringa aus dem gleichnamigen Romane Poperts im
Dürerbundverlag wird am meisten als ideales Vorbild gewählt (7 mal), dann
folgen die Freunde aus „Ernst von Schwaben" (4mal), Tellheim (3 mal), Hermann
^aus „Hermann und Dorothea" (2 mal), Siegfried (2 mal), Markus Paltram aus
Heers „König der Bernina" (2 mal). Von übrigen Gestalten seien noch hervor-
gehoben: Gotenfürsten, Attinghausen, Max Piccolomini, Moros, Teil, Anton
aus „Soll und Haben", Jürg Jenatsch, Fehx Notvest, Nettenmeier, Gottfried
Kämpfer, Hauslehrer in „Oberhn", Einsiedler in Herzogs „Burgkinder" usw.
4. Religiöse Gestalten.
Religiöse Charaktere zeigen sich mit dem Werte von 1^/4 Oo bei unseren
Vpn. von geringem Einfluß als idealbildender Quelle. Allerdings rechneten
wir Luther unter die geschichtUchen Persönlichkeiten, wozu uns die Begrün-
dungen drängten. Nehmen wir seine Gestalt in diese Gruppe herein, so
kommen wir doch über 30/0 nicht hinaus. Jesus ist 4 mal zum Vorbild er-
») A. a. 0. s. 21.
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 31
koren, Jonathan 1 mal. Von den Motivierungen für die Wahl Jesu seien an-
geführt: Er war der Gewaltigste und Größte inbezug auf Selbstbeherrschung;
hervorstechend sind noch seine Bescheidenheit, Friedfertigkeit, VerzeihUchkeit —
Jesus ist ein vollkommenes Wesen; da ich ihm nachfolgen will, werde ich
von meinen Mitschülern immer mehr angegriffen. Mir ist es dann eine Freude,
ihn zu verteidigen: „Das tat ich für dich; was tust du für mich?" — Nicht
weil Jesus ein religiöser Mann war, sondern ein sittenreiner Charakter; ein
Mann, der alle Menschen gleichstellte. An ihm sehe ich meine Grundsätze
verkörpert: „Tue recht und scheue niemand!" und „So hoch gestellt ist keiner
in der Welt, daß ich mich neben ihm verachte."
Bei Rey. n haben 8^0 der Vpn. religiöse Charaktere als Ideale angegeben.
Da auf seinen Wunsch Jesus nicht genannt werden sollte, fielen sicher einige
Nennungen von Jesus als Idealbild weg. Von unseren Vpn. scheinen keine
von Paulus, Johannes, Joseph, Abraham, Moses so tief gepackt worden zu
sein, um ihr Vorbild nach ihnen zu orientieren.
5. Freie Ideale.
Diese Gruppe mußte bei imserer Untersuchung ganz neu aufgestellt werden
und beanspruchte 25 ^o der Antu'orten, bei der 1. Klasse 24^0, bei der 2. Klasse
270/0. Auch bei Rey. II dürften einige freie Ideale aufgetreten sein, denen
er wohl nicht näher nachzuforschen brauchte, weil sie vereinzelt blieben.
Oder sollte seine Fragestellung nach Persönlichkeitsidealen die Vpn. be-
stimmt haben nur solche zu nennen? Dies ist aber nach unseren Vorunter-
suchungen schwer anzunehmen. Auch deuten die Proben von Schülerantworten
bei Rey. U S. 12 — 14 auf das Vorkommen allgemeiner Musterbilder hin, z. B.
bei dem 24jährigen und der ersten von den 25jährigen.
Abgesehen von ausgesprochenen Möchte- oder Wunschidealen mit 2,7 O/o,
reinen Genuß Vorbildern mit 0,8 Oo und mehreren Nennungen, die sich nicht
rubrizieren lassen, stellen sich aus dieser Gruppe 2 Arten von freien Idealen
klar heraus: ein allgemeines Menschenideal von 10,00/0 der Vpn. gewählt und
ein allgemeines Lehrer- (Beruf s)ideal von 7,0 0 0 genannt.
a) Allgemeine Menschenideale. Zwei charakteristische Schülerzeugnisse
mögen zunächst die Notwendigkeit der Aufstellung unserer neuen Gruppe
darlegen :
1. „Ich habe keine bestimmte Persönlichkeit zum Vorbild. Überall mußte
ich Eigenschaften finden, die mir nicht zusagten. Wo aber eine edle Tat
vollbracht wurde, wo die Menschenrechte und Menschenpfhchten vollkommen
geachtet und erfüllt \^-urden, dorthin fand ich mich mit dem innersten Wesen
meiner Seele gezogen. Die edle, reine Menschlichkeit war es, die mich an-
sprach und mein höchstes Ideal, das mir immer vor der Seele steht, ist ein
edler Mensch zu werden." — 2. „Ein einziges Ideal habe ich nicht; denn
ich strebe verschiedenen nach. Was mir an dem einen gefällt, suche ich
mir anzueignen; was mir nicht gefällt, schalte ich aus. Ehrlich, wahr und
fromm zu sein, entnehme ich dem Charakter Jesu. Dem Charakter meines
Vaters entnehme ich die Strebsamkeit; denn er hat sich aus kleinen Anfängen
zu einer ganz annehmbaren Stellung emporgearbeitet, ohne eine Mittelschule
besucht zu haben. So habe ich noch verschiedene Persönhchkeiten, von deren
Charakter ich mir verschiedenes anzueignen suche."
32 Michael Kesselring
Unter den allgemeinen Menschenidealen fallen solche auf, welche die Einzel-
züge verschiedenen Persönlichkeiten entnehmen und das Gesamtbild
nicht fest umrissen zusammenfügen. Einige Beispiele mögen solche Ideal-
bilder erläutern:
Wie Bismarck, Goethe und Rousseau; ersterer entschlossen, mutig; man
konnte Felsen auf ihn bauen; letztere Gefühlsmenschen, die alles offen be-
kannten — Teja und Pestalozzi — Goethe und Rheinberger (Musiker) —
Kombination von Männern aus der Geschichte der Pädagogik und aus der
Musik — Luther, W. Teil und der Wirt aus Roseggers „Wirt an der Mahr" —
Siegfried, Napoleon, York,
Dazu treten dann kurz gezeichnete Charakterbilder, für deren Einzel-
züge auf große Personen als Träger derselben verwiesen ist. Von den häufig
interessanten Schilderungen geben wir wieder nur einige Andeutungen in
Stichworten :
Willenskraft und feste Grundsätze, wie Napoleon, Markus Paltram u. a. —
Schaffensfreude und Ausdauer, wie Zeppelin, Bach, Schiller, Beethoven —
das Große und Heldische, wie bei Bismarck, Gestalten aus den „Ahnen",
Ivanhoe, Ludwig I. von Bayern — nach dem Vorbild vieler Männer; im
Lehrerberufe Tüchtiges leisten; liebevoller Familienvater; im öffentlichen Leben
eintreten für soziale Hebung aller Stände — wie in Wilh. Meister — Streben
nach Weisheit und Vervollkommnung, wie bei meinem Vater, bei Schiller und
Bismarck — ein ganzer Mensch mit höchster körperlicher und geistiger Wohl-
geratenheit wie etw'a Nietzsches Übermensch. (Die Beispiele für diese Gruppe
freier Ideale finden sich fast ausschließlich im Material der 1. Klasse.)
EineS.Abteilungfreierldealeweist nur Allgemeinbilder charaktervoller
Menschlichkeit auf ohne Beispiele oder sonstige Beziehungen. Aus der
1. Klasse folgende Belege:
Mann von Pflichttreue — naturliebender, sportliebender, offener und treuer
Mensch — nach jeder Hinsicht ein gebildeter Mensch — nachzustreben dem
Wahren, Schönen und Guten und überall dem Fortschritt zu huldigen; auch
Freimaurer möchte ich sein — ehrlich und recht handeln, wenig um andere
kümmern — ein freier Mann; Herr über mich selbst mit starkem Charakter —
ein Mann voll Kraft und Energie, edlem Sinn und stolzem Charakter, klarer,
unverdorbener Geist, besonders nicht entstellt durch eingepflanzte Bücher-
weisheit.
Aus dem Material der 2. Klasse seien hervorgehoben:
Konsequentes Wollen und Handeln; große Willensstärke; Wahrheit; auch
Freude an Sport — Verträglich, gutherzig, mildtätig, vorwärts streben, auch
wenn die Arbeit nicht immer von Erfolg gekrönt — Entfaltung des eigenen
Menschentums — eine Originalität möchte ich sein — Idealfamilie : alle gesund
und arbeiten; vertrauensvolles Verhältnis zwischen Eltern und Kindern; Offen-
heit und Wahrheit. Ein 18 jähriger möge noch ganz zu Worte kommen: „Mein
Ideal ist ein Mensch, der niemals heuchelt, stets graden Sinnes ist, nur das
ausführt, was er vor sich verantworten kann. Der ein tiefes Gemüt besitzt.
Der sich unterordnet, aber nur dann, wenn er es selbst für richtig hält; der
aber auch seinen Willen durchsetzt, wenn er weiß, daß er im Recht ist; er muß
aber auch sofort ablassen, wenn er im Unrecht ist. Endlich muß er eine
tiefe Liebe besitzen für alles was lebt. Energie, Liebe. und Gemüt müßte
der Grundzug seines Wesens sein." — Schließlich haben wir noch freie Ideale
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 33
in solchen Äußerungen zu erkennen, welche durch Grundsätze ihr Vorbild
kennzeichnen, z. B. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut — Rastlos vor-
wärts mußt du streben usw. — Ich habe keine Zeit müde zu sein; Lebe, wie
du es vor jedermann verantworten kannst! — mens sana in corpore sano;
auch: prüfe, bevor du handelst!
b) Allgemeines Berufs-(Lehrer)ideal. Dieses Ideal zeigt auch ver-
schiedene Ausgangspunkte und gewinnt darnach verschiedene Gestalt. Zu-
nächst kann es sich anlehnen an ein besonderes Vorbild, wie lebende
Lehrer der früheren oder jetzigen Schulzeit, große Pädagogen (wie Pestalozzi)
und Gestalten der Dichtung (wieHauslehi-er inLienhards„Oberlin" undFlemming
in O. Ernst's „Flachsmann als Erzieher"). Sodann wird ein Musterbild nach
verschiedenen Personen aufgestellt, zu welchem noch selbstgeformte
Musterbilder (freie) treten, teilweise mit einem Hinweis auf Beispiele zur
Verdeutlichung, teilweise ohne jede Beziehung in ganz freier Gestaltung. Einige
Zeugnisse seien herausgehoben: Ein tüchtiger Lehrer — ganze Kraft dem
Beruf zuwenden und mit Liebe arbeiten — Volksschullehrer in des Wortes
eigenster Bedeutung; alle Schichten heraufziehen ans Licht — möchte nach
allen Kräften als Lehrer meinen PfUchten nachkommen — ein recht guter
Schulmann zu werden : pädagogische Lektüre und Pädagogikunterricht haben
mein ganzes Interesse — beliebter, gerechter Lehrer, wie es von Bruns hieß:
„Er war ein Lehrer" — ein tüchtiger, liebevoller Lehrer; mit Freude an den
Kinderherzen arbeiten. Gibt es eine schönere, heiligere Arbeit als die, das
Kind emporzuheben; eine feinere Freude, sich mit ihm zu freuen, durch es
nochmals Kind zu werden?
Jugendpsychologisches Material.
Das Studium der freien Ideale ist für den Versuchsleiter wohl ein sehr
fesselndes, weil es tiefere Einblicke in das Gewebe des jugendlichen Seelen-
iebens gewährt. Während mancher geschickt einem Bekenntnis auszuweichen
versteht, schreiben andere mit größter Offenheit und Ehrlichkeit, ja, manche
Zeugnisse über ideale Musterbilder muß man geradezu mit einem Gefühl der
Dankbarkeit lesen, weil sie oft geheimste Regungen und Strebungen des
Jünglingsherzens enthüUen. Neben Begeisterungsfähigkeit und idealem Schwung
finden wir Oberflächlichkeit und sinnliche Begierden, neben großen produk-
tiven Arbeitsplänen erschreckende Nüchternheit, neben phantastischen Hoff-
nungen und Wünschen eine pessimistische Weltanschauung und skeptische
Stellung zum Leben. Wenn Rey. von dem häufigeren Auftreten des Peer-
Gynt-Typus, des Träumers und Chancenmenschen bei seinen Vpn. spricht,
so zeigt sich bei den unsrigen ein mehr realer Blick für Leben und Menschen-
tum, für die Notwendigkeit zäher und zielbev^nißter Arbeitsamkeit, so daß wir
wohl behaupten können, daß ein frischer gesunder Geist durch unsere Jugend
hindurchweht (und wie herrlich sich dessen Früchte zeigten, hat uns der
gewaltige Krieg in bewunderungswürdigen Taten genugsam offenbart).
Zunächst einige Belege für ausweichende Antworten: Kann kein Ideal
sagen, dem ich direkt zustrebte — schwebt mir immer vor; doch es zu nennen,
ist mir unmöglich — ein Ideal existiert nur in meinem Geiste — ein eigen-
tümliches Gefühl hat mich noch nicht zur Entscheidung kommen lassen —
bilde erst ein Ideal — wenn ich den Schulstaub von meinen Füßen geschüttelt
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 3
34 Michael Kesselring
habe — ich habe mehrere Vorbilder, aus denen ich mir ein Phantasiebild
gebildet habe — mir ist bis jetzt noch kein vollkommenes Ideal aufgetaucht.
Manche pochen auf ihre Selbständigkeit und rühmen ihren nüchternen
Blick, wobei etwa zu lesen ist: IdeaHsten mag ich nicht; möchte mehr Reahst
sein, ungefähr nach den Anschauungen Nietzsches — ich brauche keines; mir
sind ja auch, -wie sog. „Idealmenschen", Einsicht, Vernunft und freier Wille
gegeben — bin noch zu jung, mich für eines zu entscheiden; nur die Er-
fahrung soll mich leiten — habe kein Ideal; bin ein viel zu nüchterner Mensch
und sehe die Welt an, wie sie ist, strebe dem zu, was mein besseres Innere
mir vorschreibt. Auch die Zeitverhältnisse sind nicht ideal.
Der pessimistische Zug, der manchmal durch die Jugend geht, leuchtet
aus folgenden Belegen heraus: Menschen können nie ideal sein, weil sie nie
vollkommen werden — ich strebe nach einem unbestimmten Etwas, das ich
nie erreichen kann. Wie kann man Menschen, unter denen es vielleicht nur
zwei oder drei wahrhaft Gute gibt, überhaupt ideal nennen? — kein Ideal
deckt sich mit meinen Vorstellungen; am liebsten Pessimismus — ich habe
leider kein Ideal — wie Lenau tiefernst, pessimistisch, weltflüchtig, zurück-
gezogen, sich selbst lebend ; auch bei mir Hang zur Einsamkeit — vollkommen
Pessimist wie Schopenhauer — philosophierend und eingesponnen lebend,
„aber vor einem jeden solcher Bekenntnisse schäme ich mich und bereue oft
jedes Wort, das mein Innerstes offenbart".
Von den Wunsch- und „Möchte"-Idealen verraten manche kühne Pläne,
andere zeichnen sich durch einen Zug ins Phantastische aus, und manche
überraschen durch ihre Naivität. So berichtet uns einer in warmen Worten
von seiner Trilogie „Gudrun", die ihn beschäftigt; ein anderer ist an der
Vollendung seines Jugendwerkes „Der Punier" gerade tätig; ein dritter hofft,
in der Malerei etwas zu erreichen, da bei ihm kleine Erfolge nicht ausge-
blieben seien, und verschiedene setzen ihr ganzes Streben ein, um einst als
Violin- oder Klaviervirtuosen wirken zu können. Ein Begeisterter will Kämpfer
sein im Heere des Lichts, während ein zweiter ein Ideal in sich werden fühlt,
das ein großes Durcheinander von Merkmalen darstellt, das erst gären muß
und: „in voller Majestät wird ihm mein Ideal entsteigen!" Versichertunsein
Jüngling, daß er ein Geistesheld wie Rousseau sein will, um die verschrobenen
Gedanken aus den Köpfen der Menschen zu verjagen, so bescheidet sich
sein Freund damit, daß er „eine Originalität" geben will; ein Dritter
möchte uns folgende Überzeugung beibringen: „Das christliche Ideal der
Liebe, die sich bis zur Feindesliebe ausdehnen soll, ist nicht das höchste.
Dieses Ideal bezieht sich nur auf den Umgang; aber der Mensch hat eine
höhere Auf gäbe : für sein eigenes Selbst zu wirken". Bei den Beispielen, die
wir noch hierher stellen, dürfte die Neigung unserer Jugend zum Naturalis-
mus etwas auffallen: Naturmensch sein — Koloniallehrer — Gutsverwalter
oder Forstmann im Ausland — große Reisen mit Büchse und Kamera; nie-
mand Untertan und jedermanns Freund — Entdecker und Forscher wie Filchner,
Stanley — Soldat bei der Marine — schneidiger Reiteroffizier wie Körner
und Ziethen — Naturmensch, ohne gesellschaftHchen Zwang, in die Urwälder
versetzt. Ohne jede objektive Religion. Verkehr mit der sinnlichen Natur,
ihrer Sprache lauschen, die mächtiger und reiner ist als die jedes Menschen —
Freude an der Natur, fühle mich heimisch in der Stille des Waldes; das tolle
Treiben der festlichen Gelegenheiten ist mir ebenso verhaßt wie übermäßiges
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 36
Trinken und Rauchen; von weiblichen Personen fühle ich mich nicht ange-
zogen, eher abgestoßen — Wandern, Turnen, Fußball, Kegeln.
Ausgesprochene Genußideale traten 0,8 0,0 auf und beziehen sich auf
Selbständigkeit, Naturfreude und Geselligkeit. Es waren folgende: Ich lebe
in den Tag hinein, das andere ist mir gleich; nur Behaglichkeit, Liebe und
Freundschaft sind nötig zu meinem Glück — Sportsmann und Kavalier —
Junggeselle in der Stadt: abwechslungsreiches Leben, ohne darüber Vorwürfe
zu bekommen; kann große Reisen unternehmen; unabhängig von jedermann
und viele Vergnügen — Lehrer in stillem schönem Dorfe in aller Gemütlichkeit
Frauenideale wurden von unseren Vpn. viermal genannt. Große Ge-
stalten aus der Geschichte oder Dichtung finden sich nicht darunter. Die bei
unserer Untersuchung erwähnten scheinen zugleich Ideale der Liebe der Sem.
zu sein. Einmal ist ausgeführt: „ . . . nach Seite des Gefühlslebens ein be-
stimmtes weibliches Wesen, in meinen Augen das edelste Wesen überhaupt",
ein anderes Mal: „Mein Ideal ist ein durch und durch edles Wesen, mit dem
ich zum Wohle der anderen leben kann, ein Leben nach dem Grundsatze:
Willst du die Welt genießen, so entsage ihr!..." Ein Sem. schrieb: „Kein
Mann!" und hüllte sich dann in Schweigen. Ein Schüler der 1. Kl. bringt
ein Frauen- und Berufsideal zugleich: „Die Lehrerin N. N. Sie ist wohl ein
Weib(!), und es könnte scheinen, als ob ein Mensch, der einmal ein Mann
werden will, sich kein Weib zum Vorbild nehmen sollte. Sie ist aber als
Mensch so vornehm und edel und als Lehrerin im Umgang mit den Kindern
erst recht, daß ich ihr immer nachstreben und so zu werden suche wie sie.** —
An dieser Stelle wollen wir zunächst noch eine kurze Betrachtung über
die Alters- und Klassendifferenzen bei den Lehrerseminaristen ein-
schalten. Für endgültige Schlüsse ist freilich das Material bei Rey. und noch
mehr bei uns, wo nur eine Lehrerbildungsanstalt in Betracht kommt, ein ziem-
lich geringes. Für Rey.s männliche Vpn. (398) zwischen dem 18. und 25. Lebens-
jahr nimmt die Klassenfrequenz von 60 über 90 (im 20. Lebensjahr) ab bis
84, bzw. 44. Besonders auffallende Schwankungen für die Stellungnahme
seiner Vpn. ergaben sich eigentlich bei keiner Gruppe der möglichen Persön-
lichkeitsideale; nur treten Bekanntenideale vom 23. bis 25. Jahre überhaupt
nicht mehr auf, während in der Abteilung für fremde Dichter die Nennungen
etv^-as zunehmen. In unserer Untersuchung, bei der nur zwei Klassen und
das 16. — 20. Lebensjahr in Betracht zu ziehen sind, tritt weniger eine Alters-
ais eine Differenz nach den Klassen heraus. Diese Unterschiede sind durch
die Klassenstoffe und -ziele mit beeinflußt und äußern sich in einem Hervor-
treten ethischer Ansichten und lebhafterem Berufsinteresse. Bei Beleuchtung
der Gründe müssen wir die Frage nach spezifischen Klassen- und Altersunter-
schieden nochmals berühren.
Bei einer Gesamtgegenüberstellung der Versuchsergebnisse zwischen den
norwegischen und den deutschen Lehrerseminaristen können wir uns dem
Eindruck nicht verschließen, daß letztere in der geistigen Entwicklung weiter
seien. Zum Teil läßt sich diese Erscheinung aus der geringen Vorbildung
der norwegischen Lehrerseminaristen erklären, worauf Rey. II S. 23 hinweist;
doch könnte auch eine allgemeine Entwicklungserscheinung der nordischen
Jugend gegenüb^ der von südlicheren Breiten vorliegen, zu welch geographischer
Begründung auch Gründe des Volkscharakters und der kulturellen Eigenart
und Weltlage erklärend treten müßten. Auch Rey. I wies auf die typische
36 Michael Kesselring, Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter
langsamere Entwicklung norwegischer Volksschulkinder gegenüber den eng-
lischen, sächsischen, amerikanischen Schulkindern hin bei seiner Zusammen-
fassung in den Punkten 4 und 5, a. a. 0. S. 247/248.
Schließlich gilt es noch, den Einfluß besonderer Zeitumstände zu
prüfen. Es ist klar, daß die Nichtbeachtung solcher Umstände zu einer wich-
tigen Fehlerquelle werden kann. An der Hand der Schülerbeantwortungen
lassen sich manche Zeiteinflüsse herausfinden. So wiesen wir schon auf den
Beweggrund für die häufigere Wahl des verblichenen Prinzregenten Luitpold
von Bayern hin, dessen Geburtstag sowie die Stiftung eines Schulturn- und
Spielfestes möglicherweise zur öfteren Nennung führte. Die jeweilige Zu-
sammensetzung des Lehrkörpers zur Zeit der Versuche, insbes. der Fachvertreter
im Pädagogikunterricht, in Religion, deutscher Sprache und Literatur, in Musik
und Turnen spielt in bezug auf Lehrerideale eine bedeutende Rolle. Auch
zeigt jede Klasse in jedem Jahre einen anderen Mischtypus von Schülerindi-
vidualitäten, örtliche Umstände mögen auch hereinspielen, also woher ein
Schüler stammt, wo er aufwuchs, in welchen Kreisen er sich jetzt aufhält
(Land und Stadt, Wald und Gebirge oder Ebene und Ackerbau). Einmal wurde
Siegfried als Ideal angegeben, da einige Tage vorher Hebbels „Nibelungen"
aufgeführt waren. Ein Vikar mit gutem Organ und Rednerpathos regte in
zwei Fällen zur Ergänzung freier Ideale an. Vor dem Kriege hatte der Roman
„Helmut Harringa" einiges Aufsehen erregt, wurde von den Sem. gelesen und
der Titelheld wiederholt zum Musterbild des eigenen Strebens erhoben. Wie
die Bereicherung des Gedankenkreises zu neuen Idealgestalten führt, beweisen
uns die nur von der 2. Kl. genannten Vorbilder Lessing und Hebbel, sowie
der Name Pestalozzis, welcher gegenüber der 1. Kl. mit einer Nennung in
der 2. Kl. 7 mal vorkommt. Auch innere Erlebnisse besonderer Art können
sich geltend machen; so sind zwei Zeugnisse von Mißtrauen gegen Freundes-
ideale erfüllt, weil einer sich verleumdet fühlte, und einem anderen Treue und
Freundschaft gebrochen worden waren. Bei Rey. I ist hingewiesen auf den
Einfluß des Wintersports für die Bekanntenideale ; trafen doch von 94 abge-
gebenen Stimmen für lebende norwegische öffentliche Personen 57 auf Ver-
treter des Sportlebens, da jener Versuch im Winter ausgeführt worden war.
Im vierten Kriegsjahr war es uns möglich, eine Befragung nach Idealen
vorzunehmen, wozu uns besonders das Interesse bewog, den Kriegseinfluß
festzustellen. Allerdings ist die Zahl der Vpn. eine verschwindend geringe
gewesen, da manche zu landwirtschaftlicher Hilfeleistung beurlaubt waren,
nämlich in der 1. Kl. 27 Vpn., in der 2. Kl. 21 Vpn. Eine realistischere
Lebensauffassung und ein größerer Ernst scheinen sich in den Schülerantworten
auszuprägen. Ein direkter Einfluß der Kriegszustände läßt sich jedoch nur
bei vier Vpn. nachweisen. In der 1. Kl. schwebt Hindenburg in einem Falle
als Strebeideal wegen seiner W^illenskraft und Charakterstärke vor, und in
einem anderen Falle besteht nur ein loser Zusammenhang: ein pfUchttreuer
Lehrer gilt als Ideal, wenn er sich in der Kriegszeit mit Aufopferung in den Dienst
der Schule und der Gemeinde stelle. In der 2. Kl. (5 davon waren im Heeres-
dienst) zeigen sich 2 mal Zusammenhänge in freien Idealen mit dem Kriege:
Soldat, der für die Heimat sein Leben gewagt hat, und ein früherer Volks-
schullehrer sollen zusammen das vorbildhche Menschenbild Ägeben — ein all-
gemeines Musterbild nach den Männern Bismarck, Hindenburg und Luden-
dorf f; „die Willensstärke Bismarcks, der zugleich mit weitschauendem Bhck
Beziehungen zwischen Intelligenz u. Moralität bei jugendl. Verwahrlosten. 37
das Gute seines Handelns voraussah und sich davon nicht abbringen Ueß,
vereinigt sich mit der Klarheit Ludendorffs und der Tatkraft Hindenburgs zu
einem Ideal."
Daß besondere zeitliche und örtliche Umstände bei der Vornahme unserer
Experimente die Stellungnahme und Wahl der Vpn. beeinflussen können, läßt
sich wohl nicht verkennen. Zahlenmäßig jedoch nahmen solche Zeiteinflüsse
nur geringen Raum ein; an dem allgemeinen Gesamtbild der Versuchsergeb-
nisse vermögen sie kaum bedeutende Änderungen herbeizuführen. Solche
Einflüsse machen sich als Fehlerquelle nur in geringem Grade geltend, sodaß
wir in dem jeweils mit methodischer Gründlichkeit gesammelten und gesich-
teten Material von Schülerantworten tj'pische jugendkundliche Äußerungen
zu erblicken haben. Selbst ein voreingenommener Kritiker solcher Ideal-
forschungen muß zugeben, daß die zufälligen Umstände bei der großen Zahl
von Vpn. und bei wiederholter Befragung derselben Klassen in verschiedenen
Jahren nur mit den geringsten Werten anzusetzen sind, ja sich ganz aus-
gleichen können. (Schluß folgt.)
Über die Beziehungen zwischen Intelligenz und Moralität
bei jugendlichen Verwahrlosten.
Von Paul Riebeseil.
1. Ergebnisse früherer Arbeiten.
In den „experimentellen Beiträgen zur Psychologie der moralisch
verkommenen Kinder'* von Margit Dosai-Revesz sind im Jahre 1911
zum ersten Male Untersuchungen über die Beziehungen zwischen den
verschiedenen Seelenfunktionen unternommen 1). Die früheren Arbeiten
können, da ihnen nur geringe experimenteile Erfahrungen zugrunde
liegen, nur als Meinungsäußerungen einzelner Autoren gewertet werden.
So wurden denn auch die Ansichten, daß völlige Abhängigkeit von
Moral und Intelligenz oder völlige Unabhängigkeit beider Funktionen
bestehe, je nach dem Standpunkt der Verfasser in etwa gleicher Zahl
vertreten. Die erwähnte ungarische Arbeit bezieht sich auf 40 Knaben
im Alter von 9 — 16 Jahren. Geprüft wurden Rechenfähigkeit, Ge-
dächtnis, Auffassungs- und Aussagefähigkeit. Der Vergleich wurde an
einer etwas größeren Zahl von Nichtverwahrlosten geführt. Bei beiden
Gruppen, den Verw^ahrlosten und den Nichtverwahrlosten, wurden bei
einzelnen Teilversuchen die intellektuell Schwachbefähigten abgetrennt
und besonders gewertet. Leider ist aber diese Trennung nicht überall
durchgeführt, so daß das Ergebnis, daß die moralisch Schwachen durch-
weg ein viel schlechteres Resultat ergeben als die Normalen, nicht
einwandfrei erscheint. Schon das Ergebnis, daß im Gegensatz zu dieser
Feststellung nach den Tabellen die moralisch und intellektuell Schwachen
durchweg besser abschneiden als die nur intellektuell Schwachen, dürfte
zu denken geben. Der geringe Umfang des Materials, der Vergleich
mit teilweise von andern Forschern stammenden Untersuchungen nor-
') Vgl. Ztschr. f. ang. Psychologie, Bd. 5, 1911.
38 Paul Riebeseil
maier Kinder, die 1911 noch keineswegs einwandfreie Eichung der
Tests geben zu weiteren Bedenken Anlaß. Ähnliches gilt von einer
ebenfalls ungarischen Arbeit des Jahres 1918. Bela Tabajdi-Kun kommt
in seiner „Intelligenz-Prüfung der kriminellen Jugend" i) zu dem Er-
gebnis, daß die Intelligenz der kriminellen Jugendlichen weit unter der
der Hilfsschüler liegt. Auch hier sind zur Kontrolle der Ergebnisse
andere Autoren benutzt, außerdem hielt sich der Verfasser streng an
die Binet-Simonschen Vorschriften, die bekanntlich für die Lebensalter
über 10 unbrauchbar sind. Eine Differenzierung des Materials der
Verwahrlosten fand nicht statt. Zu einem ganz andern Ergebnis ist
1918 Gregor gekommen, der auf Grund ausgezeichneter Einzelcharakter-
analysen den Satz aufstellte , „daß die Funktion des Wollens eine
selbständige Anlage und Entfaltung hat, die in keiner direkten Be-
ziehung zur Anlage und Entwicklung des Intellekts steht." 2) Es er-
schien daher erwünscht, durch Anstellung von Massenexperimenten
eine Klärung dieser Meinungsverschiedenheiten herbeizuführen, zumal
die bereits 1913 von F. Kramer 3), allerdings an einem kleinen Beob-
achtungsmaterial, vorgenommenen Untersuchungen die Gregorsche
Ansicht zu bestätigen schienen.
2. Methodik der eigenen Untersuchungen.
Für die Verwahrlosten stand folgendes Material zurVerfügung: 46 Schüler
der ersten Klasse der damals 6 stufigen Waisenhausschule, 24 Schüle-
rinnen der ersten Klasse der 6 stufigen Waisenhausschule, 29 schul-
entlassene Zöglinge der Erziehungsanstalt für Knaben, 26 schulent-
lassene Zöglinge der Erziehungsanstalt für Mädchen. Als normales
Vergleichsobjekt wurde die zweite Klasse einer 8 stufigen Volksschule
mit 24 Knaben benutzt. Mit der einzigen Ausnahme der Erziehungs-
anstalt für Mädchen wai'en auf beiden Seiten die Hilfsschüler aus-
geschlossen. Als Tests wurden mit geringen Änderungen die für die
betreffende Altersstufe bereits bei der Begabtenauslese in Berlin <) be-
währten Aufgaben benutzt &). Geprüft wurden: 1. Aufmerksamkeit.
Es handelte sich um einen Ausstreichversuch. Auf einem gedruckten
Formular waren in 20 Minuten alle a, e und n auszustreichen. Im
ganzen waren es etwa 600 zu streichende Buchstaben. 2. Die Kon-
zentrationsfähigkeit. In 10 Minuten sollten möglichst viele Dingworte
hingeschrieben werden, die sich auf Gegenstände der Straße beziehen
und in denen kein e vorkommt. 3. Das Gedächtnis. In 5 Minuten
sollte in einzelnen Worten alles das hingeschrieben werden, was dem
Prüfling bei dem Worte „Baum" einfällt. Eine Einübung mit dem
Beispiel „Vogel" ging voraus. 4. Die gebundene Kombination. Ge-
wählt wurde der Textlückenversuch nach Ebbinghaus in der in Berlin
») Vgl. Ztschr. f. Kinderforschung, Bd. 23, 1918.
") Vgl. A. Gregor und E. Voigtländer, Die Verwahrlosung. Berlin 1918, S. 160.
3) Vgl. Monatsschr. f. Psychol. und Neurologie, Bd. 33, S. 500, 1913.
*) Vgl. Moede-Piorkowski-WolH, Die Berliner Begabtenschulen, Langensalza 1918.
') Die Hamburger Tests (vgl. Ztschr. f. päd. Psychologie, Bd. 19, 1918) waren zu der Zeit,
als die Versuche angestellt wurden, noch nicht erschienen.
Beziehungen zwischen Intelligenz u. Moralität bei jugendl. Verwahrlosten 39
verwandten Form. Als Zeit wurde eine halbe Stunde gewährt 5. Die
freie Kombination. Die drei Worte Spiegel -Mörder -Rettung sollten zu
einer, oder wenn möglich mehreren Geschichten zusammengesetzt
werden. Zeit: 20 Minuten. Die Methode wurde an dem Beispiel Spiel-
Tränen-Freude geübt. 6. Die Urteilsfähigkeit. Es wurde eine Geschichte
vorgelesen, deren Abschluß von den Prüflingen zu erraten w-ar. Zeit:
15 Minuten. 7. Die Anschauung. Es wurde ein Foliobogen genommen,
vor der Klasse einmal in der Mittellinie vertikal geknickt, alsdann noch
einmal horizontal geknickt, dann an der gefalteten Ecke ein recht-
winklig-gleichschenkliges Dreieck abgeschnitten. Frage: Zeichnet die
Figur oder die Figuren hin, welche entstehen, wenn ich das doppelt
gefaltete Blatt wieder auseinandernehme. Zeit: 3 Minuten.
Von den Waisenhauszöglingen w^aren etwa 50 Prozent Fürsorgezög-
linge, die übrigen 50 Prozent moralisch normal. Irgendein Unterschied
in der Intelligenz der Normalen und Verwahrlosten innerhalb derselben
Klasse war weder nach den Schulleistungen noch nach den Ergebnissen
der Prüfung zu erkennen. In den Erziehungsanstalten waren ledig-
lich schwerer Verwahrloste, von denen die Mehrzahl bereits kriminell
oder sexuell verwahrlost war.
3. Die Ergebnisse.
Um die Auswertung und einen Vergleich zu ermöglichen, wurden für
die Einzelleistungen Zensuren gegeben, bei einigen Tests von 1 — 7, bei
andern von 1 — 5. Da es sich um Vergleiche handelt, wird gegen
dieses Verfahren kaum etw^as einzuwenden sein. Die Variationsbreite
war bei allen Tests eine genügend breite, so daß sie, obwohl ursprüng-
lich für die Begabtenauslese aufgestellt, auch für unsern Zweck, bei
dem es sich um die Aufstellung eines Mittelwertes für eine Gesamtheit
handelt, sehr gut zu brauchen sind. Die Ergebnisse sind in den Ab-
bildungen graphisch veranschaulicht, w^obei die normale Volksschule mit
einem Strich, die Waisenhausknabenklasse gestrichelt, die Waisen-
hausmädchenklasse punktiert, die Erziehungsanstalt für Knaben durch
kleine Kreise und die Erziehungsanstalt für Mädchen durch kleine
Kreuze dargestellt ist. Auf den Abszissenachsen sind die Zensuren,
auf den Ordinatenachsen die Zahl der zu den Zensuren gehörigen
Prüflinge in Prozent gegeben. Wegen der Raumnot sind nur einige
Ergebnisse vollständig graphisch wiedergegeben.
1. Die Aufmerksamkeit. Bei der Bewertung wurde nur die Zahl der
richtig ausgestrichenen Buchstaben berücksichtigt. Falsche Streichungen
waren selten. Wenn auch bei der Beurteilung die Schnelligkeit der
Arbeitsleistung eine Rolle spielt, so ist diese doch von untergeordneter
Bedeutung, da die Zeit so lang gewählt war, daß nur wenige Aus-
nahmen nicht bis zum Ende des Textes gekommen sind. Das Ergebnis
zeigt Abb. 1 S. 40. Wir sehen aus der Zw^eigipfligkeit der Kurven sowohl
bei dem normalen als auch bei dem anormalen Material eine deutliche
Inhomogenität. Wesentliche Unterschiede sind bei den SchulpfHchtigen
der beiden Gruppen nicht zu entdecken. Die Erziehungsanstalt für
Knaben weist ein bedeutend besseres Ergebnis auf, entsprechend dem
40
Paul Riebesell
höheren Alter und der Art der Verwahrlosung, die durchweg in
kriminellen Handlungen besteht. Die Erziehungsanstalt für Mädchen, bei
der die in den Gruppen befindlichen Hilfsschülerinnen mit geprüft wurden,
schneidet am schlechtesten ab, was durch die Art der Verwahrlosung,
die hauptsächlich in Herumtreiben und Männerverkehr besteht, ihre
Erklärung findet.
2. Die Konzentrationsfähigkeit. Wie die Kurve für das normale
Material zeigt, ist die Zensierung diesem angepaßt. Es wurde die Zahl
Zeichen -Erklärung für Abb. 1—4 :
normale Volksschule
ooooeooo Erziehungsanstalt für Knaben
Waisenhausknabenklasse
Erziehungsanstalt für Mädchen
Waisenhausmädchenklasse
2 J <► 5
Abb. 1.
i: 3 it
2. Konzen^psfionsßhigkeit.
Abb. 2.
der niedergeschriebenen Worte gewertet. Wesentliche Unterschiede in
den Kurven sind nicht zu entdecken, nur daß das anormale Material lange
nicht so einheithch zusammengesetzt ist wie das normale, was dadurch
erklärlich ist, daß die in einer Klasse vereinigten Zöglinge aus den
verschiedensten Klassen der Volksschulen gekommen sind. (Abb. 2.)
3. Das Gedächtnis. Die verschiedenen Gebiete, aus denen die Be-
griffe gewählt waren (Arten, Teile, Eigenschaften, Verwendung usw.),
wurden gewertet. Nennenswerte Unterschiede zeigten sich nicht. Es
fiel nur das schlechte Ergebnis
bei den Mädchen des Waisen-
hauses und in der Erziehungs-
anstalt für Knaben auf. (Abb. 3.)
4. Die gebundene Kombi-
nation. Die Zahl der richtig
ausgefüllten Lücken im Text
wurde gewertet. Während hier
die anormalen Schulpflichtigen
und die schulentlassenen Mäd-
chen, letztere infolge der mitge-
rechneten Hilfsschüler, wesent-
lich hinter den Normalen zurück-
^ s e T bleiben, zeigt der Durchschnitt
* ßebunlrre iiomL3twn der schulentlasseueu Knaben ein
^^Ij 3 weit besseres Resultat. (Abb. 4.)
Beziehungen zwischen Intelligenz u. Morahtät bei jugendl. Verwahrlosten 41
5. Die freie Kombination. Zahl und Güte der Erzählungen w-urde
gewertet. Nennenswerte Unterschiede sind nicht zu entdecken.
6. Die Urteils! ähigkeit. Die Zensierung richtete sich nach der Art
der Einfühlung. Das anormale Material zeigt auf der ganzen Linie
bessere Werte als das normale. Ob dies daher kommt, daß die meisten
bereits durch verschiedene Schicksalsschläge enger mit dem praktischen
Leben in Berührung gekommen sind, mag dahingestellt bleiben.
7. Die Anschauung. Es zeigte sich in dem Ergebnis das erwartete
schlechte Resultat bei den Mädchen, aber auch die Knaben des Waisen-
hauses schneiden auffallend schlecht ab.
8. Das Gesamtergebnis. Um sämtliche Resultate miteinander ver-
gleichen zu können, wurden für jeden Prüfling die Einzelzeugnisse
addiert. Daß bei
diesem Verfahren
einzelne Leistun-
gen andern gegen-
über zu hoch ge-
schätzt werden, na-
mentlich diejeni-
gen , bei denen
7 Zensuren zur
Verfügung stan-
den, ist selbstver-
ständlich. Da es
sich aber nur um
einen Vergleich
handelt und bei
allen Gruppen in
gleicher Weise ver-
fahren w^urde, dürf-
ten kaum Einwendungen gegen dieses Vorgehen zu erheben sein.
Abb. 4 zeigt das Ergebnis. Auf der Abszissenachse sind die Zahlen,
die sich als Summe der Zensuren ergaben, aufgetragen. Das Bild zeigt
außer dem schlechten Ergebnis bei den Mädchen nur die Inhomogenität
des anormalen Materials. Größere Unterschiede, die bei der Größe der
Variationsbreite von 10—36 sicher erkennbar gewesen wären, lassen
sich nicht nachweisen.
In folgender Tab. sind für jeden Test die Durchschnittswerte berechnet:
73-i1 2Z-2't 23-27
Gesimtergetnis
Abb. 4.
Ze-30 37-33
V(24)
W. H. K. (46) j W. H. M. (24) | E. A. K. (29) | E. A. M. (26)
12,3—13,2—14,0
11,8—13,4—14,3 11,4— 13,4— 14,1 1 14,3 16,7 19,0}l5,3 17,5 19,10
1.
• 4,7
4,5
4,2 ' 3,1
5,1
2.
2,8
2,3
3,3 1 2,8
2,8
3.
2,6
2,2
3,3 ; 3,2
2,5
4,
4,1
4.8
5,2 3,9
4,8
5.
3,3
3,1
3,5
.3,2
3,0
6.
3,6
3,1
3,1
3,2
3,0
7.
2,3
3,2
33
2,2
2,5
1 23,4
23,2
25,9 1 21,6
23,7
! m.
I IL
V.
i I.
IV.
42 Paul Riebesell
Außer der Zahl der Prüflinge für die Volksschule (V), die Knaben-
klasse des Waisenhauses (W. H. K.), die Mädchenklasse des Waisen-
hauses (W. H. M.), die Erziehungsanstalt für Knaben (E. A. K.), die
Erziehungsanstalt füi- Mädchen (E. A. M.) enthält die Tabelle das Alter
der Prüflinge in Jahren und Monaten, und zwar jedes Mal zuerst das
geringste, dann das Durchschnitts- und zuletzt das höchste Alter. Zum
Schluß sind die Durchschnittswerte der Zensuren addiert und danach
eine Rangordnung der Gruppen aufgestellt. Sie lautet: 1. E. A. K.,
2. W. H. K, 3. V., 4. E. A. M., 5. W. H. M. Nebenher wurde für jede
Klasse eine Rangordnung der Prüflinge berechnet und zwar ebenfalls
einfach durch Addition der Einzelzensuren. Ich bin mir wohl bewußt,
daß dieses Verfahren nicht einwandfrei ist, sondern daß die endgültige
Ranglinie aus den Rangordnungen für die Einzelteste hätte berechnet
werden müssen. Da aber diese Untersuchung nur beiläufig zur Prüfung
der Brauchbarkeit der Teste gemacht wurde, mag dieses Verfahren
ausreichen. Gleichzeitig mit der Übersendung der Aufgaben waren
die Klassenlehrer gebeten, eine Intelligenzreihe für die Prüflinge nach
ihren Schätzungen aufzustellen und anzugeben, ob es sich um einen
guten oder schlechten Jahrgang handle. Ein Vergleich mit den von
mir berechneten Ranglisten ergaben folgende Abweichungen: Der
durchschnittliche Unterschied der von mir berechneten und der vom
Lehrer geschätzten Klassenplätze betrug in der Volksschule 5,1; in
der W. H. K. 6,1; in der W. H. M. 3,2; in der E. A. K. 2,7 und in
der E. A. M. ebenfalls 2,7. Bei der geringen Anzahl der Teste dürfte
das Ergebnis als durchaus befriedigend bezeichnet werden können.
Bemerkenswert ist noch, daß der Jahrgang der Volksschule als normal,
der der Knabenklasse des Waisenhauses als (in bezug auf die Schul-
leistungen) schlecht bezeichnet wurde. Werden in der E. A. M. die
Hilfsschülerinnen weggelassen, so wird das Ergebnis auch dort be-
deutend besser.
4. Schlußfolgerungen.
Aus den Ergebnissen sieht man, daß von einem allgemeinen Zurück-
bleiben der Intelligenz bei Verwahrlosten keine Rede sein kann. Auch
ein Stehenbleiben der Intelligenz auf der Stufe etwa des' 10. Lebens-
jahres, wie es vielfach, in Analogie mit den Schwachsinnigen, be-
hauptet wird, ist durch die Tatsachen widerlegt. Scheidet man die
geistig Defekten aus, so lassen sich die moralisch Defekten von den
moralisch Normalen in ihrer Intelligenz nicht unterscheiden. Eine
andere Frage ist die, ob der Prozentsatz der moralisch Defekten unter
den geistig Intakten derselbe ist wie unter den geistig Defekten. Von
vornherein ist nicht einzusehen, warum dies nicht der Fall sein sollte.
Eine Untersuchung darüber ist noch nicht gemacht. Es scheint aber
so, als wenn Psychopathen mit Gefühls- und Willensdefekten unter den
intellektuell Normalen ebenso häufig sind wie unter den intellektuell
Defekten. Die Frage 'könnte auch umgekehrt dadurch geprüft werden,
daß die Zahl der geistig Defekten und Normalen einerseits bei den
Verwahrlosten, andererseits bei den moralisch Normalen untersucht
würde. Zu diesem Zwecke wurde die Zahl der Hilfsschüler unter samt-
Beziehungen zwischen Intelligenz u. Moralität bei jugendl. Verwahrlosten 43
liehen Hamburger Volksschülern festgestellt. Sie betrug nach dem
letzten von der Oberschulbehörde veröffentlichten Jahresbericht von
1914 rund 1,4 Prozent. Andererseits war die Zahl der Hilfsschüler
unter den im Jahre 1917 von der Behörde für öffentliche Jugendfür-
sorge in Zwangs- oder Fürsorgeerziehung genommenen Minderjährigen
etwa 7 Prozent. Im Waisenhause waren im August 1918 etwa 10 Prozent
Hilfsschüler, in der E. A. K. etwa 5 Prozent, in der E. A. M. etwa
6 Prozent. Das scheint nun zunächst den bisherigen Ergebnissen zu
widersprechen und ein Zeichen dafür zu sein, daß Intelhgenz und
Moralität in der Weise miteinander verknüpft sind, daß ein moraUscher
Defekt in der Regel mit einem intellektuellen verbunden ist. Bei ge-
nauerem Zusehen erkennt man aber, daß dieser Schluß falsch ist und daß
er auch die Ursache für die Fehlschlüsse früherer Autoren abgibt.
Eine einwandfreie Prüfung für morahsche Quahfikation gibt es nicht.
Daher darf das Material der Volksschule dem der Fürsorgezöglinge nicht
als moralisch normal gegenüber gestellt werden. Es werden zweifellos
in der normalen Volksschule sich Individuen befinden, die morahsch
weit unter manchen Fürsorgezöglingen stehen. Sie werden aber durch
ihre Intelligenz davor bewahrt, daß der moralische Defekt offenkundig
wird und zur staatlichen Erziehung führt. Praktisch nachweisbar ist
eben allein die moralische oder amoralische Handlung, die ein Ausfluß
des Charakters, des Zusammenwirkens von Intelligenz, Gefühl und
Wille, ist. Wenn ich also Normalschüler mit Fürsorgezöglingen ver-
gleiche, so stelle ich nur Charakternormale den Charakterdefekten
gegenüber. Daß dann unter den letzteren die Zahl der intellektuell
Schwachen überwiegt, ist selbstverständlich. Als ein Beweis dafür,
daß Intelhgenz- und Moraldefekte miteinander verbunden sind, dürfen
aber diese Ergebnisse nicht angesehen werden. Zusammenfassend läßt
sich also Folgendes sagen: Reine Moralprüfungen, wie sie von mir in
der Ztschr. f. päd. Psychologie i) beschrieben und inzwischen gesondert
auf Voll- und Hilfsschüler angewendet sind, geben bei gleichem Lebens-
alter und verschiedenem Intelligenzalter keine Unterschiede in der
Moralität. Reine Intelligenzprüfungen, wie sie hier beschrieben v^oirden,
geben bei gleichem Lebensalter und verschiedenen Moralitätsstufen
keinen Unterschied in der Intelligenz. Nur wenn verschiedene Charakter-
stufen gewählt werden, die eine Hälfte also von vornherein mit Intelli-
genz- und Willensdefekten behaftet ist, ergeben sich sowohl Unter-
schiede in der Intelligenz wie in der Moralität.
Daß die Fürsorgezöglinge bei allen Intelligenzprüfungen schlechter
abschneiden als die normalen Schüler, hat auch seinen Grund darin,
daß ihre Schulbildung außerordentlich lückenhaft ist. Ganz ausschalten
lassen sich die Schulkenntnisse bei den Testen nicht, ganz abgesehen
davon, daß die Ausbildung der Intelhgenz zweifellos durch den Schul-
unterricht beeinflußt wird. Wie stark das anormale Material in bezug
auf die Schulbildung von der Norm abweicht, zeigt die Abb. 5 S. 44. In
ihr ist zusammengestellt, aus w^elchen Klassen die Volksschüler nach
dem Jahresbericht der Hamburger Oberschulbehörde von 1914 die Schule
') Vgl. ztschr. f. päd. Psychologie und experimentelle Pädagogik, Bd. 18, 1917.
44
Paul Riebeseil, Intelligenz u. Moralität bei jugendl. Verwahrlosten
3i -
25-
10 -
verlassen haben (Kurve V). Auf der Abszissenachse sind die Klassen
aufgetragen: Selekta, 1, 2, 3, 4, t (tiefere Klassen). Auf der Ordinaten-
achse finden sich die zugehörigen Prozentzahlen. Die gestrichelte
Kurve F. Z. gibt die Verhältnisse bei den
im Jahre 1917 aufgenommenen schul-
entlassenen Fürsorge- und Zwangs-
erziehungszöglingen wieder. Ob das
auffallende Zurückbleiben in den Schul -
leistungen eine Ursache oder eine Folge
der Verwahrlosung ist, soll hier nicht
weiter untersucht werden, zumal das
Fortkommen in der Schule nicht allein
von der Intelligenz abhängt.
Daß aus der Unabhängigkeit von
Wille und Intellekt wichtige Folge-
rungen in bezug auf die Auslese in
den Schulen, die Tätigkeit der Lehrer,
die Methoden der Fürsorgeerziehung, die Anforderungen an die Reform
des Jugendstrafrechts zu ziehen sind, sei hier nur angedeutet.
Der hamburgischen Oberschulbehörde, die die Prüfung der Teste an
ihren Anstalten gestattete, sowie den Leitern und Lehrkräften der
Volksschule und der Anstalten der Behörde für öffentliche Jugendfür-
sorge, die mich bei den Arbeiten unterstützten, sei auch an dieser
Stelle bestens gedankt.
Abb. 5.
Muster eines Tagebuches über Kinder.
Von Stefan von Mäday.
Eine der wichtigsten Methoden der Kinderforschung ist und bleibt die freie
Beobachtung des Kindes. Mögen die experimentellen Methoden noch so ver-
feinert und vermehrt werden, mit diesen allein kann das Wesen des Kindes
niemals erschöpfend erforscht werden. Die meisten Entdeckungen verdanken
wir der freien Beobachtung, während die Versuche nur dem Zwecke dienen,
die durch Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse zu kontrollieren, zu sichern
und anzuwenden.
Die Beobachtung ist entweder eine unsystematische oder eine systematische.
Gebildete, denkende Eltern und Lehrer werden selbst dann wertvolle Be-
obachtungen sammeln können, wenn ihnen gesagt wird: sie mögen alles auf-
schreiben, was ihnen am Kinde auffällt. Es ist jedoch ein großer Nachteil
solcher unsystematischen Beobachtungen, daß oft gerade Dinge, auf die der
Bearbeiter Wert legen würde, nicht notiert werden; andererseits beanspruchen
die unsystematischen, tagebuchartig z. B. in ein Buch eingetragenen Beobach-
tungen eine mühsame Sichtungsarbeit.
Wertvoller für die Forschung sind die systematischen Aufzeichnungen. Die
vom Bearbeiter im vorhinein gestellten Fragen werden vom Beobachter täg-
lich beantwortet. Außerdem können auch unsystematische Beobachtungen ge-
sammelt werden; diese werden in die Rubrik „Anmerkungen" eingetragen.
Stefan von Maday, Muster eines Tagebuches über Kinder 45
Da ich in der Absicht, gewisse physiologische und psychologische Zusammen-
hänge zu studieren, seit 1909 ein tabellarisches Tagebuch über mich selbst
führe, habe ich zur Zeit der Geburt meines älteren Sohnes (1912) ein ähn-
liches Tagebuchscheina zur Beobachtung von kleinen Kindern entworfen
(I. Muster;. Als mein Sohn sein 3. Lebensjahr vollendete, entwarf ich ein
neues Schema (11. Muster), und in schulpfhchtigem Alter werden vielleicht
wieder neue Rubriken nötig sein. Die Tagebücher werden von meiner Frau
geführt. (Das ei-ste Muster war bereits in der pädagogischen Abteilung der
Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik in Leipzig 1914 ausgestellt.) "'"
Auf Grund der nach diesen Mustern geführten Tagebücher gelang es mir,
manchen wertvollen Vergleich zwischen dem Entwicklungsgange der in der
Literatur geschilderten Kinder mit dem meiner Kinder zu ziehen. Es wiu-den
jedoch bis heute nur über ganz wenige Kinder systematische Aufzeichnungen
geführt, so daß der durchschnittliche Rhythmus der seelischen Entwicklung
hieraus nicht festgestellt werden kann. Zur Erforschung desselben ist es
wünschenswert, mindestens einige hundert Fälle systematisch zu beobachten.
Ich veröffentliche meine Tagebuch-Muster in der Erwartung, daß sich meine
Leser in Würdigung des hohen wissenschaftlichen Wertes einer solchen Sammel-
forschung mein Ziel zu eigen machen, und daß auf diese Weise die erw'ünschten
400 — 500 Kindertagebücher, als eine reiche Fundgrube der Kinderforschung,
in einigen Jahren einlangen werden.
Anleitung zur Führung eines Tagebuches über Kinder.
Zur Herstellung des Tagebuches wird monatlich je ein Bogen Icm-Quadrat-
liniertes Schreibpapier (Größe 34x42 cm) benötigt. Ein solcher Bogen dient
als Umschlag; in dessen oberste drei Zeilen werden die Überschriften der
Rubriken eingetragen, während die übrigen Zeilen frei bleiben. Von den
übrigen Bogen werden die obersten drei Zeilen weggeschnitten, damit sie die
Überschriften des Umschlagbogens sichtbar werden lassen. So bleiben auf
jedem Bogen gerade 31 Zeilen übrig, und jede Zeile ist für einen Tag bestimmt.
Man .braucht demnach monatlich einen Einlagebogen ; die Bogen werden nicht
geheftet. (Benutzt man an Stelle des 1 cm -Quadrat -Papiers das überall er-
hältliche 1 2 cm-Quadrat-Papier, so dienen je zwei Zeilen dieses Papiers fü
je einen Tag.)
Die Nacht wird zum nachfolgenden Tag gerechnet, so daß je eine Zeile des
Tagebuches die Zeit von einem Abend bis zum nächsten Abend in sich faßt.
Im Stabe ,,Befinden" wird der Zustand des Kindes klassifiziert. Die Schätzungs-
skala ist von mir nach langjähriger Erfahrung in der Weise aufgestellt worden,
daß es fünf Haupt- und vier Zwischenstufen (bezw. Klassifikationsnoten) gibt :
das Beste wird mit der höchsten Zahl, das Schlechteste mit der niedrigsten
Zahl bezeichnet:
5 = vorzüghch (z. B. „nur selten fühlte es sich so wohl") 0.4 = sehr gut
4 = gut (z. B. „fühlt sich wohl") 4/3 = gut mittel
3 = mittel 3/2 = schwach mittel
2 = schwach (z. B. krank) 2/i = sehr schwach
1 = schlecht (z. B. sterbenskrank).
Bis man in der Anwendung der Skala genügende Übung erlangt, benutze
man bloß die (durch ganze Zahlen ausgedrückten) Hauptstufen.
46
Stefan von Mäday
I. Muster. 1. Beispiel, aus dem !
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II. Muster.
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1917.
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Wo Zeitangaben verlangt werden (z. B. in dem Stabe „ Schlaf zeiten"), da
rechne man die Stunden fortlaufend von Mitternacht bis Mitternacht, damit
die Wörter „Vormittag", „Nachmittag" usw. weggelassen werden können. Man
schreibe also 1300 für 1 Uhr nachm., 19^5 für 73/4 abends.
Im Stabe „Schlafzeiten" kann man sich mit der Eintragung der nächtlichen
Schlafzeiten begnügen, insbesondere, wenn die Tages-Schlafzeiten kurz und
unregelmäßig sind; es kann sogar diese Rubrik unausgefüUt bleiben; sie bildet
hauptsächlich nur eine Hilfe zur Ausfüllung des folgenden, „Schlaf menge"
überschriebenen Stabes, auf dessen annähernd richtige Ausfüllung mehr Ge-
\\ächt gelegt werden soll. In diesem Stabe werden ganze und Viertel-Stunden
verzeichnet; um — zur Berechnung des Monatsmittels — bequemer addieren
zu können, wird die 1^2 Stunde als 2 4 geschrieben.
Muster eines Tagebuches über Kinder
47
Tagebuche über Bela v. M. (geb. 1912, XI. 3.)
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Anmerkungen
Streu-
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Schüttelt das Kollerl.
Hält in Bauchlage den
Kopf minutenlang hoch
Tagebuche über Laslo v. M. (geb. 1917, V. 7.).
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61 cm
Sehr brav , spielt lange mit
der Puppe. Zieht Mutter und
das Kindermädcben beim Haar.
Beobachtet fremde Leute scharf.
Schläft leicht ein.
Tagebuche über Bela v. M. (geb. 1912, XI. 3.).
Spiele
Träume
Geistige Fort-
schritte
Anmerkungen
Krieg, Baukasten,
Kochen.
Bin sehr schnell mit der Eisen-
bahn gefahren und suchte den
Papa und fand ihn.
Beginnt seinen
Vornamen allein zu
8chreit)en.
j Sehr lebhaft, spricht viel vom
I Weihnachtsmann, und wünscht sich
ein Ariston. Fragt, wie man Ochs,
' Kuh und Stier voneinander kennt.
Die Untergruppen des Stabes „Nahrung" werden nach Verlassen der Milch-
diät nicht mehr besonders ausgefüllt; auch können die Überschriften nach
Bedarf abgeändert werden.
„Körpermaße" werden monatlich einmal (am Geburtstage) aufgenommen.
Das Körpergewicht wird in den ersten Wochen täglich bestimmt. Körper-
temperatur wird niu* bei Krankheit gemessen ; es \^ird Stunde und Minute des
Messens, sowie die gemessene Körperstelle (z. B. „im Mastdarm") angegeben.
Der Stab „Anmerkungen" enthält die unsystematischen Beobachtungen.
Wird uns hier der Raum zu eng, so schreiben wir auf eine Beilage (auf einen
Zettel oder in ein Buch) und ver^^eisen darauf im Stab „Anmerkungen".
Die wichtigste Regel des Tagebuches über Kinder ist aber diese: die Au f-
zeichnung her übe auf Beobachtung, nicht ab er auf Befragung des
48 Stefan von Maday, Muster eines Tagebuches über Kinder
Kindes. Würde eine Mutter die Tagebuchtabelle in der Weise ausfüllen wollen,
daß sie etwa ihr 5 jähriges Kind Jeden Abend — oder auch nur ein einziges
Mal — zu ihrem Schreibtisch ruft und fragt: „Wie hast du dich heute ge-
fühlt? Hast du Appetit gehabt? Wie hast du geschlafen? Was hast du
geträumt? usw." — so würde sie nicht bloß un verläßliche, für eine wissen-
schaftliche Bearbeitung wertlose Angaben anhäufen, sondern sie würde gegen
die Grundsätze der Kindererziehung verstoßen. Niemals darf ein Kind
bemerken, daß es beobachtet wird, daß man sich in besonderer Art
mit ihm beschäftigt, daß es der Mittelpunkt des Interesses der Erwachsenen
ist. Denn dadurch würde das Kind zur Anmaßung, zum Egoismus, zum Eigen-
dünkel verleitet und zur Hysterie erzogen. Ein viel kleinerer Fehler ist es,
wenn die Rubriken des Tagebuches unausgefüUt bleiben. Man notiere daher
nur, was man sieht, oder was das Kind unaufgefordert erzählt (z. B. Träume) ;
die Unterabteilungen des Stabes „Befinden" fülle man aber mit lauter Sern aus,
wenn nichts besonderes beobachtet werden konnte.
Schließlich bitte- ich alle diejenigen, die meine Tagebuchmuster benutzen
werden, mir ihre damit gemachten Erfahrungen mitzuteilen und mir die fertigen
Tagebücher mindestens leihweise zur Verfügung zu stellen.
Die unterrichtliche Behandlung Kopfschußverletzter.
Von Artur Stößner.
Die besondere Fürsorge für Kopfschußverletzte ist Neuland der Kriegs-
beschädigtenfürsorge. Aber die große Zahl der Kopfschuß verletzten dieses
Krieges, die die Zahl der Amputierten noch übersteigt, machte einen möglichst
raschen Ausbau dieses Teiles der Kriegsfürsorge zur gebieterischen Pflicht,
und gegenwärtig bestehen wohl in allen Korpsbezirken besondere Einrichtungen
für Kopfschußverletzte: Schulen, Werkstätten, Beratungsstellen. Es ist selbst-
verständlich, daß bei Verletzungen des Gehirns Störungen des Seelenlebens
in langer Kette und in allen möglichen Stärkegraden auftreten, von der vielleicht
ganz eng umgrenzten Ausfallserscheinung an, die sich nur eingehender ex-
perimenteller Prüfung erschließt, bis zu den schwersten Intelligenzmängeln,
durch die die Verwundeten auf die Stufe von Schwachsinnigen herabgedrückt
werden. Deshalb muß in der Heilbehandlung dem Unterrichte eine besonders
bedeutsame Rolle zufallen. Wenn es nun schon bei normalen Schülern not-
wendig ist, daß der Lehrer zunächst deren Anlagen und Fähigkeiten genau
kennen lernen muß, ehe er den Hebelarm seines Unterrichts ansetzen kann,
so wird diese Forderung eines möglichst tiefen Einblickes in das Gesamt-
gefüge der geistigen Persönlichkeit bei den Kopfschußverletzten eine ganz
unerläßliche Vorbedingung. Wir wenden uns deshalb in den folgenden, dem
Unterricht an Hirnverletzten gewidmeten Ausführungen, die auf die an sich
außerordentlich wichtige Werkstättenbehandlung nicht eingehen wollen, zu-
nächst der Frage zu:
I. Welcher Art sind die Störungen des Seelenlebens?
Darüber wird neben manchen anderen Hilfsmitteln vor allem auch eine
mit dem Rüstzeuge der experimentellen Psychologie arbeitende Prüfung die
Artur Stößner, Die iinterrichtliche Behandlung Kopfschußverletzter 49
wünschenswerte Aufklärung bringen. Es sei auf die Methodik solcher Ver-
suche nicht eingegangen. Sie werden natürhch in jedem einzelnen Falle
besondere Ergebnisse zeitigen; gröbere und feinere Abweichungen vom Durch-
schnitt, Berg und Tal in der Wellenlinie der Variationsmöglichkeiten werden
in unendlicher Mannigfaltigkeit am geistigen Auge des Beobachters vorüber-
ziehen. Aber andererseits lassen sich doch auch in dem Geflecht gewisse
Grundlinien als ziemlich regelmäßig wiederkehrend erkennen. Von diesen
Störungen sind für den Unterricht besonders wichtig: Seh-, Hör-, Sprech-,
Lese-, Schreib- und Rechenstörungen, Gedächtnisschwäche, große Ermüdbar-
keit, herabgesetzte und sehr wechselnde allgemeine Widerstandsfähigkeit,
Leistungspessimismus, Aufmerksamkeitsmängel, Reizbarkeit, Affektanfälligkeit.
Unter diesen Störungen tritt die Herabsetzung der Merkfähigkeit be-
sonders häufig auf, und wie schon beim Altersgedächtnisschwund der Satz
gilt: „Das Neue stirbt vor dem Alten", so findet man auch bei Kopfschuß-
verletzten den tief eingegrabenen alten Gedächtnisbesitz verhältnismäßig wenig
angegriffen, während die Neuaufnahme von Vorstellungen in auffallendster
Weise erschwert ist. Auch geistig sehr gebildete Kopfschußverletzte tragen
deshalb häufig ein Notizbuch bei sich zum Eintrag einfachster Alltagserlebnisse.
So ist z. B. schon das Nachsprechen einstelliger Zahlen oder einsilbiger Wörter
eng begrenzt; während der gesunde Erwachsene von 10 etwa im Abstand von
2 Sekunden vorgesprochenen Wörtern mittleren Umfangs und geringer Auf-
fassungsschvderigkeit 6 — 7 sofort zu reproduzieren vermag, sinkt beim Kopf-
schußverletzten die Gedächtnisspanne oft auf 2 — 3 herab. Dazu hat eine
leichte Ablenkung der Aufmerksamkeit geradezu verheerende Wirkungen für
die eben aufgenommenen Vorstellungen; die Gedächtnisspuren werden voll-
ständig ausgelöscht, so daß die Ziehensche Prüfungsmethode der disparaten
Aufgabe und der 3. Teil des Viereggeschen Versuches, bei deren Dui'chführung
solche Ablenkungen der Aufmerksamkeit absichtlich eingeschoben werden,
nicht gelingen.
Einen nachteiligen Einfluß übt die Hirnverletzung auch auf den Vorstellungs-
ablauf aus; es treten auffallende Verlängerungen der Assoziationszeiten ein ;
die inhaltliche Beschaffenheit der Reaktionswörter deutet entv^-eder auf einen
sehr sprunghaften Vorstellungsablauf, der mehr oder weniger schon an die
Auflösung aller Vorstellungsverbände, an Be\\aißtseinszerfall, erinnert, oder
auf ebenso unnormales Festhalten der Ausgangsvorstellungen. Ebenso ist
das Streuungsmaß der Reproduktionszeiten sehr groß; es folgen die Wörter
in ganz verschiedener Schnelligkeit, ohne daß etwa in der Gesamtbewußt-
seinslage oder in der Geläufigkeit der Verbindungen oder in der inhaltlichen
Wertigkeit der Wörter eine hinreichende Erklärung für solche Schwankungen
gegeben, ist.
Eine Schädigung, die etwa in derselben Regelmäßigkeit auftritt wie die
Minderung der Merkfähigkeit, ist die leichte Ermüdbarkeit. Prüft man
mit einer der KraepeUnschen fortlaufenden Arbeitsmethoden, so überdeckt in
sehr vielen Fällen die Ermüdung fast von Anfang an alle Übungseinflüsse,
obwohl diese wegen mangehider Vorübung als ziemlich hoch einzuschätzen sind.
Häufig wird man auch eine Herabsetzung der Intelligenz feststellen
können; das denkende Durchdringen der Wirkhchkeit ist erschwert und ver-
langsamt, die Klarheit des Urteils getrübt: die Verbindung von Stichwörtern
zu Sätzen, die Ausfüllung eines lückenhaften Textes, die Einfügung fehlender
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 4
50 Artur Stößner
Bindewörter, die Erkennung von logischen Widersprüchen, die Aufstellung
von Begriffsleitern gelingen nicht oder nur ganz ungenügend, so daß man
einen Intelligenzrückstand annehmen muß. Immerhin dürfte gerade bei der
Messung und Eichung der Intelligenz einige Vorsicht am Platze sein, da viele
der gebräuchlichen Formen der Intelligenzprüfung an dem Fehler leiden, daß
sie zu viel rein schulmäßiges oder verwandtes Wissen prüfen und damit eine
unerläßliche Voraussetzung aller experimentellen Untersuchungen, nämlich die
Gleichheit der Versuchsbedingungen, nicht erfüllen, da natürlich die Schul-
bahnen der zu Untersuchenden ganz verschiedene Richtungen aufweisen.
Zu diesen allgemeinen Störungen gesellen sich noch besondere. Unter
diesen ist das weitverzweigte Gebiet der Aphasie oder Stummheit zu nennen.
Die Grundformen sind mro torische und sensorische Aphasie. Die erstere
zeigt sich in der Aufhebung des Sprechvermögens. Die Ursache ist die
Verletzung der dritten linken Stirnwindung, wodurch die Wortbewegungs-
vorstellungen, d. h. die Erinnerungsbilder der beim Aussprechen eines Wortes
zu vollziehenden Bewegungen der Sprechmuskulatur, verloren gehen. Die
sensorische Aphasie zeigt sich in der Aufhebung des W^ortverständnisses in-
folge des Verlustes der Wortklangbilder. Das Hörvermögen ist vorhanden,
aber die Wörter erscheinen wie Wörter einer fremden Sprache. Oft handelt
es sich auch nur um leichtere Erscheinungen, z. B. um Erschwerung der
Wortfindung. Dazu kommen mancherlei andere Störungen verwandter Ai't,
so im Lesen, Schreiben, wobei etwa das Schreiben nach Diktat, das Spontan-
schreiben oder das Abschreiben gesondert gestört sein können. Wegen der
verhältnismäßig großen Ausdehnung der im Dienste des Sprechens stehenden
Rindenteile sind bei Kopfschüssen Sprachstörungen sehr häufig, weshalb stets
auch Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen zu prüfen sind.
Sehr häufig sind auch Sehstörungen; wir finden sie nicht nur bei Ver-
letzung des Hinterhauptlappens, in dem die Sehsphäre liegt, sondern auch bei
Beschädigung anderer Hirnteile, weil die Sehbahn ein außerordentUch weit-
verzweigtes Nervenleitungssystem darstellt. Das Hauptkennzeichen ist die
Halbseitenblindheit, der halbseitige Gesichtsfeldausfall. Mit der RindenbUnd-
heit darf die Seelenblindheit nicht verwechselt werden. In diesem Fall ist
das Verständnis für Gesehenes erloschen; Farbe, Form, Größe, räumhche
Beziehungen werden wahrgenommen, aber die Gegenstände werden nicht
erkannt. Aus dieser kurzen Übersicht über die am häufigsten vorkommen-
den Störungen ergibt sich schon, wie vielseitig der den Hirnverletzten zu
erteilende Unterricht sein muß.
II. Wie ist der Unterrieht zu gestalten?
Ohne weiteres ergeben sich drei Klassen, nämlich für Sprachgeschädigte,
für Sehgeschädigte und die allgemeine Abteilung. Auch die vor Ostern 1918
im Reserve -Lazarett Arnsdorf bei Dresden durch die Stiftung Heimatdank
ins Leben gerufene Hirnverletztenschule weist diese drei Klassen auf; zu ihnen
haben sich dann später noch drei Fachklassen gesellt, nämhch für kaufmännische
und Büroberufe, für Zeichner und Arbeiter in technischen Büros und für Land-
wirte. Ein verhältnismäßig dankbares Gebiet der Übungsbehandlung
stellen die motorischen Sprachstörungen dar; durch Stimmbildungs-,
Artikulations- und Sprechübungen, Lesen und Wiedererzählen wird man ver-
Die unterrichtliche Behandlung Kopfschußverletzter 51
suchen, dem Geschädigten die Lautsprache als das ideale Verständigungsmittel,
das in der Menschheitsentwicklung den Sieg über alle anderen dem Mitteilungs-
bedih'fnisse dienenden Hilfsmittel davongetragen hat, wieder zu erobern.
Besonders gute Dienste leistet dafür das linkshändige Schreiben; es trägt zur
Ausbildung eines neuen Sprachzentrums in der rechten Hirnhälfte bei. Da
unser Denken in der Hauptsache mit Wortvorstellungen arbeitet, die die Stützen,
Hilfen, Träger, Fixierungs- und Angelpunkte des Denkvorganges sind, da die
Wörter gewissermaßen die sinnlichen Symbole der Begriffe sind, so bewahren
wir den Sprachgeschädigten zugleich auch vor der ihm sonst drohenden Ge-
fahr der allmählichen Verblödung. Die Rückbildungsaussichten der motorischen
Aphasie sind günstig; in sehr vielen Fällen verbleiben bei genügend langer
Behandlung wenigstens für den Nichtkopfarbeiter keine die Erw^erbsfähigkeit
wesentlich beeinträchtigenden Rückstände. Auch die Spätstörungen, die nach
Beseitigung der eigentlichen Aphasie in der Form des Stotterns auftreten, sind
erfolgreich zu bekämpfen.
Nicht so günstige Aussichten bieten die sensorische Aphasie und die Seelen-
blindheit; am zweckmäßigsten weist man diese Fälle der Abteilung für Seh-
geschädigte mit zu. Bei dem halbseitigen Gesichtsfeldausfall ist die
Lokalisierung der Gegenstände im Räume und die Bewegung im Räume er-
schwert; so wird z.B. bei Halbiei"ungsaufgaben stets der Teilungspunkt nach
der Ausfallsseite hin verschoben, so daß dieser Teil der Linie zu klein wird.
Wenn irgendwo, so gilt in der Sehklasse der alte pädagogische Satz: „An-
schauung ist das absolute Fundament aller Erkenntnis." Daneben müssen
Lesen und Schreiben geübt werden; bei rechtsseitigem Ausfall sind die dem
fixierten Worte nachfolgenden Wörter der Zeile unsichtbar ; diese Verküizung
des Lesefeldes, also des durch einen einzigen Bewußtsein Vorgang aufgefaßten
Teiles der Lesezeile, macht sich bei der Zusammenschheßung der Wörter
zu größeren sinngemäßen Einheiten sehr störend geltend. Bei der Über-
windung dieser Schwierigkeiten leistet ein Lesestäbchen gute Dienste; beson-
ders empfehlenswert ist es für die Erweiterung des Restgesichtsfeldes, wenn
das Stäbchen bei linksseitigem Ausfall mehr an den Wortanfang, bei rechts-
seitigem mehr an das Wortende gesetzt mrd. Da Halbseitenblindheit den
Lesevorgang erheblich erschwert, so bleibt für das Eindringen in den Sinn
des Gelesenen wenig Kraft zur Verfügung, woraus sich die allgemeine Klage
dieser Geschädigten erklärt, daß sie nicht verstehen, was sie lesen. Deshalb
muß das Durchsprechen von Lesestücken und im Anschluß daran die inhalt-
liche Wiedergabe derselben fleißig gepflegt werden. Aufsuchen einzelner
Gegenstände und Figuren in einer großen Anzahl gleichzeitig dem Auge sich
darbietender Eindrücke, sowie Laubsägearbeiten und Ausschneideübungen
sind weitere wichtige Hilfsmittel der Übungsbehandlung.
Der allgemeinen Abteilung, die man gegebenenfalls in eine Unter- und
Oberklasse gliedern wird, werden diejenigen zugewiesen, die keine der bis-
her erwähnten besonderen Störungen, sondern nur eine Herabsetzung der
formalen geistigen Leistungsfähigkeit aufweisen. Man wird hier schulmäßiges
und verwandtes Wissen und Können durch den Unterricht zu beleben suchen;
man wird etwa Rechnen, Lesen, Schreiben, beschreibenden, erzählenden und
stiUstischen Anschauungsunterricht, Bürgerkunde, Buchführung erteilen. In
erster Linie aber muß die Bekämpfung der durch möglichst genaue psycho-
logische Analyse festgestellten Mängel der geistigen Leistungsfähigkeit stehen.
52 Artur Stößner, Die unterrichtliche Behandlung Kopfschußverletzter
Die Merkfähigkeit ist durch Gedächtnisübungen zu bessern; die Fehler der
Aufmerksamkeitsspannung werden durch Übungen am Tachistoskop beseitigt;
der Vorstellungsablauf wird durch künstliche Erweckung von Assoziationen
beeinflußt; die Messungsmethoden der Intelligenz können zugleich auch als
Übungsmittel dienen ; die Ermüdbarkeit wird durch allmählich sich steigernde
Aufgaben nach den fortlaufenden Arbeitsmethoden bekämpft. Solche zweck-
mäßig aufgebaute Übungen bewirken eine vielseitige Inanspruchnahme der
assoziativen Nervenleitungsbahnen, ihre rechte Abstimmung und Ausschleifung,
die Zuleitung von Erregungswellen nach den gewünschten Richtungen, die
Umbiegung und Erneuerung von Dispositionsrichtungen und die Beseitigung
von Hemmungswiderständen aller Art. Solche rein formale Übungen sind
ganz besonders zu empfehlen, obwohl sie das unmittelbare Interesse der
Hirnverletzten naturgemäß nicht leicht zu gewinnen vermögen; sie schaffen
und verbessern aber das Handwerkszeug für spätere Anforderungen und
machen sich deshalb reichlich bezahlt.
Selbstverständlich muß jeder Unterricht in allen seinen Teilen und Maß-
nahmen auf die eigenartige Geistesverfassung der Kopfschußverletzten genau
eingestellt werden. Die Klassen sind nur schwach zu besetzen ; häufig wird
Einzelunterricht nötig sein. Vor allen Dingen sind sie vor zu hohen Anforderun-
gen zu bewahren; die Gefahr der Überanstrengung liegt nahe, weil sie nach
Abschluß der chirurgischen Behandlung auf den ersten Blick keinen ungün-
stigen Eindruck machen. Der leichten Ermüdbarkeit ist durch häufige Ein-
schiebung von Pausen Rechnung zu tragen, damit nicht verbleibende Ermüdungs-
reste sich allmählich in bedrohlicher Weise anhäufen und zu einer Ermüdungs-
narkose mit allen ihren gefährlichen Begleiterscheinungen führen. Weiter
empfiehlt es sich, bei der Aneignung irgendwelcher Wissensstoffe die dazu
nötigen Wiederholungen auf einen längeren Zeitraum gleichmäßig zu verteilen.
Nach Erledigung einer Arbeit darf nicht sofort wieder die geistige Kraft in
anderer Weise in Anspruch genommen werden, weil sonst eine bedrohliche
Lockerung der eben geschaffenen Vorstellungsverbände eintritt. Zu berück-
sichtigen ist ferner die außerordentliche Empfindlichkeit der Kopfschußver-
letzten gegenüber äußeren Einflüssen, die den Gesunden in seiner Arbeits-
fähigkeit gar nicht berühren; im besonderen wirken schnelle Veränderungen
des Barometerstandes stark herabsetzend auf die Leistungsfähigkeit ein, weil
sie eine Änderung der Druckverhältnisse innerhalb der Schädelkapsel hervor-
rufen. Vollständige Enthaltsamkeit vom Alkohol ist ein wichtiges Mittel zur
Sicherstellung der Unterrichtserfolge. Bei der Erneuerung und Ergänzung
des schulmäßigen Wissens ist immer mit den untersten Stufen zu beginnen;
man wird dabei oft ganz unvermutet auf engumschriebene Ausfallserscheinungen
stoßen, die erst beseitigt werden müssen, bevor der Unterricht nutzbringend
weitergeführt werden kann.
in. Welche ünteiTichtserfolge dürfen wir erhoffen?
Für viele Gebiete des normalen Seelenlebens gilt der Satz, daß ein Aufstieg
irgendwelcher Art zunächst ziemlich schnell erfolgt, dann ein langsameres
Zeitmaß einschlägt und endlich einen Punkt erreicht, über den hinaus er
trotz aller Anstrengungen nicht weitergeführt werden kann. Die Form einer
solchen Kurve scheinen im allgemeinen auch die Unterrichtserfolge bei Hirn-
W. Carrie, Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in d. Hamburger Volkssch. 53
verletzten anzunehmen. Im Anfang sind gewöhnlich recht befriedigende
Ergebnisse zu verzeichnen. Das hat verschiedene Gründe. Das nichtzerstörte
Gewebe erholt sich und wird wieder arbeitstüchtig; die Reste des zerstörten
Herdes werden in ihrer Leistungsfähigkeit über das bisherige Maß heraus-
gehoben; ki-aft des im Bereiche der Nerventätigkeit geltenden Gesetzes der
stellvertretenden Arbeitsleistung ti-eten auch benachbarte Rindengebiete ein,
und auch die entsprechenden Felder der anderen Hirnhälfte übernehmen
einen Teil der Aufgaben. Es folgt danach eine Zeit langsamen Fort-
schreitens, während der es ganz besonders auf unermüdhche Arbeit ankommt,
weil Lehrer wie Schüler durch die immer deutMcher in die Erscheinung
tretende Verlangsamung des Heilungsvorganges in ilu-er Arbeitsfreudigkeit
herabgestimmt werden; wird aber aus solcher Unluststimmung heraus der
Unterricht vorzeitig abgebrochen, so findet sich der Hirnverletzte mit seinem
Schicksal ab und richtet weiterhin seine Kraft mehr auf das Verbergen als
auf das Ausgleichen der Schädigung. So ist Geduld auf beiden Seiten von
nöten. Im allgemeinen sind engbegrenzte Ausfallserscheinungen, sogenannte
Herdsymptome, leichter zu beeinflussen als die gewissermaßen das gesamte
geistige Leben überschattenden Erscheinungen der Ermüdbarkeit, des Gedächt-
nisverlustes und der Dickflüssigkeit der Vorstellungsbewegungen. Doch
sind auch diese letzteren Schädigungen zum mindesten in demselben Maße
beeinflußbar als die leichten und mittelschweren Lähmungen. Der Unter-
schied zwischen dem Ergebnis einer Selbstlieilung und dem eines methodischen
Unterrichts ist ganz beh'ächthch. Allerdings darf man sich über das Höchst-
maß des Erreichbaren keiner Täuschung hingeben; nur in Ausnahme-
fällen dürfte es gelingen, einen Kopfschußverletzten wieder zu einem ganz
vollwertigen Menschen zu machen; aber auch in den schwersten FäUen ver-
mögen die Verletzten so weit gebracht zu werden, daß sie sich verständlich
unterhalten, einen Brief schreiben, die Zeitung lesen und die notwendigen
Rechenaufgaben des läghchen Lebens lösen können.
Groß ist leider die Zahl der Arbeitslosen unter den Hirnverletzten, doppelt
so groß als die der Armamputierten; mehr als ^,3 war nach einer statistischen
Erhebung ohne Beschäftigung. So wird es immer die vornehmste Aufgabe
des Unterrichtes sein müssen, an seinem Teile zur Besserung dieser ungün-
stigen Sachlage mit allen Kräften beizuh-agen.
Statistische Erhebungen über sprachgebrechliehe Kinder in den
Hamburger Volksschulen.
Von W. Carrie.
Im Januar 1917 veranlaßte die Hamburgische Oberschulbehörde die Auf-
nahme einer Statistik über sprachgebrechliche Kinder in den Hamburger
Volksschulen, die das auf S. 54 tabellarisch bearbeitete Ergebnis brachte.
Die bis jetzt über die Verbreitung von Sprachdefekten aufgenommenen
Statistiken zeigen fast ausnahmslos den Übelstand, daß sie sich lediglich
auf die Feststellung der Zahl der sprachgebrechlichen Schüler beschränken.
Über Heil versuche und Heilerfolge, Hemmungen in unterrichtlicher und beruf-
64
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Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in den Hamburger Volksschulen 55
Scheidung nach dem Alter:
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Stotterer
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Sprachgebrechen
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148
405
192 1 102
294
ficlier Hinsicht, die für die Beurteilung der Notwendigkeit und des Wertes
therapeutischer Maßnahmen unerläßlich sind, geben sie meist keine bestimmte
Auskunft. Über Heilerfolge findet man höchstens hin und wieder mehr
oder weniger verschleierte Angaben.
Allgemein verbreitet ist wohl die durchaus irrige Annahme, daß Sprach-
gebrechen, welche geeignet sind, das Lebensglück eines Menschen stark zu
beeinträchtigen, seine Bildungsfähigkeit zu hemmen, seine Erwerbsfähigkeit
herabzusetzen und ihn von der Verwendung in bestimmten Berufen gerade-
zu auszuschließen, verhältnismäßig selten sind. Wie irrig diese Annahme
ist, zeigt die vorstehende Statistik; sie ergibt, daß rund 1,45 <>/o der ham-
burgischen Volksschüler mit Sprachgebrechen behaftet sind, darunter befinden
sich 0,840/0 Stotterer. Das Material zu dieser Statistik ist nicht von Schul-
ärzten, sondern von den Lehrkräften der einzelnen Schulen zusammengetragen
worden. Die Zahl der Stotterer beträgt 965, der Stammler 405, mit an-
deren Sprachgebrechen waren 294 Schüler behaftet, so daß die Gesamtsumme
1664 beträgt.
Nach den Erhebungen, die bereits in früheren Jahren in Braunschweig,
Potsdam, Elberfeld, Stettin, Königsberg, Zürich und anderen Orten auf-
gestellt wurden, sollen dort mindestens l^/o der Schulkinder stottern, in
Dresden sollen es sogar 2 0/0 sein. Die im Jahre 1886 an den Berliner
Gemeindeschulen aufgenommene Statistik ergab, daß unter 155000 Kindern
1550 Stotterer waren, also genau lo/o. Dort befanden sich an Stotterern
unter den Kindern
von 6 bis 7 Jahren = 0,5 0/0
„ 7 „ 8 „ = 1,170/0
„ 8 „ 9 „ = 1,110/0
„ 9 „ 10 „ = 1,350/0
von 10 bis 11 Jahren = 1,43 0/0
„ 11 „ 12 „ = 1,370/0
„ 12 „ 13 ,, = 1,440/0
„ 13 „ 14 „ = 1,610/0
Diese Statistik ergibt außerdem, daß das Stottern während der Schulzeit
noch zunimmt; während sich unter den Lernanfängern nur 0,5 0/0 Stotterer
befanden, stotterten beim Verlassen der Schule nach erfüllter Schulpflicht
bereits 1,61 0/0. Die Zahl der Stotterer hat sich also im Laufe der 8 Schul-
jahre reichlich verdreifacht.
56 W. Carrie
Im Jahre 1910 wurden seitens des städtischen Medizinalamtes in Amster-
dam Zählungen sprachgebrechlicher Kinder vorgenommen, die ergaben, daß
1,19 o/o der beobachteten Schulkinder an Stottern litten, davon waren 80,5 o/o
Knaben und 19,5 o/o Mädchen. Während sich die Zahl der Stotterer im
Laufe der Schulzeit auch hier vermehrt und erst gegen das Ende hin fällt,
geht die Zahl der Stammler zusehends zurück. Zum Belege dafür diene
nachstehende Tabelle:
Stotterer:
Stammler
6 Jahre
alt
== 6,36 o/o
(nicht gezäh!
7 „
= 6,140/0
» »
8 „
= 11,550/0
= 23,87 0/0
9 „
)j
= 14,15 0/0
=- 20,69 0/0
10 „
J3
= 16,51 0/0
= 22,55 0/0
11 „
}>
= 17,220/0
= 15,38 0/0
12 „
!>
\
= 16,750/0
= 11,410/0 ,
13 „
„ und
älter
= 11,320/0
= 6,10 "/o
Wie in fast allen Städten, so bestehen auch in Amsterdam sogenannte
Heilkurse für stotternde Schüler, die aber, wie die Statistik zeigt, nicht ein-
mal vermocht haben, das Übel auf seinen ursprünglichen Umfang zu be-
schränken, denn es zeigt sich, daß sich bereits unter den elfjährigen Schülern
dreimal soviel Stotterer befinden als unter den Lernanfängern. Die jetzt
vorliegende Hamburger Statistik zeigt die gleiche Erscheinung. Auch hier
befinden sich nach Zusammenstellung I unter den sieben Jahre alten Schülern
nur 49, unter den zwölfjährigen aber bereits 156 Stotterer, also ebenfalls
reichlich dreimal soviel. Die Zahl der in den Hamburger Schulen ermittel-
ten Stotterer beträgt nur 0,84 0/0, bleibt also hinter den anderwärts ermittel-
ten Zahlen etwas zurück, jedoch ist anzunehmen, daß hier mehrfach Fälle
beginnenden Stotterns, also Fälle, die sich von Laien nicht immer leicht
und sicher diagnostizieren lassen, in der Rubrik 4c als „andere Sprachgebrechen"
registriert wurden. Man muß dabei bedenken, daß den meisten Lehrern die
Sprachheilkunde leider noch ein unbekanntes Gebiet ist, eine Lücke, die die
Lehrerbildungsanstalten möglichst bald ausfüllen müssen. Ich habe mehr-
fach feststellen können, daß Lehrer nicht imstande waren, anzugeben, ob ein
Schüler an Stottern oder an Stammeln litt. Man darf sich daher nicht
wundern, wenn die Schule bis jetzt in der Bekämpfung von Sprachgebrechen
wenig oder gar nichts leisten konnte. Und dabei ist die Pflege des münd-
lichen Gedankenausdrucks eine der Hauptaufgaben der Schule.
Die geringe Zahl der Stotterer im 6. Lebensjahre in der Hamburger
Statistik ist darauf zurückzuführen, daß die Erhebungen im Januar, also am
Schlüsse des Schuljahres, vorgenommen wurden, mithin die meisten Kinder
der untersten Klasse das 7. Lebensjahr bereits überschritten hatten. Eben-
so wie in Amsterdam wird auch durch die Hamburger Statistik festgestellt,
daß die Zahl der Stammler (Zusammenstellung II) zusehends zurückgeht.
Die Zahl der Stotterer erreicht auch nach den Hamburger Erhebungen im
12. Lebensjahre ihren Höhepunkt, im 13. und 14. Jahre nimmt ihre Zahl,
ebenso wie in Amsterdam, ein wenig ab. Es scheint demnach, als wenn
mit dem allmählichen Übergang ins Pubertätsalter einzelne leichte Fälle von
Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in den Hamburger Volksschulen 57
selber zur Heilung gelangten, während C4utzmann behauptet, daß das vor-
handene Stottern zur Zeit des Eintritts der Pubertät sich steigern soll.
Nach Kußmauls Beobachtungen soll der Eintritt der Pubertät sogar Stottern
hervorrufen.
Wie sehr die unterrichtliche Förderung unter dem Sprachgebrechen leidet,
zeigt Rubrik 5. Wer jemals Stotterer behandelt, unterrichtet und aufmerk-
sam beobachtet hat, den wird diese Tatsache nicht überraschen. Stotterer
fürchten in der Regel, wegen ihres Gebrechens aufzufallen. Ein Angstgefühl
befällt sie, sobald sie sich zum Sprechen gezwungen sehen. W^erden sie im
Unterricht gefragt, so kommt es häufig vor, daß sie es vorziehen, sich un-
wissend zu stellen, lediglich aus dem Grunde, weil sie fürchten, wegen ihres
Gebrechens die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und dadurch die Spott-
lust ihrer Mitschüler herauszufordern. Der auf sprachheilkundlichem Gebiete
nicht bewanderte Lehrer glaubt wohl gar, daß die mangelhafte Sprachfertig-
keit auf Nachlässigkeit zurückzuführen sei, und fühlt sich veranlaßt. Strenge
anzuwenden, wodurch das Leiden nur verschlimmert werden kann. Gar zu
oft wird noch verkannt, daß es sich beim Stottern um eine Krankheit
durchaus ernsthafter Natur handelt, die durch unverständige Behandlung
nur gesteigert werden kann. Kein Wunder, wenn solche bedauernswerte
Kinder sich schließlich immer weniger am Unterricht beteiligen, daß sie, ab-
gesehen von der unterrichtlichen »Schädigung, durch eine derartige Behand-
lung auch noch schweren Schädigungen in der Charakterbildung ausgesetzt
sind. Allgemein sind daher auch die Klagen der Eltern, daß die Kinder in
der Schule grundfalsch behandelt würden, daß sie infolge ihres Gebrechens
zurückblieben, daß die Zeugnisse von Halbjahr zu Halbjahr schlechter und
die Kinder schließlich nicht versetzt würden. Ein Schüler aus den Ober-
klassen, der stark stotterte, berichtete mir noch vor kurzem in meiner
„Sprechstunde für sprachgebrechliche Kinder", daß sein Lehrer Rücksicht
auf sein Gebrechen nehme; zur Beantwortung einer Frage würde er nicht
he^rangezogen, er brauche in der Schule nicht zu sprechen. Der Knabe sitzt
also während des Unterrichts schweigend und infolgedessen wohl auch teilnahms-
los da. Ja, es wird nicht selten vorkommen, daß Stotterer, wenn sie zum
Antworten gezwungen werden, oft mit Absicht etwas Unrichtiges sagen, ledig-
lich aus dem Grunde, um möglichst schnell mit der Antwort fertig zu werden.
So berichtete mir die stotternde Mutter eines stotternden Knaben, daß sie
früher als Dienstmädchen ihrer Herrschaft auf Befragen oft die Unwahrheit
gesagt habe, wenn sie annehmen konnte, auf diese Weise vor längeren, münd-
lichen Auseinandersetzungen bewahrt zu bleiben. An ähnlichen Vorkomnmissen
fehlt es im Schulleben nicht, das habe ich oft genug als Lehrer sprach-
kranker Kinder erfahren, namentlich dann, wenn es sich um ehrgeizige und
empfindliche Kinder handelt. Das Zurückbleiben stotternder Kinder im
Unterricht ist daher eine allgemeine Erscheinung, die vielfach zu der irrigen
Annahme führte, daß die mangelhaften geistigen Fähigkeiten zu den prädis-
ponierenden Ursachen des Stotterns gehören. Auf Grund der langjährigen
Erfahrungen, die ich im Unterricht sowohl Sprachkranker als auch Schwach-
befähigter und Schwachsinniger gesammelt habe, muß ich entschieden in
Abrede stellen, daß sich unter den schwachbefähigt^n Schülern mehr Stotterer
58 W. Carrie
befinden als unter den Norraalveranlagten. Unter den wirklich Schwach-
sinnigen und Halbidioten sind mir Stotterer nie begegnet, obgleich ich
zehn Jahre lang an einer Hilfsschule für Schwachbefähigte amtiert habe.
Die wenigen Stotterer, die ich dort vorgefunden habe, standen ausnahmslos
hart an der Grenze der Normalität. Ich neige auf Grund des recht um-
fangreichen Schülermaterials, das ich im Laufe der Jahre zu beobachten
Gelegenheit hatte, zu der Annahme, daß sich unter den Schwachsinnigen
prozentual weniger Stotterer befinden als unter den Normalbegabten. Stammeln,
Poltern, Agrammatismus kommen dagegen unter Hilfsschülern sehr häufig
vor. Wenn nun trotzdem die Hamburger Statistik nachweist, daß der weitaus
überwiegende Teil der sprachgebrechlichen Kinder nicht regelmäßig versetzt
werden konnte, also unterrichtlich zurückblieb, so ist diese bedauerliche
Erscheinung hauptsächlich auf ihr Gebrechen, nicht auf ihre geistige Ver-
anlagung zurückzuführen. Noch mehr als in der Schule wird der Sprach-
defekt im Berufsleben hemmend wirken; leider läßt sich hierüber keine
Statistik aufstellen. Tatsache ist aber, daß der Stotterer in zahlreichen
Berufen überhaupt nicht oder nur in höchst untergeordneter Stellung zu
gebrauchen ist.
Was nun die Heilerfolge in den sogenannten Kursen für stotternde Volks-
schüler (Rubrik 6) betrifft, so zeigt sich, daß die Rückfälligkeit ungefähr eine
Regel ohne Ausnahme bildet. Die Zahl der bis zu dreimal und noch öfter in den
Heilkursen ohne dauernden Erfolg behandelten Kinder (244+ 116-1-56 = 416)
deckt sich fast genau mit der Zahl der sprachkranken Schüler, die im vorher-
gehenden Jahre in den Heilkursen behandelt wurden. Dabei erstreckt sich
die Behandlung in den Hamburger Heilkursen über den Zeitraum eines
Jahres. Im ersten Halbjahre (Hauptkursus) erhalten die Kinder wöchent-
lich vier Stunden, im letzten Halbjahre (Nachkursus) wöchentlich eine Stunde
Unterricht außerhalb der Schulzeit. In den Abschlußprüfungen vermögen
■dann auch die meisten dieser Kinder unter Anwendung der erlernten Sprech-
regeln, einfache, an sie gerichtete Fragen ohne Anstoßen zu beantworten,
aber bald nachher stottern sie wieder, wie die Statistik zeigt, genau so wie
früher. Der Erfolg ist in der Regel nur ein vorübergehender, ein Schein-
erfolg. Es ist offenbar ein großer Unterschied, ob jemand nur Vorgesprochenes
oder Auswendiggelerntes wiederholt, oder ob er auf einfachste, rein gedächtnis-
mäßig zu beantwortende Fragen Antwort gibt, oder ob er, wie es der strenge
Schulunterricht erfordert, nicht nur Wörter zu bilden und aneinanderzureihen,
sondern zuvor und zugleich deren geistigen Inhalt zu suchen und kritisch
zu prüfen hat. In den Heilkursen steht die rein physiologische Seite des
Sprechens naturgemäß im Vordergrunde. Und doch braucht der Stotterer
seinen Sprachheillehrer nie nötiger, als wenn er auch schwierigeren Denk-
prozessen gerecht werden soll. Das rein mechanische Sprechen läßt sich
in den Kursen in den meisten Fällen bald fließend gestalten, wenn auch
nur vorübergehend, da die Schüler unter Anwendung von Einsicht und
Energie gelernt haben, das Übel zu unterdrücken. Von einer Heilung kann
aber dann noch lange nicht die Rede sein. Der Fehler liegt eben auf dem
Gebiete der inneren Sprache und tritt nur an den peripheren Stellen in die
Erscheinung. Atmungs-, Stimm- und Artikulationsübungen, rein mechanisch
Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in den Hamburger Volksschulen 59
angewandt, wie es in den Kursen notgedrungen geschehen muß, können da-
her das Übel allein nicht beseitigen; dazu gehört vor allen Dingen auch
noch die psychische Behandlung, die in Kursen nicht konsequent und stän-
dig angewandt werden kann. Einen Stotterer heilen heißt, ihn auch psychisch
gesunden zu lassen. Wie die Statistik beweist, vermögen das die Kurse nicht.
Aus dieser Erkenntnis heraus begami man in Hamburg vor fünf Jahren damit,
für schwer stotternde Kinder unter vorläufiger Beibehaltung der Kurse für die
leichteren Fälle eine Sonderschule für Sprachleidende einzurichten, in der
Unterricht nach dem allgemeinen Lehrplan der Volksschule erteilt wird, der aber
zugleich in individualisierender heilpädagogischer Behandlung auf systematische
Bekämpfung des Leidens gerichtet ist. Die Therapie geht in dieser Schule
mit dem lehrplanmäßigen Unterricht Hand in Hand. Der Unterricht ist
Therapie, und die Therapie in der Hauptsache Unterricht. Die unterricht-
liche Förderung der Kinder erleidet hier durch ihr Gebrechen keinerlei Be-
einträchtigung; sie werden ebenso schnell und gut gefördert wie die Schüler
der Normalschule. Ihr Leiden kann hier nicht durch psychische Ansteckung
auf gut sprechende Mitschüler übertragen werden, für die der Stotterer
stets ein gefährlicher Nachbar ist. Sämtliche der vorerwähnten Statistiken
stellen die bedauernswerte Tatsache fest, daß die Zahl der Stotterer sich
während des schulpflichtigen Alters trotz aller Heilkurse verdreifacht; zweifels-
ohne ist diese Erscheinung in zahlreichen Fällen auf psychische Ansteckung
zurückzuführen.
Sobald Grund zu der Annahme vorhanden ist, daß die Schüler dieser
Sonderschule für Sprachkranke von ihrem Gebrechen restlos befreit sind,
werden sie wieder den Normalschulklassen überwiesen. Bis jetzt sind ins-
gesamt 76 Schüler nach durchschnittlich 1 — 2 jährigem Besuch der Sonder-
schule zur Normalschule zurückgeschult worden; die Statistik meldet 16
Rückfällige (einer schied vorzeitig aus). Hier liegen also wirkliche und
dauernde Erfolge vor (Rubrik 7). Die Tatsache aber, daß 16 Rückfällige
gemeldet werden, zeigt, wie schwierig und wie langwierig die Heilbehand-
lung ist. Sie muß vor allen Dingen möglichst früh einsetzen; wer nur ein-
mal Gelegenheit gehabt hat, ein beginnendes Stottern mit einem veralteten
zu vergleichen, wird mir darin beipflichten. Auch darf die Heilbehandlung
nicht zeitlich begrenzt werden. Die Zurückschulung nach der Normalschule
darf, wie ich in meiner Arbeit über „Sonderklassen für sprachkranke Schul-
kinder" (Verlag von Hermann Beyer und Söhne, Langensalza, 1916) mit
besonderem Nachdruck empfohlen habe, zunächst nur versuchsweise vor-
genommen werden. Erst dann, wenn nach Ablauf einiger Zeit von der
Normalschule die Nachricht eintrifft, daß der Schüler sich auch dort am
Unterricht in fließender Sprache beteiligt, darf die Zurückschulung als end-
gültig betrachtet werden. Wenn diesen Forderungen Rechnung getragen
wird, wird diese Sonderschule ihre Erfolge noch günstiger gestalten können.
Die Fehler lassen sich durch organisatorische Maßnahmen beseitigen. Jeden-
falls zeigt die Statistik, daß die Einrichtung von Sonderklassen, die hin-
reichend ausgebaut werden müssen, damit sie ihrer Aufgabe in vollstem
Maße gerecht werden können, der einzige Weg ist, der volle Aussicht auf
Erfolg verspricht.
60 W. Carrie, Statist. Erheb, über sprachgebrechl. Kinder in d. Hamburger Volkssch.
Mit Recht hat der Staat für Taubstumme, Blinde, Schwerhörige und
Schwachsinnige gesonderte Schuleinrichtungen getroffen, die sehr segensreich
wirken, obgleich die heilpädagogische Behandlung bei diesen Individuen die
vorhandenen Defekte nur mildern, aber nicht beseitigen kann. Bei Stotterern
handelt es sich aber um vollsinnige, in geistiger Hinsicht durchaus normal
bildungsfähige Schüler, die durch Spezialbehandlung ohne nennenswerte
Kosten vollwertige Glieder der Gesellschaft werden können. Sie gehören
mit zum Kapital der Nation, daher ist die Arbeit gerade auf diesem Gebiete
nicht nur doppelt lohnend, sondern auch doppelte Pflicht.
Wertvoll würde es sicherlich sein, wenn auch in andern Städten gleiche
oder ähnliche Erhebungen vorgenommen würden. Neben dem Experiment
gehört ja die Statistik zu den Hauptwaffen der Wissenschaft. Auch die
Sprachheilkunde wird, wenn sie sich zu einer exakten Wissenschaft erheben
will, deren Forschungsergebnisse nicht mehr anzuzw^eifeln sind, derartige
Statistiken nicht entbehren können.
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule.
Von Ernst Haase.
Durch die Menschenverluste, die der Weltkrieg unserm Volke zugefügt hat,
ist eine Frage brennend geworden, die schon immer zu den wichtigsten, aber
auch zu den schwersten im Schulwesen gehört hat, die Frage: Wie steuern
wir dem Sitzenbleiben?
Ganz besonders bedeutsam ist diese Frage in ihrer Anwendung auf die
Volksschule. Denn für den Schüler einer höheren Schule bedeutet das
Sitzenbleiben nur, daß er ein Jahr oder mehrere Jahre später «um Abschluß
seiner Bildung gelangt, daß er einen Beruf, den er in Aussicht genommen
hatte, gegen einen andern vertauschen muß usw. Das ist für den, den es
trifft, persönhch sehr schmerzlich. Aber die Gesamtheit wird dadurch wenig
berührt. Im schlimmsten Falle tritt der Mensch, der sich für einen Beruf
als ungeeignet erwiesen hat, in einen andern als vollwertige Kraft ein. So
bedeutet das Sitzenbleiben letztlich fast immer nur einen Zeitverlust.
Anders in der Volksschule. Sie ist für den weitaus größten Teil des
Volkes die einzige Bildungsstätte. Ein Bildungsmangel, den sie hinter-
läßt, ist für die meisten nicht wieder gut zu machen. In ihr bedeutet selbst ein
mehrmaliges Sitzenbleiben keinen Zeitverlust; denn es kann nicht ausgeglichen
werden. Es wird vielleicht von dem Beteiligten auch nicht besonders schmerz-
lich empfunden. Aber es hat zur Folge, daß in unser Volk ein un-
fertiges, geistig nicht vollwertiges Glied eintritt, das geeignet ist, den Wert
des Volksganzen herabzusetzen. Denn das Schhmmste ist, daß es sich bei der
Volksschule immer um Massenerscheinungen handelt, die in der Gesamtheit
eine spürbare Wirkung hervorbringen. Das Sitzenbleiben in der Volks-
schule als Massenerscheinung bedeutet einen merklichen Quali-
tätsverlust für unser Volk. Nun bedarf es keines Beweises, daß
unser Volk in dem wirtschaftlichen Kampfe, der seiner in der Zukunft
harrt, nur dann Aussicht auf Erfolg hat, w^enn es in allen seinen GUedern
Ernst Haase, Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule ßl
seine Mitbewerber auf dem Weltmarkte an innerem Werte übertrifft. Es darf
also kein Menschenwert verloren gehen oder verkümmern.
Dadurch hat die Frage des Sitzenbleibens in der Volksschule aufgehört,
eine bloße Schulangelegenheit zu sein; ihre Lösimg wird zu einer Sache, die
in sehr bedeutsamer Weise unser ganzes Volk angeht: die Frage, wie dem
Sitzenbleiben in der Volksschule beizukommen ist, ist also tatsächlich brennend
geworden.
Das Sitzenbleiben ist der Ausdruck einer Unstimmigkeit zwischen der
Leistungsfähigkeit des kindlichen Geistes und den Anforderungen
der Schule. Sie kann also zwei Ursachen haben: entweder die Anforderungen
der Schule sind zu hoch, oder in der Entwicklung des kindlichen Geistes
liegen Hemmungen vor. Diese wiederum können von verschiedener Art sein.
Gewisse Hemmungen, die durchaus indi\idueller Natm- sind und demgemäß
nur einen kleinen Bruchteil der Schüler betreffen, werden nie ganz bekämpft
werden können. Das Zurückbleiben Einzelner hinter der Gesamtheit
läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Aber es gibt eine breite Masse
von Grenzfällen, die der Einwirkung durchaus zugänglich sind. Wenn es
auch nur gelänge, aus diesen heraus 10'^ o der Gesamtmasse besser vorwärts
zu bringen, so würde das in zehn Jahren einen vollen Schülerjahrgang be-
deuten; d. h. z. B. für unsere Stadt Halle: 2000 bis 2500 Menschen würden
in dieser Zeit vor dem geistigen Zurückbleiben bewahrt bleiben. Das wäre
ein schöner Gewinn, und seine Erzielung liegt durchaus im Bereiche der
MögUchkeit.
Aus Laienkreisen hört man heute oft den Ruf: Versetzt milder! Damit wäre
aber das Übel durchaus nicht behoben, sondern nur verschleiert. Ein Kind, das für
die nächste Stufe nicht reif ist, erleidet durch eine unzeitige Versetzung viel
mehr Schaden, als ihm oder der Gesamtheit durch das Vorwärtsschieben ge-
nützt wird. Bei dieser Forderung wird Ursache und Wirkung verwechselt.
Das Versetzen oder Nichtversetzen hängt ja nicht von der Willkür des Lehrers
ab, sondern ist durch den Zwang der Verhältnisse geboten. Ich setze als
selbstverständüch voraus, daß bei jeder Versetzung streng nach den Erforder-
nissen des Unterrichts verfahren wird, ohne Einmischung persönlicher Zu-
neigung oder Abneigung. Ein „milderes" Versetzen würde ein Akt der Will-
kür sein, der in keiner Weise dem Übel abzuhelfen geeignet wäre: die zu
Unrecht bevorzugten Kinder würden doch bald auf der Strecke bleiben.
Wenn Abhilfe geschafft werden soll, dann kann es in sachlich einwand-
freier Weise nur dadurch geschehen, daß die Unstimmigkeiten zwischen
der kindlichen Leistungsfähigkeit und den Anforderungen der
Schule nach Möglichkeit ausgeglichen werden, d. h.: die Anforderungen
der Schule müssen überall da, wo sie zu hoch erscheinen, herabgesetzt werden,
und alles, was die Entwicklung der Leistungsfähigkeit unserer Kinder hemmt,
muß nach Möglichkeit beseitigt werden.
Dazu aber ist es erforderlich, daß man die Ursachen jener Unstimmig-
keiten und ihre Größenverhältnisse genau kennen lernt. Dieser
Aufgabe sind die folgenden Untersuchungen gewidmet.
Bei der Untersuchung über die Ursachen des Sitzenbleibens habe ich zwei
verschiedene Wege eingeschlagen: den der Einzeluntersuchung und den
der Statistik.
62 Ernst Haase
Die Einzeluntersuchungen sollen in erster Linie über die Art der inneren
Hemmungen aufklären. Sie sind noch nicht abgeschlossen; ihre Veröffent-
lichung muß ich mir daher für später vorbehalten.
Die statistischen Erhebungen sollten vor allem über die äußeren Ursachen
Auskunft geben, besonders auch darüber, in welchem Maße äußere Faktoren
mitwirken. Durch die Statistik lassen sich auch solche Beziehungen zahlen-
mäßig nachweisen, die der Einzeluntersuchung gar nicht zugänglich sind,
die höchstens ganz ungenau abgeschätzt werden können. Im Ganzen des
statistischen Zahlenmaterials werden nämlich gewisse kleine Einflüsse, die
im Einzelfalle überhaupt nicht nachweisbar sind, durch die vervielfachende
Wirkung der großen Zahlenmassen vergiößert und dadurch deutlich erkenn-
bar gemacht.
Anfangs habe ich bei meinen statistischen Erhebungen immer nur mit
geringem Zahlenmaterial gearbeitet, bis ich im November 1917 Gelegenheit
erhielt, einen ganzen Schülerjahrgang der hallischen Volksschulen sta-
tistisch zu erfassen und dadurch ein abgerundetes Bild seiner Versetzungsverhält-
nisse zu erhalten. Ich verdanke diese Möglichkeit dem Kgl. Kreisschulinspektor
Herrn Schulrat Brendel, dem ich auch an dieser Stelle für seine gütige Mit-
wirkung meinen besten Dank ausspreche.
Das Material wurde in der Weise gewonnen, daß in jeder Klasse, in der
Schüler saßen, die Ostern 1918 entlassen werden sollten, ein Fragebogen
über diese Schüler ausgefüllt wurde. Die Fragen hatten folgenden Wortlaut:
Fragebogen
über die Konfirmanden in den deutschen Volksschulen in Halle.
1. Zahl der Konfirmanden:
2. a) Wieviel von ihnen sind s. Z. als Schulneulinge auswärts eingeschult und erst im
Laufe der Schulzeit nach Halle übergesiedelt? b) Wieviel von denen, die in Halle eingeschult
sind, haben ein Jahr lang und darüber eine auswärtige Schule besucht? c) Wieviel von den
unter 2 a und b genannten Kindern haben auswärtige Schulen besucht: aa) in Großstädten,
bb) in Mittel- und Kleinstädten, cc) in Dörfern?
3. Wieriel von den übrigen Konfirmanden sind in Halle: a) nie umgeschult worden, b) ein-
mal umgeschult worden, c) zweimal umgeschult worden, d) dreimal umgeschult worden, e) vier-
mal umgeschult worden, f) öfter als viermal umgeschult worden?
4. Wieviel von sämtlichen Konfirmanden sind in Halle: a) nie sitzen geblieben, b) einmal
sitzen geblieben, c) zweimal sitzen geblieben, d) dreimal sitzen geblieben, e) viermal und öfter
sitzen geblieben?
5. Wieviel Konfirmanden sind sitzen geblieben in Klasse 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2?
6. Wieviel Konfirmanden haben: a) keine Geschwister, b) 1 Geschwister, c) 2 Geschwister,^
d) 3 Geschwister, e) 4 Geschwister, f) 5 Geschwister, g) 6 Geschwister, h) 7 Geschwister,
i) 8 Geschwister, k) 9 Geschwister, 1) 10 Geschwister, m) mehr als 10 Geschwister?
7. Wieviel Konfirmanden sind erwerbstätig (gewerblich, im Haushalte usw.)?
8. Von wieviel Konfirmanden sind die Eltern: a) ungelernte Arbeiter, b) Fabrikhandwerker
(Former, Dreher, Modelltischler, Fabrikschlosser usw.), c) sonstige Handwerker, d) Kaufleute
oder Gewerbetreibende aller Art, e) Beamte, f) einzelstehende Frauen (Witwen, uneheUche
Mütter usw.)? g) Wieviel Konfirmanden sind Vollwaisen?
Der Erhebung lag folgender Gedanke zugrunde: Zunächst sollte überhaupt
eine Übersicht über die Versetzungsverhältnisse gewonnen werden.
Sodann aber sollte ein Vergleich vorgenommen werden zwischen den
Verhältnissen der Kinder, die die erste Klasse erreichen, und derer,
die aus niedrigeren Klassen entlassen werden. Da, wo sich unver-
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule fiS
kennbare Zahlenbeziehungen zwischen den äußeren Verhältnissen der
Kinder und dem Maße des Zurückbleibens zeigten, mußten ursächliche
Beziehungen zwischen beiden vorliegen. Dabei war es von vornherein klar,
daß die Einflüsse der verschiedenen Faktoren in den Zahlenreihen in geringerem
Maße zum Ausdruck kommen mußten, als ihrer wahren Wirkung entspricht.
Denn die Statistik stellt den einzelnen Faktor nicht für sich allein dar,
sondern immer im Zusammenhange mit allen andern, so daß seine Wirkung
zum Teil durch andere Einflüsse ausgeglichen wird: dadurch erscheint sein
Einfluß abgeschwächt. Trotzdem war es von vornherein klar, daß diese
Abschwächung bei der Fülle des Materials nicht bis zur völligen Vernichtung
gehen konnte und daß die Verhältnisse der Zahlenreihen untereinander da-
durch nicht erheblich gestört werden konnten.
Die Erhebung erstreckte sich auf 2205 Kinder der (achtstufigen) Volks-
schule und 71 Kinder der Hilfsschule, also zusammen auf 2276 Kinder.
1.
Die erste und wichtigste Frage war die, wieviele von den Konfirman-
den die erste Klasse und damit das Ziel*der Volksschule erreichen
und in welchem Maße die übrigen dahinter zurückbleiben. Die
hierbei sich ergebenden Zahlen mußten als Durchschnittszahlen bei allen
weiteren Aufrechnungen als Maßstabdienen. Hierbei ergab sich folgendes :
Es erreichen: Kl. I Kl. U Kl. IH Kl. IV Kl. V
560/0 230/0 150/0 50 0 10 ö
Dabei zeigte es sich, daß die Mädchen über dem Durchschnitt standen,
die Knaben darunter.
Es erreichten nämlich Kl. I Kl. II
Mädchen: 59 0/0 22,5 0/0
Knaben: 53 0/0 23 0/0
Für diese Tatsache lassen sich wohl mancherlei Gründe anführen. Der
wichtigste und letztlich ausschlaggebende dürfte der sein, daß die Mädchen
z. T. aus „besseren" Familien stammen als die Knaben. Es schicken in Halle
viele Leute die Mädchen in die Volksschule, die ihre Knaben zur Mittelschule
gehen lassen. In dem Unterschiede zwischen den Zahlen der Knaben und
der Mädchen kommt also in erster Linie der Einfluß der Lebenskreise
zum Ausdruck.
Ein eigenartiger Unterschied zeigte sich ferner zwischen den Schulen der
Randbezirke und der Innenbezirke. Als Randschulen sind alle die
Schulen aufgefaßt worden, deren Bezirke am Rande der Stadt liegen, als
Innenschulen die, deren Bezirke allseitig oder fast allseitig von anderen
Schulbezirken begrenzt werden.
Es erreichten in den Randbezirken:
Kl. in
m. IV
KLV
13,50/0
- 40/0
lO'o
16o'o
6,50/0
1,50/0.
Kl. I
Kl. II
Kl. m
Kl. IV
Kl. V
620/0
18 0/0
130/0
5,50/0
0,500;
in den Innenbezirken:
KLI
Kl. H
Kl. m
Kl. IV
Kl. V
510/0
260/0
150/0
50/0
20/0.
Die Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen sind noch stärker als die
zwischen Knaben und Mädchen. Sie sind unzweifelhaft darauf zurückzuführen,^
64 Ernst Haase
daß in den Innenschulen mehr Kinder vorhanden sind, die häufiger die
Schule gewechselt haben. Der Schulwechsel hat alles in allem einen er-
heblicheren Einfluß auf das Sitzenbleiben als der Lebenskreis, dem das Kind
entstammt, und dieser stärkere Einfluß des Schulwechsels findet seinen Aus-
druck in der größeren Verschiedenheit der beiden Zahlenreihen.
Aus der Hilfsschule wurden 71 Kinder entlassen, also 3,1 o/o der Gesamt-
heit. Unter Einrechnung dieser 71 Schüler gestalten sich die Prozentzahlen fol-
gendermaßen:
Kl. I Kl. II Kl. III Kl. IV Kl. V Hilfsschule
540/0 220/0 140/0 50/0 10/0 30/0
In den folgenden Darlegungen sind in der Regel die Konfirmanden der
Hilfsschule nicht eingerechnet, und die Schüler der V. Klassen sind in den
meisten Reihen mit denen der IV. zu einer Einheit zusammengezogen. Diese
Zusammenfassung ist deswegen vorgenommen, weil die Zahl der Konfirman-
den in den V. Klassen nur 24 beträgt. Das hat einerseits zur Folge, daß manche
Gruppen von Kindern gar nicht, andere nur lückenhaft darunter vertreten sind
und andernfalls, daß jeder einzelne Schüler mehr als 4^/0 der Gesamtzahl
ausmacht. Infolgedessen können kleine Zufälle in der Zusammensetzung der
einzelnen Gruppen so aufgebauscht erscheinen, daß sie das Gesamtbild stören
und unklar gestalten, ja, es geradezu als falsch erscheinen lassen. Wo die
Klassen IV und V auseinander gehalten sind, ist dies besonders bemerkt.
Desgleichen sind die Zahlen der Hilfsschule immer besonders angeführt.
Bevor wir uns der Frage nach den Ursachen des Sitzenbleibens zuwenden,
sei noch eine Einschaltung gestattet: Zu dem Fragebogen wurde in den 2.— 5.
Klassen ein Ergänzungsbogen ausgegeben, auf dem die Klassenlehrer fest-
stellen sollten, welche Gründe nach ihrer Meinung bewirkt hätten,
daß die Kinder das Ziel der Volksschule nicht erreicht hätten.
Nun ist es am Ende der Schulzeit für einen Lehrer nicht möglich, mit voller
Sicherheit anzugeben, warum ein Kind im Laufe der acht Schuljahre sitzen
geblieben ist. Die Mehrzahl seiner Kinder kennt er erst seit einem Jahre,
und die Entgleisungen liegen oft um viele Jahre zurück. Es handelt sich
hierbei also um Meinungen, nicht um Tatsachenangaben. Und ferner
konnten nur die ins Auge fallenden Erscheinungen angegeben werden.
Der Einfluß der versteckter mitwirkenden Faktoren entzieht sich der Beobach-
tung in den meisten Fällen, sofern sie nicht in Form einer gründlichen Einzel-
untersuchung ausgeführt wird, was bei Massenfeststellungen nicht möglich ist.
Deswegen sind die auf diesem Wege gewonnenen Zahlen in dieser Arbeit nicht
mit den übrigen verwertet. Die Angaben waren aber wichtig für die Beantwortung
der Frage, welchen Anteil die äußeren und welchen die inneren
Faktoren am Sitzenbleiben haben. Das Zahlenmaterial des Ergänzungs-
bogens soll erst später einmal eingehender verarbeitet werden, da es in engster
Beziehung zu den Einzeluntersuchungen steht. Einige dieser Angaben aber
haben auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit Bedeutung und sollen darum
hier mit aufgeführt werden.
Von den 44 0/0 der Kinder, die die 1. VolksschuUdasse und damit das Ziel
der Volksschule nicht erreicht haben, sind 13,5 0/0, also ein knappes Drittel
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 65
durch äußere, 30,5 "/o, also weit über 2/3, durch innere Gründe verhindert
worden, ihren Weg glatt zu durchlaufen. Unter inneren Gründen verstehe
ich ausschließlich die in der seelischen Veranlagung des Kindes liegenden
Hemmungen, also jene Erscheinungen, die man unter die Sammelnamen
„Dummheit" und „Faulheit** zusammenzufassen pflegt. Genauer liegen die
Verhältnisse so, daß bei ll^o nur äußere' Hemmungen, bei 28^0 nur innere
Hemmungen, bei 5 0/0 äußere und innere Hemmungen zugleich wirken.
Rechnet man die 5 0/0 nach ihren prozentualen Anteilen auseinander und
zählt diese zu den beiden anderen Zahlen hinzu, so ergeben sich die an-
geführten Zahlen: 13,5 und 31,5, da nach den vorliegenden Angaben bei
dem Zusammentreffen mehrerer Faktoren die äußeren und die inneren Gründe
nahezu gleichwertig wirksam sind.
Uns interessieren an dieser Stelle nur die 13,5 ^ 0 der Fälle, in denen äußere
Gründe allein (11'' u) oder zusammen mit inneren Gründen (50/o) als Ursache
des Sitzenbleibens angegeben worden sind.
Es haben die erste Klasse nicht erreicht:
a) 1,5*^/0 w-egen verspäteter Einschulung (hierzu ist der einzige Fall vor-
zeitiger Entlassung gerechnet);
b) 60/0 wegen Schulwechsels;
c) 3,5 ''ü wegen längerer Versäumnis infolge von Krankheit;
d) 1,50,0 wegen unregelmäßigen Schulbesuchs (Schwäazerei);
e) 1 0/0 aus sonstigen Gründen, insbesondere wegen körperücher Mängel.
a) Die verspätete Einschulung wird fast ausschließlich durch körperüche
Mängel bedingt. Sie wird in der Regel nur dann genehmigt, w^enn der Arzt
festgestellt hat, daß das Kind noch nicht schulfähig ist.
Bei vorzeitiger Entlassung sprechen in der Regel häusUche Verhältnisse
mit; doch können auch körperliche und sonstige Gründe ausschlaggebend
sein. Sie wird nur in ganz besonderen Ausnahmefällen genehmigt, kann bei
unseren Erw^ägungen also völlig außer Betracht bleiben.
Die verspätete Einschulung läßt sich dadurch wettmachen, daß das Kind
noch bis zum Durchlaufen der ersten Klasse in der Volksschule behalten
wird. Das ist nur dann mögUch, wenn die Eltern einverstanden sind. Sitzen-
bleiber im eigentlichen Sinne sind diese Kinder nicht; sie kommen also für
uns im Rahmen dieser Arbeit nicht in Frage. Immerhin mußten sie mit er-
wähnt werden, da sie einen wenn auch kleinen Teil der 44 "o, die uns hier
beschäftigen, ausmachen.
b) Von der Bedeutung des Schulwechsels wird später noch die Rede
sein. Wenn w'ir erfahren, daß volle 6*^ 0 der Kinder (das sind 14 ^o aller
Sitzenbleiber oder etwa 40" 0 der durch äußere Gründe am Aufstieg verhinder-
ten Kinder, ihm zum Opfer fallen, dann dürfte seine Bedeutung als Hemmnis
für den Aufstieg schon von vornherein hinreichend gekennzeichnet sein. Die
späterhin noch anzuführenden Zahlen geben ein genaueres Bild von seiner
schädlichen Wirkung. Diese greift sehr weit über die 6^\o hinaus. In dieser
Zahl sind ja nur die Fälle wiedergegeben, in denen er ausschließlich das
Sitzenbleiben bewirkt oder in denen seine Mitwirkung noch nachträg-
lich deutlich erkennbar ist. In den meisten Fällen wird sich diese Mit-
wirkung später nicht mehr durch bloße Beobachtung nachw-eisen lassen, so
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 5
QQ Ernst Haase
daß die am Ende der Schulzeit auf 6 o/o festgestellte Wirkung nur die alier-
schlimmsten Fälle umfaßt. Dieser kurze Hinweis mag an dieser Stelle genügen.
c) Längere Versäumnisse infolge von Krankheiten rufen einerseits
Stofflücken hervor und bewirken andererseits, daß die Kinder sich schwer
wieder an die geistige Arbeit gewöhnen und dadurch den Anschluß verlieren.
Sehr oft bleibt auch eine der eigentlichen Krankheit folgende körperliche
Schwäche zurück, die die Fortschritte des Kindes hemmt. Es handelt sich
der Hauptsache nach um folgende Krankheiten i):
1. Lungentuberkulose: Diese Krankheit macht längere Heilstättenkuren
erforderlich, die ein Vierteljahr und darüber dauern. Außerdem hat besonders
diese Krankheit die Wirkung, daß sie den kindlichen Körper sehr schwächt
und daß sie dadurch monate- bis jahrelang die geistigen Leistungen des Kindes
stark beeinflußt. Bei tuberkulösen Kindern ist mir noch eine andere Er-
scheinung aufgefallen, die in erziehlicher Hinsicht bedeutsam ist: solche
Kinder entstammen häufig Familien, in denen die Tuberkulose erblich ist.
Das Hinsterben der Kinder in solchen Familien und das eigene Leiden der
Eltern führen zu einer gewissen Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit gegen
alle Erziehungsfragen. Für die Klasse bilden deshalb die Kinder aus solchen
Familien eine schwere Gefahr, nicht nur in gesundheitlicher, sondern in er-
ziehlicher Hinsicht. Wo die Zahl tuberkulosekranker Kinder groß genug ist,
wäre aus diesen Gründen die Einrichtung besonderer Schulen (Waldschulen)
für solche Kinder in Erwägung zu ziehen.
2. Scharlach: Er erfordert eine Versäumnis von etwa sechs Wochen.
3. Diphtherie: Die Versäumnis beträgt bei Erkrankten vier Wochen und
mehr. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß auch die Bazillenträger oft wochen-
lang vom Unterricht ferngehalten werden müssen.
4. Bei Keuchhusten beträgt die Versäumnis bis acht Wochen.
5. Bei Masern (sofern sie ohne Komplikationen verlaufen), Windpocken
und Ziegenpeter ist nur eine Versäumnis von 2 — 3 Wochen erforderlich;
diese Krankheiten werden die Versetzung wenig beeinflussen.
Außer diesen Krankheiten gibt es noch solche, die weniger durch die Ver-
säumnisse, die sie verursachen, als durch die Schwächung des Körpers
und die damit verbundene Herabminderung der geistigen Leistungen auf
die Versetzung einwirken; es sind vor allem Rachitis, Mittelohrkatarrh,
Wucherungen im Nasen-Rachenraum und Skrophulose. Diese gehören eigent-
lich nicht an diese Stelle, weil sie meist keine längeren Versäumnisse ver-
anlassen. Sie mußten aber hier mit angeführt werden, weil sie als äußere
Faktoren des Sitzenbleibens mit in Frage kommen und weil sich später keine
Gelegenheit mehr bietet, sie zu erwähnen.
d) Das Schwänzen steht auf der Grenze der inneren und äußeren Hemmungen
des Aufstiegs; denn es kann einerseits durch die häuslichen Verhältnisse
bedingt sein, und andererseits kann es der Ausdruck einer degenerativen Ver-
anlagung sein. Als einziger Grund kommt es nur bei etwa 0,4 o/q aller Fälle
in Frage. Hingegen spielt es eine verhängnisvolle Rolle als mitwirkende
Ursache. Besonders häufig ist es mit Faulheit vereint, in geringerem Maße
mit mangelhafter Begabung. Auf einen Fall, in dem das Schwänzen mit
mangelhafter Begabung verknüpft ist, kommen mehr als drei, in denen es
') Nach freundlicher Mitteiking des Herrn Stadtschularztes Dr. Strauch.
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 67
mit Faulheit zusammentrifft. Dieser Umstand deutet darauf hin, wie stark
hierbei innere Gründe mitspielen; denn die degenerative Veranlagung, auf
die das Schwänzen zurückzuführen ist, wirkt sich in der Regel anderv^ärts
im Unterricht als Faulheit aus.
An dieser Stelle interessieren uns nur die äußeren Gründe, also die häus-
lichen Verhältnisse, in denen das Schwänzen begründet ist.
Viele Eltern unterstützen ihre Kinder bei unrechtmäßigen Schul Versäum-
nissen, indem sie ihnen unbedenklich Entschuldigungszettel schreiben, die den
Tatsachen nicht entsprechen. Es ist erstaunhch, wie leicht es viele Eltern
in solchen Fällen mit der Wahrheit nehmen. Meist sind es schwache Mütter,
die es tun, um ihr Kind, das die Schule versäumt hat, vor einer wohlverdienten
Strafe zu bewahren. Die Wirkung solcher Schwäche greift weit über den Fall
selbst hinaus : Das Kind erfährt, daß es die Mutter mit der Wahrheit nicht genau
nimmt und daß man überhaupt der Schule gegenüber die Wahrheit nicht immerzu
sagen braucht, ferner daß es auch im Falle eines offenbaren Unrechts bei der
Mutter Schutz und Hilfe findet usw. Das alles lockt zur Wiederholung, und die
Mutter muß weiter helfen, nachdem sie einmal angefangen hat. Die Väter
geben sich seltener zu solcher Hilfe her. Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich
Männer im allgemeinen der öffentlichen Ordnung A\illiger und mit größerer
Selbstverständlichkeit einfügen als Frauen. Den Müttern erscheint eine
Umgehung der Schulordnung geringfügiger als den Vätern, und die Mutter-
liebe, die das Kind vor jedem Übel, auch vor dem heilsamen, bewahren
möchte, tut das Ihrige. Die verheerenden Folgen dieser Schwäche für die
sitthche Entwicklung des Kindes kommen der Mutter nicht zum Bewußtsein,
oder sie werden von ihr unterschätzt. Was in solchem Falle noch erschwerend
wirkt, das ist der Umstand, daß derartige Versäumnisse meist straflos aus-
gehen, weil sich das Unrecht in der Regel nicht nachweisen läßt. Dadurch
ladet das Verfahren geradezu zur Wiederholung ein.
Wenn Eltern ihre Kinder bei unrechtmäßigen Versäumnissen nicht nur
unterstützen, sondern sie geradezu dazu anhalten, so schützen sie in der
Regel eine wirtschaftliche Notlage vor. Wer eine reichere Erfahrung auf
diesem Gebiete hat, der läßt sich dadurch nicht täuschen. In ordentlichen
Familien kommt auch bei schwerster Not ein Schwänzen der Kinder nur
dann vor, wenn eine seelische Anlage dazu beim Kinde vorhanden ist. Wo
es anders ist, da ist die Notlage genau wie das Schwänzen die Folge einer
schlechten Wirtschaftsführung, die ihrerseits in mangelndem Ordnungssinn
oder in der Arbeitsscheu und Liederhchkeit der Eltern ihren Grund hat.
Das Schwänzen ist in dieeen Fällen nicht die Folge der Notlage, sondern
beide sind die Folgen dieser tieferen Gründe und stehen untereinander nicht
im Verhältnis von Grund und Folge. Die Not wird aber gern als Aushänge-
schild benutzt, das die Schuld verdecken soll. Für das Kind wird auch in
solchem Falle die schlechte Erziehung verhängnisvoll: Die Umwelt, in der es
aufwächst, erschwert oder verhindert die Entwicklung der Wahrheitshebe, des
Fleißes, des Ordnungssinnes. Die gegen die Schule gerichtete Erziehungsarbeit
des Hauses vernichtet die erziehhchen Wirkungen der Schularbeit. Das alles
wirkt noch schUmmer auf das Kind ein als die Stofflücken, die durch die
Versäumnisse hervorgerufen werden.
Es ist also in jedem dieser Fälle nicht die Versäiunnis an sich, die für das
Kind verhängnisvoll wird, sondern einerseits kann eine unglückliche Veran-
68 Ernst Haase, Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule
lagung vorliegen, und andererseits wirken sich die Folgen einer schlechten
Hauserziehung aus.
Das Schwänzen hat also der Hauptsache nach innere Gründe auch dann,
wenn äußere Faktoren es veranlassen. Die Gegenmaßnahmen müssen also
möglichst die Wurzel des Übels treffen. Vor allem müssen die Eltern beeinflußt
werden, sei es auf dem Wege der Belehrung und Ermahnung, sei es mit
allen Mitteln des gesetzlichen Zwanges.
e) Der Rest der Zurückbleibenden, es ist noch 1 o/o, wird größtenteils durch
körperliche Mängel am Fortkommen gehindert. Unter ihnen sind am
stärksten die schwerhörigen Kinder vertreten. Der Schwerhörigkeit
muß also besondere Beachtung geschenkt werden. Mit allen Hilfsmitteln
sollte man ihre Wirkungen auszugleichen suchen. Hörrohre, Megaphone usw.
sollten zu Gebote stehen. Im Notfalle sollte auch Ableseunterricht erteilt
werden. Ob Schwerhörigenklassen einzurichten sind, das wird von der Zahl
der schwerhörigen Kinder abhängen.
Die nächste Gruppe sind die Kurzsichtigen. Hier handelt es sich darum,
daß das Übel rechtzeitig erkannt wird und daß den kurzsichtigen Kindern
aus öffentlichen Mitteln Brillen zur Verfügung gestellt werden, wenn die Eltern
nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, solche zu beschaffen.
Besondere Beachtung verdienen auch Sprachgebrechen. Sprachgebrech-
liche Kinder lernen meist schwer lesen und bleiben in der Rechtschreibung
Stümper. In Halle hat sich die Einrichtung von Sprachheilklassen für die
beiden ersten Schuljahre ausgezeichnet bewährt, so daß die Sprachfehler als
Hemmnisse für den Aufstieg bei uns nur wenig in Betracht kommen. Doch
sei auf eine eigenartige Beziehung verwiesen, die wir in diesen Klassen und
an anderen Stellen in der Schule beobachtet haben: Mit Sprachfehlern ist
nicht selten ein Intelligenzmangel verknüpft; sprachgebrechliche Kinder müssen
also nach dieser Richtung sorgfältig beobachtet werden.
Allgemeine Körper schwäche, Kränklichkeit, chronische Leiden haben
gleichfalls in einzelnen Fällen Anlaß zum Sitzenbleiben gegeben. Erfreulicher-
weise ist die Zahl solcher Kinder, die hierdurch im Aufstieg gehemmt werden,
außerordentlich klein.
Zu dieser Gruppe von l^/o sind dann noch einige Fälle gerechnet, bei
denen die Gründe des Zurückbleibens nicht mehr nachweisbar sind. Es
mag sich dabei um Störungen in der geistigen Entwicklung der Kinder
handeln, die vor Jahren aufgetreten sind und zum Sitzenbleiben geführt
haben, die aber später völlig überwunden sind.
(Fortsetzung folgt.)
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Vertretung der Psychologie und Pädagogik au den deutschen Uni-
versitäten im Winterhalbjahr 1918/19 ')• Berlin. Mahling: Religionsunterr.,
Seelsorge christl. Liebestätigkeit (4). Katechet. Semin. (2). Prakt. Sozietät:
Besprechung pädagogischer Probleme und Strömungen (2). — Jacobsohn
•) Erklärung der Abkürzungen: med. F. = medizinische Fakultät, theol. F. = theolo-
gische Fakultät, naturw. F. = naturwissenschaftl. Fakultät, jur. F. = juristische Fakultät.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 69
(med. F.): Das geistesschwache und das nervöse Kind (1). — Forster (med. F.):
Psychiatrie des Kindesaiters (3). — Stier (med. F.): Psychol. und ner\-Ö8e
Störungen des Kindesalters (1). — Schaefer (med. F.): Mediz. Psychol. (2).
— Korff-Pe tersen (med. F.): Schulhygiene (1). — Grotjahn (med. F.):
Schulhygien. Übungen, n, Verabr. — Stumpf: Psychol. mit Demonstrationen
(4). Theoret. Übungen im psychol. Inst. (1). — Wertheimer: Rechtspsycho-
logie (2). Experiment.-psychol. Übungen für Anfänger (2). — Vierkandt:
Übimgen zur ethnolog. Soziologie und Psychol. (2). — F. J. Schmidt: Gesch.
der Päd. (4). Übungenü. J. P. Richters „Levana" (1^ 2). - Wulff: Die Kunst
des Kindes (1). — Sa. = 33' 2, außerdem Übungen b. Grotjahn. Bonn.
Pfennigsdorf (ev.-theol. F.): Katech. Seminar (1). — Lauscher (kath.-
theol. F.): Katech. Seminar (1). — Hübner (med. F.): Geistig abnorme
Kinder (1). - Dyroff : Psychologie (4). — Störring: Experiment. Pädagog.
(1). — Wentscher: Pädagogik (2). - Selz: Psychol. im prakt. Leben (1).
— Erismann: Einführung in die experiment. Psychol. (2). — Kutzner:
Psychologie der Sprache (1). Psychologie in Anwendung a. d. prakt. Leben
(1). Bedeutung der Pädag. (1). Einführung in die experiment. Psychol. (2).
— Sa.= 18 Std. Breslau. Steinbeck (ev.-theol. F.): Katech. Semin. (2).
— Hönigswald: Aligemeine Psychol. (4). Im psychol. Semin.: Übungen
über die philos. Grundlagen der Pädagogik (1' 2). — Provinzialschulrat Dr.
Otto Miller: Das Lehramt an höheren Schulen (Hodegetik) (2). Übungen
im Anschluß an das Kolleg (1). — Sa. = 10' 2 Std. Erlangen. Gas pari
(theol. F.): Allgem. Pädag., mit besond. Berücksichtigung d. Volkssch. (4).
Katech. Semin. (2). Pädag. Praktikum (2). - Weichardt (med. F.): Schul-
hygiene (1). — Sa. = 9. Frankfurt a. M.* Hahn (med. F.): PsychopathoL
des Kindes (1). — Ziehen: Grundfr. d. staatsbürgerl. Erziehung (2). Gesch.
u. System d. Volksbildungsw. (1). Lesen u. Erklären ausgew. Quellenstücke
im Päd. Sem. (1). - Schultze: .Indi\'idualpsychol., Teil I, Charakterologie
(1). Besprechung pädag. Tagesliteratur (1). — Schumann: Psychol. m.
Demonstrationen (3). Einführungskursus i. d. exp. Psychol. mit Gelb (2).
Im philos. Sem.: Psychol. Übungen f. Anf. (1). — Henning: Tierpsychologie
(2). — Pape (\\drtsch.- u, sozialw. F.): Methodik d. kaufm. Unterrichtsfächer
(1). Semin. f. Handelsschulpäd. : Lehrübungen u. Bespr. päd. Fragen (3j. —
Lühr (wirtsch.- u. sozialw. F.): Einf. i. d. Handelsschulpr. : Hospitierübungen
und Bespr. (2). — Klumker (wiitsch.- u. sozialw. F.): Gesch. d. Kinder-
fürsorge (1). — Sa. = 22. Fi'eiburg i. B. Kehrer (med. F.): Kriminal-
psychol. und Psychol. d. Aussage (1). — Geyser: Psychol. (4). — Cohn:
Das jugendl. Seelenleben und seine Beeinfl. (psychol. Päd.) (2). Psychol.
Arbeiten n. Verabr. — Sa. = 7, außerdem Arb. b. Cohn. Gießen. Schian
(theol. F.): Gesch. d. Pädagog. (3). - Sommer (med. F.): Experiment. Psy-
chologie und Psychopathologie (1). — Messer: Psychologie (4). — Koffka:
Einführung i. d. Psychologie (2). Psychol. Übungen (1). — Strecker: Gesch.
d. Pädagog. im Altertum (2). — Sa. = 13. Göttingen. Meyer (theoL F.):
Luthers kl. Katechism. (2). Katechet. Übungen (1). — Rosenthal (med. F.):
Schulhygiene (1). — G. E. Müller: Psychologie (4). Methodik d. Unter-
suchung d. Gedächtn. u. d. Vorstellungsverl. nebst Demonstr, (1). Experimt.
psychol. Arbeiten. — Sa. == 9, außerdem Arb. b. Müller. Greifswald.
V. d. Goltz (theoL F.): Katechet. (1). Katechet. Semin. (2). — Rehmke:
Konversatorium ü. d. Seele des Menschen (2). — Schmekel: Einf. in die
70 Kleine Beiträge und Mitteilungen
experiment. Psycholog. (2). — Sa. = 7. Halle. Eger (theol. F.): Katechet,
(d. Lehre v. d. christl. Erziehung) (2). Katechet. Abteilung (2). — Kauff-
mann (med. F.): Psychol. des Verbrechens (1). — Frischeisen-Köhler:
Angewandte Psychol. (2). Pädagog. Semin.: Fichtes Pädagog., i. noch z.
best. Std. Weltanschauung und Bildungsideal (1). — Menzer: AUgem.
Pädagog. (2). — Ziehen: Experimentell-psychol. Übungen z. Ästhetik (2). — *
Walther: Ziele und Wege des geolog. Unterrichts (1). — Sa. = 13, außer-
dem Übung, über Fichtes Päd. bei Frischeisen-Köhler. Hamburg. Boden:
Kriminalpsychol. Kolloquium. — Stern: Psychol. und Leben (1). Übungen zur
Jugendpsychol. — Werner: Einführung i. d. exper. Psychol. (2). — Bi-
schoff: Psychol. des Wirtschaftslebens (1). Kriminalpsychol. Kolloquium. —
C 1 a ß e n : Prakt. Jugendpflege (2), vor Weihnachten. Staatsbürgerl. Erziehung (2),
nach Weihnachten. — Sa. = 8. Außerdem Kolloquia u. Übungen. Heidelberg.
Dibelius (theoL F.): Geschichte, Sage und Mythus im Lebensbilde Jesu (1).
— Bauer (theoL F.): Gesch. der neueren Pädag. (3). Übungen für den
Unterrichtsstoff in der Oberst. (2). — Niebergall (theol. F.): Katechetik
(3). — Stadtschulrat Rohr hurst: Katechet. Übungen über den Unterrichtsstoff
in der Mittelst. (1^2)- Geschichte d. badischen Volksschule (1). — Grüble
(med. F.): Pädag. Psychol. (2), — Jaspers: Psychol. der Weltanschauungen (2).
Psycholog. Übungen über Kierkegaard (2). — Curtius (nw.-mathem. F.): Che-
misches Praktikum für Lehramtskanditaten (5 Tage halbtägig). Sa. =171/2. Jena.
Thümmel (theol. F.): Katechet. Semin. (2). — Schultz (med. F.): Psycho-
therapie (2). — Linke: Beobachten und Schauen (1^2)- — Nohl: Ein-
führung in die Pädag. (1). — Eucken: Übersicht d. Gesch. d. neuern Pädag.
(1). — Weiß: Allgem. Unterrichtsl. unter Berücksicht. neuerer Strömungen
(1). Pädag. Strömungen der Gegenwart (2). Schulorganisationsf ragen der
Gegenwart (1). — Rein: Job, Fr. Herbarts Leben und Lehre (2). Spezielle
Didaktik I: Die humanist. Lehrfächer (2). Mit Weiß: Prakt. Übungen im päd.
Semin. — Sa. == I51/2, außerdem Übungen bei Rein und Weiß. KieL Baum-
garten (theol. F.): Katechet. Übungen (2). — Deußen: Psychol. und System
der Philos. (4). — Martius: Psychol. Semin. (2). — v. Brockdorff: Gesch.
der neueren Pädag. (2). Comenius, näher zu bespr. — Sa. = 10, außerdem
über Comenius bei v. Brockdorff. Königsberg. Uckeley (theol. F.): Ka-
techet. Seminar (1). — Ach: Psychologie (4). Experiment.-psychol. Übungen
(12). — Kowalewski: Russische Pädagogen (1). — Sa. = 8. Leipzig.
Frenz el (theol. F.): Pädagog. auf gesch. Grundl. (5). — Katechet. Abteilung
d. Semin. f. prakt. Theologie (2). Semin. f. Pädagog. : Prakt.-pädag. Übungen
und Besuche von Lehr- und Erziehungsanst. (2). — Gregor (med. F.): All-
gem. PsychopathoL (1). — Döllken (med. F.): Kriminalpsychol. (1). —
Lange (med. F.): Schulkrankheiten und Schulhygiene (1). — Brahn: PsychoL
(3). Übungen zur experiment. Pädag.: Didaktik des Elementarunterr. (IV2).
Wissenschaf tl. Arbeiten zur experiment. Pädag. (25). Wirth: Psychophysik
der höheren seelischen Funktionen (Aufm., Ged., Willensh.) (2). Psychoph.
Semin.: Zur Einführung (1). Leitung selbst. Arb. (10). — Krueger: Übungen
zur Entwicklungspsych. (IV2). Inst, für exper. Psych.: Leitung selbst. Arb.
mit Kirschmann (21). — Spranger: Pädag. IIL Teil (Kinderpsychol. und
systeraat. Pädag.) (4). — Bergmann: Das klassisch-deutsche Bildungsideal
(1). —Jungmann: Gesch. d. gelehrt. Unterr. von der Reformation bis zur
Gegenwart (2). Prakt. pädag. Semin. mit Hartmann und Hünlich (4). —
Ideine Beiträge und Mitteilungen 71
Kirschmann: Einführungsk. zur experim. Psychol. (2). — Lipsius: Übungen
über die Fragen der mod. Schulreform (IV2). — John: Untemchtslehre für
Landwirtschaftslehrer (2). Theoret. Seminarübungen (2). Experiment. Vor-
bereitung für den Unterr. (2). Unterrichtserteilung in der Übungsschule (20).
— Wagner: Chem. Übungen für Lehrer (44). Didakt. Besprechungen zu
den ehem. Übungen für Lehrer (1). — Sa. = 41' 2, außerdem 20 Std.
Übungssch., 90 Std. wissensch. Arbeiten. Marburg. Bornhausen (theol. F.):
Religionspsychol. (2). — Bornhäuser (theol. F. : Prakt. Theol.: Katechet.,
Seelsorge, Kirchenverf. (4). Katechet. Semin, (2). — Natorp: Allgem. Päd.
(3). Übungen über Herbarts Philos. und Pädag. (2). — Jaensch: Psychol.
Abt. des philos. Semin., in noch zu verabr. Std. Leitung psychol Vers. n.
Verabr. — Sa. = 13, außerdem Arb. und Vers, bei Jaensch. München.
Göttler (theol. F.): Gesch. der Päd. mit besonderer Berücksicht. des bayi-.
Schulwesens (4). Didakt. Praktik. (2). Katech. Praktik, mit Mayer (1). Päd.
Semin. (1). — Mayer (theol. F.): Grundr. der Heilpäd. iPädag. Psychopath.)
(1). — Hecker (med. F.): Grundlagen der körperl. EIrziehung (1). — Uffen-
heimer (med. F.): Soz. Jugendfürsorge (1). — Schneider (med. F.): Schul-
hygiene (2). — Iss erlin (med. F.): Klin. Experimentalpsych. (1). Psych.
Störungen nach Hirnverletzungen (1). Psychotherapeut. Kursus (2). — Goett
(med. F.): Nervenkrankheiten und Psychopathol. des Kindesalt. (2). Die
körperliche und geistige Entwicklung des Kindes (1). — Becher: Psychol.
(4). Seminarübungen über psychol. Fragen (1). Experiment.-psychol. Arbeiten
mit Bühler tägl. — Foerster: Grundfragen der Charakterbildung (4). Päd.
Semin: Die Arbeitssch. (2). — Joachimsen: Übungen zur Didaktik der
Reformationsgesch. (l'/i) — Aster: Philosophisches und Psychologisches in
der modernen Liter. (1). — Fischer: Grundzüge der Didaktik (2). Erziehungs-
und Schulfragen der Gegenwart (1). — Matthias Meier: Übungen zur tho-
mist. Psychol. (1). — Sa. = 37 > '2, außerdem täglich Arb. bei Becher und
Bühler. Münster: Smend (ev.-theol. F.): Einf. in den evangel. Rehgions-
unterr. an höheren Schulen (3). Katechet. Semin. (1). — Rosenfeld (jur.
F.): Jugendstrafrecht, einschließlich Fürsorgewesen (2). Kriminalpsychol. (1).
— Goldschmidt: Grundbegriffe der Völkerpsychol. (1). Psychol. Übungen
und Arb., nach Vereinb. — Cauer: Pädagog. auf prakt. Grundl. (2). —
Braun: Allgem. Grundlegung und Gesch. der Päd. vom Altertum bis zum
18. Jahrh. (4). Pädag. Hauptströmungen der Gegenwart (2). — Plaßmann:
Methodik des Unterr. in mathem. Geographie und elementarer Astronomie
(1). — Sa. = 17, außerdem Übungen und Arbeiten bei Goldschmidt. Rostock.
Hashagen (theol. F.): Evangel. Pädagog. (2). — Hilbert (theol. F.): Ka-
techet. Semin. (2). — Walter (med. F.) u. Utitz: Einführung in die allge-
meine und patholog. Psychol. (2). Psychol. Übungen (1). — Sa. = 7 Std.
Straßburg. Naumann (ev.-theol. F.): Katechet. Semin. (1). — Pfersdorff
(med. F.): Die Psychose des Kindes (1). — Baensch: Vorfragen d. Psychol.
(1). — Schneider:*Gesch. der Pädag. im Umriß (l). — Goetsch (mathem. -
naturw. F.): Psychol. der Tiere, II. Teil (Insekt, und Wirbelt.) (1). — Sa. = 5.
Tübingen, v. Wurster (ev.-theol. F.): Katechet, und Kirchenverf. (4). Luthers
kleiner Katechismus und seine unterr. Behandl. (2). Katechet. Semin. mit
Übungen in der Volkssch. (2). — Schilling (kath.-theol. F.): Homilet, imd
Katechet. (1). — Mezger (jur. F.): Psychol. Fragen aus der gerichtl. Praxis
(1). — Busch (med. F.): Die psychisch, und nervös Folgen der Gehimver-
72 Kleine Beiträge und Mitteilungen
letzungen (1). — Wolf (med. F.): öffentl. Gesundheitspflege besonders für
die Kandidaten des höheren Lehramts (1). — Adickes: Psychologie (4). —
Spitta: Ausgew. Abschnitte a. d. vergl. Psychologie (2). — Ritter: Gesch.
und System des Unterrichts an den höheren Schulen Deutschlands (3). —
Deuchler: Bildungswerte und Bildungsideale (3). Pädag. Semin.: Über das
Wesen der Erziehungswissenschaft (1). — Sa. = 25. Würzburg, Stölzle:
Übungen zur Pliilos. und Pädag. (1). Anleit. zu wissensch. Arbeiten in
Philos. und Pädag., nach Bedarf. — Marbe: m. Peters: Experiment. Übungen
zur Einf. in die Psychol., Pädag. und Ästhet. (3). Im psychol. Inst.: An-
leitung z. wissensch., auch pädag. und ästhet. Arb. (48). — Peters: Die
geist. Entwicklung des Menschen (2). Psychol. und pädag. Besprechungen
(1). — Sa. = 7, außerdem Arb. bei Marbe (4S) und bei Stölzle n. Bedarf.
Leipzig. Hermann Götz.
Eine Wiener Hauptstelle für Unterricht und Erziehung ist im Entstehen
begriffen. Im Anschluß an die vor 20 Jahren begründete Lehrmittelzentrale
wird sie an erster Stelle eine Mustersammlung von Lehrmitteln für alle Schul-
arten ausbauen. Sie soll dann ferner eine ständige Ausstellung von kindlichen
Beschäftigungsmitteln erhalten, wobei insbesondere die Spiele für alle Alters-
stufen zu sammeln und auszustellen sind. Auch die Musterschulbüchereien
der Lehrmittelzentrale gehen in die Hauptstelle über und werden dort eine
Ergänzung durch Musterlehrerbüchereien erfahren. Weiter soll in der Haupt-
stelle auch der Wunsch nach einer pädagogischen Zentralbibliothek, für die
ein Grundstock schon vorhanden ist, Erfüllung finden. Geplant ist schließhch
auch, das „Österreichische Schulmuseum" mit der neuen Gründung zu verbinden
und so einen geschichtlichen Überblick über das Gebiet des Lehrmittelwesens
zu bieten.
Die Auskunftsstelle für Kleinkinderfürsorge, die der pädagogischen Abtei-
lung des Zentrahnstituts für Erziehung und Unterricht angegliedert ist, bückt
jetzt auf ein dreijähriges Bestehen zurück; sie wird fortschreitend immer
stärker in Anspruch genommen. Besonderer Nachfrage erfreuen sich die
Leihmappen, die das Wichtigste über Gesundheitspflege und Beschäftigung des
Kleinkindes, über Einrichtung und Betrieb von Kindergärten und Kleinkinder-
schulen, Buchführung, Kinderspeisung, Mütterabende u. a. m. enthalten und
kostenlos zur Einsicht gesandt werden. Auch die Lichtbilder-Reihen „Körper-
liche Entwicklung und Pflege" und „Der Volkskindergarten" sind ständig
ausgeliehen. Auf Wunsch werden — gegen geringe Leihgebühr — Lehr-
pläne von Kinderpflegerinnen-Schulen, Kindergärtnerinnen- und Jugend-
leiterinnen-Seminaren vermittelt und Bildermappen sowie Baupläne zur Ver-
fügung gestellt. Näheres ist durch das Zentrahnstitut für Erziehung und Unter-
richt, Berlin W 35, Potsdamer Straße 120, zu erfragen.
Nachrichten. 1. Von der Dörpfeldstiftung sind zwei Preisaufgaben zur
Wahl gestellt: „Dörpfelds Schulverfassung in ihrer Bedeutung für die Gegen-
wart" und „Dörpfelds Erziehungsgedanken und die moderne Jugendbewegung
und Jugendfürsorge". Arbeiten im Umfange von 3 — 4 Quartbogen sind bis
zum 1. Juli 1919 an den Vorsitzenden der Stiftung, Rektor W. Vogelsang in
Barmen-Wichlinghausen, unter Kennwort einzusenden.
Literaturbericht 73
2. Prof. Dr. Aloys Fischer woirde zum Professor der Pädagogik an der
Universität München ernannt.
3. Dr. Georg Weiß, Privatdozent an der Universität Jena, hat die Be-
rufung zum obersten Leiter des Volksschulwesens in S.-Weimar erhalten,
wird jedoch seine akademische Tätigkeit zunächst noch weiterführen.
4. In der pädagogischen Osterwoche, die das Zentral-Institut für Er-
ziehung und Unterricht in der Zeit vom 10. bis 16. April 1919 veranstaltet, ist für
Pädagogik in Aussicht genommen: Spranger (Leipzig), „Die Ansicht über
den Bildungswert des Altertums von Winckelmann bis zu Wiiamowitz" und
Fischer (München), .Organisation und Technik der Berufsberatung an höheren
Schulen".
Literaturbericht.
Dr. August Messer, o. Prof. der Phil. u. Päd. a. d. Univ. Gießen, Ethik. Eine philosophische
Erörterung der sittlichen Grundfragen. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 132 S. geb. 4,20 M.
Messer fügt mit dieser Schrift einen bedeutsamen Baustein in sein umfängliches literarisches
Werk. Er gibt in ihr, nachdem er sich wiederholt schon ethischen Einzelfragen zugewendet hatte,
einen gut geschlossenen Abriß der Lehre von der Sittlichkeit. Die Vorzüge, die seinen Darstellungen
der Psychologie und der Geschichte der Philosophie (Sammlung „Wissenschaft und Bildung") die
so l)eifälhge Aufnahme gebracht haben, zeichnen auch dieses Buch aus. Vor allem eignet ihm
eine durchsichtige Klarheit, ein meisterlicher didaktischer Zug (auf den ersten Seiten vielleicht etwas
za stark hervortretend), eine schön aufsteigende Linie der Gedankenführung und ein architektonischer
Aulbau. Den Inhalt ausführlich zu kennzeichnen, verbieten die psychologischen Aufgaben dieser
Zeitschrift. Es sei nur unter den Hinweisen, daß Messer sich auch von den jüngsten Anschauungen
(Scheler, Stern u. s, f.) l>efruchten läßt, daß er vielfach auf Erscheinungen der Gegenwart die Blicke
lenkt und daß er in den sachlichen Erörtenmgen die persönliche Note nicht unterdrückt, in aller
Kürze die Gliederung angegeben.
Nach einleitenden (leider nur etwas knappen) Darlegungen ül>er die Aufgaben der Ethik han-
delt ein ausgedehnter Hauptteil über das Wesen und die Geltung der Sittlichkeil. Daß in
ihm mit aller Sorgfalt und in gutem didaktischen Sinn von der Klärung der wichtigsten Begriffe
ausgegangen wird, fördert ersichtlich die angeschlossenen Betrachtungen über das Verhältnis der
Sittlichkeit zu Religion, Sitte und Recht imd über die Gegenstände und Bedeutung des sittlichen
Bemteilens. Dankenswert ist den folgenden Abschnitten über Gesinnung, Wille und Neigung und
über den Sinn der sittlichen Wertung der hervortretende psychologische Einschlag. Gründlicher
wird dem Freiheitsproblem, dem Messer schon früher eine selbständige Darstellung gewidmet hat,
nachgegangen. In dem Kapitel über die Prinzipien der Sittlichkeit kommt die bekannte Reihe
der ethischen Theorien zu kritischer Betrachtung, wot)ei schließlich das Gewissen als entscheidende
Instanz erkannt wird. Ein neuer Hauptteil tritt imter der Überschrift „Individual- und Sozial-
ethik" auf. Wieder eröffnet hier eine begriffliche Darlegung die Auseinandersetzungen. Es wird
nach Erörterungen über den Einzelnen und die Gemeinschaft das Sittliche in seinem Verhältnis
zu den Lebensgebieteu untersucht : zu Recht und Staat, zu Religion, Kunst und Wissenschaft und
zum Wirtschaftsleben. Der Schlußteü ist alsdann der Verwirklichung der Sittlichkeit ge-
widmet. Er hat eine pädagogische Einstellung und erörtert u. a. das Verhältnis der Ethik zu
Pädagogik und Psychologie (wobei auch ein paar richtige Bemerkungen über die Grenze der
experimentellen Richtung einfließen), zeigt die Wege zur sittlichen Einsicht und zum sittlichen
Handeln, betrachtet die Erziehung unter dem Freiheitsproblem und gipfelt in dem Versuch
einer Verbindung des individual- und sozialethischen Wirkens. Angefügt ist ein trefflich zu-
sammengestelltes Schriftenverzeichnis.
Die Messersche Ethik ist dem Handbuch für höhere Schulen, herausgegel)en von
Provinzialschulrat Dr. R. Jahnke, eingereiht. Diese bedeutsame Sammlung will der planmäßigen
Einführung der künftigen Oberlehrer in das Wesen und die Aufgaben ihres Berufes dienen — einer Ein-
führung, die nach der Ordnung der praktischen Ausbildung für Lehrer an den höheren Schulen
in Preußen (vom 2S. Juli 191T) nun endlich wohl ernster als bisher betrieben werden wird. Die
Wert- und Ziellehre der Pädagogik erfordert dabei eine gründliche Vertiefung in die ethischen
74 Literaturbericht
Grundfragen. Wir wüßten für diesen Zweck kaum eine bessere Schrift als die von Messer za
nennen. Sie hat übrigens neben ihrem Platz in dem Handbuche von Jahnke auch durchaus
selbständigen Wert und^sei darum außer den Anwärtern für das höhere Schulamt auch weiteren
Kreisen sehr empfohlen. Vor allem kann sie der schulmäßigen Pflege der philosophischen Propä-
deutik, die wohl in der heraufkommenden neudeutschen Schule eine bedeutendere Stellung ge-
winnen wird, treffliche Dienste leisten.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. Kurt Grau, Grundriß der Logik. (Natur und Geisteswelt. 637. Bd.). Leipzig 19t8
Teubner. 140 S. 2 M.
Als wissenschaftlicher Leitfaden genommen stellt das Buch eine sehr tüchtige Leistung
dar. Es ist in ihm gelungen, das Lehrgebiet der Logik nach dem herkömmlichen Aufbau über-
sichtlich auszubreiten, die verschiedenen Lösungsversuche der Probleme aufzuzeigen und zu
erörtern und dal>ei immer an den Stand der Forschung heranzuführen. Wo der logische Stoff
zur Hinwendung nach Psychologischem drängte, wie z. B, bei den Betrachtungen zur Denk-
psychologie (S. 7 und S. 16—20), geschieht dies mit der reinlichen Trennung, die erforderlich
ist, wenn die logische Betrachtung nicht durch die Vermengung mit Psychologie offenbaren
Schaden leiden soll. Ebenso ist die Einbeziehung erkenntnistheoretischer und grammatischer
Fragen mit aller Vorsicht betrieben. Auch Grau's Grundriß wagt nicht mit der Überlieferung
zu brechen, die Elementarlehre gegenüber der Methodenlehre unverhältnismäßig ausführlich
abzuhaadeln. Das angefügte inhaltlich geordnete Literaturverzeichnis, das unter seinen reich-
lichen Anführungen die bedeutsameren Schriften besonders heraushebt, wäre für die Zwecke
des Buches dienstbarer, wenn es sich Beschränkung auferlegte und dafür die einzelnen Werke
nach ihrer Eigenart kurz kennzeichnete.
Der Verfasser dachte sich seine Arbeit als Einführung für Schüler (!), Studenten, ja für
philosophisch Interessierte überhaupt und wollte bei der Abfassung didaktische Gesichtspunkte
vor die theoretisch -wissenschaftlichen stellen. Ein solches Buch wäre in der Tat höchst
wünschenswert. Wir habea es aus Bedürfnissen des Seminarunterrichtes wiederholt gefordert.
Aber Grau mag sich nicht täuschen, daß für solche löbliche Absicht sein Grundriß denn doch zu
sehr mit Einzelnem überlastet ist und eine Anlage und Formung gewonnen hat, die schon ein
beträchtliches Maß von Vorkenntnissen im Gebiete und von wissenschaftlicher Kraft beim
Studierenden voraussetzt. (Vergl, z. B. den Abschnitt „Die geschichtlichen Voraussetzungen
der neueren Logik*.) Jedenfalls zählt er kaum zu den wissenschaftlich gemeinverständ-
lichen Darstellungen, die sonst die Sammlung „Natur und Geisteswelt" vereinigt. So bleibt
auch nach Grau's Logik der Wunsch nach einem deutschen Seitenstück zum Leitfaden von
Stanley Jevons noch offen. Offenbar ist das logische Lehrgebiet, wenn man seiner stofflichen
Natur durchaus gerecht bleiben will, ganz besonders schwierig didaktisch zu meistern. Viel-
leicht, daß der Versuch eines mehr untersuchend gehaltenen und nicht rein darstellenden Ver-
fahrens leichter zum Ziele führte. Die Durchsetzung mit noch so vielen und guten Beispielen,
die Grau übrigens in reizvoller Auswahl sehr geschickt einfügt, erfüllt allein noch nicht die
didaktische Aufgabe, die sich der Verfasser nach den Erklärungen im Vorwort gestellt hat.
Doch sei wiederholt, daß wir seinen Grundriß als eine wissenschaftliche Darstellung hoch ein-
zuschätzen wissen und allen denen empfehlen, die nicht gerade eine bequeme Einführung suchen.
Leipzig. Otto Scheibner.
Hermann Ebbinghaus, weiland Prof. der Philosophie an der Universität Halle, Abriß der
Psychologie. 6. Auflage, durchgesehen von Prof. Karl Bühler in Dresden. Leipzig 1919.
Veit u. Co. 206 S. 7,00 M.
Wir haben wiederholt den fest in sich geschlossenen und wohlgeformten Abriß von Ebbinghaus
im schnellen Erscheinen seiner Neuauflagen — es sind nun ihrer sechs in einem Jahrzehnt —
gewürdigt. Wie vorher Ernst Dürr, so hat auch der neue Herausgeber das Werk nicht umge-
staltet, sondern nur dort ganz sparsam und vorsichtig Eingriffe vorgenommen, wo es der Fort-
schritt der Einzelerforschung nunmehr erforderte. Seh.
D. Dr. h. c. E. v. Sallwürk, Die Seele des Menschen. Psychologische und pädagogische
Grundbegriffe. Karlsruhe 1918. G. Braun. 134 S. 4,50 M.
Die Vorzüge, die den zahlreichen Schriften Ernst v. Sallwürks eignen: Schöpfen aus der
Fülle des in einer langen Lebensarbeit erworbenen Stoffes, Geschicklichkeit in neuen eigen-
artigen Gruppierungen, klare Flüssigkeit in der Darstellung — diese Vorzüge sind auch dem
jüngsten Buche des nunmehr bald Achtzigjährigen erhalten. Es bietet einen Aufriß des
Literaturbericht 75
seelischen Lebens, gegliedert in die Hauptteile: Wesen der Seele, Vorstellung und Anschauung,
Gefühle und Handlung. Zwischendurch sind in die psychologischen Darlegungen ausgedehntere
pädagogische Betrachtungen eingegliedert. So widmet sich ein Abschnitt der erzieherischen
Forderung, das Seelenleben zur Erkenntnis zu bringen; so wird der Begriff Anschauung in
seiner schillernden Auffassung von Pestalozzi bis Herbart behandelt; so klingt das Buch aus
in erziehliche Folgerungen aus Einsichten in die psychologische Natur des Fühlens und
Wollens. Zahkeiche Anführungen aus führenden Werken der älteren und neueren pädagogischen
und psychologischen Wissenschaft leiten an die Quellen hin, aus denen Sallwürk die Tatsachen
schöpft, die er zu schöner Gedankeneiaheit verbindet.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
R. Gaupp, Prof. a. d. Univ. Tübingen, Psychologie des Kindes. 4., vielfach veränderte AolL
Natur und Geisteswelt Bd. 213/14. Leipzig 1918. Teubner. 172 S. 2 M.
Gaupps gut eingeführte Kinderpsychologie verrät nicht so auffällig, als man in der Richtxmg
physiologischer Auffassungen und Betrachtungen erwarten könnte, die Hand des Arztes. Immerhin
wird sie durch die Bevorzugung bestimmter Teilgebiete noch deutlich spürbar. Vor allem ist ihr
ein schätzensw^erter Anhang über die seelisch abnormen Kinder zu danken. Der Verfasser aber
weist selbst darauf hin, daß er sich in Stoffkreisen, die ihm fern liegen, der fachmännischen Führung
von Forschern wie Meumann, Stern und Groos anvertraut hat.
Das Buch ist erstmals vor einem Jahrzehnt erschienen. Es war in seiner ersten Gestalt aus
einem Kursus für Lehrer erwachsen. Diese Herkunft macht es verständlich, daß der Schwerpunkt
auf die Psychologie des Schulkindes verlegt ist und daß besonders auch psychologische Fragen,
denen eine hervorragende pädagogische Bedeutung innewohnt (Schulneuling, Typen der Auf-
merksamkeit, Lernen und Behalten, Aussage, Leistungsfähigkeit und Ermüdung, Intelligenzprüfung),
betont worden sind. Leider wird die reifende Jugend, die gerade bei der besonderen Einstellung
des Buches zu gründlicherer Behandlung drängte, nur auf knapp drei Seiten abgetan — bedauerlich
um so mehr, als gerade hier die neuere Forschung wichtige Ergebnisse erzielt hat und diese zur
Lösung vieler wichtigen Erziehungsfragen dringend gebraucht werden. Im übrigen aber ist das
Buch auf dem Wege zu einer vierten Auflage den Fortschritten der wissenschaftlichen Jugend-
kunde, so weit als es der Rahmen gestattete, anerkennenswert gefolgt.
Stollberg. ' Paul Ficker.
J. Jacob, Ein Beitrag zur Frage nach der psychischen Rasseunterschieden. Leip-
ziger medizinische Doktordissertation. 21 S.
Die Frage , ob sich in den Schulleistungen jüdischer Schüler Abweichungen von denen
ihrer nichtjüdischen Mitschüler zeigen, die auf einen typischen Unterschied der Rassen hin-
weisen, ist in dieser Zeitschritt schon mehrfach behandelt worden (vgl. die Zusammenstellung
der Literatur in Bd. 17 Seite 332 — 335). Die vorliegende kleine Abhandlung, die merkwürdiger-
weise als medizinische Doktorarbeit erscheint, beschäftigt sich mit dem gleichen Thema, freilich
nur bei Knaben einer einzigen Altersstufe (4. Schuljahr), so daß Verallgemeinerungen nicht er-
laubt scheinen. Es handelt sich um 327 nichtjüdische und 81 jüdische Schüler von Bürger-
und Bezirksschulen einer mitteldeutschen Großstadt, für welche J. eine Zensurenstatistik an-
stellte. Es ergab sich, daß das durchschnittliche Zeugnisprädikat in Rechtschreibung imd
Rechnen bei beiden Gruppen gleich, in den anderen Fächern, sowie in Fleiß und Aufmerksam-
keit bei der jüdischen Gruppe ein wenig geringer war. Die Häuf igkeits Statistik zeigte, daß
bei den Juden die guten, aber auch die schlechten Leistungen prozentual etwas stärker ver-
treten waren als bei den NichtJuden, während bei diesen sich wiederum mehr mittlere
Leistungen fanden.
Hamburg. William Stern.
•
Stabsat zt a. D. Dr. Max Christian, Abteilungsvorsteher an der Zentralstelle für Volkswohl-
fahrt, Psycho-physiologische Berufsberatung der Kriegsbeschädigten. Leipzig
1918. Leopold Voß. 80 S. 3,50 M.
Die auf breiter Grundlage ruhende Schrift faßt ihren Gegenstand an den verschiedensten
Seiten an. Sie erörtert einleitend seine Stellung innerhalb des weiten Gebietes der Kriegs-
beschädigtenfürsorge, legt dann Sinn und Begriff der beruflichen Eignung dar, gibt einiges
zur Methodik der Berufsberatung an, beschreibt die Tätigkeit sowie die Ausbildung der
Berul3t)erater und beschäftigt sich schließlich mit organisatorischen Fragen. Wo es möglich
war, schließt sie an Erfahrungen an. Durchweg geht sie den reichen Beziehungen zu der
allgemeinen Berufsberatimg nach. In anregender Art, aber mitunter zu ausgedehnt, 2Üeht sie
76 Literaturbericht
auch Sozialwissenschaftliches, Volkswirtschaftliches und Biologisches, das sich mit den Fragen
der Berufsberatung berührt, zur Erörterung heran. Überzeugend wird insbesondere heraus-
gearbeitet, wie den behandelten Aufgaben nicht nur für das Wohl der Kriegsbeschädigten,
sondern auch für die Förderung unseres Volksganzen eine vielfach noch nicht genügend ge-
würdigte Bedeutung innewohnt. Die hervorragenden Verdienste, die die Berufsberatung durch
die psychologische Forschung erfahren hat und vor allem noch erwarten darf, sind hinreichend
betont.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Karl Bürklen, Das Tastlesen der Blindenpunktschrift. Nebst kleinen Beiträgen zur
Blindenpsychologie von P. Grasemann, L. Cohn, W. Steinberg. Mit 16 Abbildungen im Text
und 6 Tafeln, 16. Beilieft zur Zeitschrift f. angew. Psych. Herausgegeben von W. Stern u.
O. Lipmann. Leipzig 1917. Barth. 94 S. 6 M.
Es ist ein schätzenswertes Unternehmen, aus den jüngeren Jahrgängen einer Zeitschrift die
Arbeiten des gleichen Problemgebietes in Sammelschriften zu vereinigen und sie auf solche Art
bestimmten Fachkreisen bequemer zugänglich zu machen. So wird das vorliegende Beiheft zur
Zeitschrift für angew. Psych., das eine Reihe von Beiträgen zur Blindenkunde bringt, sicherlich
von den Blindenlehrern und wohl auch den Augenärzten, von den psychologischen Forschem
und den Vertretern des Psychologieunterrichtes willkommen geheißen werden. In den Büchereien
der Berufsberatungsstellen wird es nicht fehlen dürfen.
Den Körper des Heftes bildet eine experimentelle Untersuchung über die technischen,
physiologischen und psychischen Vorgänge beim Tasllesen der Punktschrift, die zumeist schon
früher Bekanntes erneut imd endgültig bestätigen, manches Strittige entscheiden und auch einiges
Neue bringen. Der Verfasser ist Karl Bürklen, Direktor der Blindenanstalt in Purkersdorf bei
Wien. Nach einleitenden Ausführungen über die Punktschrift in ihrer Kennzeichnung und ge-
schichtlichen Entwicklung, über das Leseorgan und den Lesevorgang, über frühere Unter-
suchungen zur Lesbarkeit und zum Lesetempo stellt er eigene Versuche dar, in denen einer
Reihe scharf herausgestellter Fragen nachgegangen wird. Aus den Ergebnissen sei hier nur
einiges wiedergegeben. Nach wie vor ist im allgemeinen die besondere Eigiiung der Punkte als
Elemente der Blindenschrift und im besonderen . die Anordnung im aufrechten Sechspunktefeld
erwiesen. Dabei zeigt sich die Lesbarkeit der Schriftzeichen nicht abhängig' von der Zahl der
auftretenden Punkte, sondern es ist die Lesbarkeit bedingt durch die Eigenart der Buchstaben-
gestalt. Zur Feststellung des günstigsten Abstandes der Punkte, der sicher zwischen 2 und
und 3 mm liegt, bedarf es noch eingehenderer Versuche. Die gebräuchliche Größe der Zeichen
(bis zu 7 mm Höhe und 4,5 mm Breite) wird wohl die obere, nicht aber die untere Grenze
bezeichnen. Eine Verringerung der üblichen Maße erscheint möglich und wäre im zutreffenden
Falle vorteilhaft. Nicht immer übersteigt die Größe der Lesetastfläche die Höhe der Schrift-
zeichen. Die Möglichkeit zum Tastlesen ist bei allen Fingern gegeben ; ihre be%'orzugte Stellung
macht aber Mittel- und Zeigefinger besonders geeignet. Von besonderer Wichtigkeit für den
Lesevorgang sind Hand-, Arm- und Körperhaltung. Das Lesen von Wörtern und Sätzen erfolgt
durch Erfassung von Wortbildern, also synthetisch, nicht analytisch. Allerdings führen Lese-
schwierigkeiten zur Zerlegung des Wortbildes. Am schnellsten wird mit beiden Händen ge-
lesen. Arbeitet nur eine Hand, so verdoppelt sich ungefähr die Lesezeit. Die linke Hand liest
allein besser als die rechte. Der äußere Vorgang besteht in artverschiedenen Tastbewegungen
der Finger und Hände, teils dienen sie dem Aufsuchen, teils dem Erkennen. Die Linie der
Tastbewegungen, aufgezeichnet mittels eines von, Bürklen hergestellten ,, Tastschreibers", nähert
sich bei guten ruhigen Lesern der wagerechten Geraden, nimmt bei weniger guten Lesern die
Form des Sägeblattes an und führt schließlich bei schlechten Lesern zu einem völlig unregel-
mäßigen, verworrenen Zuge. Lesen zwei Finger, so weisen sie mehr oder minder gleich-
laufende Bewegungsba^nen auf, doch tritt stets die größere Beweglichkeit des einen, der unter
gehäufteren Bewegungen die Hauptarbeit leistet, deutlich hervor. Der Fingerdruck, der mit den
Tastbewegungen verbunden ist, steht in Verbindung mit der Lesefertigkeit: er ist gleichmäßig
und gering bei guten Lesern, stark und schwankend bei den schlechteren Lesern, bei denen die
Leseschwieiigkeiten zu vermehrten Tastbewegungen und erhöhten Anstrengungen führen. Eine
Abnahme der Tastempfindlichkeit ist selbst nach stundenlangem Lesen kaum nachweisbar. Auch
die aligememe Ermüdung wird durch das Tastlesen, das demnach wenig anstrengend ist, nur
gering beeinflußt.
Eine Ergänzung zu den Untersuchimgen bildet die kleinere Arbeit von P. Grasemann,
gegenwärtig Leiter der Blindenanstalt in Frankfurt. Sie prüft vorwiegend die Frage, welche
Aufgabe im Lesen der Blinden dem linken und dem rechten Zeigefinger zufällt und kommt
Literaturbericht 77
durch einen Versuch, in dem von beidhändigen, links- und rechtshändigen Lesern bei jeder der
drei Möglichkeiten des Lesens die Lesezeit, die Verlesungen und Wiederholungen zahlenmäßig
ermittelt wurdeu, zu der Entscheidung, „daß der rechte Zeigefinger durchaus nicht als der
eigentliche Lesefinger bezeichnet werden kann, vielmehr mit größerem Rechte der linke".
In anderer Richtung bewegen sich die beiden Aufsätze, die Dr. Ludwig Cohn in Breslau
imd stud. Wilhelm Steinberg in Hamburg beisteuern. Beide sind Blinde mit akademischer
Bildung und geben, während bisher die Psychologie der Blinden vorwiegend von Sehenden be-
arbeitet wurde, nach ihren Selbstbeobachtungen und nach den Erfahrungen an Schicksalsgenossen
ein Gesamtbild über die psychische Eigenart des Blinden. Neue Darstellungen, die erwünschte
Beiträge zur Psychologie der Persönlichkeit abgeben, sind besonders in unserer Zeit von be-
sonderem Wert, muß doch den zahlreichen Kriegsblinden mit letzter Sorge alles geboten werden,
was nur irgend an Hilfe erreichbar erscheint. Freilich streben die beiden Verfasser in dem
Ziele der Blindenpädagogik auseinander. Während Cohn das Trennende zwischen dem Blinden
und den Sehenden möglichst überbrücken möchte , vertritt Steinberg die Anschauung , daß der
Blinde nun einmal „ein besonderer Typus" sei und demgemäß die Entwicklung auf eine ganz
eigenartige, seinem besonderen Erleben entsprechende Persönlichkeitsform erforderlich sei —
ein Gegensatz, in dem der Herausgeber William Stern eine- psychologische Scheidung zweier
Blindentypen vermutet. Von Sternbergs 'recht schön verfaßter Abhandlung sei der Schluß
wiedergegeben. Es „kann nicht genug betont werden, daß der Blinde ebensowenig ein Sehender
ist, der nicht sieht, wie der Sehende ein Blinder ist, der sieht. Der Ausfall des wichtigsten
Sinnes schafft nun einmal so besondere Bedingungen, daß sich das gesamte Seelenleben eigen-
artig gestalten muß. Sein Anderssein macht es dem Blinden unmöglich, sich zu einer wert-
vollen Persönlichkeit heranzubilden, solange er ihm nicht in seiner Stellung zum Leben Rech-
nung trägt. Entschließt er sich aber zu innerer Umkehr, die um lehrt, sein Dasein nach seinen
besonderen Bedürfnissen und Glücksmöglichkeiten einzurichten, dann findet er für die mannig-
fachen kleinen Mißgeschicke, die ihm unvermeidlich begegnen, ein Lächeln, das ihn über sie
erhebt, dann gewinnt er die Seelenstärke, ernste Schwierigkeiten zu überwinden und dort zu
entsagen, wo er seine Grenzen erkennen muß; dann kann sein Leben für ihn und andere ein
Segen werden. Er soll sich nicht vor der Welt der Sehenden verschließen, sondern dankbar
empfangen , was sie ihm zu bieten hat , und so manche Bereicherung vermag er aus ihr zu
schöpfen. Er lebt mitten unter normalen Menschen und muß sich in vielem nach ihnen
richten. Nicht nur äußeres Benehmen kann und soU er von ihnen lernen, auch wahre Güter
haben sie ihm zu geben. Sein Dasein ist viel zu innig mit dem ihren verflochten, als daß er
jede Grenzüberschreitung vermeiden könnte. Ohne Schaden mag er sich auch gelegentlich tröst-
lichen Illusionen hingeben; frei von Schwächen — und Illusionen sind Schwächen — ist ja
keiner. Dann aber werden sie zu einer Gefahr für die Echtheit seiner Persönlichkeit, wenn er
den Wert seines Lebens von ihnen abhängig macht. Denn in die Mauer, die ihn von den
Sehenden trennt, legt wohl Liebe und Treue manche Bresche, gänzlich fallen aber kann sie nie.
Es hilft ihm nichts, sich über diese Tatsache hinwegzutäuschen; er muß sich seiner Besonder-
heit und ihres Eigenwertes bewußt werden und so die Schranken, die ihm ein unerbittliches
Schicksal setzte, in freier Tat der Persönlichkeit als Grenzen achten lernen.'-
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. Georg Schneidemühl, Prof. der vergL Pathologie a. d. Universität Kiel, Die Hand-
schriftenbeurteilung. Eine Einführung in die Psychologie der Handschrift. 2., durchges.
und verb. Aufl. Leipzig 1919. Teubner. 83 S. 2 M,
Wir haben die 1. Aufl. dieses von ernstem wissenschaftlichen Sinn getragenen Buches, das
uns nur die praktische Verwertbarkeit der Handschriftenbeurteilung, so z. B. im Schul-
betrieb, zu überschätzen scheint, im XVU. Jahrg. dieser Zeitschrift ausführlich angezeigt. Daß
es nach kurzer Frist zum zweitenmale ausgeschickt werden kann, wird nftht bloß zum Beweis
für die Güte der Schrift, sondern auch für das während des Krieges gesteigerte Interesse an
der angewandten Psychologie. Aus der Not der Zeit ist der psychologischen Wissenschaft und
ihrer Verwertung im Leben ein Ansehen erwachsen, das sie nicht wieder verlieren wird. Seh.
Dr. W. A. Lay, Experimentelle Pädagogik mit besonderer Rücksicht auf die
Erziehung durch die Tat. 3. verb. Aufl. Leipzig 1918. Teubner. 124 S. 2 M.
Für einen ersten Einblick in die zukunftssichere experimentelle Pädagogik, weniger in
ihre Arbeitsweise als in die Breite ihrer Arbeitsgebiete, bietet Lays Darstellung einen zuver-
lässigen Führer, der geschickt den Weg bahnt zu den Hauptwerken der jungen Wissenschaft:
zu Meumanns »Vorlesungen" (Leipzig, Engelmann) und zu Lays „Experimenteller Didaktik*
78 Literaturbericht
(Leipzig, Quelle & Meyer). In der einleitenden geschichtlichen Entwicklung erhalten Meumann,
Stern, Fischer und Lobsien vor anderen Forschern, besonders ausländischen, nicht die volle
Würdigung, die ihnen zukommt. Inmitten der kurzen, aber für die Zwecke der Bandes ge-
nügenden Beschreibung der Forschungsmethoden, findet sich eine zureichende Widerlegung der
Einwände gegen die experimentelle Pädagogik, bei der nur Lays bekannte Meinung, daß die
neue Richtung einst zur Pädagogik überhaupt — zur Gesamtpädagogik — sich erheben werde
(S. 17), wohl schwerlich Zustimmung finden wird. Jedenfalls bietet unter diesen Ansprüchen
der Aufr.ß des „Arbeitsfeldes und Arbeitsplanes der experimentellen Pädagogik als Gesamt-
pädagogik", vrie ihn Lay S. 25 und 26 entwirft, zwar ein ungewöhnliches, aber für ein ge-
schultes erziehungswissenschaftliches Denken unbefriedigendes Bild. Was Lay aus den Ergeb-
nissen der experimentell-pädagogischen Forschungsarbeit hinstellt, zeugt von guter Belesenheit
in den wissenschaftlichen Abhandlungen des Gebietes, sollte an manchen Stellen aber mit der
Warnung vor Verallgemeinerungen und mit dem Hinweis der doch manchmal durchaus erforder
liehen Nachprüfung versehen sein. Gegliedert ist dieser Hauptteil des Buches in die Abschnitte
Forschungen zur allgemeinen Erziehungslehre und zur Unterrichtslehre. Es ist verständlich
daß Lay in diesen Darstellungen seine eigenen Untersuchungen nicht hinter andere zurück-
treten läßt.
Leipzig. Rieh, Tränkmann.
Dr, Ernst M,eyeV, Vom pädagogischen Lebenswege. Erfahrungen und Ergebnisse.
Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 110 S. 1,50 M.
Der Zweck dieser kleinen Schrift ist nach den Worten des Autors „Zeugnis abzulegen für
den Sinn und Geist, in dem ich auf die meiner Aufsicht unterstellten höheren Schulen zu
wirken gesucht habe". Es ist unmöglich, diesen Geist in den Rahmen eines kurzen Referats
zu bannen; aber jeder Pädagoge wird das Buch nicht ohne Anregung aus der Hand legen, ein
Buch, das uns zeigt, daß M. bis zu seinem Tode sich die jugendliche Frische erhallen hat, die
zu einem vollen Verständnis der pädag. Probleme der Gegenwart nötig ist. Das kommt auch
zum Ausdruck in seiner Stellung zur Psychologie, von der er S. 33 sagt: „Psychologie ist die
oberste und vornehmste Fachwissenschaft des Lehrers, mit deren lebendiger Entwicklung gerade
in der Gegenwart dauernd Fühlung halten, deren Ergebnis er durch eigene Beobachtung für
sich von neuem feststellen muß."
Bonn. Oskar Kutzner.
Dr. Artur Buchenau, Die deutsche Schule der Zukunft. Berlin 1917. Otto ReichL
58 Seiten. 1 M.
Ausgehend von dem allseitig sich geltend machenden Bedürfnis, neue, bessere Zeiten vor-
zubereiten, weist B. zunächst darauf hin, daß im Gebiete der Bildung dieses Neue nicht durch
„Revolutionen" zu erreichen sei, also auch die Schule der Zukunft „an die Vergangenheit, an
Traditionswerte gebunden sei (5). Entfaltung des geistigen Wesens des Menschen, den Menschen
auf die Höhe des Menschentums zu bringen, ist Ziel der Erziehung, und zwar darf dieses Ziel
nicht für einen bestimmten Stand gelten, sondern für die ganze Nation. Das ist nur möglich,
wenn die Schule der Zukunft die Merkmale der Vereinheitlichung, Differenzierung und des
stetigen Überganges an sich trägt. Fern von aller Gleichmacherei begrüßt B. freudig die An-
sätze zu solchem stetigen Übergang, wie sie in Mannheim, München, Straßburg, Berlin vorliegen.
Um aus den höheren Schulen den umiötigen Ballast unbegabter Schüler zu entfernen, empfiehlt
er „wenigstens in den giößeren Städten neben die Goten mit vollen Anforderungen solche
mit Mittelschulanforderungen zu stellen, etwa in Michaelisklassen, die aber mit Rücksicht auf
die Eitelkeit und den Ehrgeiz der Eltern als organische Bestandteile der höheren Schule gelten
und mehr Berechtigungen erhalten müßten, als die bestehenden Mittelschulen" (16). Höhe und
Qualität der Begabung soll scharf unterschieden werden, namentlich auch in der Wertung der
Begabung. „Ein Kapitän, ein Kaufmann, ein Ingenieur kann eine ebenso hohe Bildung haben
wie der Pastor, Oberlehrer, Hochschulprofessor" (19). Daher sollte jede Schule mit Einrichtungen
für Berufsberatung verbunden sein. Von einer gemeinsamen Grundstufe fürchtet B. nicht eine
Verschärfung, sondern erhofft eine Versöhnung der sozialen Gegensätze; das Zusammensein
mit „Armenkindern" sollte Staat und Gemeinde veranlassen, dafür zu sorgen, daß alle Kinder
so gekleidet und genährt sind, daß es an nichts fehlt. Die öffentliche Wohltätigkeit müsse sich
vor allem denjenigen zuwenden, die die Gaben des Geisfes, des Gemüts und des Willens haben,
denen aber sonst die Mittel fehlen, aus den kleinen Verhältnissen herauszukommen. Diese
„Auffrischung des Blutes" sollte geradezu organisiert werden. Auch die Fragen der sozialen
Stellung, der Vorbildung und des Studiums der Volksschullehrer werden berührt. Überhaupt
Literatürbericht 7 9
ist die kleine Schrift so reich an Problemen, daß sie im Auszuge nicht alle genannt werden
können: von Pestalozzischem und Flchteschem Geiste durchweht, ist sie wegen ihrer Kürze.
aber Tiefe sehr zu empfehlen.
Bonn. Oskar Kutzner.
Prof. Dr. Wilh. Asmus, Gymnasialdirektor, Notstände au höheren Schulen. Leipzig
1918. Quelle & Meyer. 145 S. 3,20 M.
Es sind vorwiegend äußere, aber darum für eine gedeihliche Wirksamkeit doch nicht
minder bedeutsame Angelegenheiten des Schulwesens, die hier ein erfahrener Schulmann be-
spricht und für deren Regelung er erprobte Ratschläge gibt. Beispiele sind: Die Schüler-
bücherei; Das Schauen in der Schule und Schaugerät; Der Dienst älterer Oberlehrer; Der
Stundenplan. Bei der Neuordnung unseres Bildungswesens, bei der mit dem Geiste auch so vieles
Geschäftliche des Schulbetriebes sich wandeln muß, wird das Buch in manchen Stücken er-
wünschte Hilfe bieten können — und nicht bloß in der Beschränkung aiif höhere Schulen. Für
eine Neubearbeitimg seines Schlußkapitels se' dem Verfasser eine gründliche Beschäftigung mit
der Psychologie des Stundenplanes empfohlen.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Arno Fuchs, Die heilpädagogische Behandlung der durch Kopfschuß verletzten
Krieger. Abhandlungen aus dem Lehrkörper der Berliner Schule für Kopfschußverletzte.
Halle a. d. S. 1918. Karl Marhold. 143 S., geh. 5 M., geb. 6 M.
Wer die großen Schwierigkeiten bei der heilpädagogischen Behandlung Kopfschußverletzter
aus eigener Anschauung kennen gelernt hat, wird für jede Bereicherung der zur Zeit noch
wenig umfangreichen Literatur dankbar sein. Die in dem vorliegenden Buche zusammengefaßten
Abhandlungen sind aus der Praxis hervorgegangen und wollen in erster Linie auch der Praxis
dienen. Dieses Ziel können sie auch voll und ganz erreichen. Während in der 1. Abhandlung
der Herausgeber der verdienstvollen Arbeit einen sehr lehrreichen Überblick über die Gesamt-
heit der Ausfallserscheinungen gibt, wird in der 2. Abteilung die Feststellung der seelischen
Schädigungen durch E.xperiment und Allgemeinbeobachtung besprochen. Die experimentelle
Prüfung kann meiner Meinung nach noch etwas reicher ausgestattet werden; die Methoden der
ortlaufenden Arbeit nach Kraepelin (Übungsfähigkeit und Ermüdbarkeit), Assoziationsversuche,
tachistoskopische Versuche (Aufmerksamkeitstypus), der Bourdonsche Versuch, Trefferversuche,
Präzisionsarbeiten (Ordnen von Kästchen nach dem Gewicht) gewähren nach meiner Erfahiiing
sehr schätzenswerte Einblicke in den psychischen status praesens der Kopfschußverletzten. Die
weiteren 12 Beiträge behandeln die Bekämpfung der wichtigsten Störungen (Sprach-, Denk-.
Rechen- und Bewegungsstörungen). Sie geben ein anschauliches Bild von der Unsumme wohl-
durchdachter Kleinarbeit, wie sie in den Räumen einer Kopfschußverletztenschule zur Erzielung
auch der bescheidensten Erfolge geleistet werden muß. Mit dem Charakter des Buches als
eines aus der Feder verschiedener Verfasser hervorgegangenen Sammelwerkes hängt es
zusammen, daß sich manche Gedanken wiederholen. Auf Seüe 10 wird von Gefühlsstörungen
gesprochen, während Störungen der Druck- und Bewegungsempfindungen gemeint sind. Das
Verzeichnis der einschlägigen Literatur kann noch durch Bayerhaus, Die Rückleitung Him-
verletzter zur Arbeit (Münchn. med. Wochenschr. 1917 Nr. 31) und vor allen Dingen durch die
außerordentlich wertvolle und besonders auch prinzipielle Fragen eingehend erörternde Schrift
von Aschaffenburg: Lokalisierte und allgemeine Ausfallserscheinungen nach Hirnverletzungen
und ihre Bedeutung für die soziale Brauchbarkeit der Geschädigten (HaUe, 1916) ergänzt werden.
Dresden. Artur Stößner.
N.Faßbinder, Am Wege des Kindes. Ein Buch für unsere Mütter. Freiberg L Breisgau 1916
Herdersche Verlagsbuchhandlung. 396 S. 3,00 M.
Auf diese schönsinnig gehaltene Schrift sei aufmerksam gemacht, weil sie sich in den
Dienst der seit Comenius und Pestalozzi und Fröbel immer wieder versuchten, aber ohne nach-
haltigen Erfolg gebliebenen .Mutterbildung" stellt, einer pädagogischen ForJerung, die während
d^ Krieges mit immer stärkerer Dringlichkeit nach Verwirklichung drängte. Faßbinder versucht
in stimmungsvoller, gewinnender Weise wichtige Erscheinungen und Angelegenheiten, Veran-
staltungen und Schicksale des Mutterberufes und des Kinderlebens darzustellen imd dabei — mehr
oder minder merkbar — pädagogische Belehrungen zu geben. Fast durchgehend verwendet er
als literarische Form die novellistische Gestaltung oder auch die vor einem Jahrhundert bei päda-
gogischen Darlegungen besonders beliebten Gespräche. Beispiele sind: Die sprachlose Zeit; die
erzählende Mutter; Nachbarskinder; Kinderfujcht; Jugendlektüre; Aufklärung. Bei der Behand-
80 .Literaturbericht
hing bezeugt der Verfasser eine nicht gewöhnliche schriftstellerische Gabe — wenn gleichwohl
der bekannte ästhetisierende Ton der Jungmädchenbücher Zuweilen vorklingt — und eine feine
Erzieherweisheit und Erzieherg -^sinnung. Mag auch dem, der sich wissenschaftlich um die
Pädagogik bemüht, die novellistische Behandlung der pädagogischen Fragen wenig genug ge-
fallen, so haben doch Bücher solcher Art ihre Berechtigung, weil das erziehliche Tun, das sich
so schwer auf Formeln und Vorschritten bringen lassen will, solche Darstellung in gewissen
Gebieten verträgt und weil viele Frauen, denen es um ihre „Mutterbildung" ernst ist, darnach
verlangen. — Für die Auseinandersetzung über Anschauungen im einzelnen, die wir mit Faß-
binder nicht teilen, ist hier nicht der Ort.
Leipzig. Otto Scheibner.
Der vorbeugende Kinderschutz in Stadt und Land. Bericht über die Kinderschutz-
tagung des Deutschen Kinderschutzverbandes am 21. und 22. Juni 1918 in Magdeburg.
Berlin 1918. Heymanns Verlag. 116 S. 4 M.
Große Tagungen, wie sie für die Geschichte pädagogischer Richtungen, Gebiete und Gedanken
in den letzten Jahrzehnten kennzeichnend geworden sind, bringen sich um ein gut Teil ihrer
Wirkung, wenn sie nicht ausführliche Verhandlungsberichte in der Art des vorliegenden der
Öffentlichkeit darreichen. Das gilt insbesondere für die Versammlungen, die inmitten der Kriegs-
zeit nicht die Beteiligung erfahren konnten, deren sie in günstigerer Zeit sicher gewesen wären.
Die Gegenstände, über die in Magdeburg verhandelt wurde und für die der Bericht neben den
Vorträgen auch die teilweise ausgebreiteten Aussprachen vorlegt, waren: Die Stellung des Kinder-
schutzes innerhalb der Jugendfürsorge (PoUigkeit) ; Kinderschutz in städtischen und in ländlichen
Bezirken (Bahnson, Kißling); die Kreisfürsorgerin im Dienste des Kinderschutzes (Nollau); Mög-
lichkeiten vorbeugenden Kinderschutzes (Rupprecht) ; Kinderschulz und Schulpflegschaft (Achilles,
Haselhuhn). — Die neue Zeit wird die Frage des Kinderschutzes mit mehr Eifer noch, als ea
bislang geschah, durchdenken müssen und manchen Forderungen des Gebietes schnellere Er-
füllung bringen, als man noch vor kurzem zu hoffen wagte. Der Versaramlungsbericht der
Magdeburger Tagung mit seiner Fülle der hingestellten Tatsachen und vorgebrachten Vorschläge
ist für die Weiterentwicklung der wichtigen Sache ein Quellenwerk. Seh.
Dr. Herbert Ruscheweyh, Die Entwicklung des Deutschen Jugendgerichts. 2. Heft
d. Schrift, d. Ausschusses f. Jugendgerichte u. Jugendgerichtshilfen. Weimar 1918. 190 S. 3 M.
Nach einer Einleitung über Strafrechtsreform überschaut der Verfasser in geschichtlicher
Darlegung den Rechtszustand vor Errichtung der Jugendgerichte, ferner die amerikanische Be-
wegung und die Forderungen in Deutschland. Er behandelt dann die Verwaltungsvorschriften
in den verschiedenen Bundesstaaten, erörtert die reichsgesetzlichen Reformarbeiten und die
wechselnden Formen der Jugendgerichtshilfen. Ein ausführliches Schriftenverzeichnis schließt
dies aus bester Kennerschaft des Gebietes verfaßte Buch ab. Tr.
Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen
Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart.
3. erweiterte Aufl. Herausgegeben und in einem Anhang fortgesetzt von Dr. Rud. Lehmann.
L Bd. Leipzig 1919. Veit & Co. 636 S. 24,75 M.
Wir erfüllen die Verpflichtung, die neue Auflage von Paulsens Hauptwerk anzuzeigen, mit
den Hinweisen, daß in Rud. Lehmann ein pädagogischer Forscher, der dem Verfasser persönlich
nahestand, das bedeutsame Werk betreut und weiterführt, daß Paulsen selbst die Förderung des
Buches durch zahlreiche Einlagen und Einträge in sein Handexemplar eifrig betrieben hatte und
daß es der Herausgeber aus wohlbegründeten Erwägungen für richtig fand, sich aller Eingriffe
in Sache und Darstellung zu enthalten. Paulsens „Geschichte des gelehrten Unterrichtes" hat
— so die eigenen Worte — „Stürme des Unwillens" erregt. Nun ist an Einzelnem in der Tat
nicht weniges unhaltbar geworden; in der leitenden Grundanschauuug aber hat Paulsen die
Genugtuung erleben dürfen, daß die geschichtliche Bewegung — besonders durch die große
Schulreform vom Jahre 1901 — den Gang genommen hat, den er voraussah. Rudolf Lehmann
aber blieb die Aufgabe, in dem noch nicht ausgegebenen IL Bd. nach Paulsens eigener Absicht
die jüngste Entwicklung jenseits der Schwelle des XX. Jahrhunderts darzustellen. Wir werden
über diesen Abschnitt, wenn er vorliegt, ausführlicher berichten müssen, weil er als wichtiges
Stück aus dem besonderen Arbeitsgebiete dieser Zeitschrift auch die Fortschritte in der „Aka-
demisierung" der Pädagogik zu behandeln hat.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
Zur Sammlung jugendkundlicher Beobachtmigen in der Zeit
des deutschen Staatsumsturzes.
Von Aloys Fischer.
Als im Sommer 1914 der Krieg ausbrach, die Jugend unseres Volkes zu
den Fahnen strömte und ihre vielen Tadler aus der älteren Generation Lügen
strafte, hatten nicht wenige Patrioten einen frohen Zukunftsglauben wieder-
gewonnen. Es ist damals ein jetzt abgeschlossenes Kapitel der psycholo-
gischen Jugendkunde begonnen worden, das in William Sterns Sammelschrift
„Jugendliches Seelenleben und der Krieg** seine Überschrift fand. Wir
überblicken heute vollständig und teilweise auch in ihrer ursächüchen Zu-
sammenhängigkeit die Einwirkungen der Zeitereignisse, der Vorbilder, des
Geistes der Erwachsenen auf die verschiedenen Altersstufen und Klassen der
Jugend ; wir ahnen das selbständige Leben der Jugend unter aller Abhängig-
keit von dem allgemeinen Geiste und die Rückwirkungen dieses Jugend-
geistes, der im Krieg nachgewachsenen Generationen auf den Gang der Dinge
selbst. Aber noch ehe wir zu wissenschaftlicher Festlegung der gemachten
Erfahrungen Abstand und Muße finden, fordern die neuen, grundstürzenden
Ereignisse zu weiteren jugendkundhchen Beobachtungen und Studien heraus,
die, wenn ich recht sehe, nur teilweise in der Linie der gehegten und geweck-
ten Erwartungen liegen, teilweise vor allem das auch in der Kriegsbeobachtung
nur ausnahmsweise richtig gewürdigte Eigenleben der Jugend und ihre
Bedeutung im Gang der Gesellschaftsentwicklung betreffen.
Wenn ich mit den folgenden Zeilen zur Sammlung jugendkundücher Be-
obachtungen aus den Revolutionstagen, die hinter uns liegen, und zu jugend-
kundlicher Beobachtung in den noch möglichen Umstürzen einlade, so darf
ich das mit dem gleichen Recht tun, mit dem ich seinerzeit für das Studium
der Kriegswirkungen auf Schule und Jugend eingetreten bin. Ich habe aller-
dings den Eindruck, als ob die Mehrzahl unserer Volks- und Zeitgenossen
zu unbefangener und nachdenklicher Betrachtung der Dinge ungeeignet und
ungewillt wäre und sich Heber handelnd in den Gang der Ereignisse ein-
schalten wollte, als betrachtend abseits stehen. Die Einladung darf auch
nicht dahin mißverstanden werden, als mutete ich dem Einzelnen zu, die
Urasturzzeit wie ein Schauspiel und seltene Studiengelegenheit für die Ex-
zentrizitäten der menschlichen Natur zu betrachten. Ich bin der letzte, der
es mißbiUigen wird, wenn man in einer tumultuarischen Zeit, in der Hand-
granaten an Stelle von Argumenten treten und die leidenschaftliche Selbst-
sucht — einerlei welcher Klassen und Kreise — das Ziel des politischen
Denkens, die Idee der Gemeinschaft und des Gemeinwohls verdrängen, auch
der Wissenschaft eine Generalpause diktiert, oder wenn man persönlich in
den Kampf eingreifen, statt erkennend abseits stehen will. Aber wir sind
doch nicht unaufhörlich und in jedem AugenbUck Partei; Zeiten der per-
sönlichen Erregtheit und der handelnden Stellungnahme wechseln mit besinn-
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 6
b2 Aloys Fischer
lieber Betrachtung der Anderen und hoffentlich auch unseres eigenen Selbst;
die gläubige Überzeugtheit vom Recht und der Güte des eigenen Wollens und
Zieles wird uns nicht immer blind und gehässig machen gegen die Über-
legungen und Einstellungen des Anderen, des Gegners und Feindes. Soweit
der Einzelne die durch lange Jahre der wissenschaftlichen Schulung erwor-
bene Gewohnheit des Denkens noch nicht abgestreift hat, wie man einen
Anzug oder eine Mode wechselt, wird er auch inmitten aller Versuchungen
der Gewalt und des Egoismus, den Verführungen zu Übereilung und schiefer
Deutung widerstehen und brauchbare Beobachtungen sammeln können. Solche
Beobachtungen vor allem über das Jugendleben und seine Äußerungen zu
sichern, ist von großem Werte. Wenn ich hier ein persönliches Bekenntnis
ablegen darf, so gestehe ich, daß nicht wenige Eindrücke der beiden letzten
Monate ^) meine Wertung des Menschen und meine oft ausgesprochene Hoch-
wertung der Jugend in einem Maße beeinflußt haben, das ich nicht voraussah.
Wenn ich noch eines Beweises bedurft hätte, daß die sittliche und politische
Erziehung nicht nur auf Stetigkeit der Tradition, sondern auch auf die in der Jugend
sich ankündigenden Erneuerungstendenzen der Nation gegründet werden müsse,
so hätte die Revolution mir diesen Beweis geben können. Ich bekenne auch,
daß erst der Umsturzzeit geglückt ist, was der Krieg vergeblich gesucht hat:
mich vorübergehend in Versuchung zu führen, die allem pädagogischen
Optimismus zuwiderlaufende grundsätzliche Menschen Verachtung der großen
politischen Denker für die angemessene Wertung des Durchschnitts zu halten
und damit zu Grundlagen der Menschenordnung mich zu bekennen, wie sie
die antike Kultur für sinnvoll und berechtigt hielt. Ich glaube keineswegs
mit diesen Erfahrungen allein zu stehen. Aber auch wenn das Studium der
Jugend keine Bedeutung für unser Erziehungsdenken hätte, dürften die
psychologischen Tatsachen, zu denen die Beobachtungen in der Umsturzzeit
hinführen, als Bestätigung und Bereicherung unserer Erkenntnis Wert genug
besitzen, um ihre Sammlung zu rechtfertigen.
Ich sehe von einem Fragebogen, einem Schema, nach dem Erhebungen
zu machen oder Einzelerfahrungen zu buchen wären, mit voller Bewußtheit
ab; ein Fragebogen geht notwendig von bestimmten theoretischen Grund-
begriffen aus, schUeßt Erwartungen entweder ein oder aus und verleitet zu
einer Angleichung des Neuen an das Bekannte, Anerkannte. Mir scheint,
daß Fragebogen deshalb nur dort sinnvoll werden, wo seelisches Leben unter
relativ gleichartigen und konstanten Voraussetzungen auf seine gleichartigen
Züge hin untersucht werden soll. Ich gestehe aber offen, daß ich — ohne
eine künstliche Typisierung von vornherein festzulegen — mich außerstande
fühle, auch nur Beobachlungsrichtungen anzugeben. Es kommt vor allem
darauf an, nicht das wieder zu bestätigen, was wir in der Jugendpsychologie
schon wissen (und wofür selbstverständlich das jugendliche Seelenleben
in der Revolutionszeit auch bestätigende Belege bietet), sondern das festzu-
halten und zu formulieren, was dem jugendkundlichen Beobachter an Neuem,
Überraschendem, Auffälligem begegnete, was ihm sein mehr oder minder fest-
stehendes Bild von der Jugend verwirrte, zweifelhaft machte. Es erscheint
mir zu diesem Behuf zweckmäßig, ohne eine künstliche Einheit der Begriffs-
sprache festzulegen, jeden Einzelnen, der über solche Beobachtungen ver-
M Ich erlaube mir zu bemerken, daß der Aufsatz in den letzten Tagen des Monats Dezember
1918 verfaßt worden ist.
Sammlung jugendkundL Beobacht. in der Zeit des deutschen Staatfiumsturzes 83
fügt, zu genauem unzweideutigen Bericht einzuladen. Ob das Material dann
später in einer übersichtlich ordnenden Bearbeitung zusammengefaßt werden
oder in der Urgestalt erhalten bleiben soll, mag billig füi- den Augenblick
zurücktreten.
Nach meinen eigenen Beobachtungen kommen vor allem drei Gruppen
von Erfahrungen in Betracht: 1. solche, aus denen erhellt, wie weit Kinder
imd JugendUche an den Umstiu-zvorgängen erlebend teilgenommen haben,
wieviel von den Ursachen und Folgen der Ereignisse ihnen be\^Tißt, gar ver-
ständlich geworden ist, bzw. wie unvollkommen, schief und bruchstückhaft
ihre Auffassung der Ereignisse, deren Zeitgenossen sie sind, blieb; wie sie
mit ihrer fühlenden und wertenden Teilnahme Stellung suchten zu den Ein-
zelheiten, wie die Eieignisse auf ihr Stimmungsleben, ihre Schulfähigkeit, ihre
Erziehbarkeit zmückwirkten. 2. Häufiger werden Beobachtungen und Er-
fahrungen darüber zu machen gewesen sein und künftig zu machen sein, wie
Kinder und Jugendliche von den Gewalten behandelt, absichthch beeinflußt
werden, die im Umsturz in die Höhe kamen. Ich erinnere nur daran, daß bald
die neuen provisorischen Herren allerlei Einrichtungen trafen, um der angeb-
lichen oder wirkhchen Schultyrannei ein Ende zu bereiten und insbesondere
die älteren Jugendhchen für sich und ihre pohtischen Zwecke einzufangen.
Schülerräte wurden eingerichtet, in Bayern durch ministerielle Anordnung —
den Eltern dagegen bewilligte man keinen derartigen Rat. Sprechstunden
und Beratimgsstellen außerhalb der Anstalten tauchten auf. In eigenen Vor-
trägen und Revolutionsfeiern für die Jugend suchte man ihr nicht nm* Auf-
klärung zu vermitteln, sondern ich möchte auch sagen: Begeisterung und
Zustimmung zu suggerieren. Aus den Bibliotheken wurden geschichtüche
und oft auch belletristische Werke entfernt, die eine Glorifizierung des ge-
stürzten Regimes zu enthalten schienen. Es ist äußerst wichtig, diese Maß-
regeln, in denen man der geistigen Vergewaltigung der besetzenden Feind-
mächte noch zuvorgekommen ist, zu sammeln und vor allem auch die Stellung
der Jugend zu diesen recht einschneidenden Beeinflussungsversuchen zu ver-
folgen. 3. Versteckter und schwerer zu beobachten dürfte endlich das Eigen-
leben der Jugend selbst sein, besonders ihr Anteil an den Umsturzvor-
gängen. Natürlich liegen diese Dinge örtMch sehr verschieden; es ist auch
gewiß, daß nicht aus den Reihen der Jugendlichen selbst die Initiative stammte,
sondern daß sie wesentlich als Gefolgsmannen und hörige Massen von Führern
und Verführern zur Mittäterschaft kamen, aber es darf auf der anderen
Seite nicht gering angeschlagen werden, daß unter den Demonstranten und
ersten Stützen der A. und S.-Räte Jugendhche beiderlei Geschlechts eine
Hauptmasse gebildet haben, daß die neuen Ideen bei der Jugend ein ganz
anderes Echo fanden als — sagen wir militärisch bei den Menschen im Land-
wehralter. Die hier gemachten und noch zu machenden Erfahrungen möchte
ich für die wichtigsten halten; sie legen den Gedanken nahe, daß die jungen
Generationen nicht nur reöht betrauern, was im Umsturz zusammenbricht —
das ist keineswegs bloß der Militarismus — , sondern auch nicht begreifen,
welche migeheuerste Wende er einleitet, und jedenfalls im weitem Umkreis
gar nicht mehr gewillt waren, in der Linie der Entwicklung von 1813 — 1913
fortzuschaffen.
Zur Illustration der Beobachtungsrichtungen möchte ich bsispielsmäßig
Einzelzüge aus der eigenen Erfahrung anführen. Ich wähle so aus, daß
84 Aloys Fischer
dabei auch die verschiedenen Altersstufen und die sozialen Schichten inner-
.halb der Jugendlichen noch einigermaßen berücksichtigt werden.
Für die Kinder (der Großstadt wenigstens) ist der Umsturz ebenso Anlaß
zum Spiel, wie es der Krieg war. Das „Revolutionsspiel" der Gassen-
und kleinen Schuljugend ist harmlos. Als einen Beleg möchte ich das Er-
lebnis eines elfjährigen Gymnasiasten mitteilen. In seiner Familie wurden
ihm die schmerzlichen Ereignisse, der Rückzug des deutschen Heeres, das
Friedensangebot, die gefährUche Stimmung im Volk mehr oder minder ver-
borgen; das Kind sollte den großen Eindruck der Zeit im Gedächtnis be-
halten. Ebenso wurden Gespräche über den Umsturz in seiner Gegenwart
vermieden. Nach einigen Tagen überraschte er seine Eltern mit folgender
Erklärung: ,,Ihr sagt mir ja nichts, ihr meint auch, ich weiß nichts, aber wir
haben in unserer Klasse auch einen Klassenrat, eine rote und weiße Garde,
und heute war Schülerversammlung am . . . denkmal" (einem dicht bei der
Lehranstalt gelegenen Monument). Er fügte dann, mit der ganzen frommen
Einfalt guter Artung und Gleichgültigkeit bei: „Dann ist leider der Professor
gekommen, und wir mußten auseinander laufen". In einem der engsten
Gäßchen Münchens (in der Altstadt, Hottergasse) habe ich lange den Kampf
der roten Garde gegen die „andere" (diese hatte bezeichnenderweise keinen
Namen) zugesehen, den 4 — 8 jährige beiderlei Geschlechts lieferten. Es war
das typische Soldatenspiel, nur mit dem Unterschied, daß ein Teil der Kinder
rote Fähnchen, rote Schleifen oder Papierrosetten als Abzeichen trug.
Als einen Beitrag zur Psychologie der älteren Jugendlichen (zugleich als
Beleg für die Ergiebigkeit aller Bemühungen um staatsbürgerlichen Unterricht)
möchte ich einiges aus der Nacht vom 7. — 8. November notieren. Durch die
Straßen zogen in den Abendstunden größere und kleinere Trupps von Demon-
stranten ; manchmal unter Vortrag einer Papptafel mit Sprüchen, immer ohne
richtige Ordnung. Wie bei den katholischen Prozessionen schrie ein „Vor-
beter**: „Hoch die Republik" und der Chor wiederholte „Hoch die Republik!
Nieder mit dem König — Nieder mit dem König!" usw. Die Teilnehmer
waren zum allergrößten Teil jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen; die
Stimmen teilweise noch im Bruch der Mutation begriffen. Ein Bekannter,
sehr unbefangener Beobachtung, erlebte den Einbruch eines solchen Trupps
in ein Kaffeehaus. Der Führer, ein knapp 17 jähriger Bursche, schrie: „Nieder
mit den Dynastien!" Der Bekannte fragte ihn: „Was sind denn die Dynastien?**
und erhielt die Antwort: „Die Hamsterer."
Durch die Presse ging Anfang Dezember die Meldung von einer Demon-
stration der Jugendlichen in Berlin, die selbst mit der Waffe den Mehrheits-
sozialisten gedroht haben. Ähnliche Vorkommnisse, wenn auch nicht in gleichem
Umfang und gleicher Exzentrizität wurden von Stuttgart und anderen Städten
berichtet. Leider sind die Pressenachrichten ohne Wert für die Jugendkunde,
denn sie enthalten nur das Faktum, nicht Anlaß, Vorbereitung, Helfershelfer,
Teilnehmer. Wer deshalb als Augenzeuge oder Teilnehmer über diese Vor-
gänge noch berichten kann, wird erst das Wesentliche aufzudecken in der
Lage sein.
Ein besonders wichtiges Gebiet sind Beobachtungen über die militärische
Jugend, die akademische Jugend und die Mädchen. Nach meinen Erfahrungen
haben an den Tumultszenen vor allem die weiblichen Jugendüchen hervor-
ragenden Anteil gehabt; die eigentümhche Frechheit dessen, der sich im Not-
Sammlung jugendkundl. Beobacht. in der Zeit des deutschen Staatsumsturzes 86
fall durch sein Geschlecht geschützt weiß, gab ihnen die größere Freiheit
der aufreizenden und hetzerischen Reden und Zurufe, und der von dunklen se-
xuellen Instinkten genährte Wunsch sich auszuzeichnen, sich hervorzutun, riß
die männliche Jugend zu Gewalttätigkelten, Plünderungen und (meist nur als
Abreaktion gegenstandslosen und grundlos geschwellten Selbstgefühls oder
als Zeichen der Angst aufzufassenden) Schießereien hin, die ohne die An-
wesenheit der instinktiv umworbenen Mädchen kaum vorgekommen wären.
In den Kreisen der reiferen Jugend spielte bald die Auseinandersetzung
mit den neuen Ideologien eine Rolle; namentlich das Verhalten der aka-
demischen Jugend bietet hierfür Belege. In den ersten erregten Tagen waren
auch die Studenten in großer Erregung — umworben und verdächtigt zugleich,
unentschieden und uneinheitlich in ihrer Stellungnahme, und seltsamerweise
vielfach gewillt, die Konsequenzen für ihr eigenes studentisches Leben zu
ziehen und die Demokratisierung der Hochschulen gründlich in die Hand zu
nehmen. Nach und nach setzte dann die Diskussion, die Klärung und Scheidung
der Geister und damit die Bildung fester studentischer Parteien ein. Im
Gegensatz zur bürgerlichen Freiheitsbewegung im älteren Deutschland, die
nach einem sarkastischen Urteil von „Studenten, Professoren und Literaten"
getragen war, ist im gegenwärtigen Umsturz der Student bisher weder führend
noch in großer Masse beteiligt gewesen. Auch Zeichen, daß es anders werden
könnte, vermisse ich. Allerdings darf man über der geringen äußeren Teil-
nahme die tiefe Bereitschaft der Jugend für einen neuen Geist des öffent-
lichen Lebens nicht übersehen, der vor dem Umsturz schon im Entstehen
begriffen war. Und ebensowenig darf die Existenz von großen Gegensätzen
innerhalb der akademischen Jugend verkannt werden. Auch zu diesem Punkt
sind Beobachtungen von Augenzeugen aus den verschiedenen Teilen Deutsch-
lands notwendig, wenn sich auch aus den gedruckten Kundgebungen der
reiferen Jugend manches erschheßen läßt.
Die Nachahmung der von den Erwachsenen gegebeneu Beispiele hat selt-
same Erscheinungen gezeitigt, bedenklich fast mehr für Lehrer und Erzieher
als für die Jugendlichen selbst. Ich erinnere an die Beschlüsse von Schüler-
räten, denen zufolge der Lehrer weder innerhalb noch außerhalb der Anstalt
gegrüßt wird — man weiß nicht und zwetfelt: ist's Ernst? ist's spielerische
Nachahmung der Pöbelmanieren gegen die Offiziere? — oder an einen anderen
Beschluß, der, wemi ich nicht irre, von Regensburg berichtet wird, daß der
Lehrer vor dem Eintritt ins Klassenzimmer anzuklopfen habe. Noch ein-
schneidender, aber auch noch lächerlicher ist der Beschluß, daß ein Lehrer,
gegen den sich zwei Drittel des Schülerrats ausgesprochen haben, von der
Anstalt entfernt werden müsse. (Übrigens ist der von den Studenten er-
hobene Anspruch, durch ihre Vertreter künftig bei der Berufung von aka-
demischen Lehrern entscheidend mitzuwirken, eine Fortsetzung der gleichen
Tendenz.) In einzelnen Anstalten ist es zu Ausschreitungen gegen mißUebige
oder in ihrer Pflichtauffassung strenge Lehrer gekommen; sie woirden mit
Pfuirufen aus dem Schulzimmer genötigt. An anderen wurde die Auslegung
der Schulpflicht in das Beheben der Schüler gestellt; sie „streikten" oder
verabredeten, in welcher Reihenfolge die Einzelnen dem Unterricht fern-
bleiben konnten, ohne daß ihre Abwesenheit allzu auffälhg wurde.
Genug der Einzelheiten ; ich bin gewiß, daß ruhige Beobachter ohne weitere
Mühe sie vermehren können. Ich möchte insbesondere auch solche Lehrer
86 Aloys Fischer
aller Schulgattungen zur Mitteilung ihrer Erfahrungen einladen, die die „an-
geordnete Selbstregierung" der Schüler durch ihre Räte inszenieren helfen.
Ich weiß aus einigen Fällen, daß die Verlegenheiten der Schüler durch ihre
neue Freiheit größer waren als die der Lehrer.
Schwer zu belegen wird jetzt noch die aktive Teilnahme der Jugend an
der Vorbereitung und Durchführung des Umsturzes sein. Alle Nachrichten
über den Anteil der Heimat-Garnisonen an dem Umsturz und ebenso auch
die Meldungen über die allmähliche Auflösung der Frontarmee lassen er-
kennen, daß die ungefestigte,* unfertige Natur der Jungmannen der Bundes-
genosse der Sozialrevolutionären Propaganda der Matrosen gewesen ist. Die
älteren Männer haben zum größten Teil nicht „mitgemacht", sind stillschweigend
nach Hause gegangen oder haben, namentlich bei den Fronttruppen, sich
widersetzt; die 18- und 19 jährigen Mannschaften, die ihrer ganzen Unfertig-
keit und Halbbildung nach heute blau und morgen rot gesinnt sind, je nach-
dem sie „gestimmt" werden, in denen zugleich die moralischen Folgen von
vier Kriegsjahren am ausgesprochensten in Erscheinung treten, konnten durch
die Lügen (Foch ist tot, die englische Flotte liegt unter roten Wimpeln vor Kiel
und Wilhelmshaven, die französischen Truppen verbinden sich mit uns), durch
die Schlagworte und Gefühlsparolen am leichtesten verwirrt und eingefangen
werden — sie haben in ihrer Ahnungslosigkeit wohl nie begriffen, daß Meuterei
der Anfang vom Ende ist und unaufhaltsam die Auslieferung Deutschlands
an den — guten oder bösen — Willen der Feinde nach sich ziehen muß.
Sie haben auch keine Vorstellungen und Erfahrungen besessen, die als Hem-
mungen wirken konnten. Im Taumel der Freiheit von Dienst und Disziplin,
berauscht von den Verheißungen der schürenden Männer (deren innere Un-
glaubwürdigkeit reife Männer sofort einsehen, aber Jünglinge unmöglich durch-
schauen konnten) haben sie die letzten eisernen Klammern, die unser Volk
noch zusammenhielten, zerschlagen — denn nicht der Militarismus, dieses
Prinzip der Überordnung der militärischen Gewalt und des Machtstandpunkts
über alle Erwägungen politischer Klugheit und sittlicher Rücksicht, wohl aber
das Heer haben die Einheit des Vaterlandes bis zuletzt aufrecht erhalten,
und Deutschland zerfiel, als die Auflösung in das Heer getragen wurde. Wie
weit die „Reife" für diese Auflösung in der Unerzogenheit, Selbstsucht und
Gedankenkürze der jungen Generation lag, in ihrer Sehnsucht nach friedlichem
Leben um jeden Preis, in ihrer größeren Gleichgültigkeit gegen rein nationale
Werte, das vermag augenblicklich niemand endgültig zu sehen und zu sagen.
Gewiß ist jedenfalls, daß Jugendliche in den Garnisonen und Fabriken vom
ersten Anfang an bei den Umsturzbewegungen beteiligt waren — aber wahr-
scheinlich dabei ebenso geführt, wie sie in ihrer Kriegsbegeisterung wenigstens
teilweise geführt waren. Andererseits kann ich mich des Eindrucks nicht
erwehren, daß die Jugend vielfach schon geistig ganz anders gestimmt, ver-
faßt und gerichtet war, als wir älteren uns einredeten. Die Jugend war schon
vor dem Krieg vielfach ganz anders gesinnt und auf das Leben eingestellt
als frühere Jugendgeschlechter. Bekannter geworden sind vor allem die in
der bürgerlichen wie in der proletarischen Jugendbewegung zu Tage getretenen
Anzeichen einer neuen Zeit und Forderungen eines gerade auf den Unterschied
von den Vätern bewußt bauenden neuen Geschlechtes von Söhnen; ich erinnere
daran, daß die freideutsche Jugend Freiheit für ihr eigenes Leben erstrebte,
daß die Jugendbünde pädagogische Reformforderungen stellten oder über-
Sammlung jugendkundl. Beobacht. in der Zeit des deutschen Staatsumsturzes 87
nahmen, die darauf hinauslaufen, die Jugend nicht einseitig nur als Objekt
der Erziehung zu behandeln, sondern ihr Mitarbeit und Mitwirkung an ihrer
Bildung einzuräumen, Mitverantwortung für ihr Schicksal, Mitbestimmungs-
recht für ihr Leben. Aber auf dem Boden all dieser Bestrebungen lag eine
gegen frühere Zeiten schärfer ausgeprägte Selbsteinschätzung der Jugend. Sie
begnügte sich nicht bloß damit, bessere Behandlung und giößere Freiheit zu
fordern, die neue Jugend wollte und will bewußt ein Faktor im
öffentlichen Leben sein. Aus diesem Grundwillen werden die oft un-
zusammenhängend erscheinenden Einzelheiten der Jugendbewegung einheit-
hch verständlich.
Man wird gewiß nicht in Abrede stellen können, daß in unserer europäischen
Gesellschaft eine gewisse Verjüngung Bedürfnis war, vor allem aus bevölkerungs-
politischen Gründen. Viele unserer Einrichtungen trugen dazu bei, das Alter
der Selbständigkeit in Beruf und Erwerb, der Gründung eines eigenen Haus-
standes, der Erlangung eines befriedigenden Wirkungskreises immer höher
hinaufzurücken; durch diese soziologischen Tatsachen wurde unserem poli-
tischen, wirtschafthchen und gesellschaftlichen Leben viel Initiative und Schwung-
kraft entzogen. Dieser Fehler und seine Gefahren w-aren bereits erkannt, wurden
bekämpft und hätten sich durch eine organische Reform überwinden lassen.
Allein die Jugend wartete das langsame Reifen und Bessern nicht ab ; mit der
Revolution vollzog sich die von ^ielen — freilich in ganz anderem Sinn —
befikwortete Verjüngung sozusagen über Nacht. Die Jugend brach in das
öffentliche Leben ein, und man wird kaum bestreiten können, daß es mehr
die Jugend unter 20 Jahren als die eigentliche iuventus w^ar, auf deren Wert
und gesellschaftliche Bedeutung es tatsächüch ankommt. Man wird auch kaum
bestreiten können, daß d i e Jugend, die im Krieg erst volljährig geworden ist.
für eine Verantwortlichkeit weder Vorbildung und Erziehung noch Tragkraft
genug besaß. Bedingung für soziale Verantwortlichkeit ist seine Zucht und
Selbstzucht, die den naiven Egoismus, der aller Jugend natürlich ist, in sich
überwunden hat.
Wie das kam und kommen konnte, wird einer späteren Auswertung des Kiieges
als geistigen Wendepunktes Europas durchsichtig werden. Die Kriegszeit hatte
von Anfang an eine unheimhche Doppeldeutigkeit an sich : wie sie einerseits
die höchste Zusammenraffung und Anspannung aller Kräfte w^ar, so auf der
anderen Seite auch die Verkehrung aller geltenden Ordnungen. Bricht aber die
objektive d. h. in den Einrichtungen der Gesellschaft enthaltene, vom Urteil der
Mitmenschen getragene Moral und Rechtlichkeit zusammen, so besteht bei dem
einzelnen Menschen eine doppelte Möglichkeit: entweder zergeht in dem all-
gemeinen Zusammenbruch auch seine persönliche Moralität, oder aber er hat
eigenes Gewissen genug, mn seine morahsche Existenz zu behaupten, dann
ist eine solche Situation des allgemeinen Zusammenbruches eine der besten
Gelegenheiten des moraüschen Fortschrittes selbst. Es kann ein neuer Geist,
eine neue Gesinnung um so leichter entstehen, je weniger ein alter als ob-
jektive Norm und gesellschaftüche Tatsache ihn einengt und hindert. So sind
Verfallszeiten, Zeiten der Lockerung imd Auflösung aus inneren Gründen
eine Vorbedingung für die geistige und sitthche Erneuerung und blüht das
Leben, wenn auch nicht aus Ruinen, so doch inmitten von Trümmern einer
üt)erlebten Weltordnung. Das Verhalten der Jugend im Umstm-z imd zum
Umsturz scheint mir großenteils darauf zurückzuführen, daß in den halb-
88 Aloys Fischer, Sammlung jugendkundl. Beobachtungen usw.
wtichsigen Generationen schon eine geistige Wendung vorbereitet war, die
folgerichtig zur Abkehr von unserer und unserer Väter Lebens-, Wirtschafts-
und Arbeitsgesinnung führen und im Zusammenhang damit auch zum Über-
druß und zur Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen und politischen
Formen, in denen sich das Leben und Arbeiten seit der Gründung des
Deutschen Reiches bewegt hatte. Jedenfalls ist in dem Gesinnungswandel, der
sich in der Jugend schon länger ankündigte, eine gewisse Gewähr gegeben,
dafi wir — wenn auch zunächst entrechtet und v^ergewaltigt, durch unsere
politische Dummheit der Weltklugheit unterlegen und durch den mächtig um
sich greifenden Genußhunger auch im innersten Kern bedroht — doch noch
eine Zukunft haben können. Die Weltgeschichte endigt Gott sei Dank auch
mit diesem Weltkrieg nicht, und ich zweifle nicht daran, daß wir für alle
Vergewaltigungen, denen wir jetzt wehrlos preisgegeben sind, ein ebenso
gutes Gedächtnis besitzen, wie es Frankreich oder Polen besaß.
Als die größte Gefahr eines längeren Krieges habe ich im Frühjahr 1915
die mangelnde Erziehungsfürsorge für die Jugend bezeichnet. Ich dachte
dabei weniger an die Bildungslücken, an den notwendigen Rückstand der
Kenntnisse und Fertigkeiten, an die verringerte Übung der geistigen Funk-
tionen, so gewiß auch diese Mängel der Schulbildung .beklagenswert und
gefährlich sind. Vor allem schwebte mir der Einfluß einer Ausnahme- und
Notzeit mit ihrer Verschiebung aller Wertmaßstäbe auf die sittlichen Ge-
wöhnungen der Jugend vor. Die bei Ausbruch des Krieges ältere Jugend
war gegen diese Schädigungen einigermaßen sicher. Sie hatte noch in einer
Friedenszeit gelebt und maßgebende Richtungen empfangen. Wer 18- oder
20 jährig vom Ausbruch des Krieges überrascht wurde, mußte wenigstens noch
soviel Unterscheidungsfähigkeit besitzen, den Krieg und alles, was er mit sich
brachte, für die Ausnahme, nicht für die Regel zu halten, für ein Mittel,
nicht für einen Selbstzweck, für einen Übergang, nicht einen Endzusland.
Wessen Bildung und Erziehung noch in die Friedensjahre gefallen war, der
wußte, daß es letzten Endes in der Menschheit auf den Aufbau, nicht auf
die Zerstörung, auf die Arbeit, nicht auf den Kampf, auf die Verträglichkeit
und den Austausch der Völker, nicht auf ihren Haß und ihren Abschluß an-
komme. Und vor allem hatte die ältere Jugend noch Gelegenheit gehabt,
die durchschnittliche Höhenlage der geistigen Kultur wenigstens zu ahnen;
sie war von einer großen und intensiven Kultur der geistigen und wirt-
schaftlichen Arbeit umgeben und fühlte die Leistungen der Erwachsenen als
anspornende Vorbilder. Gewiß enthielt die Welt vor dem Krieg auch alles
Falsche, Böse und Verkehrte; gewiß gab es in ihr Selbstsucht, Neid, Haß,
Heuchelei, Schein — aber doch als mißbilligte Gegebenheiten, nicht als durch
das Gebot der Notwehr entschuldigte Übel, wenn nicht gar geheiligte Tugenden.
Gerade darin schuf der Krieg im öffentlichen Bewußtsein tiefstgehende Wand-
lungen. Was vorher sittlich gebrandmarkt war, wurde nicht nur geduldet, sondern
geradezu empfohlen. Ich erinnere nur an den alle kriegführenden Völker be-
herrschenden Utilitarismus der Moral, der jedes Kriegsmittel billigte, wenn es
gegen den Feind Erfolg versprach, den Utilitarismus in England, der durch seine
Hungerblockade uns auf die Knie zu zwingen hoffte und alle Rücksicht gegen
Nichtkombattanten selbstverständhch außer Acht und Ansatz ließ, wie den Utili-
tarismus bei uns, der gegen diese Maßnahme und zur Entscheidung des Krieges
den rücksichtslosen Untei-seebootkrieg glorifizierte; ich erinnere an die absieht-
Michael Kesselring, Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 89
liehen wie die unwillkürlichen Gehässigkeiten der Völker gegeneinander, an den
Feldzug der Lügen, Verleumdungen, unberechtigten Verallgemeinerungen, den
ebenfalls alle Nationen ohne Ausnahme gegeneinander geführt haben, jede
mit dem besten Gewissen bei ihren eigenen, mit dem x\bscheu des Phaiisäers
über den Splitter im Auge des Nächsten bei den feindlichen Kundgebungen.
Denken wir uns Kinder und unfertige Jugendliche in diese Wertverkehrung
lüneinversetzt, jahrelang in ihr festgehalten, denken wir noch an die vielen,
oft gewiß unabsichthchen Bestärkungen durch die Träger der Erziehung in
Haus und Schule — was mußte die Folge sein? Die Jugend in der Periode
der größten Bildsamkeit entbehrte der unerschütterlichen Maßstäbe und un-
bezweifelten Gewißheiten. Das Rechtsbewnißtsein schwand dahin unter dem
Einfluß der Vielregiererei und der damit notwendig verbundenen Laxheit des
Publikums; namentlich alle mit der Rationierung der Lebensmittel verbun-
denen Gesetze wurden, man kann sagen, allgemein übertreten. Der Jugend
entschwand überall die Höhenlage des geistigen Lebens und kulturellen Schaffens
aus dem Auge, auf der einst das deutsche Leben stand. So ließ sie ruhig
die revolutionären Kräfte unsere Ordnung zerbrechen, ohne Bedauern, ja mii
dem BeA^iißtsein, daß der Geist der letzten 50 Jahre deutscher Geschichte
voll von Irrtümern und Verderbtheiten gewesen, Schuld am Krieg, unser Fluch,
ja mit dem Bewußtsein, daß ein neuer Geist mit seinen sozialen und poMtischen
Ordnungen uns erlösen müsse, ehe wir würdig wären, in die sogenannte Gemein-
schaft der Völker wieder aufgenommen zu werden. Die Jugend leistete dem Um-
sturz keinen Widerstand — so gelang er. Man kann sich des Eindi'ucks nicht
erwehren, daß auch hier eine verborgene Logik waltet: statt des mit Worten ver-
kündeten und versprochenen Rechtsfriedens bringt er die Vergewaltigung, stall
der Freiheit die Knechtung, statt der Ordnung das Chaos. Damit legt die Welt-
geschichte auf die Schultern der Jugend, die nicht wußte, was sie tat, als sie
die alte Ordnung zerbrach, die Pflicht, aus Not und Chaos die neue Ordnune
mühsam aufzubauen und für den Frevel, den sie im vorschnellen Glauben
an ein unmittelbar nahes Glück beging, mit dem Opfer eines leidensreichen
Sklaventums Sühne zu tun, W^ohl ihr und unserem Vaterland, wenn sie
diese Sühne willig leistet.
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter.
Vorgenommen in einem bayrischen Lehrerseminar.
Von Michael Kesselring.
(Schluß.)
m. Die Begründungen.
Besonders die Begründungen zu den gewählten Vorbildern gewälu-en uns
wertvolle Einblicke in die Psyche unserer Jugendlichen und können ims Beiträge
liefern zum besseren Verständnis des Gefühls- und Willenslebens der-
selben. In vielen Fällen enthalten die Schülerantworten aufrichtige Bekennt-
nisse einer ringenden Jünglingsseele. Sie geben nicht nur Aufschluß über
90 Michael Kesselring
den individuellen Entwicklungsstandpunkt der Vpn., über die Beeinflussung
des Gedankenkreises durch die Unterrichtsfächer, sondern auch in gewissem
Sinne über den Bildungsgrad der Einzelnen. Auch einen Maßstab für die
sittliche Entwicklung der JugendUchen können wir aus ihnen entnehmen.
Die schon mehrfach eingestreuten, ausführlichen oder angedeuteten Schüler-
beantwortungen legten manches Zeugnis ab für den Wert einer solchen Er-
kundung für das Kennenlernen der Verfassung der Schülerseele im höheren
Jugendalter. Tatsächlich sind die idealen Musterbilder, welche ureigenstes
Gut jedes individuellen Geistes- und Willenslebens bilden, in mehr oder minder
weitgehender Weise ein Willensimpuls für das persönliche Wachstum der
Charakterkräfte im Sinne des Rückertschen Wortes : „Vor jedem steht ein Bild
des, was er werden soll; solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll."
Bei der eigenartigen Beschaffenheit der meisten Ideale als Strebe-Ideale sind
sie für die Selbstprüfung der einzelnen Menschen gewissermaßen Spiegel, in
denen sie sich betrachten können, und bilden zugleich einen nicht zu unter-
schätzenden Ansporn zur Besserung und Emporläuterung der eigenen Per-
sönlichkeit. Sie dürfen wohl als Mittel der Autosuggestion anzusprechen sein,
welche oft in unbewußter Weise jedes Menschenkindes Arbeit an sich im Sinne
der eigenen Vervollkommnung fördernd beeinflussen und regeln, in bes. Grade
im höheren Jünglingsalter.
Meumannl) betrachtet unsere Idealforschungen unter dem Gesichtspunkte
der sittlichen Entwicklung, wie etwa auch experimentelle Forschungen über
die Stellungnahme der Schüler zu Lüge und Diebstahl oder zur Freundschaft.
Den Wert solcher Erhebungen sieht er zunächst mehr in der Anregung zu
kritischer Beleuchtung bestehender Zustände im Erziehungs- und Schulwesen;
führt er doch S. 621 aus, daß wir durch solche Erhebungen nicht nur die
Entwicklung einer der wichtigsten Seiten des jugendlichen Seelenlebens kennen-
lernen, sondern zugleich auch „wertvolle Maßstäbe zur Beurteilung unseres
ganzen Erziehungssystems und der idealbildenden Kraft unserer einzelnen
Schüler" gewinnen. So weit wie Meumann, welcher auf Grund einiger weniger
Untersuchungen ein ungünstiges Urteil über die deutsche Volksschule bezüg-
lich ihrer idealbildenden Kraft fällte, darf man aber jetzt unmöglich schon
gehen, w^eil die Zahl der Vpn. viel zu gering ist, weit mehr Orte der ver-
schiedensten deutschen Landschaften zu Erhebungen benutzt werden müssen
und eine großangelegte Erhebung in unseren verschiedenen Schulgattungen
niederer, mittlerer und höherer Art von einem psychologischen Institut oder
einer pädagogisch -psychologischen Arbeitsgemeinschaft zur Durchführung
kommen müßte. Erst dann könnte auch der Gedanke Meumanns, die Aus-
wahl großer Persönlichkeitsvorbilder nicht dem Zufall zu überlassen, sondern
— wenn wir ihn recht verstehen — einen lehrplanmäßigen Kanon von Ideal-
persönlichkeiten aufzustellen, in nähere Erwägung gezogen werden.
Wenn wir nun die Begründungen unserer Sem. näher beleuchten, liegt es
klar, daß wir bei dem für Volksschuluntersuchungen beachteten Schema der
Motive nicht bleiben konnten und uns mehr den von Key. 11 gewählten
Gruppen anschlössen, welcher aUerdings keine zusammenfassende Tabelle für
die Begründungen aufstellt, wie für die gewählten Persönlichkeiten. Da wir dies
als einen Mangel empfanden und die Beziehungen der möglichen Gruppen
') Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik, Bd. I^, S. 820—629.
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 91
untereinander klar erkennen wollten, gestalteten wir im engsten Anschluß
an unser Material eine genauere Tabelle, wie sie auf S. 94 einzusehen ist.
Besonders auffallend war bei der ersten Durchsicht der Begründungen, wie
oft die Größe des Willens, die Vollkommenheit an Kraft, die Ausdauer und
Beharrhchkeit, die Geschlossenheit, Konsequenz und Selbständigkeit, der zähe
Wille, der Wagemut und die Unbeirrbarkeit durch Hindernisse als vorbildlich
angeführt \s'urden, also formale W^illenseigenschaften als stark beein-
flussendes Moment bei der Wahl der Ideale mitspielen. Diesen stellten sich
naturgemäß materielle W^illens- und Charakterzüge an die Seite, von
denen sich eine merkwürdige iVuslese in der Tabelle vorfindet. Zu diesen
rein ethisch betonten Einzelzügen mußten noch Sammelabteilungen kommen.
Zunächst eine Abteilung formaler Willenseigenschaften im allgemeinen, wenn
in den Motivierungen etwa «,fester Charakter", „geschlossene, starke Persön-
lichkeit", „rücksichtsloses Durchsetzen begonnener Arbeiten" u. ä. angegeben
war, wozu materielle ethische Züge im allgemeinen treten mußten, wenn es
etwa hieß: „gute Eigenschaften", „pflichtbewußter, edler Mensch", „zeigte treue
Pflichterfüllung". Schließlich machte sich noch eine allgemeingehaltene Ab-
füllung notwendig für Äußerungen, daß z. B. das ganze Verhalten eines Vor-
bildes sich durch Harmonie in Denken, Fühlen und Wollen auszeichne oder
daß das gemeinte Vorbild in seinem Handeln das W^ahre, Schöne und Gute
als höchste Maßstäbe genommen habe. Durch die schärfere Auseinander-
haltung von ethisch-formal und ethisch-material betonten Gründen wollten wir
zugleich einen orientierenden Einblick in das Verhältnis der Bewunderung
und Nacheiferung der Willens- und Charakerstärke nach der Seite des guten
oder des großen, starken Willens gewinnen.
Hin und wieder leuchteten in den Schülerzeugnissen auch andere ethische
Wertschätzungen durch, die teilweise tieferen Blick für das Getriebe des
Menschenlebens mit seinen tragischen Konflikten bekundeten. So wurde hin-
gewiesen auf die nötige Urteilsklarheit und Einsicht bei großen Taten, z. B.
bei Bismarck oder Moltke ; Bewunderung erregte das unentwegte Weiterstreben
auch bei VerkanntAverden und sonstigen Hemmnissen. Daß die Tugend der
Gesundsinnigkeit, also die Tugend des Trieblebens als Mäßigkeit, Besonnen-
heit keine besondere Rubrik erforderte, ist nur ein Beweis für die gesunde,
geradlinige Entwicklung unserer 16 — 20 jährigen. Doch klingt auch die vor-
bildliche Kraft dieser Tugend manchmal durch, wenn genannt werden: Rein-
heit und Gesundheit; Reinheit und Überlegenheit; hatte sich in der Gewalt.
Jedoch stellten wir beim vereinzelten Auftreten solcher Begründungen dafür
keine besondere Rubrik auf.
Neben die ethischen Gründe ließe sich als weitere große Hauptgruppe die
der kulturell-geistigen Eigenschaften stellen, wozu auch bei unserer
Erhebung die religiösen Ideale zu rechnen wären. Bei letzterer Gruppe
machte sich eine vorgesehene Trennung für Ideale in rein religiöser Hin-
sicht oder nach der religionsgeschichtlichen Seite hin überflüssig, weil
nur im letzten Sinne Entscheidungen vorUegen. Bei den intellektuellen
Gründen wird besonders die Geisteskraft als Vorbild hervorgehoben. Diesem
freigeistigen, formal-intellektuellen Streben im Sinne geistiger Selbständigkeit
stellt sich der' vorbildliche Einfluß des großen, umfangreichen Wissens, der
Gesichtspunkt der materiellen Bildung und die Bewunderung der Geistes-
größe an die Seite, wozu noch als Sonderabteilung die erhaltene bildende
92 Michael Kesselring
Förderung der geistigen Kräfte und des Wissensschatzes durch den guten
Unterricht des Lehrers tritt. Als künstlerisch vorbildliche Züge traten
auf : Dichtkunst, Musizieren, Malerei, Beredsamkeit, Für die nationalen Gründe
ließ sich die Teilung in rein kriegerische, politische, soziale, vaterländische
Motivierung durchführen durch fast zu strenge Beachtung der Schülerausdrücke
selbst, welche es damit ermöglichte, gegenüber der Abteilung: Wohlwollen,
Opferwilligkeit, " Fürsorge die vaterländischen und sozialen Gründe hervor-
zuheben.
Eine schwankende Stellung zwischen den beiden Hauptgi-uppen der kulturell-
geistigen und der ethisch betonten Gründe nehmen unsere lebenspraktischen
Gründe ein. Bei Rey. II scheinen solche gar nicht aufgetreten zu sein oder
sind vielleicht in die Gruppe „Ehre und Ruhm" einbezogen. Wenn Natur-
und Heimatliebe, eine richtige Schätzung der .Gesundheit und körperlichen
Betätigung bei diesen Begründungen hervortreten, sind damit wertvolle sekun-
däre Bedingungen einer idealen Lebensführung erkannt. Ziemlich rege scheint
der Sinn für gesellschaftliche Vorzüge zu sein; denn wir finden oft erwähnt:
feines Benehmen, feiner Takt, Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit und Gewandt-
heit, gewinnendes Benehmen, ritterliche Gesinnung u. a., wobei einesteils einige
Besprechungen mit den Vpn. über den guten Ton nachgewirkt haben können,
andernteils mancher Oberklässer, der in einem Vierteljahr als Schulamtsbewerber
aus der Anstalt entlassen wurde, den Besitz solcher Vorzüge als besonders
erstrebenswert halten mag. Auch Anerkennung und Erfolg bei tätiger Berufs-
erfüllung möchten manche nicht missen; Ruhm- und Ehrsucht als solche fiel
in keiner Beantwortung auf.
Schließlich finden sich noch besondere Wunschideale aufgeführt. Zu den
auf S. 34 erwähnten wären noch folgende zu rechnen: Ich möchte über-
haupt dichten können — mein einziger und höchster Wunsch ist der, nach
Afrika gehen zu können — weltflüchtig, einsam, zurückgezogen und ein solcher
Pessimist wie Lenau — mein größter Wunsch aber wäre der, ein Leben wie
Goethe führen zu können: reich an irdischem Gut, philosophieren, berühmt
werden, die Menschheit für das Schöne und Edle zu begeistern.
Als Bewunderungsideale wurden z. B. folgende Äußerungen be-
wertet: Ich muß emporschauen zu einem Schauspieler wie Kainz; denn er
muß doch viel tiefer alles erleben als andere — so oft ich den Namen Schiller
höre, durchfährt mich ein heiliger Schauer — ein Geist zu sein wie Goethe
oder Schiller, wer das doch könnte! An Personen, die ausgesprochene Be-
wunderung erregen, seien noch genannt : Könier, Nietzsche und Schopenhauer,
einmal auch Otto Ernst.
Bezüglich der Berechnung sahen wir uns gedrängt, auf zweifache Weise
ein Bild der Motivierung der gewählten Ideale zu gewinnen. In Tabelle 11
sind die Begründungen auf die Zahl der Vpn. bezogen, wobei jeweils das
am stärksten hervortretende Motiv für die Wahl eines Vorbildes die Eintragung
in die betreffende Abteilung bewirkte. Da diese Berechnungsweise auch bei
Rey. II vorliegt, gingen wir den Ergebnissen dieser Art im einzelnen nach und
stellten auch manche Vergleiche her, obwohl uns die Schwierigkeiten für
solche Gegenüberstellungen bei experimentellen Forschungen in verschiedenen
Ländern nicht verborgen sind. In Tabelle III liegt dann eine Berechnung der
angegebenen Einzeleigenschaften auf die Zahl dieser Nennungen überhaupt
vor. Nachdem wir uns in deren Ergebnisse vertieft hatten, war natürlich eine
Untersuchungen über Ideede im höheren Jugendalter 93
-Gegenüberstellung der Untersuchungsergebnisse nach den beiden Berechnungs-
weisen geboten, die sich aus Tab. 2 und 3 leicht gewinnen läßt.
In einer Veröffentlichung über die Ideale schwedischer Schulkinder von
Dr. G. Brandelli) wird auch die Erscheinung betont, daß bei der Begründung
oft mehrere Eigenschaften als wahlbestimmend angeführt werden, so daß Brandeil
die Aufstellung einer „Gesichtspunktfrequenz" für notwendig erachtete nach
der Formel:
'Anzahl der Gesichtspunkte (G) ^--
Gesichtspunktfrequenz = -^solute Zahl der Begründungen (B) "^ ^^'
Für unsere 1. Klasse wäre nach Abzug der Zahl der Nichtbeantwortungen
und der Nichtbegründungen G = „22 ^ ^^ ^ ^^^' ^^ die 2. Kl.: ^^
X 100 = 232. Die 2. Klasse weiß also \iel mehr Gesichtspunkte aufzustellen
als die 1., was dem Bildungsstandpunkt auch entsprechend wäre. Gegenüber
den Schülern Brandells, bei denen sich für die Knaben die Gesichtspunkt-
frequenz 118, für die Mädchen 130 herausstellte, weisen unsere Jugendlichen
■6\e doppelte Frequenz auf.
Betrachtung der Haupterscheinungen dieser Tabelle
a) Innerhalb der 1. Klasse: Für die Versuche in den verschiedenen
Jahren ergibt sich ein auffallend anderes Bild bei den ethisch formalen Be-
gründungen, da das erste Jahr die doppelte Nennungszahl gegenüber den
beiden folgenden Jahren bringt. Auch der Sinn für gesellschaftliche Vorzüge
zeigt sich im 1. Jahre stärker, wogegen die Bevorzugung künstlerischer Züge
im 2. Jahre besonders stark hervortritt. Im übrigen lassen sich keine wesent-
lichen Verschiedenheiten nachweisen.
b) Innerhalb der 2. Klasse: Besondere Schwankungen sind nicht fest-
zustellen. Jedoch ergaben sich in einem Jahre Angaben für Eigenschaften,
die im anderen gar nicht genannt sind, so fehlen im 2. Jahre „Wohlwollen",
„Liebe und Treue", die im 1. Jahre 4mal, bzw. 3mal aufgeführt sind. Im
1. Jahre fehlen religiöse Begründungen, werden aber im 2. Jahre 3 mal an-
gegeben, Imal in positivem Sinne der Nachfolge Christi, 2 mal mehr in frei-
geistigem Sinne.
Eine einmalige Erhebung reicht also nicht aus, um vollen Einblick in die
Gesinnungen und die sittliche Ent\^icklung der Jugendlichen zu erhalten.
Doch zeigt sich im Hinblick auf die Übereinstimmung in den wesentlichen
Zügen dieser Schülerbekenntnisse, daß selbst eine einmalige Befragung den
Charakter einer verläßlichen Stichprobe für die gleichen Altersstufen inner-
halb der gleichen Schulgattungen trägt, da die Jahresschwankungen nicht so
hoch zu sein scheinen, daß sie das Allgeraeinbild der Ergebnisse wesentlich
verändern könnten.
c) Vergleich der 1. und 2. Klasse: Bei unserem Versuch in jenen Jahren
gab die 2. Klasse viel weniger Begründungen als die 1., nämlich 12,80/o gegen
4,30/0. Diese Erscheinung liegt wohl begründet in der größeren Zahl ausführ-
licher, kritischer und ausweichender Antworten, sowie in der vielleicht größeren
Zurückhaltung der ältesten Seminaristen, Gesellschaftliche Vorzüge werden
in der 2. Klasse gar nicht mehr aufgeführt, wogegen das allgemeine Humanitäts-
*) MitgeteUt bei Rey. I, S. 243 und S. 250.
94
Michael Kesselring
Tab. 2. Tafel der
BegTÜndungen (berechnet auf Vpn).
Keine Antwort
1 1
7 i 5 10
22
8,6
7
5
12
6,6
34
7,8
J 1
1
Ohne Begründung 3 ! 5 3
11
4,3
12
11
23
12,8
34
7,8
Allgemein edles Menschentum
17 13
21
51
20,0
23
24
47
26,1
98
22,5
22.5
Ethische Gründe
Allgem. formal
17
3
2
1
4
3
9
8
1
34
4
2
1
10
2
3
4
25
6
13,3
1,5
0,8
0,4
3,9
0,8
1,1
1,5
9,8
2,3
8
6
7
3
4
8
1
11
2
4
13
19
8
11
3
4
12
10,5
4,4
6,1
1,6
2,2
11,6
53
12
2
1
21
2
6
8
46
7
12,2
2,7
0,4
0,2
4.8
0,4
1,3
1,8
10,6
1,7
Kraft u. Konsequenz .
Beharrlichkeit
.20,3
1 20,5
Mut u. Tapferkeit . .
allgem. material . . .
i
2 1 4
Wahrheit, Offenheit .
Gerechtigkeit ....
Gemütstiefe ....
Liebe u. Treue . . ,
2
1
9
2
>2-
Wohlwollen u. Fürsorge
Berufserfüllung . .
2 1
5 11
sittl. Grundsätze. . .
4
Äuß. lebenspraktische Gründe
Gesellschaftl. Vorzüge . .
Anerkennung u. Erfolg . .
Naturliebe u. Heimat. . .
Gesundheit, Reisen, Sport .
Lebensgenuß
10
1
2
2
1
1
?,
1
2
1
13
1
3
4
2
5,0
0,4
1,1
1,5
0,8
1
1
1
1
2
0,5
1,1
13
1
3
5
4
3,0
0,2
0,6
1,1
0,8
' 5,7
,
Nationale Gründe
Kriegerisch
politisch
sozial . . .
vaterländisch
1
2
5
4
2
6
4
2
1
3
10
0.8
2,3
0,4
3,9
1
3
5
1
8
1,1
4,4
2 0,4
7 1,6
1 0,2
18 4,1
, 6,3
Intellektuell
Selbständigkeit, Freiheit .
Geistesgröße, großes Wissen
guter Unterricht der Lehrer
3
3
2 1
21 —
3
6
2
1,1
2,3
0,8
—
2
2
1,1
13
3,'^
. 3,0
Künstlerisch
Dichtung
Alusik
3
10
3
16
6,3
2
5
7
3,8
23
5,3
l 5,3
bildende Künste
—
—
1
1
0,4
—
3
3
1,6
4
0,8
0,8
1
3
1
4
8
3,1
2
2
4
2,2
12 2,7
Wünsche
—
2
—
2
0,8
1
2
3
1,6
5
1.1
'
I. Klasse
12
« =9
0)N(
O
"/o
II. Kl.
ll
o;
,0
!"• -/ol'
l.J.
2.J.
3.J.
l.J.
2.J.
o . 1
o« 1
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 95
ideal in dieser Klasse mit höherem Prozentsatz als in der 1. auftritt, 26 o/o —
200/0, Nach den sonstigen Zahlen Verhältnissen mit Schwankungen bei den
Einzelzügen zwischen 2 — 3^0 kann von stärker auffallender verschiedenartiger
Stellungnahme kaum gesprochen werden; dies gilt für Gründe ethisch-formaler
und ethisch-materialer Art, hinsichtlich derBerufserfi'illung und der künstlerischen
Eigenschaften. Intellektuelle Eigenschaften erfahren von der 1. Klasse eine
höhere Wertschätzung als von der 2. Klasse.
Eine Gesamtübersicht mag folgende Tabelle geben:
Gründe ; 1. Kl. i 2. Kl. •' Vereinigt j :, Rey H
Ethische
formal 18,3 18.6 18,-, 1 ,o 1 '^ • ^-,
material 22,5 26,9 24,-, ff '
allgem. edles Menschentum ' 23,o 32,4 26,7 J 69,:
Lebenspraktisch .... 10,o 2,o 7.o "
Religiös 0,5 2,o ' l,o 1 10
Intellektuell 5,o 1.* 3.5 Kg 13
Künstlerisch 7,, 4,s 6.3 ( ' 6
National 8,5 6,2 7.^ I 20
Um mit Rey. II Beziehungen herstellen zu können, mußten wir von seinen
Prozentangaben in den Einzeltabellen die Hälfte der Werte einsetzen, da seine
Angaben die Summe von 198 ergaben und zugleich unsere Prozentzahlen
wie S. 26 angegeben, umrechnen. Rein ethisch betonte Gründe scheinen
zunächst von unseren Vpn. mit 43^0 weit mehr gewählt zu sein, als bei R.
mit 27; noch mehr verschiebt sich dies Verhältnis bei Hinzunahme des
Wertes für das allgemeine Humanitätsideal, wonach wir 69 0 0 ethischer Gründe
überhaupt festzustellen hätten. Bei R. folgt bei Zusammenstellung der „rein
ethisch betonten Gründe", mit seinen Gruppen „Mut" und „Opferwilligkeit"
der Gesamtwert 48. Nach der formalen Seite überwiegen bei uns die ethischen
Begründungen (18,5 gegen 13 bei R.), während sich nach der materialen
Seite bei R. ungleich mehr Nennungen finden; stehen sich doch die Werte
35 gegen 24,5 bei uns gegenüber! Die Gruppe „Opferwilligkeit und Ver-
langen, andern zu helfen'' führt bei R. dieses Überwiegen herbei. Wenn wir
allerdings zu unserer Gruppe „Wohlwollen" die sozial-vaterländischen Gründe
nehmen, dann stellt sich dem R. Werte 8 ein solcher von 7,3^ 0 gegenüber.
Lebenspraktische Gründe drängen sich bei uns wesentlich mehr hervor
mit 7,00/0, denen sich bei R. nur der Wert 3 für „Ehre und Ruhm" entgegen-
stellen läßt.
Bei den religiösen Begründungen zeigt sich der gi'ößte Gegensatz in den
beiden Untersuchungen, wobei sich die Werte von 10 bei R. dem von 1,0
gegenüberstehen. Intellektuelle Gründe nehmen bei R. mit dem Werte 13
einen breiteren Raum ein als bei uns mit 3,5. Bezüglich der künstlerischen
Eigenschaften weisen die Untersuchungen die gleichen Werte auf: R. 6, bei
uns 6,3. Die Gründe verteilen sich dabei in folgender Weise: Musik (1. Kl.
11 mal, 2. Kl. 7 mal), Dichhmg (1. Kl. 5 mal, 2. Kl. 7 mal), Malerei (2. Kl. 3 mal),
Beredsamkeit im ganzen 3 mal.
96 Michael Kesselring
Nationale Gesinnung und Betätigung werden von den norwegischen Se-
minaristen in ungleich höherer Zahl als bei uns geschätzt, 20 : 7,6! Dazu
mitgewirkt haben wohl die starken Einflüsse des Weltkrieges auch auf neu-
trale Länder und die Jugend des norwegischen Königreiches als Staatswesen
überhaupt. Da auch internationale Gründe mit 3,5 bei R. sich zeigen, so
scheint das völkische und nationale Interesse bei den norwegischen Jugend-
lichen reger als bei den unsrigen zu sein. Doch läßt sich ein solches Urteil
nur bedingt aussprechen, da unsere Vpn. jünger als die norwegischen waren
und in diesem Alter vom öffentlichen Leben oft in übertriebener Weise fern-
gehalten werden. Die Werte, welche bei unseren Seminaristen für diese Gruppe
gleichsam ausgefallen sind, treten besonders stark auf in der uns so charak-
teristisch erscheinenden Begründung durch das allgemeine edle, charaktervolle
Menschentum, einer Art der Idealbegründung, welche die R.schen Vpn. gar
nicht zu kennen scheinen.
Bei einem abschweifenden Blick in das angewandte Gebiet der Erziehung,
des Unterrichts und der Schulen können wir feststellen, daß das Gesamtbild,
welches die beiden Erhebungen über die Ideale ergeben, hinsichtlich der
Gemüts-, Willens- und Charakterentwicklung unserer Jugendlichen kein uner-
freuhches ist: das höhere Jugendalter ist durch ein ernstlich sittlich gerichtetes
Streben ausgezeichnet. Die Pflichtvorstellung ist als ein für alle Menschen
gültiges Gebot erkannt. Die Tugend der Sachlichkeit hat sich festgesetzt und
der Gedanke von der Heiligkeit der Arbeit und des Strebens hat seine Grund-
legung erfahren. Begeisterungsfähigkeit, Sinn für Großes und Edles pulsieren
im jugendlichen Geistesleben, das nach objektiven Werten die Lebensführung
zu gestalten sucht. Grundsätze der Moralität sind bei den Jugendlichen
herrschend geworden, und selbst der Standpunkt der sittlichen Autonomie ist
von manchen erreicht, wenn sie in ihren freien Idealen aus innerer Über-
zeugung und eigenem Gewissensentscheid in freiem Gehorsam sich objektiven
Werten unterordnen wollen, also sich zum Standpunkt der inneren Freiheit
durchgerungen haben, welcher für das jugendliche Gemüt als eine Versöhnung
zwischen der Macht der Autorität und dem Verlangen nach Freiheit angesehe
werden muß. Auch drückt sich wiederholt in den Bekenntnissen die Er-
kenntnis aus, daß in der eigenen Brust des Schicksals Sterne schimmern, daß
das Sittliche immer und zuerst den einzelnen Menschen organisiert. Daher
auch die vorwiegenden Zeugnisse für charaktervolle Persönlichkeiten als Vor-
bilder unter Hervorhebung der formal-ethischen Züge, wie Beharrlichkeit,
Geradheit, innere Widerspruchslosigkeit, Stärke, Kraft und Freiheit. Dazu
treten dann erst die Tugenden für die Gemeinschaft, die ethischen Eigen-
schaften der Gerechtigkeit, des Wohlwollens und der Nächstenliebe, der Berufs-
erfüllung und nationalen Tätigkeit. Es bahnt sich also in den jugendlichen
Seelen das Persönlichkeitsstreben an, der individuellen und sozialethischen
Kulturaufgabe gerecht zu werden.
Freilich fließen subjektive und objektive Wertschätzungen und -maßstäbe.
Verlangen nach Befriedigung individueller Neigungen und Streben nach ge-
schlossener beruflicher Lebenstätigkeit noch vielfach ineinander über; aber
die höheren Werte sind klar erkannt und geben die Richtpunkte des idealen
Strebens. Unsere experimentelle Erhebung verlangt zunächst eine intellektuelle
Entscheidung und wendet sich in erster Linie an die Vernunft. Aus den
Ergebnissen kann so viel gefolgert werden, daß die jugendliche Einsicht
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 97
richtig geschult und auf das Gute, Wahre und Schöne gelenkt wurde. Wenn
Kerschensteiner für die Aufgabe der öffentlichen Schule die Pflege der Ideale
der BerufserfüUung, der Ideale der Versittlichung der Berufsbildung und der
Ideale der Versittlichung des Gemeinwesens erklärt hat, so scheinen uns
die Lehrerbildungsanstalten als höhere Fachschulen ihre Aufgabe richtig an-
gepackt zu haben und der Vorwm^ vereinseitigender Gelehrtenbildung kann
ihnen nicht in dem Grade wie den höheren Schulen gemacht werden.
In den Tabellen der Begründungen aus den Volksschuluntersuchungen liegt
wertvolles Material zur Feststellung der geistigen und sitthchen Entwicklung
unserer Jugendlichen vor. In der folgenden Übersicht sind die Ergebnisse
von Goddard, Rey. I und Richter angeführt, wobei nur die auf die männhchen
Vpn. sich beziehenden Zahlen ausgewählt wurden.
Gründe i Goddard Rey. I i Richter
Gut, gütig [i 20 i 31 8
Charaktereigenschaften h 30 | 32 | 27
Macht haben, Dinge zu tun j 6 15 16
Intellektuelle und künstlerische . . . . ' 2 6 • 12
Materieller Besitz | 14 4 | 19
Äußere Bedingung der Erscheinung . . . \ 7 6 i C
Die norwegischen Volksschulkinder zeichnen sich danach besonders aus
durch das geringe Verlangen nach materiellem Besitz und den hervorstechen-
den Zug der Güte und des Wohlwollens. In zwei Motivgruppen lassen sich
die Volksschülerbegründungen \ielleicht zusammenfassen: äußere, materielle
und innere, sittlich-ideelle Gründe. Danach zeigt sich:
Gründe
! Goddard
Rey. I
Richter
Materielle ....
Sittlich-ideelle . .
. . ll 27
. . II 52
25
69
41
47
Daß die Volksschüler die Hälfte ihrer Begiündungen aus dem sittlich-idealen
Gebiet entnehmen, mag ein Beweis für die idealbildende Wirkung des Unter-
richts sein. Immerhin fällt der hohe Prozentsatz der ethischen Begründungen
auf, und künftige Untersuchungen müssen uns genauer nachweisen, welche
Einzeizüge in der Sammelgruppe „Charaktereigenschaften" untergebracht
wurden. Auch die „Macht, Dinge zu tun" verlangt eine Scheidung nach
den Richtungen, ob diese Macht materiell oder ideell ausgenützt werden soll.
Gegenüber den Volksschülern fällt bei unseren Jugendlichen in erster Linie
das starke Zurückweichen äußerer, lebenspraktischer Gründe, welche bei Rey. II
unter „Ehre und Ruhm" mit dem Werte 3 und bei uns mit 70/0 auftreten.
Die intellektuell-künstlerischen Gründe weisen bei den Seminaristen gegen-
über den schwankenden Werten der Volksschüler eine Mehrung auf, obwohl
sich für erstere auch recht verschiedene Werte (19 bei Rey. gegen 8 bei uns)
ergaben. Die sitthchen Gründe scheinen auf beiden auseinanderUegenden
Stufen der Jugendentwicklung in ungefähr gleicher Stärke für die Wahl der
Ideale bestimmend zu sein, wobei die der Jugendlichen mehr Mannigfaltigkeit
der Eigenschaften, mehr Tiefe und Geschlossenheit aufzeigen. Stellen wir
Zeitaciirift f. pädagog. Psychologie. 7
98
Michael Kesselring
Tab. 3. Tafel der Begründungen (berechnet auf Nennungen).
Ethische Gründe . . .
allgemein formal . . .
Kraft und Konsequenz
Beharrlichkeit . . .
Mut und Tapferkeit .
allgemein material . .
Wahrheit, Offenheit .
Gerechtigkeit ....
Gemüt
Liebe und Treue . .
Wohlwollen und Fürsorge
Berufserfüllung ....
4,5
7,9
2,9
4,4
5,0
2,5
2,5
2,3
6,4
5,0
1,2
4,4
6,2
5,3
2,9
5,6
5,3
2,6
1,8
4,4
6,5
5,6
24
3,1
15
2,0
64
8,2
23,1
53
6,8
1
23
3,0
38
5,0
40
5,1
20
2,6
17
25
2,2
3,3
29,7
50
6,4
41
5.1
>52,J
Lebenspraktische Gründe
Gesellschaftliche Vorzüge
Anerkennung und Erfolg
Natur und Heimat . . .
Gesundheit, Reisen, Sport
Lebensgenuß
58 j7,5
15 1,9
20 2,6
27 3,6
6 0,7
\ 16,2
Nationale Gründe
Kriegerisch . .
politisch . . .
sozial ....
vaterländisch .
10
16 13
39
8,9
16
23
6,8
62
8,0
8,0
Intellektuell
Selbständigkeit und Freiheit
Geistesgröße, umfangreiches
Wissen
guter Unterricht der Lehrer
10
Künstlerisch
Dichtung. . . .
Musik
bildende Künste.
14
12
35
7,9
18
5,3
53
11,3
6,8
Religiös
10
2,3
2,0
17
2,2
2,2
Bewunderung.
1,6
Wünsche
0,2
1,2
12
1,4
2,0
0,9
L Klasse
164134140
438
II. Kl
1691168
33"
%
o
aber bei den Jugendlichen alle ideellen Gründe zusammen, so zeigt sich klar
der bedeutende Entwicklungsaufstieg vom Knaben- zum höheren Jugendalter;
stellen sich dann doch neben den durchschnittlichen Volksschulwert 56 bei
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 99
Rey. n ein solcher von 97 und bei uns ein solcher von 78, der sich bei
Berechnung ohne Rücksicht auf die Nichtbeantw-ortungen und unbegründeten
Antworten auf 93 0 o erhöht. So zeigt sich also ein klarer Entwicklungsgang
von der Schätzung äußerer materieller Güter hin zu den objektiven Werten
nationaler, intellektueller, künstlerischer, religiöser und ethischer Art.
Vergleich der beiden Berechnungsarten.
Die geringe Anführung materieller Gründe gegenüber den Volksschulknaben
mußte bei den Jugendlichen stark auffallen. Bei Berechnung auf die Gesamt-
zahl der Einzelgründe fällt eine viel größere Nennungszahl lebenspraktischer
Gründe auf; natürlich treten dieselben gegenüber den Volksschülerbegrün-
dungen in verfeinerter Weise auf, so durch den Hinweis auf Gesundheit,
Körperpflege, leibliche Schönheit, Gewandtheit oder durch das Hervorbrechen
der Natur- und Heimatliebe und Behaglichkeit, der Neigimg zu Reisen, durch
das Verlangen nach Anerkennung und Erfolg und nach gesellschaftlicher
Gewandtheit. Nach der Berechnung auf Vpn. fanden sich 7^0 Stimmen für
diese Gruppe, nach der Nennungsmethode dagegen 16,20'o. Als Idealpersonen
werden solche mit nur gesellschaftlicher Sicherheit und gutem Benehmen, mit
Berufserfolg und -glück, werden Lebensgenießer kaum genannt; in den Be-
gründungen bei Aufführung der Einzelzüge aber bricht der Sinn für solche
äußeren Güter durch; damit \vird wohl die Moti\ierung zugleich echter und
der Jünglingsent«'icklung entsprechend. Nach unserer 1. Berechnung könnte
man glauben, daß die Schüler der 2. Klasse gar kein Interesse z. B. an ge-
sellschaftlichen Vorzügen besitzen, wogegen sich aber nach der 2. Berechnung
eine Vorliebe dafür mit 8^ o ergibt.
Die ethischen Gründe insgesamt sind wenig zurückgegangen mit 53 ^ 0 gegen
58^ 0 bei der 1. Berechnung. Jedoch das Verhältnis der ethischen zu den
lebenspraktischen Begründungen, nach der Vpn.-Berechnung 9:1, hat sich
sich jetzt wesentlich verschoben, etwa 7 : 2. Beim Vergleich mit Rey, II fiel
besonders die geringere Anführung von intellektuellen Motivierungen in die
Augen, welche Erscheinung sich jetzt ziemlich ausgleicht, da den norwegischen
130 0 nun 11 0/0 sich an die Seite stellen. Auch die religiösen Begründungen
zeigen eine schwache Zunahme von 1,0^ 0 auf 2,2° 0, Gründe mehr künstlerischer
Natur stellen sich nach beiden Methoden in ungefähr gleiche Höhe, wobei
auf Musik die doppelte Zahl der Nennungen fällt wie bei der Dichtung.
Beim Blick auf Untergruppen unserer Begründungstafel ist festzustellen, daß
die Tugend des Wohlwollens und der Fürsorge nach der Nennungsmethode
auch bei den deutschen Jugendlichen etwas höher in der Schätzung steht,
so daß wir unter Einbeziehung der Gruppe „Liebe und Treue" dem Rey.schen
Werte 8 jetzt 9^ 0 gegenüberstellen können. Das Verhältnis der material-
ethischen zur formal- ethischen Motivierung blieb sich v.ohl gleich (auf Vpn.
240'o — 180 0, auf Ang. 29 0/0 — 20ö 0); aber bemerkenswert mag es immerhin
erscheinen, daß kein einzelner der ethischen Züge einen solchen Prozentsatz
von 8,2 aufweist wie die Kraft und Konsequenz ; auch überwiegt die Zahl der
Gruppe „Beharrlichkeit" um ein geringes noch die des Wohlwollens. Die
Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit stellt sich nach der 2. Berech-
nung mit mehr Entschiedenheit heraus ; finden wir doch vorher nur den Wert
0,4, jetzt aber 5,1 und 2,6. Dies mag den Erziehern der Jugendlichen zeigen,
welch großer Sinn und feines Empfinden für Gerechtigkeit und Wahrheit bei
100 Michael Kesselring
diesen vorhanden ist (vgl. auch einige Begründungen für die Wahl von Lehrer-
idealen !). Das Streben nach Berufserfüllung hat unter den ethischen Gründen
immer noch hohen Kurswert, ist aber gegenüber der 1. Berechnung nicht
mehr so hervorstechend.
Nach den beiden eingeschlagenen Berechnungsraethoden der Begründungen
ergibt sich also ein etwas verschiedenes Bild der Ergebnisse. Bezüglich der
Gründe künstlerischer, nationaler, auch ethischer Art erblicken wir ungefähr die
gleichen Verhältnisse ; dagegen ergibt sich für die Begründungen lebensprak-
tischer und intellektueller Art eine merkbare Verschiebung. Nach der Berechnung
auf Nennungen gewinnt die geschlossene fast ernste Lebensauffassung, welche
nach der Berechnung auf Vpn. für unsere Jugendlichen auffiel, einige mildere
Züge, indem sich damit einige Schwächen des Wertmaßstabes im Jünglings-
alter deutlicher herausheben. Das Gesamtbild der jugendlichen Seelenver-
fassung nähert sich nach unserer 2. Berechnung dem von der allgemeinen
Seelenkunde für das Jünglingsalter entworfenen.
Nach unserem bisher alleinstehenden Versuch soll keine Entscheidung
für oder gegen die eine Berechnungsmethode getroffen werden. Die Ergebnis-
reihen beider Methoden werden zusammenzuhalten sein und die mittleren
Werte aus ihnen dürften das treueste, objektivste Bild solcher Untersuchungen
für die Jugendkunde ergeben. Wenn hohe Gesichtspunktfrequenzen für die
Begründungen vorliegen, muß aber unbedingt deren Berechnung auf die
Gesamtzahl der Einzelangaben erfolgen.
Unterschiede innerhalb der beiden Klassen (vgl. hierzu Tabelle 3!).
Schon bei der Tabelle der Berechnung auf Vpn. zeigte sich bei Erkundung
in nur einem Versuchsjahr die Möglichkeit des Ausfallens der einen oder
anderen Gruppe, z. B. 2. Klasse 2. Jahr, Wohlwollen und Füreorge oder in-
tellektuelle und religiöse Ideale. Bei der neuen Rechnungsweise scheint diese
Gefahr kleiner, wenn die Zahl der Vpn. nicht gai- zu gering ist; doch fehlen
hier z. B. im 3. Jahre für die 1. Klasse religiöse Begründungen und bei der
2. Klasse ethisch-formale Züge, allgemein ausgedrückt. Aus der 1. Klasse
sind merkliche Schwankungen kaum hervorzuheben, höchstens im 1. Jahre
die häufigere Nennung der gesellschafthchen Vorzüge und im 2. Jahre eine
solche der Berufserfüllung. Auch die Nennungstabelle für die 2. Klasse zeigt
wenig wesentliche Veränderungen; doch ergeben sich im 1. Jahr mehr An-
gaben für das Wohlwollen, im 2. Jahr mehr für Berufserfüllung. Lebens-
praktische Gründe führten die Vpn. des 2. Jahres viel mehr als die des 1. auf,
während nationale Eigenschaften bei den Vpn. des 1. Jahres mehr zur Nach-
eiferung als im 2. anregten.
Vergleich der 1. und 2. Klasse.
Keine nennenswerten Unterschiede finden sich bezüglich der ethischen
Begründungen, wie wir aus gegenübergestellten Zahlen erkennen: formal
20,6 — 18,8, material 28,1 — 31,8, überhaupt 53,2 — 51,8. Auch hinsichtiich
der Wahl religiöser und intellektueller Gründe, der künstlerischen und Be-
wunderungsmotive ergibt sich das gleiche Bild. Bei den intellektuellen Be-
gründungen schätzen beide Klassen die Größe und den Umfang des Wissens,
die Gelehrsamkeit höher ein als die formale geistige Bildung. Hinsichtlich
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 101
der äußeren lebenspraktischen Begründungen fällt die stärkere Nennung durch
die 2. Klasse auf (190/o gegen 130 o), wobei die stärker hervortretende Natur-
und Heimatliebe mitwirkt, sich zugleich aber auch der Blick für den baldigen
Schritt ins Leben und die Berufsaufgabe mit geltend macht, so daß ein Ver-
langen nach gesellschaftlichen Vorzügen, nach Erfolg und Anerkennung rege
geworden sein kann. — National betonte Gründe weist die 1. Klasse etwas
mehr als die 2. Klasse auf. Der Ertrag der nationalen Beeinflussung unseres
Unterrichts stellt sich damit gar nicht als so umfangreich heraus als gemein-
hin angenommen wird. Bei den norwegischen jungen Männern zeigten sich
200/0 nationaler Motivierungen, bei uns nur 7,6 und früher sahen wir schon,
daß hinsichtlich der historischen Persönlichkeiten in Norwegen 30 ^o als Ideale
vorschweben (90/o des eigenen Landes und 21^/0 fremder Länder) und bei
uns sich niu* 15,80/0 ergaben (14,7 o/o des eigenen Landes, lO;o fremder Länder).
Damit sind wir weit entfernt von einem „Kultus vaterländischer Erinnerungen"
und es darf wohl hervorgehoben werden, daß gerade der Geschichtsunterricht
im höheren Jugendalter sich eines vornehmen Erziehungsmittels der Per-
sönlichkeits- und Charakterbildung begibt, wenn er nicht lebensvolle Bilder
der großen historischen Persönlichkeiten in fruchtbringender Weise zu ge-
stalten versteht. Der pragmatischen Geschichtsauffassung und anderen Forde-
rungen der Geschichtswissenschaft und -methodik geschieht dabei sicherlich
kein Abbruch ; dazu aber sollte berücksichtigt werden, daß das Jünglingsalter
die Zeit der hohen Gedanken und Begeisterungsfähigkeit für Ehre und Frei-
heit, Volk und Vaterland, Menschheit und Gottheit ist!
In kurzer Übersicht wollen wir noch das Verhältnis der ethischen zu den
kulturell-geistigen und lebenspraktischen Begründungen nach den beiden Metho-
den aufzeigen : - ,- __
^ auf Vpn. 58 : 15 : 6
auf Ang. 53 : 28 : 16
Endlich sei noch der Altersdifferenz unserer beiden Klassen eine kurze
Erörterung gewidmet. Nach der Tabelle II finden sich in der höheren Klasse
mehr ethische Begründungen, auch solche auf Berufserfüllung gerichtete, während
eine geringere Zahl lebenspraktischer Motive und die Nichtnennung gesell-
schafthcher Vorzüge auffiel. Nach Tabelle III ergeben sich kaum bemerkbare
Unterschiede zwischen den Klassenergebnissen, und auch die in Tabelle HI
hervorgetretenen Sonderzüge der Vpn. der 2. Klasse sind zurückgetreten und
im einzelnen sogar stärker vertreten als bei der 1. Klasse, so daß die Nennungs-
methode hier ausgleichende Wirkung zeigt. Für unsere Vpn. ergibt sich somit
kein Moment bei der Stellungnahme zu den Idealen, welches charakteristische
Alters- und Klassendifferenzen aufzeigt, und wir dürfen für das Jugendalter vom
17.— 20. Lebensjahre ein ziemlich gleichbleibendes Verhalten ohne besondere
Entwicklungsunterschiede annehmen, urasomehr als sich auch Unterschiede, die
durch die verschiedenen Klassenziele bedingt sind, ausgleichen.
Zusammenfassung.
a) allgemein-methodische Ergebnisse.
1. An der Möglichkeit der Durchführung von Idealforschungen
nach der Ausfragemethode ist nicht mehr zu zweifeln, da immer wieder solche
Erhebungen in größerem Maßstabe mit Erfolg durchgeführt werden und sich
102 Michael Kesselring
dabei typische Ergebnisse herausstellen. Diese zeigen bezüglich der Volks-
schülerbefragungen verschiedener Länder große Übereinstimmung in den Haupt-
linien, und selbst die wenig umfangreichen Untersuchungen über die Ideale
Jugendhcher liefern ein in den Hauptzügen ähnliches Bild. Auch theoretische
Überlegungen über den zugrunde liegenden seelischen Tatbestand für die
Stellungnahme und Bekenntnisse der Vpn. ergeben die Berechtigung solcher
Experimente, sodaß also die experimentelle pädagogisch-psychologische For-
schung Vertrauen zu solchen Untersuchungen und ihren Ergebnissen haben
kann und eine brauchbare Methode für ihren jugendkundlichen Forschungs-
kreis darin zu erblicken hat.
2. Zur Verbesserung und Verfeinerung der Methode wird es bei-
tragen, wenn zunächst zur Ausschaltung von zufälligen Einflüssen, insbesondere
solchen zeitlich bedingter Art wiederholte Befragungen in jährlichen
Abständen vorgenommen werden. Dazu hat bezüglich der Begründungen
eine doppelte Berechnung einzutreten a) auf die Zahl der Vpn., b) auf die
Zahl der Begründungsangaben überhaupt, da erst ein Zusammenschauen der
Ergebnisse beider Reihen ein objektives Bild ermöglicht.
3. Da im höheren Jugendalter stets eine geringere Zahl von Vpn. aus
den einzelnen Schulgattungen zur Verfügung stehen wird, sind unbedingt
mehrere Befragungen der einzelnen Alters- und Klassenstufen in mehreren
aufeinanderfolgenden Jahren erforderlich. Die ohnehin größere Zuverlässig-
keit der Aussagen im höheren Jugendalter läßt sich vielleicht noch dadurch
steigern, daß solchen Vpn, kurz Einsicht in die Bedeutung solcher Unter-
suchungen gegeben wird.
b) Jugendkundlich-pädagogische Ergebnisse.
1. Der Anteil der Gedankenwelt des Unterrichts als Quelle der Ideale
ist ein ganz bedeutender. Sowohl nach der Pers9nen- als nach der Begrün-
dungstabelle sind zirka 80 O/o der Vorbider dem Bildungsgut der Schule ent-
nommen (bei Key. II sogar 950/o), so daß der in Frage stehenden Schulart
idealbildende Kraft nicht abgesprochen werden kann. Von den Fächern haben
als Quelle der Ideale besonders zu gelten: Weltgeschichte, Muttersprache und
Literaturgeschichte, Erziehungslehre und Geschichte der Pädagogik, wozu noch
die im Unterricht angeregte Lektüre überhaupt tritt.
2. Die Bekanntenideale sind bei uns mit 180/0 (Key. II nur 5 o/o) vertreten.
Unter diesen Vorbildern zeigt sich gegenüber allen bisherigen Untersuchungen
besonders auffallend der idealbildende Einfluß von Lehrerpersönlichkeiten
mit 12,40/0. Darin bekundet sich die hohe Bedeutung und der tiefgehende
Einfluß der LehrerpersönUchkeit in Erziehung und Unterricht besonders in
den höheren Schulen.
Ob sich in der Entwicklung unserer Jugend der Einfluß der Bekannten-
ideale im früheren Jugendalter (14 — lejährige) gegenüber dem Knabenalter
am geringsten zeigt und im höheren Jugendalter wieder zunehmenden Wert
gewinnt, muß noch entschieden werden.
3. Nach unserer Untersuchung wurde für die Jugendlichen (16 —20jährige)
die Neuaufstellung von freien, selbstgebildeten Idealbildern und von
Berufsidealen notwendig. Erstere machen 230/o aller Nennungen, also 1/5
aus; letztere treten mit 7 0/0 in die Erscheinung. Die Gruppe der freien Ideale
Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 103
scheint uns einen wichtigeren ergänzenden Beitrag zur Psychologie des Jugend-
lichen zu hefem, wobei nur die Strebe-Ideale nach Berufserfüllung mit 10,6^0
erwähnt seien. Gegenüber den norw^egisehen Jugendlichen ist damit zugleich
eine frühere Reife unserer Vpn. festgestellt. Hinsichtlich der Entwicklung
des Jugendalters zeigt sich ein natürlicher Aufstieg von persönhchen Vor-
bildern aus zu unpersönlichen, objektiven Werten hin und der häufige An-
schluß allgemeiner Musterbilder an lebende oder geschichthche Persönlichkeiten
läßt zugleich auf eine gesunde Entwicklung der Gedanken- und Ideenwelt
der befragten Jünglinge schließen.
4. Große Dichter und Schriftsteller tragen ungefähr in gleicher Weise
wie hervorragende geschichtliche Persönlichkeiten zur Idealbil-
dung bei.
5. Die beeinflussende Wirkung der Lektüre ist noch nicht eindeutig
festgestellt; unseren Gestalten aus Dichtung und Sage mit 9^0 entsprechen
bei Rey. II nur lO/o.
6. Für die Erziehung ergibt sich somit, daß als Hauptquellen für die
Wahl von Idealen Personen des realen Umganges auch im höheren Jugend-
alter noch von Bedeutung sind, jedoch in weitaus größerem Maße Personen
des ideellen Umganges. Letztere Erscheinung mag die Lehrer in Religion,
Weltgeschichte, Literaturgeschichte, im Pädagogik- und muttersprachüchen
Unterricht, sowie die Leiter von Schülerbibliotheken darauf hinweisen, welch
hohe Mission sie im Dienst der werdenden PersönUchkeit zu erfüllen haben.
7. Aus der Betrachtung der Begründungen folgt, daß rein ethische
Vorzüge am höchsten geschätzt und gestellt werden. Bei Berechnung auf
Vpn. und auf Angaben zeigten sich bei uns die Werte 630/0 bzw. 50^, o, worin
wir mit der norwegischen Untersuchung eine ziemlich genaue Übereinstimmung
erblicken können. Die material-ethischen Hinweise überwiegen dabei die
ethisch-formalen; doch treten Gründe letzterer Art im Verhältnis zu den in-
haltlichen Charaktereigenschaften in verhältnismäßig hoher Zahl auf.
8. Begründungen religiöser Art finden sich bei uns nur mit 2^0 aufgeführt,
während sie bei Rey. II mit 19 ^jo hervortreten. Damit bestätigt sich wieder
die gleiche Erscheinung wie bei den Volksschulkindem, daß menschliches Bei-
spiel \iel unmittelbarer und nachhaltiger auf das sittliche Hoffen und Wünschen
der Jugend wirken dürfte als religiöse Belehrung. (Das religiöse Interesse unserer
JugendUchen ist jedoch ein sehr tiefgehendes und reges, wie uns Material
über die Probleme, welche Geist und Gemüt unserer Vpn. bewegen, beweisen
konnte ; der idealbildende Einfluß selbst scheint ein ganz auffallend geringer
zu sein.)
9. Von den künstlerischen Eigenschaften erfährt musikalisches Können
höhere Schätzung als Schriftstellern und Dichten, was sich z. T. aus der stark
betonten Pflege der Musik in den Lehrerbildungsanstalten erklärt.
10. Der Sinn für das Nationale scheint nicht besonders stark entwickelt,
da er mit einem Werte von S^/o nicht weiter auffallen kann.
11. Reine Geisteseigenschaften werden mit lli/20'o höher gewertet
als künstlerische Eigenschaften mit 7 O/o. Die Schätzung materialer Bildung
steht höher als die der formalen, obwohl in Einzelzeugnissen die geistige
Selbständigkeit und Freiheit oft sehr impulsiv gerühmt wird.
104 William Stern
Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen.
Eine Besprechung von William Stern.
Bei der großen Rolle, die der fremdsprachliche Unterricht in unserem
Schulwesen spielt, erscheint es fast unbegreiflich, daß die pädagogische
Psychologie unserer Zeit diesen Gegenstand so sehr vernachlässigt hat. Woh
arbeiten die Schulreformbestrebungen auf sprachdidaktischem Gebiet fast
alle mit psychologischen Gesichtspunkten und Ausdrücken; aber an einer
wissenschaftlichen Analyse mit Hilfe psychologischer Methoden fehlt es so
gut wie ganzi), und die Psychologen selbst haben dieses Problem — von
unbedeutenden Ausnahmen abgesehen — leider noch unbeachtet gelassen.
So ist es bezeichnend, daß von den 2400 Seiten der Meumannschen „Vor-
lesungen" nur 9 den Methoden des Sprachunterrichts gewidmet sind. Die
ausführlichste psychologische Abhandlung des Gegenstandes in deutscher
Sprache ist das 1915 erschienene Buch von Rektor H. Kappert: „Psycho-
logische Grundlagen des neusprachlichen Unterrichts" 2) ; aber auch hier
handelt es sich mehr um eine theoretische Konstruktion der beim Sprach-
unterricht mitspielenden seehschen Faktoren, als um eine wirklich empirische
Erforschung des Tatbestandes und seiner einzelnen Bedingungen. Was an
experimentell-psychologischen Untersuchungen vorliegt, bezieht sich fast aus-
scMießlich auf das Erlernen von Vokabeln (Peterson, Schuyten, Netschajeff,
Luise Schlüter) und ist, wie Kapper mit Recht bemerkt, noch nicht geeignet,
eine wirkliche Grundlage für die wichtigen didaktischen Fragen zu liefern.
Nun liegt ein aus der französischen Schweiz stammendes Buch von I. Epstein
über „das Denken und die Vielsprachigkeit" vor, auf das ich die Aufmerk-
samkeit der deutschen Psychologen und Pädagogen lenken möchte. 3) Es
stützt sich zwar auch nicht in erster Linie auf die psychologische Erforschung
des Fremdsprachen lernenden Schülers, zieht aber sehr bemerkenswerte und
auch für die Didaktik wichtige Folgerungen aus einem empirischen Material
anderer Art, nämlich aus dem sprachlichen Verhalten vielsprachiger Er-
wachsener. Der Verfasser hatte in Lausanne Gelegenheit, mit zahlreichen
Persönlichkeiten zu verkehren, die außer ihrer Muttersprache eine oder
mehrere Fremdsprachen gut beherrschten : es waren dies größtenteils jüdische
Studierende, welche neben ihrer Muttersprache den jüdisch-deutschen Jargon,
Hebräisch, Französisch, Deutsch, Russisch konnten, femer schweizerische
Gelehrte, wie Forel und andere. An diesen machte er Beobachtungen und
erzielte von ihnen Beantwortungen eines Fragebogens. (Daneben hat E. auch
einige experimentelle Untersuchungen an Schulkindern über das Erlernen
von Vokabeln angestellt.)
Der Verfasser beginnt mit der Feststellung der Tatsache, daß bei einem
Vielsprachigen die einzelne fremde Sprache (F Sp.) eine gewisse Autonomie
') Der Hauptgrund für diese Vernachlässigung ist wohl darin zu sehen, daß die höhere
Lehrerschaft (die ja in erster Linie am fremdsprachlichen Unterricht interessiert ist) so wenig
Teilnahme für die moderne Jugendpsychologie bekundet hat.
2) Pädagogische Monographien, herausgegeben von Meumann, Bd. 15, Lpzg. Nemnich 1915.
Mit Literaturverzeichnis.
^ Izhac Epstein. La Pensee et la Polyglossie. Essai psychol. et didactique. Lausanne,
Librairie Payot et Cie. 216 S. 1918.
Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen 105
besitzen kann, d. h. nicht erst auf dem Wege der Übersetzung in die Mutter-
sprache (M Sp.) verstanden und angewandt wird. Der Sprecher assoziiert
unmittelbar das FSp.-Wort mit dem Gedanken, er „denkt" in der FSp. Dies
gilt in höherem Maße von der sprachlichen Rezeption (dem Hören, Lesen,
Verstehen), als von der sprachlichen Aktion (dem Seibst-Sprechen oder
Schreiben), weil hier bei dem Suchen nach dem zum Gedanken passenden
Ausdruck das geläufigere Wort der MSp. sich vordrängt und dann erst das
FSp.-Wort auf dem Wege der Übersetzung herbeiführt. Die Scheidung dieser
beiden Sprachphasen, der „impressiven" (Eindrucks-) Phase und der „ex-
pressiven" (Ausdrucks-) Phase spielt bei E. überhaupt eine große Rolle.
Diese Autonomie einer Fremdsprache kann sich auch in der „inneren
Sprachform", also dem stummen Sprechdenken, bekunden. Der Vielsprachige
überrascht sich selbst dabei, daß sich ohne Absicht und Willkür sein Vor-
stellen und Denken, sein Träumen und Phantasieren in einer FSp. vollzieht,
ohne daß irgendwelche sonst so geläufige Sprachgebilde der MSp. auch nur
von fern auftauchten. Folgende Bedingungen begünstigen dies spontane
Denken in der FSp.: 1. Die Vorstellung einer Umgebung, in der jene Sprache
gesprochen wird, oder von Menschen, welche sie sprechen. 2. Das gedank-
liche Verweilen bei einem Spezialgebiet, welches man in der FSp. aufge-
nommen hat (wer als Fremder auf einer deutschen Universität eine bestimmte
Wissenschaft studiert hat, wird leicht bei der Beschäftigung mit dieser Wissen-
schaft in deutscher Sprache denken). 3. Die Nachwirkung einer länger
fortgesetzten Lektüre oder Unterhaltung in der FSp.
Diese Bedingungen, welche das Verweilen in einer FSp. begünstigen, wirken
zugleich ungünstig auf die Verwendung einer anderen Sprache (zuweilen
sogar der Muttersprache); und so begegnen wir hier zum ersten Male dem
sehr wichtigen Begriff der gegenseitigen Interferenz oder Hemmung
verschiedener Sprachen. Beim plötzlichen Übergang aus einer Sprache in
die andere machen sich diese Hemmungen deutlich bemerkbar, ebenso, wenn
man mit jemandem in einer anderen Sprache spricht, als in der man sonst
mit ihm verkehrt.
Dieser Antagonismus der verschiedenen von einer Person gesprochenen
Sprachen wird nun nach verschiedenster Richtung analysiert. Stets übt die
Sprache, die im Vordergrund des Bewußtseins steht, eine interferierende
Wirkung auf die andere aus, mindestens mit dem Ergebnis einer Verlang-
samung des Sprechaktes, oft auch mit dem Ergebnis einer Fälschung. Die
Hemmungswirkungen erstrecken sieb: 1. Auf die Aussprache. Nicht deswegen,
weil die Muskulatur mit steigendem Alter starrer wird, findet eine steigende
Erschwerung in der Aneignung von Aussprachenuancen statt, sondern des-
wegen, weil die von der Muttersprache bedingte Einstellung der Sprech-
muskulatur sich überall hineindrängt. Auch schon die akustische Auffassung
bewegt sich in der Linie der von der Muttersprache her geläufigen Klang-
weisen, man überhört Abweichungen und kann sie daher auch nicht wieder-
geben. 2. Auf EinSchiebungen von Wörtern der einen Sprache in das
Gefüge der anderen (man denke an das Elsässer Deutsch oder an den mit
hebräischen Worten durchsetzten deutsch-jüdischen Jargon). 3. Auf die ver-
schiedenen Begriffsformulierungen: der Deutsche sagt: „Heller Tag", und
ist geneigt, deshalb beim Gebrauch des Französischen „clair jour" zu sagen,
w^ährend es „grand jour" heißt. E. bringt gerade hierfür eine große Reihe
106 William Stern
von Beispielen, so z. B., daß die Bedeutungen von „bouton" und „Knopf* sich
nur zum geringsten Teil decken, in den weitaus meisten Anwendungen aus-
einander gehen usw. 4. Auf die verschiedenen grammatischen Formen
(Beispiel: „Kommen Sie, wann sie wollen", aber „venez quand vous
voudrez"). 5. Auf Gedankenverkettungen und Wortstellungen.
Auf dieser Tatsache der sprachlichen Interferenz baut nun E. seine weiteren,
insbesondere auch didaktischen Betrachtungen auf. Warum lernt das kleine
Kind so viel leichter eine fremde Sprache als das ältere Kind und der Er-
wachsene? Nicht weil das kleine Kind, wie oft behauptet wird, das bessere
Gedächtnis habe — dies ist vielmehr schwächer als in höherem Alter — ,
sondern weil die Verbindung von MSp. und Gedankeninhalt noch nicht fest
ist und daher keine so stark hemmende Wirkung auf das Sprechen der FSp.
auszuüben vermag. Die größere Leichtigkeit im Erwerb der FSp. ist also
eine Funktion der geringeren Beherrschung der MSp ! Die Folge ist, daß die
FSp., wenn sie stark gepflegt wird, in kürzester Zeit die MSp. bis zum Ver-
schwinden unterdrücken kann — was häufig bei Kindern, die in ein fremd-
i sprachiges Land kommen, beobachtet worden ist.
Das Nebeneinanderbestehen verschiedener Sprachen in einem Individuum
ist demnach für E. im Wesentlichen eine Störungserscheinung: die feste,
eindeutige und klare Verbindung von Gedanken und Ausdruck in der MSp.
wird durch die FSp. gehemmt, verwirrt und gelockert; andererseits wird die
wirkliche Beherrschung der FSp. durch die andersartige Sprachkonstellation
der interferierenden MSp. unmöglich gemacht. Demnach ist das Erlernen
von Fremdsprachen nach E. ein soziales Übel, das freilich zum Verständnis
fremder Kulturen und zum Verkehr mit fremdsprachigen Menschen unver-
meidUch ist, aber in seinen Einwirkungen möglichst auf ein Mindestmaß
(beschränkt werden sollte. Daraus ergeben sich für E. zwei hauptsächliche
didaktische Folgerungen.
Die erste lautet: „polyglossie impressive et monoglossie expressive" (Viel-
sprachigkeit im Aufnehmen, Einsprachigkeit im Anwenden der
Sprache). Da sich die schädlichen Wirkungen der Hemmungen vor allem
auf der Ausdrucksseite, beim Selbstsprechen und -schreiben, bekunden, so
isoll diese Seite möglichst eingeschränkt, alles Gewicht dagegen auf die Ein-
/drucksseite, das Hören, Lesen und Verstehen gelegt werden. Nur so viel soll
an expressiver Betätigung gelehrt werden, als zur elementarsten praktischen
Verständigung nötig ist (wovon auch noch das Wesentlichste dem Aufent-
halt im fremden Land selbst überlassen werden kann). Aller sonstige Selbst-
gebrauch der FSp.: in Aufsätzen, Extemporahen, Übersetzungen usw. ist zu
unterlassen, da hierdurch das fortwährende Dazwischenkommen mutter-
sprachUcher Einstellungen nur eine Fälschung beider Sprachen zur Folge
hat. (Auch die ganz freie unsystematische Konversation wird verworfen.)
Dagegen soll sehr viel Lektüre und Vortrag des Lehrers getrieben werden.
(Charakteristisch ist, daß der Verfasser hier selbst auf die Methode des alten
Ratichius hinweist, der ja auch das silentium pythagoricum des Schülers
empfiehlt. Das von E. geforderte Prinzip steht im starken Gegensatz zu dem
modernen Gi-undsatz der Selbsttätigkeit des Schülers.)
Das zweite Prinzip lautet: der Sprachunterricht muß möglichst günstige
Bedingungen schaffen, um die fremde Sprache zur Autonomie zu
führen, d. h., um die Interferenz zwischen MSp. und FSp. auf das geringste
Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen 107
JMaß zu bringen. Deshalb bekämpft er vor allen Dingen die Übersetzungs-
imethode; und hier legt E. den Finger in der Tat auf eine Wunde unseres
TSp.-Unterrichts. Wenn der Schüler in seinem Übungsbuch oder seinem
Schriftsteller jeden Satz übersetzt, so bedeutet dies, daß er während einer
Stunde vielleicht hundertmal zwischen der FSp. und MSp. hin- und herpendelt,
daß fortwährend die Assoziationen, Begriffsgruppieningen, Wortstellungen,
Aussprechweisen der einen die andere durchkreuzen, daß dadurch viele Fehler
im Gebrauch der Fremdsprache erst hervorgerufen und befestigt werden, daß
ferner an die Aufmerksamkeit die aufreibende Zumutung gestellt wird, fort-
während zwei Einstellungsgebiete zu wechseln. Will man dagegen die Auto-
nomie der FSp. pflegen, so treibe man viel Lektüre, erst an einfacheren
Stücken, dann an Schriftstellern, aber immer so, daß man in der FSp. selbst
darüber reden kann; man sorge, daß das Verständnis aus dem Zusammen-
hang des Textes selbst mit Hilfe von Deutungen und gefühlsmäßigen Ver-
mutungen und unterstützt durch Bilder und Realien erwachse. Man benutze
die früher erwähnten Bedingungen, welche die Autonomie und das spontane
Denken in der FSp. unterstützen: daß sich die Stoffe der FSp. auf das fremde
Land, seine Geschichte" und Kultur beziehen, daß die Person des Lehrers selbst
/ sofort die Einstellung auf die FSp. herbeiführe (derselbe Lehrer sollte also
/ nicht in mehreren FSp. unterrichten) usw.
i ^"Kuf weitere Einzelheiten der didaktischen Vorschläge braucht hier nicht
eingegangen zu werden, zumal sie zum großen Teil den rein theoretischen
Ursprung nicht verleugnen. Hier galt es, nur in großen Zügen die Gedanken-
gänge des Verfassers zu zeichnen. Sie sind stark einseitig; aber sie bieten
doch wertvolle Anregungen für eine weitere Bearbeitung des wichtigen Problems.
Ihre Einseitigkeit beruht darauf, daß E. erstens fast nur Beobachtungen an
Erwachsenen benutzt, um von da aus auf den Schulbetrieb der FSp. zu-
rückzuschheßen, und daß zweitens seine Psychologie eine reine Assozia-
Itionspsychologie ist. Deshalb arbeitet er nur mit den Assoziationen, die
♦ sich zwischen Gegenstand und Wort, zwischen Eindruck und Ausdruck
zwischen FSp.-Wort und MSp.-Wort bilden; Festigung der Assoziationen be-
trachtet er als einzige Aufgabe der Spracherlernung, die durch die Ver-
schiedenheit der Sprachstruktur bewirkte assoziative Hemmung sieht er als
, ein • Übel schlechthin an. Was ihm fehlt, ist der Einschlag von Denk-
\psychologie, durch die wir den assoziationspsychologischen Standpunkt
überwunden haben. Die Abweichungen verschiedener Sprachen voneinander
in Wortbedeutung, Syntax, Phraseologie, Grammatik führen nicht nur zu der
assoziativen Erscheinung der Interferenz, sondern sind außerdem ein mäch-
tiger Anstoß zu eigenen Denkakten, zu Tätigkeiten des Vergleichens und
Unterscheidens , des Sich-Rechenschaftgebens über Umfang und Begrenzung
der Begriffe, des Verstehens feiner Schattierungen der Wortbedeutung. Aus
diesem Grunde haben viele Sprachpädagogen, in genauem Gegensatz zu E.,
behauptet, daß die Abweichungen der Sprachen voneinander nicht zu einer
seehschen Hemmung, sondern zu einer seelischen Förderung führen, und
daß das wahre Verständnis der MSp. erst gerade durch die FSp. und die
Verschiedenheit beider hei beigeführt werde.
Mir scheint, daß in beiden Standpunkten Wahres steckt. Zweifellos ist es
aber ein Verdienst von E., daß er den bisher vernachlässigten Gesichtspunkt
der gegenseitigen Hemmungswirkung der Sprachen nun mit Nachdruck betont
108 William Stern, Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen
hat, während bisher von den Sprachpädagogen fast immer nur der Gesichts-
punkt der gegenseitigen Förderung hervorgehoben worden war. Besonders
wichtig erscheint mir sein Nachweis, daß diese Hemmung nicht nur von der
MSp. auf die FSp. ausgeübt wird (was er an den Schwächen der Über-
setzungsmethode überzeugend nachweist), sondern daß auch umgekehrt die
Muttersprache durch die Fremdsprachen geschädigt werden kann.
Es ist noch gar nicht so lange her, daß der lateinische Aufsatz und die
übermäßige Cicerolektüre unserer Gymnasiasten den deutschen Ausdruck in
Sprache und Schrift ganz erheblich in ungünstigem Sinne beeinflußt hat;
und daß ein übermäßiger oder verfrüht einsetzender FSp.-Betrieb auch jetzt
noch entsprechende Folgen haben kann, erscheint mir zweifellos. Gerade
der Hinweis E.'s, daß bei kleinen Kindern das Erlernen einer FSp. die
Sicherung und Beherrschung der MSp. gefährdet, verdient Beachtung. Leider
findet sich das verfrühte Parlierenlassen ganz kleiner Kinder nicht nur in
1 der allmähHch absterbenden Bonnen- und Gouvernantenerziehung; auch der
I auf modernsten pädagogischen Grundsätzen aufgebaute Münchner Versuchs-
I kindergarten läßt die 3 — 6 jährigen Kinder abwechselnd von deutschen
I Kindergärtnerinnen in deutscher und von enghschen Kindergärtnerinnen in
^ englischer Sprache erziehen!
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule.
Von Ernst Haase.
(Schluß.)
3.
Wir wenden uns nun den Angaben des Fragebogens wieder zu.
Die erste Frage nach den Umständen, die Einfluß auf die Versetzung&-
ergebnisse haben, war die: In welchem Maße wirkt der Wechsel der Schule
auf die Versetzung ein? Es mußte dabei auseinandergehalten werden, ob
der Schulwechsel gleichzeitig ein Wechsel des Schulsystems war oder ob
er sich innerhalb unseres hallischen, also eines und desselben
Systems abspielte. Daß ein Kind, das aus einer wenig ausgebauten Dorf-
schule kommt, hinter den gleichaltrigen Genossen der Großstadt zurückbleibt,
ist eine bekannte Erscheinung. Schwieriger ist schon die Frage, ob und in-
wieweit die aus einem fremden Orte mit sieben- oder achtstufigen, also gleich-
wertigen Systemen kommenden Kinder im allgemeinen mit den Altersgenossen
Schritt halten, und noch schwieriger die, ob innerhalb der Stadt der Schul-
wechsel, der also nur ein Wechsel des Schulhauses ist, Einfluß auf die Ver-
setzung hat.
Bei den von auswärts kommenden Kindern ist im Fragebogen auseinander-
gehalten, ob das Kind auswärts eingeschult und erst nachträgUch nach
Halle gezogen ist oder ob es in Halle eingeschult, aber mindestens ein
Jahr in einer auswärtigen Schule gewesen ist. Beide Gruppen zeigten
bei der Aufrechnung wesentliche Übereinstimmung in den Versetzungs-
zahlen, so daß es sich nicht lohnte, sie auseinanderzuhalten. Die Abweichungen
waren ganz geringfügig und glichen sich überdies teilweise aus. Die Abtrennung
der nur 15 o/o aller Auswärtigen umfassenden Gruppe derer, die nur vorüber-
Ernst Haase, Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 109
gehend auswärts gewesen sind, unterbleibt daher aus Gründen der Übersicht-
lichkeit bei den folgenden Darlegungen.
Insgesamt machen die „Auswärtigen", wie wir diese Gruppe kurz bezeichnen
wollen, fast 21 o/o der Gesamtmasse aus; davon kommen fast ISo/o auf aus-
wärts Eingeschulte.
Von diesen 21^0 sind etwa 2 o/o aus Großstädten, etwa 6 o/o aus Mittel-
und Kleinstädten, etwa 13 "/o aus Dörfern zugezogen.
Dabei haben die Innenbezirke einen stärkeren Zuzug zu verzeichnen
als die Randbezirke, nämlich:
Innenbezirke: 267 Kinder (= 22 o/o)
Randbezirke: 193 Kinder (= 19 o/o)
Die überschießenden 3 o/o der Innenbezirke entfallen ausschließUch auf
Zuzug aus Städten, während der Zuzug aus Dörfern sich gleichmäßig auf
Rand- und Innenbezirke verteilt (13 o/o).
Von den Auswärtigen erreichen:
(Die in Klammern beigefügten Zahlen sind
die Durchschnittszahlen der Gesamtmasse).
Kl. I
350/0
(56)
II
28o'o
(23)
m
200/0
(15)
IV
130/0
(5)
V
40/0
(1)
Sie bleiben also ganz erheblich hinter dem Durchschnitt zurück. Natürlich
sind an diesem schlechten Ergebnis vorwiegend die aus Dörfern kommenden
Kinder beteiUgt. Die Zahlen der aus Städten kommenden sind nicht so un-
günstig, aber auch sie stehen weit unter dem Durchschnitt, Es erreichen
Kl. I Kl. n Kl. m Kl. IV Kl. V
von den Städtern: 49 0/0 26 0/0 16 0/0 70/0 2"/o;
von den Dörflern: 27 -/o 30 0/0 22 Oo I60/0 5 0/0.
Der Schulwechsel wirkt also auf alle Fälle ungünstig auf die Versetzung
ein, auch wenn die Schulsysteme einander sehr nahe stehen. Ganz gewiß
überstehen manche Kinder den Wechsel spielend. Aber wo bereits irgend-
welche Schwäche vorhanden ist, da tritt er als mitwirkender Faktor hinzu
und steigert die Wirkung der Schwäche dermaßen, daß sie zum Sitzenbleiben
führt. Das zeigen uns schon die Zahlen der aus Städten zugezogenen Kinder
deuthch genug.
Die Versetzungsverhätnisse der ehemaligen Dörfler sind überaus traurig;
die Kinder, die den schweren Übergang aus der einfachen Dorfschule in die
Großstadtschule ohne jede Zwischenstufe durchmachen müssen, sind zu beklagen.
Das Heraustreten aus einfachen Verhältnissen in das ausgebaute System der
Großstadtschule wird für viele von ihnen verhängnisvoll. Und zwar dürften
es im allgemeinen weniger die Stofflücken sein, die das Kind mitbringt, als
das Ungewohnte der größeren Leistungen, die die mehr ins Einzelne gehende
Behandlung in der reicher gegliederten Schule erfordert, und das schnellere
Tempo, in dem das Fortschreiten erfolgt.
Dabei darf eins nicht übersehen werden : Von der im allgemeinen seßhafteren
Bevölkerung des Landes sind es nur die beweglichsten Elemente, die in die
Großstadt ziehen, und das sind nicht immer die besten. Hier spiegelt sich
also bis zu einem gewissen Grade der Einfluß des Lebenskreises in den
Zahlen wieder. Statistisch ist diese Nebenwirkung nicht erfaßbar. Sie kann
110 Ernst Haase
auch ohne Schaden vernachlässigt werden, da das Verhältnis beider Ein-
wirkungen aus anderen Zahlenreihen klar und sicher zu ersehen ist.
Unsere Schule würde ohne die belastenden Elemente der Auswärtigen
günstigere Versetzungszahlen aufweisen, wie sich aus folgender Übersicht ergibt.
Von den Ostern 1918 entlassenen Kindern machen in
Kl. I m. II Kl. III Kl. IV/V
die Auswärtigen: I30/0 26 0/0 28 0/0 55 0/0 aus, und zwar
Städter: 70/0 90/0 9 0/0 11 0/0
Dörfler: 6 0/0 17 0/0 18 0/0 44 0/0.
Die Versetzungszahlen der stets in Halle verbUebenen Kinder sind:
Kl. I Kl. II Kl. m Kl. IV/V
620/0 220/0 130/0 30/0.
Sie sind also wesentlich günstiger als die Durchschnittszahlen. Die Zahl
unserer Konfirmanden wih-de in den untersten Klassen noch nicht halb
so groß, die in den 2. und 3. noch nicht 2/4 mal so groß sein, als sie jetzt
tatsächlich ist, wenn der Zuzug von außen fortfiele.
Das legt fast den Gedanken nahe, für die aus sehr einfachen Schulverhält-
nissen zuziehenden Kinder einige einfache Schulsysteme in der Stadt ein-
zurichten, in denen sie nach einem vereinfachten Lehrplane unterrichtet
würden. Die hohe Zahl dieser Kinder würde eine solche Einrichtung durchaus
ermöglichen. Für uns erübrigen sich indessen vorläufig besondere Maßnahmen,
da bereits vor dem Kriege die Einrichtung von Förderklassen nach dem
Mannheimer System geplant und beschlossen war. Die Ausführung des
Planes ist lediglich des Krieges wegen aufgeschoben. Die Schüler, von denen
hier die Rede ist, würden wohl in erster Linie den Förderklassen zug bevölkern,
und es muß nun erst abgewartet werden, wie weit diese Maßnahme für solche
Kinder genügt.
Die nächste Frage ist die, welchen Einfluß die Umschulungen inner-
halb der Stadt haben.
Die Statistik hat ergeben, daß die Kinder, die die Schule nie gewechselt
haben, am günstigsten versetzt werden; die Kinder, die die Schule häufig
gewechselt haben, am ungünstigsten. Von den Bodenständigen bis zu denen,
die am häufigsten umgeschult sind, führt eine fast gleichmäßig ansteigende
Stufenleiter der Verschlechterung über die einmal, zweimal, dreimal usw.
Umgeschulten. Der Übersicht halber fasse ich die Kinder in drei Gruppen
zusammen. Die erste umfaßt die nie Umgeschulten, die zweite die ein- bis
zweimal, die dritte die dreimal und öfter Umgeschulten.
Es erreichen Kl. I Kl. H Kl. III Kl. IV/V
aus Gruppe I: 71 0/0 140/0 I2O/0 3o/o
aus Gruppe II: 57o/o 26o/o 14 0/0 30/0
aus Gruppe III: 48 0/0 27 0/0 17 0/0 8 0/0.
Gruppe II, also die Gruppe der ein- bis zweimal Umgeschulten, entspricht
annähernd dem Durchschnitt. Das kann nicht wundernehmen, da diese
Gruppe von den Kindern, die nicht von auswärts gekommen sind, über 47 0/0,
also beinahe die Hälfte ausmacht und daher die Durchschnittszahl am stärksten
beeinflußt.
Im übrigen ist der Einfluß der Umschulungen ganz unverkennbar: Gruppe I
hat sehr günstige Versetzungszahlen, Gruppe III bleibt erhebUch hinter dem
Durchschnitt zurück.
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule IJl
Ich habe oben darauf hingewiesen, daß die günstigeren Versetzungszahlen
in den Schulen der Randbezirke im Zusammenhange damit stehen, daß die
Kinder der Randbezirke weniger häufig die Schule wechsehi als die der Innen-
bezirke. Es muß an dieser Stelle der Beweis dafür erbracht werden, daß
dieser Unterschied tatsächlich vorliegt.
Unter den Kindern, die Ostern entlassen wurden, sind
in den Randschulen : in den Innenschulen :
nie umgeschult 42 «/o 24®/o"
ein- bis zweimal „ 31®/o 44®/o
dreunal u. öfter „ 8«/o 10 o/o
(von auswärts sind 19^ ja gekommen) (22 o/o von auswärts).
Daß tatsächlich die Umschulungen es sind, die die Versetzungszahlen an
dieser Stelle beeinflussen, geht noch daraus hervor, daß die Kinder der Rand-
schulen in stärkerem Maße aus Lebenskreisen stammen, deren Versetzungszahlen
nicht günstig sind, als es bei den Innenschulen der Fall ist. Der ungünstige
Einfluß der Lebenskreise wird also nicht nur wettgemacht, sondern be-
deutend überholt durch den Einfluß des Schulwechsels.
Der ungünstige Einfluß des Schulwechsels \^drkt sich natürhch in der
Zusammensetzung der Konfirmandengruppe in den einzelnen
Klassenstufen aus. Es werden entlassen aus
Kl. I
KI. n
Kl. ffl
Kl. IV/V
nie Umgeschulte:
41o'o
230 0
250 0
170/0
ein- bis zweimal Umgeschulte:
390/0
420/0
36 0/0
170/0
dreimal und öfter Umgeschulte:
8 0/0
100/0
110/0
110/0
(Auswärtige:
130/0
260'o
28o'o
550/0).
Geht man den Ursachen dieser Einwirkungen nach, so muß man zweierlei
auseinanderhalten: Ein Teil dieser Umschulungen ist die Folge von Woh-
nungswechsel, bei einem andern Teile handelt es sich um Zwangsum-
schulungen, die von der Schule zum Ausgleich der Schülerzahlen der
Klassen angeordnet werden.
Was den häufigen Wohnungswechsel angeht, so könnte man etwa
folgende Vermutungen aussprechen : Leute, die häufig umziehen, sind zumeist
solche, die wenig Ruhe an einer Stelle haben, oder die leicht mit Nachbarn
in Unfrieden kommen, oder endlich, die wegen Unsauberkeit oder Liederlichkeit
von den Hauswirten nicht lange geduldet werden usw. Die häuslichen Ver-
hältnisse sind also der Erziehung nicht sehr günstig, und das wird sich
naturgemäß in dürftigen Schulleistungen auswirken, die schließlich zum Sitzen-
bleiben führen. Die Umschulung wäre dann nicht die Ursache der schlechten
Leistungen, sondern sie wäre nur der Ausdruck für ungünstige häusliche
Verhältnisse, und die Ursache des Sitzenbleibens wäre letztlich in diesen zu
suchen.
Das trifft zweifellos in den meisten Fällen nicht zu. Der Gedankengang
ist an sich ganz richtig, aber er erklärt nur einen Teil des Einflusses. Von
den Zugvögeln ziehen nicht alle in andere Schulbezirke; ein Teil der Umzüge
verläuft also ohne Schulwechsel. Die aber wirklich keine bleibende Stätte
haben, sind nicht in sehr großer Anzahl vorhanden. Auf die äußersten Fälle
des häufigen Schulwechsels mögen diese Erklärungen zutreffen.
Aber der Einfluß macht sich ja auf der ganzen Linie bemerkhch, nicht
nur in einigen äußersten Fällen. Und der Vorsprung der nie Umgeschulten
112 Ernst Haase
vor den wenig Umgeschulten ist größer als der der wenig Umgeschulten vor
den oft Umgeschulten. Also auch bei einem weniger häufigen Schulwechsel
macht sich der Einfuß bemerklich. Die Voraussetzung ungünstiger häushcher
Verhältnisse trifft auch auf eine sehr große Anzahl, wahrscheinlich auf die
überwiegende Mehrzahl der Schulwechsler nicht zu. Sie fällt ganz fort bei den
Zwangsumschulungen.
Die Zwangsumschulungen sind ein notwendiges Übel der Groß-
stadtschulen. Infolge des Sitzenbleibens verringert sich bei ihnen die
Zahl der Schüler nach den oberen Klassen hin. Das ganze Schulsystem
verengt sich nach oben. Dadurch kommt es an einzelnen Stellen, die
nicht für alle Schulen der Stadt gleich sind, zu Anhäufungen von Kindern,
während an andern Lücken entstehen. In Schulen, die auf der Unterstufe
und Mittelstufe mehr als zwei Parallelklassen auf einer Klassenstufe haben,
ist es wohl oft möglich, diese Verschiedenheiten auszugleichen. Bei andern
muß der Ausgleich von Schule zu Schule erfolgen, d. h. die Schule, bei der
auf irgendeiner Klassenstufe bei der Versetzung eine Anhäufung von Kindern
entsteht, muß ihren Überschuß abgeben an eine Nachbarschule, die an dieser
Stelle Lücken aufweist. Es müssen also Umschulungen vorgenommen werden,
die nicht im Anschluß an einen Umzug und ohne den Willen der Beteiligten
erfolgen. Das sind die Zwangsumschulungen. Unter ihnen leiden am stärksten
die Schulen, die im Innern der Stadt liegen, weil sie nach allen Seiten hin
die Möglichkeit des Schüleraustausches haben, während die Randschulen
immer nur nach wenigen Seiten hin austauschen können. Der Überschuß
an Schulwechslern, den die Innenschulen gegenüber den Randschulen auf-
weisen, dürfe ausschließlich oder fast ausschließlich auf die Zwangsumschulungen
zurückzuführen sein.
Und hier zeigt sich genau dieselbe Wirkung auf das Sitzenbleiben wie bei
den Randschulen, d. h. der größeren Zahl der Umschulungen entsprechen
schlechtere Versetzungsverhältnisse. Es ist also hinsichtlich der Wirkung
kein wesentlicher Unterschied zwischen Zwangsumschulungen und
anderen Umschulungen zu erkennen; beide wirken in gleicher Weise
schädlich.
Worin ist die Ursache dieser Wirkung zu erblicken? Da die zwangs-
umgeschulten Kinder überall nach demselben Lehrplane unterrichtet werden,
dieselben Bücher benutzen und auch sonst unter äußerlich ganz gleichen
Bedingungen ihren Unterricht empfangen, so kann der Grund nicht in mangel-
haftem Wissen oder Können an sich zu suchen sein. Auch die Stofflücken,
die für Schüler, die von auswärts kommen, immerhin verhängnisvoll werden
können, kommen hier nicht in Frage. Es kann sich nur um innere Gründe
handeln.
Diese liegen zum Teil in der geringen Anpassungsfähigkeit
vieler Kinder. Es ist eine bekannte Tatsache, daß viele Kinder erst lange
Zeit brauchen, ehe sie sich in neue Verhältnisse schicken können. Die Ein-
stellung nimmt ungewöhnhch lange Zeit in Anspruch, auch ohne daß tiefere
Gemütserschütterungen mitsprechen. Ist nun der Rhythmus des geistigen
Lebens überhaupt langsam, dann kann es kommen, daß ein solches Kind den
Anschluß nicht rechtzeitig findet, und der geringste Mangel im Gebiete der
Begabung bewirkt dann, daß es im Laufe des .Jahres das Klassenziel nicht
erreicht.
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 113
Nicht unterschätzen darf man auch folgendes: Es gibt Kinder, die zur
Unachtsamkeit oder zur Nichtbeteiligung neigen, und auch solche, die
infolge von mangelhafter Begabung einer ständigen Nachhilfe bedürfen.
Kommen diese häufig in andere Hände, so vergeht immer eine gewisse Zeit,
bis der neue Lehrer die Eigenart des Kindes richtig erkannt hat und dem
Kinde so viel Stütze gewähren kann, als es braucht. Dieser Umstand macht
sich schon beim Klassenwechsel innerhalb einer Schule bemerklich; aber da
ist ein Austausch der Meinungen und Erfahrungen unter den Lehrern leicht
möglich, und der Schaden bleibt im ganzen gering. Beim Wechseln der
Schule wird die notvv'endige Beobachtungsieit zu lang, und das wird für viele
verhängnisvoll.
Bei vielen aber kommt hinzu, daß die neue, fremde Umgebung ihr Gemüt
bedrückt und dadurch nicht nur verzögernd, sondern geradezu umgestaltend
auf das Seelenleben einwirkt. Die „Impressionabilität des Kindes unter dem
Einfluß des Milieu" (Baginsky) ist es, die bei vielen so stark einwirkt, daß
sie sich erst spät, oft genug zu spät, in die neuen Verhältnisse einfühlen
können. Dazu kommt das Zerreißen persönMcher Bande : Liebe zu dem Lehrer,
zu Freunden, zum Schulzimmer. Stark gemütvoll veranlagte Kinder stehen
lange unter dem Drucke eines Wechsels und leiden unter der Sehnsucht nach
den seitherigen Verhältnissen, unter einem Heimweh nach der alten Schule.
Solche Kinder empfinden etwas wie Groll gegen die neuen Verhältnisse, ver-
halten sich ablehnend, zuweilen sogar widersetzlich. Das alles wirkt auf ihre
Leistungen in der Schule ungünstig ein. Diese Einwirkung ist bei gewissen
Kindern, besonders bei hysterisch veranlagten Mädchen von 12 — 14 Jahren
oft außerordentUch nachhaltig und kann dann selbst einem normed begabten
Kinde schädlich werden.
Es handelt sich bei dem ungünstigen Einfluß der Umschulungen also in
erster Linie mn Gefühlswirkungen. Damit stimmt die Tatsache völlig über-
ein, daß bei den Mädchen, die ja ganz allgemein mehr gefühlsmäßig ver-
anlagt sind, die ungünstige Einwirkung der Umschulungen sehr viel stärker
hervorh-itt als bei den Knaben.
Man vergegenwärtige sich noch einmal die Vereetzungszahlen der stets in
Halle verbliebenen Kinder:
Kl. I Kl. n Kl. m Kl. IV/V
620/0 220/0 130/0 30/0
und messe daran die folgenden Zahlenreihen:
Gruppe I: Gruppe II: Gruppe III:
(nie Umgeschulte) (1 — 2mal Umgeschulte) (3 mal u. öfter Umgeschulte)
Md.
56o/o
290/0
120'o
30/0
nicht allzu viel vom Durchschnitt ab.
Die der Gruppe I entspricht dem Durchschnitt ziemlich genau, die von Gruppe II
und III verschlechtern sich stufenweise um einige Prozent. Gruppe III hat
wesentlich dieselben Zahlen wie die Gesamtheit der Kinder einschließlich der
Auswärtigen. Ganz anders die Zahlen der Mädchen. Die Versetzungs-
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. g
Kn.
Md.
Kn.
K1.I 620/0
800,0
580/0
n 200/0
8 0/0
220/0
m 130/0
100/0
170/0
IV/V 50/0
20/0
30/0
Die Reihen
der Kna
iben
weiche
Kn.
Md.
56o/o
400/0
230/0
320/0
140/0
200/0
70/0
8«/o.
114 Ernst Haase
zahlen der Gruppe I sind geradezu glänzend. Es ist bei weitem die beste
Zahlenreihe in der ganzen Statistik. Aber schon die Gruppe II bleibt erheblich
hinter dem Durchschnitt zurück; sie steht nur wenig über Gruppe III der
Knaben. Die Gruppe lU aber weist ganz ungünstige Versetzungszahlen auf. Sie
kommt dem Durchschnitt der Auswärtigen bedenklich nahe und bleibt hinter
dem der aus anderen Städten kommenden Kinder zurück.
Der Einfluß der Umschulungen ist also unverkennbar ungünstig.
Es wird Sache der Schule sein müssen, die Umschulungen nach Möglich-
keit einzuschränken. Sie kann das nur, indem sie die Umschulung bei
Umzügen erschwert und indem sie die Zwangsumschulungen einschränkt.
Welche Maßnahmen hierzu im einzelnen zu ergreifen sind, das sind rein
örtliche Fragen, die hier nicht zu behandeln sind. Nur zwei Gesichtspunkte
will ich an dieser Stelle geben, die auch über den Rahmen unserer Stadt
hinaus Bedeutung haben könnten: 1. Jede Schule muß so viel Klassen haben,
daß ohne Zustrom von außen das Vorhandensein aller IClassenstufen in gleich-
mäßiger Abnahme von unten nach oben gewährleistet ist. Das dürfte beim
achtstufigen System etwa bei 16 — 18 Klassen der Fall sein. Jede Knaben-
und jede Mädchenschule im achtstufigen System müßte also mindestens 16
Klassen umfassen. 2. Das Schulhaus solle möglichst mitten in seinem Schul-
bezirk liegen und dieser soll möglichst kreisförmig sein. Dann werden bei
Umzügen die Schulwege nicht leicht so stark wachsen, daß jedesmal ein Schul-
wechsel erfolgen muß. Liegt das SchuUiaus am Ende eines langgestreckten
Bezirkes, so kann schon der Umzug in einen Nachbarbezirk den Schulweg
so ungebührhch verlängern, daß der Wunsch der Eltern nach Umschulung
berechtigt erscheint. Diese zweite Forderung wird sich nirgends restlos
durchführen lassen, weil man selbstverständlich überall mit den gegebenen
Verhältnissen zu rechnen hat. Aber anzustreben ist ihre Erfüllung überall,
und Annäherungen werden sich überall ermöglichen lassen.
4.
Die nächste Frage lautete: Hat etwa der Lehrplan eine Stelle, ander
sich Schwierigkeiten häufen?
Es ist klar, daß jede sprunghafte Steigerung der Anforderungen von
den Schülern, deren Versetzungsfähigkeit fraglich ist, einen Teil zum Sitzen-
bleiben verdammt, der bei gleichmäßiger Steigerung das Klassenziel wohl er-
reicht haben würde. In solchen Klassen, in denen die Anforderungen sprung-
haft aufsteigen, muß natürlich die Zahl der Sitzenbleiber größer sein als in
den andern.
In der einzelnen Schule ist die Frage, ob auf einer Klassenstufe die An-
zahl der Sitzenbleiber infolge von Lehrplanschwierigkeiten abnorm hoch ist,
gar nicht entscheidbar. Die verschiedene Zusammensetzung der einzelnen
Klassen und die persönliche Eigenart des Lehrers schaffen in ihrem Zusammen-
treffen eine solche Fülle von Zufallsmöglichkeiten, daß oft gerade die Klasse,
in der die Planschwierigkeiten am größten sind, bei der Versetzung besser
abschneidet, als eine andere, im Lehrplan wesentlich günstiger dastehende
Klasse. Es bedarf einer großen Menge von Einzelfällen, wenn diese Zu-
fälligkeiten ganz ausgeglichen werden sollen. Ob der Ausgleich erfolgt ist,
ob also die Zahlen als einwandfrei betrachtet werden können, das zeigt sich
darin, daß verschieden gelegte Durchschnitte durch die Zahlenmasse im wesent-
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschiile 115
liehen dieselben Verhältnisse aufw'eisen. Gerade an dieser Stelle, wo der
Zufall so mannigfach mitspielen kann, war doppelte Vorsicht geboten. Das
Ergebnis kann ich nach sorgfältiger Nachprüfung als einwandfrei bezeichnen.
Es sind sitzen geblieben:
in m. 8 Kl. 7 Kl. 6 Kl. 5 KL 4 Kl. 3 Kl. 2
7,50/0 10,20/0 8,80 0 11,50/0 8,70/0 6,70/0 2,6 0/0 der Gesamtheit.
Der Durchschnitt für jede Klasse beträgt 7,97, also rund 80 0. Für Knaben
ist er etw'as höher, nämlich 8,6, für die Mädchen niedriger, nämUch 7,2. In
der vorstehenden Übersicht stehen erheblich über dem Durchschnitt die Klassen
7 und 5; weniger hoch, aber immer noch über dem Durchschnitt Klasse 6
und 4. Die Klassen 8, 3 und 2 stehen unter dem Durchschnitt. (Für Klasse
8 ist diese günstige Stellung aber nur scheinbar vorhanden, wie sich später
zeigen wird.) Das gleiche Ergebnis erhalten wir, wenn wir die verschiedenen
Durchschnitte
nebeneir
lan
der stellen:
in Kl.
Knaben :
Mädchen :
Randschulen :
Innenschulen:
8
8,10/0
6,9 Oo
6,60 0
8,3 Oo
7
10,3 Oo
10,0 0«
9,8^/0
10,5 ^0
6
10,50/0
(!)
7,20/0
8,70/0
8,9 Oo
5
13,40/0
9,70/0
12,20/0
10,90/0
4
9,50/0
8,00/0
8,00/0
9,20/0
3
6,90/0
6,50/0
4,70/0
8,30/0
2
2,80/o
2,40/0
1,6 0/0
3,50/0
Es k
ann
keinem
Zweifel unterlieg
en: An allen
Stellen haben die
Klassen 7 und 5 die höchsten Zahlen. Eine einzige Ausnahme tritt bei den
Knaben hervor, insofern, als Klasse 6 um 0,2 0 0 ungünstiger dasteht als Klasse 7.
Eine andere Abweichung, die aber keine Ausnahme von der obigen Regel
darstellt, zeigt sich darin, daß bei den Mädchen Klasse 7 ungünstiger dasteht
als Klasse 5, während sonst das Verhältnis umgekehrt ist.
Indessen bedürfen die Zahlen einer Berichtigung, ehe man Schlüsse aus
ihnen ziehen kann. Es sind nämlich erstens die Kinder nicht mit ein-
gerechnet, die aus Klasse 8 — 6 zur Hilfsschule gekommen sind, und zweitens
ist dem Umstände nicht Rechnung getragen, daß die Kinder, die aus
Klasse 5 — 3 entlassen werden, keine Möglichkeit mehr haben,
in einer der höheren Klassen sitzen zu bleiben. Zieht man die Hilfs-
schüler hinzu (bis Klasse 6) und vermindert man die Gesamtzahl der Schüler
von Klasse zu Klasse um die Zahl der Konfirmanden, die aus der betr. Klassen-
stufe entlassen werden, so ergeben sich folgende Zahlen:
Kl. 8 Kl. 7 m. 6 Kl. 5 Kl. 4 Kl. 3 Kl. 2
12,10/0 12,OOo 8,90/0 11,50/0 8,8o/o 7,10/0 3,30/„
Der Durchschnitt beträgt dann 9,1 "/o. Hier zeigt sich wieder das Hervor-
treten der Klassen 7 und 5 und zwar überwiegt diesmal Klasse 7 über 5.
Zugleich aber tritt Klasse 8 sehr stark hervor. Bei diesen Zahlen kann man
wiederum Bedenken hegen, ob man sie so, wie sie sind, zu weiteren Schluß-
folgerungen verwenden soll; obgleich sie zweifellos die Verhältnisse am ge-
nauesten wiedergeben. Man kann nämlich darüber im Zweifel sein, ob man
die Hilfsschüler mit berücksichtigen soll oder nicht. Es kann das Bedenken
geltend gemacht werden, daß die meisten von ihnen abnorm seien und da-
her bei Feststellung des Planes für normale Kinder nicht berücksichtigt werden
116 Ernst Haase
dürften. Aber selbst unter voller Würdigung dieses Einwandes erscheint mir
die Zahl der Sitzenbleiber in Klasse 8 so hoch, daß ich Bedenken trage,
sie mit diesem Hinweis abzutun. Die Hilfsschüler sind ja nicht alle
abnorm. Manche von ihnen werden sicher nur Kinder mit langsamer Ent-
wicklung sein; von diesen wären die Grenzfälle zweifellos noch zu gewinnen,
wenn die Anforderungen im 1. Schuljahr herabgesetzt würden. Unter dieser
Voraussetzung bleiben also drei „scharfe Ecken" im Lehrplane zu berück-
sichtigen: Klasse 8, 7 und 5.
Die Statistik hat also ergeben, daß tatsächlich ein Teil des Sitzenbleibens
auf schwierige Stellen des Lehrplans zurückzuführen ist
Bei einer Neubearbeitung des Lehrplans wird auf diese Stellen ein beson-
deres Augenmerk gerichtet werden müssen. Diese Klassen bedürfen einer
Entlastung. Die eingehende Untersuchung darüber, worin diese Entlastung
bestehen muß, würde zu weit in eine rein örtliche Angelegenheit hineinführen.
Doch kann ich so \äel andeuten, daß in Klasse 8 und 7 sowohl das Lesen als auch
das Rechnen reichlich besetzt sind. Im Lesen ist in 8 und im 1. Halbjahr von
7, also in 1 '2 Jahren die gesamte Druckschrift deutsch und lateinisch, ein-
schheßlich der für die Kleinen m. E. ganz entbehrlichen Lautzeichen qu, chs,
ch, ph, y, ti (= zi) und x zu erledigen. Infolgedessen bleibt bei vielen Kindern
die Lesefertigkeit mangelhaft. Im Rechnen hat die 8, Klasse die Zahlenkreise
1 — 10 und 1 — 20 zu erledigen, so daß die für Anfänger so überaus schwierigen
Überschreitungen des Zehners beim Zusammmenzählen und Abziehen in das
Stoffgebiet des 1, Schuljahres fallen; die 7. Klasse, die den Zahlenramn 1 — 100
durchzurechnen hat, krankt dann an der Unsicherheit der grundlegenden
Übungen, da die Überschreitung der 10 in der 8. Klasse für einen Teil der
Schüler zu schwer gewesen ist. In Klasse 5 dürfte die Schwierigkeit aus-
schließlich im Rechenplane liegen, der den ganzen unbegrenzten Zahlenraum
mit den schwierigen Formen des schriftlichen Rechnens und das gesamte
Rechnen mit mehrfach benannten Zahlen vorschreibt. Die Einführung aller
Währungszahlen, auch der über Raumgrößen, zu einer Zeit, wo die Raumvor-
stellungen nur sehr dürftig entwickelt sind, wie dies im vierten Schuljahre
noch der Fall ist, ist zum größten Teile vergebliche Mühe, wie die ewigen
Verwechslungen der Flächen- und Körpermaße in den oberen Klassen zeigen.
Für viele Kinder aber wird der Rechenstoff dadurch so überlastet, daß sie
das Klassenziel nicht erreichen.
5.
Die nächste Frage: Hat die Geschwisterzahl Einfluß auf das Sitzenbleiben?
könnte befremden. Und mancher Lehrer wird geneigt sein, diese Frage aus
seiner Erfahrung heraus dahin zu beantworten, sie beeinflusse die Versetzung
günstig. Es ist eine bekannte Erfahrungstatsache, daß in manchen kinder-
reichen Familien ein Kind vom andern lernt.
Dennoch ist im allgemeinen das Gegenteil richtig. Die große Geschwister-
zahl scheint hemmend zu wirken. Das war mir schon bei früheren Erhebungen
über das Sitzenbleiben aufgefallen, und die Statistik bestätigt es. Allerdings
ist der Einfluß gering und die Wirkung zweifellos indirekt. Vorhanden
ist die Beziehung aber sicher.
Bevor wir der Frage selbst nachgehen, müssen wir erst im allgemeinen
die Kinderzahl in den Familien unserer Schüler kennen lernen. Nach der
vorliegenden Erhebung gestaltet sie sich an den Volksschulen so :
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in' der Volksschule 117
Es stammen aus Familien mit
einem Kinde: 101 Konfirmanden == b^io
2 Kindern: '313 ^ = 14 »/o
3 „ 423 „ = 19 »/o
4 „ 455 „ =-~- 21 o/o
5 .. 332 ., = 150/0
6 . 245 . = 110/0
7 „ 142 „ = 6O/0
8 „ 115 . = 5»/o
9 . 52 , =» 20/0
10 „ 19 „ = fast lo'ö
mehr als 10 „ 8 „ = ^3^/o.
Hiemach sind FamiUen mit vier Kindern am reichsten vertreten. Die
FamiUen mit 3 — 5 Kindern machen fast genau 55 0 0 der Gesamtmasse aus,
also über die Hälfte. Die durchschnittliche Kinderzahl des Jahrganges
ist 4,36. Das ist eine erfreuUche Höhe in einer Zeit, in der der Geburten-
rückgang in Deutschland anfängt bedrückend zu werden. Auch das ist ein
erfreuliches Zeichen, daß die Zahl der FamiUen mit einem Kinde so gering
ist, daß erst die Familien mit 8 Kindern eine ähnlich niedrige, aber immer
noch höhere Zahl erreichen.
Interessant ist, daß die Randschulen mit 4,6 eine höhere durchschnitt-
liche Kinderzahl aufweisen, als die Innenschulen mit 4,2, und die Knaben-
schulen mit 4,38, eine etv^'as höhere als die Mädchenschulen mit 4,34. Das
dürfte damit zusammenhängen, daß die kinderreicheren Arbeiterfamihen in
den Randschulen und in den Knabenschulen verhältnismäßig stärker vertreten
sind. Auch sprechen vielleicht für die Randschulen die gesünderen Wohnverhält-
nisse und die damit zusammenhängende weniger große Kindereterblichkeit mit.
Nach dieser Übersicht, die, wie schon bemerkt, noch kein unerfreuliches
Bild bietet, wenden wir uns nun den Versetzungsverhältnissen zu. Zur Ver-
einfachung fassen wir die Schüler in drei Gruppen zusammen. Ursprünglich
hatte ich vier Gruppen vorgesehen: solche aus kinderarmen Familien mit
1 — 2 Kindern (Gruppe A), solche aus normalen Familien mit 3 — 5 Kindern
(Gruppe B), solche aus kinderreichen Famihen mit 6 — 8 Kindern (Gruppe C),
und solche aus kinderreichsten Famihen mit mehr als 8 Kindern (Gruppe D).
Da aber in Gruppe D keine wesenÜiche Abweichung von C, besonders keine
merkhche Verschlechterung festzustellen ist, so können beide als Gruppe C
zusammengefaßt werden. Es erreichen von
Gruppe A: Gruppe B: Gruppe C:
(Kinderarme Famihen). (Normale Famihen). (Kinderreiche Famihen).
Kl. I: 620/0 58 0/0 48 «Vo
200/0 21 "/o 26 0/0
I30/0 140/0 18 0/0
40/0 60/0 70/0.
Aus diesen Reihen geht unzweideutig hervor, daß zwischen der Kinder-
zahl der Familie und der Versetzungsfähigkeit des Kindes eine
ganz bestimmte Beziehung besteht in der Weise, daß Kinder aus kinder-
armen Familien bessere Versetzungszahlen aufv^'eisen als solche aus kinder-
reichen Famihen.
II
ffl
IV/V
118 Ernst Haase
Demgemäß setzen sich die Konfirmandengruppen der einzelnen Klassen
folgendermaßen zusammen :
Kl. I:
Kl. H:
Kl. ni:
Kl. IV:
Kl. V:
Gruppe A
21 «/o
17 "'/o
170/0
150/0
40/0
« B
56 "/o
530/0
510/„
570/0
500/0
. c
230/0
30<'/o
320/0
28 0/0
46 "/o.
Diese Zahlenreihen
würden
ganz
gleichmäßige
Steigerungen aufweisen.
enn nicht eine
Zahl störte.
Es sind
die 570/0
der Gruppe
B in Kl. IV.
Diese Zahl ist zu hoch, schätzungsweise 6 — 7"/o. Würde man diese
noch auf Gruppe C verrechnen, so wäre die Steigerung völlig gleich-
mäßig. Es handelt sich hier offenbar um eine zufällige Erscheinung: In
Kl. IV bedeuten 6 — 70/„ 7—8 Kinder. Diese Zahl würde beispielsweise in
Kl. I oder 11 nur ein Mehr oder Minder von höchstens 1 Vä'Vo bedeuten, also
die Zahlenverhältnisse kaum beeinflussen. Bei der geringen Zahl der Kon-
firmanden in Kl. IV erscheint dagegen durch diesen Zufall das Verhältnis
erheblich gestört.
Worin mag der Grund für die Beziehungen zwischen der Kinder-
zahl der Familien und den Versetzungszahlen zu suchen sein? Sicher
ist wohl anzunehmen, daß unter den kinderreichen Familien vorwie-
gend die Familien der ungelernten Arbeiter sind. Wenn das auch
nicht im einzelnen aus der Statistik nachgewiesen werden kann, so geben
doch die oben mitgeteilten Zahlen Aufschluß darüber, daß diese Vermutung
zutrifft; denn es sind hinsichtlich der hohen Kinderzahlen im Übergewicht:
1. die Randschulen (4,6 0/0) gegenüber den Innenschulen (4,2 "/o),
2. die Knabenschulen (4,38 "/<)) gegenüber den Mädchenschulen (4,34 0/0).
Das Übergewicht bei den Randschulen gegenüber den Innenschulen ist er-
heblicher als das der Knabenschulen gegenüber den Mädchenschulen.
Das entspricht ganz dem Zahlenverhältnis der Kinder der ungelernten Ar-
beiter, die
in den Randschulen 28 ."^/o, in den Innenschulen nur 21 0/0,
ferner
in den Knabenschulen 27 0/0, in den Mädchenschulen 22 0/0
betragen.
Hier ergibt sich also ein ParalleUsmuB der Zahlen, der sicher nicht zu-
fällig ist, da er bei keiner anderen Gruppe von Kindern wiederkehrt.
Wir entnehmen daraus, daß die größten Kinderzahlen im allgemeinen in
der Gruppe der ungelernten Arbeiter auftreten. Diese Gruppe aber ist zugleich
die, deren Kinder (nächst den wenigen Vollwaisen) die ungünstigsten
Versetzungszahlen aufweisen. Hätten andere Lebenskreise höhere Kinder-
zahlen, dann würde unsere Übersicht sicher anders aussehen.
Die größere Kinderzahl in der Familie ist also sicher nicht unmittelbar
der Grund für das häufigere Sitzenbleiben, sondern sie ist nur das Symptom
für das reichlichere Auffa-eten einer Gruppe von Kindern, die aus anderen
Gründen zum Sitzenbleiben neigen.
Daneben mögen allerdings zwei Gründe auch unmittelbar mitwirken:
a) Die große Kinderzahl ist in manchen Familien nur der Ausdruck eines
ungebändigten Trieblebens der Eltern. Hier mag Vererbung dieser
ungünstigen Naturanlage die Leistungen des Kindes unmittelbar beeinflussen.
Auch wird in solchen Familien die Erziehung leicht im argen liegen.
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 119
b) Die Eltern können bei einer großen Kinderzahl sich um das einzelne
Kind nicht so kümmern, wie es wünschenswert wäre. Dieser Grund
erscheint so einleuchtend und so naheliegend, daß er wohl stark überschätzt
werden dürfte. Ich messe ihm keine allzu hohe Bedeutung bei. In einer Familie,
in der Ordnung herrscht und in der sich die Eltern um die Erziehung der
Kinderkümmern, pflegt die große Reihe der Kinder eher bildungfördernd
als bildunghemmend zu \^^rken. Das einzelne Kind wächst in eine straffere
Ordnung hinein, wird, da es den anderen helfen muß, früher selbständig,
ist weniger verwöhnt, wächst, weil es auch zu Hause ein Glied einer Masse
ist, leichter in das Schulleben hinein, empfängt von den andern mancherlei
Hilfe usw. Das alles ist nicht zu unterschätzen, und jeder Lehrer kennt
kinderreiche Familien, deren Kinder stets zu seinen besten Schülern gezählt
haben. Wo die Kinderzahl ganz besonders hoch ist, da mag allerdings der
Umstand mitsprechen, daß die Mutter so überarbeitet ist und von häusüchen
Sorgen so in Anspruch genommen wird, daß sie die Ordnung nicht so
straff zu halten vermag, wie sie möchte. Sonst aber dürfte in ordentlichen
Familien eine hohe Kinderzahl eher günstig als ungünstig wirken. In solchen
Familien hingegen, wo der Erziehung wenig Wert beigelegt wird und wo die
häusUche Ordnung gering ist, wird auch die kleinste Kinderschar vernach-
lässigt. Es ist wahrscheinlich, daß in diesem Falle eine große Reihe von
Kindern noch stärker leidet als wenige Kinder; aber die Kinderzahl selbst
wirkt dann höchstens steigernd oder herabsetzend: den eigentlichen Aus-
schlag geben die häusUchen Verhältnisse.
Es ist hiernach dreierlei zu beachten :
1. Die Kinderzahl der Famihe wirkt unmittelbar wohl nicht auf die Ver-
setzungsfähigkeit der Kinder ein. Wenn also eine Beziehung zwischen beiden
vorhanden ist, wie es nach unserer Statistik tatsächlich der Fall ist, so ist
diese nur mittelbar.
2. Die Unterschiede zwischen den Versetzungszahlen der Kinder aus kinder-
armen und kinderreichen Familien sind nicht groß. Das spricht dafür, daß
die Beziehungen zwischen Kinderzahl und Versetzungsfähigkeit nur lose sind,
daß sie also überhaupt nur mittelbar sind, oder sofern sie doch unmittelbar
sein sollten, auf eine nur schwache Einwirkung hinweisen.
3. Nicht unbeachtet darf bleiben, daß die Kinder aus Familien der Gruppe
B, also bis zu 5 Köpfen günstiger abschneiden als der Durchschnitt.
6.
Die Frage, ob es ungünstig auf die Versetzung der Kinder einwirkt, wenn
sie erwerbstätig sind, müßte auf Grund unserer Statistik eigentlich glatt ver-
neint werden. Wir wollen uns vorsichtigerweise so ausdrücken : Ein ungün-
stiger Einfluß der Erbwerbstätigkeit der Kinder läßt sich zahlemnäßig nicht
nachweisen.
Es sind erwerbstätig:
von der Gesamtheit: von den Knaben: von den Mädchen:
Kl. I: 18,50/0 210/0 160/o
170/0 21 »/o 14»/o
130/0 150/0 11 «/o
n
m
IV
V
":;: | -»/» ii:;: j >«»/» ^:{: j »»/.
120 Ernst Haase
Hier ist nach den unteren Klassen hin keine Steigerung, sondern eher
eine Abnahme zu bemerken.
Aber gerade diese Zahlen führen leicht irre; denn sie beziehen sich auf
die Erwerbstätigkeit zur Zeit der statistischen Erhebung, also im letzten
Schuljahre der Kinder, Bei den Fällen früheren Sitzenbleibens hat diese
Beschäftigung überhaupt nicht mitgewirkt. Hinsichtlich der Erwerbstätigkeit
der früheren Jahre aber geben diese Zahlen keinen Anhalt. Es ist bei uns in
vielen Familien üblich, daß die Kinder im letzten Schuljahre mit verdienen
helfen, während sie bis dahin keine Nebenarbeit zu verrichten hatten. Ja,
manche Familien verschieben dieses Mitverdienen auf das letzte Halbjahr vor
der Entlassung mit dem ausgesprochenen Zwecke, das Kind solle sich seine
„Konfirmationskleidung " (gemeint ist ganz allgemein die Ausrüstung für den
Eintritt ins Leben), selbst verdienen oder mitverdienen helfen.
Das eine läßt sich mit voller Bestimmtheit sagen: Die hier angeführten
Zahlen sind wesentlich höher als die, die sich ergeben würden, wenn die Er-
werbstätigkeit in früheren Jahren, die also Einfluß auf die Versetzung gehabt
haben könnte, zahlenmäßig erfaßt würde. Und da diese viel zu hohen Zahlen
durchweg nicht über 21 o/o (im Durchschnitt 17,3 o/o) betragen, so wird der
Einfluß der Erwerbstätigkeit im allgemeinen nur gering zu veranschlagen sein.
Das widerspricht der landläufigen Meinung. Aber es ist dabei folgendes
zu bedenken : Die Kinder, die zu geregelter Arbeit herangezogen werden, ent-
stammen nicht den allerschlechtesten Verhältnissen, und die Erwerbstätigkeit,
die sich überhaupt zahlenmäßig erfassen läßt, ist meist nicht
derartig, daß sie das Kind übermäßig in Anspruch nimmt. Kinder, die sich
den ganzen Tag auf der Straße umhertreiben, ohne daß sich die Eltern um
sie kümmern, sind in Hinsicht der geistigen Entwicklung viel schlechter ge-
stellt als solche mit mäßiger und vor allem geordneter Erwerbsarbeit.
Meist werden die Kinder der Famihen, in denen übermäßige Heimarbeit
herrscht, Opfer der Nebenarbeit. Bei uns wurde im Frieden viel leichte Papier-
arbeit betrieben, die von Kindern ausgeführt werden konnte, aber im allge-
meinen wenig lohnte und daher zu übermäßiger Ausdehnung veranlaßte.
Das Kinderschutzgesetz gewährt den Eltern in solchen Fällen verhältnis-
mäßig viel Freiheit, und noch mehr nehmen sich manche von ihnen eigen-
mächtig heraus, ohne daß ihnen beizukommen wäre. Oft ist es wirklich
wirtschaftliche Not, die zu solcher Ausbeutung der Kinderkraft zwingt. Nicht
selten aber ist Arbeitsscheu der Eltern die Ursache. Nach meinen Erfahrungen
sind arbeitsscheue Eltern die allerschlimmsten und rücksichtslosesten Ausbeuter
der Kinderkräfte.
Ganz schlimm sind die Kinder daran, die systematisch zum Betteln an-
gehalten werden. Auch das kommt fast nur in Familien vor, in denen der
Vater oder die Mutter oder beide Eltern arbeitsscheu sind.
Diese beiden Fälle, Anhalten zu übermäßiger Heimarbeit und ziu- Bettelei,
sind aber diwchaus als Ausnahmen zu betrachten. In unserer Statistik sind
sie nicht besonders erfaßt worden, sie würden nur einen ganz geringen
Prozentsatz ausmachen.
Die Heranziehung der Kinder zur Erwerbstätigkeit ist bei uns alles in
allem nicht so groß und, wie noch einmal betont sei, ihr Einfluß auf das
Sitzenbleiben ist zahlenmäßig nicht nachweisbar. Abgesehen von einer kleinen
Die äoßeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 121
Gruppe trauriger Ausnahmefälle dürfte ihr Einfluß nur gering zu veran-
schlagen sein.
7.
Eine sehr wichtige Frage war die, welchen Einfluß der Lebenskreis
auf die Versetzungsfähigkeit des Kindes hat. Zu diesem Zwecke
waren die Konfirmanden gruppiert in Kinder von:
a) ^Arbeitern (ungelernt),
b) Fabrikhandwerkern (und angelernten Fabrikarbeitern),
c) sonstigen Handwerkern.
d) Kaufleuten und Gewerbetreibenden aller Art,
e) Beamten,
f) alleinstehenden Frauen (Wit\\-en, ledigen Müttern, eheverlassenen Frauen).
g) Die Vollwaisen bildeten eine besondere Gruppe.
Gruppe d ist als Sammelgruppe für die Berufe gedacht, die sich ander-
weitig schwer unterbringen lassen. Von dem handeltreibenden Element
schicken im allgemeinen höchstens Kleinhändler (Inhaber von Gemüseläden,
Viktualienkellern usw.) ihre Kinder, wenigstens ihre Mädchen, zur Volksschule.
Deren Zahl aber ist gering. Deshalb ist ihnen keine Sondergruppe eingeräumt;
selbst mit allen sonstigen Berufen zusammen ist die Gruppe d noch immer
nicht groß.
Die Gesamtmasse der Schüler setzt sich folgendermaßen zusammen:
a
b
c
d
e
f
g
(Ar-
(Fabrik-
(Hand-
(Gewerbe-
(Be-
(alleinst.
(Voll-
beiter)
handw.)
werk.)
treibende)
amte)
Frauen)
waisen)
Gesamtheit .
240 0
I900
24O0
70/0
130/0
120/0
10/0
Knaben . . .
270,0
190 0
240,0
50/0
110/0
130/0
lO/o
Mädchen . .
220/0
190 0
250/0
8O/0
140/0
110/0
10/0
Randschulen
280;0
210 0
200 0
60/0
130/0
100/0
10/0
Innenschulen
21o'o
I6O.0
280/0
70/0
120/0
I4O0
lO/o
Hilfsschule .
540/0
70 '0
40/0
30/0
30/0
220/0
70/0
Geringe Unterschiede, die aber sehr bezeichnend sind, bestehen zwischen
den Lebenskreisen, aus denen die Knaben, und denen, aus denen die Mäd-
chen stammen: die kleinen Handwerker, mehr aber noch die Gewerbetreiben-
den aller Art und die Beamten schicken verhältnismäßig mehr Mädchen als
Knaben zur Volksschule. In diesen Kreisen, die die Schulbildung zu schätzen
^vissen, werden bei uns in der Regel die Knaben zur Mittelschule geschickt,
während man die Mädchen, bei denen man eine geringere Bildung für aus-
reichend hält, mit Rücksicht auf die Kosten zur Volksschule gehen läßt. Teil-
weise hieraus erklärt sich der niedrigere Prozentsatz der Arbeiterkinder unter
den Mädchen. Doch ist bei diesen auch die absolute Zahl kleiner als bei
den Knaben. Die Mädchen entstammen also im allgemeinen „besseren"
Lebenskreisen als die Knaben.
Der Unterschied der Randschulen gegenüber den Innenschulen ist in
erster Linie charakterisiert durch ein starkes Übergewicht der Kinder von
Arbeitern und Fabrikhandwerkem in den Randschulen. Das hängt natürlich
damit zusammen, daß die Arbeiter und Fabrikhandwerker meist in den Außen-
teilen der Stadt wohnen.
Sehr bemerkenswert ist das mächtige Vorherrschen der Kinder ungelernter
122 Ernst Haase
Arbeiter in der Hilfsschule: Mehr als doppelt so groß als in der Volksschule
ist ihr Prozentsatz, während die Gruppen b — e stark zurücktreten.
Arbeiter: Gruppe b — e:
Volksschule: 24 o/o 630/o
Hilfsschule: 54 o/o 10 o/o
Ferner fällt das starke Übergewicht der Kinder alleinstehender Frauen und
der Vollwaisen in der Hilfsschule auf:
Kinder alleinst. Frauen: Vollwaisen:
Volksschule: 12 o/o lO/o
Hilfsschule: 220/o 70/0
Über die Gründe dieser Zahlenverschiebungen vergleiche man die folgen-
den Abschnitte.
Wie verhält es sich nun mit der Versetzungsfähigkeit der einzelnen
Gruppen? Es erreichen:
a
b
c
d
e
f
g
(Ar-
(Fabrik-
(Hand-
(Gewerbe-
(Be-
(alleinst.
(Voll-
beiter)
handw.)
werker)
treibende)
amte)
Frauen)
waisen)
I
490/0
600/0
600/0
600/0
61 0/0
490/0
480/0
II
190/0
220/0
230/0
200/0
280/0
260/0
140/0
ni
210/0
130/0
130/0
150/0
100/0
150/0
240/0
IV/V
100/0
50/0
40/0
50/0
10/0
90/0
140/0
Kl.
Diese Übersicht zeigt, daß die sieben Gruppen sich in zwei scharf vonein-
ander getrennte Hauptgruppen scheiden lassen: eine Gruppe besserer
Kinder, umfassend die Gruppen b — e, und eine Gruppe weniger guter, um-
fassend die Gruppen a, f und g.
Die bessere Gruppe, sie möge als I bezeichnet werden, umfaßt die Kinder
der Fabrikhandwerker, Handwerker, Gewerbetreibenden aller Art und Beamten,
also alle die, deren Väter einen Beruf ausüben, für den sie irgendwie vor-
gebildet sind, sei es durch regelrechte Lehre, sei es durch Anlernen usw.
Diese Kinder erreichen zu 60— 61 0/0 die I. Kl., und in der IV/V bleiben
höchstens 50/0 hängen.
Die schlechtere Gruppe (II) umfaßt die Kinder ungelernter Arbeiter, also
die Kinder von Leuten, die keinen Beruf erlernt haben, und die vielfach
nicht einmal geregelte Arbeitsverhältnisse haben (Gelegenheitsarbeiter), ferner
die Kinder alleinstehender Frauen und die Vollwaisen. Diese Kinder erreichen
nur zu 48 — 49 0/0 die I. Klasse, und in der IV/V, bleiben über 9 0/0 hängen.
Bemerkenswert ist hier wieder die Tatsache, daß die Mädchen etwas
stärker durch die Lebensverhältnisse beeinflußt werden als die Knaben.
Es erreichen nämüch:
Aus Gruppe I: Aus Gruppe II:
Kn.
Md.
Kl. I:
560/0
630/0
n:
240/0
230/0
ni:
140/0
110/0
IV/V:
50/0
30/0
In beiden Gruppen ist für die Mädchen
etwas größer als die bei den Knaben.
Kn.
Md.
480/0
220/0
190/0
110/0
500/0
210/0
190/0
90/0
Jtreubreii
te der Zahlenreihen
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 1 23
Sehr bezeichnend ist
natürUch wieder
die
Z
usam m ensetzung der
Klassen :
Gruppe I:
Gliippe 11:
KL I
670 0
330,0
n
640/0
860/0
m
: 510,0
490/0 .
IV/V
390/0
610/0
Hilfsschule
170/0
830/0
Das ständige Abnehmen der Gruppe I und das entsprechende Zunehmen
der Gruppe II, von Klasse 1 bis zur Hilfsschule hin, vollzieht sich anfangs
in kleinen, dann in größeren Schritten, zuletzt sprunghaft, ganz entsprechend
den übrigen Zahlenreihen, die sich auf die Lebenskreise beziehen.
Die Gruppen bedürfen nun noch einer kurzen Charakteristik, wenn die
Sprache der Zahlen verständlich werden soll.
1. Die I. Hauptgruppe umfaßt die Lebenskreise, die die Hauptmasse
der Eltern von Volksschulkindern ausmachen. Es sind 630tt der
Gesamtheit. Diese Leute haben einen Beruf gelernt und wissen daher meist die
Schulbildung zu schätzen. Sie haben erfahren, was sie ihnen und anderen
im Leben bedeutet hat. Und wenn zuweilen gerade aus diesen Kreisen die
bittersten Urteile über den geringen Wert der Volksschulleistungen kommen,
so spricht das durchaus dafür, daß sie die Bildung an sich hochschätzen.
Solche Urteile kommen meist aus dem Munde einzelner verbitterter Männer,
deren geistige Veranlagung hoch genug gewesen wäre, um eine höhere als
Volksschulbildung empfangen zu können und die nun den Widerspruch
zwischen ihrer Fähigkeit und ihrer Bildung als fortwährendes Hemmnis
empfinden. Es handelt sich um Begabte, denen der Aufstieg versperrt
geblieben ist. Aus ihrer Geringschätzung gegen die Schule spricht aber Hoch-
schätzung der Bildung selbst; denn ihr Vorwurf geht dahin, daß die Schule
ihren Beruf als Bildungsstätte nicht erfüllt. Daß sie die Schule als solche
verantwortlich machen, ist unverständig; sie messen die Bildung, die die
Schule nach ihrer Meinung vermitteln sollte, an ihrer Sonderbefähigung und
vergessen ferner, daß sie das, was sie aus eigenen Kräften hinzugelernt haben,
in reiferem Alter und in unbeschränkter Zeit geleistet haben.
Sehen wir von solchen Einzelnen, die durchaus Ausnahmen sind, ab, so
pflegen die Eltern aus dieser Gruppe am besten mit der Schule Hand in Hand
zu arbeiten. Mindestens sind aus dieser Gruppe offene Auflehnungen gegen
die erziehhchen und unterrichtlichen Anordnungen der Schule ebenso selten
wie grobe Fälle von geistiger Vernachlässigung der Kinder. Wo diese vor-
kommen, da handelt es sich meist um Angehörige von solchen Berufen, die
wenig Vorbildung erfordern und deren Leistungen nicht wesentUch höher
stehen als die Handarbeit des ungelernten Arbeiters.
Für jene bessere Gruppe ist zweierlei bezeichnend:
a) Die Leute schicken, wenn es irgend möglich ist, die Knaben in die Mittel-
schule, um ihnen eine weitergehende Ausbildung zu geben. Daher umfaßt
diese Gruppe
bei den Knaben nur 59 0/0,
bei den Mädchen aber 660/q,
also volle 70/q mehr.
124 Ernst Haase
b) Unter den Kindern der Hilfsschule tritt diese Gruppe ganz auffallend
zurück. Den
630/q in der Volksschule stehen nur
170/q in der Hilfsschule gegenüber.
Wie mir der Leiter der hiesigen Hilfsschule mitteilt, sind diese 1 7 o/o durch-
weg psychopathisch veranlagt. Der Fall, daß ein normal veranlagtes, aber
schwach befähigtes Kind dermaßen geistig vernachlässigt wird, daß es in
seinem Können unter die Stufe des normalen Kindes herabsinkt, kommt bei
dieser Gruppe nicht vor.
2. Die II. Hauptgruppe läßt sich nicht als eine Gesamtheit behandeln.
a) Was die ungelernten Arbeiter anlangt, so ist diese Gruppe nicht
einheitlich zu bewerten. Es muß unterschieden werden zwischen solchen,
die aus wirtschaftlicher Notlage keinen Beruf haben erlernen können,
und solchen, die wegen ihrer mangelhaften Befähigung für einen
Beruf ungeeignet sind.
Unter den letzteren sind die, die aus den niederen Klassen der Volksschule
oder aus der Hilfsschule entlassen worden sind und von denen man daher
weder eine Wertschätzung der Schulbildung, noch so viel Verständnis erwarten
kann, daß sie das, was für die Zukunft ihrer Kinder wichtig und bedeutsam
ist, richtig zu bewerten verständen. Sie sind daher weder in der Lage noch
gewillt, die Schule in ihrer Erziehungsarbeit zu unterstützen und legen keinen
Wert auf regelmäßigen Schulbesuch oder gar auf pünktliche Erledigung häus-
licher Arbeiten. Zumeist handelt es sich um stumpfe Gleichgültigkeit, die
aber oft genug, besonders wenn die Schule notgedrungen von Zwangsmitteln
Gebrauch macht, in offene oder versteckte Widersetzlichkeit umschlägt. Da die
Kinder infolge von Vererbung zumeist sehr schwach beanlagt sind, so wäre bei
ihnen in besonderem Maße Hilfe erforderlich ; da sie nun aber eher vom Lernen
abgehalten als dabei gefördert werden, so sinken diese armen Geschöpfe in-
folge geistiger Verwahrlosung oft genug bis unter die Stufe des normalen Kindes
hinab, bleiben in den unteren Klassen hängen und landen vielfach in der
Hilfsschule. Daraus erklärt sich der außerordentlich hohe Prozentsatz der
Kinder ungelernter Arbeiter in der Hilfsschule (540/o), der mehr als doppelt
so hoch ist als der Prozentsatz dieser Kindergruppe in der Volksschule. In der
Hilfsschule werden sie oft die besten Schüler, da sie ja nicht psychopathisch
veranlagt, sondern nur geistig vernachlässigt und verwahrlost sind. In günsti-
geren häuslichen Verhältnisse würden diese Kinder ganz zweifellos eine höhere
Stufe der geistigen Entwicklung erreichen, wenn sie auch hinter dem Durch-
schnitt der übrigen Kinder zurückbleiben würden.
Für geistigeV er w ah rlosung infolge vonNachlässigkeitder Eltern
sieht übrigens das Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom
2. Juli 1900 die Unterbringung des Kindes in Fürsorge -Erziehung vor (§ 1
Abs. 1 — § 1666 BGB.). Fälle, in denen dieser Paragraph in der Praxis an-
gewandt worden wäre, sind mir allerdings bis jetzt nicht bekannt geworden.
Eine noch enger begrenzte Sondergruppe bilden die Kinder der Leute, die
infolge von Leichtsinn und Haltlosigkeit aus wirtschaftlich
b esserer Stellung in die des ungelernten Arbeiters hinabgesunken
sind. Diese Kinder sind meist ausgesprochene Faulpelze und Schulschwänzer.
Infolge von Vererbung ist ihre Konzentrationsfähigkeit stark herabgemindert.
Die äußeren Ursachen des Sitzenbleibens in der Volksschule 125
und sie siud völlig unfähig, sich in eine feste Ordnung einzufügen, weil ihnen
dazu jede Anleitung und Gewöhnung in der Familie gefehlt hat.
Die Arbeiter, die lediglich infolge von wirtschaftlicher Notlage
ihrer Eltern keinen Beruf haben erlernen können, bilden die
Oberschicht der ungelernten Arbei ter. Ohne sie würden die Versetzungs-
zahlen der Arbeiterkinder wohl ganz erheblich schlechter stehen, als sie ohne-
hin sind. Wie umfangreich diese Oberschicht ist, ist aus der Statistik nicht
zu ersehen. Nach der Übersicht auf Seite 125 darf man sie wohl auf 60 — 70^,0
schätzen.
b) Bei den einzelstehenden Frauen handelt es sich um Witwen, ehe-
verlassene Frauen und ledige Mütter. Die Witwen und eheverlassenen
Frauen gehören zuweilen Lebenskreisen an, die sonst über denen stehen,
die ihre Kinder zur Volksschule zu schicken pflegen. Oft genug sind es
tapfere Frauen, die ihre Familie besser diu*chbringen, als es der Vater getan
hätte. Vielfach aber sind sie, da sie sich mühsam durchs Leben schlagen,
genötigt, die Wohnung oft zu wechseln; ihren Lebensverhältnissen fehlt die
Stetigkeit, und darunter leidet die Erziehung der Kinder. Bei eheverlassenen
Frauen hegen meist zerrüttete Familienverhältnisse vor, die natürlich gleich-
falls auf die Erziehung ungünstig einwirken. Die unehelichen Kinder
sind häufig städtische Pfleglinge, die oft die Pfleger wechseln, umhergeworfen
werden und daher ohne festen Halt aufwachsen. Auch die, die in den
eigenen Familien aufwachsen, erfahren häufig genug wenig Liebe. Ihre
Geburt hat Schande und Ärger in die Familie gebracht, und das beeinflußt
das Verhältnis der Angehörigen zu ihnen sehr stark. Die eigene Mutter
empfindet sie oft genug als lästiges Ehehindernis, und darunder leidet ihre
Liebe zu dem Kinde, und ihre Sorgfalt in der Erziehung wird dadurch stark
beeinträchtigt. Noch schlimmer steht es um die Familien, in denen man über
die Geburt eines unehelichen Kindes keine Scham und keinen Groll empfindet,
sondern sie in stumpfer Gleichgültigkeit als eine natürliche und selbstverständ-
hche Sache hinnimmt. In solcher Umgebung werden meist psychopathisch
veranlagte, stumpfsinnige Kinder geboren. Und wenn sie schon an sich
nicht erblich belastet wären, so würden doch in der Stick- und Sumpfluft
ihrer Umgebung ihre Anlagen rettungslos verkümmern. Die Gruppe f um-
faßt also Kinder der besten und der schlechtesten Lebenskreise,
die für die Volksschule in Frage kommen. Daher nimmt diese Gruppe auch
eine gewisse Mittelstellung ein, was sich aus den verhältnismäßig günstigen
Zahlen der niederen Klassen ergibt: es erreichen zwar nur 490,0 die I. Klasse,
aber volle 25« o die IL, so daß für IIL nur 15 ^0, für IV. nur 9 o/o bleiben.
c) Die Vollwaisen werden bei uns in Familien als Pfleghnge gegeben; denn
die Stadt Halle besitzt nur ein kleines Mädchen-Waisenhaus, das etwa vier-
zehn verwaiste Mädchen aufnehmen kann (die Geschwister Röser- Stiftung).
Die Unterbringung der Waisenkinder in Familen ist theoretisch ganz gewiß
der Anstaltserziehung vorzuziehen. In der Praxis aber steht und fällt ihr Wert
mit dem Werte der Familie, in der das Kind aufwächst. Dabei macht es
keinen wesentlichen Unterschied, ob das Kind bei Verwandten oder bei
fremden Leuten untergebracht ist. Nicht selten wird das Pflegekind lediglich
als Erwerbsquelle betrachtet und als Arbeitskraft ausgenutzt. Genügt es in
dieser Hinsicht den Ansprüchen der Plegeeltern nicht, so versuchen sie, es
wieder los zu werden. Eine sorgsame Erziehung genießt auf diese Weise
126 Ernst Haase, Die äußeren Ursachen des Sitzonbleibens in der Volksschule
offenbar nur ein kleiner Teil der Waisenkinder; sonst wäre der geistige Tiefstand,
der aus der Zahlenreihe der Vollwaisen spricht, nicht zu erklären. Daß
diese Kinder ausschließhch ein Opfer dieser Pflegeverhältniase werden, unter-
liegt für mich keinem Zweifel.
8.
Fassen wir rückblickend die Ergebnisse zusammen, so zeigt sich folgendes:
1. Der Schulwechsel hat einen sehr ungünstigen Einfluß auf die Versetzung,
Besonders stark ist sein Einfluß auf die Mädchen. Er kann, besonders wenn
er nicht innerhalb des Schulortes geschieht und daher mit einem Wechsel
des Schulsystems verknüpft ist, für sich allein schon die Versetzung stark
beeinflussen, ohne daß innere Gründe in Frage kommen. Er ist daher als
der bedeutendste und schwerstwiegende äußere Faktor für das
Sitzenbleiben zu betrachten.
2. Die Verhältnisse der Lebenskreise, denen die Kinder entstammen,
üben gleichfalls einen ganz erheblichen Einfluß aus. Dieser steht hinter
dem des Schulwechsels etwas zurück. Die Mädchen leiden auch unter
diesem Einfluß stärker als die Knaben; doch sind die Unterschiede weniger
beträchtlich.
Die Verhältnisse der Lebenskreise (Stand des Vaters, Kinderzahl der Familie)
wirken indirekt ein, indem sie auf die Entwicklung der Intelligenz, der
Konzentrationsfähigkeit usw. hemmend oder fördernd einwirken. In dem
Maße, in dem das Kind äußeren Einflüssen zugänglich ist, ist diese Einwir-
kung stärker oder schwächer, günstiger oder ungünstiger.
3. Wenn der Lehrplan Stellen hat, an denen sich die Schwierigkeiten
sprunghaft steigern, so wird dadm'ch die Versetzung der Kinder aus diesen
Klassen ungünstig beeinflußt.
4. Keinen merklichen ungünstigen Einfluß übt eine mäßige, geregelte
Erwerbstätigkeit der Schüler aus.
Über die Maßnahmen, durch die die Versetzungszahlen günstiger
gestaltet werden können, mögen hier einige Andeutungen folgen.
1. Hinsichtlich des Schulwechsels empfiehlt es sich,
a) nicht bei jedem W^ohnungswechsel ohne weiteres auch einen Wechsel
der Schule vorzunehmen und lieber den Kindern einen etwas weiteren Schul-
weg zuzumuten.
b) den Klassenausgleich und damit die Zwangsumschulungen auf ein
Mindestmaß zu beschränken. Wie das im einzelnen geschehen kann, das
ist eine rein örtliche Frage,
c) alle Bestrebungen zu unterstützen, die der Wohnungsnot entgegen-
arbeiten. Diese Maßnahme wirkt zwar nicht unmittelbar bessernd ein; aber
ihre Wirkung ist gegebenenfalls um so gründlicher und nachhaltiger. Je
seßhafter die Bevölkerung gemacht wird, je mehr insbesondere die ungesunde
Abwanderung der Dorfbevölkerung nach den Großstädten hintangehalten
wird, desto besser wird die Wirkung der Volksschule auf die Volksbildung
und Volkserziehung sein können.
2, a) Die Hebung der Lebensverhältnisse ist unmittelbar nur bei
zwei Gruppen möglich: bei den Halbwaisen (und den ihnen gleichzuachtenden
unehelichen Kindern) und bei den Vollwaisen, sofern deren Verpflegung
Obliegenheit der Gemeinde ist. Daß für die Erziehung dieser Kinder alles
Kleine Beiträge und Mitteilungen 127
geschehen muß, was geschehen kann, daß sie als vollwertige Glieder des
Volkes anerkannt und behandelt werden müssen und nicht als unbequeme
Gemeindelast nebensächUch behandelt werden dürfen, ist schon eine For-
derung rein menschhcher und auch praktisch vaterländischer Erwägungen.
Durch die Versetzungszahlen erhält sie von der Seite der Schulerziehung her
besonderen Nachdruck.
b) Mittelbare Einwirkung auf die Hebung der Lebensverhältnisse
würde wiederum wie bei der Wohnungsfrage gründlicher, aber in absehbarer
Zeit nicht spürbar helfen und bessern.
Was seitens der Schule nach dieser Richtung schon jetzt geschehen kann,
das ist die Bemühung, möglichst alle dazu befähigten Kinder zu veranlassen,
einen Beruf zu erlernen. Es ist bedauerlich, wenn aus den I. und IL Klassen
der Volksschule Kinder ins Leben treten, die von vornherein beruflos bleiben.
Hier gilt es, die Eltern zu beeinflussen, daß sie nicht aus Nachlässigkeit oder
Verständnislosigkeit es versäumen ^ ihre Kinder Berufe erlernen zu lassen.
Scharf muß dabei dem Gedanken entgegengetieten werden, der Knabe solle
„vorläufig" Laufbursche werden und nachträglich noch einen Beruf erlernen.
Erfahrungsgemäß verbleibt es in solchen Fällen bei der vorläufigen Ent-
scheidung, und der Knabe lernt nichts.
Daneben sollte die Gemeinde solche Eltern, die ihre Kinder ohne Berufs-
bildung lassen müssen, weil sie infolge wirtschaftlicher Not auf deren Arbeits-
verdienst angewiesen sind, ein Fall, der besonders bei kinderreichen Familien
oft vorkommt, mit Geldmitteln unterstützen, damit dem Kinde der Weg
in die Zukunft geebnet wird,
3. Die Lehrplanfrage ist natürhch eine reine Schulfrage, die leicht in
befriedigender Weise zu lösen ist.
Die Statistik zeigt also, daß manche der äußeren Hemmnisse für die Fort-
schritte unserer Kinder durch rein schultechnische Maßnahmen zu beheben
sind, während andere tiefere Wurzeln haben, indem sie teils in der wirt-
schaftlichen Notlage, teils in dem geistigen Tiefstande der Eltern unserer
Kinder begiündet sind.
In dem Maße, wie die wirtschaftliche und geistige Not des Volkes
beseitigt wird, werden auch diese Hemmungen schwinden. Nicht nur
pädagogisch - organisatorische, sondern auch soziale Aufgaben ergeben sich
also hieraus für die Schule.
Wenn alle Kräfte zusammen wirken, die hier helfen und fördern können,
dann wird es gelingen, das Sitzenbleiben auf die Fälle zu beschränken,
die rein seelisch begründet sind und die im engeren Sinne der päda-
gogischen, vielleicht der heilpädagogischen Behandlung vorbehalten bleiben
müssen.
Kleine Beiträge und Mtteilungen.
über krankhaftes religiöses Erleben führt eine Untersuchung, die Dr. S. Loeb
in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift über „Dienstverweigerung
aus religiösen Gründen und ihi'e gerichtsärzthche Beurteilung" (Nr. 31/32
1918/19) veröffentlicht, zu folgenden auch für die Pädagogik bedeutsamen
Ergebnissen: „Wir sollten nach Möglichkeit den Ausdnick „religiöse Wahn-
128 Kleine Beiträge und Mitteilungen
idee", der zwar sehr volkstümlich geworden, venneiden und an seine Stelle
„Wahnglaube" setzen. In dem Ausdruck „religiöse Idee" bezw. „religiöse
Wahnidee" liegt, da Idee im psychiatrischen Sprachgebrauch nicht die pla-
tonische Idee, die letzte begriffliche Grundgestalt, auf die jedes Erscheinende
zurückzubeziehen ist, sondern die spätere Gleichsetzung mit Vorstellung be-
deutet, eine zu starke Betonung des sinnlich Wahrnehmbaren und gedank-
lich Verarbeiteten, was dem reUgiösen Erleben widerspricht. Hingegen liegt
in den Worten „Glaube" und „Wahnglaube", daß das zu bezeichnende Er-
leben nicht auf dem Wege wissenschaftlichen Erkennens oder gedanklicher
Verarbeitung von sinnlich Wahrnehmbarem, sondern durch unmittelbare,
innere Erfahrung geschieht, die sieh auf des Menschen persönliches Verhält-
nis zu Über- oder Außersinnlichem bezieht.
In seiner allgemeinen Psychiatrie ') spricht sich Kraepelin über Glauben
und Wissen ti*effend aus und legt hier dar, wie die beiden entgegengesetzten
Quellen unserer Erkenntnis sich im einzelnen Erleben bald berühren, bald
verquicken, bald verdrängen, innere Vorgänge, für die auch die Sprache
nach Ausdrücken ringt, etwa in den Worten: vermuten, für wahr halten,
überzeugt sein, wissen. Halten wir uns diese Gegensätze Wissen und Glaube
in ihrer reinen Form einmal klar vor Augen, so kennzeichnet das erstere
das getreue Abbilden der Welt durch unmittelbare, nüchterne Angliederung
der Erfahrung, während letzterer das große Gebiet unserer Erkenntnis, auf
dem sinnliche Erfahrung uns keine Ergebnisse zu liefern vermag, auf Grund
tiefgreifender Gefühlsbeziehungen zu unserer gesamten Persönlichkeit durch
freie Erfindung ausfüllt, beziehungsweise derart Erfundenes übernimmt. In
dieser Unterscheidung und in der Übernahme des präziseren Ausdrucks
,, Wahnglaube" liegt es also schon begründet, daß die wesenthchen Charak-
t3ristika einer Wahnidee gegenüber einer Vorstellung, also mangelhafte
Übereinstimmung mit dem Erfahrungsmaterial, Unkorrigierbarkeit durch
Gründe der Vernunft, nicht passen zur Abgrenzung von Wahnglaube und
Glaube.
Wenn es ein Vorrecht des Gläubigen ist, daß er, zwar gebunden durch
den heihgen Drang nach Wahrheit, jedoch sicher vor der Kontrolle des sinn-
lich Wahrnehmbaren, seinen Inhalt suchen und finden darf, so liegt in diesem
Vorrecht auch die Schwäche, daß er von der Wissenschaft eine scharfe
Scheidung seiner Ergebnisse, der Glaubenssätze von dem Wahnglauben nicht
verlangen darf.
Glaubenssätze, Dogmen, religiös-geschichtliche Überlieferungen sind für
verschiedene Völker und verschiedene Zeiten verschieden. Wesentliche Ab-
weichungen, sogar GegensätzHchkeit von Lehrmeinungen reichen keineswegs
aus, den Andersgläubigen wegen dieser Gegensätzlichkeit für geistig krank
zu halten. Sofern wir wissen, daß der Gläubige sich mit dem von ihm
vertretenen Dogma in einer anerkannten religiösen Gemeinschaft befindet,
pflegen wir keinen Anstoß an der geistigen Gesundheit des Betreffenden zu
nehmen. Daß etwa ein Katholik den Papst für den Stellvertreter Gottes
auf Erden hält, würde man ihm ebensowenig als krankhaft auslegen wie
etwa einem Chinesen den Glauben der Seelenwanderung in Tieren. Ebenso
können wir den Römer nicht für wahngläubig halten, wenn er aus den Ein-
») Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl., 1. Bd., S. 307 ff.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 129
geweiden seiner Opfertiere oder aus dem Flug der Vögel Auskunft über sein
Geschick zu erfahren hofft. Selbst bei einem und demselben Volk wechseln,
wenn auch selten, religiöse Anschauungen und Lehren: das Austreiben der
Teufel oder der bösen Geister aus einem von ihnen besessenen Menschen
unter Anrufung des Namens Gottes oder Christi war in früheren Jahren so
üblich, daß es für diesen Beruf eine eigene Klasse von Kirchenbeamten,
„die Exorzisten", gab. Groß ist auch die Wandlung im Hexenglauben.
Während vor fünf- bis sechshundert Jahren die Hexenprozesse an der Tages-
ordnung waren (Papst Innocenz VUI. bestätigte durch seine Bulle „Summls
desiderantes" vom 3. Dezember 1484 die Lehren vom Zauber^'esen und den
dafür erf orderhchen , durchgreifenden Inquisitionsprozessen), würde heute
jeder, der etwa einen Hexenprozeß anstrengen wollte, zunächst vor das
Fonun eines Psychiaters geführt und hier als geistig krank bezeichnet
werden. Ebenso würde keiner von uns anstehen, das Streuen von Papier-
pfennigen bei Beerdigungen oder das Drehen von Gebetmühlen, Gebräuche,
wie sie im fernen Osten heute noch gang und gäbe sind, für Wahnglauben
zu halten, würde er einen Europäer bei solchem Brauch beobachten. Um-
gekehrt müssen wir uns vorstellen, daß ein Buddhist fiu" geistig abnorm
gehalten würde, wenn er etwa das Abendmahl nehmen würde.
Aus dieser kurzen Betrachtung ergibt sich also, daß religiöse Ideen ihrem
Inhalt nach kaum in gesund und krank geschieden werden können oder mit
anderen Worten : nicht das religiös Gewordene, das Ergebnis, der Glaubens-
satz oder Wahnglaube kann losgelöst vom Träger wissenschafthch als ge-
sund oder krank begutachtet werden, sondern wir müssen das seelische Er-
leben, das psychische Geschehen zu beurteilen versuchen. Hier sei noch
einmal Selbstverständliches kurz erwähnt: daß es im Gesunden eine ganz
erhebhche Breite religiösen Erlebens- gibt. Vom Aufgeklärten, der sich be-
wußt gegen alles abschließen will, was ihm Sinne und Intellekt nicht geben
können, über den Durchschnittskirchgänger, der sich des Sonntags morgens,
vor jeder Mahlzeit und vor dem Schlafengehen einmal andächtig in sich ver-
senkt, bis zum eifrigen Gläubigen, der andächtig, tief in sich versunken die
Umwelt vergißt und in dem Aufgehen im Übersinnlichen Wonneschauer
empfindet, ist eine weite Strecke seelischen Erlebens, das wir alles als gesund
bezeichnen. Das zuletzt erwähnte religiöse Einzelerleben können wir uns nun
extensiv und intensiv noch gesteigert vorstellen. Dauerte etwa eine solche
gemütliche Erregung stunden- oder gar tage- und wochenlang in gleicher
Weise an, so würden wir in dieser ungewöhnlich langen Dauer doch etwas
Abnormes sehen. Auch die Intensität religiösen Erlebens kann sich so weit
steigern, daß v,ir nicht mehr von normalen Vorgängen sprechen können.
Gefühlsausbrüche wie Seufzen, Weinen, Stöhnen, jubelndes Singen pflegen
wir in gewissem Umfang noch in die Grenzen des religiös Gesunden ein-
zubegreifen; auch eine gewisse Einengung des Bewußtseins, wie sie jedes
starke, gefühlsreiche Erleben mit sich bringt, halte ich für regelrecht. Da-
gegen sind eine deutliche Trübung des Bewußtseins, stärkere echte Gefühls-
ausbrüche, wie Tanzen, sich Geißeln, als anormal anzusehen.
Wir sagten oben, daß jedes, auch das gesunde religiöse Erleben auf Grund
tiefgreifender Gefühlsbeziehungen der gesamten Persönlichkeit zum Über-
sinnlichen geschieht. Diese Definition ist der beste Wegw'eiser zum Auf-
finden weiterer Merkmale, die religiöses Erleben zu krankhaftem stempeln.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 9
130 Kleine Beiträge und Mitteilungen
Die allgemeine Psychologie lehrt, daß auch beim gefühlsmäßigen Erleben
Begriffe, mit denen wir notwendig operieren, aus dem Erfahrungsschatz des
Intellekts genommen werden, und daß wir auch unsere Gefühlserlebnisse
dem Streben nach Vereinheitlichung unserer Gesamtpersönlichkeit, wenn oft
auch nur lose unterordnen, daß wir also genau genommen nur von vor-
wiegend gefühlsmäßigem Erleben sprechen können. Je mehr das Gefühl im
Einzelerlebnis vorherrscht, desto unklarer und verschwommener werden die
aus dem Intellekt entliehenen Begriffe, desto mangelhafter arbeitet die ein-
ordnende und verbindende Verstandestätigkeit. Gefühl und Kritik stehen in
reziprokem Verhältnis zueinander. So nimmt es uns nicht wunder, wenn
wir schon im normalen religiösen Erleben allzu oft logische Schlußfolge-
rungen und Kritik vermissen. Stärker tritt Kritiklosigkeit in die Erscheinung,
wenn das Glaubensgefühl sich steigert zu jenem persönlichen Heils- und
Glücksgefühl, da für den Gläubigen alle zu innerst gefundenen und die
übernommenen Glaubenswahrheiten mehr bedeuten als alles Wissen zu-
sammen. ^ Ein solch erhebendes Glücksgefühl öffnet dem Autoritätsglauben
Tür und Tor, man schwört in die Worte des Meisters: leitet die jüdische
Lehre eine scharfe Trennung der mit Milch bereiteten Speisen von denen
mit Fleisch bereiteten aus einer Bibelstelle: „Du sollst das Zicklein nicht in
der Milch seiner Mutter kochen" ab, so folgen hierin die Strenggläubigen
mit einem seligsicheren Gefühl, das einzig Rechte zu tun, selbst wenn in
einer solchen Schlußfolgerung keine oder nur eine ganz lose gedankliche
Verkettung aufgefunden werden kann. Im allgemeinen kann man sagen, je
unklarer die religiösen Begriffe, je weniger logisch religiöse Gedanken unter-
einander verknüpft sind und je sicherer und überzeugter trotzdem das Er-
lebnis hingenommen wird, desto krankhafter ist es. Wenn z. B. jemand
aus Kor. 3, 16: „Wisset ihr nicht, daß ihr Tempel Gottes seid?" mit über-
legenem Lächeln und heilssicherem Auge ableitet, daß er nicht rauchen darf,
so dürfte diese Verknüpfung trotz* der unangreifbaren Überzeugung ihres
Trägers wohl als zu lose geschürzt von uns als krankhaft bewertet werden.
Das Vorwiegen des Gefühlsmäßigen im religiösen Erleben erklärt uns auch
seinen ungeheuren Einfluß auf das menschliche Handeln. Ich brauche nur
an den Märtyrertod, die Verfolgungen der ersten Christen, die Juden-
verfolgungen und die Religionskriege zu erinnern, um den Einfluß des
Glaubens auf Handlungen gebührend zu würdigen. Gewiß, die ebengenannten
sind keine alltäglichen Erscheinungen, aber krankhaft? Es würde zu weit
führen, alle jene geschichtlichen Erscheinungen aus ihrer Zeit zu analysieren
und dann psychiatrisch zu bewerten; uns kann es heute nur darauf an-
kommen, aufzuzeigen, wann der Einfluß religiösen Erlebens auf mensch-
liches Handeln in der Jetztzeit wohl als krankhaft zu bezeichnen wäre.
Auch da gibt es keine absolute Antwort, vielmehr : je erheblicher der Wider-
spruch mit unseren geltenden Rechts-, sozialen und ethischen Pflichten ist,
in den uns religiöses Erleben bringt, desto eher darf an krankhaftes religiöses
Erleben gedacht werden. Wenn etwa jemand, wie einst Abraham, seinen
Sohn Gott zum Opfer darbringen wollte mit der Begründung, er wisse, dies
') Mir kommt es in diesem Augenblick nicht darauf an, mit dem Ausdruck „Kritiklosigkeit*
persönlich Stellung zu dieser Bewertung zu nehmen, sondern nur darauf, das seelische Erleben
mit seinen Nebenerscheinungen zu zeichnen.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 131
sei Gottes Wunsch, oder wenn jemand, um seinen Beglücker zu entschä-
digen, sein ganzes Vermögen einem sektiererischen Prediger vermachte und
hierdurch seine Familie an den Bettelstab brächte, würden wir einen krank-
haften Einfluß feststellen müssen.
In dem bisher besprochenen kranken religiösen Erleben trat ein Faktor
in den Hintergrund : der Ichkomplex. Schon unsere Definition weist darauf
hin, daß er leise selbst in dem neutralsten Glaubenssatze mitsibriert: wenn
jemand den religiös-geschichtlichen Satz gläubig ausspricht, „die Israeliten
zogen mit Hilfe Gottes trockenen Fußes durchs Rote Meer", so verknüpft er
hiermit, daß sie, ein Werkzeug in Gottes Hand, aus der Knechtschaft befreit
werden mußten, um bald am Sinai die Lehre zu empfangen, der er sich
selber unmittelbar oder mittelbar als der götthchen Offenbarung teilhaftig
fühlt. In den meisten religiösen Erlebnissen tritt das persönliche Element
stärker hervor. Auch diesmal können wir sagen: je stärker der lehkomplex
im reUgiösen Erlebnis betont wird, um so eher dürfen \snr an krankhaftes
Erleben denken. Schildert einer, daß Gott sich seine Werkzeuge " aussuche,
daß die Menge mit Blindheit geschlagen, wenige — unter ihnen auch er —
erleuchtet seien, so darf uns das stets krankheitsverdächtig vorkommen.
Manche Kranken gehen noch weiter, indem sie etw-^a sagen : „In mir personi-
fiziert sich der heihge Geist", oder „Ich bin Gottes Sohn.''
Zusammenfassend können wir also sagen:
1. Religiöse Ideen können ihrem Inhalt nach kaum in gesunde und kranke
geschieden werden.
2. Auch eine scharfe Scheidung des religiös-gesunden und -kranken Er-
lebens ist nicht möghch.
3. Rehgiöses Erleben darf als krankhaft bezeichnet werden:
a) bei ungewöhnlicher Dauer und Intensität des Einzelerlebnisses;
b) je unklarer religiöse Begriffe, je unlogischer die Gedankenverknüpfung,
je sicherer trotzdem der Gläubige;
c) je erheblicher der Widerspruch zwischen Handlungen, die durch den
Glauben beeinflußt sind einerseits und den geltenden Rechts-, sozialen
und ethischen Pflichten andererseits;
d) je stärker der Ichkomplex im Erleben betont ist.
Manchen wird diese Abgrenzung wenig befriedigen, weil er kräftige Unter-
scheidungsmerkmale erwartete und nun mit feinen Abstufungen abgespeist
wird. Dem ist entgegenzuhalten, daß Wahnglaube bei ausgesprochenen
Psychosen aus dem Gesamtbild leicht als solcher erkannt werden kann, daß
aber bei psychischen Grenzfällen das Kranke meist nur quantitative Unter-
schiede gegenüber normalem seelischen Geschehen erkennen läßt, ja, daß
wir sogar bemüht sind , quahtative Unterschiede in quantitative umzuformen
(Farbenempfindungen in Äthersch\vingungen verschiedener Wellenlängen).
Genaue Meßmethoden gibt es für Bas religiöse Erleben nicht. Daher wird
auch dem Urteil eines Gutachters immer etwas Subjektives anhaften.
Die Förderung und Pflege der Erziehungswissenschaften betreffen in den
«Schulforderungen" des Deutschen Lehrervereins die folgenden
Leitsätze: 1. Zur Prüfung und Verbesserung aller inneren und äußeren Schul-
verhältnisse : der Erziehung, des Lehrverfahrens, der Auswahl und Gestaltung
der Unterrichtsstoffe, der Lehrmittel, der Schulgebäude usw., zur erziehungs-
132 Kleine Beiträge und Mitteilungen
wissenschaftlichen Bearbeitung der Schulzählungen, zur Beobachtung der Ent-
wicklung des Schul- und Erziehungswesens im Auslande, ist ein ständiger
Ausschuß aus Lehrern aller Schulgattungen und Nichtschulmännern der ver-
schiedensten Lebensgebiete und Gesellschaftsschichten einzusetzen, der sich,
je nach dem Beratungsgegenstande, durch Sachkundige ergänzt. 2. Diesem
Ausschuß liegt es auch ob, neue Vorschläge in erziehungswissenschaftliche a
Schriften zu behandeln, sowie ihre Erprobung in Schulversuchen anzuregen,
insbesondere auch alle von anderer Seite kommenden Vorschläge zu prüfen.
Mitteilungen über die „Schülerbewegung". Das miterlebende und stellung-
nehmende Eingehen unserer Jugend in die Zeit der großen Umwälzung ist ein
hervorragendes jugendkundUches Beobachtungsgebiet. In ihm hebt sich eine
engere Erscheinungsgruppe heraus, bei der es sich um das eigentätige Eingreifen
der Mittelschüler in die äußere und innere Umgestaltung der höheren Schulen
handelt und für die der Name „Schülerbewegung" nicht unzutreffend gewählt
worden ist» Eine genaue Kenntnis dieser Strömung, die sich in Versammlungen,
in Demonstrationszügen, in Streiks, in öffentlichen Erklärungen usf. hier und
da ausgiebig der revolutionären Technik bediente, hat neben dem wissen-
schaftlichen Interesse vor allem auch nicht geringe praktische Bedeutung.
Noch aber ist ein genaues Gesamtbild, das zuverlässig Einsicht in den Um-
fang, die Wurzeln, die Triebkräfte, die Erscheinungsformen, die Ziele, die
Führer der ausgebreiteten Bewegung gäbe, nicht zu gewinnen. Die oberen
Schulbehörden werden hoffentlich nicht versäumen, das dazu erforderhche
Material in amtlich einzufordernden Berichten aus den einzelnen Schulen bereit-
zustellen. Vorerst ist der Beobachter noch angewiesen auf die vereinzelten
und zufälligen Mitteilungen der Fach- und Tagespresse. Wir stellen einiges
daraus, ohne selbst Stellung zu nehmen, zur Kennzeichnung zusammen.
I. In Wien fanden am 16. Dezember 1918 unter außerordentlichem An-
dränge mehrere große Mittelschülerversammlungen statt, in denen von den
verschiedenen Schülergruppen gemeinsame Forderungen begründet wurden.
Einmütig wurde verlangt: 1. Volle Koalitionsfreiheit in den Oberklassen. Den
Mitschülern soll es gestattet sein, nach den Bestimmungen des Vereinsgesetzes
nichtpolitische Vereine zu bilden. Es ist daher zunächst die Aufhebung aller
Paragraphen der Mittelschul -DiszipHnarvorschriften zu verfügen. 2. In den
Mittelschulen sind Schulgemeinden zu bilden. In Orten, wo sich mehrere
Mittelschulen befinden, werden diese zu Zentralschülerausschüssen zusammen-
geschlossen. 3. Volle Gewissensfreiheit. Kein Mittelschüler soll fürderhin
wegen seiner politischen oder religiösen Überzeugung in seinem Schulfortgange
behindert werden. Der Zwang zur Teilnahme an religiösen Übungen hat an
allen Mittelschulen aufzuhören. 4. Durchführung einer Schulreform. Der
Lehrplan der Mittelschulen soU so umgestaltet werden, daß die Absolventen
den Anforderungen des praktischen Leben94)esser entsprechen. 5. Insbesondere
ist der Lehrplan der letzten Klassen sofort noch vor Wiederaufnahme des
Unterrichts, entsprechend den rein praktischen Forderungen der Zeit, provi-
sorisch zu ändern.
Es wurde beschlossen, diese Fordemngen dem nied.-österr. Landesschul-
rate zu überreichen und ihnen durch Veranstaltung eines Demonstrations-
zuges Nachdruck zu verleihen. Zu dieser Kundgebung vereinigten sich die
Mitglieder des Deutschen Mittelschülerbundes, der Freien Vereinigung soziali-
Kleine Beiträge und Mitteilungen 133
stischer Mittelschüler, der Zionistischen und Militärdienst leistenden Mittel-
schüler, der Wandervögel, der Pfadfinder, des Reformrealgjmnasiiuns für
Mädchen und anderer Mädchenmittelschulen, Hörer der Wiener Handels-
akademien sowie Abordnungen aus Wiener -Neustadt, Mödling und anderen
Orten. Der Zug bewegte sich vom Schwarzenbergplatz in vollster Ordnung
nach der inneren Stadt. Hier kam es leider, während eine Anzahl von
SchOIer\'ertretem beim Landesschulrate weilte, um diesem die Wünsche der
Schülerschaft vorzutragen, zu beklagenswerten Zusammenstößen mit der
Polizei, die in ihren Ursachen noch nicht völlig aufgeklärt erscheinen. Beim
Landesschulrate selbst fanden die Schülervertreter einen durchaus freundlichen
und entgegenkommenden Empfang, und in dieser ersten wie in einer zweiten,
am nächsten Tage abgehaltenen Besprechung wurden in den meisten Punkten
weitgehende Zugeständnisse erreicht. (Zeitschr. f. Kinderschutz u. Jugend-
fürsorge. XI. Jahrg. Nr. 1.)
II. Hohen Wert für die spätere wissenschaftliche Erforschung der Schüler-
bewegung haben zahlreiche öff enthche und geheime, unterzeichnete und namen-
lose Flugblätter und Zuschriften, die in den höheren Lehranstalten von Hand
zu Hand gingen. Die Sammlung dieser Quellenstücke wäre ein dankens-
wertes Unternehmen. Wir drucken als Beispiel einen Aufruf aus dem No-
vember 1918 ab, den die Freideutsche Dürergemeinde an der Dürer-
schule Hochwaldhausen unter der Überschrift „An die Jugend der
höheren Schulen" ausgegeben hat.
Liebe Kameraden! An Euch, die Schüler der oberen Klassen der höheren Lehranstalten,
wenden wir uns in Deutschlands Schicksalsstunde als an unsere Kameraden.
Auf den Trümmern der alten Zeit wird Neu-Deutschland aufgebaut. Ein neuer Geist, frisch
imd jugendlich, soll die neuen Formen des nationalen Lebens erfüllen. Ungezählte Hände sind
am Werk, Überlebtes, Minderwertiges, das ernster Prüfung nicht standhält, fortzuräumen und
Lebensstarkes, Wertvolles an seine Stelle zu setzen. Nun ist es auch Zeit, daß die gesamte
Jugend lerne, mit innerer Wahrhaftigkeit und vor eigener Verantwortung ihr Leben zu gestalten.
Vor allem sollte sie sich in der Schule bewußt, durch eigene Arbeit, eine Heimat schaflen, in
der Stätte, die bisher den größten Teil ihrer Zeit und Kraft verlangte, ohne daß die Jugend
recht wußte, wozu.
Jugend, noch allzu oft eine tote Masse, die sich formen und bilden ließ, ohne den eigenen
Willen dafür einzusetzen, soll nicht nur gut genug dazu gewesen sein, fürs Vaterland zu stert)en :
sie soll ihm auch zu seinem Aufl)au im Frieden ihre Kraft leihen.
Die neue Schule, eine kulturbewahrende und kulturschöpferische Gemeinschaft von Jugend-
lichen und Er^'achsenen, ist das Gebiet, auf dem die zum Selbstbewußsein erwachte Jugend zu-
nächst mitarbeiten muß.
Darum zögert nicht! Nehmt die Reform des Lebens Eurer Schule selbst in die Hand! Geht
an die W^urzel der Schäden heran : Tilgt Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit gegen das Geistige,
schafft eine Schulmoral gegenseitiger Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Kameradschaftlichkeit. Macht
aus Eurer Schule eine Arbeitsgemeinschaft. Eine Gemeinschaft aber ist nicht möglich,
wenn Schüler und Lehrer, wie bisher noch allzu oft, gegeneinanderstehen. Gemeinsam muß
der Weg gehen; ladet Eure Lehrer zu gemeinsamer Arl)eit ein, versucht mit ihnen gemeinsame
Sache zu machen! Zeigt ihnen, daß Ihr nach der wahren Freiheit strebt, nicht nach Willkür
und ZügeUosigkeit, daß Ihr Euch freiwillig unter selbstgeschaffene GSesetze stellt, daß Eurer Tat-
willen ernst ist, daß Ihr dem Geiste Gefolgschaft leisten wollt.
Viblleicht wißt Ihr nicht, wie Ihr dahin kommen sollt. Wir, die älteren Schüler der Dürer-
schule Hochwaldhausen, arbeiten seit Jahren an der Ausgestaltung unserer Schule in Gemein-
schaft mit unseren Lehrern und Erziehern, die imsere Kameraden und Freunde sind. Wir wollen
Euch gern kameradschaftlich helfen, wenn es Euch ernst ist, daß die neue Schule durch Euch
an der Neuschaffung Deutschlands mitarbeitet.
Schreibt uns, wenn Ihr tinseren Rat wollt ; wir werden Euch antworten ; wir wollen auch zu
Euch kommen, und Ihr sollt zu uns kommen zu gemeinsamer Beratung.
134 Kleine Beiträge und Mitteilungen
Die gesamte Jugend wird heute verlangt; stellt nicht beiseite, versäumt nicht den Augen-
blick, der über Deutschlands Schicksal entscheidet !
Aus demselben Kreise und derselben Zeit stammt ein zweites Flugblatt,
gerichtet an die Schüler und Schülerinnen der oberen Klassen der
höheren Lehranstalten Hessens. Es gibt vornehmlich praktische An-
weisungen zur Verwirklichung der Gedanken und Ziele der Jugendbewegung
und bietet damit ein anschaulicheres Bild des Erstrebten. Unterzeichnet haben
es der Leiter der Anstalt G. H. Neuendorff und i. A.: A. u. Gl. Brügelmann.
Es lautet:
Kameraden! Kameradinnen! Gründet Schülerausschüsse! Die Schule im neuen Deutsch-
land muß von den Schülern mit geschaffen werden. Überlegt Eure Forderungen und verwirk-
licht sie mit Verantwortlichkeitsgefühl, Eifer und Uneigennützigkeit. Helft Sicherheiten schaffen,
daß der neue Geist auch in den Schulen zur Herrschaft kommt ! Die neue Schule ist das wich-
tigste Stück am kulturellen Neubau Deutschlands. Laßt persönliche Beweggründe: Ehrgeiz, Ver-
geltungssucht beiseite!
Wie kommt ein Schülerausschuß zustande?
Jede Klasse von Untersekunda aufwärts, an den Lehrerseminaren alle Klassen, an den Lyzeen
die zwei oberen Klassen, wählen drei ihrer tüchtigsten und innerlich vornehmsten Mitglieder
als Angehörige des Schülerausschusses. Sie suchen sich — wenn vorhanden — einen inner-
lich jung gebliebenen Lehrer, der ihr Vertrauen hat, möglichst nach Verhandlung und im Ein-
verständnis mit dem Direktor als einen Vertreter des Lehrerkollegiums. Wenn Ihr keinen findet,
müßt Ihr die Arbeit allein tun. Dieser so gebildete Schülerausschuß wählt das geeignetste Mit-
glied zum Leiter der Versammlungen; es braucht nicht der Lehrer zu sein. Der Schüleraus-
schuß veranstaltet regelmäßig Aussprachesitzungen, zu denen kein anderer Lehrer oder Schüler
Zutritt hat. Rückhaltlose Offenheit! Keine Furcht vor Schulstrafen oder Gegnerschaft der
Lehrer! Alle freiheitlich Gesinnten stehen hinter Euch!
Zu den regelmäßigen Gegenständen der Besprechungen gehören:
1. Vorbringen von Wünschen an die Leitung oder die Lehrerkonferenz über bildende Ver-
anstaltungen, die sonst in der Schule nicht stattfinden, z. B. Besprechungen über Alkohol-
frage, Geschlechtsfrage, Berufsfrage, staatsbürgerliche Fragen, politische Angelegenheiten,
Hochschulwesen, Frauenfrage, Fragen der Hygiene usw. Für solche Veranstaltungen steht
Euch jederzeit ein Vertreter der Erzieher oder der älteren Schüler der Dürerschule zur Ver-
fügung.
2. Veranstaltung von Schülerversammlungen zur Orientierung über die Jugendbewegung. Lest
dazu die Zeitschrift „Freideutsche Jugend" (Verlag Adolf Saal, Hamburg) und die Veröffent-
lichungen der Dürerschule: „Bücher der Dürerschule I— III " (Verlag B. G. Teubner, Leipzig.
Berlin), Vierteljahrschrift „Dürerschule" (Verlag Ehrenklau, Lauterbach, Hessen, auch durch
die Geschäftsstelle der Dürerschule Hochwaldhausen zu beziehen). Auch hierfür stehen
wir Euch zur Verfügung.
3. Anträge an die Schulleitung oder die Lehrerkonferenz über Einrichtungen der Schule:
Schülerlesezimmer mit Bücherei, Zeitschriften und Zeitungen (Vorschläge machen wir Euch
nötigenfalls), Spiel- und Sportplätze.
4. Anträge über Veranstaltungen der Schule: Wanderungen, Besichtigungen, Schulfeste. Wie
sie gefeiert werden sollten, seht Ihr im Dritten Buch der Dürerschule: „Das Fest".
5. Aufbauende Kritik an den bisherigen Einrichtungen und Veranstaltungen der Schule. Vor-
schläge zur Besserung. Beispiele im Zweiten Bericht der Dürerschule, Kapitel Gemein-
schaftserziehung.
6. Der Vervollkommnung der Schule dienende, nicht aus persönlichen Motiven entspringende
Kritik an Unterrichtsmethoden und Unlerrichtsgegenständen, Vorschläge zur Besserung.
7. Ehrliche, offene Aussprache über das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Herbei-
führung gemeinsamer Aussprachen mit den Lehrern. Habt den Willen zur Verständigung,
kämpft aber gemeinsam gegen Ungerechtigkeit und Vergewaltigung!
8. Schaffung einer neuen Schulmoral, ohne die Euch entwürdigenden Mittel des Abschreibens,
Vorsagens, überhaupt aller auf Täuschung berechneten Mittel, die bisher im Schwünge
waren. Geht dabei Euren Kameraden mit gutem Beispiel voran!
Wie kommen Beschlüsse des Schülerausschus%ßs zustande?
Die Ergebnisse der Besprechungen werden zu Anträgen zusammengefaßt. Über die Anträge
Kleine Beiträge und Mitteilungen 135
■wird darch Handaufhebung mit '/s oder ^/4 Mehrheit entschieden. Jedes Mitglied des Schüler-
ausschusses hat 1 Stimme. Die Besctilüsse des Schülerausschusses werden — wenn vorhanden —
durch Vermittelung des ihm angehörenden Lehrers, sonst durch den Vorsitzenden des Schüler-
ausschusses dem Direktor als Anträge an die Leitung oder die Lehrerkonferenz vorgelegt. Falls
ein Antrag nicht entgegengenommen werden sollte, wendet Euch an die Schulabteilung des
Hessischen Ministeriums des Innern und gebt uns Nachricht.
Gemeinsame Tagungen von Schülerausschüssen.
Die verschiedenen Schülerausschüsse in den einzelnen Städten veranstalten gemeiosame
Sitzungen; die Vertreter sämtlicher Schülerausschüsse Hessens laden wir zu einer gemeinsamen
Besprechung nach der Dürerschule Hochwaldhausen ein. Genaueres darüber in kurzer Zeit.
Gebt uns sofort nach Bildung der Schülerausschüsse die Anschriften Eurer Vorsitzenden an '.
Unterrichtet uns über jedes wichtige Vorkomnmis! Besprecht die Gründung einer gemeinsamen
den Interessen der Schüler dienenden hessischen Schülerzeitschrift!
.Jugendbünde.
Wenn Ihr Euch in gemeinsamem Wollen gefimden habt, erwägt Euren Zusammenschluß zu
örtlichen Jugendbünden, die gegenseitiger Anregung, Stärkung, Erziehung zu adeliger Gesinnung
und jugendlichem Tun dienen sollen. Der Beitritt zu solchen Jugendbünden wird Euch von der
Schulbehörde genehmigt werden. So wird die Erweiterung der Selbstverwaltung der Schüler
angebahnt werden. Ziel ist: Jede Schule eine Schul gemeinde; eine durch einen eigenen Stil
und durch selbstgeschaffene' Gesetze zusammengehaltene Lebensgemeinschaft grundsätzlich
gleichberechtigter Persönlichkeiten, eine in Kameradschaftlichkeit verbundene Gemeinde ohne
Unterschied des Geschlechtes, Standes, Besitzes. Ihre gesetzgel)ende Gew£ilt liegt in den Händen
der Gesamtheit der Lehrenden und Lernenden. Sie erfaßt den ganzen Menschen; die Schule
wird zur wirklichen Heimat ihrer jugendlichen Glieder. Sie arbeitet durch Freimachung der
Produktivität aller ihrer Angehörigen mittelt)ar und unmittelbar am geistigen Fortschritt der
Menschheit mit, schafft selbst Kultur, wird ein geistiges Zentnim im Leben des Volkes.
Den Schülerbünden gehören grundsätzlich nur Jugendliche an. Innerlich jung gebliebene
Lehrer sollen nicht ausgeschlossen sein. Auch ehemalige Mitschüler und -Schülerinnen und An-
gehörige anderer Schulen können aufgenommen werden. Eine strenge Auslese muß gewähr-
leistet sein; es kommt auf die innerlich vornehme Gesinnung an. Neue Mitglieder wären des-
halb nur mit großer Mehrheit bei der At)stimmung aufzunehmen.
Aufgaben der Schülerbünde.
1. Körperliche Durchbildung durch: rhythmische Gymnastik, künstlerischen Tanz (kein kritik-
loses Tanzen von Volkstänzen I), Turnen, Schwimmen, Skilaufen, Sport, Spiel aller Art.
2. Geistige Bildung: Vorträge, Diskxissionsabende über alle Fragen des Lebens und der Er-
kenntnis, von denen Ihr glaubt, daß sie Euch angehen.
3. Kunstpflege: Veranstaltimg von .\usst eilungen, Musikaufführungen, literarischen Abenden.
Wir wollen Euch dabei gern durch Nachweis von Schriften und Noten, Aufstellen von Pro-
grammen usw. behilflich sein. Gemeinsame Veranstaltungen zur Erarbeitimg künstlerischer
Kenntnisse, dadurch Bildung eines klaren Urteils und eines unbestechlichen Geschmacks:
Ihr sollt das neue Publikum werden, das ein bewußtes Verhältnis zu den wirklich großen
Künstlern der Gegenwart hat und nicht mehr abhängig ist von fremdem Urteil.
4. Pflege einer stilvollen jugendlichen Geselligkeit. Kein gedankenloses und stilloses Ge-
nießen! Gnmdsätzlicher Ausschluß von Alkohol und Nikotin.
5. Erweckung und Pflege von Vaterlandsliebe ; das soll nicht heißen : blinder, lauter „Patrio-
tismus'', das soll heißen: Liebe zur Heimat; sie erwächst aus gemeinsamen Wanderungen,
Ferienreisen, Besichtigungen von kulturell bedeutsamen Stätten.
6. Erziehung zu sozialem Denken und Handeln innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft,
überhaupt Schaffung eines neuen jugendlichen Lebens vor eigener Verantwortung
und in innerer Wahrhaftigkeit
„Laßt Euch den Freundschaftsbund Eurer Jugend, den Jugendbundesstaat, ein Bild
werden des vaterländischen Staates, dessen Dienst Ihr bald Euer ganzes Leben weihen
wollt! Haltet fromm bei Tapferkeit, Ehre und Gerechtigkeit! . . . Lasset uns aus
dem Freimdschaftsbund Eurer Jugend den Geist kommen in das Leben unseres
Volkes ; denn jünglingsfrisch soll nns erwachsen deutscher Gemeingeist, für Vater-
land, Freiheit und Gerechtigkeit" (I.F.Fries, 1817.)
Nehmt Euch nicht alles zu gleicher Zeit vor, sondern sucht Euch das aus, was Eurer Lage, den
Verhältnissen in Eurer Stadt, Euren Neigungen und Fähigkeiten am nächsten liegt!
136 Kleine Beiträge und Mitteilungen
3. Das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung;
hat wie an die höhere Lehrerschaft so auch an die Schüler und Schülerinnen
der höheren Schulen Preußens eine Verfügung gerichtet, unterzeichnet von
Konrad Haenisch. In ihr werden die Bestimmungen für die neuen Ein-
richtungen der „Schülergemeinde und des Schülerrates" mitgeteilt. Voran-
gestellt und angefügt aber sind die folgenden ermunternden und mahnenden
Ausführungen :
Die neue Regierung des Freistaates Preußen wendet sich an Euch, die Schülerschaft der
höheren Schulen Preußens, insonderheit an die Älteren unter Euch, um Euch zu sagen, was
sie der Schule und der Jugend zu bringen hat und was sie von Euch erwartet.
Aus der Schule sind in schöner Begeisterung Tausende hinausgestürmt in den Krieg, um
ihr junges Leben dem Vaterland zu weihen. Sie haben voll Sehnsucht nach letztem Ernst und
wirklicher großer Pflicht die Gelegenheit zu höchster Bewährung und Treue ergriffen, die ihnen
der Krieg zu bieten schien. Erschüttert und dankbar gedenken wir noch einmal dieses Auf-
flammens jugendlichen Opfermutes, tief erschüttert der furchtbaren Opfer, die dieser Krieg gerade
aus den Reihen der Jugend gefordert hat. Eine Jugend, die so ihre Treue mit ihrem Blute be-
siegelt hat, können und wollen wir nicht mehr als eine unreife und unmündige Masse behandeln.
Auch Ihr, die Jugend und die Schule, sollt teilhaben an der neuen Freiheit und Selbstbestim-
mung unseres Volkes. Und wir hoffen, daß vieles, was unter einem veralteten und toten System
der Unfreiheit in Eurer Seele noch hungern, kranken und verkrüppeln mußte, in der neuen
Welt der Freiheit gesunden und aufblühen wird.
Um einen Anfang zu machen mit der Befreiung schlummernder und gebundener Kräfte der
Jugend, um ihr eine erste Möglichkeit zu eröffnen, aus innerer Wahrhaftigkeit und unter eigener
Verantwortung an der Gestaltung ihres Lebens mitzuwirken, und um die Richtung zu bezeichnen,
in der sich unsere Arbeit an der öffentlichen Erziehung bewegen wird, für die alle Erziehung
nur Hilfe zur Selbsterziehung ist, bestimmen wir:
An jeder höheren Schule (Vollanstalt) sowie an den Lehrer- und Lehrerinnenseminaren,
Präparandenanstalten, Oberlyzeen und Studienanstalten wird bis Ende dieses Jahres eine Ver-
sammlung sämtlicher Lehrer und sämtlicher Schüler, an den höheren Schulen von der Klasse
Obertertia an aufwärts, einberufen. Diese Versammlung wählt in geheimer Wahl mit gleichem
Stimmrecht der Lehrer und Schüler einen Lehrer zum Versammlungsleiter. Dieser liest den vor-
liegenden Aufruf an die Schüler vor und stellt die Frage zur Verhandlung, ob man die im
folgenden angegebenen neuen Einrichtungen an der betreffenden Schule einzuführen wünscht.
Es findet eine freie Aussprache darüber statt und zum Schluß eine geheime Abstimmung über
die Einführung. Annahme oder Ablehnung geschieht mit einfacher Mehrheit. Im Fall der Ab-
lehnung muß die Versammlung, jedoch frühestens nach Ablauf von 4 weiteren Wochen, wieder
holt werden, wenn entweder mindestens 30 Schüler oder 5 Lehrer dies verlangen. Über die
Versammlung ist Protokoll zu führen. Wo mit der Demobilisierung zusammenhängende Um-
stände eine Abhaltung der angeordneten Versammlung in der angegebenen Frist nicht gestatten,
kann beim Ministerium um Verlängerung der Frist nachgesucht werden.
Die zur Einführung freigegebenen Einrichtungen sind die ^Schulgemeinde" und der Schüler-
rat. Es gelten für sie folgende Bestimmungen:
1. An jeder höheren Schule (Vollanstalt), bei jedem Lehrerseminar, jeder Präparandenanstalt,
jeder Studienanstalt und jedem Oberlyzeum findet alle zwei Wochen einmal zu einer zum
lehrplanmäßigen Unterricht gehörenden Stunde eine „Schulgemeinde" statt, d. h. eine
völlig freie Aussprache von Lehrern und Schülern über Angelegenheiten des Schullebens,
der Disziplin, der Ordnung usw. Die Leitung der Versammlung hat ein v-on der Schüler-
schaft in geheimer, gleicher Wahl ernannter Lehrer zu übernehmen. An der Schulgemeinde
hat der Leiter der Schule und das ganze Kollegium teUzunehraen, sowie alle Schüler, in
den höheren Schulen und Studienanstalten von der Obertertia an aufwärts. Die Schul-
gemeinde kann ihre Wünsche und Meinungen in der Form von Entschließungen zum Aus-
druck bringen, anordnende oder gesetzgebende Befugnis hat sie jedoch zunächst nicht. In
der Schulgemeinde hat jeder Schüler und Lehrer eine Stimme ; sie beschließt mit einfacher
Mehrheit. Ihre Geschäftsordnung beschließt die Schulgemeinde selbständig. Über die Ver-
handlungen und Beschlüsse wird Protokoll geführt.
2. Die Schulgemeinde wählt aus der Schülerschaft einen Schülerrat, der ständig die Inter-
essen der Schülerschaft zu vertreten und im Einvernehmen mit Schulleitung und Lehrer-
Kleine Beiträge und Mitteilungen 137
Schaft für Ordnung zu sollen hat. Der Schülerrat gibt sich selbst eine Arbeitsordnung^
und legt sie der Schulgemeinde zur Genehmigung vor.
Von jetzt ab wird den Schülern völlige Freiheit zur Bildung unpolitischer Vereine (z. B.
Wandervogelgruppen, Sportvereine, Sprechsäle, Vereine zur Pflege geistiger Interessen oder künst-
lerischer Betätigung usw.) im Rahmen des geltenden Rechts gewährt. Auch dürfen die Schüler-
schaften verschiedener Schulen miteinander in Verbindung treten. Durch die Schuldisziplin findet
keinerlei Beeinträchtigung staatslxirgerlicher Rechte statt. Wir machen es jedoch der Schüler-
schaft zur Pflicht, daß sie dem Ernst dieser Zeit entsprechend für immer absage der Nacli-
äffiing eines veralteten studentischen Verbindungswesens und der Durchseuchimg ihrer Gesellig-
keit mit dem Alkoholismus, über den wir uns eine besondere Aufklärung vorbehalten.
Wir erwarten von der Jugend, daß die neue Freiheit nie zur Entfesselung niederer Triebe
mißbraucht wird, insonderheit würde es einer edlen Jugend unwürdig sein, sie zu irgendeiner
Ungehörigkeit oder gar zur Rache für früher erlittenes Unrecht zu benutzen. Nie werden wir
dazu die Hand bieten. Euer Blick sei nach vorwärts gerichtet Wir erwarten von einer Jugend,
die die furchtbarsten Zeiten unseres Volkes mit Bewußtsein miterlebt hat, die Tausende ihrer
Kameraden als Opfer hat fallen sehen und die jetzt teilhat an dem großen Aufatmen des Volkes,
daß sie den weltgeschichtlichen Ernst dieser Stunde und die große Verantwortung, die auf ihr
ruht, begreife. Wir verlangen von Euch noch keine Stellungnahme zu der politischen Umwälzung
und Neuordnung. Und wo man versuchen sollte. Euch zu einer Entscheidung gegen die neue
Freiheit zu verleiten, da vertrauen wir auf die Macht der Wahrheit und sind gewiß, daß der
gesunde und unverbogene Sinn der reiferen Jugend bald selbst die richtige Stellung zu den
Ereignissen finden wird. Wir wollen keine politisierende Jugend; wir wollen ein freies, freudiges
und unbefangenes Leben der Jugend ; aber kindischer Unfug und leere Gedankenlosigkeit dürfen
darin keine Stätte mehr haben. Wir hoffen, daß die neuen Möglichkeiten zur Mitwirkung an
der Gestaltung Eures Schul- und Gemeinschaftslebens Euch mit einem neuen Gefühl der Mit-
verantwortung für die Zukunft unseres Volkes und mit einem freudigen Eifer zur inneren Er-
neuerung von Schule und Jugend erfüllen werden. Möge ein neues Verhältnis von Kamerad-
schaft zwischen Euch und Euren Lehrern entstehen, möge die Luft der Schule gereinigt werden
von dem Ungeist der toten Unterordnung, des Mißtrauens imd der Lüge. Alle Kräfte unseres
Volkes müssen angespannt werden, um ihm aus furchtbarem Zusammenbruch ein neues, schöneres
Leben zu erringen. Unermüdliche Arbeit und strengste Pflichterfüllung ist das Gebot der Zeit
auch im Lebens- und Wirkungskreis der Jugend.
Wir aber versprechen, daß wir die Arbeit der Jugend nicht nur von einem den Körper
schädigenden Übermaß, sondern auch von allen sinnlosen und verrotteten Resten einer über-
lebten Zeit befreien und nach den Forderungen der neuen Zeit und der ewigen Werte der Mensch-
heit umgestalten wollen. Wir hoffen, der Jugend bald die innere Gewißheit geben zu können,
durch ihre Bewährung in Arl)eit und Freiheit an ihrem Teile mitzuschaffen am Wiederaufbau
unserer Volksgemeinschaft und an der Wiedergebiui unserer Kultur. Möge die Jugend durch
Ernst und Treue ein Vertrauen rechtfertigen, wie es ihr bisher in der Geschichte noqh nie ent-
gegengebracht worden ist.
4. Quellen material für das Studium der Schülerbewegung bietet die Halb-
monatsschrift „Der neue Anfang — Zeitschrift der Jugend". Sie
will eine Weiterfühnmg des von G. Barbizon und S. Bemfeld begründeten
„Anfang" sein, der am April 1913 erschien, zu Kriegsausbruch aber ein-
gestellt wurde. Als Schriftleiter nennt sich Hermann Schlicht. Ebenso hat
in den „Politischen Rundbriefen", herausgegeben von Karl Bittel
(Karlsruhe), die Schülerbewegung ein Organ, das ihre Bestrebungen vertritt
und über die Vorgänge fortlaufend Bericht erstattet. Als Flugblatt unter der
Überschrift „Die Jugend im neuen Volksstaat" ist ein Sonderabdruck von
Nr. 10 verbreitet worden. Auch „Der Aufbau", Flugblätter an die Jugend,
herausgegeben von der Freien Hochschulgemeinde Berlin (zu beziehen durch
Hermann Schüller, Berlin, Bauhofstr. 7) unterstützt (wie seine Nr. 9 „An die
Schüler: Gründet Schulgemeinden!" zeigt) die Schülerbewegung. Von öster-
reichischen Zeitschriften und Blättern seien genannt: Sozialistische Jugend,
Organ der sozialistischen Mittelschüler Wiens (erscheint wöchenthch); Die
kommunistische Jugend, Organ der kommunistischen Proletarierjugend (halb-
138 Kleine Beiträge und Mitteilungen
monatlich); Mitteilungen an alle* Mittelschüler, herausgegeben vom Komitee
zur Bildung eines zentralen Mittelschülerausschusses (wöchentlich).
Elternbund „Neue Schule" nennt sich eine jüngst gegründete Vereinigung,
die im Unterschied zu den schon bestehenden Schulreformgesellschaften eine
Erneuerung des deutschen Jugendbildungswesens auf völlig veränderter Grund-
lage erstreben möchte. Aus ihrem Arbeitsplane ist zu begrüßen und zu unter-
stützen, daß beabsichtigt ist, auch die Versuche zu Schul Verbesserungen
in allen Kulturländern zu prüfen und die neuen Gedanken in Versuchs-
klassen und Versuchsschulen praktisch zu erproben — zwei Bestrebun-
gen, die innerhalb des pädagogischen Lebens der letzten Jahrzehnte immer
wieder angeregt und auch — allerdings nicht in befriedigender Weise —
verwirklicht worden sind. Welche Anschauungen die Gründer des Eltern-
bundes leiten, wird ersichtlich aus den „Leitsätzen", die sie verbreiten. *) In
ihnen wird die deutsche Schule in den folgenden Maßlosigkeiten herab-
gewürdigt :
Was aber leistet die bestehende Schule?
Sie unterdrückt den selbständigen Willen zugunsten einer zwecklosen, ja verderblichen Disziplin,
sie verdirbt den Charakter (schon indem sie einen Interessengegensatz zwischen Schülern und
Lehrern züchtet),
sie läßt angeborene Fähigkeiten ganz oder teilweise verkümmern, hindert Begabungen, sich frei
zu entfalten,
sie gibt an Stelle von Bildung (d. h. demjenigen Verständnis der Außenwelt, welches dazu be-
fähigt, bewußt Stellung zum Leben und seinen Problemen zu nehmen) eine Fülle von Buch-
weisheit, die — weil ohne Beziehung zum Leben — meist schnell wieder vergessen wird,
die eine enorme Belastung des kindlichen Gehirns ist und die überdies in einer Form ge-
lehrt wird, welche meist für ein ganzes Leben die Freude am Lernen ertötet,
sie unterdrückt selbständiges Denken, Urteilen und Kritisieren,
sie lähmt, ja vernichtet die Arbeitsfreudigkeit, so daß das Kind das Nichtstun bald als das Fest-
tägliche empfindet,
sie macht aus glücklichen Kindern sorgengequälte, oft verbittterte Halberwachsene.
Dieser schroffe Gegensatz erklärt sich aus dem Charakter der bisherigen Schule als Instru-
ment des Staates, dessen Bestreben weit mehr darauf hinauslief, sich ruhige, unterwürfige, bequem
zu behandelnde Staatsbürger zu züchten, als harmonische, vollkommene Individualitäten zu ent-
wickeln.
Zu den Zeiten des schärfsten Schulkampfes ist die deutsche Schule nicht
schlimmer geschmäht worden wie in diesen Anklagen. Ganz gewiß bedarf
die deutsche Schule, um die das Ausland uns beneidet hat, in wesentlichen
Stücken tiefgreifender Erneuerung; sie hat ihre Mängel auch selbst erkannt
und an ihrer. Abstellung gearbeitet. Der Richterspruch aber, den sich der
deutsche Elternbund über sie anmaßt, trifft sie zu Unrecht. Die Öffentlichkeit
sollte gegen solche vernichtenden Urteile die schärfste Verwahrung einlegen.
Eine Kundgebung deutscher Hochschullehrer fordert, daß bei der Neu-
ordnung des Bildungswesens die weitesten Kreise aller Lehrenden zuvor be-
ratend gehört werden. Sie lautet: „Eine durchgreifende Schulreform für
Preußen kündigt sich an. Allem Anscheine nach wird bereits im neuen
Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung daran gearbeitet. Bei
der entscheidenden Wichtigkeit, die eine solche Maßregel für ganz Deutsch-
land hat, dürfen die grundlegenden Arbeiten nicht einer kleinen Gruppe von
Reformern überlassen bleiben. Die unterzeichneten Lehrer der Erziehungs-
und Bildungswissenschaft an deutschen Hochschulen halten sich für ver-
1) Anschrift: R. M. Grunwald, Berlin W, Linkstraße 39.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 139
pflichtet, auf die bestehende Gefahr hinzuweisen. Gerade nach den freiheit-
lichen Grundsätzen, die fortan in unserm Staatswesen maßgebend sein sollen,
ist unbedingt zu fordern, daß über eine umfassende Neuordnung die weitesten
Kreise derer, die sie als Lehrende an Universitäten, höheren Schulen und
Volksschulen später zu vertreten und durchzuführen haben, vorher in
freiester Meinungsäußerung gehört werden. Nur aus der gemeinsamen
Arbeit aller Beteiligten kann, wenn es gehngen soll, ein so ungeheuer ver-
antw'ortungsvolles Werk hervorgehen."
Barth (Leipzig), Baumgarten (Kiel), Becher (München), Bergmann (Leipzig), Bernheim
(Greifewald), Braun (Münster), Budde (Hannover), Cauer (Münster), Cohn (Freiburg i. B.).
Ettlinger (Münster), Eucken (Jena), Fries (Halle), Frischeisen-Köhler (Halle), Hensel
(Erlangen), Hönigswald (Breslau), Jaeger (Kiel), Kabitz (Münster), Kerschensteiner
(München), Koppelmann (Münster), Kowalewski (Königsberg), Lehmann (Posen), Litt
(Bonn), Maier (Heidelberg), Marbe (Würzburg), Mausbach (Münster), Messer (Gießen),
Misch (Göttingen), Natorp (Marburg), Nohl (Jena), Rehm (München), Rehmke (Greifswald),
Rein (Jena», Riehl (Berlin), F. J. Schmidt (Berlin), Scholz (Breslau), Schwarz (Greifewald).
Stern (Hamburg), St öl zle (Würzburg), Troeltsch(Berlin),Wentscher(Bonn), Ziehen (Frankfurt).
Nachrichten. 1. Die Auskunftsstelle für Kleinkinderfürsorge im
Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Berlin W 35, Potsdamer Str. 120,
versendet neue Verzeichnisse ihres Leih gut es. In 30 Lesemappen sind
Richthnien, Beschreibungen und Berichte vorbildlicher Einrichtungen der Klein-
kinderfürsorge gesammelt, Anregungen z. B. für die Veranstaltung von Mütter-
abenden, sowie Lehrpläne von Ausbildungsstätten für Pflegerinnen und Er-
zieherinnen des Kleinkindes zusammengestellt worden. Die Mappen stehen
gegen Ersatz der Portokosten zm* Verfügung. Eine Ausnahme bilden Lehr-
pläne, Zeichnungen von Kindergartenmöbeln, Baupläne und Bildersammlimgen,
für die geringe Leihgebühren erhoben werden. Für aufklärende Vorträge über
die Entwicklung, Pflege und Erziehung des Kleinkindes in Anstalt und Fa-
milie werden Lichtbilder verliehen.
2. Mit Beginn des nächsten Sommerhalbjahres wird an der Universität
Leipzig ein Institut für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde
begründet und der Leitung des ordentlichen Professors der Philosophie und
Pädagogik Dr. phil. Eduard Spranger unterstellt. Diesem Institute werden
vom gleichen Zeitpunkte ab das Philosophisch-pädagogische Seminar und das
Praktisch-pädagogische Seminar der Universität eingegliedert.
3. Das Psychologische Institut des Leipziger Lehrervereins hat
seine durch den Krieg unterbrochene Tätigkeit wieder aufgenommen. Unter
Leitung des 2. Vorsitzenden Joh. Schlag führt der „Ausschuß zur Untersuchung
der Begabten" seine Arbeit weiter. Der wissenschaftliche Leiter Dr. Max
Brahn kündigt drei Vorträge über „Spiritismus und Okkultismus" an. Weiter
wird eine Vortrags- und Übungsreihe „Intelhgenz und Wille in ihrer sozial-
psychologischen und sozialpädagogischen Bedeutung" durch Dr. Brahn ver-
■anstaltet.
4. Der ordenthche Professor der Philosophie und Pädagogik und Direktor
des philosophisch-pädagogischen Seminars an der Universität Leipzig Dr. phil.
Eduard Spranger ist vom Sächsischen Kultusministerium ermächtigt worden,
zu seiner Information dem Unterricht an den höheren Schulen einschließlich
der Lehrer- und Lehrerinnenseminare beizuwohnen, eine Maßnahme, die
wegen der unerläßlichen Fühlungnahme der erziehungswissenschaftMchen
Forschung und Lehre mit der Wirklichkeit des Schullebens sehr zu begrüßen ist.
140 Kleine Beiträge und Mitteilungen
5. An der Berliner Technischen Hochschule habilitierte sich Dr. Walter
*Moede für das Gebiet der industriellen Psychotechnik ; gleichzeitig erhielt
er die Leitung des Institutes für industrielle Psychotechnik, das als
Abteilung des Versuchsfeldes für Werkzeugmaschinen und Betriebslehre (Pro-
fessor Dr. Schlesinger) errichtet wird.
6. Ein deutscher Verein zur Fürsorge für Jugendliche Psycho-
pathen ist im Anschluß an die Tagung für Psychopathenfürsorge im Ok-
tober 1918 gegründet worden. Er will der Erforschung der psychopathischen
Konstitutionen dienen und die praktische Fürsorgearbeit in Deutschland an-
regen, ausbauen und zusammenfassen. Die Geschäftsstelle befindet sich in
Berlin, Monbijouplatz 3.
7. Aus dem psychologischen Institute des Leipziger Lehrerver-
eins sind Rudolf Schulze und Paul Schlager zu einer Vortragsreise
nach Schweden eingeladen worden. Sie werden vor den Professoren und
Studenten der Universität üpsala, vor den Schulinspektoren Schwedens, vor
der Lehrerschaft Stockholms, vor der Schwedischen Pädagogischen Gesell-
schaft und anderen Körperschaften über experimentelle Psychologie und über
Begabtenf orschung sprechen.
8. In der 2. Hälfte des Handelshochschulkursus der Stadt Nürn-
berg für den Winter 1918/19 findet sich die Psychologie vertreten mit
der Vorlesungsreihe „Grundzüge der Wirtschaftspsychologie" (mit einem Über-
blick über Aufgaben, Verfahren und Hilfsmittel der Eignungsprüfungen für
das Berufsleben). Dozent ist Prof. Dr. Aloys Fischer, München, der außer-
dem noch die Vorlesungen über „Philosophische Strömungen der Gegenwart"
übernommen hat.
9. Die Pflegschaft der Robert Rißmannstiftung (Anschrift: Rektor
Pretzel, Berlin, Prenzlauer Allee 277) setzt in diesem Jahre vier Preise
für Arbeiten wissenschaftlichen Gepräges aus. Die Wahl des Gegenstandes
steht frei; erwünscht ist die Behandlung von erziehungswissenschaftlichen
Fragen, die durch die Zeitbewegung in den Vordergrund gerückt sind.
Literaturbericht.
Prof. Dr. M. Lazarus, Das Leben der Seele in Monographien über seine Er-
scheinungen und Gesetze. I. Band. Unveränderter Neudruck der dritten Aufl. Berlin
1917. Dümraler. 414 S. 7,50 M.
Das dreibändige Werk, das trotz seines hohen Alters — der erste Bd, erschien 1855 in
erster, 1883 in dritter Auflage — noch immer im Buchhandel verlangt wird, liegt mit diesem
Neudrucke nun wieder vollständig vor. Es sind heute seltener die Fachpsychologen, die es fur
Hand nehmen, als solche Kreise, die bestimmte Probleme des Geisteslebeus in allgemeinerer
Betrachtungsweise besehen und durchdenken wollen. In der Tat findet sich in den Monographien
von Lazarus die psychologische Seite seines Gegenstandes oft weniger berücksichtigt als die
ethische, soziologische und kulturphilosophische. Heute wie vor Jahrzehnten bildet dabei neben
der geistvollen Durchdringung vor allem die Kunst des Darsteliens einen besonderen Reiz. Bd. I
enthält die Abhandlungen über Bildung und Wissenschaft, über Ehre und Ruhm, über den Humor
und über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit; Bd. II untersucht Geist und Sprache;
Bd. III handelt über Takt, Kunst, Freundschaft und Sitten. Tr.
Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer
Betrachtung. Stuttgart 1917. Ferd. Enke. (Inzwischen 2. Aufl.) VI u. 344 S. 12,60 M.
Dessoir ist der einzige Psychologe an deutschen Universitäten, der sich seit langer Zeit mit
allen Erscheinungen des Okkultismus beschäftigt. Es gibt wenige in der Welt, die über eine
Literaturbericht 141
größere Erfahrung verfügen wie er, und so darf man von einer umfangreichen Veröffentlichung
bei ihm erwarten, daß sie Besonderes gibt. In der Tat ist das ganze Gebiet zusammengetragen
und kritisch durchleuchtet. Dabei merkt man Dessoir an. wie er mit den Jahren sich von dem
Treiben der Spiritisten immer abgestoßener fühlt und mit großer Härte über sie urteilt. Die
Berichte aus seiner eigenen Erfahrung, sowie solche aus der Literatur zeigen in gleicher Weise,
wie alle spiritistischen Erscheinungen in gleichem Maße uDler den Fingern zerrinnen, wenn
man sie scharf untersucht. Die Erscheinungen des Unterbewußtseins, des seelischen Automa-
tismus, der Fernwirkung sind ebenfalls ausführlich dargestellt; doch wird hier wohl mancher
Leser eine systematische Zusammenfassung der Begriffe etwas vermissen. Manchmal löst sich
die Darstellung in sehr interessante und aufklärende Einzelerscheinungen auf, und ich würde
eine Auseinandersetzung über das Wesen des Mediums sehr begrüßen.
Etwas ganz Besonderes ist die Darstellung der Geheimwissenschaft ; eindringlich und amüsant
zugleich die Darstellung des Kabbalistischen, ein wahres Meisterstück. Bei der Darstellung der
Theosophie dagegen muß selbst D. logisch versagen: denn diese Dinge logisch darzustellen, ist
selbst dem größten Meister nicht möglich. Er betont mit Recht die ethische Bedeutung dieser
Richtung, zeigt aber dem Leser aufs schärfste, daß sie wohl selbst auf logische Begründung
keinen Wert legt. Der Versuch, die ganzen Geheimwissenschaften in die geistige Entwicklung
hineinzustellen und imter dem Titel des magischen Idealismus ihren Zusammenhang mit dem
philosophischen Idealismus zu zeigen, bietet etwas ganz Neues. Die Denkmittel des magischen
Idealismus vrtrken aufklärend für das Verständnis dieser Dinge vom tiefsten Altertum bis zur
heutigen Zeit. Dessoir nennt richtig diese ganze Bewegung „den im Wachstum zurückgebliebenen
Bruder des logischen und ethischen Idealismus" und fordert zur philosophischen Besinnung
dringend auf. Jeder Leser wird durch Zustimmung imd Ablehnung zu dem Einzelnen sich tief
bereichert fühlen.
Leipzig. Max Brahn.
Rudolf Lehmann, Lehrbuch der philosophischen Propädeutik. Vierte, neubearbeitete
und vermehrte Aufl. Berlin 1917. Reuther u. Reichard. 178 S. 4 M.
Das Lehmannsche Lehrbuch will dem Anfangsunterricht in der Hochschule wie dem Abschluß
der Bildungsarbeit in den höheren Lehranstalten dienen. In abgerundeten Teilen behandelt es die
Grundzüge der Logik, gibt dann einen Ausblick auf die Erkenntnistheorie und bewegt sich etwas
länger in der Psychologie, um schließlich die Grundbegriffe der Ethik zu erörtern und mit einer
Einführung in die Ästhetik abzuschließen. Die große Schwierigkeit, aus diesem ungeheueren
Gebiete das Wesentliche so aufzugreifen, daß in engem Rahmen ein einigermaßen geschlossenes
Ganze ersteht, hat Lehmann ausgezeichnet gemeistert, und wir sind ihm im eigenen Unterricht
streckenweise gern gefolgt. Seine Darstellung ist durchgängig hinstellender Art; von ihr darf
also vorwiegend nur die Vermittlung von Wissen und nicht auch die Anregung zum philo-
sophischen Denken, wie sie eine mehr untersuchend gehaltene Gestaltung ermöglicht, erwartet
werden. Seh.
Max Frischeisen-Köhler, Grenzen der experimentellen Methode. Berlin 1918.
Union, Deutsche Verlagsgesellschaft. 30 S. Preis 1 M.
Verf. will „die Eigenart der experimentellen Methode, die nicht unterschätzt, aber auch nicht
ül)erschätzt werden darf, und die Grenzen ihrer Anwendbarkeit und Tragweite grundsätzlich dar-
stellen". Schon innerhalb der Naturwissenschaften ist das Experiment nicht das einzige Hilfs-
mittel; es gibt Gebiete, wo es überhaupt nicht oder nur beschränkt anwendbar ist (kosmische Vor-
gänge) und wo es gegenüber anderen Betrachtungsweisen an Bedeutung zurücktritt. In der
allgemeinen Psychologie ist die Anwendung des Experiments zweifellos schwieriger, ihre
Möglichkeit aber heute nicht metir mit stichhaltigen Gründen anfechtbar. Damit ist al)er
noch keineswegs erwiesen, daß es auf alle Erlebnisse in gleicher Weise angewandt werden kann.
Jeder psychologischen Versuch-anordnung eignet eine absichtliche Künstlichkeit und Lebensfeme,
aber auch wo sie in eine größere oder geringere Lebensnähe gebracht wird, kann sie in das
Leben selbst (unmittelbar) nicht eingreifen, ohne die Vorteile, die in ihrer Künstlichkeit liegen,
aufzuheben. Es ist immer scharf zu sondern zwischen dem eigentlichen Experiment und all
den absichtslosen oder planmäßigen Einflüssen, Einwirkungen imd Wagnissen, in denen das
praktische Leben fortschreitet. Es ist in der Gegenwart nicht mehr fraglich, daß die experi-
mentell zu prüfenden Elementarfunktionen nur die niederste Schicht unseres Seelenlebens dar-
stellen, denen gegenüber die seelischen Kräfte, auf denen der Aufbau der Gesellschaft und der
geistigen Gemeinschaft beruht, als Kräfte höherer Ordnung und von selbständiger Gesetzmäßig-
keit angesehen werden dürfen, denen wir mit den Mitteln der experimentellen Methode und der
1 42 ' Literaturbericht
Laboratoriumstechnik nicht beikommen können. Hier sieht sich die Psychologie zu einer grund-
sätzlichen Erweiterung ihrer Methoden gezwungen ; denn wir können aus den elementaren Funk-
tionen das konkrete seelische Leben mit seiner Inhaltlichkeit, seinen Werten, seinen schöpfe-
rischen Synthesen, seinem geschichtlichen Wachstum, seinen Gemeinschaftsbildungen nicht wieder
aufbauen. Auch wird die Anwendung des Experiments, wenn es in seinem streng methodischen
Sinne verstanden wird, auf die Pädagogik, auf den eigentlichen BUdungs Vorgang wenig Erfolg
erwarten lassen. Ausdrücklich muß zugegeben werden, daß sich die Einwirkung von Unter-
richtsmethoden auf das Kind nach gewissen Seiten hin systematisch erproben läßt, aber nur,
wenn es nach dem Vorbilde des psychologischen Experiments, auf die möglichste Isolierung der
Wirkungen, auf die Analyse der Elementarfunktionen bedacht ist, und deshalb wird es, allem
Protest und allen Voraussetzungen zum Trotz, auf den elementaren Unterricht beschränkt bleiben.
Dennoch wird niemand verkennen dürfen, was ein Durchgang durch die experimentelle Pädagogik
für den Pädagogen bedeutet: abgesehen von allen positiven Kenntnissen verleiht sie eine
Schulung und Unbefangenheit in der Würdigung der Tatsachen, die nicht verloren gehen kann,
aber sie verführt gar leicht dazu, die Seiten der Sache, die einer exakten Methodik nicht er-
faßbar sind, zu sehr zurücktreten zu lassen. Sie begünstigt eine einseitige Berücksichtigung
des Erwerbes von Fertigkeiten, während das emotionale und das Willensleben mit seiner Fülle,
seinen Tiefen, seinen Problemen von ihr aus nicht erfaßt werden kann. — Man wird nicht um-
hin können, zu betonen, daß der Verfasser bei aller Vorsicht und Eindringlichkeit die Grenzen
zumal des pädagogischen Experiments, etwas weit nach links gerückt hat.
Kiel. Marx Lobsien.
Dr. Alois Höfler und Dr. Stephan Witasek, Hundert psychologische Schul-
versuche mit Angabe der Apparate. 4. Auflage. Leipzig 1918. Ambrosius Barth.
55 S. 3,00M.
Das vor zwei Jahrzehnten erstmals erschienene Heft verlangt einen neuen Hinweis durch
die Zugabe, die ihm durch Dr. WUlibald Kammel, den Leiter des pädagogisch -psychologischen
Laboratoriums in Wien, geworden ist. Ohne diesen Nachtrag wäre die Aufzählimg von
100 Versuchen, die überwiegend der Sinnesphysiologie und -psychologie entnommen sind und
zumeist mit dem Rüstzeuge der physikalischen Kabinette arbeiten, kaum noch für einen Psycho-
logieunterricht brauchbar, der mit der Entwicklung der experimentellen Seelenlehre und Pädagogik
in jüngerer Zeit die Fühlung halten will. Kammeis Auswahl in seiner Beigabe ist gut; wir
haben die von ihm empfohlenen Versuche neben vielen anderen fast ausnahmslos in unserem
eigenen psychologischen Unterrichte erprobt und durchweg brauchbar gefunden. Eine 5. Auflage
des Buches müßte eine völlige Umarbeitung bringen, die eine Anzahl Versuche geringeren
bildenden Wertes ausscheidet, viel reichlicher das Gebiet der höheren Funktionen bedenkt und
dabei die Ausführung mit möglichst einfachen Mitteln zeigt. Aufnahme verdienen u. a. einige
neue Versuche, die Rupp in seiner Arbeit „Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik"
(Zeitschrift f. päd. Psychologie, Bd. XV— XX) beschreibt.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Hermann Roth, Das sittliche Urteil der Jugend. Nach Experimenten an höheren
Lehranstalten. Borna- Leipzig 1915. Noske. 78 S. 1,20 M.
Roths Arbeit ist ein schätzenswerter Beitrag zu den noch wenig zahlreichen moralpsycho-
logischen Untersuchungen an Jugendlichen. Die Versuchspersonen stellten die Sexta, Unter-
tertia und Obersekunda aus einem Realgymnasium und zwei Gymnasien der Rheingegend. Roth
legte ihnen eine Reihe von anschaulichen „Fällen" aus der Geschichte und dem Leben vor und
schloß an einen jeden eine Frage an, deren Beantwortung ein sittliches Urteil abverlangte. So
wurde z. B. gefragt: „Verdiente der Feldherr Strafe?" — „Wie stellst du dich zu dem Tun des
Primaners?" — „Hat der junge Mann recht gehandelt?" Die Antworten waren namenlos ein-
zugeben. Empfehlenswerter ist es, aus leicht ersichtlichen Gründen die Texte nicht, wie es Roth
tat, vorzutragen, sondern gedruckt vorzulegen. Jeder der drei Schulen waren überwiegend ver-
schiedene Fälle zur Entscheidung gegeben, wodurch nun eine einwandfreie vergleichende Be-
handlung und eine Aufstellung von Entwicklungsreiben leider verhindert ist. Geprüft wurden
in der Sexta, um nur diese als Beispiel anzuführen, der Sinn für Gehorsam, Selbstgefühl,
Nächstenliebe, Heldenmut, Vergeltung, RechtUchkeit, Gerechtigkeit, innere Wahrheit. Das um-
fangreiche Versuchsmaterial hat Roth nun so behandelt, daß er für jede der drei Altersstufen
seiner Versuchspersonen die für sie kennzeichnenden sittlichen Prinzipien herausarbeitet und
diesen eine besondere, mit statistischen Angaben reichlich durchsetzte Darstellung widmet. Gra-
phische VerbUdlichungen fehlen leider. Die Ergebnisse sind in Kürze diese : Im Alter des Sex-
Literaturbericht 143
taners tritt besonders deutlich Gehorsam, Selbstgefühl und Kameradschaft hervor; beim Unter-
tertianer entwickeln sich in deutlicherer Weise der Sinn für Nächstenliebe und Heldenmut; die
sitthchen Urteile des Primaners aber sind vorwiegend motiviert durch die Grundsätze der Ver-
geltung, Pietät, Rechtlichkeit, Gerechtigkeit, WUligkeit, innere Wahrheit und Treue. Die Ver-
suchsbefunde bestätigen darnach das Bild, das uns aus der freien Beobachtung über die sittliche
Entwicklung der Jugend geläufig und verständlich ist. Einen auffallenden Unterschied in den
Urteilen zweier Untertertien will Roth auf die verschiedene Begabungshöhe der beiden Klassen
zurückführen. Er vertritt also gegen andere Meinungen (z. B. die von Riebesell) die Ansicht,
daß reiferes sittliches Urteil von der Intellektuaiität abhängt — eine Anschauung, die von
Gizyckis Untersuchungen über den Funddiebstahl bestätigt wird. Jedenfalls wagt Roth es nicht,
im Blick auf sein ganzes Material den Unterschied der beiden Klassen, deren eine der Groß-
stadt angehört und vorwiegend dem Kaufmannsstande und akademischen Kreisen entstammt,
während die andere — eine kleinstädtische — einen stärkeren Einschlag von Handwerkers-
söhnen aufweist, aus den Verhältnissen sozialer Schichtung zu erklären.
Leipzig. Otto Scheibner.
Franz X. Schönhuber, Das Kino im Lichte von Schülerantworten. Leipzig 1918.
A. Haase. 38 S. 1,25 M.
Schönhuber bearbeitet in seiner aufschlußreichen Abhandlung, die vom Leiter des päda-
gogisch-psychologischen Instituts in München angeregt worden ist, das Material einer Umfrage.
Sie wurde veranstaltet unter den 31 Schülern einer Münchener achten Volksschulklasse und
bezog sich auf Anleiß, Häufigkeit, Motive, Nachwirkungen und Kosten des Besuches. Ein-
bezogen in das Material sind auch freie Aufsätze, die einer früheren Klasse entstammten. Die
Beantwortungen der Fragen werden von Schönhuber in sachgemäßer tabellarischer Verarbeitung
vorgelegt und kurz besprochen. Sie bes'ätigen im allgemeinen die auch anderorts — so jüngst
in Bern — erhaltenen wenig erfreulichen Befunde. Den angeschlossenen pädagogischen
Folgerungen und Fordenmgen Schönhubers, der das Kino nur unter bestimmten Voraussetzungen
als wertvolles BUdungsmittel anerkennen will, darf restlos zugestimmt werden. Die Aus-
dehnung über eine weit größere Anzahl von Schülern imd Schülerinnen und die Heranziehung
der einschlagenden Literatur wäre wünschenswert gewesen.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. Jakob van den Wyenbergh, Die Organisation des Volksschulwesens auf
differentiell-psychologischer Grundlage. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 102 S. 3,60 M.
Auf Grund einer vorsichtig abwägenden Darstellung und Beurteilung der Tatsachen und Ur-
sachen der differentiell-psychologischen Unterschiede, die uns die wissenschaftliche Begabungs-
forschung und die Erfahrungen der pädagogischen Praxis in engem Zusammen einwandfrei er-
geben, gelangt der Verfasser zu der Forderung, daß für die Volksschule nur eine Differenzierung
nach der allgemeinen Leistungsfähigkeit in Frage kommen könne. „Bei der Feststellung dieser
Leistungsfähigkeit sind in erster Linie die konkreten Schulleistungen maßgebend, jedoch ist die
Verwertung von psychologischen Fähigkeits- und insbesondere Intelligenzprüfungen sehr zu
wünschen, in zweifelhatten Fällen dringend erforderlich." — Den psychologischen Tatbeständen
entsprechend, fordert er an organisatorischen und unterrichtlichen Maßnahmen: Trennung der
Schüler nach der natürlichen Leistungsfähigkeit und Organisation eines differenzierten Volks-
schulsystems, das neben der hergebrachten Höhengliedenmg des Schulkörpers in acht Klassen
eine differenzierte Breitengliederung (Parallelabteilungen) zur Individualisienmg des Unterrichts
aufweist. Das differenzierte Volksschulsystem muß haben, außer einem Klassenaufbau für die
Normalbegablen, besondere Klassenzüge für die weniger Schwachen, die abnorm Schwachen
und die Hochbegabten, außerdem auf der Oberstufe Sonderkurse für die Höchstbefähigten
und die Schüler mit Spezialbegabimg in technischen Fächern. Daneben müssen ungünstige
äußere Einflüsse durch organisatorische und unterrichtliche Maßnahmen möglichst kompensiert
werden, um die Abspaltung der Schwachen auf ein Minimum zu l)eschränken (obligatorische
Schulkindergärten, erweiterter Arbeitsunterricht im ersten Schuljahre bei zeitlicher Hinaua-
sehiebung des Unterrichts im Lesen, Schreiben und schulgemäßen Rechnen, wohlorganisierter
Nachhilfeimterricht sowie sukzessiver Abteilungsunterricht, maßvoll gehaltene Klassenbesetzung).
„Denn soll dem einzelnen Individuum ein wirklicher Fortschritt und der Schule als Gesamt-
orgemismus ein voller Erfolg beschieden sein, dann darf sich die besondere Fürsorge weder
allein auf die ,Sorgenkinder', noch allein auf die ,Hoffnungskinder' beschränken, vielmehr haben
sich die praktischen pädagogischen Maßnahmen zur Hebung der Volksschule auf ihre einheit-
liche Gesamtheit zu erstrecken."
144 Literaturbericht
Mit großer Eindringlichkeit und Sachlichkeit weist der Verf. nach, daß für eine Neuordnung
unseres Schulwesens nicht sowohl wirtschaftliche und sozialpolitische Momente als vielmehr
pädagogisch -psychologische, in erster Linie die individuellen Begabungsdiiferenzen maßgebend
sein müssen.
Die sehr treffliche Arbeit darf für die wissenschaftliche wie praktische Behandlung des er-
örterten Problems warm empfohlen werden.
Kiel. Marx Lobsien.
Peter Zillig, Die innere Einheit aller Lehrenden. Ein Beitrag zur pädagogischen
Gesellschaftslehre. Leipzig 1917. Schulwissenschaftl. Verlag A. Haase. 58 S. 1,00 M.
Es ist ein Zeugnis für die Innerlichkeit und Würde, mit der die Herbartianer das Schulwerk
erfassen, daß sie über alle Enttäuschungen hinweg immer wieder ihren Glauben an die innere
Einheit aller derer, denen von Berufs wegen die Erziehung in der Schule anvertraut ist, bekennen
und verteidigen. Angesichts der großen und schweren Zeit, die unser Volk für alle Zukunft aufs
innigste einen sollte, nimmt neben anderen auch Peter Zillig seine schon vor einem Vierteljahr-
hundert und späterhin wiederholt noch vertretenen Gedanken erneut auf. Und seinen Darlegungen
ist anzuspüren, daß er die wahrhaftig nicht geringe Angelegenheit lange im Kopf und Herz be-
wegt hat. Er zeichnet zunächst das wenig erfreuliche BUd der Wirklichkeit, dabei noch still
vorübergehend an der verletzenden gesellschaftlichen Abschließung, die unsere Lehrerschaft der
Volksschule ertragen muß. Den Hauptteil der Schrift bilden dann Ausführungen über all das,
worin sich alle deutschen Lehrer der Jugend eins fühlen sollten : es müßten einigen das gleiche
Ziel und die gleichen Antriebe, die gleichen Pflichten und die gleichen ethischen, psychologischen
und sachlichen Merkmale des Bildungsverfahrens und vieles andere mehr. Eine Betrachtung über
den Wert solcher Einheit führt weiter zu soziologischen Erörterungen, und der Abschnitt über die
Verwü-klichung der Forderung gipfelt in großen Erneuerungsgedanken. Ein Blick auf die ge-
schichtliche Entwicklung der Frage bildet den Schluß.
Stollberg i. Sa. Paul Ficker.
Prof. Dr. Chr. J. Klumcker, Fürsorgewesen. Einführung in das Verständnis der Armut
und der ^rmenpf lege. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 119 S. 1,50 M.
Das Wesen und der Wert der Armenpflege wird hier von dem hervorragendsten Fachmann
des Gebietes dargelegt. Der erste Abschnitt erfüllt eine wissenschaftliche Aufgabe : er behandelt
die „Theorie der Verarmung und der Fürsorge". Es folgen dann die „Hauptstücke des Armen-
rechts und der Armenverwaltung". Den Beschluß bildet eine Einführung in die „praktische Für-
sorgearbeif*. — Es ist hier nicht der Ort, das Buch zu würdigen. Daß es eine Darstellung
ersten Ranges bietet, verbürgt der Name des Verfassers. Wir zeigen es hier an, weil sein
Gegenstand bei näherem Zuschauen mit mehr psychologischen und pädagogischen Problemen
durchsetzt ist, als es von ferne scheinen mag. Schon in manchen Strecken der Geschichte der
Pädagogik kann nur tiefer eingedrungen werden — so in das Wirken Pestalozzis — aus einem
erschlossenen Verständnis für die Armut. Ich möchte der Lehrerschaft auch darum dies Quelle-
Meyer-Bändchen mit besonderer Wärme empfehlen, weil aus ihr viele Kräfte für die Armen-
pflege gestellt werden. Für weiteres Studium weist das Buch dann die Wege in einem aus-
führlichen Schriftenverzeichnis.
Leipzig Rieh Tränkmann.
Fedor Lindemann, Beiträge zur Geschmacksbildung. Ein Buch zur Besinnung und
Belehrung. Mit 53 Abbildungen. Leipzig 1917. Dürr. !25 S. Geh. 3,00 M.. geb. 4,00 M.
Theoretischen Erörterungen über das Wesen des Geschmacks und psychologischen Dar-
legungen über die Natur und die Entwicklung des ästhetischen Gefühls geht das Buch nur
soweit nach, als sie seinem pädagogischen Hauptzweck dienen, die praktischen Wege zur Ge-
schmacksbildung zu ebnen. Vor allem ist es der „geschmackliche Anschauungs-
unterricht", dem der Verfasser auf Grund seiner reichen Erfahrungen zu einer erhöhten
Pflege verhelfen will, einem Anschauungsunterricht, der die Dinge des alltäglichen Umganges
im Lichte des Schönen sehen läßt An zahlreichen Beispielen wird seine Ausführung in reiz-
vollster Weise gezeigt, nachdem vornweg ein aligemeiner Teil das ästhetisch-pädagogisch Grund-
sätzliche erläutert hat. Wir wünschen dem Buch, das selbst mit feinem Geschmack für sprach-
liche und bildliche Darstellung abgefaßt ist, nicht bloß in der Lehrerschaft, der es zunächst
zugedacht sein soU, sondern auch in weiteren Kreisen eine weite Verbreitung und nachhaltige
Wirkung und bekennen gern, daß wir ihm viel Gewinn verdanken.
Leipzig. Otto Scheibner.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
Psychologie und Schule ').
Von William Stern.
Schon einmal, vor ungefähr hundert Jahren, ist der Versuch gemacht
worden, zwischen Psychologie und Pädagogik eine engere Verbindung her-
zustellen, dies geschah durch J. Friedrich Herbart; wie stark dessen auf die
beiden Stützen der Sittenlehre und Seelenlehre gegründetes System der Päda-
gogik im 19. Jahrhundert und bis in unsere Zeit hinein wirksam gewesen
ist, darf als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Aber eine angewandte
Psychologie der Schule in unserem Sinne hat doch Herbart nicht geschaffen;
denn die Psychologie, die er entwickelte, war nicht die Erfahrungswissen schaft
von der Seele des Kindes oder der Seele des Erziehers, sondern eine allgemeine
Psychologie des Menschen, teils auf Selbstbeobachtung, teils auf philosophischer
Konstruktion beruhend. Sie konnte dmch ihre klare Nüchternheit und durch-
sichtige Deutlichkeit dem Lehrer zunächst einen bedeutenden Eindruck machen
und auf einem wichtigen Teilgebiet, dem des Voi-stellungslebens, auch dauernd
wert\^olle Einsichten vermitteln, aber sie wurde weder der qualitativen Fülle
anderer Seelenregungen gerecht, noch der Mannigfaltigkeit seelischer Differen-
zierungen und Entwicklungen, noch der Grundtatsache der inneren Veranlagung
und angeborenen Beschaffenheit des Kindes; denn Herbart bekämpfte die
„Vennögens'* -lehre in jeder Form und glaubte an die Allmacht der von außen
her auf die Seele einwirkenden Reize.
So hat denn die pädagogische Psychologie unserer Zeit im wesentlichen
wieder von vorn anfangen müssen (wobei ihr selbstverständhch die vom
Herbartianismus herkommende Mitarbeit wallkommen und wertvoll war). Sie
hat mit dem geschärften Blick füi' das erfahi-ungsmäßig Gegebene und mit
der neuen psychologischen Methodik unmittelbar die seelischen Probleme
zu erfassen gesucht, die im Kinde, im Lehrer und in der pädagogischen
Tätigkeit, in den Schulreformaufgaben schlummern. Eine große Reihe neuer
Einsichten hat sie bereits trotz ihrer Jugend zutage gefördert; manche alten
Meinungen praktischer Erziehungserfahrungen exakt formuliert und ausgebaut,
andere widerlegt und überwunden. Doch wichtiger als das schon Erreichte
ist, daß sich für die Zukunft unenvartete Ausblicke eröffnen in eine Psycholo-
gisierung unseres Erziehungswesens, und daß den Erziehern eine neue vertiefte
Einstellung auf die seelischen Probleme ihres Berufs gegeben wird.
Die pädagogische Psychologie soll die Einsicht erwecken und zum inneren
1) Die Abhiindlung bildet das II. Kapitel eines später erscheinenden Buches, das unter dem
Titel .Psychologie und Schule" als Abteilung des „Handbuches f. höhere Schulen", herg. v.
Richard Jahnke, veröffentlicht werden wird. — Die Niederschrift des Kapitels stammt aus der
Zeit vor der Umwälzung; auf die neuen Beziehungen zw tschen Psychologie und Schule, welche
durch die veränderten Verhältnisse und die schnell einsetzenden Reformen herbeigeführt werden,
ist daher im Text noch nicht Bezug genommen.
Zeitschrift f. pädagog. Psycliologie. 1')
146 William Stern
Eigentum und Leitgedanken jedes Lehrers machen: „Werdende Persönlich-
keiten sind es, deren seelische Reifung und geistige Bereicherung mir an-
vertraut ist; seelische Hilfsmittel sind es, deren ich mich beim Lehren, Er-
ziehen und Leiten, beim Organisieren und Reformieren bediene; seelische
Tätigkeiten meiner selbst sind es, durch die ich meinen Beruf erfülle. Und
deshalb ist eine fruchtbare Erfüllung meiner Erziehungsaufgabe gar nicht
möglich ohne Verständnis für diese seelischen Unwägbarkeiten, ohne Ein-
fühlung in die so andersartige Psyche der Schüler, ohne Selbstanalyse meines
Strebens und Könnens, kurz ohne psychologische Einstellung."
Auch äußerlich betrachtet ist die pädagogische Psychologie schnell zu einer
bedeutenden Kulturbewegung angewachsen, insbesondere, seitdem eine weit-
gehende Arbeltsgemeinschaft zwischen praktischen Schulmännern aller Gat-
tungen einerseits und Wissenschaftlern (Medizinern und Psychologen) anderer-
seits zustandegekommen ist. Als solche führenden Psychologen seien St. Hall
in Amerika, Binet (Frankreich) und E. Meumann (Deutschland) genannt. Es
entstanden Vereine, Kongresse, Zeitschriften, die ausschließlich oder vor-
nehmlich der pädagogischen Psychologie gewidmet waren; an Universitäten
und Seminaren, in Lehrervereinen und Fortbildungskursen wurden Vortrags-
reihen über das neue Gebiet abgehalten; staatliche psychologische Institute
und eigens von Lehrervereinen gegründete Institute stellten sich in den For-
schungsdienst der neuen Aufgaben; in jüngster Zeit haben auch Schulbehörden
für unmittelbare praktische Aufgaben (z. B. für die Auslese unternormaler
und übernormaler Schüler) die Mitarbeit derPsychologie in Anspruch genommen. 0
Und dennoch ist das alles erst als Anfang zu betrachten. Noch stehen
weiteste Kreise der Lehrerschaft — und nicht zum mindesten gerade der
höheren Lehrerschaft — dem neuen Gebiet gleichgültig und verständnislos,
ja oft ablehnend gegenüber; hier wird nur durch langsame und unbeirrbare
Arbeit Wandel geschaffen werden können, insbesondere dadurch, daß die jungen
Lehrergenerationen ausnahmslos eine vertiefte Schulung in pädagogischer
Psychologie erhalten. Ebenso aber wie der Unterricht muß auch die For-
schungsarbeit erheblich ausgebaut werden; denn die wenigen, meist gering
dotierten Institute mit ihrem an Zahl ganz unzureichenden Mitarbeiterstabe
vermögen auch nicht annähernd die umfassenden Aufgaben zu bewältigen.
') über die Gesamtheit der Veranstaltungen und Organe der pädagogischen Psychologie unter-
richtet bis zum Jahre 1911 das Verzeichnis: Forschung und Unterricht in der Jugendkunde.
(Arbeiten des Bimdes für Schulreform. 1. Leipzig 1912); bis zur Gegenwart führen die ständigen
Berichte in der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie" (früher Meumann und Scheibner, jetzt
Scheibner und Stern), in der Zeitschrift für angewandte Psychologie (Lipmann und Stern) imd in
der Zeitschrift für Kinderforschung (Trüper). Auch auf die Kongresse für Jugendbildung und
Jugendkunde sei in diesem Zusammenhang hingewiesen, die vom Bunde für Schulreform in
Dresden 1911, München 1912, Breslau 1913 veranstaltet wurden. (Berichte bei Teubner, Leipzig.)
An zusammenfassenden Werken über das Gesamtgebiet der pädagogischen Psychologie seien
genannt:
E. Meumann: Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik. 3 Bände.
2. Auflage 1912—1916,
„ „ Abriß der experimentellen Pädagogik. 1914.
K. Groos: Das Seelenleben des Kindes. 4. Auflage 1913.
Gaupp: Psychologie des Kindes (Aus Natur und Geisteswelt. Nr. 213/4). 4. Auflage 1918.
A, Binet: Die neuen Gedanken über das Schulkind. Leipzig 1912.
R. Schulze: Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie und Pädagogik. 3. Auf-
lage 1913.
Psychologie und Schule I47
Institute für Jugendkunde sollten daher an möglichst vielen Orten aus öffent-
lichen Mitteln geschaffen werden, teils als freie Forschungsveranstaltungen,
teils als unmittelbare Organe der Schulverwaltung, da ein „schulpsychologischer
Dienst" ähnlich dem schulärztlichen in absehbarer Zeit eine unabweisbare
Notwendigkeit werden wird. ^)
Da unser Thema „Psychologie und Schule" heißt, so können die mannig-
faltigen anderen Beziehungen, welche die Psychologie zur Kindheits- und
Jugenderziehung hat, beiseite gelassen werden. Unser Buch wird also nicht
bezugnehmen auf das ganze Gebiet der frühen Kindheit bis zum 6. Lebens-
jahre, das seit Preyers Vorgehen vor einem Menschenalter sein- vielseitige
psychologische Pflege gefunden hat. 2) Ebenso lassen wir die Bestrebungen
beiseite, die einer Erforschung des außerschulischen Jugendlebens gelten;
hier haben ja gerade Kulturerscheinungen der neuesten Zeit wie Jugend-
bewegung und Jugendkultm-, Jugendgerichtsbarkeit und Jugendfürsorge,
Jugendpflege und Jugendmilitarisierung brennende Probleme gestellt, die
ohne psychologische Methoden nicht lösbar sind. Es bleiben für uns trotz-
dem noch genug Fragen und Tatbestände übrig, die sich auf die Schule als
solche erstrecken — wobei wir freilich alle Schulgattungen und beide Ge-
schlechter ins Auge fassen.
Dreifach geordnet sind diese Beziehungen zwischen Psychologie und
Schule; denn wir haben eine Psychologie des Schülers nötig, eine der Fächer
und pädagogischen Methoden, eine des Erziehers.
Die Psychologie des Schülers ist ein Teil der „Jugendkunde".
Unter dieser verstehen wir die Wissenschaft von der Jugend in der Gesamt-
heit ihrer Erscheinungen; sie umfaßt also auch die Erforschung der kind-
lichen und jugendlichen Körperbeschaffenheit, der Gesundheit und Krank-
heit, der jugendlichen Kriminalität und Sozialität, der biologischen Erbhch-
keits- und der sozialen Umweltbedingungen, unter denen die Jugend steht.
Aber immerhin bildet doch die Erforschung des jugendhchen Seelenlebens
das eigentliche Zentralgebiet der Jugendkunde, schon deshalb, weil ja auch
alle Einwirkung auf die Jugend den Weg über seelische Bahnen nimmt und
seelische Formung zum letzten Ziel hat. Das jugendliche Seelenleben soll
uns hier beschäftigen, soweit es das Schülerdasein, also das Jahrzwölft vom
7. bis zmn 18. Jahre umfaßt. Man wird hier zimächst an diejenigen see-
lischen Vorgänge und Inhalte denken, die der Schüler in seiner Eigen-
schaft als Schüler zeigt. In der Tat muß sich ja dem Pädagogen vor
allem die Frage aufdrängen, wie das Kind seehsch auf die Anfordenmgen
der Schule reagiert und ihnen gewachsen ist, mit welchen geistigen Mitteln
es die gestellten Aufgaben löst (z. B. auffaßt, auswendig lernt usw.), welche
Begabungen und Interessen es dem Lehrgut und der Unterrichtsmethode ent-
gegenbringt, mit welchen Regungen des Willens- und Gemütslebens die Schul-
*) Zur Begründung obiger Forderungen vergleiche man die Prograuimschrift des Verfassers:
Jugendkunde als Kulturforderung. Leipzig, Quelle & Meyer 1916.
^) Preyers grundlegendes Werk ,Die Seele des Kindes" erschien erstmalig 1882, seitdem
in vielen Auflagen; doch ist es heut im wesentlichen überholt. Über den gegenwärtigen Stand
orientieren die beiden zusammenfassenden Bücher: W. Stern, Psychologie der frühen Kindheit.
Leipzig 1914. K. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes. Jena 1918.
10*
148 William Stern
zucht zu rechnen hat. Das Eingehen auf diese Fragen wird schon sehr dazu
beitragen, dem Lehrer innerhalb der Praxis seiner täglichen Schularbeit jene
erwünschte psychologische Einstellung zu erleichtern; er erkennt, daß nicht
lediglich ein sachliches Objekt, das Lehrgut des Faches, auf den Schüler
sachlich übertragen und von diesem rezipiert wird, sondern daß beseelte
werdende Persönlichkeiten auf seine Tätigkeit reagieren und in diesen Reak-
tionen die Eigenart ihrer Entwicklungsstufe, ihres Geschlechts, ihrer Indivi-
dualität zu bekunden suchen.
Aber immerhin — es sind doch auch nur Reaktionen, von denen wir
eben sprachen; und es ist eine der Hauptthesen der neuen Persönlichkeits-
lehre, daß das Reagieren nur die eine Seite persönlichen Tuns und zwar die
von außen her bestimmte, darstellt. Daneben und darüber erhebt sich die
Spontaneität, das von innen quellende Tun; und sie ist noch viel tiefer
im Wesenskern des Menschen verankert als das bloße Reagieren; sie steht
diesem aber auch nicht schroff gegenüber, sondern durchtränkt es und ver-
flicht sich mit ihm in mannigfacher Weise. Daraus ergibt sich für uns die
Folgerung, daß wir das Seelenleben des Schülers nicht nur kennen lernen
müssen, sofern es reagierend unter den Schulanforderungen steht, sondern
auch in seinen natürlichen, ungezwungenen und unerzwungenen Betätigungen^
in den inneren Gesetzmäßigkeiten der geistigen Entwicklung, im freien Spiel
der Interessen und in den spontanen Regungen des Gemüts und Willens.
Wollten doch die Pädagogen mehr, als es gewöhnlich geschieht, dieser Seite
des Jugendlebens ihre Aufmerksamkeit zuwenden! Sie würden bemerken,
daß die bloße Reaktion auf die unmittelbare Schuleinwirkung nur einen un-
vollständigen Ausschnitt aus der Schülerpsyche zur Erscheinung bringt und
Avürden staunend ganz neue Seiten an ihren Schülern entdecken, die auch
erst ein tieferes Verständnis für die im Unterricht bemerkten und oft falsch
beurteilten Reaktionen vermitteln — so wenn sich zeigt, daß ein als „faul"
geltender Schüler in Wirklichkeit mit zähem, unbeirrbarem Fleiß begabt ist,
der sich aber nur auf einem Gebiet spontanen Interesses, etwa dem Basteln
oder einer Kunstbetätigung oder der Hilfe im väterlichen Geschäft, zu be-
tätigen vermag. Er würde endlich auch bei allen Organisationsfragen, Lehr-
planfestsetzungen, Schulreformen usw. Rücksicht nehmen auf die spontanen
Lebens- und Entwicklungsbedingungen der jugendhchen Seele und dadurch
vermeiden, daß dem Kinde Stoffe und Methoden, die ihm innerlich fremd
bleiben müssen, aufgezwungen werden. Damit soll natürlich nicht im ent-
ferntesten einem wild wachsenden Aufsprossenlassen der Kinderseele, etwa
im Rousseauschen Sinn, das Wort gesprochen werden; Pädagogik darf nicht
nur geschehen lassen und die natürliche Entwicklung unbeeinflußt sich aus-
wirken lassen — nichts wäre unnatürlicher als solche „Rückkehr zur Natur".
Aber sie soll, indem sie spendet und fördert, erzieht und belehrt, stets sich
dessen bewußt sein, daß sie nicht gegen die Schüler, sondern mit ihnen und
mit den in ihnen ruhenden Kräften arbeiten soll, daß diese spontanen Stre-:
bungen und Anlagen nur darnach dürsten, verwertet und veredelt und da-
mit selbst zu den stärksten Hilfsmitteln des pädagogischen Erfolgs erhoben
zu werden.
Das Interesse der Schule am jugendUchen Seelenleben ist einerseits
individualisierend, andererseits typisierend. Im ersten Falle handelt es sich
darum, die einzelnen Schülerindividualitäten richtig zu erkennen und
Psychologie und Schule 149
auf Grund dieser Erkenntnis richtig zu behandeln, zu würdigen, zu beraten.
Eine solche individualisierende „Menschenkenntnis" ist ja auch ohne Wissen-
schaft möglich und nötig; sie kann aber durch Gesichtspunkte der psycho-
logischen Wissenschaft erhebUch vertieft und durch ihre exakten Beobach-
tungs- und Prüfungsmethoden bedeutend verfeinert werden. Im zweiten Falle
gilt es, die für bestimmte Gruppen von Kindern oder Jugendhchen gemein-
samen Wesensmerkmale festzustellen, um darauf die für jene Gruppen be-
stimmten Unterrichts- und Organisationsmaßnahmen gründen zu können. So
müssen wir die t>-pischen Seelenbilder der verschiedenen Altersstufen kennen,
um den Lehrplan durch die Schuljahre hindm-ch „entwicklimgstreu'' aufzu-
bauen. Wir müssen die typischen Unterschiede und Übereinstimmungen der
Mädchen- und Knabenpsyche studieren, um die Reform der Mädchenschul-
bildung nicht in einer geistlosen Nachahmung des Knabenunterrichts ver-
ebben zu lassen. W^ir müssen die t>T)ischen Untei-schiede der Begabungen
nach Art und Grad untersuchen, um die besonderen Schuleinrichtungen für
Untemormale, Normale und Übernormale, sowie für die verschiedenen ein-
seitigen Begabungsrichtungen zweckentsprechend organisieren zu können.
Geht die bisherige Betrachtung vom Schüler aus, so kann man nun auch
von der anderen Seite herkommen, nämlich von den sachlichen und metho-
dischen Bedingungen des Unterrichts; wir kommen so zu einer Psychologie
der Fächer und Methoden. Die Bildungsgüter, die dem Schüler über-
mittelt werden sollen, sind sehr verschieden nicht nur nach ihrem äußeren
sachlichen Gehalt und ihrer kulturellen Bedeutung, sondern auch nach ihrer
,.psychologischen Struktur". Damit ist das Folgende gemeint. Jeder Bil-
dungsstoff, z. B. die euklidische Geometrie oder die lateinische Grammatik,
ist zunächst das Erzeugnis psychischer Leistimgen derjenigen, die jenes Ge-
biet geschaffen haben. Darüber hinaus aber sind in ihnen dauernd gewisse
psychische Inhalte und Funktionen niedergelegt, die notwendig aktiiell werden
müssen, wo auch immer dieser Stoff zum Gegenstand menschlicher Tätigkeit
gemacht wird. So setzt die Geometrie ganz bestimmte Betätigungen der
visuellen Anschauung, der Abstraktionsfähigkeit, der konstruktiven Phantasie,
der Fähigkeit logischen Scliließens notvs^endig voraus; eine Fremdsprache er-
fordert Wortgedächtnis ^akustisches für den Klang der Worte, motorisches
für die Aussprache, visuelles für die Schrift), assoziatives Gedächtnis für die
Beziehung zwischen Wort und Bedeutung, Verständnis für sprachlich-logische
Zusammenhänge, Einfühlung in den andersartigen Sprachgeist usw. Werden
nun solche Bildungsstoffe zu Unterrichtsfächern, so erhebt sich sofort die
Zielfrage: welche psychischen Funktionen sollen durch das Fach ins Spiel
gesetzt, entwickelt und ausgebildet werden, und wie nmß Stoffauswahl, Unter-
richtsweise usw. gestaltet werden, um diese Werte aus dem Fach herauszu-
holen? Man denke etwa nur an die verschiedenen Bewertungen des deut-
schen Aufsatzes: bald w^ird die schrifüiche Beherrschung der Muttersprache,
bald die Fähigkeit zu straffer logischer Ghederung eines gegebenen Stoffes,
bald der freie Ausdruck eigenen phantasievollen Erlebens als Ziel hingestellt.
Und wenn auch die Psychologie selbst niemals das Ziel als solches zu recht-
fertigen und zu begründen vermag, so liefert sie doch erst mit ihrer Analyse
des Fachgebietes die Einsicht in die Vielheit und die Verknüpfungen der da-
bei beteiligten seeUschen Funktionen und damit eine empirische Grundlage
150 Wüliam Stern
ür die sonst leicht im Abstrakten und Einseitigen verschwimmenden Ziel-
betrachtungen, Um nur ein Beispiel zu nennen : die ganze moderne Reform
des Zeichenunterrichts wäre nicht denkbar gewesen ohne die eingehende
Untersuchung der beim Zeichnen ins Spiel tretenden psychischen Betätigungen
und Leistungsformen.
Entsprechendes gilt von der Unterrichts methodik. Es gibt gewisse ganz
allgemeine Verfahrungsweisen, die unabhängig vom Fach den ganzen Unter-
richt durchziehen, und deren jede ihre besondere psychische Beschaffenheit
hat. So ist das wörtliche Memorieren auf zum Teil anderen seelischen Funk-
tionen aufgebaut als die sinnhafte Einprägiing, die nicht an den Wortlaut ge-
bunden ist. Das sokratische Verfahren hat andere psychologische Voraus-
setzungen als der zusammenhängende Vortrag usw. Bei allen Stoffen spielt
die methodische Kette von der Vorbereitung und Darbietung über die Ver-
knüpfung und Einordnung hin bis zur Einübung eine Rolle; diese Kette ist
zugleich eine Abfolge verschiedener seelischer Tätigkeiten, sowohl beim Lehrer
wie beim Schüler (bekanntlich ist diese Kette in der Lehre von den Herbarti-
anischen „Formalstufen" schematisch festgelegt und zum Teil zu einer un-
erh'äglichen Fessel der unterrichtlichen Tätigkeit ausgestaltet worden).
Die allgemeine Methodik aber spezialisiert sich nun wieder nach den
Fächern und nach deren vorhin besprochenen psychologischen Merkmalen.
Die Rolle, welche die Anschauung beim Rechenunterricht zu spielen hat, ist
eine ganz andere als diejenige, die ihr etwa in der Naturkunde zukommt;
das moderne Prinzip der „Selbsttätigkeit" kann anders beim Aufsatz als etwa
in der Grammatik zur Geltung kommen. Die spezielle Didaktik der Unter-
richtsfächer war ja bisher — und ist zum Teil noch — das Gebiet, auf dem
eine unsystematische und unbedachte Reformwut sich besonders breit macht;
und da ist es doch als großer Fortschritt zu betrachten, daß die Psychologie,
zum Teil auch mit Hilfe experimenteller Methoden, exakt untersuchte, welche
psychologischen Mittel am schnellsten, sichersten und nachhaltigsten be-
stimmte unterrichtliche Zwecke zu verwirklichen geeignet sind. Die Ökonomie
und Technik des Anschauens und Auffassens, des Lernens und Behaltens,
des Wiederholens und Einübens wurde für eine ganze Reihe von Fachgebieten
eingehend untersucht, und so manche praktisch wichtige Anweisungen und
Ausgestaltungen der Unterrichtsmethoden konnten bereits daraus abgeleitet
werden; weitere sind in Zukunft zu erhoffen.
Die Gesamtheit der eben besprochenen Bestrebungen, die vor allem auf eine
psychologische Durchforschung, Begründung und etwaige Umformung der
Unterrichtsstoffe und Methoden gehen, hat man als „experimentelle Didaktik"
(Lay) und in erweitertem Sinne als „experimentelle Pädagogik" bezeichnet
(Meumann). Es waren gar zu hoch fliegende Hoffnungen, die man anfangs
auf dies neue pädagogische Arbeitsgebiet setzte; glaubten doch manche Heiß-
sporne, daß überhaupt die ganze Pädagogik von dieser psychologisch orien-
tierten Betrachtungsweise her grundstürzend gewandelt werden würde, ja daß
Pädagogik sich ganz und gar in angewandter Psychologie erschöpfen würde.
Diese Verstiegenheiten haben vielen Schaden angerichtet. Heut wissen wir,
daß die anderen Betrachtungsweisen der Pädagogik : die kulturphilosophische
und die werttheoretische, die soziologische und staatswissenschaftliche, die
didaktische und organisatorische ihr Recht auch in Zukunft behalten werden,
daß aber neben ihnen, als gleichberechtigte und unentbehrhche, früher
Paychologie und Schule 151
ungebührlich vernachlässigte Betrachtungsweise, die psychologische Pädagogik
Beachtung und Pflege erheischt.
Aber die Psychologie des Schülers und die psychologischen Bedingungen
des Unterrichts machen noch nicht das Ganze der seelenkundlichen Probleme
aus, die uns die Schule stellt; die Psyche des Lehrers ist eine nicht
minder wichtige Voraussetzung für das Gedeihen unseres Schulwesens. Merk-
würdigerweise hat man bisher kaum bemerkt, daß hier eine Frage verborgen
ist, deren Behandlung an Bedeutung der Erforschung der Schülerpsyche eben-
bürtig ist. Wir hoffen, daß die Zukunft diese bedauerliche Lücke der päda-
gogischen Psychologie bald ausfüllen möge; und vrir haben ein Recht zu
dieser Hoffnung, da jetzt die Frage der psychischen Berufseignung zu einer
der dringendsten unseres sozialen Lebens geworden ist.
Es ist eine elementare Forderung der heute unumgänghchen Menschen-
ökonomie, daß in der beruflichen GUederung unseres Volkes überall „der
rechte Mann an die rechte Stelle" komme. Wenn jemand in einen Beruf
eintritt, in dem er nicht sein Bestes zu leisten vermag oder in den er sich
innerlich nicht hineingehörig fühlt, dann ist das nicht nur ein Unglück für
das Individuum, sondern auch ein Kraftverlust für die Allgemeinheit und eine
jahrzehntelange Schädigung derer, die ihm von Berufs wegen anvertraut sind.
Wendet man diesen Gesichtspunkt auf den Beruf des Pädagogen an, so ent-
stehen die Fragen: W^er ist zum Lehrer innerlich geeignet? Welche Forde-
rungen müssen an die Psyche desjenigen gestellt werden, der den Unter-
richtsberuf ergreifen soll? Ganz befriedigend werden diese Fragen erst be-
antwortet werden können, wenn die eigentümliche seehsche Struktur der
pädagogischen Aufgabe und Tätigkeit vielseitig durchforscht sein wird. Aber
eines darf schon jetzt hervorgehoben werden. Erziehung und Unterricht sind
Tätigkeiten, in denen unmittelbar Mensch auf Mensch wirkt. W^enn auch
stets ein Sachgebiet (Mathematik, Fremdsprache, Musik usw.) hier mitspielt
— nie handelt es sich lediglich um Pflege, Bearbeitung und Übermittlung
dieses Sachgebiets, sondern um seine Verwertung im Dienste werdender Per-
sönlichkeiten; nicht die „Sache", sondern diese Persönhchkeiten selbst also,
ihre geistige Bereicherung, ihre sittliche Vervollkommnung sind die eigent-
lichen Ziele der pädagogischen Tätigkeit. Daher ward zum Lehrer nur der-
jenige psychisch geeignet sein, dem das Interesse am lebendigen Men-
schen und seiner Entwicklung noch höher als das Interesse an
der zu übermittelnden Sache steht. Damit ist nicht etwa ein Wert-
urteil ausgesprochen, sondern nur eine psychologische Differenzierung fest-
gestellt. Es gibt einen Menschentyp, der durchaus „sachUch" gerichtet ist:
sein Interesse geht auf diejenigen Seiten der Welt, die er gegenständhch er-
forschen und analysieren, logisch bearbeiten, mechanisch beheiTschen und
organisieren kann. Und es gibt einen anderen Typ, dessen Neigung und
Eignung vorwiegend „personalistisch" ist: in lebendige Wechselwirkung mit
Menschen zu treten, sie nicht als bloße Objekte nach eigenen Wünschen
zurechtzukneten, sondern sie unter Anerkennung ihrer persönlichen Wesen-
heit zu beeinflussen und zu fördern, ist ihm freudige Lebenserfüllung. Wer
vornehmhch zum ersten Typ gehört, kann ein vorzüglicher Fachgelehrter, ein
hervorragender Organisator werden — aber zum Lehrer, der zugleich stets
ein Erzieher sein muß, wird er weniger geeignet sein. Nun besteht ins-
152 William Stern, Psychologie und Schule
besondere für den Oberlehrerstand die große Schwierigkeit, daß in ihm eine
weitgehende Sach- und Fachbeherrschung mit dieser personaUstischen Ein-
stellung und Interessenrichtung verbunden sein muß; es wird noch so manches
an der akademischen Vorbildung der Oberlehrer geändert werden müssen,
damit neben der vortrefflichen Fachausbildung, die die Universität gewährt,
auch jenes eigentliche Berufsethos und die Berufspsychologie des
Lehrers zur Geltung komme.
Des weiteren wird die Psychologie des Lehrers die besonderen seelischen
Funktionen zu untersuchen haben, die bei der Wechselwirkung zwischen
Lehrer und Schüler ins Spiel gesetzt werden. Welches sind die gnmdlegenden
psychischen Bedingungen der unterrichtlichen Ai'beit und der „didaktischen
Fähigkeit" ? Welche Eigenschaften des Pädagogen bestimmen das Autoritäts-
und das Kameradschaftsverhältnis zu den Schülern? Wodurch vermag er die
Klasse als Ganzes zu beherrschen und wodurch wiederum wird er zu indivi-
dualisierender Behandlung der einzelnen Schüler fähig? Soviel Fragen, so
viel Aufforderungen zu künftiger psychologischer Untersuchung, die nur in
enger Arbeitsgemeinschaft von Psychologen und praktischen Kennern des
Lehrerberufs wird geleistet werden können.
Endhch werden wir eine differentielle Psychologie des Lehrers ent-
wickeln müssen. Zweifellos gibt es nicht nur einen Menschen typ, der als
der spezifische Typ des Pädagogen betrachtet werden darf, sondern deren
mehrere; und nun ward wieder zu prüfen sein, wie die verschiedenen Typen
den so verschiedenen Aufgaben innerhalb der Schultätigkeit anzupassen sind.
Dies gilt zunächst für die Fächer: der ideale Religionslehrer und der ideale
Mathematiklehrer unterscheiden sich nicht allein durch das Fachwissen und
den Unterrichtsgegenstand, sie müssen vielmehr in ihrer ganzen Persönlich-
keitsstruktur, in ihrem psychischen Wechselverhältnis zum Schüler völlig von
einander abweichen. Und es gilt für die Schulgi'uppen : so fordern Knaben-
schulen und Mädchenschulen recht verschiedene pädagogische Einstellungen
und Fähigkeiten, und es ist bedauerhch, daß die Entscheidung fiu- diese und
Jene Schulgattung meist viel mehr aus äußeren oder aus Zufallsmotiven, als
aus Rücksicht auf die besondere psychische Eignung erfolgt. Auch für die
Altersstufen der Schüler differenzieren sich die Lehrertypen; es gibt Päda-
gogen, die ihr Bestes gerade in der Erziehung und Unterweisung jüngerer
Kinder geben können, andere, die für die reifere Jugend geeignet sind — ist
es recht, daß hier das Dienstalter ohne Rücksicht auf Psychologie allein maß-
gebend ist? Und um ein ganz modernes Problem zu nennen : die jetzt be-
ginnende Gruppierung der Schüler nach Begabungen kann nur dann zu
günstigen Erfolgen führen, wenn auch die Lehrerwahl dieser Differenzierung
entspricht. Schon bildete sich für die Schwachen im Geiste der besondere
Typ des Hilfsschullehrers aus, der ganz andere Fähigkeiten haben muß als
der Lehrer der Normalklassen. Und wenn jetzt nach der anderen Seite hin
Klassen für besonders befähigte Kinder geschaffen werden, so wird sich bald
zeigen, daß nicht jeder Pädagoge — mag er sonst noch so tüchtig sein —
zum Lehrer einer solchen Begabtenklasse paßt; auch hier wird der erforder-
hche psychologische Typ festgestellt und im konkreten Fall herausgefunden
werden müssen.
So sei sich denn jeder Lehrer dessen bewußt, daß die Schulpsychologie, die
ihn angeht, nicht erst beim Schüler einzusetzen hat, sondern bei ihm selber.
Otto Lipmann, Das Zusammenwirken der Schule und des Psychologen usw. 153
Das Zusammenwirken der Schule mid des Psychologen bei
der Begabungs- und Eignungs-Auslese*).
Von Otto Lipmann.
Jede systematische Erziehung und jeder geordnete Unterricht hat zwei
psychologische Voraussetzungen : Kenntnis des zu erziehenden und zu unter-
richtenden Individuums und Kenntnis der Büttel, mit denen solche Individuen
erziehhch und unterrichtlich beeinflußt werden können. Zu diesen jeder
Pädagogik ursprtinghch anhaftenden psychologischen Voraussetzungen treten
in neuester Zeit von außen her psychologische Forderungen anderer Art,
Forderungen, die über die innerhalb einer Schule zu erfüllenden erzieh-
lichen und unterrichthchen Aufgaben hinausgreifen: der Lehrer soll nicht
nur mehr seine Zöglinge kennen, um sie bestmöglich erziehlich und unter-
richtlich beeinflussen zu können, sondern er soll diese Kenntnisse auch einer
Prophezeiung über ihr künftiges Lebensschicksal zugrunde legen; er soll
unter Umständen und in gewissem Maße sogar dieses Schicksal mitbestimmen.
Ich spreche nicht davon, daß der Lehrer als solcher etwa, einen Berufs-
rat erteilen soU; die Schule ist nicht in der Lage, auch als Berufsberatungs-
stelle zu dienen. Denn wenn wir auch annehmen mögen, daß sie dem psy-
chologischen Teil dieser Aufgabe, — demjenigen Teil, der sich auf der
Kenntnis der Schüler aufbaut, — zu entsprechen vermag, so ist sie doch
keinesfalls ohne weiteres in der Lage, auch über die einzelnen Berufe, ihi-e
wirtschaftüche Lage usw. ausreichend unterrichtet zu sein. Dies kann nur
eine Berufsberatungsstelle, die darauf eingerichtet ist, sich über diese Ver-
hältnisse und ihren ständigen Wechsel dauernd auf dem Laufenden zu er-
halten. Der Berufsberatungsstelle aber fehlt andrerseits wieder der genaue
Einblick in die besonderen seeUschen Fähigkeiten und Eigenschaften des zu
Beratenden, und wenn jeder Arbeitsuchende in denjenigen Beruf gestellt
werden soll, für den er nach Maßgabe seiner psychischen Kiäfte bestgeeignet
ist, wenn bei der Berufsberatung nicht, wie bisher, nur die wirtschaftlichen
Aussichten berücksichtigt werden sollen, so muß der Berufsberater von
anderer Seite her instand gesetzt werden, sich auch über die besondere
Veranlagung der Ratsuchenden ein Bild zu machen. Diese Vorarbeit kann
niemand besser leisten als die Schule; sie besteht hier in einer psycho-
logischen Charakteristik der einzelnen Schüler, die sich zu erstrecken hat
auf alle die fiu* eine künftige Berufswahl in Frage kommenden Eigenschaften,
soweit der Lehrer in der Lage ist, eine besonders hohe Entwicklung oder
einen auffallenden Mangel durch Beobachtung festzustellen.
In viel unmittelbarerer und verantw^ortlicherer Weise wird ein psycholo-
gisches Urteil der Lehrer bei der Begabten auslese mit herangezogen und
dem Übergang einzelner Schüler einer Schulgattung in eine andere zugnmde
gelegt. Freilich hat auch hier gewöhnlich der Lehrer nicht das letzte aus-
schlaggebende Wort. Handelt es sich um schwach begabte Schüler, so trifft
der Schularzt die Entscheidung, ob eine Überweisung in die Hilfsschule an-
gezeigt erscheint. Handelt es sich um übernormale Begabungen, so be-
halten sich die Schulverwaltungen gewöhnhch vor, unter den von den Schulen
') Vortrag, gehalten am 20. März 1919 in einer von Stadtschulrat Dr. Buchenau in Neukölln
bei Berlin veranstalteten Rektoren-Konferenz.
154 Otto Lipmann
für einen Aufstieg vorgeschlagenen Schülern eine engere Auslese zu treffen,
und als Mittel einer solchen endgültigen Auslese wird dann gewöhnlich das
psychologische Experiment verwendet, und mit seiner Durchführung wird
ein „Schulpsychologe" beauftragt.
Solche Prüfungsexperimente sind notwendig,
1. wenn die Zahl der von den Schulen vorgeschlagenen Schüler größer
ist als die Zahl derjenigen, welche die Schulverwaltung für einen Aufstieg
in Aussicht genommen hat;
2. wenn die Schulverwaltung glaubt, dem Lehrerurteil allein in dieser
wichtigen Frage nicht trauen zu dürfen;
3. wenn die Urteile der Rektoren und der verschiedenen Lehrer und die
Schulleistungen in Widerspruch zueinander stehen, vielleicht auch, wenn der
gesetzliche Stellvertreter eines nicht vorgeschlagenen Schülers glaubt, daß
dieser gleichfalls ein Anrecht darauf gehabt hätte, mit vorgeschlagen zu werden.
Die Ausführung solcher Ausleseprüfungen muß natürlich einem Fach-
psychologen überlassen sein, da nur eine Vertrautlieit mit der Technik des
psychologischen Experimentierens überhaupt und eine gründhche Kenntnis
der speziellen anzuwendenden Methoden und ihrer Fehlerquellen eine sach-
gemäße Durchführung der Prüfungen selbst und eine brauchbare Wertung
der Ergebnisse gewährleistet. Aber auch hier wird schon ein Zusammen-
wirken des Psychologen mit der Lehrerschaft insofern erforderlich sein, als
der Psychologe allein nicht imstande ist, sämtliche Prüfungen in der erforder-
lichen Schnelligkeit durchzuführen und auszuwerten. Es wird sich eine unter
Leitung des Psychologen stehende Arbeitsgemeinschaft bilden müssen, in der
die Methoden der Prüfung und der Wertung genau besprochen werden und
deren Mitglieder dann einen Teil der Durchführung übernehmen können, ohne
daß Exaktheit und EinheitHchkeit der Prüfung darunter leidet.
Eine solche Arbeitsgemeinschaft zwischen dem Psychologen und den Lehrern
ist auch noch aus einem weiteren Grunde erforderlich : Das Ziel der Begabten-
prüfung ist, wie ich schon vorher andeutete, die Grundlage für eine Prophe-
zeiung darüber zu schaffen, ob der Prüfung gewissen Anforderungen, die in
Zukunft an ihn herantreten werden, zu entsprechen imstande sein wird.
Wenn diese Anforderungen qualitativ anderer Art sind, als diejenigen,
die bisher an den Prüfling gestellt wurden, so können die bisherigen Leistungen
des Prüfhngs naturgemäß keine genügende Grundlage für jene Prophezeiung
gewähren; daraus, daß einer in den Elementarfächern Genügendes oder auch
sehr Gutes leistete, kann man nicht ohne weiteres schließen, daß er sich
auch Fremdsprachen oder der Mathematik gegenüber ebenso bewähren wird.
Man hat nun in der „Intelligenz" eines Schülers diejenige Eigenschaft zu
finden geglaubt, die ihn befähigt, ganz allgemein sich neuen Anforderungen
anzupassen und neu an ihn herantretende Aufgaben bewältigen zu können,
und man hat dementsprechend jene Prophezeiung auf eine Prüfung der all-
gemeinen Intelligenz aufbauen zu können vermeint. Dem gegenüber glaube
ich: wir müssen unser Ziel enger stecken, wir können nicht prophezeien,
ob ein Schüler einmal allen neuen Anforderungen, die das Leben an ihn
stellen wird, entsprechen wird; wir können das schon deshalb nicht, weil
der Schüler ja noch kein fertiger Mensch ist, weil seine Intelligenzentwick-
lung ja noch nicht abgeschlossen ist, weil eine solche InteUigenzentwicklung
nicht stetig verläuft und weil kein Mensch, und auch kein Psychologe, über-
Di3 Zusammenwirken der Schule und des Psychologen usw. 155
sehen kann, in welcher Weise diese Entwicklung z. B. durch die Pubertät
gefördert oder gehemmt werden wird. Aus diesem Grunde müssen wir uns
damit begnügen, eine Prophezeiung nur für die allernächste Zukunft auszu-
sprechen; die Prüfung darf dementsprechend nicht auf eine abstrakt-all-
gemeine Intelligenz gerichtet sein, sondern sie muß diejenigen Eigenschaften
betreffen, welche die nächste Zukunft von dem Schüler verlangen wird.
Unsere Aufgabe bei der Begabten-Prüfung ist also die, zu entscheiden, ob
ein Schüler diejenigen Eigenschaften besitzt, welche die neue Schule, in die
er gegebenenfalls eintreten soll, ihrer Art nach von ihren Schülern verlangt,
also z. B. diejenigen Eigenschaften, welche die Grundlage für das Erlernen
fremder Sprachen, für das mathematische Verständnis, für technische Fertig-
keiten usw. bilden. Diese Anforderungen aber kennt der Psychologe, der
nicht zugleich Schulpraktiker ist, nur sehr unvollständig, und nm* die Arbeits-
gemeinschaft mit Lehrern kann dazu verhelfen, das Prüfungsverfahren möglichst
genau dem anzupassen, was es eigentlich leisten soll.
Ich will nur nebenbei erwähnen, daß meine vorigen Ausfühi-ungen nicht
etwa einen Widerspruch gegen die Tendenz der neueren Schulorganisation
bilden, die unter dem Schlag worte „Aufstieg der Tüchtigen" steht. Nur
meine ich, die Schule und der Psychologe sind nicht imstande, diejenigen
zu erkennen, die später einmal schlechthin „die Tüchtigen" sein werden.
Wohl aber kann es als Grundsatz der Schulorganisation hingestellt werden:
Jedem Schüler dasjenige Höchstmaß von Schulbildung zuteil werden zu lassen,
dem er nach Maßgabe seiner jeweiligen Leistungsfähigkeit eben gewachsen
ist Man wird nicht annehmen können, daß die oben erwähnten Unstetig-
keiten der Entwicklung in der Mehrzahl der Fälle das Verhältnis zwischen
den heute Tüchtigen und heute Untüchtigen gradezu umkehren werden, und
man wird so, selbst wenn man sich auf kurzfristige Prophezeiungen be-
schränkt, damit meist wohl auch gleichzeitig die Lebens tüchtigen von
den weniger Lebenstüchtigen scheiden. Daß dies nicht völlig geschieht, be-
trachten wir als kein Unglück. Die Unstetigkeiten der Entwicklung werden
dann immer dafür sorgen, daß einerseits auch Intelligente, zwar ohne be-
sondere Schulbildung, den niederen Berufen erhalten bleiben, und daß ihnen
andrerseits auch weniger Intelligente, die zwar eine höhere Schulbildung
genossen haben, aber doch in einem höheren Berufe nicht weiterkommen,
wieder zuströmen. —
Ich habe nun ziemlich ausführlich über das Zusammenwirken der Lehrer
und des Psychologen bei der Begabten prüf ung gesprochen, und doch be-
tiachte ich diese Aufgabe letzten Endes nicht als die wichtigste. Sie setzt,
wie ich sagte, immer ein aktives Mitwirken des Psychologen voraus, und
ich muß gestehen, daß dies vom Standpunkte des Lelu-ers aus angesehen,
als eine Eimnischung in seine allereigensten Angelegenheiten betrachtet
werden muß. Mir scheint allerdings diese Mitwirkung des Psychologen heute
noch unumgänglich; aber andrerseits müssen wir doch an dem Ziel fest-
halten, sie allmählich überflüssig zu machen. Wie kann das geschehen?
Von den Zwecken, denen eine Begabtenprüfung zu dienen hat, erwähnte
ich vorher die, daß sie eine engere Auswahl unter den von der Schule vor-
geschlagenen Schülern treffen soll. Dieser Zweck wird hinfällig, wenn die
Vorschläge der Schule so gut begründet sind, daß mit Recht von der Schul-
verwaltung verlangt werden kann, ihnen sämtlich ohne weiteres Rechnung
156 Otto Lipmann, Das Zusammenwirken der Schule und des Psychologen usw.
zu tragen, d. h. allen denjenigen Schülern, die von ihren Lehrern als dazu
geeignet erklärt werden, den Übergang in eine höhere Schule zu ermög-
lichen, und wenn die vorhandenen Schulen und Klassen nicht ausreichen,
neue zu schaffen. Wenn die Vorschläge der Schule den hierfür erforder-
lichen Grad der Zuverlässigkeit erlangen, so wird damit auch der weitere
Zweck der Prüfungen hinfällig, daß sie nämlich der Schulverwaltung eine
Nachprüfung der Schulvorschläge ermöglichen soll. Es bleibt dann also nur
der dritte der genannten Zwecke übrig, eine Entscheidung im Falle von
Widersprüchen und Einwendungen herbeizuführen; auch dies würde nur noch
in äußerst seltenen Fällen in Frage kommen, wenn die eben genannten Vor-
bedingungen erfüllt sind.
Es liegt also im eigensten Interesse der Lehrerschaft, ja es ist gewisser-
maßen eine Ehrensache für sie, daß es ihr gelingt, auch ohne das Hilfs-
mittel experimenteller Prüfungen zu einem entscheidenden Urteil über die
Befähigung der Schüler zu kommen. Das Mittel, dessen sie sich dabei zu
bedienen hat, ist die eingehende und systematische psychologische Beob-
achtung der Schüler. Den Lehrer zu einer solchen Beobachtung instand
zu setzen, darin erblicke ich die zweite und die wichtigste Aufgabe eines
Schulpsychologen.
Man wird mir hier vielleicht einwenden: Der Lehrer, der tagein, tagaus,
jahrein, jahraus mit den Schülern zusammenlebt, stellt ja schon ganz von
selbst immerfort Beobachtungen an und braucht dazu nicht erst eine psy-
chologische Anleitung. Dies ist richtig und falsch zugleich. Richtig insofern,
als in der Tat auch nach meiner Überzeugung die jahrelang fortgesetzte
Beobachtung mehr und zuverlässigere Ergebnisse zeitigen kann als ein ein-
maliges Prüfungsexperiment; falsch, insofern die Beobachtung seitens des
Lehrers einmal eine unsystematische, nicht durch psychologische Gesichts-
punkte geleitete, und zweitens meist nicht auf die Begabung, sondern auf
Leistungen des Schülers gerichtete ist. Die Aufgabe des Psychologen ist
also, die Aufmerksamkeit des Lehrers auch auf die Begabungen, auf die
psychischen Eigenschaften der Schüler einzustellen und dem Lehrer zu zeigen,
auf was alles er zu achten hat, um zu einem begründeten Urteil über die
Eignung des Schülers, sei es für den Besuch einer bestimmten höheren
Schule, sei es für einen Beruf zu gelangen. Denn wenn die Schulverwaltung
oder der Berufsberater diesem Urteil über die Eignung ohne weiteres ver-
trauen soll, so genügt es natürlich nicht, wenn es nur zusammenfassend
lautet : X ist für diese oder jene Schule oder für diesen oder für jenen Beruf
geeignet; es muß vielmehr auch ersichtlich sein, auf welche Einzelbeob-
achtungen bzw. auf die Beobachtung welcher Eigenschaften sich dieses
Urteil stützt.
Der Psychologe wird also dem Lehrer eine Beobachtungsanweisung in die
Hand zu geben haben, die in systematischer Aufzählung alle diejenigen
Einzeleigenschaften nennt, deren Vorhandensein für die Eignung für den
Besuch einer höheren Schule oder für verschiedene Berufe maßgebend ist.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die meisten dieser Eigenschaften in der
Tat durch den Lehrer beobachtet werden können, sei es im Untenicht selbst,
sei es bei Turnspielen, sei es bei Schulausflügen. Im Zusammenarbeiten
zwischen dem Psychologen und der Lehrerschaft, in der oben erwähnten
Arbeitsgemeinschaft, wird man dazu gelangen, in die Beobachtungsanweisung
Lobsien, Höh. Intelligenzprüfung an Jugendl. mit Hilfe des Bindoworttests j 5 ,
auch noch bei jeder der zu beobachtenden Eigenschaften eine Aufzählung
der Beobachtungsgelegenheiten mitaufzunehmen.
Ich will nicht leugnen, daß dem Lehrer eine behächthche Mehrarbeit er-
wächst, wenn er in der geforderten Weise gründliche Beobachtungen über
seine Schüler anstellt und sorgfältig aufzeichnet. Aber diese Mehrarbeit ist
nicht so bedeutend, Wie es zunächst scheinen mag, wenn man die Aufgabe
darauf beschränkt, nur das auffällige Verhalten eines Schülers in dieser
oder jener Richtung zu beachten, und wenn die Beobachtungen nicht etwa
nur auf die Zeit unmittelbar vor einer Entscheidung beschränkt, sondern
über die ganze Schullaufbahn des Schülers ausgedehnt werden. Was daraus
dennoch dem Lehrer an Mehrarbeit erwächst, muß er, wie mir scheint, gern
in Kauf nehmen, aus dem Gefühl heraus, daß er, wie keine andere Instanz
berufen ist, die Verantwortung für das künftige Schicksal seiner Schüler zu
Obernehmen und zu tragen.
Der Psychologe erblickt seine Hauptaufgabe darin, den Lehrer dazu instand
zu setzen, und damit seine eigene aktive Mitwirkung mit der Zeit mehr und
mehr überflüssig zu machen. Er wird schließlich nur noch in besonderen
Fällen mit heranzuziehen sein und seine Tätigkeit im übrigen darauf be-
schränlven können, das durch Beobachtung und gegebenenfalls auch durch
Piiifungen gewonnene Material 'wissenschaftlich zu verarbeiten und die Er-
gebnisse der Beobachtungen und der Experimente mit der weiteren Schul-
und Lebensbahn der beobachteten und geprüften ^Schüler zu vergleichen.
Höhere Intelligenzprüfung an Jugendlichen
mit Hilfe des Bindeworttests.
Von Marx Lobsien.
Die praktische Dui'chführung des Einheitsschulgedankens 'ward dem Prüfungs-
wesen eine höhere Bedeutimg zuweisen als bisher. Es kann keinem Zweifel
imteriiegen, daß die wissenschaftHche Intelligenzprüfung durch diese Tatsache
vor verantwortungsvolle Aufgaben gestellt wird: Als deren erste dürfen wir
hinstellen, das eindringliche Bemühen um das Gewinnen zuver-
lässiger Prüfungstests. Tests, die sich bisher als wertvoll erv.iesen
haben, müssen in neuen umfänglichen Untersuchungen eine Bewährung,
eine sorgsame Eichung erfahren, neue müssen ersonnen und ei-probt werden.
Es kann nicht geleugnet werden, daß wir inmitten dieser Arbeit von der
Verwirklichung der neuen Umgestaltung überrascht worden sind.
Methode.
Die nachfolgenden Untersuchungen stellen sich in den Dienst der Eichung
eines noch jungen,aber, wiemirscheinen>\Tll,außerordentlich vielversprechenden
Tests, des Bindeworttests. Er ist eine besondere Form des seitEbbing-
haus bekaanten Ergänzungstests, stellt aber an den Prüfling weit höhere An-
forderungen, weil er das streng logische Verhältnis benachbarter Gedanken-
einheiten zu einander fordert, als dessen Ausdruck die Konjunktionen dienen.
158 Marx Lobsien
Um dieser Schwierigkeit willen eignet sich der Test nicht für jüngere
Schüler, sondern erst für Prüflinge, die zwölf Jahre und darüber alt sind,
Lipmann*) hat die Methode ersonnen. Der von ihm entworfene Text ist für
die vorliegenden Untersuchungen zu leicht. Ich benutze den von Stern "^j
mitgeteilten Minkus-Test; der gesamte Wortlaut des ziemlich langen Textes
ist an der genannten Stelle nachzulesen; hier sei nur noch einmal der An-
fang abgedruckt:
Der Freund aus der Unterwelt.
In einer größeren Stadt Chinas lebte einst ein strebsamer Beamter namens Tien. (1.) .... sein
Gehalt für ihn und seine junge Frau kaum ausreichte, hätte er sich gern eine besser besoldete
Stellung erworben. (2.) .... er hatte wenig Hoffnung, die hierzu nötige Prüfung zu bestehen, (3.)
.... ihm nicht geradezu ein Wunder zu Hilfe kam. Oft war er nahe daran zu verzweifeln, (4.)
.... er sich alle erdenkliche Mühe gab, wollte in seinem armen Kopfe nichts haften bleiben : stets
vergaß er das mühsam Gelernte (5) . . . . überhaupt wieder völlig, .... er behielt es nur verworren
in seinem Gedächtnis. (6.) .... glaubten seine Freunde, die sich (7.) .... für diese Prüfung
vorbereiteten, er werde nichts erreichen, und redeten oft lange auf ihn ein, (8.) .... ihn endlich
einmal von der Aussichtslosigkeit seiner Anstrengungen .... überzeugen. Aber (9.) .... ihn
seinem Vorhaben abspenstig .... machen, spornte ihn solche Reden, weit entfernt ihren Zweck
zu erreichen, gerade an. und gegen aller Erwarten erreichte er trotz seines schlechten Gedächt-
nisses auch wirklich sein Ziel. Er bestand schließlich die Prüfung (10.) .... als bester von
allen und mit großer Auszeichnung. Das ist eine wunderliche Geschichte. (11.) .... ihr mir
zuhören wollt, erzähle ich euch, wie es sich zugetragen hat. Aber glauben werdet ihr mir wohl
kaum, so seltsam klingt alles. Und doch ist (12.) .... irgend etwas übertrieben .... hinzu-
gedichtet. Usw. usw. — —
Die besten Lückenausfüllungen lauten: 1. da, 2. aber, 3. wenn, 4. denn obgleich, 5. ent-
weder — oder, 6. daher, 7. gleichfalls, 8. um zu, 9. anstatt zu, 10. sogar, 11. wenn, 12. weder
— noch, 13. nachdem, 14. während, 15. denn, 16. obgleich, 17. so daß, 18. nicht einmal,
19, ebensowenig, 20. ehe, 21. statt dessen, 22. vorher, 23. währenddessen, 24. damit, 25. dann,
26. denn wenn, 27. nachdem, 28. wenn, 29. entweder, 30. so daß, 31. dann (hierauf), 32. da
(weil) 33. währenddessen, 34. nur — zu, 35. anstatt zu, 36. nicht einmal, 37. vorher, 38. damit,
39. weder noch. 40. statt dessen, 41. sogar, 42. trotzdem, 43. denn, 44. wenn, 45. ebensowenig
(auch nicht), 46. auch (ebenfalls), 47. obgleich, 48. daher, 49. während, 50. ehe.
Der Minkus-Test ist mit außerordenthchem Scharfsinn aufgebaut worden.
Es kam darauf an, möghchst alle Denkbeziehungen, die durch Bindewörter
vertreten werden, in den Text hineinzuarbeiten und, damit der Zufall nicht
entscheide, die Denkbeziehungen wiederholt und in verschiedenen Satzver-
bänden zu bringen. Trotz der Sorgfalt ist nicht vermieden worden, daß die
Lücken eine mehrdeutige Ausfüllung zulassen. Neben den genannten Binde-
wörtern können andere eine durchaus gleichwertige Anwendung finden. „Die
Denkmöglichkeiten sind eben mannigfaltiger und lassen sich nicht in eine
bestimmte grammatische Kategorie einzwängen." Damit ergeben sich für die
Beurteilung der Lückenausfüllungen manche Schwierigkeiten, aber keineswegs
so starke, daß man Melchior zustimmen müßte, wenn er urteilt: „Die Text-
ergänzungen vermögen einwandfreie Ergebnisse nicht zu bieten." Man muß
sich nm- vor einer lediglich grammatischen Bewertung hüten. Man darf nicht
1) Vergl. Otto Lipmann: Die Entwicklung der grammatisch-logischen Funktionen; Zeitschr.
für aug. Psychol. XH., S. 347 ff.
2) W. Stern, Höhere Intelligenztests zur Pi-üfung Jugendlicher. Diese Zeitschr. Bd. 19, (Heft3/4)
S. 71 ff. (S. 7 der Sonderausgabe: Das psychol. päd. Verfahren der Begabtenauslese. Leipzig 1918).
— Über bisherige Anwendungen des Minkus-Tests berichten: O. Melchior, Die Methode der
Bindewortergänzung. A. a. 0. S. 103 (Sonderausgabe S. 39); W. Minkus (f) und W, Stern, Die
Bindewortergänzung. Beiheft 19 zur Zeitschr. für ang. Psychol. 1910.
Höhere Intelligenzprüfung an Jugendlichen mit Hilfe des Bindeworttests 150
danach fragen, ob die „am besten passenden fünfzig Ergänzungen vollkommen
treffend von den Prüflingen angewandt worden sind'^, sondern muß sich mit
der Feststellung begnügen, ob das gewählte Bindewort, nicht sowohl gram-
matisch voll einwandfrei, wohl aber mit vollkommener DeutHchkeit erkennen
läßt, daß die Denkbeziehung klar erfaßt und ausgedrückt ist. Wir wollen
mit der Methode nicht in erster Linie die grammatisch geschulte sprachliche
Ausdrucksfähigkeit, sondern die Intelligenz prüfen, die den logischen Zu-
sammenhang der Gedankenglieder klar erfaßt. Dazu ist unbedingt notwendig,
daß der Versuchsleiter — zumal wo es sich um Prüflinge handelt, die nicht
in geschulter sprachhcher Hochkultur stehen — genau über die landläufige
Ausdrucksweise und den durch den Dialekt gebundenen Gebrauch der Kon-
junktionen unterrichtet ist. Ich gebe aus meinen Versuchsprotokollen eine
kleine Beispielssammlung, die zeigt, wie streng grammatische Bindungen
durch die Umgangssprache für den Kundigen so ersetzt werden, daß sie von
der logischen Erfassung des Zusammenhangs deutlich genug Zeugnis ablegen :
grammatisch volkstümlich grammatisch volkstümlich
nicht nur schon bevor ehe
daher deshalb, darum während wie, als
währenddessen . . . währenddem, nun ehe vordem, erst
da nachdem gleichfalls auch, ebenfalls
anstatt zu ohne nicht einmal .... sogar, schon
als wie, nachdem obgleich wenn auch
trotzdem obgleich, statt dessen denn dann
Unter Berücksichtigung der sprachlichen Schwierigkeiten bem-teilen wir die
Ergänzungen nach folgenden drei Gesichtspunkten: 1. die Denkbeziehung
wird richtig erkannt (Treffer), 2. sie wird falsch gedeutet (Fehler), 3. sie
wird nicht erfaßt (Auslassung).
PrüfUnge waren 86 Schüler einer gewerbUchen Fortbildungsschule, die
gelegentlich einer umfassenden Untersuchung ihrer physischen Berufseignung
auch auf ihre Intelhgenz geprüft wurden. Sie standen im Alter von sechzehn
bis neunzehn (achtzehn) Jahren und gehörten der Mittel- und Oberstufe an.
Der Minkustext wurde ihnen vorgelegt, und sie füllten nach ruliiger Über-
legung, ohne an einen Zeitraum gebunden zu sein, die Lücken nach bestem
Können aus. Sie waren allesamt mit großem Eifer bei der Sache.
Ergebnisse.
1. Beziehungen zum Lebensalter.
In der folgenden Übersicht finden sich für ganze Schulgi*uppen und Prozent-
angaben der Treffer und Fehler die Häufigkeit der angewandten Kategorien.
Die Auslassungen ergeben sich durch eine Subtraktion der Summe der
Treffer und Fehler von Hundert. (Siehe Tab. S. 160.)
Fassen wir zunächst die untere Summenreihe ins Auge, die die Leistungen
der einzelnen Altersgruppen ohne Rücksicht auf die verschiedenen Arten
der Denkbeziehungen erkennen läßt, dann sehen wir mit zunehmendem
physischen Alter ein langsames Steigen der Leistungen und finden, daß die
Trefferzahlen der Siebzehnjährigen hinter denen der übrigen zurückstehen.
160
Marx Lobsien
Kategorie
16j ährig 17j ährig
18 jährig
Summe
adversativ .
kausal . . .
final ....
komparativ .
konsekutiv .
konzessiv . .
konditional .
disjunktiv
koordinierend
temporal . .
26,3
62,2
61,8
19,7
34,2
50,5
67,1
28,9
36,8
60,9
67,9
32,2
26,3
63,2
46,1
34,4
21,5
34,2
44,7
32,9
31,5
62,5
67,8
27,9
41,7
36,9
79,3
19,0
52-4
58,1
54,2
27,9
19,6
57,7
42,3
51,2
15,5
46,4
23,8
34.9
26,4
61,1
67,5
34,7
25,0
33,3
86,1
22,2
36,1
37,9
56,9
27,8
29,2
37,5
54,2
55,6
6,9
41,7
22,2
28,5
28,1
61,9
65,7
28,1
33,6
40,2
77,5
23,4
41,8
52,3
563
29,3
25,0
52,8
47,5
47,1
14,6
40,8
30,2
32,1
iSumme
45,1 39,3
47,4
37,4
42,0 I 36,1 I 44,9 •)' 37.6
Vernachlässigen wir die Altersunterschiede, indem wir allein auf die Be-
vorzugung der zehn Kategorien untereinander achten und sie aufsteigend
nach der Anzahl der richtigen Lösungen, also der Treffer ordnen, dann
ergibt sich folgendes Bild.
10 20 30 9-0 50 60 70 60 90
Disjunffh'y
KomparaHy
Konsekuh'k'
Hoordinierend
Temporal
Kausal
Final.
Kond'iHonal
- Treffer
- Fehler
' Treffer u. Fehler
•) Die Differenz von 0,02 in den wagrechten und senkrechten Schlußsummen erklärt sich
.ans den üblichen Erhöhungen.
Höhere Intelligenzprüfung an Jugendlichen mit Hilfe des Bindeworttests \Qi
Die Zeichnung ergibt folgende Reihenfolge in der Häufigkeit und Schwierig-
keit der zehn Denkbeziehungen: adversative, komparative, disjunktive, kon-
sekutive, konzessive, — koodinierende, temporale, kausale, finale und kon-
ditionale. Man beobachtet deutlich zwei Fünfergruppen, die durch einen
recht großen Prozentabstand voneinander getrennt sind, nur die koodinierenden
Denkbeziehungen stehen auf der Grenze; zählt man sie der ersten Gruppe
zu, dann ergeben sich als arithmetische Mittelwerte dort 35,1, hier 64,4
Treffer auf je Hundert.
Jetzt fragen wir, ob die physischen Altersunterschiede bemerkenswerte
Unterschiede in der Bevorzugung der Kategorien erkennen lassen. Wir
fassen zunächst die beiden Gruppen ins Auge.
Gruppe j 16 jährig 1 17 jährig
18 jährig
1 I 32,6 ! 34,9 29,6
2 i 63.0 I 66,9 ! 63,2
Wir finden bestätigt, daß auf allen Altersstufen die Leistungen in der
zweiten Gruppe über die der ersten nahezu um das Doppelte hinausgehen. Im
besonderen zeigen sich die siebzehnjährigen Prüflinge den beiden anderen
Altersstufen etwas überlegen.
Im einzelnen erkennen wir die Altersdifferenzen aus folgender Übersicht.
10 20 30 ^0 50 60 70 80 90 700
—^ \ \ \ \ — \ — \ — \ — r
Dispunkt-Jy
Homparatit'
Honsekuh>
i^onzessiw
/koordinierend
Temporal
Kausal
Final
Konditional
- Ourch^chnittöleistung
= 16 jährige Prüflinge
. 17 : . •.
^ 18 ' ' '
Wir erkennen, wie im großen und ganzen auf allen Altersstufen ein über-
einstimmender Aufstieg der Ordinalen innegehalten wird. Das hindert aber
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 1 1
162 Lobsien, Höh. Intelligenzprüfung an Jugendl. mit Hilfe des Bindeworttosts
nicht, daß im einzelnen eigentümliche Abweichungen hervortreten; sie ergeben
sich aus der Zeichnung von selbst und bezeugen, daß der physische Alters-
fortschritt für den Wechsel nicht allein verantwortlich gemacht werden kann.
2. Beziehungen zur Intelligenz.
In der folgenden Übersicht ordne ich die Schüler erneut, nun aber gieife
ich die gut- und die schlecht veranlagten Prüflinge heraus, ohne
Rücksicht auf deren Alter zu nehmen.
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■73
G
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Kategorie
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•ü
M
M
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^
•4^
^
Schüler begabt . .
57
85
85
35
68
57
78
65
80
73
68
Schüler schwach-
begabt ....
18
48
42
8
32
23
50
5
10
57
27
Die Leistungsunterschiede sind ganz erheblich größer, als wenn nur die
Altersunterschiede verglichen werden. Daraus ist zu schließen, daß die
richtige Auffassung der Denkbeziehungen zur Intelligenz in weitaus engerer
Beziehung steht als zu den Altersdifferenzen.
KomparaHy
Honzess'ii/
Di3Junh/-/y
Monsekat/y
Temporal
Konditional
Koordinierend
final
Kausal
10
T"
20
30 1-0 50 60 70
80
90
Albert Huth, Die Nebensätze in der Kindersprache
163
Im einzelnen stellen die Denkbeziehungen an die beiden Gruppen sehr
ungleiche Anforderungen.
Übereinstimmend stoßen die komperativen, adversativen und konzessiven
Denkbeziehungen beiderseits auf große Schwierigkeiten, bezeichnenderweise
aber sind es die disjunktiven und koordinierenden, die nur die wenigsten
schwächer Befähigten zu erkennen vermögen. Alle drei stellen an die
Intelligenz die höchsten Anforderungen.
Endlich möge noch in einer Übersicht gezeigt werden, daß auf den ver-
schiedenen Altersstufen die gut und schwach Begabten eigentünüiche
Leistungsschwankungen zeigen :
Kategorie
Gute Schüler
16 jähr, j 17 jähr. I 18 jähr.
Schwache Schülar
16 jähr, j 17 jähr. | 18 jähr.
adversativ .
. I 40
[ 70 ■
60 jl
15
15
25
kausal . . .
. ' 85
80
90 1;
45
45
55
final . . ,
. 1! 75
100
80
55
50
20
komparativ .
. ü 25
40
40 '
10
5
10
konsekutiv .
. r 60
75 .
70
25
35
35
konzessiv .
. ' 55
80
35
25
15
30
konditional .
60
90
85
60
30
60
disjunktiv .
70
45
80
10
5
0
koordinierend
70
90
80 .
10
10
10
temporal . .
90
85
45
35
40
35
Durchschnitt
63
75,5 '
66,5 i
28
25
28
Der Unterschied der guten und schlechten Schüler ist überall sehr bedeutend,
ist aber bei den Siebzehnjährigen besonders deutlich ausgeprägt.
Rückblickend dürfen wir auf Grund unserer Untersuchung feststehen, daß
der Minkus-Test ein vorzügUches Mittel zur Prüfung der Leistungsunter-
schiede ist; nicht nur, daß er als Gesamtleistung betrachtet, die Begabungs-
unterschiede deutlich zu erfassen vermag — er bietet auch in der Verteilung
und Abstufung der verschiedenen Denkbeziehungen eine Handhabe, feineren
Tntelhgenzunterschieden nachzugehen .
Die Nebensätze in der Kindersprache. ^)
Von Albert Huth.
Die vorhegende Untersuchung stellt sich zur Aufgabe, unsere wissenschaft-
liche Kenntnis der Nebensätze in der Kindersprache za ergänzen und einer um-
fassenden Untersuchung übsr die Entwicklung des Satzbaues durch eine kritische
Übersicht über die dazu dienlichen Methoden vorzuarbeiten. Es handelt sich
also um die verschiedenen Formen lediglich des Nebensatzes; der Hauptsatz
wurde nicht behandelt, weil wir über die einzelnen Phasen seiner Entwicklung
relativ besser unterrichtet sind als über den ,,fiir die Psychologie des logischen
Denkens so bedeutungsvollen Nebensatz" (Aloys Fischer). Das Material
*) Die Arbeit ist aus Besprechungen in der wissenschaftlichen Arbeitsgemein-
schaft des pädagogisch-psychologischen Instituts München unter der Leitiuig von
Herrn Professor Dr. Aloys Fischer hervorgegangen.
II*
164
Albert Huth
wurde geschöpft aus dem Umgang mit den Kindern des Versuchskindergartens
München mid zwar aus den Schuljahren 1911/12, Klasse II und 1912/13, Klasse III.
Es beteiligten sich Kinder von 4^2 bis 6 Jahren beiderlei Geschlechts, verschie-
denster Begabung und aus allen Bevölkerungsschichten. Da es sich um vorschul-
pflichtige Kinder handelt, kann nur die Sprechsprache in Frage kommen; hie
und da, wenn es die äußeren Umstände erlaubten, wurden systematische Auf-
zeichnungen gemacht. So ist das Material gewonnen aus 11 Protokollen von
provozierten Lebensgesprächen — an ein weitgefaßtes Thema gebunden
(z. B. eine Unterhaltung über das Karussell); 8 Protokollen der Ergebnisse von
Aufforderungen zu sprachlichen Aussagen (z. B. „erzähle mir vom Ok-
toberfest"); 6 Stenogrammen von Nacherzählungen von Märchen und dem
Ergebnis eines zwecks eines anderen psychologischen Versuchs angestellten
Verhörs über einen Ausflug. Eigens zum Zweck der Sprachbeobachtimg wurden
keine Versuche angestellt, ebensowenig wurde irgendwelches Material im Hin-
blick auf üe Möglichkeit sprachlicher Untersuchungen notiert — es sind also
lauter unabsichtliche Beobachtungen, es ist tatsächlich die lebendige Sprech-
sprache des Kindes. — Die einzelnen Kinder wurden nach dem alphabeti-
schen Verzeichnis durch Buchstaben imterschieden und zwar die Knaben durch
große, die Mädchen durch kleine Buchstaben. Über die Begabung der Kinder
und den Stand des Vaters gibt folgende Tabelle Aufschluß.
Tabelle 1.
Begabung und soziales Milieu der Versuchspersonen.
Kind
Begabung
Stand des Vaters
Kind
Begabung
Stand des Vaters
A
mittelmäßig
Monteur
d
mittelmäßig
Stukkateur
B
gut
Beamter
e
sehr gut
Fabrikant
C
mittelmäßig
Trambahnschaffn.
f
mittelmäßig
Schreinermeister
D
mittelmäßig
Schauspieler
g
gut
unbekannt
E
ausgezeichnet
Schreiner
h
gut
Kaufmann
F
sehr gut
Schlosser
i
gut
Maurer
G
gut
Schreiner
k
sehr gut
Lampenwärter
H
gut
Eisendreher
1
sehr gut
Kaufmann
I
sehr schlecht
Friseur
m
sehr gut
Bankbeamter
K
gut
Redakteur
n
mittelmäßig
Taglöhner
L
schlecht
Tapezierer
o
gut
Trambahnführer
M
sehr schlecht
Schreiner
P
mittelmäßig
Monteur
N
gut
Polizeisekretär
q
gut
Musiker
O
mittelmäßig
Metzgermeister
r
mittelmäßig
Musiker
P
gut
Privatier
8
gut
Briefträger
Q
gut
Hofoffiziant
t
sehr gut
Hausmeister
R
gut
Verlagsbuchhänd.
u
mittelmäßig
Lokomotivführei:-
S
gut
städt. Kassenbote
v
schlecht
Monteur
T
sehr gut
Gastwirt
w
gut
Taglöhner
U
gut
Prokurist
X
schlecht
Schäftemacher
V
sehr gut
Lohnkutscher
y
sehr gut
Kunstmaler
W
schlecht
Milchhändler
z
gut
Schreiner
X
sehr gut
Sekretär
a
sehr gut
Maschinist
Y
schlecht
Ingenieur
ß
sehr gut
Kanalarbeiter
Z
mittelmäßig
Monteur
sehr gut
Milchhändler
A
sehr gut
Postpackmeister
S
gut
Ingenieur
a
sehr schlecht
Buchdrucker
e
schlecht
Schreiner
h .
gut
Küchenchef
gut
Maschinenarbeiter
c
sehr gut
Friseur
•
V
mittelmäßig
Schriftsteller
I^e Nebensätze in der Kindersprache 165
C. und W. Stern^) geben 2^4 Jalire als das Alter an, bei dem ihre Kinder
über die Stufe der ausschließlichen Parataxe hinausgekommen sind; Andeutun-
gen von Nebensätzen in mangelhafter sprachlicher Fassung (ohne Partikel)
finden sich frühestens im Alter vod 1 Jahr 11 1/^ Monaten, gewöhnlich erst im
3. Tiebensjahr; mit 2^ Jahren sind Nebensätze verzeichnet, deren Hauptsätze
unausgesprochen blieben, sei es, daß der Nebensatz eine Frage beantwortet, sei
es, daß die Ergänzung des Hauptsatzes dem Zuhörenden überlassen wird. Die
frühesten angegebenen Beispiele vollkommener Nebensätze stammen aus dem
Anfang des 4. Lebensjahres (S. 70). Ihrer Art nach sind die Nebensätze der Ster n-
schen Kinder Subjektsätze, Objektsätze (S. 70, 104, 106) und Adverbialsätze.
Von den verschiedenen Adverbialsätzen sind vertreten Temporal-, Kausal-,
Konditional-, Final- mid Konsekutivsätze. Bei den ersten auftretenden Neben-
sätzen ,, bleiben die charakteristischen Partikel zimächst mehr oder weniger lange
latent oder können durch einen undefinierbaren Universallaut (etwa ä oder mm)
vertreten werden. Dabei ist für den aufmerksamen Hörer der Nebensatzcharak-
ter dennoch zweifellos auf Grund der Betonung, der Modulation und der Wort-
stellung." Die ersten Nebensätze drücken mehr äußerliche Beziehungen aas, später
erst werden Nebensätze zur Bekundung innerer logischer Beziehungen verwendet.
Als schwierigste Nebensatzform bezeichnen C. und W. Stern den irrealen
Bedingungssatz.
Mit der durch die Stern sehen Untersuchungen wohl noch nicht endgültig
gelösten Frage, in welchem Lebensalter das Kind zur Hypotaxe gelangt, kann
ich mich nicht befassen, da meine jüngsten Versuchspersonen 4^ Jahre zählten,
also ohne Zweifel schon in das Nebensatzstadium eingetreten waren. Meine Unter-
suchungen erstreckten sich vielmehr
1. auf die verwendeten Nebensatzpartikel;
2. auf elliptische Sätze (ohne Partikel), die aus irgendwelchen Gründen
■(Sprechtempo, Stimmmodulation, Zusammenhang usw.) den Verdacht erregen,
als Nebensätze gemeint zu sein;
3. auf die mit Nebensatzpartikeln eingeleiteten Redeteile der Eän-
dersprache, auch wenn bei genauerer Analyse sich ergab, daß sie keine echten
Nebensätze waren.
Angeschlossen wurden Untersuchungen über die Beziehimg zwischen Neben-
satzentwicklung und Geschlecht einerseits, zwischen Nebensatzentwicklung und
Begab^ing andrerseits.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, dürfte es sich empfehlen, ein Schema
der auf die Kindersätze angewandten Einteilung der untergeordneten
^) C. u. W. Stern bieten in ihrer Monographie über die Kindersprache (Leipzig
1907) die beste Zvisammenfassung der Beobachtungen u. Forschungen über die Sprach-
entwicklung des Kindes bis zur Schulreife. Zu den fast durchweg musterhaften
Aufzeichnungen über die Entwicklung der eigenen Kinder ziehen sie mit kritischer
Vorsicht eine große Anzahl von Veröffentlichungen anderer Beobachter heran und
•widmen den methodischen Hilfsmitteln wie den Parallelen zwischen der Sprach-
entwicklung des Individuiuns und derGattung volle Aufmerksamkeit. Über die Neben-
sätze handeln die Seiten 190 f, ihres Werkes. Wie jede Arbeit über Kindersprache
ist auch die vorliegende sich bewußt, vielfach durch das Stern sehe Werk gefördert
worden zu sein.
166 Albert H«th
Sätze zu geben. Ich entnehme es aus dem „Abriß der deutschen Sprachlehre
von Madel, Dr. Micheler, Dr. Reidelbach, Dr. Roth, Schöttl, Dr, .
Stöckel".
1. Subjektsätze, z. B. Wer an den Weg baut, hat viele Meister,
2. Objektsätze, z. B. Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll.
3. Prädikatsätze, z. B. Die Taten sind es, woran man den Menschen erkennt.
4. Adverbialsätze und zwar
a) Lokalsätze, z. B. Wo viel Freiheit, ist viel Irrtum.
b) Temporalsätze, z. B. Wie er winkt mit dem Finger, auf tut sich der
Zwinger,
c) Finalsätze, z. B. Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange
lebst und es dir wohl gehe auf Erden.
d) Kausalsätze, z. B. Dadurch, daß er sich zurückzog, zeigte er seine
Mutlosigkeit.
e) Modalsätze, z. B, Er tat, als ob ich ihn beleidigt hätte.
f) Restriktivsätze, z. B. Soweit ich ihn kenne, ist er ein Edelmann.
g) Komparativsätze, z. B. Je mehr Feinde, desto mehr Ehre.
h) Konsekutivsätze, z. B. Er ist so schwach, daß er das Bett nicht verlassen
kann,
i) Konditionalsätze, z. B. Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie
der Mensch bezähmt, bewacht,
k) Konzessivsätze, z. B. Ob auch die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt
am Himmelszelt.
5. Attributsätze und zwar
a) bestimmende, z. B. Hunde, welche viel bellen, beißen nicht.
b) ergänzende, z. B. Die Frage, ob unser Werk gelingen wird, macht mir
viele Sorgen.
Mit der Aufstellung dieses Nebensatzschemas soll aber durchaus nicht gesagt
sein, daß ich in meinem Material die angegebenen Arten von Nebensätzen wieder-
zufinden hoffe — ganz im Gegenteil leiteten mich bei meinen Untersuchungen
psychologische Erwägungen, und erst wenn seelenkundliche Einteilungsgründe
versagten, traten grammatikalisch-logische an ihre Stelle.
Die Kinder sprechen im großen und ganzen den etwas abgeschliffenen Dialekt
ihrer erwachsenen Umgebung („Altersmundart" würde Berthold Otto sagen),
es ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die Eigenheiten des oberbayeri-
schen Dialekts in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen, weil es uns
sonst passieren könnte, (laß wir Erscheinungen auf Konto der kindlichen Sprach-
entwicklung setzen, die in Wirklichkeit in der Mundart ihreErklärung finden.
Ich habe darum das Büchlein ,,Die deutschen Mundarten" von Prof. Dr. Hans
Reis, sowie den zweiten Abschnitt des zweiten Teiles des Lehrbuches der deutschen
Sprache von Lippert daraufhin durchsucht, ob die Nebensatzbildungthrif-c derS
spräche und die der Münchener Mundart Unterschiede aufweisen, konnte aber
nur die Feststellung der ohnehin bekannten Tatsache finden, daß „wo" als
beziehendes Fürwort bevorzugt wird (,,die Fiau, wo ich gesehen habe") und daß
sich mit „wo" noch hinweisende Fürwörter verbinden können („der Mann,
der wo da war") (Reis S. 99). Eine für uns bedeutungslose Anmerkung besagt
(S. 108) über die Wortstellung im Nebensatz^ daß eine Wiederholung der Füj-~
Die Nebensätze in der Kindersprache 167
Wörter „mir" und „ös" hinter dem Zeitwort im Nebensatz niemals vorkommt
(,,mir geamer wohimer wollen" = wir gehen, wohin wir wollen). — Eine Art
Syntax des Münchnerischen, die mit unseren Ergebnissen über die Synt«x der
Kindersprache verglichen werden könnte, war nicht beizubringen; ich selbst
war nicht in der Lage, dieseAufgabe der Dialektforschung mit zu bearbeiten.
Bevor wir die Besprechung unserer Ur tersuchungen beginnen, ist noch
eine klare Festlegung des Begriffes Nebensatz notwendig. Es handelt
sich darum, was wir noch als Nebensatz gelten lassen wollen — denn daß wir
nicht den Maßstab der Gramnratik anlegen dürfen, zeigen schon die Sternschen
Untersuchungen, die Sätze wie 'pa'pa sieh mal — hilde macht hat oder eisenbahn
hüterug — hauch haus is (d. h. Vater soll malen : eine Eisenbahn, einen Güterzug,
wo der Rauch raus kom.mt) unbedenklich als Nebersätze bucht. Es tritt die Not-
wendigkeit an uns heran, ,,die Psychogenesis in erster Linie nicht auf die
Worte, sondern auf die Sätze" (und ich füge hinzu, sicher ganz im Sinne Sterns :
auch auf Tonfall, auf Sprechtempo, auf den Zusammenhang) zu giünden"
(Stern, S. 194).
Das allgemeinste Merkmal des Nebensatzes, die Unselbständigkeit des
in ihm ausgedrückten Gedankens weist auf einen psychologischen Prozeß
zurück; eben diesen Prozeß müssen wir kennen und düifen dann Phrasen, sprach-
liche Zusammenhänge, die durch ihn getragen sind, als Nebensätze in Anspruch
nehmen. Die einfachsten Beispiele von Nebensätzen (,,W'.-lches schön ist",
,,ab er kam", ,,daß er gestraft werden soll") sind grammatisch geschlossene,
vollständige und korrekte Wortfolgen, die für sich allein keinen Sinn
haben, mindestens keinen klaren und eindeutigen Sinn. Sie erweisen sich damit
als Ausdruck eines Teilgedankens und werden ihrem Simi nach erst dann klar
und eindeutig, wenn der ganze Gedanke vorliegt, dessen Teil oder Fragment
sie bilden (,,Ein Buch, welches schön ist, verdient Schonung"; ,,der Freim.d
begrüßte mich, als er kam"; ,,der Hund merkt, daß er gestraft werden soll").
Wemi nun ein mehrere Teile oder Momente umfassender Gedanke nicht einfach
durch eine Folge von Hauptsätzen in einfacher Aneinanderreihung oder durch
einen zusammengezogenen Satz, sondern in einer Periode, in einer Vcrbindvnig
von Haupt- und Nebensätzen zum Ausdruck gebracht wird, so ist dafür ein
bestimmtes Verhalten, eine Weitung der einzelnen Gedankenteile maßgebend.
Ich könnte (unter Verwendung von nur einem der angeführten Beispiele) so den-
ken: ,,das Buch ist schön", ,,das Buch verdient Schonung". In einer Gedanken-
bewegung, wie sie durch die asyndetische Reihung von Hauptsätzen zum Ausdruck
kommt, ist zwar der Gegenstand, über den ich denke, festgehalten, als identisch
derselbe dauernd gemeint, aber die einzelnen Gedanken, die ich mir über diesen
identischen Gegenstand mache, sind jeder für sich selbständig, gegeneinander
isoliert. Das Denken bewegt sich in immer neuen An- und Absätzen ; jetzt wird
diese Seite, jetzt eine andere des Gegenstandes erfaßt; jede jeweils erfaßte Kom.-
ponente wird als Aussage, als Prädikat des identischen Subjektes formuliert.
Alle diese Aussagen stehen als Schöpfungen selbständiger Denkakte gleichge-
ordnet nebeneinander.
Die Sachlage wird anders, sobald das Denken auf die gegenseitigen Beziehungen
der Merkmale eines Gegenstandes achtet; von diesem Augenblick an kann
manche Erkenntnis untergeordnet werden einer anderer ; es kann demgemäß
168 Albert Huth
auch die eine Aussage als nebensäclilicli im Verhältnis zur anderen, der Haupt-
aussage, behandelt werden. So mag es dem ermahnenden Lehrer wesentlich nur
auf die Erkenntnis ankommen, daß das Buch Schonung verdiene, er will die
Kinder nur zur Unterlassang der Beschmutzupg, Zerreißung usw. bringen. In
der ganzen Folge von Aussagen über das Buch liegt für ihn (im gegebenen Augen-
blick) der innere Nachdruck auf dem Anrecht des Buches auf Schonung. Zugleich
abar stellten sich diejenigen Erkenntnisse über das Buch als Stützen und Unter-
stützungen ein, die geeignet sind, dieses Anrecht zu motivieren: ,,Da3 Buch ver-
dient Schonung, weil es schön ist". Der Nebensatz ist damit vorhanden.
In einem späteren Zusammenhang mag dieser Sachverhalt in anderer sprachlicher
Wendung ausgeprägt werden, etwa in relativischer : ,,Das Buch, welches schön
ist,, verdient Schonung", oder meinetwegen sogar in attributivischer ,,Das
schöne Buch (b3tont, mit innerlich anklingendem Gegensatz zum häßlichen)
verdient Schonung". Auch in diesem Attribut, genauer : im Tonfall dieses Attri-
butes steckt noch der Nebansatz.
Freilich müßte eine weiterdringende Analyse noch mehrere Fälle auseinander-
halten. Der NebsDsatz enthält immer einen vollständigen Gedanken, enthält
ihn absr immer in einer für sich genommenen unverständlichen Form. Diese
Tatsache weist darauf hin, daß es lediglich die Stelle in der Architektur eines
Gesamtgedankens ist, die dem anderen Gedanken die Sslbständigkeit raubt.
So ist in dem Gesamtgedanken der Schonungsbadürftigkeit des Buches ein anderer
Gedanke unselbständig enthalten : der der Schönheit des Buches; in dem Gesamt-
gedanken der Bagrüßung des Freundes als unselbständiges Moment der Zeit-
punkt und Anlaß enthalten. Wie man aus dem Unterschied der Beispiele ersieht,
kann die sachliche Beziehung der Momente ganz verschieden sein; bald ist die
Folge, bald der Grund untergeordnet, bald die Ursache, bald die Wirkung, bald
der Umstand der Zeit oder des Ortes. Deshalb ist die sachliche Beziehung der
durch die Teilgedaaken erfaßten Gegenständlichkeiten die entferntere Voraus-
setzung für die Nebensatzbildung. Diese selbst vollzieht sich nun, indem ein
möglicher selbständiger Gedanke, der ein Moment des Sachverhalts ausdrückt,
das in irgendeiner Beziehung zu dem mir gerade wesentlichen Momente steht,
in den Ausdruck dieses Momentes eingeordnet wird. Man bezeichnet deshalb
mit Recht Nebensätze als untergeordnete Sätze. Das Bewußtsein dieser
Untergeordnetheit eines Gedankens im Aufbau eines Gesamtge-
dankens ist das volle entfaltete Nebensatzbewußtsein.
Drücken wir das Gesagte noch einmal anders aus : auf der einen Seite stehen
die gedachten Momente eines Sachverhaltes und ihre (bald mitgedachten, bald
nur vorausgesetzten, bald übersehenen) sachlichen Beziehungen zueinander (z. B. :
das Buch, seine Schönheit, sein Recht auf Schonung, der sachliche Zusammen-
hang, der zwischen Schönheit und Anspruch auf Schonmig besteht). Auf der
anderen Seite stehe ich, steht der auffassende, sprechende, auf andere wkende
Mensch. In rein erkennender Geisteshaltung würde ich nach und nach alle Mo-
mente eines Gedankens erfassen und die Teilstücke in ihrer sachlichen Ordnung
nachbilden; für meine praktischen Zwecksetzungen ist mir aber von den ge-
dachten Momenten des Sachverhaltes gerade eines (jetzt dieses, ein andermal
ein anderes) vordringlich. Dieses aus praktischen Motiven vordringliche Moment
wird übergeordnet, wird Inhalt des Hauptsatzes ; ein mit ihm sachlich verknüpftes
Die Nebensätze in der Kindersprache
169
Moment wird um seiner sacMichen Bsziehung willen in den Gesamtgedanken auf-
genommen, aber als untergeordnetes Moment, in der Rolle, eventuell auch in der
Form des Nebensatzes.
Diesen Überlegimgen zufolge bezsichnen wir als Nebensatz jedes sprachlicbe
Gebilde, von dem angenommen werden muß, daß es der Ausdruck
eines Beziehungsbewußtseins ist — gleichgültig, ob die spracMichen Par-
tikel vorhanden sind oder ob sich die Annahme eines Beziehungsbewußtseins we-
sentlich auf die Beobachtimg der Nebenumstände stützt, unter denen der in
Frage stehende Ausdruck gesprochen wurde. In dieser Definition des Neben-
satzes ist über die Art des Bsziehungsbewußtseins nichts enthalten, wir müssen
uns aber darüber klar sein, daß dai sachliche und sprachliche Beziehungsbewußt-
sein auseinanderzuhalten ist und daß über diesen beiden noch das eigentliche
grammatikalische Bsziehungsbewußtsein steht, zu dem sich naturgemäß Kinder
im vorschulpflichtigen Alter nicht aufschwingen können. Um einen Wort-
komplex als Nebensatz zu kennzeichnen, genügt es also, wenn ein sachliches
Beziehungsbewußtsein in einer ,, einheitlichen Stellungnahme zu einem Bewußt-
seinsinhalt" (so definiert Stern den Satz, a. a. 0. S. 164) vorhanden ist. Schon
eine höhere Stufe der Sprachentwicklung ist erklommen, wenn das Kind für das
sachliche Beziehungsbewußtsein einen sprachlichen Ausdruck findet. — —
Tabelle 2.
Verteilung der Nebensatzpartikel auf die einzelnen Altersstufen.
A. Fürwörter
4
V, Jahre
ö Jahre
, S'/a Jahre
6 Jahre
der, die, das
den
1,
1
48.8% 1
30,0%
1 12.5%
3,*%
B. Umstsmdswörter
j!
■
1
i
wo, won, die wo ■) 2,3 %
da, dada 2,3 'o
na, nacha (= hierauf, nachher) 4,6 ^^
dann 7.0 \',
C. Bindewörter {
aber 4,7%
als ,, 2,3%
bal (= wenn oder sobald als) —
bis i 2,3%
daß 4,7%
derweil (ungefähr während) i 4,7%
ob i 2,3%
so ;!
sonst ' —
weil I —
wenn li.'' 'o
wie
■yraa —
27,0%
3,0%
6.0%
12,5%
27,4%
10.7%
3.4%
0,7%
3.0 ?o
6.0%
3.0%
6.0%
6,0%
10.0 V
12.504
12,5%
12,5%
12,5%
25,0 %
2,0%
0,7%
M%
07%
25,4 o/b
4.7%
18,8%
0.7%
Fragen wir uns nun zunächst, welche Nebensatzpartikel das Kind
überhaupt anwendet, so ergibt mein Material, daß die Kinder die Fürwörter
170
Albert Huth
der, die, das und den, die Umstandswörter wo, da und dann und die Binde-
wörter weil, wie, wenn, daß, aber, ob, als, so, sonst, bis und was gebrauchen;
außerdem die im Hochdeutschen nicht vorkommenden Umstandswörter won und
„die wo" (statt wo), dada, na und nacha (für da und dann), sowie die ebenfalls
in der Schriftsprache fehlenden Bindewörter derweil (am besten mit ,, während"
zu übersetzen) und bal (= wenn; auch: sobald als). — Die Viereinhalbjährigen
gebrauchen mit Vorliebe das Fürwort der (die), öfter auch wenn; bei den Fünf-
jährigen ist wo vorherrschend, auch die Fürwörter der, die, das sind häufig;
mit 5^ Jahren findet sich schon weil; die Sechsjährigen gebrauchen haupt-
sächlich wo, weil und wie, dann auch da, w-enn und na. Über die genauere Ver-
teilung gibt Tabelle 2 S. 169 Aufschluß.
Es wäre eine ungemein reizvolle Aufgabe, die Häufigkeit des Vorkommens
der Nebensatzpartikel in der Dialektsprache der erwachsenen Umgebung der
Kinder mit den vorstehenden Zahlen zu vergleichen — leider war es mir nicht
möglich, die erforderlichen Unterlagen aus der Mundartforschung zu erhalten.
Ich muß mich darauf beschränken, einen zusamn^enfassenden Überblick über die
vorkommenden Partikel zu geben (Tabelle 3).
Tabelle 3.
Häufigkeit der auftretenden Partikel.
der, die, das, den .
wo, won, die wo
da, dada ....
na, nacha ....
dann
aber
23,7 %
17,3%
3,5%
1,9%
1.7%
als
bal . .
bis
daß .
derweil
ob .
0,8%
so
0,8%
sonst . . .
; 0,0 0/^
weil . . . .
! 6,1 <%
wenn . . .
, 5,0%
wie . . . .
1 3,9%
was . . . .
1,50;,
3,3 %
12.6%
6.2%
7,2 <%
0.2%
Nach meinem Material sind die Fürw^örter der, die, das, die Um^standswörter
wo, won imd die wo und ferner das begründende Bindewort weil die beliebtesten
Partikel der Kinder. im Kindergartenalter. Spätere Untersuchungen werden
erst entscheiden können, wieweit diese Verteilung der Partikel der Schrift-
sprache oder der Mmidart entspricht bzw. was davon Eigenart der kindlichen
Sprachentwicklung bildet.
Vom 5. Lebensjahr abfinden sich vereinzelt elliptische Sätze (ohne Partikel),
die den Verdacht erregen, als Nebensätze gemeint zu sein. — Der
Schüler Konrad zeigt auf eine orangefarbige Kapuziner blute und sagt: Die ist
gelb. Sofort rufen andere in überlegen -entrüstetem Tone : Der Konrad sagt,
das ist gelb, gleichsam als ob sie fortfahren wollten : wie man nur so eine Dumm-
heit sagen kann! — Ein anderer Schüler ( Q — in Klammern ist jedesmal der Buch-
stabe des betreffenden Kindes angegeben — vergleiche Tabelle 1 — ; wo der Buch-
stabe fehlt, ließ sich nicht mehr feststellen, welches Kind den Satz gesprochen
hatte) erwidert auf m.eine Frage, was sie damals auf dem Ausfluge gespielt hätten :
Katz lind Maus glaub ich. Die beiden Sätze spricht er unmittelbar nacheinander,
nach „Maus" macht er keine Pause. — In beiden Fällen haben wir es sicher mit
elliptischen Deklarative ätzen zu tun (Objektsätze nach dem oben angegebenen
Schema), ins Schriftdeutsche übersetzt sollte es heißen: Der Konrad sagt, daß
das gelb seif und Ich glaube, daß wir' Katz und Maus gespielt haben. — Man sieht
Die Nebensätze in der Kindersprache 171
aber auch, wie die Beurteilung solcher Satzgebilde durchaus abhängig ist von der
Art und Weise, wie die Kinder sprechen. Der Konrad sagt: — Pause — Das ist
gelb wäre imbedingt als Hauptsatz (direkte Rede) aufzufassen, ebenso Katz
und Maus — Pause — glauV ich. Alles kommt hier auf die Sprechmelodie, auf
die Modulation der Stimme, auf das Tempo an, in dem die Sätze aufeinander
folgen. Das sieht man auch aus den übrigen Beispielen, die sich aus meinem Ma-
terial ergaben. Ein Mädchen erzählt, daß wir bei dem schon erwähnten Ausflug
in den Regen gekommen waren, daß wir dann im Englischen Garten einen Spiel-
platz mit Bänken trafen, wo wir rasteten. Aber, fährt sie (a) fort, mir (mundart-
lich = wir) sind nicht drauf gesessen, die Bänk^ waren so naß. Wieder war zwischen
den beiden Sätzen keinerlei Pause, was mich zu der Annahme berechtigt, daß
die Bank waren zu naß als elliptischer Kausalsatz aufzufassen ist. Das Mädchen
wollte doch offenbar begründen, warum sie sich nicht setzte, das Kausalbewußt-
sein ist vorhanden. Auf das vorhandene Beziehungsbewußtsein schließe ich aus
der Sprechweise — folglich haben wir es wirklich mit einem elliptischen Kausal-
satz zu tun. — Einen verkürzten Temporalsatz bildete ein Junge (S), indem er
seine Erzählung von der Entstehung des Backsteines (wir waren in einer Ziegelei
gewesen) mit den Worten schloß: NacTia is er fertig gtven, hams ihn an Boden
hingworfen. Die ganze Art des Sprechens, wie der Knabe nach nacha eine ganz
kleine Pause machte, bei gwen mit der Stimme oben blieb und das hams gleich
nach gwen brachte, bürgt mir dafür, daß es hätte heißen sollen: Als er fertig war,
haben sie ihn auf den Boden geworfen. — Nicht so sicher bin ich mir bei einem
anderen Knaben (E), der von der Drehorgel eines Karussels auf dem Oktoberfest
erzählte : Da dreht allewei der Mo um und inne schpuits, die Musi. Das Grebilde
könnte eine Satzreihe sein, eben nichts weiter als ein Stück aus einer in lauter
Hauptsätzen fortlaufenden Erzählimg: Auf dem Oktober fest ist ein Karussel. Vorne
am Karussel steht eine Drehorgel. Da dreht der Mann immer um. Innen spielt
die Musik . . . Daß diese Erklärung nicht zutrifft, geht aus dem Zusammenhang
hervor, in dem der Satz gebracht wurde. Es war bei der Vorbesprechung einer
Nagelarbeit — jedes Kind sollte sich ein Spielkarussell zimmern. Wir hatten
festgestellt, daß wir einen runden Boden und ein rimdes Dach brauchen, es war
auch schon gesagt worden, daß in der Mitte so a Stange nei muß. Dann war ein
Kind vom Thema abgeschweift, E unterbrach es mit den Worten : Inne nei an
Stecken in der Mitten drinn. Inna is a so a groß Viereckatets (er meint die Dreh-
orgel). D(i dreht allewei der Mo um und inna schpuits, die Musi. — Wenn das
in Frage stehende Sprachganze aus 2 Hauptsätzen bestehen würde, wäre es zwei-
fellos ebenso gebildet v/orden wie die vorhergehenden beiden Hauptsätze. Die
Verbindung durch und deutet in diesem Falle an, daß ein sachliches Beziehungt-
bewußtsein zwischen der Tätigkeit des Umdrehens imd dem Spielen der Musik
vorhanden ist. Dieses Beziehungsbewußtsein kami sein ein temporales (Währefid
der Mann umdreht, spielt die Musik) oder ein kausales (Die Musik spielt, weil
der Mann umdreht) oder endlich ein konditionales (Die Musik spielt innen, wenn
der Mann umdreht). Weder sachliche noch sprachliche Gründe können dafür
vorgebracht werden, ob E hier einen elliptischen Temporal-, Kausal- oder Kon-
ditionalsatz gesprochen hat; ich persönlich neige zu der Ansicht, daß es sich um
einen Konditionalsatz handelt. Das ist aber rein gefühlsmäßig: wenn ich mich
in den Schüler E hineindenke, komme ich dazu, hier ein Konditionsverhältnis
172 Albert Huth
anzunehmen. — Die elliptischen Sätze machen 2,1% der überhaupt vorkommen-
den nebensatzähnlichen Gebilde aus. Festzuhalten ist, daß sich vom 5. Jahr
-ab vereinzelt elliptische Sätze finden, die als Nebensätze aufzufassen sind. Sie
entpuppen sich als Objekt-, Konditional-, Kausal- und Temporalsätze. Für die
Versuchsanordnung ist wichtig, daß Sprechmelodie und Sprechtempo, Pausen
usw. mitnotiert we^-den und daß das Protokoll den ganzen Zusammenhang er-
sehen läßt. —
Bei der Besprechung der mit Nebensatzpartikeln eingeleiteten Rede-
teile der Kindersprache betrachten wir zunächst das gesamte Material nach
Altersstufen geordnet, um dann daraus Typen der kindlichen Nebensatzentwick-
lung abzuleiten. Von den 39 nebensatzähnlichen Gebilden der Vi er einhalb -
j ähri gen entpuppen sich nicht weniger als 29 als verkappte Hauptsätze, bei einem
Satz läßt sich kaum entscheiden, ob er als Haupt- oder Nebensatz anzusprechen
ist, auf jeden Fall ist er sprachlich falsch gebildet; 9 Nebensätze sind auch
sprachlich einwandfrei. Auf die Hauptsätze entfallen 74,4%, der sprachlich
verfehlte Nebensatz zählt mit2,6 % und für die sprachlich richtig gebildeten Neben-
sätze bleiben 23,0%. Betrachten wir zimächst die Hauptsätze. Zweimal findet
sich adversative Koordination: (Q) Das CRnstkindl hat mir a Geign bracht, aber
die is schon wieder kaput. — (Q) Ich hätt ihn fangen wollen und dann ist er gleich
davongelaufen, aber nicht so fest, nur a bisserl is er davongelaufen. — Zwei Sätze
sind mit derweil gebildet. Dieses merkwürdige Wort läßt sich nicht ohne wei-
teres durch einen hochdeutschen Ausdruck wiedergeben, in vielen Fällen ist Über-
setzung mit statt dessen angängig, manchmal steht derweil für unterdessen, häufig
ist Umschreibung mit ivährend notwendig. E erzählt vom Wolf und den sieben
Oeißlein : . . . sie ham gmeint, ihre Mutter kommt rein, derweil war^s der Wolf
und später : Sie hat gschaut, was im Bauch vom Wolf wackelt, derweil war^n eahnene
(= ihre) Kinder drinna. Schriftdeutsch: Sie haben gemeint, ihre Mutter käme
herein, indessen war es der Wolf und: Sie hat geschaut, was im Bauche des Wolfes
wackelt. (Sie überlegte noch hin und her,) es waren aber ihre Kinder drinnen.
In beiden Fällen ist eine Art adversative Koordination herauszufühlen : im ersten
+Satz wird die erwartete Mutter dem erscheinenden Wolf gegenübergestellt,
im zweiten ist das derweil war^n eahnena Kinder drinna gewissermaßen zum Zu-
hörer gesprochen : die Mutter steht da und überlegt, wir aber wissen bereits,
daß da ihre Kinder drinn stecken. — Beim nächsten Satz ist auch die Deutung
als Konditionals atz möglich: Da hat man auftreiben müssen, na is^s rumglaufen{\J.)
Dem Sinne nach meint der Knabe : wenn man so aufgetrieben hat, ist es rum-
gelaufen — es handelt sich um ein Spielzeug mit Uhrwerk — das Abhängigkeits-
verhältnis wird gefühlt, kann aber noch nicht sprachlich formuliert werden. —
Mädchen e erzählt: Ich war bei meinem Onkel und da hab ich ihm erzählt und vor-
gesungen und da hab ich so gefragt bis zwei Tag, dann bin ich wieder fortgereist. ■ —
Bis zivei Tag sollte vielleicht heißen zwei Tage lang, vielleicht aber ist es zu er-
gänzen zu: bis zwei Tage um waren. Ic'i vermag nicht zu entscheiden, ob wir
es hier mit einem Umstand der Zeit oder mit einem verkürzten Temporalsatz
zu tun haben. — Es folgt nun eine Anzahl von mit der eingeleiteten Sätzen, die der
Form nach zwar Hauptsätze darstellen, bei denen aber ein sachliches Beziehungs-
bewußtsein unschwer zu erkennen ist. Sie stammen zum Teil aus einer Unter-
haltung über Fasching, zum Teil aus einer Vorbesprechung des Hundes. E:
Die Nebensätze in der Kindersprtwjhe 173
Und am Sonntag da hob ich a Bäuerin gesehen, die hat den Schnaps austrunken. —
E: Und an Bauern hob ich gsehen, der hat die Maskeradi recht naufghaut. —
f: Ich hob gestern Maskeradi gsehn und Mädeln und Buben, die haben an Hut
ghabt. — S : Da is a Mann dort gsessen, der hat Wurst in die Höh' ghebt. — S :
Und an der Seiten da is einer gsessen, der hat Wursteln gessen. — S : Da hob ich an
Mann gsehn, der hat brennt. — R : Da hob ich an bösen Buben gesehen, der hat den
Hund ins Ohr geblasen. — e : Ich haV amal an Hund gsehen, der hat eine Rüsche
umghabt. — X : Ich hab amal an Hund gsehen, der hat eine Schleife ghabt. — e :
Ich hob amal an Hund gsehen, der hat eine Zipfelhaubn auf ghabt. — E: Da war
amal a Hund, der is Maskeradi gelaufen. — S: Es war amal a Hund, der hat eine
Larve ghabt und eine Rüsche. — i: Es war ein Hund, der hat mir bald in die Nase
gebissen. — a : Ich hab einen Hund gsehen, der hat mich gar nicht gebeißt. — R :
Ich hab einen Hund gesehen, der hat keinen Schwanz gehabt. — t: Es war amal a
Kasperl, der hat eine Geige gehabt. — s : Ich hab einen Hund gesehen, der ist Mas-
keradi gewesen. — y : Ich hab einen Hund gesehen, der hat mich am Rock gepackt.
— £ : Ich hab einen Hund gesehen, der hat mich gar nicht gebissen. — e : Ich hab-
einen Hund gesehen, der hat keinen Schwanz gehabt. — X: Ich hab mal einen
Hund gesehen, der hat mich in die Hose gebissen. — N : Ich hab einen Hund gesehen,
der hat einen Schnurrbart gehabt. Den Satz des Mädchens e : Da hab ich einen
Buben gesehen als Bär habe ich zu den „nebensatzajtigen Grebilden" gerechnet,
weil es mir wenn auch nicht als wahrscheinlich, so doch als nicht unmöglich
erscheint, daß dem Kind auch hier wieder die Beziehung bewußt geworden ist,
daß es dasselbe zam Ausdruck bringen wollte, was wir in der Schriftsprache mit
den Worten sagen : Ich habe einen Buben gesehen, der als Bär verkleidet war. —
Treu unserer Definition des Nebensatzes als dem Ausdruck eines Beziehungs-^
bewußtseins mußten wir die eben betrachteten 29 Sprachgebilde in unsere Unter-
suchimg einbeziehen. Wir wollen sie als ,, Hauptsätze mit Nebensatzcharakter"
bezeichnen. Unter diesem Namen verbergen sich, wie wir gesehen haben, adversa-
tive Satzreihen, unvollkommene Konditional- und Temporalsätze und bestim-
mende Attributsätze (Bildung mit der).
Der sprachlich verfehlte Nebensf:tz lautet: Wenn da ein Kind ein übrig
Brot oder ein Stückel Apfel hat, das soll's den Vögeln hinwerfen. Durch Übertra-
gung ins Schriftdeutsche erhält man einen Konditionalsatz: Wenn ein Kind . .,
so soU es das . . .
Sprachlich richtig gebildet sind 3 Objektsätze, 1 Lokalsatz und 5 Kon-
ditionalsätze. N erzählt: Ich bin mit meiner Mama zur Krippen gangen und hab
geschaut, ob das Christkindel geboren worden ist. Das Kind war jedenfalls schon
früher einmal in der Kirche, als die Verkündigungsszene aufgestellt war; jetzt
gebautes, ob immer noch dasselbe daist oder ob das Christkindel geboren wor-
den ist. — E berichtet, wie die Geißenmutter zum schlafenden Wolf kommt:
Dann ham sie's gsehen, daß er da liegt. — Gleich darauf bildet E noch einen Ob-
jektsatz : Dann ham sie's gsehen, daß da was wackelt drinnen (im Bauche des Wol-
fes). — Als ich die Geschichte von den drei Weisen aus dem Morgenland er-
zählte, rief X dazwischen: Wo das Christkindel geboren wird, da muß auch ein
Stern ein. — Die 5 Konditionalsätze lauten : X : Wenn's an Schnee fressen, müssen' s
ersticken (die Vögel nämlich). — X: Wenn aber ein Wind kommt, na treibt er'a
weg (das vor das Fenster gelgete Vogelfutter). — Die Vögel laufen davon, wenn
174 Albert Huth
luan es ihnen hinwirft. — E : Dan7i hat der Wolf gesagt: Wennst ^d mir keine gibst,
dann fress ich dich! — E : Dann hat der Wolf gsagt: Wennst ^d mir nix nauf streichst,
dann fress ich dich.
Das Ergebnis wäxe für die Viereinhalbjährigen: Es findet sich häufig
ein sachliches Bsziehungsbewußtsein, das absr noch nicht sprachlich formuliert
werden kann. Daher sind drei Viertel der „nebensatzartigen Gebilde" der Vier-
einhalb] ährigen als „Hauptsätze mit Nebsnsatzcharakter" anzusprechen. Es
kommen abar schon richtig gebildete Objekt-, Lokal- und Konditionalsätze vor.
Einer besonderen Untersuchung bedarf die früheste Grenze des Auftretens dieser
Sätze. —
Die Durcksicht des von fünfjährigen Kindern gewonnenen Materials ergab
bai 27 Sätzen ein Unterordnungsbewußtsein. 8 davon sind Hauptsätze (29,6%),
12 sprachlich verfehlte Nebensätze (44,5%) und zwar 2 völlig verfehlte (7,5%)
imd 10 mundartlich richtige (37,0%), deren Satzkonstruktion sich zwar nicht
in der Schriftsprache, wohl aber im Münchener Dialekt findet — und endlich
7 sprachlich einwandfreie Sätze (25,9%).
Als Hauptsätze mit Nebensatzcharakter sind zu bezeichnen: Q: Na
is der Kasperl kommen, der hat ihm dann wieder aufgesperrt (ein Wachtposten
war ins Schilderhaus eingesperrt worden und wurde vom Kasperl befreit). —
Aus derselben Kasperli ade : Q : Nacha is der andere kommen mit der grünen Mützen,
der hat sich na ins Schilderhaus neigstellt. — E : Und da war a Mo draußd, der hat
an großen Stecken ghabt. — e: Ich hab amal a Pferd gesehen, des is da vor. — S:
An der Oktoberwiesen draußd, da hab ich a AiUerl gsehn, des is ganz hoch droben
vorbeig fahren. Die ebsn angeführten 5 Sätze sind grammatisch natürlich reine
Parataxe, psychologisch dagegen ,, Nebensätze", weil ein aufkeimendes Bewußt-
sein der verschiedenen Wichtigkeit der zusammengekoppelten Sätze unverkennb^-
ist. Bei weiter vorgeschrittener Sprachentwicklung hätten sich bestimmende
Attributsätze ergeben. — E erzählt von einem Autokarussell auf dem Oktober-
fest: Na is mei Vada neigangen, hat zahlt und derwei waren lauter Auto drinna.
Hier haben wir wieder die merkwürdige Bildung mit derweil. Der Gedanken-
gang ist sicher : Während wir uns Wunder was erwarteten, ivaren nur lauter Autos
■drinnen. In dem Wörtchen derwei steckt also hier ein unausgesprochener Tem-
poralsatz. Nebenbei sei auf die völlig richtige Zusammenziehung hingewiesen:
Mei Vota is neigangen, hat zahlt ... — Die nächsten 2 Sätze enthalten ein Kondi-
tionalverhältnis, dessen sprachliche Formulierimg denKindem noch nicht möglich
war. T: Na hat ma' so andrücken müssen, na ham's allewei geschwungen. — K:
Na hat wa' so angedrückt, na is er gehupft. — Die nebsnsatzartigen Hauptsätze
-der Fünfjährigen verbergen also im ausgesprochene Temporal-, Konditional-
imd Attributsätze.
Völlig verfehlt sind 2 Sätze, die anläßlich des Namensfestes einer den Kin-
dern bekannten Lehrerin entstanden. Der erste lautet (E): Ich gratulier dir
(die Kinder sprachen ihre Erzieher mit „du" an) zu deim Namenstag, daß 'd lang
lebst und gsund bleibst. Gratulieren ist hier im Sinne von wünschen gebraucht,
wir hätten also einen Objektsatz. Unwahrscheinlicher, aber nicht ganz ausge-
schlossen, ist die Deutung als Kausalsatz: Ich gratuliere dir, damit ... Es wäre
übrigens auch möglich, daß die Wendung dem Kinde eingelernt wurde, also gar
-nicht auf sein Konto zu setzen ist.— Am Tage darauf erzählte ein anderesKind (u) :
Die Nebensätze in der Kindersprache 175
... na ham mir gesagt, daß W recht gesund bleibst. Der Hauptsatz: Ich (oder wir)
wünsclie(n) dir, ist ausgelassen, so ergibt sich auch hier die Deutung als Ob-
jektsatz.
Mundartlich richtig sind folgende 10 Sätze: Q erinnert sich an seinen Ge
burtstag : So vielJahr als man is, so viele Liohter stehen am Kuchen droben. Ein reiner
Komparativsatz mit freier Wortfolge. — Auf die Frage: Wann sitzt auf iem
Pferdkein Reiter droben fentgegaefH.: BaVs im Stall drinn san. Der Konditional-
satz ist richtig gebildet, nur steht mundartlich bal statt wenn. — Die nächsten
7 Sätze sind Attributsätze mit dem mundartlichen Pronomen ico oder die wo.
F: Es gibt auch Soldaten, wo trommeln. — k: Soldaten gibCs, wo Trompeten harn
die Soldaten auch. Eine interessante Kontamination. Die beiden dem Sinne nach
gleichen Sätze: Soldaten gibt's, wo trompeten {oder auch: wo Trompeten ham)
und: Trompeten ham die Soldaten auch werden ineinandergeschoben. — S: J?s
qibt auch Soldaten, die wo an Wagn ham. — "C,: Es gibt solchene auch, wo Kanonen
ham. — t : Es gibt auch Soldaten, die wo marschieren. — ¥: Es gibt auch Pferde,
die^o an Möbelwagen ziehen. — Wo san d'Leut, wo aufsteigen ? (Wir hatten uns
ein kleines Karussell gefertigt und wollten nun einige Puppen dazu machen.) —
Der letzte Satz ergab sich bäi der Bssprechung des Karussells: E: Rund macha
und Heiter ( = Pferde) nei macha, wo die Buben hocken ( = sitzen). Ich halte ihn
für einen verfehlten Lokalsatz: auf denen Buben hocken. — Verfehlt wurden
also (wenn man die mundartlichen Sätze als verfehlt bezeichnen will) Objekt-,
Komparativ-, Konditional-, Lokal- und Attributsätze.
Sprachlich richtig ist ein Lokalsatz: r: Wo der Strich ist, schneid' icKs aus.
Dann vier "Temporalsätze : S : Wie mir ( = wir) von der Kirchen heUngangen sind,
da ham mir junge Hasen g sehen. — g: Da ham mir erzählt von der Frau Schreyer,
wie's klein war. — • U: Und da steht noch drobn (auf dem Kalender), wenn man
die Stiegn zum Wischen hat. — E : Und wenn der Kaminkehrer kommt, muß man
allewei wischen. — • Endlich noch 2 Attributsätze: Z,: Es gibt auch Soldaten, die
an Wagen ham. — K: Es gibt auch Soldaten, die a Gwehr ham.
Das Ergebnis ist für die Fünf jährigen: Wieder ist ein Viertel der Sätze,
die ein Unterordnun^bewußtsein erkennen lassen-, sprachlich richtig gebildet;
ich glaube aber, daß man ohne Bsdenken die mundartlichen Gebilde zu den rich-
tigen rechnen darf, dann ergeben sich etwa zwei Drittel richtige Satzgefüge.
Neben den Objekt-, Lokal- und Konditionalsätzen, die schon die Viereinhalb-
jährigen bildeten, treten auch Komparativ-, Attribut- und Temporalsätze auf.
Von den Fünfeinhalbjährigen erhielt ich nur 9 Nebensätze, darunter 3,
die sich als Hauptsätze entpuppen und 6 sprachlich richtige Nebensätze. Bei
den Hauptsätzen mit Nebensatzcharakter findet sich eire Bildung mit
derwei: a; Dann hätten'' 8 (oämlich Hansel und Gretel) davonlaufen ivolUn, derweil
hat's gesagt: Hokuspokus. Durch Üb3rtragung ins Hochdeutsche sieht man auch
hier, daß das derweil einen unausgesprochenen Temporalsatz verbirgt. — Ein
Satz mit beginnendem Beziehungsbewußtsein : Ich hob' an Soldaten gsehen,
den ham's totgeschossen (u). — Eine adversativ-koordinierende Satzreihe: n:
Du bist unsere Mutter nicht, du bist der Wolf (aus dem Märchen von den sieben
Geißlein).
Sprachlich richtig gebildet wurden Lokal-, Konditional-, Objekt- und
zum ersten Male auch Kausalsätze, n : Jetzt schauen wir einmal, wo er ist. — u :
176 Albert Huth
Geh mir ja nicht den falschen Weg, sonst erwischt dich der Wolf! (aus Rotkäppchen).
Dieser riclitige Nebensatz ist wie so mancher andere nicht dem Kind als Ver-
dienst zuzurechnen. Die Wendimg war beim Vorerzählen des Märchens ständig
gebraucht worden imd wurde ziemlich mechanisch nachgesagt. Es ist noch
sehr zweifelhaft, ob u imstande ist, selbständig einen richtigen Konditionalsatz
mit sonst zu bilden. Spätere Untersuchungen müssen hierin genau scheiden. —
y : Nacha hat das Modele gsagt: er soll nimmer Branntwein trinken, weil er wieder
krank werden könnte. — n: Nacha is er (der Wolf) in (= zum) Brunnen gangen,
weil er so Durst ghaht hat. — c : Da waren' s wieder froh, daß^s wieder da sind. —
a: Nacha hat die Hexe gsagt, sie soll in Ofen neikriechen und soll schauen, 06 V
Feu£r nei kommt. — Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die Fünfeinhalb-
jährigen schon Kausalsätze bilden.
Meine Sechsjährigen waren fast alle erst 5 Jahre und 10 oder 11 Monate,.
nur einzelne hatten schon das 7. Lebensjahr begonnen. Die Sätze wurden gewon-
nen als Antworten auf Fragen über einen gemeinsam unternommenen Ausflug
nach Oberf öhrin g. Unter den 125 Sätzen befinden sich 10 Hauptsätze mit
Nebensatzcharakter (8%), 19 sprachlich verfehlte Nebensätze (15,2%) und zwar
3 völlig verfehlte (2,4%) mid 16 mundartlich richtige (12,8%). Die übrigen 96
Nebensätze sind sprachlich richtig gebildet (76,8%).
Unter den Hauptsätzen mit Nebensatzcharakter fällt ein Ausrufe-
satz auf : Q : Wie der Singer Heinz hat laufen können! Zu ergänzen wäre vielleicht :
Ich habe mich gewundert . . ., oder Weißt du noch. . . — Wie bei den vorhergehen-
den Altersstufen war eine adversative Koordination vertreten : U : (Die Ziegelsteine
waren) aus Ton, aber nicht aus weißem, aus braunem. — Die übrigen 8 Haupt-
sätze zeigen deutlich das erwachende Beziehungsbewußtsein : X: Da hat a Mann
gerudert, na is '5 Schiff nuberganqen. (wäre bei gesteigerter Sprachfertigkeit ein
Konditionalsatz geworden). — U: Da war a Mann droben, der hat immer so an
Stock in der Hand ghabt. — i : Nacha da ham mir so a Häuserl gesehen, da sind
auxih Schiff erl rausgstanden im Englischen Garten. (Gemeint ist: ... ein Haus,
bei welchem . . . ) — ö'- Das war der alte Großvater, der hat allewei so geschrieen. —
A : A Maus ham mir gsehen, die is in a Lochn neikrabbelt. — Z : Und das schöne
Loch (habe ich gesehen), da is a Wasser rausgehffen. — a: Da war a Tafel, da is
Oberf öhring droben gestanden. — u : Und Bäume waren da, da ham^s gehtitscht
(= geschaukelt). Mit Ausnahme des letzten Satzes, der ein Lokalsatz hätte
werden sollen, handelt es sich stets um unentwickelte bestimmende Attributsätze.
Bei den sprachlich verfehlten Nebensätzen unterscheiden wir wie bei
den Fünfjährigen zwischen völlig verfehlten und mundartlich richtig ge-
bildeten. Zu jenen gehören zwei Lokalsätze und ein Kausalsatz-: ziWeil mir so
runtergangen sind, wie mir zuerst waren. Muß ergänzt werden zu : Wir sind wieder
über die Isar herübergekommen, weil wir da hinuntergegangen sind, wo wir zuerst
waren. — h : Wo mir uns untergestellt ham zuletzt und da war a Pumpn. Der Neben-
satz wird durch ein kopulatives Bindewort verbunden — sehr erklärlich, gebraucht
ja das Kind sonst fast ausschließlich koordinierende Konjunktionen. — c erzählt
von der Entstehung der Ziegelsteine : Der (Hilfsarbeiter) Ugt^s immer auf den Boden
hin, aber net zamm, sonst babben's zamm. Das Bindewort weil ist ausgelassen,
das Pronomen dem Verbum nachgestellt — eine auch in der Mundart vorkom-
mende Form des Lifinitivsatzes. — Mundartlich richtig gebildet wurden
Die Nebensätze in der Kindersprache 173
2 Temporalsätze iind 14 eigentliclie Attributsätze — alles mit wo eingeleitet.
Aiif die Frage: ,, Warm haben wir Mittagspause gehalten ?", antwortet ein Bjind(a)
Wo da a args Gvntter koynmen is. Das unbekannt« ,,als" wird durch das ver-
traute „wo" ersetzt, k: GerieseU, wo mir gspielt kam. Vom Hauptsatz (Es hat
schwach geregnet) ist nur das Verb ausgesprochen worden, wo steht wieder für
als. — Von den Ziegelarbaitem erzählt S: Da tun^s so an habhigen Ding nei, wo
man hahben drauf bleibt, wenn man nei steigt. — r : (Ein Mädchen trug) ein Paket,
wo die H laschen (gemeint ist eine Hängematte) drinn vmr. — s (Der Ziegelstein ist)
aus Ton, wo man in die Platten (gemeint ist die Form) nei tut. — V: Wir haben zu
Mittag gegossen in an so an Häuserl, da wo Bierfasserl gicen san. — K : Wir haben
zum drittenmal gerastet in den Garten, wo die Bank sammbrochen ist. Kann
als Lokalsatz gewertet werden. — ß: Ich haV solche Blumen gesehen, wo die
Blumen, wo der Spescha Albert allwei ghabt ha.t. Das wo die Blumen ist nur eine
Verlegenheitswiederholung, die mit dem beliebten wo eingeleitet wurde. —
ß: An Kahn (habe ich gesehen), wo mir gfahren sind. — o: Und ein' Wirt vor dem
Haus dorten, won immer die Schifferl sind. (Kann Lokalsatz sein, ebenso der näch-
ste): o: Das Haus (habs ich gesehen), wo die Schifferl immer dort sind. — o: Und
Blumen höh' ich gesehen und Gras und da won die wo immer so gema.cht haben in
dem hohen Gras (= die Frösche). Das da won ist wieder Verlegenheitsgestotter.
n: So a Ding (habe ich gesehen), wo die Frösche driym icaren (= ein Sumpf). —
z: Männer (habe ich gesehen), wo Steiner machen. — U: Schiff ham mir gsehen,
es waren aber not, wo mir drinn gsessen ham. — u : Und da ham mir an Berg gsehen,
wo Kohlen sind. Die sprachlich verfehlten Nebensätze der Sechsjährigen ergeben
also für unsere Untersuchung keine neuen Gresichtspunkte.
Von den sprachlich richtigen Nebensätzen interessieren ims zunächst
die Subjektsätze, weil sie die einzige neuauftretende Satzart bilden. Q : Es war
recht schön, loie mir heimgangen sind und Katz und Maus gespielt haben. Q: Die
erste Pause war au recht schön, wie mir die Frosch g fangt haben. — Q : Wie mir
heimgangen sind, des war aa schön. — q: Wer brav gwen is und sich ruhig hingstellt
hat, der is drankommen. Objektsätze fanden sich 2 : i : Und nacha wegtun, was na
übrig blieben is (nämlich die gefüllte Form mit dem Draht glätten). — y : Das weiß
ich noch, tvie mir ein Reh gesehen ham. — • Die Adverbialsätze bringe ich in der
in der Einleitung festgelegten Reihenfolge, also zuerst die Lokalsätze: a: Zu die
Steiner sind mir auch hingekommen, wo die Steiner gemacht ivorden sind. — u:
Die Bank, wo eine Bank derbrochen ist (zu ergänzen : da haben wir Pause ge-
halten). — 11 : Wo die Straßen war, da war's. — ß : Und solche Bäum, wo die Blumen,
wo der Spescha Albert alleweil ghabt hat. Der Satz ist mehrfach verkürzt. Voll-
ständig müßte er heißen: Utul solche Bäume habe ich gesehen, wo die Blumen ge-
wachsen sitid, welche der Spescha Albert immer gehabt hat. — Q: .4 Bu hat ihn
(den Backstein) nahiyigetan, wo's aufgestellt worden sind. — C : Wie's Schiff da nüber-
gefahren sind, wo mir waren, da sind mir eingstiegen. Der Gebrauch der Plural-
form des Hilfszeitwortes statt des Singulars ist auf dieser Altersstufe öfters
zu finden. — S : Wir haben gerastet, wo die Frosch alleweil geschrieen ham. — Frage :
Wo haben wir das drittemal gerastet ? Antwort des Knaben I : Wo mir d'Hutschen
ghabt ham, da? — C: Mir san dada lieimgangen, da wo mir herüben waren. —
V: Wir haben gerastet, da wo die Bank durchbrochen ist. — s: Wir haben da ge-
rastet, wo mir die Frosch gesehen ham. — s: Bei da drüben (haben wir gerastet),
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 12
174 Albert Huth
wo ma heim Schiff übergefahren und. — Frage : Was ist da passiert, wo wir das
drittemal gerastet haben ? Antwort des Mädchens i : Da wo die Bank waren ? —
i: Wir haben gerastet, da wo lauter Bäum waren. — x: Wir haben gerastet, wo
mir hutschen derfa ham. — o : Wir haben gerastet, da wo die Fischerl so geschnappt
haben. — a : Wir haben da gerastet, da wo die Hängematte gemacht worden ist und
wo die Bank waren. — h: Wir haben da gerastet, wo mir die Schaukel angemacht
haben. — h : Wir haben da gerastet, y, o wir das Wasser geholt haben. — u : Wi? haben
da gerastet, wo mir gessen ham. — s : Wir haben da gerastet, wo das Wasser war
und da war a Bruckn. — R: Wir sind über die Isar hinübergekommen, wo mir
mit dem Schiff, wie mei Mama dabei war und die Kinder alle (übergefahren sind).
— Es folgen 25 Temporalsätze : U : Und dann, wenn mir dort waren, ham mir a
hissel Katz und Maus gspielt. — U: Nacha, wenn's aufghört hat (zu regnen), sind
mir heimgangen. — y: Wir sind über die Isar hinübergekommen, wo mir mit
dem Schiff, ivie mei Mama dabei war und die Kinder alle (übergefahren sind).
Dieser, eine Parataxe in der Unter ordnimg enthaltende Satz, mußte natürlich
doppelt gezählt werden, als Lokal- wie als Temporalsj^tz. Wir kommen auf diese
Gebilde später ausführlicher zurück. — v : Wie^s regna wieder aufghört hat, nacha
^an ma wieder weiter gangen. — Q : Es war, wie mir so viele Flugapparate gesehen
ham. — Q: Es war, ivie mir im Wald Pause gehalten ham. — y: Mü^m Schiff
(sind wir über die Isar hinüber gkommen ), und wie mei Mama kommen is, und
wie da Kinder dabei gwesen sind, zerscht die Abteilung und dann die andere (mit
der Fähre mußten wir nämlich zweimal übersetzen). — C: Wie^s Schiff da^niiber-
g fahren sind, wo mir waren, da sind mir eingestiegen. Der Satz ist schon unter
den Lokalsätzen aufgeführt. — Wir haben gerastet, ( Q) wie die Bank umgfallen
ist. — I: Wie mir heitngangen sind, ham mir nix mehr gessen. — y: Das war,
wie ich da das Reh gesehen hob noch. — y: Das war, wie mir da weit naus gangen
sind. — y: Zum Unterstellen (sind wir gegangen), wenns so regnet. Kann, auch
als Kausalsatz aufgefaßt werden. — V: Das war, wie das Gewitter kommen is. —
Y: Katz und Maus (haben wir gespielt), wie mei Mama dabei war. — Y: Wie
mir bei der Stadt raus sind, da ham mir gar keine Häuser mehr gesehen. — c : Wie
mir „faules Ei'' hätten spielen wollen, hat's hageln ang fangt. ■ — a: Wie mir gangen
sind, da hätten wir noch (spielen) wollen, derweil sind wir schon gangen. — e:
Wir hab?n gerastet, wie mir über der Isar drüben waren. — e: Wie'st (= wie du)
da vor gangen bist, nacha is mei Midter neigangen in den Garten. — k : Dann werden' s
ganz rot, wenn's trocken sind (die Ziegelsteine). — a: Wie mir in Oberföhring waren,
da. ham mir gessen und a bissei was trunken. — n : Wie's so geregnt hat, da ham mir
uns untergestellt, da ham mir Mittag gessen. — F: Und dann, wie mir drüben
waren, san die andern wieder rüber kemma. — Auf die Frage: Warum sind wir
in das Wirtshaus neigegangen ?" erhielt ich 29mal die Antwort: WeiVs geregnet
Jiai^ — weil's so arg geregnet hat, — weiVs blitzt hat und weiVs donnert hat. Solche
Kaasalsätze notierte ich von den Kn.aben E, I, K, 0, S, U, Z, ^; von den Mäd-
chen c, h, i, k, m, o, p, q, r, t, v, x, y, z, a, ß, S, e, C Die übrigen Kausalsätze
seien wörtlich wiedergegeben: K: Man tut ihn (den Ziegelstein) hinlegen, daß
er trocken wird. — C: Da ham mir aa wieder gessen, weiVs so donnert hat und weiVs
geregnet hat. — d: Wir sind in das Wirtshaus, weil so a Wetter war. — B: In dem
WirtsJiaus (haben wir zu Mittag gegessen), weiVs so arg geregnet hat. — e: Wir
sind in das Wirtshaus gegangen, weiVs so geregnet hat und so a Gewitter war. — "C,:
Die Nebensätze in der Kindersprache
175
Wir sind über die Isar wieder her übergegangen, weil a Brücken toar. — u : Wir
haben uns hingesetzt, daß mir Brot gessen Tiam. — s: Wir sind über die Isar
herübergekommen, weil wir mit dem Schiff gefahren sind. — s: Wir sind über
die Isar herübergekommen, weil wir so wieder runtergangen sind, wie mir zerst
waren. — Der Reigen der in meinen Material vorhandenen Nebensätze wird
beschlossen durch drei Konditionalsätze und einen Komparativsatz: A: Da war
so a Schlauch und wenn der neigfallen is, na hat ma mWm Schlauch raufzogen.
Gemeint ist das Ruder, das der Fährmann ins Wasser fallen ließ, um es langsam
herüberzadrücken. Wie das Kind dazu kommt, das Ruder als Schlauch anzu-
sprechen, ist mir unerklärlich. K: Wenn viel T&n da ist, dann tut man an alten
Ton nei\ — S: Da tun's so an habbigen Ding nei, wo man babhen drauf bleibt, wenn
man neisteigt. — o : Aus Ton (werden die Ziegelsteine gemacht), als wie unser Ton
ist, aber der ist anders.
Tabelle 4. Typen der aufgetretenen Nebensätze.
I. Hauptsätze mit Nebensatzcharakter
1. Adversative Koordination
2. Bildung mit „derweil"
2. Unentwickelter Objektaatz
4. Unentwickelter LokalsatS
5. Unentwickelt. Temporalsatz
6. Unentwick. Konditionalsatz
7. Unentwickelter Attributsatz
„. . . a Geign, aber die is seho wieder kaput".
„derweil war's der Wolf".
„wie der Singer Heinz hat laufen können".
„Bäiune waren da, da ham's gehutscht".
„ich hab' so gefragt bis zwei Tag".
„Da hat ma auftreiben müssen, na is's rumglauf en".
„Ich hab'anHund gsehn,der hat eineSchleife ghabt".
IL Sprachheh verfehlte Nebensätze
a. Völlig verfehlt
1. Objektsatz
2. Lokalsatz
3. Kausalsatz
4. Konditionalsatz
Wir wünschen, „daß "d recht gsund bleibst",
„wir sind so runtergangen,wie(=wo) wir zerst waren",
„er legt's net zamm, sonst babbens zamm".
„Wenn ein Kind ein Stück Brot hat, das soll's
den Vögeln hinwerfen".
b.
Mundartlich richtig
1.
Lokalsatz
,4n dem Garten, wo die Bank zammbrochen is".
2.
Temporalsatz
Wann haben wir gerastet? „Wo a Gwitter
kommen is".
3.
Komparativsatz
„So viele Jahr als man ist, so \-iele Lichter
stehen am Kuchen droben".
4.
Konditionalsatz
Auf dem Pferd sitzt kein Reiter, „bal'sim Stall san".
5.
Attributsatz
,^E8 gibt auch Soldaten, wo trommeln".
III. Sprachlich richtige Nebensätze
1. Subjektsatz
2. Objektsatz
3. Lokalsatz
4. Temporalsatz
5. Kausalsatz
6. Kompfu-ativsatz
7. Konditionalsatz
SS. Attributsatz
„Wie mir heimgangen sind, des war schön".
,J!)a waren's froh, daß's wieder da sind".
„Wo das Christkindel geboren wird, da muß ein
Stern sein"".
Das war, „wie das Gewitter kommen is".
„Er ist zum Brunnen gangen, weil er so Durst
ghabt hat".
Die Ziegel werden „aus Ton gemacht, als wie
unser Ton ist".
„Wenn ein Wind kommt, na treibt er's weg".
„Es gibt auch Soldaten, die a Gwehr ham".
12*
176 Albert Huth
Das Ergebnis ist für die Sechs jäkrigeD : Dyei Viertel der neb3n3atzähnliclien
Gebilde sind spracWich richtig gebildet (mit Einschluß der nur mundartlich
richtigen Nebensätze sogar sieben Achtel). Als neue Satzart treten Subjektsätze
auf, die Kausalsätze werden häufiger verwendet.
Nachdem wir nun das gesamte Material an unserem Auge haben vorübsr-
ziehen lassen, wollen wir die vorgekommenen Typen der kindlichen Nebensatz-
entwicklung herausstellen. Der Übersichtlichkeit halber geschehe dies in Form
einer Tabelle. (Siehe Tab. 4 S. 175.) Je ein Beispiel ist hinzugefügt.
Ein Vergleich dieser Typen mit den Stern sehen Nebensätzen ergibt das Fehlen
der Final- und Konsekutivsätze, da? aber durch einen Blick in Tabelle 1 einiger-
maßen erklärt wird: meine Schüler waren zum weitaus größten Teil aus Kreisen,
in denen Final- und Konsekutivsätze wohl nur selten gebraucht werden . Immerhin
bleibt es verwunderlich, daß hier die Stern sehen Ergebnisse von meinen ab-
weichen. Den Umstand, daß meine Schüler Lokal-, Komparativ- und Attribut-
sätze bilden, die bei Stern nicht erwähnt sind, führe ich auf Unvollkommen-
heiten der Sternschen Aufzeichnungen zurück.
Das oben gebrachte Nebensatzschema enthält eine Reihe von Satzarten,
die sich in meinem Material nicht fanden. Es sind dies die Prädikatsätze, Final-,
Modal-, Restriktiv-, Konsekutiv- und Konzessivsätze, dann noch die ergänzen-
den Attributsätze, Genauere Untersuchungen müssen entscheiden, ob hier
lediglich mein Material Lücken aufweist oder ob diese Satzarten auf dieser Alters-
stufe im allgemeinen tatsächlich nicht gebraucht werden.
"Wir sind heute noch weit davon entfernt, eine Art Entwicklungsgeschichte
des kindlichen Nebensatzes schreiben zu können. Auch meine Untersuchungen
bieten nur wenige unvollkommene Anhaltspunkte dazu. Das einzige vorläufig
Erreichbare ist die Festlegung einiger Hauptstufen der Sprachentwicklung.
Nach A. Fischer sind es folgende: Zunächst stellt das Kind einfach eine Reihe
von Hauptsätzen un verbunden oder durch und, na, nacha, dann verbunden neben-
einander. Die zweite Stufe ändert nichts am äußeren Bau, aber das sachliche
Beziehmigsbe wußtsein ist vorhanden. Zwei Momente werden simultan repro-
duziert, können aber nicht gleichzeitig gesprochen werden, darum wird erst i5ie
Ursache, dann die Wirkung genannt [Da hat ma auftreiben müssen, na is^s rum-
glaujen). Die Stellungsverhältnisse der Sätze können also eine Bedeutung für den
sprachlichen Ausdruck von Nebensatz Verhältnissen haben. Auf der dritten
Stufe werden schon Nebensatzpartikel verwendet, es unterlaufen aber noch
sprachliche Ungeschicklichkeiten aller Art. Die letzte Stufe bildet darm der sprach-
lich richtige Nebensatz, wie er in der erwachsenen Umgebimg üblich ist. — Es
ist anzunehmen, daß jedes einzelne Kind diese 4 Stufen durchläuft — darüber,
wie lange es auf den einzelnen Stufen verweilt, in welchem Lebansalter es durch-
schnittlich in die einzelnen Stufen eintritt, können heute noch keine Angaben
gemacht werden. E%ist aber auffällig, daß mein gesamtes Material von 12 Kin-
dern keinen einzigen Nebensatz aufweist. Diese 12 Kinder haben doch genau so
an unseren Unterhaitangen und Besprechungen, am Verhör usw. teilgenommen
wie die anderen 46 — ■ und doch wurde von ihnen kein Nebensatz notiert. Da
läßt sich — trotz aller Beschränktheit meines Materials — die Vermutimg doch
nicht ganz von der Hand weisen, daß unter diesen 12 Kindern einzelne sind, die
überhaupt das Nebensatzstadium noch nicht erreicht haben, sondern noch auf
Die Nebensätze in der Kindersprache
177
der ersten Stufe (aneinandergereihte Hauptsätze) stehen. Auf der anderen
Seite habe ich ebenfalls von 12 Kindern überhaupt nur sprachlich einwandfreie
Nebensätze erhalten; es ist anzunehmen, daß diese Kinder vor Beginn meiner
Untersuchungen schon die vierte Stufe erreicht hatten. — Man sieht, hier ist
noch ein weites Feld für genauere Untersuchungen, denn bei aller individuellen
Verschiedenheit muß es doch möglich sein, eine Anzahl von Typen herauszu-
kristallisieren. Die Frage wird noch komplizierter durch die Einbeziehung der
Tabelle 5.
Verteilung der Xebensatztypen auf die Altersstufen.
I. Hauptsätze mit Nebensatz-
charak ter
4*/., Jahre! 5 Jahre
S'/a Jahrel 6 Jahre
1. Adversative Koordination
2. Bildung mit „derweil" . . .
3. Unentwickelter Objektsatz .
4. Unentwickelter Lokalsatz
5. Unentwickelter Temporalsatz
6. Unentwickelter Konditionalsatz
7. Unentwickelter Attributsatz
5.1 "o
5.1 %
2.6 ^o
2.6 ^o
58,9 \,
Q 7 o
7.4%
18,5%
11.1%
11.1%
11,1°;,
03%
03%
0.8%
4.8%
IL Sprachlich verfehlte Nebensätze
a. Völlig verfehlt
1. Objektsatz . .
2. Lokalsatz . . .
3. Kausalsatz . .
4. Konditionalsatz
7.5%
— I
2.6 '\
1.6%
0,8%
b. Mundartlich richtig
1. Lokalsatz . . .
2. Temporalsatz
3. Komparativsatz
4. Konditionalsatz
6. Attributsatz . .
3J%
3.7%
3,7 %
25,9 %
13%
11.2%
IIL Sprachlich richtige Nebensätze
1. Subjektsatz . .
2. Objektsatz . .
3. Lokalsatz . . .
4. Temporalsatz
6. Kausalsatz . .
6. Komparativsatz
7. Konditionalsatz
8. Attrbutsatz . .
7,7%
•23%
3.7%
H3%
123% -
740/
- ! 3,2%
22,3% 1 13%
11,1«% i 18,4%
' 20.0%
22,2%
11.1%
30,4%
03%
2A%
verschiedenen Nebensatzarten. Auf der 2. und 3. Stufe wird man stets fragen
müssen, was bei vorgeschrittenerer Sprachentwicklung aus dem Ausdruck ge-
worden wäre; es muß möglich sein, auf Grund ausgedehnter Untersuchungen
innerhalb jeder Entwicklungsstufe eine Reihe festzulegen , nach der im fiJl-
gemeinen die einzelnen Nebensatzarten auftreten. Nach meinen unvollkomme-
nen Untersuchungen kommen bei den Viereinhalbjährigen Objekt-, Lokal- und
Konditionalsätze vor; die Fünfjährigen bilden außerdem Komparativ-, Attribut-
und Temporalsätze; bei den Fünfeinhalbjährigen findet sich zum ersten Male
178
Albert Huth
der Kausalsatz. Die Sechsjährigen, von denen schon über drei Viertel die 4. Stufe
der Sprachentwicklung erreicht zu haben scheinen, ergänzen die Liste der kind-
lichen Nebsnsatzarten durch den Subjektsatz. Bei ihnen finden sich auch schon
Nebensätze 2. Grades oder wenigstens dreiteilige Satzgefüge. Ich wiederhole
die in Betracht kommenden 5 Sätze: Y: (Wir sind übsrgefahren), wo mir mit
dem Schiff, wie mei Mama dabei war und die Kinder alle. Parataxe in der Unter-
ordnung: Lokal- und Temporalsatz. — ß: Und solche iBäume (habe ich gesehen),
wo die Blumen (waren), wo der Spescha Albert alleweil ghabt hat. Ein Lokalsatz,
von dem ein Relativsatz abhängig ist. — C : Wie's Schiff da nüber g fahren sind,
wo mir waren, da sind mir eingstiegen. Temporalsatz, dem ein Lokalsatz unter-
geordnet ist. — S: Da tun^s so an babbigen Ding nei, wo man babben drauf bleibt,
wenn man neisteigt. Attributsatz mit abhängigem Konditionalsatz. — s: (Wir
sind über die Isar herübergekommen), weil mir so runtergangen sind, wie mir
zuerst waren. Kausalsatz, dem ein Lokalsatz untergeordnet ist. —
Einen Überblick über das Gesagte gibt Tab. 5 S. 177.
Die drei Hauptgruppen der Nebensatztypen sind zusammengefaßt in
Tabelle 6.
Verteilung der Nebensatztypgruppen auf die Altersstufen.
Typ
4V 2 Jahre
5 Jahre
S'/z Jahre
6 Jahre
I. Hauptsätze mit Nebensatzcharakter
n. Sprachlich verfehlte Nebensätze . .
a. völlig verfehlt
b. mundartlich richtig ....
m. Sprachlich richtige Nebensätze . .
74,3 %
2fi 0/
2ß o/
»" /o
23,1 %
29,6 %
44,5 %
7,5%
37,0 o/„
25,9 %
33,3 %
66,7 %
8,0 %
15,2 %
2,4%
12,8 %
76,8 %
Kurz sei die Frage gestreift, ob die Neb^nsatzentwicklung bei den Knaben
anders verläuft als b3i den Mädchen. Tab3lle 7 zeigt, wie sich die Nebensätze
auf die einzelnen Kinder verteilen. In der ersten Rubrik sind die elliptischen
Sätze verzeichnet, dann folgen die Hauptsätze, die völlig verfehlten, die mund-
artlich richtigen imd endlich die sprachlich einwandfreien Neb3nsätzs. Besonders
aufgeführt sind dann nöch die Nebensätze zweiten Grades.
Bei vier Sätzen ließ sich nicht mehr feststellen, wer sie gesprochen; es war
ein elliptischer, ein verfehlter, ein mundartlicher und ein richtiger. — Addiert
man in den einzelnen Rubriken die Zahl der von Knaben gebrachten Sätze, so
ergeben sich 3 elliptische, 31 Hauptsätze, 1 verfehlter, 9 mundartliche, 51 richtige
Nebensätze und 2 Neb3nsätze zweiten Grades. Bei den Mädchen finden sich
1 elliptischer Nebsnsatz, 19 Hauptsätze, 4 verfehlte, 16 mundartliche und 66 rich-
tige Nebensätze, dazu 3 Nebensätze zweiten Grades. Wegen der gar zu geringen
Zahl der in Betracht kommenden Sätze ist ein Vergleich der Geschlechter bei
den elliptischen, verfehlten und doppelt abhängigen Nebensätzen nicht durch-
zuführen; es bleiben die Hauptsätze, die mundartlichen und richtigen Neben-
sätze. Von den Hauptsätzen bildete ein Knabe durchschnittlich 1,2; ein Mäd-
chen 0,6; die Tendenz, zwei Hauptsätze aneinanderzufügen, die ein Abhängig-
keitsverhältnis erkennen lassen, das absr noch keinen sprachlichen Ausdruck
findet, ist bei den Knaben noch einmal so stark als bei den Mädchen. Mundartliche
Die Nebensätze in der Kindersprache
179
Nebensätze ergeben sich für den Knaben 0,35, für das Mädchen 0,50; richtige
für den Knaben 1,96, für das Mädchen 2,05; die Unterschiede sind zu gering-
fügig, als das von einer Differenzierung gesprochen werden könnte. Im ganzen
erhielt ich von den 26 Knaben 97 nebensatzähnliche Gebilde, von den 32 Mädchen
109. Das ergibt im Durchschnitt für den Knaben 3,7, für das Mädchen 3,4 —
also wiederum keine deutliche Differenzierung.
Tabelle 7.
Verteilung der Nebensätze auf die einzelnen Kinder.
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Elliptisch
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1
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Elliptisch
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1
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4
-
-
-
-
Um zu untersuchen, ob zwischen allgemeiner Begabung und Nebensatzreichtum
und -richtigkeit eine Korrelation besteht, mußte ich die nebensatzähnlichen Pro-
dukte der Kinder werten. Dabei leitete mich der Gredanke, daßesetwadie gleiche
Leistung bedeutet, wenn ein elliptischer Satz, ein Hauptsatz mit Nebensatz-
charakter oder ein völlig verfehlter Nebensatz gebildet wurde ; eine höhere sprach-
liche Leistung, wenn der Nebensatz mundartlich richtig ist ; daß schon eine höhere
Stufe der Sprachfertigkeit erklommen ist, wenn völlig richtige Nebensätze
gebraucht werden und daß es die letzte für diese Alterstufe mögliche Steigerung
bedeutet, wenn ein Kind Nebensätze zweiten Grades zustande bringt. Deshalb
rechnete ich jeden elliptischen Satz, Hauptsatz und verfehlten Nebensatz einfach.
180
Albei;t Huth
jeden mundartlichen Nebensatz doppelt, den richtigen dreifach und den zweiten
Grades vierfach. So ergab sich für die Entwicklung des Gebrauchs der Nebensätze
bei den einzelnen Kindern folgende Wertung:
Tabelle 8.
Wertung der kindlichen Nebensätze.
a
U
CO
73
43
TS
u
a
u
T3
a
(1
Kind
A
B
C
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2
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T
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b
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3
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ß
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l
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12
1
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c
V
1
16
21
11
Als Mittelwert ergibt sich 7,7. — Nun ordnete ich die Kinder nach dem Wert
ihrer Nebensätze und verglich die so erhaltene Nebensatzreihe mit der Begabungs-
reihe. Tabelle 9 bringt die Buchstaben der Kinder nach der Begabung geordnet,
daneben, welche Nummer in der Begabungsreihe das einzelne Kind einnimmt,
ao dritter Stelle, welchen Platz dasselbe Kind in der Nebensatzreihe bekleidet.
Tabelle 9.
Vergleich der Begabungsreihe mit der N«bensatzreihe.
T3
4
bO
CO
a
©
ü
T3
i
03
c
©
©
a
03
a
©
c
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Ö
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ö
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13
—10
H
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n
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17
+26
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4
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12
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p
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24
J20
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a
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V
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19
39
—20
C
39
10
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h
20
21
— 1
f
40
46
— 6
Die Nebensätze in der Kindersprache ' 181
So läßt sich für jedes Kind feststellen, ob die allgemeine Begabung mit der Ent-
wicklung der Nebensätze parallel läuft. Ist die Nummer eines Kindes in der Be-
gabungsreihe höher als die Nummer desselben Kindes in der Nebensatzreihe,
so dürfen wir daraus schließen, daß die allgemeine Begabung besser entwickelt
ist als die Fähigkeit, Nebensätze zu bilden. Darumist in der vierten Spalte der
Tabelle 9 die Differenz zwischen der Platznummer in der Begabungsreihe und
der in der Nebensatzreihe angegeben. Diese Differenz ist positiv, wenn die
Begabung der Nebensatzentwicklung voraus ist, negativ im umgekehrten Falle.
Die Betrachtung der Tabelle ergibt die ebenso überraschende wie interessante
Tatsache, daß in der ersten Hälfte die Differenz fast durchweg negativ, in der
zweiten Hälfte fast durchweg positiv ist; mit anderen Worten, daß die gut be-
gabten Kinder weniger und schlechtere Nebensätze gebrauchen als die schlecht
begabten. Teilt man (nach Dr. Lipmann, „Die statistische Untersuchung von
psychischen Geschlechtsunterschieden" in : Arbeiten des Bundes für Schul-
reform) die Kinder in 25% gute, 50% mittlere und 25% schlechte, so ergibt sich
für die gutbegabten eine negative Differenz von — 249, für die schlecht begabten
eine positive von +307; im ganzen divergieren Begabung und Nebensatzbildung
für diese 30 Kinder um 556 Platzsf ufen, die durchschnittliche Differenz beträgt
18,5 Platzstufen. Diese Differenz würde 0 betragen, wenn Begabung und Neben-
satzreichtum und -richtigkeit parallel laufen würden, sie würde bei 58 Kindern
pro Kind 43 Platzstufen aasmachen, wenn das bestbegabteste Kind die aller-
schlechtesten Nebensätze gebrauchen würde. Nach meinem Material werden
die Nebensätze um 43% (nämlich '■ — '■ %) schlechter bzw. besser gebildet,
43
als man es nach der Begabung erwarten sollte. Ich möchte ausdrücklich darauf
aufmerksam machen, daß dieses Ergebnis aus den tatsächlichen Zahlen meines
Materials imd nicht aus berechneten Prozentsätzen gewonnen wurde, daß also
rückhaltlos ausgesprochen werden könn, daß die gut begabten Kinder weniger und
schlechtere, die schlecht begabten aber mehr und bessere Nebensätze bilden.
Ihre Erklärung findet diese auf den ersten Blick eigenartige Erscheinung darin,
daß die Gutbegabten den engumgrenzten Gedankenkreis, den sie aussprechen
wollen, in einem einzigen Satze, einem Hauptsatze, ausdrücken können, während
die Schlecht begabten ihre Gredanken nicht so bestimmt zu fassen vermögen und
deshalb Nebensätze benötigen. "Wann gebrauchen denn v,iv Erwachsene einen
Nebensatz ? Jedesmal, wenn wir das im Hauptsatz Gresagte noch näher bestimmen
wollen. Es ist ein 2feichen besonderer Begabung, wenn jemand den Lapidarstil
zu meistern versteht. Die lebensvolle Sprechsprache eines Gustav Frenssen, eines
Berthold Otto verschmäht die Nebensätze fast vollkommen. So werden wir
es auch den Kindern als einen Beweis scharfen klaren Denkens auslegen müssen,
wenn sie wenig Nebensätze verwenden.
Die Ergebnisse meiner Untersuchungen lassen sich kurz folgendermaßen zu-
sammenfassen.
1. Bei der großen individuellen Verschiedenheit der Kinder läßt sich vorläufig
noch keine untere Altersgrenze der Nebensatzentwicklung angeben; es finden
sich jedenfalls schon bei Viereinhalbjährigen sprachlich richtige Nebensätze.
2. Als Nebensatzpartikel fungieren bei den Viereinhalbjährigen „der" und
182 AHsert Huth. Die Nebensätze in der Kindersprache
„wenn", bei den Fünfjährigen „wo" und die Fürwörter „der, die, das", bei den
Sechsjährigen hauptsächlich ,,wo, weil, wie".
3. Vom 5. Lebensjahr ab finden sich vereinzelt elliptische Sätze, die Nebensatz-
charakter tragen.
4. Als Stufen der Nebensatzentwicklung sind anzunehmen: a) die Aneinander-
reihung von Hauptsätzen, b) die Aneinanderreihung von Hauptsätzen mit
Nebensatzcharakter (sachliches Beziehungsbswußtsein), c) die Bildung sprachlich
verfehlter Nebensätze und d) die Bildung sprachlich einwandfreier Nebensätze.
5. Bei den Viereinhalbjährigen ist nach meinem Material nur der vierte Teil
der Sätze sprachlich einwandfrei; es sind Objekt-, Lokal- und Konditionalsätze.
Die Fünfjährigen gebrauchen außerdem noch Komparativ-, Attribut- und Tem-
poralsätze. Der Kausalsatz tritt erstmalig bei den Fünfeinhalbjährigen auf.
Bei den Sechsjährigen findet sich auch der Subjektsatz; jetzt sind mehr als drei
Viertel der Sätze richtig gebildet.
6. Die Sechsjährigen bilden schon Nebensätze zweiten Grades.
7. Knaben und Mädchen verhalten sich den Nebensätzen gegenüber im allge-
meinen völlig gleichartig, nur daß die Knaben mehr zu Hauptsätzen mit Neben-
satzcharakter neigen.
8. Allgemeine Begabung und die Häufigkeit des Gebrauches von Nebensätzen
scheinen zu divergieren. Je besser die Begabung, desto weniger Nebensätze.
Ich habe schon einleitend bemerkt, daß meine Arbeit lückenhaft ist, daß sie
aber späteren, genaueren Untersuchungen zur Unterlage dienen kann. Für solche
umfassende Untersuchungen seien folgende Winke gegeben:
1. Ungeklärt sind vor allem noch die Fragen , in welchem Alter da'? Durchschnitts -
kind dazu kommt, die einzelnen Nebsnsatzarten der Schriftsprache zu verstehen,
in welchem Alter es die ersten Nebensätze gebraucht (gemeint sind hier sprach-
lich einwandfreie Nebensätze), auf welchen Altersstufen die obengenannt/cn vier
Nebensatzstufen auftreten, welche Typen der individuellen Nebensatzentwick-
lung sich hiebei ergeben und in welcher Reihenfolge innerhalb der vier Stufen
die einzelnen Nebensatzarten der Schriftsprache gebildet werden. Interessant
wären Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen dem sozialen Milieu
und der Entwicklung der Nebensätze; besonderes Augenmerk ist auf den von
Stern als schwierig bezeichneten irrealen Bedingungssatz zu richten (in meinem
Material war er nicht vertreten).
2. Für die Gewinnung des Materials ist es wertvoll, die Versuchspersonen aus
allen Bevölkerungsschichten zu entnehmen. Unbedingt müssen auch Kinder
unter 4 ^ und über 6 Jahren in den Kreis der Untersuchungen einbezogen wer-
den. Die Grundlage sei immer durch Stenogramme der lebensvollen Sprech-
sprache des Kindes gebildet. Zum Nachschreiben eignen sich Nacherzählungen
von Märchen und anderen Geschichten, ungezwungene Gespräche zwischen Lehr-
kraft und Kind oder noch b2sser z-wischen den Kindern unter sich, Reaktionen
der Kinder auf einzelne Sätze der Lehrkraft (z. B. auf eine unmögliche Behaup-
tung, auf die Erinnerung an ein gemeinsames Erlebnis usw.). Wenn sich dann
bei der Durcharbeitung des so gewonnenen Materials die Notwendigkeit ergibt,
auf einzelne Fragen besonders einzugehen, wird es sich empfehlen, zur Unter-
suchung dieser Fragen besonders geeignetes Material künstlich zu erzeugen —
Bergmann, Beiträge zur Untersuch, der sprachl. Entwicklung des Kindes 183
durch Fragen, Nacherzählen eigens erfundenerGeschichten, Ausführung von Hand-
lungen mit nachfolgendem Bericht usw.
3. Zur Protokollierung des Materials sei daran erinnert, daß notwendig der
gesarate Zusammenhang ersichtlich sein muß, daß Sprechmelodie und Sprech-
tempo durch irgendwelche besondere Zeichen mitzunotieren sind.
4. BsiderVerarbeitung des Materials ist stets zu unterscheiden, ob der kindliche
Nebensatz nur eine Nachbildung stereotyper Ausdrücke darstellt (Märchen, Glück-
wünsche u. dgl.) oder ob er eine Frage beantwortet oder endlich ob er durchaus
selbständig gebaut wurde. —
Eine solche umfassende Untersuchung würde wohl beträchtliche Arbeit er-
fordern, absr mit Sicherheit könnte darauf gerechnet werden, daß sie imser Wissen
über das Werden des nebensätzlichen Denkens bedeuteDd erweitern würde.
Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung
des Kindes.
(Nach eigenen Beobachtungen mitgeteilt.)
Von Karl Bergmann.
Vorbemerkungen.
Die folgenden Seiten bringen die sprachlichen Beobachtungen, die ich an
meinen beiden Kindern, einem Knaben und einem Mädchen, während zehn
Jahren gemacht habe. Über das Verfahren, das ich bei diesen Darlegungen
einschlage, sei folgendes berichtet. Im allgemeinen werden nur solche Wörter
und Wendungen mitgeteilt, die von den Kindern öfters gebraucht wurden.
Soweit es sich imi vereinzelt vorkommende Beispiele handelt, wurden sie
dann berücksichtigt, wenn sie durch andere Beispiele gleicher Art gestützt
werden oder wichtige Schlüsse für die allgemeine sprachliche Entwicklung
zulassen. Die Anordnung der Wörter geschieht nicht in zeitlicher Folge,
sondern die Beispiele werden nach bestimmten sachlichen Gruppen geordnet,
denn es kommt mir bei meiner Arbeit hauptsächüch auf die nachstehenden
Punkte an. Zunächst will ich zeigen, welche lautliche Umgestaltung im Munde
des Kindes die Wörter erfahren, die dem Kinde vorgesprochen werden oder
die es von seiner Umgebung hört und dann nachzuahmen sucht. Hierbei
möchte ich vor allem auf die kindliche Aussprache der schwierigen Kon-
sonanten hinweisen und auf die interessanten Erscheinungen der Wort-
kürzung, der verschiedenen Assimilationen und der Silben Verdoppelung.
Die Aussprache wird mit gewöhnlichen Buchstaben dargestellt; ein hoch-
gestelltes " bedeutet einen kurzen, dumpfen u-Laut; die Länge der yokale ist
die gleiche wie in den entsprechenden schriftsprachlichen Wörtern; wo Ab-
weichungen stattfinden, wird durch die bekannten Länge- und Kürzezeichen
besonders darauf hingewiesen. Das Kind tritt aber auch als Wortschöpfer
auf, und so wird ein zweiter Hauptteil diese wichtige Seite der Sprachent-
wicklung behandeln. Schließlich versucht das Kind, seine Gedanken und
Empfindungen durch Aneinanderreihen von einzelnen Wörtern zu ganzen
Sätzen auszudrücken; wie es dabei verfährt, soll in einem dritten grammatischen
184 Karl Bergmann
Teil an einer Anzahl von Beispielen erläutert werden. Diesen drei Hauptab-
schnitten geht eine knappe Darstellung der ersten Sprechversuche des Knaben
voran; für das Mädchen kann eine solche nicht gegeben werden, da hier
die Gelegenheit zur Beobachtung ungünstig war. Auch sonst fällt der Haupt-
teil der Beobachtungen auf den Knaben; soweit sie sich auf das Mädchen
beziehen, ist dies durch ein M. in Klammern bemerkt. Die ebenfalls in Klammern
mitgeteilten Zahlen beziehen sich auf das Lebensalter, in dem die Beobach-
tung gemacht wurde; die erste Zahl bedeutet das Lebensjahr, die zweite
den Monat des darauf folgenden Lebensjahres : 3/5 bedeutet somit, daß das
Kind zur Zeit der Beobachtung drei Jahre und fünf Monate alt war. Ein
Fragezeichen bei dieser Angabe will sagen, daß Zweifel über die Zeit der
Beobachtung bestehen. Soweit es mir möglich war, versuchte ich eine Er-
klärung der verschiedenen Erscheinungen zu geben, die natürlich bei der
Schwierigkeit des Stoffes keinen Anspruch auf unbedingte Geltung machen
kann.
Die ersten Sprechversuche.
Die ersten Sprechversuche des Knaben begannen im 8. Monat ; sie lauteten
wie bäba, das erste b wurde mit deuthch vorschlagendem m und als starker
Explosivlaut gesprochen, die beiden Vokale klangen kurz und dumpf. Die
lautliche Entwicklung ging dann über abä (geschlossenes erstes a, b als deut-
licher Explosivlaut, kurzes zweites a), bäbä, wawa, waba, bawa, welche drei
letzteren Wörter in buntem Wechsel unermüdlich hintereinander gesprochen
wurden, zu baba (ohne vorschlagendes m). Im 9. Monat gesellte sich zu
diesen ersten Versuchen dada mit deutlichem stimmhaften d; am Ende des
10. Monats sprach der Knabe zum ersten Male ma ma. Bald darauf tritt eine
Pause ein, die lautlichen Äußerungen gehen über baba und dada nicht hinaus,
mama fällt ganz weg; das Kind bringt nur lallende Laute hervor. Eine in-
teressante Beobachtung war im 14. Monat zu machen. Der Knabe hatte dem
Gurgeln der Erwachsenen zugesehen, dabei beobachtet, wie mit dem Wasser
aus der Wasserflasche die gurgelnden Töne hervorgebracht wurden, ahmte
diese Töne nach und ließ sie dann eine Zeitlang immer hören, wenn die
Wasserflasche an ihm vorbeigetragen wurde: gleichsam der erste Versuch
einer Namengebung. Vom Beginn des 15. Monats stellt sich dann wieder
bei starkem Zahnen der Trieb ein, vorgesprochene Worte nachzuahmen;
ba' (= Ball), nein, wauwau, hotto. Auch das Wort mama stellt sich, zu-
nächst vermischt mit jämmerlichem Schreien, wieder ein. Im allgemeinen
aber hat das Kind in der ersten Hälfte des zweiten Lebensjahres nur geringen
Trieb, vorgesagte Wörter nachzusprechen. Um so größer ist die Wißbegierde;
um sie zu befriedigen, deutet es auf die Gegenstände mit dem Ausruf hä?
Im 21. und 22. Monat lernt es wieder eine größere Zahl Wörter. Im 22.
Monat spricht es auch seinen ersten, aus mehreren Wörtern bestehenden Satz;
(s. 4. Satzbildung Nr. 2 unter „Grammatisches").
Die Lautgestaltung der Wörter.
1. Die Konsonanten f, g, k, 1, r, s, seh, z:
a)f:
Fisch — bib (2/1) Affe = aba (2) Stiefel = dibi (2/3)
Fuchs -= buk (2/5) Seife = deip (2ß} auf = au (2)
Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes 185
5mal -v^-ird f als b (p) wiedergegeben (2 mal im Anlaut, 2 mal im Inlaut, Imal
im Auslaut), Imal fällt f ganz weg.
b) g:
gut = dut (1/11) Geige = deida (2/1) Glas = d»a (2/1)
gut = gut (2) Gutsei = gudu (2/2) groß = grot (2/6)
Geige = geid (2) Gang = gang (2/2)
Die 8 anlautenden g werden 3mal als d, 5mal als g wiedergegeben; zu
beachten ist gut als gut und dut, Geige als geid und deida.
c) k:
[Ka>ao = gau (1, 11) Kappe = bab (2) Rock = ot (t/T)
Kahn = dan (2) Kanne = bam (2/2) Bock = bok (1/11)
Kanne = danne, danna (2) Kleid = deid (2) Stock = ok (2/1)
Anlautendes k ist 3mal durch d vertreten (darunter die Doppelkonsonanz
kl), Imal durch g, 2 mal durch b; dieses b kann bei bab als regressive Assi-
milation erklärt werden. Auslautendes k tritt 2 mal als k, Imal als t auf.
d) 1:
Liebling = Henning (2) lesen = "äde (2/5) dunkel = gtinnu (2/2)
[Sa]lon = hon (2.1) Glas = d"a (2/1) Gutsei = gudu (2;2)
los = hod (2/3) Stuhl = dud (2, 1) Pudel = budu (2/3)
Von 4 anlautenden 1 werden 3 durch h ersetzt, 1 durch °; dieser dumpfe
"-Laut auch bei Gl = d"; auslautendes 1 (Stuhl) = d; 1 in der Endsilbe el
fällt aus (vgl. auch 3 b ß).
e) r:
Rab = hab (2) Printe == bin (2/2) Reiter = «eida (2,1)
Rab = "ab (2, 6) morgen = mojo (2/5) lieber = liba (2/6)
Rupp = hupp (2/2) Erde = äd (2,7) wieder = widda (2/6)
Reiter = "eida (2/1) Turm = dum (2/2) Zimmer = dimmi (2/7)
[hejrein = "ein (2/6) Erich = Eich (2) immer = immi (2/7)
schreiben •= d"eiba (2/3) bei dir = beidi (2,3) Butterbrot = butterbrod (1/11)
schreien = d^eia (2/3) Uhr = u (2, 3) Bart = bart (2. 2)
drei = duei (2/6) Wasser = wawa (2)2)
hurra = huwa (2/2) Hammer = hamma (2)
Anlautendes r erscheint 2mal als h, 3mal als " ; r als zweiter Bestandteil
einer Doppelkonsonanz wird 3mal dm-ch " wiedergegeben, Imal weggelassen:
inlautendes r wird 4 mal unterdrückt, einmal durch w ersetzt; auslautendes
r wird nie ausgesprochen, die Endung er erscheint als a bzw. i ; 3 mal erscheint
r in richtiger Aussprache (bart, butterbrod).
f) a) s:
Suppe = dupp (2/ 1) messen = männä (2/3) heiß = hei (2 1)
Sonne = donne (2/2) Messer = männä (2,/3) Schoß = dop (2/1)
so = do (2/5) lesen = "äde (2/5) los = hod (2/3)
Seife -= deip (2/3) Haus = hau (1/11)
satt = dad (2,/7) Glas = d"a (2/1)
5 mal wird anlautendes s durch d ersetzt; inlautendes s Imal durch d, 2mal
durch n; auslautendes s Imal durch d, Imal dm'ch p, 3mal fällt es aus.
ß) seh:
Schoß = dop (2/1) schreiben = d"eiba (2/3) Stuhl = dud (2/2)
Schürze = ded (2/2) schreien = d"eia (2/3) Stoßt = dod (2/2)
schön = den (2/6) Schwan = wan (1/11) Stiefel = dibi (2/3)
Schuh[e] = du (2/6) Schwamm = bam (2/2) Fisch = bib (2/1)
Spinne = binne (2) Stein = dein (111)
186 Karl Bergmann
Wie s wird auch seh gern durch d ersetzt; unter Einrechnung der Ver-
bindung st (s. auch h.) haben wir lOmal d für anlautendes seh; 3mal fällt
anlautendes seh weg; auslautendes seh erscheint Imal als b.
g) z:
Zü = du (2) abc = abd (2/2) Zwieback = didat (2/2)
Zimmer = dimmi (2/7) Zange = ganga (2) zwei = d"ei (2/5)
Unter 6 Fällen tritt 5 mal d für z ein; kann für ganga = Zange regressive
Assimilation angenommen werden?
h) Wörter mit doppeikonsonantischem Anlaut:
Blätter = habet (1/S) Stein = dein (l/ll) • Zwieback = didat (2/2)
blau = gau (2) Stiefel = dibi ajS) zwei = d"ei (2/5)
Pfau = gau (2) stoßt = dot (2/2) Stock = ok (2/1)
Kleid = deid (2) Spinne = binne (2) Schnake = ak (1/10)
Printe = bin (2/2) Schwan = wan (1/11)
Stuhl = dud (2/2) Schwamm = bara (2/2)
Die Wörter dieser Gruppe wurden zum größten Teil schon in den vorher-
gehenden Abschnitten betrachtet. Sie werden hier nochmals übersichtlich
zusammengestellt, um die Neigung des Kindes zu zeigen, die schwer aus-
zusprechenden doppelkonsonantischen Anlaute zu vereinfachen bzw. ganz zu
beseitigen; man beachte, wie blau und Pfau in der kindlichen Aussprache
zusammenfallen.
2. Der Ausfall anlautender Konsonanten bzw. ganzer Silbenr
a) Der bzw. die anlautenden Konsonanten fallen weg:
Buch = «ch (1/8) Rock = ot (1/7) Bank == ank (2)
Schnake = ak (1/10) Stock = ok (2/1)
Die Erscheinung dieses Ausfalls kann in doppelter Weise erklärt werden.
Einmal kann sie in der Schwierigkeit der Aussprache des Anlauts begi'ündet
sein ; dem gegenüber steht aber wieder die Tatsache, daß in anderen Wörtern
der gleiche Anlaut gesprochen wird, z. B. in hart (2/2). Der Ausfall mag
daher besser auf die bei solchen einsilbigen Wörtern, besonders bei Rock^
Stock und Bank stattfindende kurze und scharfe Aussprache zurückzuführen
sein, wodurch vor allem die letzten Laute in das Ohr des Kindes hineinklingen
(vgl. auch den folgenden Abschnitt).
b) Bei mehrsilbigen Wörtern wird gerne die erste der Tonsilbe voran-
gehende Silbe (bzw. die ersten Silben) unterdrückt:
kaputt = but (2) Trompete = pete (2/1) Chokoladchen = lädä (2/2>
Kakao = gau (1/9) Salon = hon (2/1) Harmonika = monika (5/6)
Soldat = dat (2) GemiU = mis (2/2)
In allen diesen Beispielen sind die ersten Silben unbetont, sie fallen
somit weniger ins Ohr als die nachfolgenden betonten Silben und kommen
daher bei der Nachahmung in Wegfall. Eine beachtenswerte Parallele zu
dieser Erscheinung bietet die neuste Soldatensprache. Als unsere Soldaten
1914 in Frankreich eindrangen, bekamen sie auf ihre Frage nach Lebens-
mitteln usw. die ständig wiederkehrende Antwort: 11 n'y en^a plus. Sie
sprachen das Wort als naplü nach, d. h. sie beschränkten sich auf die Wieder-
gabe der besonders stark in ihr Ohr fallenden letzten Sprechtakte: [ilniä]naplü.
Das Wort ist zu einem festen Bestandteil der Soldatensprache geworden.
3. Die nächsten Gruppen behandeln die sog. Assimilation, d. h. die aus-
gleichende Wirkung, die benachbarte Laute aufeinander haben. Wir unter-
BeiträLge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes 187
scheiden die regressive Assimilation, d. h. die rückwärts wirkende und die
progressive, d. h. die vorwärts wirkende Assimilation.
a) Regressive Assimilation:
Tunke = gunnu (2/2) Bleisiüt = scbleischtUt (M. 4)
dunkel = gunnu (2/2) Kaplan = bablan (6/10)
dunkel = gungel (M. 4, 10?) Tablette = bablette (6,7)
photographieren = kotografieren (5,10) verkrumpeln = verbrumbeln (7 9)
Phonograph — konograf (M. 6/2) Zwetschen = schwetschen (5/ 1 1)
Harmonika = karmonika (5/6) Infantrist = infrantrist (5 11)
Kaffee = fafe (4/9) die Bube[n] rodle[n] = die buble rodle (M. 4yl0)
b) Progressive Assimilation:
a) Angleichung der Konsonanten:
gut -= gug (2) guten Tag = guda gad > 2 5,i Mauer = Momer (5 ?)
Bad = bab (2) Major = Mamor i5 2)
ß) Angleichung der Vokale:
Apfel = haba (2) Kanne = danna (2) Ochse = oggo (2,3)
Affe <= aba (2) danke = danna (2,2) morgen = mOjO (2/3)
haben = haba (2 8) Stiefel = dibi (2 3) Pudel = budu (2|3)
Wappen = "aba (2/3) Himmel = himm! (2 7) dunkel = gUnnu (2,2)
Hammer = hama (2) Zimmer = dimmi (2 7) Tunke = gUnnu (2; 2)
Zange = ganga (2) immer = immi (2/7) Gutsei = gudu (2/2)
Es mag dahingestellt sein, ob es richtig ist, alle diese Wörter durch pro-
gressive Assimilation zu erklären ; denn neben haben = haba haben wir auch
schreien = d"eia, schreiben = d"'eiba ; die Formen auf a mögen auch auf die
Freude des Kindes an vollklingenden Endungen zurückzuführen sein. Sehen
wir aber von diesen Formen auf a ab, so ist bei den Wörtern mit o, i und
u eine große Gesetzmäßigkeit zu erkennen.
4. Eine Verdoppelung der ersten Silbe findet bei folgenden Wörtern
statt:
Wasser = wawa (2), wauwau (2) Häschen = iäjä (2,3)
Tasse = dada j2: 1) Hilde — 1. iiji (2 2), 2. hihi (,2,7 '?)
Tante = dandän (2/1) Engel = engeng (2,1)
5. Die nachstehenden dreisilbigen Wörter müssen sich mit einer annähernden
Wiedergabe begnügen ; dabei ist zu beachten, wie das Kind wohl die Vokale
ziemlich richtig ausspricht, nicht aber die Konsonanten bzw. Konsonanten-
verbindungen; auch die genaue Wiedergabe der Silbenzahl, sowie der Be-
tonung ist bemerkenswert :
Äbputztuch = äbedo (1,'S) Weihnachtsmann = "eidabam (2,2)
'Ejlisabeth = betabet, bitabet (2) Offizier = dödidi (2 2)
[auf] Wiedersehn = ninäne (2/3)
6. Vertauschung einzelner Laute:
buchstabieren = buchsbadieren (7) Sattler == Laster C7/5)
Globus = Biogus (6/5)
Buchstabieren wurde bis ins 10. Lebensjahr als buchsbadieren gesprochen.
7. Vertauschung ganzer Silben:
Hasenbraten = bratenhas (M. 3,6) Uhrkette = kettenuhr (5;4)
W«lfgang = gangwolf (M. 4/9) Nußknacker = knacknusser (5/11)
Wasserstoff = stoffwasser (M. 5/6) Bleiaufschläge •= aufsbUischläge (6/8)
Wurstweck = weckwurst (4/10)
Was die Erwachsenen oft im Scherze tun, wird von dem Kinde unbewußt
im Ernste vorgenommen.
188 Bergmann, Beiträge zur Untersuch, der sprachl. Entwickl. des Kindes
8. Verschiedenes:
a) Dissimilation (vgl. oben 3):
Vilbeler Wasser = vilberer wasser (6/9)
die Idioten — die inloten (M. 7/5)
b) Kürzung der Wörter durch Weglassen von Silben:
Urgroßmama = urmama (M. 3/9)
Erbgroßherzog Georg = erbgeorg (M. 3/9)
c) Vermeidung des Hiatus durch Einschieben eines Konsonanten:
Theo = dedo (2/2) (aber auch richtig teo); vgl. auch Erich = Eich (2)
adio = adido (2/2)
Noack = norak (M. 6/6)
Die weitaus größte Zahl der in diesem Abschnitt über die Lautgestaltung
niedergelegten Beobachtungen entstammt der zweiten Hälfte des zweiten
Lebensjahres und vor allem dem dritten Jahr. Vom vierten Jahre an wird
das Kind allmählich Herr der meisten lautlichen Schwierigkeiten. Auffallend
sind die Beispiele der Gruppe 3 a (regressive Assimilation) und der Gruppe 7
<Vertauschung ganzer Silben), die sich auf die höheren Lebensjahre (5 — 8)
erstrecken. _ (Schluß folgt.)
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Zur psychologischen Beobachtung der Ftb-sorgezöglinge hat Prof. Dr.
Gregor, Oberarzt am Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf bei Leipzig, ein
Schema entwickelt, das er für gemeinsame Arbeit an der Erforschung der
Verwahrlosten nach ihrer seelischen Struktur und besonders ihrer moralischen
Artung und Entwicklung weiteren Kreisen zugänglich machen möchte. Die
von ihm vorgeschlagenen Ermittlungen können unabhängig von der psychia-
trischen Untersuchung vorgenommen werden. Beide sollen einander ergänzen.
Die psychologische Analyse wird dem Psychiater Beobachtungsmaterial zur
Prüfung und diagnostischen Verwertung bieten; andererseits vermag die
psychiatrische Auffassung die Besonderheiten der Charakterstruktur zu be-
leuchten. Bestimmt ist das Schema für folgende Aufgabe: Es soll Lehrer und
Erzieher zu umfassender und systematischer psychologischer Beobachtung
der Zöglinge anregen; es soll verwertbares Material für ärztliche Diagnosen-
stellung liefern ; es soll eine individualisierende Erziehung ermöglichen helfen ;
es soll das für die Verwahrlosung kennzeichnende Verhalten aus der Struktur
der Zöglinge erklären ; es soll die Grundlage zur Abgrenzung von Charakter-
typen Verwahrloster sein. Die Aufstellung der vorgeschlagenen Beobachtungs-
richtungen ergibt folgendes Bild.
A. Komplexe psychiatrische Funktionen.
1. Intelligenz, a) Anlage, b) Kenntnisse, c) Fähigkeiten. — Gedächtnis — Auffassung (schwer —
leicht — Interessen — Vorstellungsreichtum und -armut (Phantasie) — Denken (oberflächlich —
tief, langsam — rasch).
2. Gemütliches Verhalten, a) Stimmungslage (heiter — traurig; gehoben — gedrückt; gleich-
mäßig — wechselnd; begründete — unbegründete (endogene); Verstimmungen, deren Art
und Dauer). — b) Affekte (erregbar — stumpf; dem Reize entsprechend — ungewöhrdich
oder abnorm in Stärke und Art). — c) Höhere Gefühle dem Alter entsprechend entwickelt;
soziale und moralische Gefühle.
3. Triebleben, a) Triebhafte Erscheinungen (naschen, stehlen, ausreißen usw.). — b) Sexuelles
Verhalten. — c) Krankhafte Trieberscheinungen und Perversitäten.
Kleine Beiträge und Mitteilungen /^f 193
4. Wollen und Handeln (aktiv-passiv, schlaff, energisch, bratal. überlegt, zielbewußt, zerfahren),
Eifer, Ausdauer, Fleiß.
B. Persönlichkeit.
1. Psychische Struktur (fein, empfindlich, derb, niedrig organisiert). — 2. Ablauf psychischer
Funktionen (anregbar, ansprechend, stumpf, nachhaltig, intensiv, flüchtig, matt). — 3. Der
äußere Mensch (gehalten, geordnet, nachlässig, unsauber). — 4. Benehmen (gesittet, höflich,
grobschlächtig). — 5. Beziehungen zur Umwelt (offen, zurückhaltend, verschlossen, gut, IkSs-
artig; wahr, lügnerisch, prahlerisch, l>eeinflußbar, anstiftend). — 6. Haltung (energisch, schlaff,
konstant, wechselnd, schwankend, selbstbewußt, kindlich-naiv). — 7, Stellungnahme (zum
eigenen Schicksal, Kritik und Urteil zu eigenem Handeln und Verfehlungen). — 8. Zusammen-
hang der Persönlichkeit harmonisch, einseitig, verbildet i.
C. Einfluß des Anstaltsaufenthaltes.
1. Beurteilung der Lage. — 2. Vorsätze und Reue. — 3. Wiederauftreten alter Fehler, Ansätze
oder tatsächliche Besserung. — 4. Erfolge des Unterrichts.
D. Körperliche und psychische krankhafte Erscheinungen.
E. Ergänzung durch fortlaufende Beobachtung.
Ober die pädagogische Fortbildung der Oberlehrer äußert') sich der
Prof. für Philosophie und Pädagogik Dr. Eduard Spranger an der Universität
Leipzig in folgenden Ausführungen, die vor allem auch der Bedeutung
der Jugendkunde für das höhere Lehramt gerecht werden.
„Wenn von pädagogischer Fortbildung im Lehramte die Rede ist, so könnte
dies leicht als ein Iv did övoTv erscheinen. Denn wie ■will man erziehen
und unterrichten, ohne sich pädagogisch fortzubilden? Hier aber ist jene
Vertiefung gemeint, die nicht nur auf dem Ausprobieren und der jahrelangen
Selbstkorrektur beruht, sondern auf zusammenhängendem Nachdenken, ja
Forschen und Lesen. Kurz : eine tb'/jt] , nicht eine efiTrsigia im Sinne
des Platonischen Gorgias sollte die Kunst der Menschenbildung sein.
Es bleibt in ihr etwas Unlernbares, durchaus Geniahsches. Aber — mit
einer unzulänglichen Analogie: auch die Musik vollendet sich erst durch
Mu8ik\^^ssenschaf t , jede Kunst erst im Hindurchgehen durch ästhetische
Reflexion.
Damit ist ausgesprochen, daß die Lektüre der zahlreichen didaktischen
Ratgeber, ja auch der Aphorismen vom pädagogischen Lebenswege nicht
genügt. Vielmehr sollte das pädagogische Tun in seinem ganzen Zusammen-
hange zur Besinnung erhoben werden, ein Zusammenhang, der auf der
einen Seite in die Welt der Kultiirgüter und Kulturgebiete, auf der andern
in die Welt der Jugend und des werdenden Lebens hineinreicht. In erster
Linie muß der Erzieher sich klar sein, was er soll imd was er will: das
Nachdenken über die Bildungsziele der Gegenwart, ihren Kampf, ihren
Ursprung, ihr Recht gehört für ihn nicht zum Fakultativen, sondern das ist,
wenn er keine andere haben sollte, seine Philosophie und als solche obli-
gatorisch. Diese Richtung des Denkens aber führt in der Regel erst dann
zu wirklichem Ertrag, wenn der betreffende im Amte selbst drinsteht und
an den Kräften der Wirklichkeit die Probe auf seine Ideale machen kann.
Nicht ein Jota soll von der Strenge der fachwissenschaftlichen Ausbildimg
des Lehrers fortgenommen werden. Aber so wenig man aus Wissenschaft
') Vergl. Dr. Ed. Spranger. Kultur und Erziehung. Gesammelte 'pädagogische Aufsätze.
Leipzig 1919. QueUe & Meyer. S. 103 ff,
Zeitschrift f. pädagog. Psjcliologie. 13
194 Kleine Beiträge und Mitteilungen
allein das Leben oder gar die Kultur aufbauen könnte, so wenig darf der
Lehrer glauben, wenn er nur die Wissenschaft habe, werde ihm alles andre
von selbst zufallen. Diese Selbsttäuschung pflegt auch nur bei Universitäts-
professoren vorzukommen, die von der Schule nur so viel sehen, als an ihr
Wissenschaft ist.
Aber es kommt für den Pädagogen nicht nur darauf an, was er lehrt,
sondern auch wen er lehrt. Jugendkunde muß er besitzen, sei es als an-
geborenes Genie, sei es als erworbene Kenntnis. Je' weniger sie ihm zum
starren System oder ziu- statistischen Massenbehandlung wird, um so besser
wird sie ihm zur Durchleuchtung seines lebendigen Schaffens dienen, das
an sich eine ursprüngUche Gabe und Richtung des Geistes ist. Der bildende
Künstler studiert Anatomie: die Lenker der Seele müssen sich um die Ana-
tomie und Biologie der Seele kümmern. Es ist eine auffallende und nicht
genug zu beklagende Tatsache, daß die Beiträge, die bisher die höheren
Lehrer zur Kinder- und Jugendpsychologie geliefert haben, verschwindend
gering an Zahl und fast noch geringer an Bedeutung sind. Was wir auf
diesem Gebiet besitzen, stammt aus der Arbeit der Volksschul- und Seminar-
lehrer. Die Folge ist, daß unsere bisherige Literatur in der Regel mit dem
14. Jahre Schluß macht. Nicht ein einziges Buch über das so ent-
scheidend wichtige Pubertätsalter gibt es in deutscher Sprache. Seit der
Adolescentia des Wimpfeling scheint diese Forschungsrichtung ausgestorben,
obwohl doch seit 100 Jahren ein eigner Stand existiert, dem die seelische
Pflege dieses Lebensalters geradezu ausschließUch anvertraut war. Die
Fortbildungsschule, so jung sie ist, hat in kurzer Zeit schon viel beachtens-
wertere psychologische Forschungen nach dieser Richtung veranlaßt. Auf
diese Lücke in der Fortarbeit der höheren Lehrer weise ich mit dem größten
Ernst hin, weil sich an dieser Stelle ein Mangel des ganzen bisherigen
Systems zeigt, über den man nicht ausführlicher reden könnte, ohne eine
Anklage zu schreiben. Das Vertrauen in die Zukunft aber ist um so be-
rechtigter, als sich die Jugend inzwischen selbst geholfen hat. Die Jugend-
bewegung ist der Versuch des unverstandenen Pubertätsalters, sich selbst
zu verstehen. Die künftigen Lehrer, die durch diese Bewegung in ihren
gesunden und geläuterten Formen hindurchgegangen sind, werden auf Grund
eigner Erfahrung füi' diese Seite ihrer Aufgaben nicht mehr blind sein. Es
wird dann auch nicht mehr als geringwertige wissenschaftliche Leistung
gelten, wenn sich ein größerer Kreis der Erforschung der jugendlichen Seele,
der Anthropologie der Jugend überhaupt zuwendet.
Demgegenüber sind die andern Zweige der pädagogischen Fortbildung
weniger dringend. Schulgeschichtliche Forschung hat schon immer als eine
Ehrensache der Lehrer gegolten. Freilich muß man auch von dieser Literatur-
gattung sagen, daß sie größtenteils das Vertrauen in die Werte einer Wissen-
schaft der Pädagogik wenig gefördert hat. Mit dem Auffinden und Ab-
drucken von Schulordnungen ist es nicht getan; auch nicht mit der chro-
nistischen Treue der Erzählung, wie alles gewesen ist — (denn mit dieser
falschen Betonung scheinen manche hier das Rankesche Wort gelesen zu
haben). Viehnehr kommt es auch hier darauf an, daß eine Frage der Ant-
wort vorausgeht und daß in dieser Frage die Bezüge zur allgemeinen Geistes-
geschichte, das Bewußtsein für das Typische und das Abstechende, der
Sinn für das Lebendige und Wirksame im Kostüm alter Zeiten enthalten
Kleine Beiträge und Mitteilungen 195
sei. Wünschenswert ist es ferner, daß auch die historischen Zweige gepflegt
werden, die an den Universitäten heute noch wenig zur Geltung kommen,
nämhch die Geschichte der Universitäten selbst, die Geschichte der Wissen-
schaften, die Biographik großer Forscher und Lehrer. Geschichte der Schul-
verfassung kann heute erst geschrieben werden, nachdem wir eine allgemeine
Verfassungsgeschichte besitzen, in die die Schule nur eingeordnet zu werden
braucht.
Dieses letzte Gebiet sollte auch in systematischer Hinsicht gepflegt werden:
als Schulvervs'altungslehre und Theorie der Schulorganisation. Die Zu-
sammenhänge der Schule mit dem Staat, der Gesellschaft und der Wissen-
schaft stehen heute sachlich so im Vordergrunde, daß sich auch die Theorie
stärker mit ihnen beschäftigen muß.
So wäre denn der ganze Umkreis der pädagogischen Wissenschaft zu
kennzeichnen als historische und systematische Behandlung der Bildungsziele,
der Bildsamkeit (pädagogischen Psychologie), der Menschenbildner und des
Bildungswesens. Wem aber sollte die Pflege dieser umfassenden Bildungs-
wissenschaft sonst zufallen als denen, die in einem vielausgesprocheneren
Sinne als die Universitätsprofessoren Träger des nationalen Bildungs-
gedankens sind, also den höheren Lehrern? Freihch wird für diese große
Arbeit so lange die Anregung und der Mittelpunkt fehlen, als es an den
preußischen Universitäten keine Ordinariate für Pädagogik gibt. Und doch
besteht ein doppeltes praktisches Bedürfnis nach Männern solcher Interessen-
richtung: Die Lehrer an den Volksschulseminaren empfinden selbst, wie sehr
wir in unsrer wissenschaftlichen Pädagogik allenthalben noch zurück sind.
Und geeignet ausgebildet^ Leiter der zweijährigen praktischen Vorbereitungs-
zeit für höhere Lehramtskandidaten fehlen bis heute, wie man wohl zugeben
wird, so gut wie ganz.
Leitsätze zur Arbeitsschule veröff enthebt der Deutsche Verein für
Knabenhandarbeit und Werkunterricht in seinem Organ „Die Arbeits-
schule", Heft 1 des Jahrganges 1919. Der Verein findet seine langjährigen
Bestrebungen von der Gunst der Zeit getragen und ruft seine Mitglieder auf,
die alten Bestrebungen im Angesichte der ungeheuerlichen Kulturwende zu
überprüfen. Erforderlich erscheint ihm die Untersuchung der Fragen:
Welches ist heute der sicher erkennbare Stand der Arbeitsschulbewegung?
Mit welchen Plänen und Forderungen anderer Strömungen steht sie im Einklang?
Welche Richthnien für die weitere Durchbildung und Durchführung des Arbeits-
schulgedankens ergeben sich aus der neuen Lage?
Die Grundlage für die weiteren Vereinsbesprechungen und -bestrebungen
sollen nun die folgenden Sätze geben:
A. Grundsätzliche Anschauungen.
I. Der Verein erstrebt die Verwirklichung und den Ausbau der Arbeitsso-bule. Er ver-
steht darunter eine Schulform, in der die Eigentätigkeit des Schülers das Kennzeichen des
gesamten Bildungsvorganges ist und in der damit auf die Erziehung zu persönlicher
Selbständigkeit abgezielt wird.
II. Unter ihrem Leitgedanken „Durch Selbsttätigkeit zur Selbständigkeit* -will die
Arbeitsschule die ganze werdende Persönlichkeit in allen Anlage* und Kräften ihrer Eigen-
wesenheit (Individualität) entfalten, in den leiblichen Anlagen nicht minder als in den
seelischen, in den lebendigen Kräften des Gemüts und Willens nicht weniger als in
denen des Verstandes. Vordringlich ist dabei die Pflege einer echten Arbeitsgesinnung, eines
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196 Kleine Beiträge und Mitteilungen
starken Arbeitswillens und einer sicheren Arbeitstechnik, gestützt durch frische Freude am
eigenen Tun und an jeglicher tüchtigen Leistung. Als besonders wertvoll wird die Erziehung zu
„praktischer Anstelligkeit" betont. Allem voran steht aber die lebenstüchtige Charakter-
bildung.
HI. Beherrschen soll die Eigentätigkeit als der Grundsatz der Arbeitsschule das gesamt«
deutsche Bildungswesen: auf allen Unterrichtsstufen und in allen Schulformen, vom
Kindergarten bis hinauf zu den Hochschulen. Ein in besonderem Maße bedeutungsvolles
Wirkungsfeld sind die mannigfachen Formen der Jugendpflege und Jugendfürsorge.
IV. Der Verein erstrebt, die Entwicklung der Arbeitsschule in innigster Fühlung zu halten
mit den großen Fragen der Kultur und der Bewegung der Gesamtpädagogik, besonders
auch mit den Fortschritten der Erziehungswissenschaft. Von anderen pädagogischen
Bestrebungen nimmt er Gleichsinniges vornehmlich aus der Kunsterziehung und der staats-
bürgerlichen Bildung auf.
Er unterstützt das schulpolitische Programm der deutschen Lehrerschaft in den
Forderungen, von denen eine günstige Beeinflussung der Arbeitsschulbestrebungen zu erhoffen ist
B. Abgeleitete Bestrebungen.
Von der umgestaltenden Wirkung des Grundsatzes der Eigentätigkeit muß die Schule er-
griffen werden im Gesamtbereiche ihres äußeren und inneren Lebens, all ihrer
Einrichtungen und Veranstaltungen. Wichtigere Einzelforderungen leiten sich insbesondere her
für das Unterrichtsverfahren, den Lehrplan, das Gemeinschaftsleben.
I. Forderungen für das Unterrichtsverfahren.
Es ist zu verlangen,
1. daß sich im allgemeinen der Zwang und Druck der Lehrerarbeit im Unterricht mildert zu-
gunsten einer selbständigeren geistigen Bewegung des Schülers und der Klasse;
2. daß die schulmäßigen Verfahren des Lernens angenähert werden an die Lebensformen
des freien Bildungserwerbes;
3. daß tunlichst das Lehren und Lernen von sinnlicher Erfassung, von Beobachtung und
Untersuchung ausgehe und hinführe zu gestaltendem Ausdruck und vielseitiger handelnder
Anwendung ;
4. daß sich auf den geistigen Gebieten der Unterricht, wo immer nur möglich und wertvoll,
durchsetzt mit handlichem Tun am dinglichen Gegenstande;
.5. daß die Bildungsgebiete, denen bislang als Gruppe der Fertigkeiten und Künste nicht die
volle Würdigung wurde, künftig soweit als nur möglich geist-, gemüts- und willens-
getragene Arbeitsvorgänge ausprägen, daß sie den Körper zum dienstwilligen Organ
des Geistes schulen und daß hier im schaffenden Darstellen der künstlerische Zug der
gesamten Schulbildung abgipfelt,
n. Forderungen für den Lehrplan.
1. Das Ausmaß an verbindlichem Wissen ist durch Ausscheidung weniger bildenden Stoffes
so zu bemessen, daß der arbeitende Erwerb und die freitätige Durchdringung und An-
wendung nicht durch Mangel an Zeit und Kraft behindert ist.
2. Bei der Auswahl des Stoffes hat mitzusprechen, wie ergiebig er wertvolle Eigentätigkeit
zuläßt.
3. Die Anordnung in den Lehrgängen muß neben den sachlich-systematischen Grundsätzen
auch nach arbeitstechnischen und psychologischen Rücksichten erfolgen; sie hat femer zu
sorgen, daß im Gesamtbilde des Lehrplanes die Fächer einander sich nicht bloß stofflich
sondern auch arbeit lieh wechselseitig fördern (Prinzip der formalen Konzentration).
4. Die wirksame Eingliederung des werktätigen Schaffens in den gesamten Unterricht als
Prinzip verlangt, daß in Form eines eigenen , technischen" Lehrganges der Werkunterricht
(die Handfertigkeit) als Fach betrieben wird.
in. Forderungen für das Gemeinschaftsleben.
Nach dem Grundsatze der Eigentätigkeit muß in der Schule, die ein Gemeinschaftsleben
unter geregelter Ordnung, unter Verwaltung, unter Spiel und Feier, unter Arbeit und persön-
lichem Verkehr zu organisieren hat, der älteren Schülerschaft eine begrenzte freiere Mit-
wirkung zugestanden werden. Wie weit amerikanische Vorbilder für die anders geartete
deutsche Schulkultur anzuerkennen und nachzuahmen sind und wie weit die Einrichtungen und
Erfahrungen der Freien Schulgemeinden, die unter wesensverschiedenen soziologischen Be-
dingungen stehen, auf öffentliche Schulkörper sich als übertragbar erweisen, bedarf gewissen-
haftester Erwägung und Erprobung.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 197
C. Notwendige Vorbedingungen.
Zur Verwirklichung des Arbeitsschulgedankens ist erforderlich,
1. daß für die Ausbildung und Fortbildung der Lehrerschaft solche Bildungsstätten
geschaffen und unterhalten werden, in denen für die Aufgal>en der Arbeitspädagogik das
berufliche Rüstzeug erworben werden kann und in denen insbesondere die in Deutschland
noch vernachlässigte Schulung in der Handbetätigung einen Boden hat (Reform der Lehrer-
seminare, Ausbau der Lehrerseminare für Handfertigkeit in Leipzig, Berlin a, a. a. 0.);
2. daß sich eine freiheitliche Schulverfassung entwickelt, die dem Lehrer die Freiheit
und Selbst Verantwortlichkeit seines unterrichtlichen Schaffens gewährleistet und die
auch den Vertretern der kulturellen Lebensgebiete, vor allem der wirtschaftlichen
Arbeit, wie auch der Elternschaft einen mitwirkenden Einfluß gestattet;
3. daß nach dem Stande der wissenschaftlichen Jugendkunde alle Mittel zur Erkenntnis des
kindlichen Eigenlebens und der Eigenwesenheit des Schülers für die Schule nutzbar ge-
macht werden;
4. daß den Schulen von den Behörden und Pflegschaften eine äußere Einrichtung und
Ausstattung zu geben ist, die sie zu geistigen .Werkstätten der Bildung" erbeben,
und daß allen Schülern die erforderlichen Lern- und Arbeitsmittel unentgeltlich ge-
reicht werden.
Das Arbeitsprogramm des Deutschen Ausschusses für KleinkinderfOr-
sorge wird im nachstehenden Entwurf veröffentlicht:
1. Als ein Teil der Bestrebungen für den Wiederaufbau deutscher Volks-
kraft ist die gesamte Kleinkinderfürsorge nach volkswirtschaftlichen, volks-
gesundheitlichen und volkserzieherischen Gesichtspunkten auszubauen. Nur
durch eine planmäßige Arbeitsgemeinschaft von Staat, Gemeinde und freier
Liebestätigkeit ist dieses Ziel zu erreichen. Die Famihe bleibt dabei der
natürliche Träger der Pflege und Erziehung des Kleinkindes. Alle übrigen
Einrichtungen sind nur Hilfseinrichtungen für die Familie.
2. Ziu- Besserung der Aufwuchsverhältnisse von Kleinkindern sind volks-
wirtschaftliche Maßnahmen zur Hebung der Lage der minderbemittelten und
der diu-ch den Krieg in Mitleidenschaft gezogenen Volksschichten unerläßUch.
Insbesondere bedarf es einer zielbewußten Begünstigung von Famihen mit
mehreren Kindern in Form von Erziehungsbeihilfen, von Wohnungsfürsorge
sov^ie von anderen geeigneten Mitteln.
3. Zur Verhütung und Beseitigung von Schädigungen des Kleinkindes sind
zu fordern: a) vom Standpimkte der Volksgesundheitspflege: Aufklänmg
über zweckmäßige Ernährung und Pflege des Kleinkindes, Hebung seiner
Widerstandsfähigkeit, wirksame Bekämpfung der Entstehungsursachen, der
Krankheitserscheinungen und der Folgen der Tuberkulose, der lympha-
tischen Konstitution, der Rachitis, der Erbsyphihs sowie der ansteckenden
Kinderkrankheiten im Kleinkindesalter; b) vom Standpunkte der Volks-
erziehung: Versorgung der aufsichtsbedürftigen, schwer erziehbaren oder
nicht vollsinnigen Kleinkinder sowie Rücksichtnahme auf die Eigenart der
Kleinkinder innerhalb der öffentlichen Jugendfürsorge (W^aisen, Armenkinder,
FürsorgezögUnge und Kostkinder),
4. Form, üreachen und Folgen von Krankheiten und Erziehungsschäden
im Kleinkindesalter, soweit sie als Massenerscheinungen auftreten, sind in
ihren wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhängen zu erforschen, und es
sind entsprechende Mittel der Abhilfe zu erproben. Unter Berücksichtigung
der Unterschiede zwischen städtischen imd ländhchen Verhältnissen ist
hierbei besonderes Augenmerk der Frage zu widmen, inwieweit die Familie
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als der natürliche Träger der Pflege und Erziehung der Kleinkinder gestützt
und ergänzt werden muß.
5. An Hilfseinrichtungen auf dem Gebiete der Volksgesundheitspflege sind
erforderlich: a) Fürsorge- und Beratimgsstellen für Kleinkinder im engen
Zusammenhange mit der Säuglingsfürsorge; b) fachlich in der Kleinkinder-
fürsorge geschulte Fürsorgerinnen unter ärztUcher Leitung; c) Ausbau von
Kinderkrankenhäusern und Kinderheilstätten; d) Bereitstellung von Erholungs-
heimen und Tageserholungsstätten für Kleinkinder; e) Ausgestaltung der Fa-
milienversicherung von Krankenkassen.
6. An Hilfseinrichtungen auf dem Gebiete der Volkserziehung sind erfor-
derlich: a) Tagesheime (Krippen, Kindergärten, Kinderschulen usw.) für
aufsichtsbedürftige Kinder in ausreichender Zahl und in einer Form, die
berechtigten Mindestanforderungen an Bau, Einrichtungen und Betrieb ent-
spricht; b) fachlich geschultes Erziehungspersonal; c) Veranstaltungen zur
Einwirkung auf die häusliche Erziehung und Pflege des Kleinkindes; d) Son-
derkindergärten oder Sonderkinderheime für schwererziehbare, geistig minder-
befähigte oder nicht vollsinnige Kleinkinder.
7. Um in Stadt und Land von Staat, Gemeinden und freier Liebestätigkeit
getragenen Bestrebungen der Kleinkinderfürsorge die Sicherheit einer Allge-
meinwirkung zu geben, ist anzustreben: a) die Zusammenfassung der öffent-
lichen Fürsorge in Jugendämtern und Jugendausschüssen für Stadt- und
Landkreise oder ähnliche Verwaltungsbezirke und im Zusammenhange damit
Förderung der freien Liebestätigkeit; b) die Schaffung von Zweckverbänden
für Wohlfahrtspflege unter Anlehnung an Stadt- und Landkreise oder ähn-
liche Verwaltungsbezüke ; c) die stärkere Nutzbarmachung der Hilfsmittel
der Sozialversicherung; d) die Gewährung geldlicher Beihilfen an leistungs-
schwache Gemeindeverbände aus Mitteln des Reiches, der Bundesstaaten oder
der Provinzen.
Die Errichtung einer Ausbildungsstätte für heilpädagogische Lehrberufe
ist in Wien erfolgt. Der Lehrplan dieses „Heilpädagogiums" verzeichnet
nachstehende Gegenstände: 1. Halbjahr: Einführung in die Heilpädagogik.
Über Pathologie der Sinnesorgane. Methodik. 2. Halbjahr: Geschichte,
Kongreßberichte, neue Lehrmittel, Einführung in die Literatur. Anatomie,
Psychopathologie. Methodik. 3. Halbjahr: Über Entwicklung der Sprache,
Behandlung von Sprachgebrechenr Psychiatrie für Heilpädagogen. 4. Halb-
jahr: Behandlung schwierigster Fälle aus dem Taubstummen-, Blinden- und
Schwachsinnigenwesen. Methodik. Prakt. Auftritte in der Taubstummen-,
Blinden- und Schwachsinnigenschule und -Vorschule. Es ist ferner ein durch
alle vier Halbjahre sich erstreckender Kurs über experimentelle Päda-
gogik (Vortragender Dr. W. Kammel, Leiter des pädagogisch-psychologi-
schen Laboratoriums an der n.-ö. Landeslehrerakademie in Wien) vorgesehen ;
außerdem findet eine Reihe ergänzender Einzelvorträge statt.
Zur Heranbildung von Leitern für Stotterklassen und von Lehrern für
Absehunterricht bei Schwerhörigen und Ertaubten ist im vergangenen Jahre
im Kanton Zürich ein Lehrinstitut begründet worden. An den vorgesehenen
Kursen kann jeder Lehrer teilnehmen, der sich in diesem Gebiete vervoll-
kommnen will. Zur Behandlung kommen die verschiedenen Alten von
Kleine Beiträge und Mitteilungen 199
Stummheit, das Stottern, Poltern, die verschiedenen Arten des Stammeins,
besonders Näseln, Lispeln, Agi'ammatismus und die psychogenen Sprach-
störungen, unter den Stimmstörungen die bei Schülern so häufigen Formen
von chronischer Heiserkeit, dann die Störungen der Sprech- und Singstimme
während der Pubertät und die nervöse Stimmschwäche. Alle diese Stimm-
und Sprachfehler kommen fast häufiger im Kindesalter als bei Erwachsenen
zur Beobachtimg. Besonders oft zeigen sie sich bei den Insassen der Klassen
für Schwachbegabte und Schwerhörige, dann aber auch in allen Volksschulen
und zwar bis in die höchsten Schulklassen. Das neue Institut will eine Lücke
in den gemeinnützigen Anstalten zum Wohle vieler Schulkinder ausfüllen und
will die gewinnsüchtige Ausbeutung solcher Patienten durch herumziehende
Sprachheilkünstler verhindern.
Das pädagogisch-psychologische Laboratorium an der niederösterreichischen
Landeslehrerakademie Wien legt den Bericht über sein 5, Arbeitsjahr
vor. Er wird erstattet vom Leiter Prof. Dr. W. Kammel. Trotz der
Schwierigkeiten, die der Krieg auftürmte, konnte der rege Betrieb in vollem
Umfange aufrechterhalten werden. Es wurde wie in den Vorjahren eine
größere Anzahl von Untersuchungen aus dem Gebiete der empirischen
Pädagogik ausgeführt, und es konnten für Lehrer und Lehrerinnen, Uni-
versitätshörer und Kandidaten der Lehrerbildungsanstalten wie auch für
andere an der Erziehungswissenschaft interessierte Kreise weiterführende
Bildungsveranstaltungen geboffen werden. Behörden und Schulen haben
dem Institute viel Unterstützung und Anerkennung gegeben.
Nachrichten. 1. Dr. Max Brahn, der das psychologische Institut des
Leipziger Lehrerv-ereins seit der Gründung im Jahre 1906 leitete, hat sein
Amt niedergelegt. Mit seiner glänzenden Rednergabe, seiner pädagogischen
Begabung und seinem vielseitigen Wissen hat er dem Institut in uneigen-
nützigster Weise große Dienste geleistet, das Interesse an der experimentellen
Psychologie und Pädagogik in weitere Kreise getragen und die wissenschaft-
liche Forschung auf diesen Gebieten durch Förderung der Einzelarbeiten
im Institut vorwärtsgebracht. Acht stattliche Bände der Institutsveröffent-
lichungen sind mit seinem Namen als Herausgeber gezeichnet. Zum Nach-
folger Dr. Brahns ist der durch seine wissenschafthchen Arbeiten bekannte
Lehrer Rudolf Schulze, der Gründer des Instituts, gewählt worden.
2. Professor Dr. Wilhelm Peters in Würzburg ist auf den neuerrichteten
Lehrstuhl für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Mannheimer
Handelshochschule berufen worden.
3. Prof. Dr. A. Fischer in München \\ird dem an ihn ergangenen Ruf an
die Universität Basel nicht folgen.
4. An der Freibiu-ger Universität ist der nichtetatmäßige a. o. Prof.
Dr. Jonas Cohn zum etatmäßigen a. o. Professor für Pädagogik und Phi-
losophie ernannt worden.
5. In den wissenschaftlichen Vorlesungen des Berliner Lehrer-
vereins im Sommer 1919 (90. Halbjahr) finden sich die folgenden philo-
sophischen, psychologischen und pädagogischen Vorlesungen: Dr. A. Liebert,
Geschichtsphilosophie; A. Bogen, Zur Organisation der geistigen Arbeit;
Dr. Buchenau, Einführung in die Theorie und Praxis der Sozialpädagogik,
200 Literaturboricht
dazu Übungen und Referate im psychologisch-pädagogischen Seminare;
Rektor Seinig, Untersuchung für die Erzielung bewußten Denkens in der
Volksschule, mit Lehrproben. Rektor H. Rebhuhn: Einführung in die
exakte Pädagogik (Fortsetzung der Vorlesungen im Winterhalbjahr: Auf-
merksamkeit, Übung, Ermüdung; Anleitung zu Beobachtungen und einfachen
Versuchen für die Feststellung der seelischen Eigenart der Schüler und der
Ursachen für Fehlleistungen als Grundlage fiu* erzieherische Maßnahmen;
neuere Untersuchungen über Anschauungsunterricht, Lesen, Schreiben, Recht-
schreibung, Rechnen, Zeichnen).
Literaturbericht.
Johannes Hessen, Die Begründung der Erkenntnis nach dem hl.
Augustinus. Münster i. W. Aschendorf f 1916. (Beiträge zur Geschichte der
Philosophie des Mittelalters, herausgegeben von Cl. Bäumker. Bd. XIX, Heft 2.)
Es handelt sich hier um eine philosophiegeschichtliche Untersuchung; nur
am Schlüsse wird versucht, die Augustinische Theorie der Erkenntnis zur Philo-
sophie der Gegenwart kurz in Beziehung zu setzen. Dabei zeigt sich Verwandt-
schaft zum kritischen Realismus, sofern auch dieser eine Metaphysik für möglich
hält und — in manchen Vertretern — geneigt ist, die Harmonie von Denken und
Sein auf ein sie ermöglichendes und verbürgendes göttliches Wesen zurückzu-
führen. Ferner berührt sich Eucken mit Augustinus in der Überzeugung, „daß
die allgemeingültige Wahrheit ihren letzten Grund in einem absoluten Geistes-
leben hat".
Gießen. August Messer.
Dr. Bruno Bauch, Prof. an der Universität Jena, Imanuel Kant, Berlin-
Leipzig 1917. Göschen. 475 S., geb. 12 M. .
Der Literaturbericht dieser Zeitschrift kann das philosophische Schrifttum
nur so weit eingehender würdigen, als es deutliche Beziehungen zur Erziehungs-
wissenschaft unterhält. Auch für ein so bedeutendes Werk wie das vorliegende
bleibt ihm nur die Pflicht der Anzeige. Innerhalb der Fülle von Kantschriften
aus den letzten Jahrzehnten hat das Buch seinen Platz neben Kuno Fischers
Gesamtdarstellung, seit deren Erscheinen aber die Kenntnis der Kant'schen Philo-
sophie und ihrer erhöhten Bedeutung für unser Geistesleben doch so wesentlich
erweitert worden ist, daß ihr mit Recht ein neuer Versuch, das Ganze der Lehre
Kants in einheitlichem Bilde breiter und streng wissenschaftlich zu erfassen, zur
Seite gestellt werden durfte. An kürzer gefaßten Schriften, die in Kants Lehre
weitere Kreise einführen wollen, ist ja kein Mangel; Bruno Bauch selbst hat vor
seinem großen Werke im gleichen Verlage eine solche Darstellung erscheinen
lassen, Tr.
Hegels Philosophie. Für die deutsche Bibliothek herÄusgegeben von Karl Paul Hasse.
Deutsche Bibliothek in Berlin. 232 S.
Das schmuck ausgestattete Bändchen vereinigt unter einer Reihe philosophischer und
kulturwissenschaftlicher Schlagwörter kürzere Auszüge aus Hegels Schriften, vor allem seiner
Ästhetik, die — so heißt es im Vorwort — dem sllgemeinen Verständnis am nächsten liege
und zu Unrecht verkannt imd vergessen sei. Um ein dieser Zeitschrift näherliegendes Beispiel
herauszugreifen, sei angeführt, daß der Abschnitt „Die Erziehung zur Bildung" einige Stellen
aus den Gymnasialreden aneinanderfügt. Die Abfolge der Gedankengruppen folgt im allgemeinen
dem großen Zuge des Hegeischen Systems. Eine Einleitung des Herausgebers versucht, in die
Gedankenwelt des „unausdenkbaren Schwaben" einzuführen, ist aber nur dem philosophisch
Geschulten verständlich. Doch will das Bändchen gerade gedacht sein als' eine Gabe an einen
größeren Leserkreis. Tr.
Literaturbericht 201
Dr. B.Maydorn, Zeitfragen der Gegen-Äart in Fichtes Reden an die de utscheNation^
Theod. Weicher, Leipzig 1917. 70 S. geb. 1,30 M.
Die Gegenwart bietet mit der Zeit Ficlites sehr viele Berührangspunkte , anderseits haben
Fichtes Auffassungen vom Staat und vom Deutschen eine von der Zeit abhängige Bedeutimg
und sind in einer solchen Sprache niedergelegt, um auch heute noch zur Stärkung vaterländischer
Begeisterung zu dienen und zum Leben in der Idee anzuregen. M. benutzt neben den , Reden''
auch noch die „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" und den ,gesclilossenen Handelsstaat"'
Auch die Fragen der Aimexion, der Abrüstung, des Schiedsgerichts, des ewigen Friedens finden;
eine Beleuchtung vom Fichteschen Geiste aus.
Bonn. ■ O skar Ku tzner.
Dr. med. H. Krauser, ObermedizLnalrat, Krankheit und Charakter. Wand-
lungen der Persönlichkeit in gesunden und kranken Tagen. Stuttgart 1916.
Strecker & Schröder. 213 S. 4,40 M.
Immer die Beziehungen zwischen körperlichem und geistigem Leben auf-
zeigend, verfolgt das Buch eingangs die Entwickelung der Persönlichkeit. Es
werden dann Krankheiten behandelt, die sich dem Ausreifen und dem Wirken
des sittlichen Charakters hemmend entgegenstellen. Den Schluß bilden Winke
und Ratschläge zur Abwehr, worunter sich u. a. auch pädagogische Ausführungen
über Fürsorgeerziehung, sexuelle Aufklärung, Strafen u. a. finden. Tr.
Paul Hildebrandt, Vom Seelenleben unserer Schüler. Ein Beitrag zur Schulgeschichte-
1914—1918. Mitteldeutsche Verlagsanstalt G. m. b. H., Mügeln. 0. J. 56 S. 1,50 M.
Der bekannte pädagogische Mitarbeiter der Voss. Ztg. gibt hier einen sehr dankenswerten
dokumentarischen Bericht über die seelischen Einwirkungen des Krieges auf das deutsche Schul—
und Schülerleben. Der Titel ist vielleicht etwas irreführend; denn der Nachdruck liegt nicht
sowohl anf dem Seelenleben der Schüler selbst, sondern auf der Schilderung der Bedingungen,
imter denen die Schwankungen des Seelenlebens standen. Am Anfang ein beispielloser Auf-
schwung \ind eine Begeisterung von höchster Spannung, am Ende — das Buch ist im August
1918 abgeschlossen — ein wenig erfreuliches Bild: Abgestumpftheit und Gleichgültigkeit, starkes
Nachlassen des Lerneifers und des Pflichtbewusstseins, Verringerung der Büdungshöhe, Verwahr-^
losimg und Zunahme der Kriminalität. Und dazwischen die vielen Einwirkungen des Kriegs aut
das Schulleben: die Notprüfungen mit herabgesetzten Ansprüchen, die Erntehilfe und die Kohlen-
ferien, die Beteiligung der Schüler an Sammlungen aller Art, die militärischen Jugendübungen ,^
die Erschütterung der häuslichen Verhältnisse, die verringerte körperliche und geistige Wider-
standskraft infolge des Ernährungselends — all dies wird knapp, aber in treffender Hervorhebung,
des Wesentlichen und mit vielen amtlichen und anderen Belegen geschildert.
Das Buch erscheint erst, nachdem die in ihm geschilderte Epoche einen jähen Abschluß
gefunden hat; von den wieder ganz neuen Seelenwirkungen, welche die Revolution auf die
Jugend ausübt, berichtet es uns nicht. So ist es wirklich, wie es sieh im Untertitel nennt, ein
Stück Schulgeschichte, freilich eine solche der neuesten Zeit
Hamburg. William Stern.
Dr. med. Stadelmann, Die Bedeutung des Kindheitserlebnisses für die Aus-
gestaltung der Lebensführung. Dresden 1917. Huhle. 19 S. M. 0,65.
Das Schriftchen legt in gemeinverständlicher Weise dar, wie Eindrücke der Kindheit in der
seelischen Verfassung des Erwachsenen oft mit entscheidender Kraft nachwirken. Es ist vor
allem die Erscheinung der Verdrängung — einer der fruchtbarsten Begriffe der Psychoanalyse — ,,
den Stadelmann erläutert und mit Beispielen belegt. Freilich bezieht sich Stadelmann nicht aus-
drücklich auf die psychoanalytische Forschung und hält sich glücklicherweise von all ihren ge-
fährlichen Einseitigkeiten und €T)ertreibungen fern, besonders dort, wo er die Bedeutung sexueller
Kindheitserlebnisse berührt (S. 10). Ein pädagogischer Gnmdgedanke Stadelmanns ist es, daß
die übliche ,,Verbotserziehung'" gefahrvoll sei : sie wirke lähmend auf das Kind, zerschlage sein
Eigenes imd führe schwere Willensmängel im späteren Leben herbei. Wie solche Folgen schäd-
licher Kindheitserlebnisse nachträglich zu beheben seien, wird von Stadelmann nicht behandelt ;
vielleicht, daß er hier gegen« manches fragwüixlige Gebaren psychoanalytischer Praxis Stellung
hätte nehmen können. Wohl aber versäumt er nicht die Frage, wie hemmende Einflüsse in der
Kindheit zu vermeiden und wie fördernde Erlebnisse einzubauen seien. „Jeder Erzieher'' — so*
seine Grundlehre — „muß danach trachten, daß Hemmungen beim Ablauf des kindlichen Seelen—
^02 Literaturbericht
''lebens zu Stauungen führen." (S. 17.) Dies aber erfordert eine gründliche Kenntnis des kind-
lichen Eigenlebens. — Stadelmann hat als Nervenarzt wiederholt in pädagogischen Fragen das
Wort ergriffen. Seine neue Schrift ist eine seiner besten Äußerungen — nach den Ansprüchen,
die sie an wissenschaftliche Schulung stellt, wohl weniger für den fachmännischen Pädagogen
als vielmehr für die Elternschaft bestimmt. Man wird ihn hier hoffentlich nicht dahin miß-
verstehen, daß eine pädagogische Pflege, die alle Tyrannei der „Verbotserziehung" aufhebt, etwa
jeden Zwang und jegliche straffe Zucht meiden soll.
Leipzig. Otto Scheibner.
Charlotte Bühler, Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 17. Beiheft d. Z. f.
angew. Psych. Leipzig 1918. Barth. 82 S. 4 M.
Das erdenweit verbreitete Märchen bildet die Anfangsstufe der erzählenden Dichtung. In
seiner ursprünglichen Form sucht es hauptsächlich die Erscheinungen der Natur und die Er-
fahrungen der Menschen aus der Phantasie zu erklären, wobei Wunder und Zauber die größte
Rolle spielen. Im Bereiche des europäischen Kulturkreises ist das Märchen vorwiegend Literatur
des Kindes geworden, und unser Märchenschatz ist mehr und mehr dem kindlichen Geiste an-
gepaßt worden. Die Beziehungen nun, welche zwischen dem Märchen und der Phantasie des
Kindes bestehen, untersucht Charlotte Bühler in ihrer Monographie, wobei sie von den Grimm-
schen Märchen ausgeht. In diesen, wie in fast allen Kindermärchen, spielen die Kinder selbst
• die Hauptrolle und zwar sind es, soweit die Verhältnisse beschrieben werden, Kinder aus sehr
armem oder aber aus königlichem Hause. Zum Teil erklärt sich das wohl daraus, daß manche
Märchen aus einer Zeit stammen, in der das Bürgertum noch keine hervorragende Rolle spielte.
Wichtiger aber dafür, daß man jene Verhältnisse so treu bewahrt hat, ist wohl der Umstand,
daß gerade sie der Phantasie und dem Gefühl einen besonderen Reiz boten. Das Kind hat Ver-
gnügen am Anblick von Glanz imd Pracht, und das Kind ist mitleidig. Beide sehr charak-
teristische Züge finden in jenen Verhältnissen am besten Befriedigung. Von großer Bedeutung
sind unter den Märchengestalten die Tiere und personifizierte Gegenstände, sowie die Fabel-
wesen: Zwerge, Riesen, Hexen. Neben diesen handelnden Personen treten im Märchen nur noch
bestimmte Typen zur Staffage auf. Die Charaktere sind einfach, ein Wesenszug füllt sie hin-
reichend aus ; sie sind meist als Extreme aufgefaßt und stehen in gegensätzlicher Beziehung zu
'einander, um die Eigenschaften der Personen am wirksamsten hervorzuholen, so wie es den
kindlichen Fähigkeiten am besten entspricht. Die Abstraktionsfähigkeit des Kindes ist gering,
und damit verbietet sich die Einführung komplexer Charaktere. Die Personen sind keine Indi-
vidualitäten, sondern Typen. Die Moral des Märchens ist einfache und gesunde Volksmoral mit
starken Instinkten, starken Sympathien und Antipathien; dem Tiermärchen fehlt die morali-
sierende Tendenz ganz. Tiergestalten und Fabelwesen werden in die Märchen eingeführt, weil
sie das Kind erfreuen, lustbetontes Empfinden hervorrufen. Die Vermenschlich ung von Tieren
und Gegenständen ist vor allem ein Zeichen der Dlusionsfähigkeit des Kindes. Unerfahrenheit
mit der Natur — wie Bühler meint — ist nicht der tiefere Grund hiervon. Die bewußte Selbst-
täuschung des Kindes ist darauf zurückzuführen, daß sich das Denken des Kindes in Analogie-
bildungen bewegt. Das ist auch für die vielfachen Übertragungen, wie Merkmalübertragung, All-
beseelung usw. verantwortlich, mögen diese nun in denkendem Phantasieren oder in praktischer
Betätigung sich letzten Ausdruck verschaffen. Die kombinatorische Phantasie ist dagegen beim
Kinde erst schwach entwickelt.
Für das Milieu des Märchens stellt Bühler folgenden Satz auf: eine ausdrückliche Be-
schreibung findet nur dann statt, wenn ein plötzlicher Übergang in eine neue Umgebung ein-
getreten ist; die zu Beginn gegebene Situation, das gegebene Milieu, wird gewöhnlich nicht
beschrieben. Von dieser Regel gibt es nur wenige Ausnahmen. Damit im Einklang steht, daß
im Märchen — trotz des Nebeneinanderauftretens von Königen und Bettlern — jede soziale und
kulturelle Distanz glattweg aufgehoben ist. Bühler sagt: Diese Verhältnisse wird man zunächst
jedenfalls historisch zu würdigen haben; sie werden ihren Entstehungsgrund in den Wünschen
und geheimen Träumen des niederen Volkes finden, bei dem das Märchen zu Hause war. Aber
wie den Wünschen des Volkes, so entspricht all das zweifellos der inexplizierten Erwartung,
mit der das Kind dem Leben als etwas Wunderbarem und Freudigem entgegenträumt. Das
Kind ist gläubig und optimistisch; auch ist es zum Frohsinn veranlagt, wenn nicht Kummer es
frühzeitig stört. Es glaubt an alle die glücklichen ZufäUe, mit denen das Märchen arbeitet,
ja es rechnet auf sie. Auch fehlt dem Kind noch das Wissen hm die mannigfaltigen Unter-
schiede der Bildung, Geburt und Veranlagung, welche die Menschen meist als unüberbrückbare
Kluft voneinander trennen. Das Märchen entspricht hier, wie in vielem, gerade dem Erfahrungs-
ikreis und dem Wissen des Kindes.
Litoraturbericht 203
Die Handlung des Märchens ist dadurch ausgezeichnet, daß das bewußte Streben nach einem
"Ziel mangelt. Wo es sich in Einzelakten tatsächlich um zielstrebiges Denken handelt, wird
nicht dieses selbst, sondern nur sein Ergebnis berichtet. Die Handlung erschöpft sich in einer
Reihe merkwürdiger und spannender Ereignisse, Taten und Abenteuer. Auf sie allein kommt
es wirklich an. Die Ereignisse sind nicht innerlich verkettet; es besteht keine andere Ver-
knüpfung der Handlimgen als das Nacheiiiander der Zeitfolge. Die Wundertaten, und vor allem
die Verwandlungen, nehmen einen breiten Raum ein. Der erwartungsvolle Geist des Kindes
verlangt, daß etwas besonderes geschehen soll, das den Rahmen des Alltags sprengt, das einem
Traume gleicht und die nach Stoff suchende, umherschweifende Phantasie, wie das unbeschäftigte
Denkvermögen, anzuregen und zu fesseln geeignet ist. Wir begegnen beim Volk wie beim Kinde
■einer unkonzentrierten, unbeschäftigten und ungeschulteu geistigen Anlage, einem Keim geistigen
Lebens, der Entfaltung in irgendeiner ihm unbekannten Richtung sucht. Es fehlt ihm die Ziel-
strebigkeit des gebildeten Geistes, und irgendeine unklare Expansion verdichtet sich ihm zu
Hoffnungen, Wünschen, Erwartungen eines Geschehens, das die Befriedigung des unverstandenen
Bedürfnisses bringen soll.
Die Wunderhandlung oder das außergewöhnliche Zufallsereignis sind die Anregungen, die
den Geist des Kindes beschäftigen und erheben können. Die immerwährende Wiederkehr von
Wundem im Märchen ist darauf zurückzuführen, daß der rasche, vom Wunsch dirigierte Vor-
stellungswechsel an sich für das Kind eine Quelle der Lust ist. Sehr zutreffend schreibt
Bühl er: So sicher das Wunder im Mittelpxmkt der echten Märchenhandlung steht, gelangen wir
mit ihm an die wichtigsten Beziehungspunkte des Märchens zu der Phantasie des Kindes: in
einem von Wünschen dirigierten, durch den Affekt des Außergewöhnlichen bestimmten und
durch keine Verstandeskritik gehemmten Vorstellungsspiel sucht die kindliche Phantasie ihre
regste Entfaltung. Sie mag hier in etwas der Traumphantasie nahekommen, die wiederum um-
gekehrt vielleicht die Vorbilder für die Wundergescbichten geliefert hat. Nächst den Wunder-
märchen sind die häufigsten die, welche von Taten und Abenteuern des Helden oder der Heldin
berichten, die ebenfalls in der Regel außergewöhnlich sind und dadurch die kindliche Phantasie
anregen. Erwachsenen kommen solche Handlungen phantastisch vor, das Kind findet sie natür-
lich. Es nimmt auch daran keinen Anstoß, daß die Märchenhandlungen meist nur durch den
Affekt motiviert sind und der intellektuellen Begründung entbehren, denn es tut selbst im Spiel
vieles grund- und zwecklos, weil es ohne Überlegung Instinkt- und affektmäßig handelt. Das
Märchen ist typische Anschauungsliteratur. Alles was man an Mitteln äußerer Wahrnehmung
hat, wird aufgeboten. Durch plötzliche Veränderungen, Verwandlung, Verkleidung usw. sowie
Proportionsverschiebungen, die auf das Erfassen von Unterschieden verschiedenster Art gerichtet
sind, wird der Vorstellungsmechanismus geübt. Ein begleitendes Moment, das die anschauliche
Tätigkeit des Kindes überall charakterisiert, ist ein lebhafter Gefühlston, der auf das Schauen
gelegt wird. Schon das Schauen selbst ist für das Kind eine Lust. So ist der Gefühlston,
der sich auf das einzelne Bild heftet, schon an sich intensiv akzentuiert: außerdem werden offen-
bar gefühlsbetonte Bilder den sachlichen und ruhigen vorgezogen.
Der Intellekt tritt in den Märchen handlungen zurück : er wird nur der Komik dienstbar
gemacht für das Motiv der Überlistung und der Torenstreiche; selbst wo so etwas wie Scharf-
sinn verlangt und hervorgehoben wird, liegt eigentlich eine vollständige Verkennung der Ver-
standesleistung vor.
Die Schrift Ch. Bühlers, aus der hier einige Gedankengänge hervorgehoben wurden, bietet
reichlich Anregung zu weiteren Untersuchungen ül)er die Beziehungen zwischen der kindlichen
Psyche und der Kinderliteratur, als welche vornehmlich die Volksmärchen in Betracht kommen.
München. Hans Fehlinger.
F. Queisser, Aus meiner Sammelmappe psychologischer Unterrichtsversuche.
Leipzig 1919. Schulwissenschaftlicher Verlag A. Haase. 16 S. 1,00 M.
Unter Verwendung zahlreicher zweckdienender Abbildungen beschreibt Queißer eine kleine
Reihe selbstgefundener einfacher Versuche. Sie betreffen die dreidimensionale Auffassung
flächenhafler Darstellungen (zum Teil umkehrlwre optische Täuschungen), die relativen Bewegungs-
erscheinungen auf rotierenden Scheiben, eine besondere Form positiver Nachbilder, den simul-
tanen Kontrast, die Akkomodation des Auges, die erschwerte Betätigung von Muskeln in un-
gewohnter Stellung. Es handelt sich also um Versuche, die überwiegend in physiologische Zu-
sammenhänge führen. Wir haben die Queisserschen Versuche durchgeprüft und für die Ein-
gliederung in den seelenkundlichen Unterricht als brauchbar gefunden. Es darf aber, besonders
im Lehrerseminare, das sinnesphysiologische Experiment nicht auf Kosten des „rein psycholo-
gischen' Versuchs, der sich heute im Gebiete der höheren seelischen Leistungen reichlich und
204 ■ Literaturbericht
in gut technisierter Form anbietet, zu weit ausgedehnt werden. Dafür mag der naturwissen-
schaftliche Unterricht mit seinen sinnesphysiologiscben Einschlägen dem Fache „Psychologie"^
wirksam vorarbeiten.
Leipzig. Otto Scheibner.
Uve Jens Kruse, Lebenskunst, Ein Wegweiser in die neue Zeit. Buchenbach in Baden
1918. Felsenverlag. 117 S. 4,50 M.
Die .Lebenskunst* Kruses gibt vornehmlich praktische Anweisungen zur Schulung des
Willens. Als Beispiele der behandelten Themen seien genannt: ,Die Kunst des Befehlens" —
„Selbsterziehung zu Mut und-Geistesgegenw^arf — »Wie man Entschlüsse faßt" — „Bemeiste-
rung der Affekte". In viel gute Lebens- und Erziehungsweisheit fließt in den empfohlenen
Maßnahmen auch einiges Gekünstelte und Überbetonte ein. Die peinliche Erfüllung aller der
angeratenen Selbstbeobachtungen und Selbstüberwachungen und Selbstbeeinflussungen wird
nur zu leicht die Natürlichkeit des persönlichen Wesens schädigen können. Im ganzen aber
ist das Buch eine Fundgrube guter Willensregeln. Ich gestehe gern, Kruse mancherlei zu danken,
wenn nicht im Sinne des Verfassers für eine Eigenerziehung, so doch für meine Erzieherarbeit
an der Jugend. Vielleicht wird noch manch anderem, der mit mir der Meinung ist, daß die Schule
gröblich die Willenspflege zugunsten einseitiger Verstandesbildung vernachlässigt, und der gleich-
falls nach Wegen zu neuem Schulerziehungsgeiste sucht, die Schrift einige Förderungen bringen.
Ich empfehle übrigens das Buch auch dem Fachpsychologen. Zwar wird Kruse kaum in der
wissenschaftlichen Psychologie zu Hause sein, wenigstens weicht er geflissentlich der Fachsprache
aus. Aber mit feinem psychologischen Instinkte, offenbar an strenger Selbstbeobachtung ent-
wickelt, versteht er, seelische Sachverhalte scharf zu erfassen, abzugrenzen, herauszuheben und
treffsicher zu bezeichnen. Einige seiner Formulierungen könnten recht wohl in die wissenschaft-
liche Psychologie herüber genommen werden. Jedenfalls aber kann der Fachmann aus Kruses
Schrift hier und da Anregungen zu neuer Fragestellung gewinnen.
Leipzig. Otto Scheibner.
Friedrich Schulz, Wollen und Vollbringen. Eine Anleitung zur Lebensführung. Stutt-
gart o. J. Strecker & Schröder. 83 S, 1,50 M.
Ein Lebensbüchlein, das jungen Leuten die Wege zu einer Selbsterziehimg des Willens
weisen will. Ohne in flaches Moralisieren zu verfallen, leitet es u. a. an, die Gefühle zu
meistern, die Gedanken zu ordnen, mit Freuden zu arbeiten, dem Nächsten zu dienen, in Ge-
duld zu leiden. Die Ratschläge, die es zur Hinführung auf solche sittliche Tüchtigkeit erteilt,
sind in religiösem Grund verankert. Es ist diese kleine Willensschule alles andere als ein
wissenschaftlich begründetes Buch, vermag aber für die Psychologie und Ethik doch den und
jenen Hinweis zu geben und auch für den Moralunterricht in der Schule einige Handreichungen
zu tun. Seh.
Nikolaus Faßbinder, Konrektor, Das Glück des Kindes. Erziehungslehre füi- Mütter und
solche, die es werden wollen. Freiburg 1918. Herdersche Verlagshandlung. 242 S. kart. 4 M.
In dem beifällig aufgenommenen Buche „Am Wege des Kindes" hatte Faßbinder ver-
sucht, auf dem Wege der Erzählung dei} alten Gedanken einer Mütterbelehnmg zu verwirklichen.
Seine neue Schrift bringt eine mehr systematische Darstellung der Hauserziehung, Sie behandelt
die Pflege, das Seelenleben und die Tugendfühi'ung des Kindes. Kennzeichnend für die Be-
handlung ist die stete Verdeutlichung am anschaulichen Beispiel. Angestrebt findet sich durchweg
leichte Verständhchkeit und Vermeidung alles gelehrten Beiwerkes. Ein zu vordringlicher Zug
des Erziehungsgeistes, der die anregend abgefaßten Kapitel durchwaltet, ist das Streng-religiöse.
Damit verbindet sich eine gewisse Enge imd überpeinliche Ängstlichkeit in den empfohlenen
Maßnahmen zur sittlichen Erziehung des Kindes (vgl, z.B. die Hinweise auf den Umgang mit
dem anderen Geschlechte, S. 186). Aber auch wer den ausgeprägten Anschauungen einer katho-
lischen Hauspädagogik nicht beipflichten kann und der werdenden Persönlichkeit für ihre natür-
liche Entfaltung weit mehr Freiheit zugestehen muß, als es Faßbinder den Eltern ans Herz legt,.
wird sein etwas brav-altmodisches Buch, geschrieben aus offenbar reichen Erfahrungen und guter
Erziehergesinnung, mit Nutzen lesen. Es erfreut zudem durch eine fließende Darstellung.
Leipzig. Otto Scheibner.
H. E. Schomburg, Der Wandervogel, seine Freunde und Gegner. Wolfenbüttel 1917.
Jul. Zwißler. 112 S. 1,80 M.
Die aufkommende neue Zeit mit ihrem ungestümen Drängen nach „Verjüngung" richtet die
Aufmerksamkeit fester auch auf den Wandervogel, der über den Krieg sehr vielen seiner Freunde
Literaturbericht 205
und Gegner und vor allem den Gleichgültigen aus dem Blick geschw-unden war. Denn die Ge-
danken und Sehnsuchten, die im Treiben der Wandenögel nach Erfüllung suchten, gewinnen
heute allgemeinere Geltung. Wer das Gären in der Jugend verstehen will, Verständnis ge-winnen
möchte für die Tatsachen eines jugendlichen Eigenlebens, wird aus dem Kreis seines Studiums
den Wandervogel nicht ausschließen dürfen. Die Schrift Schomburgs sei für solche Orientierung
empfohlen: von ihr aus sind dann die Wege zu gründlicherer Vertiefung in das Tatsächliche
und Problematische leicht zu ge-winnen. Ich selbst verdanke ihr bei guter Kenntnis einzelner
Erscheinungen und bei eigenem Durchdenken der wichtigsten Fragen einen Überblick über die
gegenwärtige Lage und die Aufhellung einiger wesentlichen Zusammenhänge.
Schomburg gibt zunächst einen Abriß der kurzen Geschichte des Wandervogels, seiner äußeren
und inneren Entwicklung. Als die Periode des Ausreifens kennzeichnet er als besonders wichtig
die Jahre von 1907 — 1913. Er versucht, den Gewinn dieser Zeit klar herauszuarbeiten, und findet
ihn in folgenden Tatsachen: Das Verständnis für das Volkslied ist Allgemeingut der Wander-
vögel geworden; sie schufen sich in den Bundes- und Gaublättem ein eigenes Schrifttum; es
gelang, für ein rechtes Wandern die angemessenen Formen zu entwickeln; bedeutsam wird das
Aufkommen des Mädchenwandems ; über die Wanderungen hinaus beginnen die Gruppen, ihren
Geist im Landheim und Stadtnest zu pflegen; die Lebensauffassung wird vertieft und für alle
Lebensgebiete auf festere Formen gebracht. — Sehr gründlich setzt sich Schomburg dann mit
Hans Blüher und Gustav Wyneken auseinander. Seine Ausführungen wirken hier, besonders
gegen Blüher, dem aus Wander^-ogelkreisen bislang nicht entgegnet worden ist, in sehr wichtigen
Punkten klärend. In dem Abschnitte ,Haus, Schule und Kirche" findet sich Schomburg u. E.
zu leicht mit den Spannungen ab, die sich zwischen diesen festgefügten Lebensgebieten und den
Ansprüchen der Wander%'ögel natnmotwendig ergel)en. — Die beiden letzten Teile sind schließ-
lich dem Versuche gewidmet, die anderen Richtungen der Jugendbewegung — besonders die
Bestrebungen der Freideutschen — in ihren Beziehungen zu den Wandervögeln grundsätzlich
und geschichtlich darzustellen.
Der Verfasser stellt sich als Pastor vor, der wandernd, verwaltend und leitend am Wander-
vogel teilgenommen hat und in dem bis zur Zeit — er nähert sich den Fünfzig — die Be-
geisterung früherer Jahre nicht erloschen ist. Man wird nach Vorlegung dieser ,, Berechtigungen"
sich gern von ihm aufklären und belehren lassen. Zur Kennzeichnung seiner Art zu urteilen, sei
eine Stelle angeführt, die sich gegen Blühers Schulanklagen wendet und bei den überheblichen
Forderungen unserer gegenwärtigen Schülorbewegung besonders angebracht ist (S. 40): .Selb-
ständiges Denken und Handeln vollzieht sich nicht nur im Wege der Loslösung vom Über-
kommenen, sondern im Wege der bewußten und unbewußten Aneignung alten Gutes. Je älter
ich geworden bin, umso mehr habe ich gelernt, die Wurzeln dessen, was ich mir als inneren
Besitz erarbeitet hal)e, außerhalb meiner Seele zu suchen. Mich erfüllt mit jedem Jahre mehr
die Dankbarkeit gegenüber denen, die mir die Furchen vorgezogen haben."
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. Georg Grunwald, Professor an der Akademie zu Braunsberg. Philosophische Päda-
gogik. Paderborn 1917. Schönmgh. 374 S. 8,50 M.
Wer nach dem Sprachgebrauche, der sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat.
unter philosophischer Pädagogik eine Erziehungswissenschaft versteht, die ihre Lehren deduktiv aus
Werthaltungen und Zielsetzungen herleitet und die sich in Gegenstellung zur psychologischen
Pädagogik weiß, deren Vertreter weniger „von der Kultur her" als vornehmlich „vom Kinde aus"
die Gesetze und Regeln der erziehlichen Kunst entwickelt, wird in dem Buche Grunwalds
weniger und mehr finden, als er nach dem Titel erwartete. Denn der Verfasser bietet das
Ganze einer BUdungslehre in systematischer Darstellung, in der die beiden Strömungen, die
wegen ihres Unterschiedes in wichtigsten Grundanschaunngen eigene Benennungen erhalten
haben, miteinander vereinigt sind. Grunwald ist mit uns der Meinung, daß die wissenschaftliche
Pädagogik weder allein durch Deduktionen noch einzig durch Tatsachenforschung ihre Erkennt-
nisse gewinnt. Dat>ei läßt er insbesondere auch der experimentellen Richtung ihr volles Recht,
weist aber, worin wir ihm zustimmen, üt)ertrieb'?ne Ansprüche von einigen ihrer Vertreter — wir
denken an Lay — entschieden zurück. Übrigens vertritt er auch — den neueren Richtungen
eines „verstehenden* Erziehens und Unterrichtens entgegenkommend — die Anschauung, daß
in der Pädagogik wie in anderen Geisteswissenschaften neben Erfahrung und Denken auch die
Intuition nicht entbehrt werden könne.
Die Gliederung, die Grunwald dem pädagogischen Lehrgebiet gibt, befremdet in einigen
Stücken. Eine Einleitung bringt die üblichen Erörterungen über Quellen und Methoden, Ober
Wert, Einteilung und Geschichte der Pädagogik, Als erster Teil tritt dann die pädagogische
206 Literaturbericht
Wertlehre auf. In ihr finden sich seltsamerweise eingeordnet die allgemeinsten Grundsätze
der .Vermittlung" der pädagogischen Werte und noch überraschender die ^differentielle Psycho-
logie". In solcher Unterordnung verliert die Psychologie — abgesehen davon, daß sie höchst
unzulänglich im Ausmaß und Inhalt dargestellt ist — die ihr vorher grundsätzlich zugestandene
Bedeutung für die pädagogische Erkenntnisgewinnung. Der Ziel- und Wertlehre hat im päda-
gogischen System als eine umfassende, unter eigenen Gesichtspunkten gegliederte pädagogische
Psychologie selbständig gegenüberzustehen. Der zweite TeU nennt sich „Didaktik" und be-
greift in sich — wieder in ungerechtfertigter Abweichung von herkömmlicher Begriffsbildung —
„die planmäßige Vermittlung des Wahren". Es bleiben dann als III. and IV. Teil die Eunst-
und die Moral- und Religionspädagogik. Die leibliche Erziehung ist ausgeschlossen.
Uns inhaltlich mit den von Grunwald vertretenen Anschauungen auseinander zu setzen, ver-
bietet die große Zahl der Fragen, in denen wir von ihm abweichen, nicht bloß in den Gebieten,
in denen der katholische Standpunkt des Verfassers offener erkenntlich ist. Es sei aber an-
erkannt, daß es bei dem ernsten wissenschaftlichen Zuge des Buches und bei seinem Bemühen,
in alte pädagogische Überlieferungen die Erkenntnisse ans neuerer Zeit einzuschmelzen, recht
wohl lohnt, das Werk in kritischer Haltung zu studieren.
Leipzig. Otto Scheibner.
Johannes Meyer, Erziehung und Leben. Ausgewählte Abschnitte aus den Werken von
Wilhelm Rein. Mit einem Bildnis Reins. Leipzig, Reclam. 189 S. 1,10 M.
Aus dem reichen literarischen Werke Wilhelm Reins, des nunmehr Siebzigjährigen, bringt
dieses Reclambändchen kleine Proben der „Jenaer Pädagogik". Die Auslese ist so getroffen, daß
die Reihe der hier und da aufgegriffenen Abschnitte eine einigermaßen abgerimdete Gesamtan-
sicht bietet von der Ausprägung, die Herbarts pädagogische Grundanschauungen durch Rein er-
fahren haben. Sehr bezeichnend ist. daß die Psychologie nur mit einem dürftigen Abschnitt
von knapp 5 Seiten bedacht ist.
Stollberg. Paul Ficker.
Dr. Oskar Prochnow, Wissen oder Können? Gedanken eines Schulmannes über die Auf-
gabe der höheren Schulen im neuen Deutschland. Leipzig 1919. Nemnich. 24 S. 1,60 M.
Eine Anklageschrift gegen das alte Gymnasium. Es wird der Vorwurf erhoben, daß die
vordringliche Pflege der alten Sprachen die Entwicklung lebendiger Kräfte im Schüler und die
Pflege eines zeitgemäßen Wissens hindere. An dem Beispiele der Mathematik und Physik und
einiger Unterrichtsangelegenheiten (Zensuren und Lehrbücher) wird zu verdeutlichen gesucht,
wie eine lebensnahe Bildung im Sinne der Arbeitsschule zu erstreben sei. — Die Schrift, deren
Verfasser das Gymnasium aus eigener Lehrtätigkeit kennt, ist nicht frei von Übertreibungen und
Einseitigkeiten und fußt in den Anschauungen über die formale Bildung zum Teil auf psychologisch
nicht haltbaren Voraussetzungen. Den Gedanken der Arbeitsschule hat sie gut erfaßt. Seh.
Dr. Richard Jahnke, Provinzialschulrat in Münster L W., Werden und Wirken. Gedanken
über Geist und Aufgaben des Lehramts. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. Geheftet 3,60 M..
Gebunden 4,60 M. 197 S.
Diese 27 Essays über den Geist und die Aufgaben des Lehramts sind eine ausgezeichnete
Berufsphilosophie des Lehrers und Erziehers. Sie unterscheiden sich von zahlreichen ähnlichen,
Veröffentlichungen durch die eindringende Besinnung über die alltäglichen Fregen des Schul-
lebens. Diese selbst sind nicht neu, aber es gelingt der her^'o^ragenden Dialektik des Verfassers^
seiner 40jährigen Amtserfahrung und nicht zuletzt seiner abgeklärten, von Vorurteilen freien
Lebensweisheit, die bisweilen mit lächelndem Humor in die heimlichsten Falten des Menschen-
herzens hineinschaut, das Problem der Schule als Lebensgemeinschaft (der Eintritt ins Amt —
Kollegialität — Klassenzucht — Verärgerung — Gerechtigkeit — Schülerrechte), als Bildungs-
stätte (Wissenschaft und Schule — Methode — Vertiefung — Wissen und Können) und als In-
stitution des öffentlichen Lebens (der Verkehr mit den Eltern — die Öffentlichkeit und wir) in
durchaus neuer Beleuchtung und Deutung aufzuzeigen und sowohl den Sinn und Wert wie auch
die Grenze und Bedingtheit der Erziehungs- und Unterrichtsarbeit aufs neue zu umgrenzen. In
der Durchdringung der Schulprobleme mit einer warmherzigen und weltoffenen Lebensphilosophie
beruht das Anziehende dieser scharf zugespitzten Aufsätze, die in erster Linie für den Anfänger
im Lehramt bestimmt sind. Sie werden vielleicht manches seiner Ideale zerstören, al)er sie
werden ihm auch Trost zusprechen, indem sie ihm die Erkenntnis vermitteln, weshalb dieser
Verlust notwendig war, und werden ihm eine treffliche Anweisung sein, wie er als Lehrer und.
Erzieher das bedenken soll, was er beginnt.
Leipzig. Karl MöckeL .
Literaturbericht 207"
Dr. Georg Jäger, Schulgemeinde und Schülerausschuß. Hamburg 1919. Freideut—
scher Jugendverlag Adolf Saal. 24 S. 1,20 M.
Der Verfasser bietet eine kurze klare Einfühnmg in die Bestrebungeq der modernen Jugend- -
bewegung in ihrem Verhältnis zur Schule. Im allgemeinen trägt er die bekannten Gedanken
G. Wynekens vor mid ist deshalb auch nicht frei von Übertreibungen bei der Charakterisierung
des gegenwärtigen Systems der öffentlichen Schulen. Daß die heutige öffentliche Schule sich
nicht bewußt wäre, Erziehungsschule sein zu müssen, ist eine ungerechtfertigte Behauptimg.-
Ob nun die Einführung der Schulgemeinde im Sinne Wynekens an den Großstadtschulen mög-
lich ist und auch wirklich „nur" segensreich wirken wird, wird die Erfahrung zeigen. Aber
die auch in dieser Schrift angeführten inneren Gründe nötigen das heutige Schulwesen dazu, den
vorgeschlagenen Weg zur Vollerziehung der Jugend in Form der Schulgemeinde zu l)eschreiten.
Im besonderem betont der Verfasser noch, daß die sogen. Schülerausschüsse ohne gleichzeitige
Errichtung der Schulgemeinde, als deren Organ sie wirken soUen, ohne Wqrzel im SchuUeben
sind. — Die Lektüre dieser Schrift ist allen Leiirem zu empfehlen.
Leipzig. Fr. Rudolf Lehmann.
Berufswahl und Berufsberatung. Eine Einführung in die Praxis. Von Dr. med. M. Ulrich.
Dr. C. Piorkowski, 0. Nenke, G. Wolff, Dr. E. Bernhardt, eingeleitet von Dr. A. Kühne, Geh.
Regierungsrat. Berlin 1919. Trowitzsch. 223 S. 6,50 M.
Neben Prof. Dr. Aloys Fischers Buch über „Beruf, Berufswahl und Berufs-
beratung als Erziehungsfragen " (Leipzig 1918, Quelle & Meyer) ist die vorliegende
Schrift wohl die beste Gesamtdarstellung des bisher sonst nur in Einzelarbeiten behandelten Ge-
bietes. Stellt Fischer vorwiegend seinen Gegenstand unter großen Gesichtspunkten dar und
arbeitet er die inaerlichen Beziehungen der Berufsberatung zur Ethik, Soziologie, Psychologie
und Pädagogik in großen Leitlinien heraus, so will die vorliegende Sammelschrift mehr eine
Einführung in die Verwirklichung sein, zu der Fischer in seinem vortrefflichen Werke die Wege
gewiesen bat. Beide Bücher wenden sich an einen sehr weiten Kreis: außer den Behörden imd
Körperschaften, die sich amtlich mit den Fragen der Berufsberatung zu l)eschäftigen haben,
sollte kein Lehrer und Arzt, kein Politiker und kein Führer der verschiedenen Beinitsstände an
diesen Schriften vorl)eigehen, die eine für die Zukunft unseres Volkes ganz wesentliche Frage
in ihrer Bedeutung, ihren Zusammenhängen und ihrer praktischen Ausgestaltung t)ehandeln.
Die Frage der körperlichen Eignung behandelt Dr. med. Martha Ulrich. Sie konnte
dabei fußen auf den gründlichen Untersuchungen, in denen die Mediziner schon länger die leib-
lichen Anforderungen und Gefahren der einzelnen Berufe erforscht und auf dieser Grundlage
die Gewerbehygiene als Zweig der ärztlichen Wissenschaft ausgebildet haben. Die reichhaltigen
Beispielreihen, mit denen sie die allgemeinen Sätze belegen kann (vergl. die Fußnoten S. 11—37),
überzeugen von der überraschenden Vollständigkeit dieser wissenschaftlichen Vorarbeit. Ulrich
liespricht zunächst die allgemeine Bedeutimg der körperlichen Eignung, geht in kurzen Einzel-
betrachtungen die leiblichen Organe nach den Ansprüchen und Gefahren der Berufe durch,
widmet eine besondere Darstellung dem weiblichen Organismus und zeigt schließlich — ohne
die methodischen Verfahren zu besprechen — , wie eine ärztliche Berufsberatung nötig und
durchführbar ist und besonders in das Tätigkeitsfeld des Schularztes einbezogen werden muß.
Ein vorzüglicher Abschnitt steht unter der Überschrift „Psychische Eignung*. Sein
Verfasser ist der Berliner Psychologe Dr. Curt Piorkowski. .\ls Aufgabe der Psychologie
bei der Berufswahl und Berufsberatung l>ezeichnet er es, daß sie durch Zergliederung der
Berufe auf ihre seelischen Anforderungen hin psychologische Berufsbilder aufzustellen habe und
dazu die Methoden ausbilden müsse, mittels deren man praktisch die einzelnen Personen auf
die vom Berufe zu fordernden Eigenschaften zu untersuchen vermag. Mit aller Vorsicht versucht
nun Piorkowski die höheren Berufe nach ihrer psychologischen Verschiedenheit in Gruppen zu
gliedern und gelangt dabei zu subjektiven und objektiven Berufen, femer zu Typen, die sich
an der Fähigkeit zur Einfühlung voneinander sondern, schließlich zu Gruppen, bei denen das
Gedächtnis oder die Beobachtung und die Handgeschicklichkeit oder die Übung entscheidend
wird. Die eingehendere Betrachtung der Methoden, die heute zur Erkennung der Berufseignimg
angewendet werden, wird den Femerstehenden überzeugen, wie die angewandte Psychologie
mittels sorgfältig ausgearbeiteter Fragebogen, deren einer abgedruckt ist, und mittels vielfach
erprobter Experimente recht zuverlässig in einem breiten Gebiete arbeitet und allen Anspruch
auf eme gebührende Berücksichtigung erheben darf. Es ist aber von Piorkowski nicht verfehlt
worden, auch vor der einseitigen Überschätzung zu warnen.
Eine Ergänzung zu dem Beitrage von Piorkowski gibt Georg Wolff in dem Abschnitte -
„Die Mitwirkung der Schule bei der Berufsberatung". Daß die beiden trefflichen^
208 Literaturbericht
^'ragebogen von Hyila und Rebhuhn ebenso wie die Aufstellungen von Weigl in ihm abgedruckt
worden sind, wird manchem eine willkommene Darreichung sein. Was Fischer neben der psycho-
logischen auch von der ethischen Seite des Berufes und der Berufsberatung tief und geistvoll
.ausgeführt hat, findet bei Wolff eine praktische Anwendung.
Otto Nenke hat den Abschnitt über die wirtschaftlichen Gesichtspunkte bearbeitet.
Wieder ist es ein Verdienst Fischers, daß er mit allem Nachdruck betont hat, es dürfe die
Soziologie der Berufe (ihre Geltung im öffentlichen Leben, ihre äußeren Möglichkeiten und das
Verhältnis von Angebot und Nachfrage) über der neuerdings so starken und gewiß unerläßlichen
Wertschätzung der Psychologie nicht auf die Seite gedrängt werden. Zur Erfüllung dieser For-
derung liefert Nenke gute Ausführungen mit reichlichen statistischen Belegen über den un-
gelernten Arbeiter, über den Lehrling im Handwerk, in der Industrie und im Handelsgewerbe.
Auch ein Ausblick auf die mittleren imd höheren Berufe ist angefügt.
Der Schlußabschnitt beschäftigt sich mit der Organisation und Tätigkeit der Be-
rufsberatungsstellen. Dr. Ernst Bernhard, Geschäftsführer des Verbandes Märkischer
Arbeitsnachweise, berichtet hier vorwiegend über Erfahrungen, ohne aber auf Wünsche u. Vor-
schläge und die Herausarbeitung allgemeinerer Zusammenhänge zu verzichten. Er bespricht die
Träger der Beratungsstellen, behandelt dann einzelne Organisationsfragen, kommt nochmals auf
die Mitwirkung der Schule zu sprechen, zeigt den Lehrstellennachweis in seiner Bedeutung und
Handhabung und gibt Vorschläge für den weiteren Ausbau. Die höheren Berufe finden sich
nicht berücksichtigt. Auch dieser Beitrag ist mit Anführung von Fragebogen, Schemen usw.
-in dankenswerter Weise durchsetzt.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Ernst Engel, Der Weg der deutschen Schule. Ein Wort zu Deutschlands Zukunft.
Langensalza 1917. Greßler. 47 S. 1, — M.
Für den von der Zeit geforderten inneren Ausbau der Schule soll nach Engel der Körper-
pflege , dem Deutschen , der Geschichte , der Erd- und Gegenwartskunde ein Mehr zukommen.
Raum zu gewinnen wäre durch den grundsätzlichen Ausschluß des Französischen aus den höheren
Bildungsanstalten, in deren Fprmenkreis Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule er-
halten bleiben sollen. Als neues Schulgebilde aber fügt Engel im Aufbau auf sieben Jahre
der achtstufigen Volksschule die rein deutsche höhere Schule ein. Er bietet für sie einen über-
sichtlichen Lehrplan dar und will ihren Unterrichtsbetrieb auf ein selbständiges Erarbeiten des
nationalen Bildungsgutes eingestellt wissen. Man vergleiche hierzu den von Gaudig in seiner
Schrift „Deutsches Volk — Deutsche Schnle" entwickelten Schulplan.
In der Abschlußklasse seiner deutschen Schule wird von Engel als Aufgabe des Faches
^Deutsch" auch die Gewinnung einer Weltanschauungs-, Lebens- und Seelenkunde am deutschen
Schrifttume gefordert. Die von uns gewünschte Eingliederung der Seelenlehre als selbstän-
digen Faches mit wissenschaftlicher Einstellung — nicht in vulgärpsychologischer Art — findet
somit in Engels Plan keine Erfüllung.
Leipzig. Otto Scheibner.
Prof. Dr. G. Lorenz, Drei Nationalschul-Entwürfe aus klassischer Zeit. Langen-
salza 1917. Beyer & So. 96 S. 1,60 M.
Die historischen Dokumente, die Lorenz auf ihren pädagogischen Ertrag hin untersucht hat,
sind : Herders Entwurf einer livländischen Nationalschule in seinem Tagebuche „Meme Reise 1769",
Fichtes Plan einer deutschen Nationalschule in seinen „Reden an die deutsche Nation" und Goethes
.(Pädagogische Provinz" aus „Wilhelm Meisters Wanderjahre". Die Texte, reichlich mit will-
kommenen Erläuterungen versehen und vielfach für bequemeren Gebrauch gekürzt und übersicht-
lich gegliedert, finden sich der Abhandlung vorangestellt.
Die vergleichend gehaltene Untersuchung erstreckt sich vornehmlich auf die Erläuterung der
Erziehungsgebiete (Verstandes-, Willens-, Gedanken- und Körperbildung) und der Erziehungs-
veranstaltungen (Lehrplan, Lehrweise, innere Einrichtung, Verwaltung), wie sie in den zeitbedingten
Entwürfen jener Großen, die sich nicht für zu gering erachteten, dem Schulwesen ihr Denken
zuzuwenden, als Vorschläge auftreten. Den Abschluß bildet eine Zusammenstellung der Gedanken-
gruppen, die — wie die Fragen des Erziehungsstaates, der Arbeitsschule, der Kunsterziehung.
• der Schuleinheit usf. — in lebendigen Beziehungen zu den Bildungsfragen unserer Zeit stehen.
Stollberg i. Sa. Paul Ficker.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
Schulorganisatorisches Denken.
Von Hugo Gaudig.
In der Geschichte der deutschen Schule hat es keine Zeit gegeben, in der
man den Kultui'wert der Schule so anerkannt hätte \^ie in der Kulturära,
die sich jetzt zu entwickeln beginnt. Wo man überhaupt noch kulturell zu
denken vermag, erwartet man von der Arbeit der Schule eine Generation,
die den neuen Kulturprozeß auszugestalten und zu tragen vermag. Diese
Kultuiieistung erwartet man aber nicht von der Schule der Gegenwart, sondern
von der Schule, die durch einschneidende Wandlungen ihrer großen Kultur-
aufgabe angepaßt ist. Man fordert demgemäß einschneidende Neuorgani-
sation auf dem Gebiet der Schule.
In der Zeit des Weltkrieges, in der man noch auf siegreiche Selbstbe-
hauptung Deutschlands hoffte, war einer der Ruhmestitel, mit dem wir uns
schmückten, die Fähigkeit des deutschen Volkes zur Organisation. Wie
mancher andere Ruhmestitel wird auch dieser nach unserem Zusammenbruch
der Neuprüfung unterzogen werden müssen. Man wird dabei z. B. auch
nicht an dem Wunderbau des deutschen Heeres mit der Kiitik Halt machen;
es wird, wie mir scheint, vielen, nicht nur den radikalen Gegnern des ehe-
maligen deutschen Heeres fraglich erscheinen, ob nicht die Art der hierarchi-
schen Organisation des Heeres, d. h. der Organisation, die zu dem grundtiefen
Abstand zwischen Mannschaften und Offizieren führte, ein grundsätzlicher
Organisationsfehler in einem Heere war, das unter dem Leitgedanken stand:
Das Heer ist das Volk in Waffen. Unzweifelhaft haben wir Deutschen in
der Kulturperiode vor dem Kriege eine erstaunliche Organisationskraft auf
dem Gebiet des \virtschaftlich-technischen Lebens bewiesen. Dieser Ruhmes-
titel liegt über alle Kritik hinaus, und auf dem Glauben an unsere organi-
satorischen Kräfte in diesem Gebiet beruht auch unsere stärkste Zukunfts-
hoffnung; die Angst vor dieser deutschen Kraft beherrscht unsere Gegner
noch vielfach und bringt sie zu Maßnahmen, die sich aus der Furcht erklären,
Deutschland könne seine darnieder liegende wirtschaftliche Kraft doch wieder
auf organisieren und schneller, als man es dem zu demütigenden Gegner
gönnt. — Eine Umschau auf den anderen Kulturgebieten uird aber zu einer
scharf en Kritik des früher oft so leichthin ausgesprochenen Satzes : „Das deutsche
Volk ist das Volk der Organisation" führen. Ja, schon auf dem Gebiet der
wirtschaftlichen Arbeit wird die Kritik einsetzen müssen, wenn man sich von
der wirtschaftüch-technischen zur wirtschaftlich-sozialen Seile wendet. Wie
langsam vollzogen sich hier die Prozesse, die zur Beseitigung der Kultiu*-
widrigkeiten im nationalen Arbeitsleben führen sollten! (Ich gestatte mir,
auf den Abschnitt „Sozialpolitik und nationales Einheitsbewußtsein" in meinem
1917 erschienenen Buch „Deutsches Volk — deutsche Schule" zu vervs-eisen;
besonders auf den Teilabschnitt über die „Unternehmung"). Ungleich un-
günstiger noch muß das Urteil über unsere organisatorischen Fähigkeiten
Zeilschrift f. pädagog. Psychologie. 14
210 Hugo Gaudig
lauten, wenn wir die Gebiete der geistigen Kultur in Betracht ziehen: es sei
niu- verwiesen auf das politische Parteileben, auf das religiöse Gemeinschafts-
leben, vor allem aber auf das Schulleben.
Im folgenden soll das Problem der Organisation des Schullebens von einigen
Gesichtspunkten aus beleuchtet werden. Die Voraussetzung für wertvolles
organisatorisches Denken über die Schule ist die Erkenntnis, daß alles Denken
über die Schule und namentlich alles organisatorische Denken die Erfassung
der Schule im Kulturprozeß voraussetzt. Wer die Schule nicht im Zusammen-
hange der nationalen, ja, darüber hinaus der allgemeinen menschUchen Kultur-
en twicklung zu erfassen versteht, erfüllt die erste Vorbedingung für organi-
satorisches Denken nicht. SelbstverständUch muß hierbei die Schule, nach
der Gesamtheit ihres Seins und Lebens erfaßt und in Beziehung zu all den
Seiten des Kulturprozesses gesetzt werden, die nur irgendwie Wechsel-
beziehungen zwischen dem Leben der Schule und dem allgemeinen Kultur-
leben erkennen lassen. Daß die deutsche Lehrerschaft die Vorbedingung
für organisatorisches Denken gut erfüllt, wird niemand behaupten; soweit
ich sehe, leidet unser Denken an schlechter Immanenz: es verläuft meist
im Rahmen der Schule selbst, die sich dem Denken zu einer Welt für
sich absondert. Für die Lehrer der höheren Lehranstalten trägt daran
zunächst vor allem die völlig unzulängliche Organisation des philologischen
Studiums auf der Universität die Schuld; erst neuerdings beginnt man als
unbedingt notwendig das Hören kulturphilosophischer Vorlesungen zu fordern.
Leider nur wieder bloß das Hören von Vorlesungen, statt daß man wirklich
kulturphilosophisches Arbeiten fordern sollte. Ohne kulturphilosophische Ein-
stellung wird unsere Arbeit dauernd nur einen Teil des Werts und der Würde
erlangen, die ihr zustehen und die sie im Ganzen des nationalen Kultur-
prozesses erlangen muß; erlangen muß um dieses Prozesses und um ihrer
selbst willen. Ein schweres Hemmnis für die Erziehung der akademisch
gebildeten Lehrer zu „kulturellem" Denken wird allerdings die Universität
nur schwer überwinden können : den Mangel an akademischen Lehrern, die
eine wertvolle kulturphilosophische Arbeit zu organisieren vermögen. Denn
in dem großen Schuldkonto der i. a. nicht durch organisatorische Kunst und
Kraft ausgezeichneten Universität, das ich überschreiben möchte: Mangelnde
Lebensbeziehung der akademischen Arbeit zu dem Lebensprozeß der Nation
und der Menschheit ist, der stärkste Schuldposten die unzulängliche Betonung
der Kulturphilosophie, überhaupt des Kulturdenkens in dem gesamten akade-
mischen Arbeitsplan. Wie weit aber die Arbeit im Seminarjahr und im Probe-
jahr davon entfernt ist, den Mangel, den die Universität gelassen hat, zu
beseitigen, ersehe ich — ich muß sagen, mit Schrecken — aus dem Büch-
lein von Reinhardt.
Auch die Lehrerseminare lassen den Zug ins Kulturphilosophische völhg
vermissen. Soll die deutsche Schule sich über sich selbst orientieren, sich
selbst eine sichere Kulturstellung geben und ihre Arbeit, ihr Leben und
Wesen planmäßig in die allgemeine nationale Kulturarbeit einorganisieren,
so muß hier Wandel geschafft werden; sonst ist die Gefahr, daß wir im
Fachdenken, jedenfalls im Schuldenken hängen bleiben, daß wir bei unserer
Arbeit die unbedingt notwendigen höheren Beziehungs- und Orientierungs-
punkte entbehren und die Schukeformen nicht über die Höhenlage der kleinen
Maßregeln hinauskommen.
Scliulorganisatorisches Denken 211
Allerdings genügt es natürlich nicht, daß wir Lehrer die Fähigkeit des
kulturellen und kulturphilosophischen Denkens gewinnen; \^Tr müssen nach
lernen, uns in das Kulturleben der Nation einzuleben und einzufühlen. Ein
schweres Hemmnis für dies Einleben und Einfühlen sei gleich hier genannt:
die kastenartige Absperrung vom Volksleben durch allzu ausschließlichen
standesmäßigen Zusammenschluß.
Von den kulturellen Lebensbeziehungen der Schule ist eine der wichtigsten,
allerdings auch der am schwierigsten zu bestimmenden die Lebensbeziehung
der Schule zum Staat.*) Die Organisation der Schule und des Schulwesens
hängt zum guten Teil von der Grundanschauung ab, die man von dem Ver-
hältnis des Staats ziu* Schule und der Schule zum Staate hat.
Man denke sich z. B., wie der Satz „Der Staat ist Herr der Schule" oder
der andere „Die Schule ist Staatsanstalt" auf das oi^anisatorische Denken
über die Schule einwirken muß. Wie nun, wenn die Schule ihrem Grund-
wesen nach weder als „Anstalt" noch als „Staats"anstalt aufgefaßt werden
dürfte, und wenn damit alle radikalen Folgerungen hinfielen! Jedenfalls
muß für das organisatorische Denken auf Grund solcher oder ähnlicher
Formeln eins klar sein, daß sie erst dann von Wert sind, wenn der Begriff
„Staat" festgestellt ist. Sehe ich recht, so hat unser politisches Denken und
Leben sehr darunter gelitten, daß wir uns zu wenig über Wesen, Leben
und Funktionen des Staates klar waren. Um noch ein für die Organisation
des Schullebens wichtiges Beispiel zu nennen: Das gemeine Denken lu-teili,
wenn „die Trennung von Kirche und Staat" zur Verhandlung steht, daß es
sich dabei um eine Zerstörung aller Lebensbeziehungen beider Kulturmächte
handle, als ob nicht der Kulturstaat auch nach Lösung der bisherigen
Beziehungen das stärkste Interesse hätte, den reügiösen Gemeinschaften
Schutz und Pflege angedeihen zu lassen, da er doch der allgemeine Kultur-
hüter und Kulturpfleger ist. Jedenfalls tut die Lehrerschaft der Volksschule
sehr gut, wenn sie ihren Staatsbegriff jetzt nicht ohne weiteres in der alten
Fassung weiter behält und munter daraus schlußfolgert, sondern ihn einer
gründhchen Revision unterzieht. Denn so wenig auch zur Zeit klar ist, wie
der Staat beschaffen sein wird, der sich in der Zukunft aus den revolutionären
Bewegungen herausmodeUiert, jedenfalls wird dieser Staat wesenthch ver-
schieden sein von dem Staat, den man in Formeln wie den obigen meinte.
Wie z. B., wenn sich eine Auffassung durchsetzte, die den Staat unter dem
Gesichtswinkel einer Tätigkeitsform der kulturellen Volksgemeinschaft an-
sähe? Man hätte dann das Volk als den allgemeinen Träger des Kultur-
prozesses, und die Tätigkeit des Volkes nähme in gewissen Richtungen, auf
gs\sissen Gebieten die Form des Staatshandelns an. In wie rege Verbindung
mit dem gesamten Kulhu^esen des Volkes träte dann die Staatstätigkeit;
wie würde sie frei von der gefährlichen Jenseitigkeit, in der sie früher zu
dem allgemeinen Kulturprozeß des nationalen Lebens stand! Hielte man
dann noch die Formel fest, daß die Schule Staatsanstalt ist, so würde es
jedenfalls leichter sein, beim organisatorischen Denken und Handeln in Sachen
der Schule der allgemeinen Kultiu«tellung der Schule gerecht zu werden
und nicht in den Bann ausschheßender staatlicher Zwecksetzung zu verfallen.
Eigenartig ist es jedenfalls, wenn die Lehrerschaft, soweit sie sich mit der Schule
') H. Gaudig. Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit. 2. Bd., S. 102 f.
14*
212 Hugo Gaudig
in den Dienst des sozialistischen Staats stellen will, den Staatscharakter der
Schule einseitig betont, denn soweit ich den Sozialismus verstehe, lehnt er
nicht nur den Klassenstaat als solchen ab, sondern das dem Staate eigen-
tümliche Zwangshandeln überhaupt, so daß also die nationale Kulturentwick-
lung sich je länger, je mehr ohne Zwangseingriffe herrschaftiicher Gewalt
ausschließlich aus wirksamen Kulturkräften heraus und unter Organisation
von unten her vollzöge. Jedenfalls dürfte es sich nicht empfehlen, wenn
man sich auf Denken im Stil des SoziaUsmus einstellen will, den Staats--
Charakter der Volksschule besonders zu betonen und an den« Staat statt an
das Volk als den tragenden Untergrund der Volksschule zu denken.
Wieweit man im organisatorischen Denken über die Schule in Deutsch-
land noch rückständig ist, läßt sich daran erkennen, daß wir immer noch
nicht darüber hinaus sind, die Schule als „Anstalt" aufzufassen.
Diese Auffassung der Schule als Anstalt ist ein Niederschlag der Unlebendig-
keit, unter der unser Schuldenken leidet. Sobald sich ein lebendiges Denken
durchsetzt, werden wir die Schule als einen Lebenskreis auffassen, der so
zu organisieren ist, daß sich in ihm die zur Erziehung notwendigen Lebens-
kräfte entwickeln. Erst bei dieser Auffassung läßt sich das Schulleben in
das allgemeine Kulturleben als ein integrierender Teil einorganisieren.
Ein weiterer Beweis für die Rückständigkeit unseres organisatorischen
Schuldenkens ist die geringe Neigung, die man bei uns bezeigt, das Schul-
leben nach seinen verschiedenen „Lebensgebieten" zu erfassen. Statt die
verschiedenen Lebensgebiete der Schule scharf gegeneinander abzusondern
und dann in der Gesamtanschauung eines lebendigen Ganzen wieder zu
vereinigen, begnügt man sich mit einem stumpfen Allgemeinbegriff „Schule".
Die Folge solches Denkens ist natürlich die unzulänglich differenzierende
und integrierende Organisation. Nach meiner Meinung ist es nötig, die
Lebensgebiete der Arbeit, des Spiels, der Feier (die Andacht eingeschlossen),
sowie die Lebensgebiete der Gemeinschaft, der Gemeinschaft von Lehrern
und Schülern sowie der Gemeinschaft der Schüler untereinander (besonders
der Klasse), endlich das Lebensgebiet der Ordnung zu unterscheiden. Jedes
dieser Lebensgebiete hat sein Eigenleben und so auch seine eigenartigen
Lebensgrundsätze, nach denen es zu organisieren ist; bei der Organisation
sind aber die Wechselbeziehungen der einzelnen Lebensgebiete zueinander
zu beachten, so daß die Gesamtorganisation einheitlich auf den einheitlichen
Erziehungszweck hin möglich ist. So erscheint z. B. die Klasse als ein sozial-
ethisches Gebilde, dessen eigenster Zweck die Pflege der Gemeinschafts-
gesinnung und des Gemeinschaftshandeln ist, das aber auch der Ertüchtigung
zur Arbeit dienen muß.
Schwere Schädigung des Gesaratwerts der Schule bedeutet es, wenn ein
organisatorisches Prinzip einseitig wirksam wird. So muß gewiß das Bildungs-
leben vor allem als Arbeitslehre organisiert werden; man kann sich aber
sehr wohl ein zu stark auf Arbeit organisiertes Bildungsleben denken: denn
Bildung wird nicht nur durch Arbeit, sondern auch durch Erleben ge-
wonnen, i) Im Kampf um ein neues Leitbild der deutschen Schule hat man
den Namen Arbeitsschule geprägt; unzweifelhaft ein nicht unglückUch ge-
bildeter Kampf- und Programmname. Heftet sich aber an diesen Namen
*) Vergl. Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit, S. 179 f.
Schulorganisatorisches Denken 21S
irgendwelcher Gedanke, irgendwelches Gefühl einseitiger Betonung der Hand-
tätigkeit oder wird — bei allgemeiner Fassung des Begriffs Arbeit — die
Arbeit innerhalb des gesamten Schullebens auf Kosten des Erlebens einseitig
betont, so daß die andern Lebensgebiete verkümmern müssen, so wird der
Schaden einseitiger Organisation ersichtlich. Unzulänghches Wirksamwerden
eines organisatorischen Prinzips würde sich z. B. dann zeigen, wenn im
Gebiete des sozialethischen Lebens der Klasse die gemeinsame Arbeit nach
ihrer sozialethischen Seite unbeachtet bliebe oder wenn die Arbeit selbst
nicht auch als Erlebnis gefaßt würde.
Ein Gebiet, von dessen organisatorischer Gestaltung der Zukunftswert
namentlich unserer höheren Schulen sehr wesentUch abhängt, ist die Klasse.
Das wird man umso mehr zugestehen, je mehr man ein durchgearbeitetes
Leitbild 0 der Klasse besitzt. Aber auch wenn man unter Klasse nicht mehr
verstünde als eine Anzahl (ein Aggregat) von Schülern, die zwecks unter-
richtlicher Förderung zusammengefaßt werden, auch wenn man also aus-
schheßlich die geistige Förderung der einzelnen Schüler immer im Auge
hätte, würde die Arbeit in der Klasse weit mehr durchorganisiert werden
müssen, als es bisher i. a. geschehen sein dürfte. Eine der stärksten An-
klagen gegen die höhere Schule, die — nach dem Fachsystem unterrichtend —
die Bildungsarbeit an ihren Schülern auf eine Mehrheit von Lehrern verteilt,
geht darauf hinaus, daß diese Arbeit ohne den durch die Einheit des Schul-
lebens der Schüler unbedingt geforderten Einheitszug erfolgt. Man vermißt
nicht nur die Einheit der Lehr- und Arbeitspläne, sondern vor allem auch,
worauf hier besonders hingewiesen werden soll, die Zusammenfassung der
Bildungsarbeit der verschiedenen an denselben Schulen wirkenden „Lehr-
kräfte". Im einzelnen tadelt man, daß es an den nötigen Veranstaltungen
zur einheithchen Erfassung des geistigen Gesamtlebens der Schüler fehle;
noch mehr aber, wie gesagt, daß sich die verschiedenen Lehrkräfte nicht zu
einheitlicher Bildungsarbeit an den einzelnen Schülern zusammenschlössen.
Verlangt werden muß allerdings, daß jeder in einer Klassenlehrersehaft
unterrichtende Lehrer ein Bild der geistigen Gesamtverfassung aller einzelnen
Schüler besitzt; ohne das Bild ist eine planmäßige Mitarbeit am Ganzen der
Bildung nicht denkbar, nicht einmal eine planmäßige Arbeit in einem ein-
zelnen Fach.
Bei der Bildung des Urteils über die Gesamtverfassung des Geistes sind
die Einzelbilder, die die Fächer als Ganzes bieten, zueinander in Beziehung
zu setzen. Es treten so nebeneinander vor allem die inhaltlich und formell
nach der intellektuellen Funktionsweise verwandten Fächer: die Sprachen,
die Zweige der Naturwissenschaften. Ebenso sind in Beziehung zueinander
zu setzen die geistigen Verfassungen in den Fächern, die in einer gewissen
Spannung zueinander stehen (, Geisteswissenschaften"— „Naturwissenschaften").
Besonders aber sind alle Fächer auf die für alle wichtigen allgemeinen
Merkmale und Eigenschaften der geistigen Verfassung hin miteinander zu
vergleichen (man denke z. B. an das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit, die
Willenhaftigkeit). Das so zwischen den Fächern hin und hergehende, ver-
gleichende und beziehende Denken ermittelt dann Korrelationen, vor-
schlagende Merkmale und Eigenschaften, Gleichai-tiges und Ungleichartiges,
') Vergl. Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit. Bd. I, 133 !g.
214 Hugo Gaudig
in Beziehung zur gesamten Bildungsaufgabe Verhältnismäßiges und Unver-
hältnisraäßiges, Abnormes usw. Das Ganze aber, das gewonnen wird, ist
kein „Aggregat seelischer Eigenschaften", sondern ein lebendiges Bild der
Gesamtbeschaffenheit des Geistes und seiner Struktur in der Anpassung an
das allgemeine Bildungsziel der Schule.
Das Ziel der Organisation der erziehlichen Arbeit der verschiedenen Lehr-
kräfte an denselben einzelnen Schülern muß also die Verknüpfung der Urteils-
bildung der einzelnen Lehrer ^in. Das Organ dieser Verknüpfung wie der
gesamten gemeinsamen Arbeit ist zunächst die Klassenlehrerschaft; die
äußere Form des Zusammenwirkens ist zunächst die Konferenz. Die Psycho-
logie der Konferenzen an unseren deutschen Schulen wird hoffentlich bald
der Gegenstand eindringlicher Untersuchung werden. Jedenfalls können die
Konferenzen ihr Ziel nicht erreichen, wenn die miteinander Beratenden ihre
Urteile „parataktisch" hinstellen und nicht der Wille zu beziehen und zu
vergleichen herrscht; vor allem muß die geistige Verfassung der Konferenz
erreicht werden, bei der die einzelnen sich gemeinsam in das geistige Ge-
samtwesen der Schüler eindenken und einfühlen ; dazu aber ist ein Gemein-
schaftsgeist nötig, ein Einswerden der Lehrer der Klasse in der Bezogenheit
auf die Schüler. Indes — so wichtig die Klassenkonferenz ist, an Wichtig-
keit steht ihr nicht nach — der Klassenlehrer. In der Organisierung der
Tätigkeit des Klassenlehrers sehe ich eine der dringlichsten, aus dem Leben
der Schule herausgeborenen Aufgaben der Zukunft. Von der glücklichen
Organisation des Klassenlehreramtes hängt zunächst die Vereinheitlichung
der Arbeit an den einzelnen Schülern in starkem Maße ab. Gewiß — die
Klassenkonferenz hat ihr eigenes Recht und muß ihr eigenes Leben haben;
sie wird aber ihre Aufgabe ungleich leichter und besser lösen, wenn der
Klassenlehrer ihr vorarbeitet, in ihr mit besonderem Recht arbeitet und ihr
„nacharbeitet". Lehrerversammlungen von '/2 Dutzend Lehrern werden leicht
— auch wenn die Beratungen ungleich häufiger sind als bisher — an Schwer-
beweglichkeit, um nicht zu sagen Schwerfälligkeit leiden. Die Kraft der
Initiative wird ihnen vielfach der Klassenlehrer geben müssen; er wird z. B.
zunächst der Beobachter seiner Schüler sein, der am intensivsten beobachtet,
meist, auch am extensivsten; das letztere wegen der größeren Zahl von
Fächern, in denen er unterrichtet. Er wird aber auch in der Rücksprache
mit seinen einzelnen Arbeitsgenossen den Beobachtungsstoff, den sie ge-
sammelt haben, an sich ziehen, wird die Beobachtungen auf vorläufige
Einheitsbilder hin (auf Hypothesen) verknüpfen, wird Fragen und Probleme
aufwerfen, Beobachtungsrichtungen empfehlen usw. Unbedingt notwendig
ist dabei allerdings, daß dem Klassenlehrer in weit höherem Maße das ins
agendi mit seinen Arbeitsgenossen, vor allem das Recht, die Klassenkonferenz
nach seinem Gutdünken einzuberufen, beigelegt wird. Ohne eine rechtliche
Organisation des Klassenlehreramts kann der wesentliche Fortschritt der
inneren Organisation, den ich für die Zukunft unserer höheren Schule for-
dere, nicht erreicht werden.
Wir haben bisher die Klasse nur als Zusammenfassung einzelner Schüler
verstanden. Brechen wir aber in der deutschen höheren Schule mit der
Rückständigkeit, die in der Klasse nur das Aggregat sieht, dringen wir
darauf, daß die Klasse sich zu einem sozialen Gebilde feinster Art entwickelt,
so tritt die Notwendigkeit unserer organisatorischen Forderungen an die
Schulorganisatorisches Denken 215
Klassenkonferenz und vor allem an den Klassenlehrer noch ungleich schärfer
heraus. Wir fordern ein Geistesleben, ein höheres Seelenleben der Klasse
als Klasse; im Wir-Be\vTißtsein werden die einzelnen Klassengenossen Träger
des Geraeingeistes. Die Klasse muß zimi Selbstbewußtsein, zur Selbstbe-
stimmung, zur Stellungnahme sich selbst gegenüber erzogen werden. Vor
allem soll die Klasse eine sozialethische Gemeinschaft werden, und ihr sozial-
ethisches Wesen soU sich mannigfach auswirken, in der gemeinsamen Arbeit,
im gemeinsamen Erleben, so daß sie in vollem, auch in ethischem Sinne
Arbeits- und Schicksalsgemeinschaft sein kann. Von hoher Bedeutung für
die Gesamtentwicklung unserer Jugend ist das Klassenbewußtsein, in dem
sich die einzelnen Klasseugenossen mit der Gesamtheit verbunden wissen
und fühlen, dann aber auch die Stellungnahme der einzelnen Schüler zur
Klasse und der Klasse zu den einzelnen Schülern. Wahrhaftig eine unent-
deckte und unausgebeutete Fülle erzieherischer Kräfte wartet der Auslösung
in der Klasse, diesem ursprünglichen Notgebilde, das aber dazu berufen ist,
eine Großmacht in der Erziehung der deutschen Jugend zu werden. Die
äußere Organisation aber ermögliche zunächst die innere Organisation; in
erster Linie durch Sicherung des Rechts der Klassenlehrer. Der Klassen-
lehrer muß es ja vor allem sein, der die Klasse in seinem einheitlichen
Bewußtsein trägt, der sie denkt, fühlt und will.
Die Schulgemeinde. Ein Begriff, der die Geister gerade in unseren
Tagen stark erregt hat. Hier nur wenige Bemerkungen. In der Idee einer
Schulgemeinde stellt sich, wie es Wyneken ausdrückt,^) eine aus neuem
Gemeinschaftsgefühl geborene neue Schulverfassung dar, „die im Grunde nichts
ist als der organisierte Wille der Jugend und ihrer Führer zu ihrer Schule".
Die „ Schulgemeinde ", die W. wegen ihrer Verwandtschaft zu den klöst er-
heben Orden die „Ordensversammlung" nennt, ist die gemeinsame Ver-
sammlung der Schülerschaft imd der Lehrerschaft. In ihr hat jeder Lehrer
und jeder Schüler je eine Stimme, alle gleiches Recht der Rede. Die Schul-
gemeinde ist ihm die eigentliche gesetzgebende Versammlung der Schule. —
Eine bedeutsame organisatorische Idee, — wenn sie innerliches Recht und die
Möglichkeit äußerer Verwirklichung in sich trüge. Die gesamte Schulge-
meinde zu einer Einheit des Wollens, zu einem höheren Subjekt einheitlichen
Wollens zusammengefaßt! Wie kümmerlich nimmt sich gegenüber dieser
organisatorisch durch ihre Geschlossenheit Achtung gebietenden Einheits-
organisation das Einheitliche aus, das an unseren Schulen über dem Hinter-
und Nebeneinander, dem Aggregat der Klassen eine einheitUche Schule mit
Eigenwesen und Eigenleben vortäuscht. Der einheithche (?) Lehrplan, das
einheitlich (?) wirkende Lehrerkollegium, gelegentUche Zusammenkünfte der
gesamten Schule bei Spiel und Feier, vielleicht das Zugehörigkeitsbewußtsein
zur Schule bei der Mehrzahl der Schüler und weniges andere; weiter ist's
nichts, worin die Schule ihre Einheit erweist.
In diese Schule nun mit der ein geschlossenes Anstaltsleben eigener Art
voraussetzenden Idee der „Schulgemeinde" einzutreten — wäre, logisch gesagt,
bedingt in einem Denken nach falscher Analogie, pädagogisch eine Unbe-
sonnenheit ersten Grades.
') Der Gedankenkreis der neuen Schulgemeinde (E. Diedericfas, 1919), S. 13.
216 Hugo Gaudig
Doch abgesehen hiervon: Ist wirklich eine Willensgemeinschaft der geschil-
derten Art möglich, d. h. eine Gemeinschaft, in der Lehrer- und Schülerwille
als gleichwertige Kräfte zur Einheitlichkeit zusammenwirken? Wäre es freihch
so, wie man in den Kreisen der „Schulgemeinde" anzunehmen scheint, daß
sich in der Jugend dank ihrer Eigenwesenheit Kräfte einer neuen Kulhirphase
entfalten könnten, die der jeweiligen Gegenwartskultur überlegen ist, so
könnte man sich die Lehrerschaft als das Organ für die Auslösung dieser
Kräfte denken und so ein gleichsinniges Zusammenwirken von Schülern und
Lehrern auf dem Fuße der Gleichberechtigung denken. Dem aber ist nach
dem, was ich in einem Leben der Hingabe an die Eigenkräfte und das
Eigenleben der Jugend beobachtet habe, nicht so. Gewiß ist es grundfalsch,
die Erziehung als die Eingliederung der Jugend in irgendeine abgeschlossene,
also etwa die vorletzte, Kulturphase zu bestimmen — derartige Bestimmungen
trifft man immer noch einmal bei den gegenwartsscheuen Pädagogen, sodann
bei den „zeitlosen" — aber selbst ein mit prophetischem Blick und mit
mystischer Einfühlungskunst ausgestatteter Mann dürfte durch Einschau in
die Jugend die neue Kultur mit ergründen. Gewiß lebt und webt in der Jugend
mancherlei, was für die Kultur der Zukunft, die über die Kultur der Gegen-
wart empordrängt, ungleich mehr zu beachten ist, als es geschehen ist:
brauchbare und unbrauchbare Elemente. Die deutsche Schule, die bisher nicht
einmal in der Lage war, die immer feindseligere Stellung der Jugend zu ihr
auf ihre tieferen Gründe hin zu verstehen, besitzt noch viel weniger die
Fähigkeit, die in der Jugend wirksamen Triebkräfte und Entwicklungsmotive,
Wünsche und „Sehnsüchte" einer neuen Kultur zu erspüren. Aber wenn es
gilt, die Kulturziele zu bestimmen, auf die hin wir die Jugend erziehen
wollen, meinethalb: auf die hin wir uns mit unserer Jugend entwickeln
wollen, dann ist doch wohl notwendig, daß „man" sich kulturphilosophisch
in die Gegenwartskultur, und zwar auf allen Kulturgebieten, nicht nur etwa
dem „des Geistes", eindenkt und einfühlt, die empordringenden Kräfte, die
Entwicklungsmotive und -tendenzen, den „Sinn" der Zeit aufspürt, auf ihren
Kulturwert hin prüft und (unter Rückschau auf die Vergangenheit), soweit
das möghch, zu einem Leitbilde der zukünftigen Kultur zusammenfaßt.
„Man"? d.h. alle zum Kulturdenken Fähigen; in Deutschland, soweit ich
sehe, eine sehr kleine Zahl. Zur Heranbildung von Selbstdenkern auf dem
Gebiete der allgemeinen Kultur fehlen uns die „Einrichtungen" an den
Schulen, den Universitäten, in der Presse usw. fast vollständig. Gehört
„man" aber nicht zu den Selbstdenkern, so denkt man nach, was Selbst-
denker vorgedacht haben. In einem Lehrkörper ist dann das Lehrer-
kollegium der Träger des Kulturbildes , auf das die Erziehung abgezweckt
werden muß. Damit aber ist das Kollegium aus der Gleiche mit der Schüler-
schaft gerückt, imd darum kann auch von einer Gleichordnung von Lehrer-
schaft und Schülergemeinschaft nicht die Rede sein. Als Träger der Kulturidee
und als Organ für die Durchführung dieser Idee steht die Lehrerschaft der
Schülerschaft gegenüber in dem Verhältnis der Überordnung, das die Zu-
sammenfassung in einer Schulgemeinde nach Wynekens Anschauung ver-
bietet. Wohl ist ein Zusammenwirken der Lehrerschaft und der Schülerschaft
im einheitlichen Geiste auf das eine Ziel: Erfüllung des Schulzwecks nötig;
v/ohl soll die Schülerschaft das wohlabgemessene Maß der Verantwortung
hierbei tragen, jeder einzelne Schüler vor allem das Höchstmaß von Verant-
Schulorganisatorisches Denken 217
wortung für sich, für die Klasse und die gesamte Schule, die Klassen das
Höchstmaß der Verantwortung für sich und für die Klassengenossen, sowie das
Schulganze, auch soweit das irgend angängig, die Schülerschaft als ein Ganzes
die Verantwortung für das Ganze, die Klasse und die einzelnen Schüler,
aber der Grundplan der Schulorganisation führt nicht zu dem schönen Ein-
heitsgebilde der „Schulgemeinde", sondern zu zweiheitlicher (indes nicht
dualistischer) Organisation: hie Schülerschaft, hie Lehrerschaft; zwischen
beiden der Abstand, den der Erziehungszweck fordert; beide aber verbunden
durch den hohen Zweck, den der Kulturprozeß den werdenden Persönlich-
keiten und den Mithelfern der Personwerdung steckt. Der Abstand ist
einerseits eine Bedingung für die Entwicklung des Achtungsgefühls, das den
Kultiu^ägern gebükrt, anderseits aber auch — und das sei besonders nach-
drücklich betont — eine Sicherung gegen suggestive Beeinflussung des
heranwachsenden Geschlechts, das zu seinem Eigen wesen kommen soll,
durch Lehrer- „Führer", die bestimmend auf ihre „Gefolgschaften" einv\nrken,
durch die , Religion" neuen Stils, die die Zöglinge in einen Ordensgeist
bannen w^ürde, statt sie sich aus ihrer Natur heraus zu dem „Ich der
Sehnsucht" entwickeln zu lassen, das die Einwirkimg auf eine ideale Kultiu*
hin fordert.
Die deutsche Schule ist, das sagten wir bereits, arm an wertvollen orga-
nisatorischen Einrichtungen. Umsomehr muß es wnindernehmen , daß man
vielerorts, besonders eifrig aber in Sachsen bemüht ist, ein Element der
organisatorischen Gestaltung der Schule auszuschalten, in dem man bisher
ein tragendes Element der Schulorganisation zu sehen gewohnt war — das
Direktorat. Umsomehr muß es wundernehmen, als die neue Zeit eine ganz
ungewöhnliche Steigerung der erziehUchen Kraftwirkungen fordert. Aber
vielleicht ist der Direktor entweder keine wertvolle Kraft im gesamten Kraft-
system der Schule, vielleicht gar ein Hemmnis für die Entfaltung anderer
Kräfte, besonders der Lehrerschaft, der Lehrerversammlung und der einzelneu
Lehrer, so daß ein Ersatz durch den „Schulleiter" (das ist übrigens doch wohl
die Übersetzung von Direktor?) den lockenden Ausbhck auf eine neue Kräfte-
entfaltung unserer Schulen, die einfach kulturnotwendig ist, eröffnete? Eins
vorweg: Wo die „Direktoren" unter der Last der äußeren Verwaltung nicht
dazukamen, ihre eigentliche Aufgabe zu verrichten, da sind sie allerdings
zwecklose Elemente in dem Kraftsystem, von denen es überflüssigerweise
belastet wird. Lehrer, die nur dies Direktorat kennen gelernt haben, dem
die Bedingungen für die Selbstentfaltung fehlten, müßten aber sehr vorsichtig
sein in ihrem Werturteil über das \sirkende Direktorat. Oder ist vielleicht das
wirkende Direktorat noch kulturgefährlicher? Indem ich auf meine ausführ-
liche Darstellung der gesamten Frage in meinem Hauptwerk verweise i), \sill
ich hier nur den grundsätzlichen Standpunkt hervorheben, die grundsätzhche
Betrachtungsweise. Dem, der über den gesamten Wert und Unwert des
Direktorats urteilen -viil!, muß das gesamte System der Kräfte gegenwärtig
sein, die an den idealen Erziehungszweck der Schule zu setzen sind; sodann
ist zu erwägen, ob der Direktor innerhalb dieses Systems notwendige Funk-
tionen zu verrichten hat oder nicht. Ein Denken, das nicht funktionell ein-
gestellt ist, muß in unserer Frage als wertlos gelten. Mit größten Bedenken
») a. a 0. S. 218-284.
218 Hugo Gaudig, Schulorganisatorisches Denken
muß Gedankengängen und Formeln begegnet werden, die ihre Herkunft aus
anderen Kulturgebieten erkennen lassen und von denen man nicht ohne
weiteres sagen kann, ob sie glatthin übertragbar sind, ob nicht vielmehr eine
schiefe Analogie vorliegt. Das gilt z. B. von der Verwendung des Begriffs
„Selbstverwaltung" in unserer Frage. „Selbstverwaltung" — ist einer der
mächtigsten und schönsten Begriffe in meinem kulturwissenschaftlichen Be-
griffsalphabet; aber ob man diesen Begriff von der J^ehrerschaft einer
Schule gebrauchen und so schlankweg von einer Selbstverwaltung der Schule
durch das Lehrerkollegium reden darf, sollte denn doch wohl von vornherein
zweifelhaft sein.
Nach meinem Urteil ist das Direktorat notwendig, weil es folgende Funk-
tionen auszuüben hat: Die Verwendung der Lehrkräfte, die spezielle Fürsorge
für die Vereinheitlichung der Erzieherarbeit, die Einwirkung in der Richtung
des Bestmaßes aller erziehlichen Tätigkeit der einzelnen Lehrer, die Mit-
wirkung bei der Organisation der kollegialen Arbeit, die Vertretung der Eltern-
schaft, der Gemeinde, des Staates innerhalb der eigentlichen Schulsphäre.
Das Nähere a. a. 0.
Nur einiges sei hier erwähnt : Die Verwertung der Lehrkräfte im Dienste
der Erziehung ist eine Optimalaufgabe, die um unserer Jugend willen sehr
ernst zu nehmen ist: die Verwertung muß das Bestmaß des Erfolges verbürgen.
Solche Verwertung aber ist nur möglich, wenn die Eigenart aller Lehrkräfte
genau bekannt ist; diese genaue Bekanntschaft aber kann nur jemandem
möglich sein, der alle Mitglieder des Kollegiums so gründlich als möglich
studiert, dem die Kenntnis der Lehrer Gegenstand amtsmäßiger Verpflichtung
ist. Dieser „jemand" kann nicht die Konferenz sein, sondern nur eine Einzel-
persönlichkeit mit direktoraler Funktion. Ferner: In die Arbeitsgemeinschaft
der Schule treten immer wieder neue Kräfte ein, deren Einführung in den
Geist der Arbeit der Schule schnell und eindringlich erfolgen muß. Von dieser
Einführung wären nur Schulen befreit, die keinen eigenen Geist besitzen. Die
Einführung aber erfolgt am besten und schnellsten durch die Persönlichkeit,
die aus dem Studium der Schularbeit nach ihrer Gesamtheit ein eigenes be-
rufsmäßiges Studium macht. Oder drittens: Nur ein unerträglicher Standes-
hochmut der Lehrerschaft könnte verkennen, daß in einem Lehrerkollegium
nicht selten Mitglieder sind, denen die aus der Kenntnis ihrer Eigenart und
der Eigenart der Schule herauswachsende taktvolle, die Würde der Persön-
lichkeit nicht verletzende Einwirkung eines erfahrenen Mannes zu einem
wesentlich höheren Maß der Leistung — und zu wesentlich höherem Lehrer-
glück verhelfen könnte. Und weiter: Die Kollegien müssen in Zukunft eine
viel stärkere, planmäßigere, einheitlichere Erziehertätigkeit leisten als bisher;
sie müssen sich vor allem zu einheitlichen Geistgemeinschaften zusammen-
schließen. Das wird umso weniger der Fall sein, je mehr sich der Geist des
schlechten Parlamentarismus in die Lebenssphäre der Schule einnistet, dieser
öde Geist mit seinen Neigungen zur parteimäßigen Trennung, zum „Parlamen-
tein", zum Hin- und Herreden, zur Zeitvergeudung, zum Emporheben der agi-
tatorischen, demagogischen Persönlichkeiten, zur Unterdrückung der feinen
Geister, der stillen Menschen, zur Beeinträchtigung der Eigenart einzelner
Persönlichkeiten durch eine unpei-sönliche Genossenschaft. Solcher Neigung
des parlamentarisch sich organisierenden Lehrerkollegiums wird ein Mann am
besten entgegenwirken, dem die Sorge für Einheitlichkeit des Wirkens der
Paul Wischer, Zur Auswahl vind Prüfung der zeichnerisch Begabten 219
Arbeitsgemeinschaft heilige Amtspfhcht ist. Die Lehrerschaft, die des Direktorats
sich entledigen will, scheint zu meinen, das sei besonders im Sinne der neuen
Zeit, das sei besonders gut soziahstisch gedacht. Soviel ich sehe, ist das nur
extrem Uberal gedacht; wo wirklich sozialistisch gedacht wird, verschUeßt man
sich nie und nirgends der Notwendigkeit der Leitung da, wo diese Leitung den
besseren Erfolg gewährleistet. Wenn aber hier und da von der Lehrerschaft auf
die Einstimmigkeit oder die fast völlige Einstimmigkeit ihrer Beschlüsse in der
Frage des Direktorats hingewiesen wird, so wird eine Regierung, die das
Wesen der modernen Organisationen kennt, schon von selbst erwägen,
wieweit in solchen imposanten Einheitsbeschlüssen — die Ansicht vollper-
sönlich überzeugter einzelner, vvieweit — anderes sich durchsetzt. — Vielleicht
überdenkt man vor der Beseitigung des Direktorats die Frage noch einmal
unter funktionalem Gesichtspunkt, damit unsere Jugend nicht die Kosten
des Verfahrens trägt.
Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten.
Von Paul Wischer.
Die pädagogische Wissenschaft der Gegenwart steht im Zeichen der psy-
chologischen Begabungsforschung. Die Auslese und Förderung der begabten
Volksschüler ist erfolgverheißend in die Wege geleitet, und der Stadt Berlin
gebührt das Verdienst, diese Begabtenauslese nunmehr auch auf die Sonder-
begabungen ausgedehnt zu haben. An die halbjährlich stattfindenden Be-
gabtenprüfungen schließt sich eine Prüfung für besonders begabte Zeichner
an, die in einem Sonderkursus der Kunstgewerbeschule weiter ausgebildet
werden sollen. ^j Wir Zeichenlehrer können diese Bestrebungen, die unsern
begabten Schülern eine ihren Fähigkeiten entsprechende Entwicklung er-
möglichen wollen, nur mit Freude und Genugtuung begrüßen. Es erwächst
uns aber jetzt die schwierige Aufgabe der Vorauslese der begabten Zeichner'
und Zeichnerinnen. Daß diese Vorauslese ihre Schwierigkeiten hat, geht
schon daraus hervor, daß bei der Zeichenprüfung im Frühjahr vorigen Jahres
630/0 der Knaben und 85 0/0 der Mädchen, als für eine Weiterbildung im
Zeichnen nicht ausreichend begabt, zurückgewiesen wurden. Dieses immer-
hin auffallende Ergebnis kann einesteils beruhen auf einer falschen Be-
urteilung der Zeichenbegabung bei der Vorauslese, andernteils in der Methode
der Prüfung. Es erscheint deshalb geraten, vom Standpunkt der psycho-
logischen Begabungsforschung aus einen Versucli zu machen zur Klärung
der Fragen: Woran erkennt man die übernormale Zeichenbegabung
und wie prüft man sie?
Man könnte von vornherein einwenden, daß die Beurteilung einer zeichne-
rischen Begabung allein Sache des Künstlers und nicht Sache des Psycho-
logen sei. Das ist zum. Teil richtig, soweit nämlich eine stark ausgeprägte,
bereits entwickelte Begabung in jeder Zeichnung- zum Ausdruck kommt.
Der Schule aber muß es darauf ankommen, auch die in der Entwicklung
begriffenen Ansätze dazu frühzeitig zu erkennen und durch den Unterricht
^) Je nach Art der Befähigung werden die Schüler und Schülerinnen auch in geeigneten
Lehrstellen für einen kunstgewerblichen Beruf untei^ebracht.
220 Paul Wischer
zu fördern. Das erfordert aber eine genaue Kenntnis derjenigen seelischen
Funktionen, die in ihrem Zusammenwirken eben die zeichnerische Sonder-
begabung ausmachen. Es wäre deshalb sehr bedauerlich, wollte man auf
die bisherigen Ergebnisse der psychologischen Begabungsforschung bei Aus-
wahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten verzichten. Die zahlreichen
Untersuchungen der Entwicklung der Zeichenbegabung sind, im wesentlichen
übereinstimmend, zu Resultaten gekommen, die es heut ermöghchen, einen
Normaltyp zu konstruieren. Ich werde diesen Normaltyp der zeichnerischen
Begabungsentwicklung zunächst kurz kennzeichnen, dann die Entwicklung
begabter Zeichner damit vergleichen, darauf das Erkennen der Begabung
aus der Art der Entstehung der Zeichnungen zeigen, um zuletzt die Wege
zu beleuchten, die uns durch die psychologische Analyse der Zeichenbegabung
gewiesen werden.
Die normale Entwicklung der zeichnerischen Begabung vollzieht sich in
drei Hauptstadien. Vom 2. bis 3. Lebensjahr ist es allein die Bewegungs-
freude, die den Anreiz zu dem sogenannten „Kritzeln" gibt. Man bezeichnet
dieses Anfangsstadium deshalb als das motorische. Begriffliche Deutung durch
Erwachsene oder durch andere Kinder führen das Kind zur ersten beab-
sichtigten Darstellung. Es beginnt die interessante Stufe der Schemabildung,
die durchaus unter der Einwirkung der Umgebung steht. Je nach der
individuellen Veranlagung werden vom 6. bis 10. Jahre die Schemata mit
mehr oder weniger erscheinungsgemäßen Formen gemischt. Bis zum
10. Lebensjahre ist den meisten Kindern die Form an sich nichts, der Inhalt
alles. Verworn bezeichnet diese Entwicklungsstufe als ideographische oder
gedächtnismäßige. „Vom 10. Jahre erwacht," wie Johannes Kretzschmar^)
sagt, „langsam die Fähigkeit der logischen und ästhetischen Beurteilung.
Das Interesse des Kindes geht allmählich vom Inhalt auch auf die Form
über." Das ist der kritische Zeitpunkt, wo viele malende Kinder immer
seltener ihre sonst so erfolgreiche Zeichentätigkeit ausüben, um schließlich,
unbefriedigt, in der richtigen Erkenntnis der zeichnerischen Unfähigkeit, jeden
Versuch der formgemäßen Darstellung aufzugeben. Die zeichnerische Begabungs-
entwicklung ist mit der wachsenden allgemeinen Intelligenz vom ideographischen
zum physiographischen, erscheinungsgemäßen Typ fortgeschritten. Nur ver-
hältnismäßig wenige suchen nach Hilfsmitteln, um zur Formerfassung zu
gelangen. Bei ihnen hat der Zeichenunterricht seine größten Erfolge, zumal
in diesem Zeitpunkt auch die räumliche Darstellungsfähigkeit beginnt. Leider
ist für die Volksschüler, da die erfolgreichste Entwicklungstufe bei den meisten
Kindern im 13. — 14. Lebensjahre liegt, bereits nach einem Jahr der Unter-
richt und damit leider auch die zeichnerische Entwicklung beendet. Auf dem
Entwicklungsstandpunkt des 14. Jahres bleiben die meisten Menschen stehen.
Selbst geistig Hochentwickelte kommen zeichnerisch im allgemeinen über ihre
kindliche Darstellungsfähigkeit nicht hinaus. Der Zeichenunterricht könnte
hier nur bessernd einwirken, wenn er die Kinderzeichnungen nicht ganz
übersehen, sondern dem suchenden Kinde helfen würde. Die eingehende
Beachtung des naiven kindlichen Zeichnens ist aber auch schon deshalb ge-
boten, weil in der Art seiner Entwicklung bereits die Ansätze einer über-
normalen Zeichenbegabung zum Ausdruck kommen können.
1) Dr. J. Kretzschmar, Die freie Kinderzeichnung in der wissenschaftlichen Forschung. Zeitschr.
f. pädagogische Psychol. Bd. 13, Heft 7/8.
Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 221
Auch die begabten Zeichner durchlaufen die vorhin skizzierte Entwicklungs-
reihe vom Motorischen zum Gedächtnismäßigen, Erscheinungs- und Form-
gemäßen, mit dem Unterschied, daß sie gewöhnhch viel früher damit fertig
sind, manche Einzelstadien überspringen oder die letzte Stufe, an der die
meisten scheitern, aus eigener Kraft überwinden. Hier sind Entwicklungs-
unterschiede meist, wenn auch nicht immer, Begabimgsunterschiede. Durch-
schnittlich 90 o/o aller Kinder zeichnen im Alter von 6 bis 7 Jahren rein
schematisch. Was verstehen ^-ir unter Schema? Walter &ötzsch 0 be-
zeichnet das Schema sehr richtig als eine Erstarrung der Form, die bei
den wenig begabten Zeichnern sehr frühzeitig eintritt und bis zum 10. und
12. Lebensjahr, oft noch länger, die ganze Entwicklung beherrscht. Der
Schemazeichner zeichnet nicht im eigentlichen Sinne, sondern er liefert
nm-, wie Kerschensteiner^) treffend sagt, eine „Niederschrift der begriff-
lichen Merkmale" und benutzt dazu immer dieselben Formen. Der un-
begabte Zeichner bleibt jahrelang auf diesem Standpunkt stehen, der normal-
begabte mischt seine Schemata mit erscheinungsgemäßen Formen, der über-
normal Begabte dagegen kennt die Stufe des reinen Schemas
überhaupt nicht. Für ihn beginnt meist sofort das Suchen nach Ähnlich-
keit in der Formgebung, er „zeichnet", während die anderen noch „nieder-
schreiben". Von Monat zu Monat verbessert er beispielsweise seine Menschen-
darstellungen, indem er sie immer mehr charakterisiert. Er besitzt eben die
Fähigkeit, schon etwas zu sehen, während die andern noch bei dem erworbenen
unveränderten Schema bleiben. Er hat Gegenstands- oder Bildungsvorstellungen,
die andern nicht.
In der Tat ist die Größe des Formenkreises und die Vollkommenheit der
Darstellungsfähigkeit bereits auf dieser Stufe ein Maßstab für den Grad der
zeichnerischen Begabung. Nach W. Krötzsch kann man bei eingehendem
Studium der Kinderzeichnungen einen vierfachen Grad der Zeichenbegabung
unterscheiden. Enger Formenkreis und ungewandte, meist rein schematische
Darstellung kennzeichnen die Schwachbegabten Zeichner. Reichen Formen-
kreis bei gemischt schematischer, aber noch ungewandter Darstellung zeigt
der normal begabte, während reicher Formenkreis mit lebendiger,
erscheinungsgemäßer Darstellung den hochbegabten Zeichner auszeichnen.
Eine Sonderstellung nehmen diejenigen Kinder ein, die zwar einen engbe-
grenzten Formenkreis besitzen, aber einer auffallend lebendigen, fast form-
gemäßen Darstellung fähig sind. Das sind Kinder, die z. B. Pferde oder
Hunde verblüffend gut zeichnen können. Ich erinnere mich einer 11jährigen
Schülerin, die Pferde so vorzüglich zeichnen konnte, daß ich die selbständige
Gedächtniszeichnung anzweifelte und das Kind in meiner Gegenwart zeichnen
ließ. Wer nur diese Zeichnungen sah, mußte unbedingt auf ein hervor-
ragendes Talent schließen. Und doch gehörte diese Schülerin nur zu den
normal befähigten Zeichnerinnen. Es handelt sich in solchen Fällen, die
nicht selten vorkommen, vun eine ganz einseitige Scheinbegabung, aus
der nicht viel zu machen ist. Im allgemeinen ist bei der Beurteilung von
Kinderzeichnungen, wenn es sich um die Feststellung einer übernormalen
Zeichenbegabung handelt, die größte Vorsicht geboten. Frühzeitige, große
') W. Krötzsch, „Rhythmus und Form in der freien Kinderzeichnung". Leipzig 191'
-) G. Kerschensteiner, Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung. München 1907.
222 Paul Wischer
Hoffnungen werden häufig getäuscht. Noch sind die Begabungsansätze den
zarten Blütenteilen in der Knospe vergleichbar, und manche hemmenden
Einflüsse des Gefühls- und Willenslebens können ihre Entwicklung aufhalten,
ja ihre Entfaltung unmöglich machen. Andere Begabungen können stark
hervorbrechen und die erste völlig verdrängen. Von geradezu entscheidende]-
Bedeutung kann hier der Einfluß des Lehrers durch frühzeitiges Erkennen
und Fördern werden, wenn er eingehend die Entwicklung der zeichnerischen
Begabung beobachtet.
Diese Beobachtung der Begabungsentwicklung wird sich aber nicht be-
schränken auf die wenigen Merkmale, die W. Krötzsch feststellte, sondern
sie wird auch sehr bald ausgesprochene Begabungstypen entdecken, wie
sie C. Kik in einer vorzüglichen Arbeit über die übernormale Zeichenbegabung
genau kennzeichnet.
Kik^) studierte eingehend die Entwicklung von 14 hervorragend begabten
Zeichnern, Knaben und Mädchen, au der Hand eines mühsam gesammelten
Materials, das zum Teil in der Zeitschrift für angewandte Psychologie Band 2
veröffentlicht wurde. Von jedem Kinde lagen eine Reihe von Zeichnungen
aus den verschiedensten Lebensaltern vor. Durch Rückfragen an die Eltern
und Lehrer wurden alle näheren Angaben über die allgemeine geistige Ent-
wicklung der Kinder und die Entstehung der Zeichnungen biographisch zu-
sammengetragen. Die so entstandenen Entwicklungsreihen ermöglichen
es, die individuelle Zeichenbegabung nach ihrer vielseitigen Art zu erforschen.
Nicht nur die Zeichnungen an sich, sondern auch alle bei ihrer Entstehung
mitwirkenden Begleitumstände sind für den Psychologen bedeutsam. Es ist
für die Beurteilung einer Zeichenbegabung durchaus nicht gleichgültig, ob
die Begabung aus eigener Kraft zum Ausdruck kommt, oder sich unter
nachhaltigem Einfluß, unter fortgesetzter Anregung des Elternhauses ent-
wickelt. In diesem Fall sind Entwicklungsunterschiede, wie ich sie vorhin
erwähnte, oft keine Begabungsunterschiede. Auch Fragen nach Vererbung,
nach allgemeiner Intelligenz und nach dem Anteil des Gefühls- und Willens-
lebens bei der Entstehung der Zeichnungen sind von größter Bedeutung.
Eine psychologisch geleitete Beobachtung ist hier durchaus notwendig.
In welcher Weise bearbeitete nun Kik sein Material? Maßgebend für die
Beurteilung der Zeichenbegabung ist ihm die Art, wie die Zeichnungen ent-
standen sind. Das kann nur auf dreifache Weise geschehen. Eine Zeichnung
kann unmittelbar nach der Natur, nach dem Gedächtnis oder durch freige-
staltende Phantasie entstehen. Natur- und Gedächtniszeichnung können nach
dem Gegenstand oder dem Bilde angefertigt werden. Dadurch entstehen in
jedem Falle zwei Darstellungsarten: das Objektzeichnen und Kopieren einer-
seits, und das Zeichnen aus der Gegenstands Vorstellung und Bildvorstellung
andererseits. Dementsprechend unterscheidet Kik : a. Begabung für Natur-
wiedergabe, b. Kopierbegabung, c. Vorstellungsbegabung, d. h.
Gedächtniszeichnen nach der Gegenstands- oder BildvorsteUung, d. Phan-
^asiebegabung, e. Kombinationen der vorsteh enden Begabungsarten.
Die normale Entwicklung der zeichnerischen Begabung führt, wie wir
vorhin schon feststellten, die Kinder nur sehr selten aus eigener Kraft zum
') C. Kik, „Die übernormale Zeichenbegabung bei Kindern." Zeitschr. f. angew. Psychol.,
Bd. 2. 1909, — Auch abgedruckt in dem Sammelband: Das freie Zeichnen und Formen des
Kindes, herausgegeben von Grosser und Stern. Leipzig 1913.
Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 223
unmittelbaren Abzeichnen nach der Natur. Die Naturdarstellungen fallen,
wie Kerschensteiner nachweist, bei etwa 80 ^o aller Kinder schlechter aus
als die Gedächtniszeichnungen. Es sind eben eine ganze Reihe psycholo-
gischer Schwierigkeiten, die nur durch Studium am Einzelobjekt überwimden
werden können. Nur dieser Weg führt zur formgemäßen Darstellung, die
auch der Selbstkritik standhält. Aber der Weg ist lang und dornenvoll, und
die Lust zum Zeichnen, wenn sie noch vorhanden ist, verlangt nach ganz
anderen Dingen. Bilder sollen entstehen, nach Erfolg, Ruhm und Befriedigung
strebt der junge Zeichner, und klug wählt er den sichersten und einfachsten
Weg, er kopiert. Für viele ist das Kopieren die letzte Stufe ihrer zeich-
nerischen Entwicklung, und sie kann so frühzeitig auftreten und einen solchen
Grad der Vollkommenheit erreichen, daß man von einer einseitigen Kopier -
begabung sprechen kann. Sie beruht auf scharfer Beobachtungsgabe und
guter Handgeschicklichkeit. Über den Wert des Kopierens ist gar nicht zu
streiten. Bildung des Geschmacks und Übung in den Techniken des Zeichnens
können durch fleißiges Kopieren künstlerischer Vorlagen wohl erreicht werden,
aber für das Naturzeichnen hat es wenig oder gar keine Bedeutung, w^eil
die psychologischen Funktionen beim Abzeichnen des Objekts andere sind
als beim Kopieren. Die Naturdarstellung scheitert an der Unfähigkeit, klare
Vorstellungen zu gewinnen, die Form an sich gewißermaßen vom Objekt
zu abstrahieren. Die Vorlage ist in dieser Beziehung bereits eine gelöste
Aufgabe, die, im übertragenen Sinne, nur noch „abzuschreiben" ist. Der
Hauptwert des Kopierens liegt deshalb im Technischen, Handwerkhchen. Nur
wenn die Kopie, die Nachzeichnung, sich frei macht von pedantischer Nach-
ahmung und mehr den geistigen Gehalt der Vorlage auszudrücken sich
bemüht, kann sie künstlerischen Wert gewinnen. Künstlerische Kopisten
sind aber bekanntlich sehr selten zu finden. Auf Grund seiner einseitigen
Begabung, seiner Handgeschicklichkeit und Beobachtungsgabe, eignet sich
der Kopist nur für technische Berufe des Zeichnens, z. B. in der Lithographie,
als technischer Zeichner und dergl. So häufig die Kopierbegabung auftritt
und so blendend oft ihre Erzeugnisse sind, muß sie doch verhältnismäßig
gering bewertet werden.
Aber auch die Begabung für Naturwiedergabe kann so einseitig auftreten,
daß sie, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu einem reinen „Naturkopieren "
Vvärd, d. h. der Zeichner besitzt die Fähigkeit, mit einer vorzüglichen Beobach-
tungsgabe alle Einzelheiten der Erscheinungsform aufzufassen und richtig
darzustellen. Seine Leistungen befriedigen den Zeichenlehrer vollkommen,
er ist im Freihandzeichnen nicht selten unser bester Zeichner. Ja, in den
höheren Klassen kann diese Fähigkeit bis zum Porträt ausreichen, kann im
Höchstfalle sogar künstlerische Darstellungsart zeigen ohne jedoch künstlerisch
zu sein, weil die objektiv genaue Darstellung ohne rein künstlerische Ge-
fühlsv/erte ist. Was diesen Zeichnern fehlt, ist die Vorstellungfähigkeit.
Ihre Gedächtniszeichnungen und Kinderzeichnungen überragen nur wenig
die Grenze des Normalen. Der Zeichner kann in keiner Sekunde das Modell
entbehren. Gerade hierbei unterscheidet er sich vom hochbegabten Natur-
zeichner, der mit schnellem Blick die kennzeichnenden Merkmale des Objekts
erfaßt und mit sicheren Strichen darstellt, ohne fortgesetzt das Vorbild zu
fixieren. Würde man beide Zeichner lebende Tiere darstellen lassen, so
würden ihre Begabungsunterschiede erst recht -deutUch werden. Gerade das
224 Paul Wischer
Zeichnen nach bewegten Formen gibt einen Maßstab für den Grad der Vor-
stellungsfähigkeit, die das unerläßliche Formengedächtnis bedingt.
Wo nur die Fähigkeit der Formenauffassung, ohne Formengedächtnis vor-
handen ist, handelt es sich nur um eine einseitige Begabung, die zwar
bedeutend höher zu bewerten ist als die Kopierbegabung, aber am besten
doch nur für technische Zeichenberufe in Frage kommt. Kik findet, daß
solche einseitige Begabung meist auch mit Schwächen in wichtigen Haupt-
fächern der Schule verbunden ist, z. B. Sprachen und Mathematik. Auf den
höheren Schulen sind diese begabten Zeichner sehr übel dran. Die An-
strengungen für die Mängel in den Hauptfächern lassen zur weiteren Aus-
bildung des LiebMngsfaches wenig Zeit und Kraft übrig. Hier müßte eine
höhere Bewertung des Zeichnens vorhandene Mängel in anderen Fächern
ausgleichen können. Über das Verhältnis der Zeichenbegabung und der
allgemeinen Intelligenz sei bemerkt, daß nach Kik und Kerschensteiner eine
gute allseitige Zeichenbegabung auch mit guter allgemeiner InteUigenz ver-
bunden ist.
Zwischen den vorhin gegenübergestellten Begabungen, dem einseitigen
Beobachter und dem hochbegabten Zeichner, bewegt sich nun die Menge
aller Begabungen, die mit guter Beobachtungsgabe eine ebensolche Vor-
stellungs- und Phantasiebegabung verbinden. Auch sie können wieder ein-
seitig stark hervortreten. Kik fand unter seinen Kindern ausgesprochene
Typen der Vorstellungsbegabung, die beim Gedächtniszeichnen nach Gegen-
stand- oder Bildvorstellungen Hervorragendes, beim Naturzeichnen nur
Normales leisteten. Vorstellungs- und Phantasiebegabung sind oft schwer
zu unterscheiden, da sich bei näherer Untersuchung viele Phantasiezeich-
nungen der Kinder als mehr oder weniger veränderte Gedächtniszeichnungen
herausstellen. Aber während der begabte Gedächtniszeichner oft eine
erstaunliche Genauigkeit und Treue des Formgedächtnisses aufweist, legt
der Phantasiezeichner auf die Form viel weniger Wert als auf den geistigen
Inhalt des Dargestellten. — Soweit es sich bei allen diesen Begabungstypen
um eine einseitige Veranlagung handelt, sind sie leider wenig wertvoll.
Erst ihre verschiedenen Mischungen ergeben brauchbare Zeichner, deren
Begabung auch berufhch zu verwerten ist. Je nachdem die eine oder andere
Art vorwiegt, kommen technische, kunstgewerbliche und künstlerische Be-
rufe in Frage.
Kik hat gezeigt, wie man aus zeichnerischen Entwicklungsreihen durch
eingehendes Studium der Zeichnungen die übernormale Zeichenbegabung,
und zwar die verschiedenen Begabungstypen, erkennen kann. Seine Arbeit
verdiente aber weitergeführt zu werden, um seine Urteile auf eine breitere
Grundlage zu stellen. Die Zeichenlehrer könnten sich hier ein großes Ver-
dienst um die psychologische Begabungsforschung im Zeichnen erwerben,
wenn sie von ihren begabten Zeichnern recht viele Zeichnungen aus Schule
und Haus zu Entwicklungreihen mit biographischen Bemerkungen zusammen-
stellen würden. Ideal aber wäre eine solche Sammlung, die Einblicke in
den zeichnerischen Entwicklungsgang eines ausübenden Künstlers gestattete.
Über die künstlerische Entwicklung sind wir meist unterrichtet, aber gerade
das Keimen und Wachsen des jungen Talents ist für den Lehrer und
Psychologen bedeutungsvoll. Hier liegt noch ein interessantes, aber
schv^ieriges Arbeitsfeld.
Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 225
Nachdem wir das Erkennen der übernormalen Zeichenbegabung aus ihrer
Entwicklung (Krötzsch) und die Begabungstypen aus der Art der Entstehung
der Zeichnungen festgestellt haben, bleibt noch die Frage zu erörtern, welche
Wege uns die experimentelle Psychologie weist. Sie sind uns gezeigt von
Ernst Meumann und Albien durch die psychologische Analyse der zeich-
nerischen Begabung.
Die vielen Teilvorgänge, die in ihrer Gesamtheit den Zeichenakt so
schwierig gestalten, daß eine psychologische Analyse noch heute teilweise
als unsicher gelten muß, lassen sich nach Meumann *) in drei Hauptgruppen
zusammenfassen. Es sind 1. optische, 2. motorische, 3. apperzeptive
Vorgänge und deren Zusammenwirken, wobei es wieder hauptsächlich auf
das Zusammenwirken von Auge und Hand und von Gesichtsvorstellung
und Hand ankommt. Von besonderer Bedeutung ist das Zustandekommen
der Gesichtsvorstellungen durch die äußeren und inneren Sehvorgänge.
Meumann weist auf die bekannte Behauptung des Anatomen Henke-) und
des Geologen Heim^) hin. „Zeichnen ist Sehen!" Wer genau sieht und
sichere visuelle Erinnerungsbilder hat, müßte demnach auch zeichnen können.
Dem ist entgegenzuhalten, daß es sehr viele Menschen gibt, die sehr genau
sehen und absolut klare Gesichtsvorstellungen haben, ohne sie jedoch zeichnen
zu können. Auf die optischen Vorgänge müssen wir deshalb etwas genauer
eingehen. Da es sich hier um eine Analyse der Begabung zum Zeichnen
und nicht des Zeichenaktes selbst handelt, kann auf eine Klarlegung der
elementaren Sehvorgänge verzichtet werden. Erst bei den höheren Seh-
vorgängen beginnt die Unterscheidung der individuellen Zeichenbegabung.
Die psychologische Analyse gibt uns hier auch die Erklärung der ver-
schiedenen vorhin festgestellten Begabungstypen. Sie sind, wie Albien^)
feststellte, im Grunde nichts weiter als verschiedene Sehtypen. Albien
fand durch seine Untersuchungen, auf die ich zurückkommen werde, einen
visuellen Typ, der sich allein auf die Genauigkeit des Sehens verläßt, und
einen konstruierenden Typ, dessen Sehvorgang mehr durch Gefühls-
momente, Kombination und Phantasie beeinflußt, d. h. in seiner Genauigkeit
gestört wird. Läßt man eine Anzahl begabter Zeichner nach demselben
Modell zeichnen, so werden meist drei Hauptgruppen zu untei'scheiden sein.
Die eine beobachtet außerordentlich scharf und bringt alle Einzelheiten, die
zweite dagegen läßt sich bei der Darstellung mehr vom Gesamteindruck
leiten, ohne die objektive Genauigkeit im einzelnen zu erreichen. Die
Zeichnung verrät eine gewisse Ungenauigkeit und Unsicherheit in der Strich-
führung. Man sagt gewöhnlich, der Zeichner sieht nicht scharf genug. Das
kann einen zweifachen Grund haben: Ent^veder ist die Aufmerksamkeit eine
flüchtige, oder aber das Objekt selbst wirkt mit der Fülle seiner Einzelheiten
verwirrend auf den Zeichner, so daß es nicht gehngt, ein klares visuelles
Bild zu erhalten. Die dritte der vorhin erwähnten Gruppen ist in gewissem
Sinne eine Kombination der beiden ersten. Der Zeichner sieht sehr scharf,
') E. Meumann : Ein Programm zur psychol. Untersuchung d. Zeichnens. Zeitschr. f. pädag.
Psychol., Bd. 13, Heft 7/8.
*) Henke: Zeichnen und Sehen, 1889.
^) Heim: Sehen und Zeichnen (Vortrag), Basel 1894.
*) Albien: Der Anteil der nachkonstruierenden Tätigkeit des Auges und der Apperzeption
a. d. Behalten u. d. Wiedergabe einfacher Formen. Leipzig 1907.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 16
226 Paul Wischer
gibt aber nur die das Modell charakterisierenden, typischen Merkmale wieder.
Diese Gruppe zeigt die Fähigkeit, künstlerisch darzustellen; sie ist deshalb
am höchsten zu bewerten.
Die Güte der Gesichtsvorstellungen hängt aber nicht nur von der Genauig-
keit der Beobachtung des Objekts, sondern auch von der Dauerhaftigkeit
der visuellen Erinnerungsbilder, also dem Formgedächtnis ab. Wieweit die
Genauigkeit der Gesichtsvorstellungen die Treue des Formgedächtnisses beein-
flußt, ist heute noch eine offene Frage. Keineswegs kann man ohne weiteres
sagen: Je genauer das Sehen, desto dauerhafter die Erinnerungsbilder. Beweis:
der vorhin charakterisierte Typ des einseitigen Naturzeichners. Eins aber
steht fest, daß zum rechten Erfolg im Zeichnen beide Fähigkeiten verbanden
sein müssen. „UnerläßUch ist auf jeden Fall," sagt Meumann, „daß der
Zeichner zuerst einmal genau gesehen und genau vorgestellt hat, sonst
entsteht keine typische Darstellung des Objekts, sondern bloß Unbeholfenheit
des Ausdrucks und Untreue der Darstellung." Wenn daher der Zeichen-
unterricht die Erziehung zum bewußten Sehen als erstes Ziel erstrebt, so ist
er damit auch auf rechtem Wege zu Formerfassung und Formgedächtnis.
Zur Formauffassung führen aber keineswegs nur optische, sondern vor
allem auch apperzeptive Vorgänge. Eine Form wird um so leichter und
genauer erfaßt, je mehr ähnliche Vorstellungen bereits im Bewußtsein des
Zeichners vorhanden sind. Auch die genaue Kenntnis des Objekts kann von
größter Bedeutung sein. Eine wesentliche Hilfe bei der Formauffassung ist
das analysierende Sehen. Man steht einer neuen, komplizierten Form als
Ganzem oft ratlos gegenüber. Das zeichnerisch geschulte Auge sucht zunächst
nach Teilformen, die den wesentUchen Bestandteil der Gesamtform ausmachen.
Dazu ist unbedingt die Kenntnis elementarer Grundformen der Flächen und
Körper nötig. Wenn von vielen Zeichenmethodikern die Übermittlung solcher
Grundformen als zu abstrakt, geisttötend verworfen wird, so ist das wohl
eine gewaltige Überschätzung der naiven künstlerischen Fähigkeiten, die
angeblich im Kinde schlummern sollen. Für die von Natur aus begabten ist
dieser Standpunkt wohl verständlich, aber der Durchschnittsschüler kann m. E.
nur dadurch zum analysierten Sehen befähigt werden, daß er mit diesen
Grundformen arbeitet, denn sie gerade geben Apperzeptionsstützen ersten
Ranges. Aber der Begriff der Apperzeption, wie ihn Herbart gefaßt hat, ist
zu eng. Meumann rechnet zur Apperzeption auch alle durch die betrachtete
Form ausgelösten Gefühls- und Willensmomente, weil sie das Erfolg bedingende
Zusammenvdrken von Auge und Hand hemmend oder fördernd beeinflussen
können. Nicht auf den Muskelapparat kommt es hauptsächlich an, sondern
wie Meumann sagt, auf die die Bewegung begleitenden und kontrollierenden
Gelenk- oder Bewegungsempfindungen.
Hier gehen die Meinungen der Fachpsychologen auseinander. Meumanns
Gegner sagen, nicht die Empfindung, (das „Gefühl"), sondern allein der Wille,
der Impuls leitet eine Bewegung. Auf die Zuordnung dieses Impulses zur
Gesichtsvorstellung kommt es an. Hieran fehlt es eben dem Nichtzeichner.
Auf welche Weise der Unterricht hier fördernd eingreifen kann, das ist das
ganze Problem des Zeichnens. Man kommt seiner Lösung vielleicht am
nächsten, wenn man den zeichnerischen Akt mit dem Sprechen, Singen,
Musizieren vergleicht. Bei allen Funktionen handelt es sich um den Impuls
zur Auslösung bestimmter Bewegungen. Gefördert wird dieser Impuls zweifei-
Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 227
los durch bewußte oder unbewußte stete Übung der Bewegungselemente.
Dabei sei bemerkt, daß je nach der natürlichen Veranlagung auch die
erreichbare Geläufigkeit der entsprechenden Bewegung variiert. Wenn nun
unsere zeichnerischen Durchschnittsleistungen schwach sind, so führe ich das
darauf zurück, daß wir viel zu wenig zeichnen. So mangelhaft man z. B.
das Klavierspielen lernt, wenn man wöchentlich nur zwei Stunden Unterricht
nimmt und sonst nicht übt, so wenig kann man auch durch zwei Zeichen-
stunden wöchentUch Zeichnen lernen. Man frage doch einmal, wie viel
Kinder sich zu Haus zeichnerisch betätigen. Es werden meist nur die guten
Zeichner sein. Will man also den zeichnerischen Durchschnitt heben, so
muß täglich etwas gezeichnet werden, sei es Nachzeichnen, Naturzeichnen
oder Gedächtniszeichnen. — So ergibt sich schon aus diesen psychologischen
Erwägungen heraus die Notwendigkeit, das Zeichnen nicht nur als Unter-
richtsdisziplin zu pflegen, sondern wie Seinig es fordert, zum Unterrichts-
prinzip zu machen. Wenn dabei mehr von der Wandtafel abgezeichnet
wird als bisher, so ist das kein Fehler.
Auf methodische Einzelheiten kann ich hier natürlich nicht eingehen. Zu-
sammenfassend kann man wohl sagen, daß im wesentlichen zwei Momente
die Fähigkeit zum Zeichnen ausmachen, das analysierende Sehen und der
Impuls zur Ausführung der entsprechenden Bewegungen. Gesichtsvorstellung
und Bewegungsimpuls müssen eng miteinander verknüpft sein. Das ist bei
dem begabten Zeichner in hohem Maße der Fall. Auge und Hand stehen
bei ihm in so engem Kontakt, daß vielfach schon beim Sehen der Form
gleichzeitig entsprechende Bewegungen ausgelöst werden. Dem tüchtigen
Zeichner zuckt es in der Hand, wenn eine Erscheinungsform ihn zur Dar-
stellung reizt. Was er sieht, steht mit sicheren Strichen sofort auf dem
Papier. Radiergummi wird selten gebraucht, die Zeichnung verrät in allen
Teilen eine überzeugende Sicherheit, ist aber deshalb keineswegs immer
künstlerisch. — Worin hegt nun das spezifisch Künstlerische? „Es Hegt"
wie Meumann sagt, „in der Art der Auffassung und Darstellung des
Objekts. Der künstlerisch Begabte begnügt sich nicht mit dem Nachbilden
der Erscheinungsform, sondern er bemüht sich, mit ihrer Wiedergabe eine
Summe von ausgelösten Gefühlen, Erinnerungen, Lebenserfahrungen zimi
Ausdruck zu bringen. Unter Auffassung versteht man die Art der geistigen
Verarbeitung des Objekts. Diese kann so subjektiv sein, daß ein aUgemeines
Verständnis schwer, oft sogar unmöglich wird. (Impressionismus, Expressio-
nismus, Futurismus usw.) Kunst ist aber nicht nur Ausdruck, sondern
ringt stets nach einer Form der Darstellung. Darunter versteht man das
Herausarbeiten des künstlerisch Wesentlichen und die Ausnutzimg des
jeweihgen Zeichenmaterials. Die künstlerische Darstellungsform ist lehrbar,
die Auffassung nicht; sie ist angeboren." Psychologisch betrachtet müßte
also eigentlich jedermann bis zu einem ziemlich hohen Grade zeichnen lernen
können, indem die Mängel seiner Begabung durch entsprechende Unterrichts-
dauer und -art und emsigen Fleiß ausgeghchen werden. Von diesem Ge-
sichtspunkt betrachtet, ist es fast unmöglich, bestimmt zu sagen, wo die
normale Begabung aufhört und die übernormale anfängt. Als Maßstab könnte
hier nur die Durchschnittsleistung in Betracht kommen, die sich aus der
Unterrichtserfahrung ergibt. Die vorhin geforderte psychologisch geleitete
Beobachtung müßte deshalb besonders feststellen, wie weit die natürhche
15*
228 Paul Wischer
Begabung durch Fleiß und Energie des Willens beeinflußt wird. Jedenfalls
ist die Beurteilung einer Zeichenbegabung allein aus den vorHegenden fertigen
Zeichnungen unsicher, wenn sie nicht durch eine schriftlich niedergelegte
längere Beobachtung gestützt wird. Da aber außerdem in den seltensten
Fällen die Zeichnungen ausschließlich Eigenarbeiten ohne Korrektur des
Lehrers sind, ist eine Prüfung des Schülers unerläßlich. Sie hätte sich
nach den voraufgehenden Ausführungen zu erstrecken:
1. aufHandgeschickUchkeit, bezw.auf das Zusammenwirken von Auge undHand,
2. auf Genauigkeit der visuellen Beobachtungsgabe,
3. auf Treue des visuellen Gedächtnisses,
4. auf die Art der Verarbeitung des Objekts (phantasie- und gefühlsmäßig
oder in künstlerischer Darstellung),
5. auf die Art der Auffassung des Objekts (subjektiv-künstlerische Auffassung).
Die Handgeschicklichkeit, die Genauigkeit der visuellen Beobachtung und
die Treue des visuellen Gedächtnisses lassen sich auf Grund experimenteller
Methoden prüfen, die Art der Verarbeitung und die Auffassung des Objekts
nicht Eine derartige Untersuchung wäre für den Zeichenunterricht von
größter Bedeutung, da in diesen Teilvorgängen die Gründe für das Nicht-
zeichnenkönnen liegen. Wie weit die Handgeschicklichkeit die Güte der
Zeichnung beeinflussen kann, ist heut noch eine Streitfrage. Graberg ') legt
in seiner Arbeit über die visuellen motorischen Zeichenvorgänge größeren
Wert auf gewisse rhythmische Bewegungen, die in steter Wiederholung geübt
werden müssen. Meumann dagegen warnt vor einer Überschätzung der rein
motorischen Vorgänge. Es bleibt einer Untersuchung der technischen Be-
gabungen vorbehalten, die Handgeschicklichkeit an sich, z. B. die Unterschieds-
empfindlichkeit für differenzierte Bewegungsrichtungen, zu prüfen.
Die experimentelle Psychologie kennt dazu verschiedene Methoden. Die
zeichnerische Handgeschicklichkeit kann schon dadurch untersucht werden,
daß man vorgezeichnete Linien und Linienzüge nachzeichnen läßt. Man
bedient sich dazu eines elektrischen Kontrollapparates, der jede Abweichung
beim Nachzeichnen durch ein Glockenzeichen angibt. Maßstab zur Beur-
teilung der Leistung gibt einmal die Zeitdauer der Ausführung und die
Häufigkeit des Glockenzeichens, also der Fehler. — Die visuelle Genauigkeit
kann auf verschiedene Weise geprüft werden. Am exaktesten erscheint mir
die Methode, die Albien bei seinen Versuchen anwandte. Er bediente
sich eines Apparates, der nach dem Prinzip des sogenannten Schnellsehers,
des Tachistoskops, konstruiert war. Eine bestimmte Zeichnung blieb 10 bis
20 Sekunden vor dem Auge des Zeichners, wurde genau fixiert, plötzlich
verdeckt und dann gezeichnet. Anstelle der Albien'schen Zeichnungen würden
für unsere Zwecke besser Objekte mit mehreren typischen Einzelheiten
gewählt. Bei einem zweiten Versuch kann dann ein ähnliches Objekt bei
unbegrenzter Beobachtungszeit abgezeichnet werden, wobei vor allem die
Gesamtarbeitszeit zu notieren ist. Aus der Zahl der fehlenden charakte-
ristischen Einzelheiten ist der Grad der visuellen Beobachtungsfähigkeit fest-
zustellen. Denselben Apparat benutzte Albien zur Prüfung des Form-
gedächtnisses, also der Treue der visuellen Erinnerungsbilder. Der Schüler
') Graberg, Die visuell-motorischen Zeichenvorgänge. Zeitschr. f. experiment. Pädagogik Bd. VII.
Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten 229
darf das Objekt so lange betrachten, bis er es aus dem Gedächtnis zeichnen
zu können glaubt; dann wird das Objekt entfernt und dargestellt. Die Zeit
der Beobachtung und Darstellung ist einzeln zu notieren. Ich muß mich
hier darauf beschränken, die experimentehen Methoden der Prüfung nur
kurz anzudeuten, sie wären im Einzelnen natürüch noch psychologisch ein-
gehend festzulegen.
Vom Standpunkt des Praktikers aus kann man auch einen anderen Weg
zur Prüfung der drei genannten Grundforderungen des Zeichnens einschlagen.
So wesentlich die Prüfung der Handgeschicklichkeit, der Genauigkeit der
visuellen Beobachtung und der Treue des visuellen Gedächtnisses im einzelnen
für die Art der Begabung, den Begabungstyp, sein können, müssen wir
doch betonen, daß erst ihr Zusammenwirken die Qualität der Zeichen-
begabung ausmacht. Man könnte deshalb vielleicht auf eine experimentelle
Prüfung im Einzelnen verzichten, wenn das Abzeichnen und Gedächtnis-
zeichnen unter bestimmten Voraussetzungen geschieht. Von größter Bedeutung
ist dabei die Art der gestellten Aufgabe. Wie man unter allgemeiner
Intelligenz die Fähigkeit versteht, sich schnell und leicht einer neuen
Anforderung anzupassen, so muß auch die zeichnerische Begabung am
deutlichsten zum Ausdruck kommen, wenn man den Schüler vor Aufgaben
stellt, die ihm bisher noch nicht zugemutet wurden.
Würde man die Aufgabe aus dem Stoffgebiet des Schulzeichnens wählen,
so müßte das Moment der Übung in Betracht gezogen werden. Der weniger
begabte Schüler könnte, falls er im Zeichenunterricht ähnliche Aufgaben
mehrfach gelöst hat, die Leistung des hochbegabten erreichen. Die Beur-
teilung der Begabung uürde dadurch wesentlich erschwert werden. Begabungs-
prüfungen sind Kraftproben. Ich halte es deshalb für zweckmäßiger, die
Kinder nach dem lebenden Modell, dem Menschen, zeichnen zu lassen (z. B.
Knabe in Schrittstellung, im Profü, mit Mütze und Mappe). Die Leistungen
sind natürlich nur relativ zu bewerten. Da der für die Apperzeption
wesentliche Einfühlungsprozeß sehr verschiedene Zeitdauer beansprucht, ist
vor dem Zeichnen eine bemessen kurze Beobachtungszeit geboten. Diese
ist genau zu notieren; das Abzeichnen beginnt gleichzeitig. Beim Zeichnen
sind die Schüler zu beobachten, ob sie das Modell fortgesetzt fixieren oder
seltener hinzusehen brauchen, ob sie viel radieren, oder den Gummi fast
gar nicht benutzen. Nach 15 Minuten ist der Arbeitsakt zu unterbrechen.
Die Schüler, die schnell visuell auffassen und ebenso sicher imd gewandt
darstellen, werden ihre Arbeit bedeutend weiter gebracht haben, als diejenigen,
bei denen alle psychologischen Funktionen des Zeichnens sich langsamer
ab\^^ckeln, weil sie verschiedentliche Hemmungen zu überwinden haben.
Auf die Arbeitszeit allein kommt es aber nicht an, es muß auch die
Qualität des Dargestellten, in diesem Falle zunächst die Genauigkeit der
Beobachtung beachtet werden. Die Unterbrechung des Zeichenaktes hat
also nur den Zweck festzustellen, ob der Zeichner schnell und genau oder
schnell und ungenau oder langsam auffaßt. Im weiteren Verlauf der Arbeit
kann auch der langsame Schüler eine genaue oder ungenaue visuelle Be-
obachtung zeigen. Die Gesamtarbeitszeit ist zu notieren. Die Arbeitszeit
im Verhältnis zum Arbeitserfolg ergibt den Grad der zeichnerischen Begabung.
Hierbei müßten auch die etwa zum Ausdruck kommenden künstlerischen
Momente in der Darstellung und Auffassung des Objekts bewertet werden.
230 Paul Wischer, Zur Auswahl und Prüfung der zeichnerisch Begabten
Um die Besserung der Leistungen durch die Übung zu untersuchen, muß
das Objektzeichnen an drei Tagen mit neuem Modell wiederholt werden.
Eine zweite Gruppe von Aufgaben müßte sich auf die Prüfung des visuellen
Gedächtnisses erstrecken. Das Formgedächtnis tritt, wie wir gesehen haben,
in Kraft, wenn zwischen Formauffassung und Darstelhing ein längerer oder
kürzerer Zeitraum liegt. Dabei gibt es drei Möglichkeiten: das Objekt kann
kurz vor der Darstellung wenige Sekunden angesehen und dann sofort aus
dem Gedächtnis gezeichnet werden. Zweitens kann ein Gegenstand des
täglichen Gebrauchs oder eine sonst bekannte Form ohne vorhergehende
Betrachtung dargestellt werden. Drittens kann die Wiederholung eines vor
mehreren Tagen oder Wochen gezeichneten Objekts verlangt werden, um die
Dauerhaftigkeit und Treue des visuellen Gedächtnisses zu prüfen. Die zweite
Aufgabe würde nachweisen, ob der Schüler auch dann zeichnerisch sieht,
wenn er bei der Anschauung des Objekts gar nicht die Absicht zum Zeichnen
gehabt hat. Hier hätten wir den reinsten Typ der Vorstellungsbegabung.
Als dritte Gruppe der Aufgaben blieben noch solche, die eine ideelle
Verarbeitung der im Gedächtnis haftenden Formen durch die Phantasie prüfen.
Hierher gehören Illustrierversuche, Entwürfe, Erfinden von Schmuck- und
Zierformen und dergl.
An diese Hauptgruppen von Prüfungsaufgaben könnte sich zur Feststellung
der begabtesten Zeichner noch das Zeichnen nach dem lebenden Tiermodell
(Vogel, Katze, Kaninchen usw.) anschließen. Auch die Anfertigung einer
Kopie ist zum Herausfinden der rein technisch Begabten nicht ausgeschlossen.
Eine solche eingehende Prüfung ermöglicht mit ziemlicher Sicherheit eine
Einordnung des Begabungstyps und die Feststellung seiner zeichnerischen
Berufseignung. Handgeschicklichkeit und genaue visuelle Beobachtungsgabe
allein genügen für den technischen Beruf als Lithograph, technischer Zeichner
u. a. Gute Vorstellungs- und Phantasiebegabung, verbunden mit künstlerischer
Darstellungsform, befähigen zum Kunstgewerblichen. Künstlerische Auffassung
und Darstellung, Genauigkeit der visuellen Beobachtung und Treue des
visuellen Gedächtnisses und ein vollendetes Zusammenwirken von Auge und
Hand bedingen den freien künstlerischen Beruf.
Überblicken wir zum Schluß zusammenfassend, woran und wie man die
übernormale Zeichenbegabung erkennt: Man erkennt sie an ihrer
Entwicklung und an der Art der Entstehung der Zeichnungen;
man bem'teilt sie durch eine psychologisch geleitete Prüfung, ergänzt
durch eine ebensolche vorausgehende längere Beobachtung. Diese Beobach-
tung muß schon frühzeitig einsetzen und sich vor allem auf die freien
Kinderzeichnungen erstrecken, die bereits Ansätze der übernormalen Zeichen-
begabung zeigen können. Von solchen Begabten müssen deshalb Zeichnungen
mehrerer Jahrgänge zu Entwicklungsreihen zusammengestellt werden.
Die systematische Beobachtung würde am besten an der Hand eines
psychologischen Beobachtungbogens ausgeführt, der neben allen Fragen
der individuellen Entwicklung auch die allgemeine Intelligenz und die Ver-
erbung berücksichtigt. Gerade die Vererbung der zeichnerischen Begabung
scheint sehr häufig vorzukommen. Von 11 Kindern, die Kik untersuchte,
fand er 9, deren Begabung auf direkter oder indirekter Vererbung beruhte.
Häufig kommt es vor, daß eine frühzeitig erkannte Begabung plötzUch stehen
bleibt, um nach Jahren erst wieder hervorzubrechen. Hier sind Gefühls-
Marx Lobsien, Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit 231
und Willensmomente oft von entscheidendem Einfluß. Nichts kann dem sich
entwickelnden Talent mehi* schaden, als vernichtende Kritik, Zwang und
Strafe, nichts kann andererseits mehr zu neuen Anstrengungen anspornen
als die Freude am eigenen Erfolg. Lust und Schaffensfreude zu erhalten,
muß deshalb die Hauptaufgabe des Zeichenlehrers sein, um dem Schüler
über die toten Punkte seiner Entwicklung hinwegzuhelfen. Das Interesse am
Objekt, an der Darstellungsform und ihrer praktischen Verwendung muß
immer aufs neue angeregt werden. Nur so kann neben den alten Forderungen
des Zeichnens, Auge und Hand zu üben, auch der Geist gebildet und schUeßhch
ein Talent gefördert werden.
Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit.
Von Marx Lobsien.
Von jeher hat man die Fähigkeit zur Kritik als Merkmal der Intelligenz
gewertet. „So unsympathisch der Mensch ist," sagt Stern, „dessen Intelligenz
sich vorwiegend im Herausfinden von Mängeln und Schwächen bekundet,
80 ist es doch zweifellos, daß innerhalb der Gesamtheit geistiger Fähigkeiten
auch diese ihren Platz hat und deshalb, wenn möglich, auch in einer
Intelligenzprüfung festgestellt werden muß. Das Kritisieren ist eine höhere
Stufe des Verstehens; denn jetzt genügt es nicht, das Gegebene in seinem
positiven Inhalt aufzufassen, man muß es auch messen an einer im Bewußt-
sein bereithegenden Norm, die sich in dem dargebotenen Stoff nicht be-
friedigt findet."
Die Prüfung der Kritikfähigkeit Jugendhcher kann sich nicht an Tests
genügen lassen, wie Binet sie anwandte, solchen, die nur einzelne aufdring-
liche Absurditäten enthalten, — die sind viel zu leicht. Es ist das Verdienst
Sterns, einen Test entworfen zu haben, der nach meinen Erfahrungen auch
für fünfzehn- bis achtzehnjährige Fortbildungsschüler ein ausgezeichnetes Hilfs-
mittel zur Prüfung der Kritikfähigkeit darstellt. Ich habe den von Stern
entworfenen schwierigeren Test^) im Auge. Er verlangt „das Herausfinden
von Stellen, die objektive Kritik erfordern, aus einem größeren Ganzen".
Die Stellen enthalten „offenkundige Widersinnigkeiten, die jeder ablehnen
muß, der ihren Inhalt versteht. Hierdurch ist möghch, die Kritikfähigkeit
der Prüflinge exakt zu vergleichen, da eine bestimmte Anzahl von sinn-
widrigen Stellen gefunden werden soll, und da außerdem diese Stellen in
der Schwierigkeit der Lösung abgestuft sind".
Im Stern sehen Text kommen zwölf Unstimmigkeiten vor. Der PrüfUng
wird vor Erfüllung seiner Aufgabe ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht,
daß der Text Unmöglichkeiten enthalte, daß er sie möglichst alle aufsuchen
und seine Kritik begründen müsse. Die Begründung geschieht schriftlich am
Rande des Textes.
Zur Bewertung der Korrekturen durch den Versuchsleiter folgende Be-
merkungen! Die Unstimmigkeiten wiegen verschieden schwer, auch die Be-
') Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher. Diese Zeitschr. Bd. IXX, S. 79 u. 80. Auch
in dem Sonderheft: Das psychol -päd. Verfahren der Begabtenauslese. Leipzig 1918. S. 15.
232
Marx Lobsien
gründungen; so ist zu erwarten, daß nicht alle psychologisch gleichwertig sein
werden; doch zeigte sich bei meinen Versuchen der erste Unterschied weitaus am
wichtigsten, während die logische Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der
Lösung weder so viele noch so ausgeprägte Gradunterschiede aufwies, daß ihre
besondere Berücksichtigung sich verlohnte. Fehldeutungen kamen bei meinen
Prüflingen in so geringer Anzahl vor, daß sie ohne Schaden vernachlässigt
werden konnten. So blieben für die Bewertung nur die „Treffer" und die
„Auslassungen" übrig.
Die Feststellung der Schwierigkeitsunterschiede der einzelnen Widersinnig-
keiten erforderte eine besondere Überlegung. Manche haben ein sogleich in
die Augen springendes Schwergewicht; so wissen wir, daß die „Verwandt-
schaftsverhältnisse", zumal wenn sie etwas verwickelt liegen, an den Be-
urteiler hohe Anforderungen stellen. Um aber eine feinere Wertabstufung
zu gewinnen, ist notwendig, in Prozenten den Seltenheitswert (im Sinne
Sterns) zu berechnen. Je seltener eine Absurdität übersehen wird, desto
leichter ist ihre Bewältigung — und umgekehrt. Für die im Texte vor-
handenen zwölf Unstimmigkeiten ergaben sich folgende Schwierigkeitsindizes*):
Nummer der Abgurdität
im Text
Schwierigkeitswert . . .
ii
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
21
21
»
27
35
49
11
18
11
39
4
12
35
Der Untersuchung wurden 120 Prüflinge unterworfen, und zwar etwa
20 fünfzehn-, 30 sechzehn-, 50 siebzehn- und 20 achtzehnjährige männHche
Schüler (Elektriker und Feinmechaniker) der Kieler gewerblichen Fort-
bildungsschule.
Ergebnisse.
Sie zerfallen in zwei Gruppen. In der ersten prüfen wir die Beziehungen
der Kritikfähigkeit zum Altersfortschritt, in der zweiten ihr Verhältnis
zur Intelligenz (auf Grund der Schätzung) innerhalb der vier Altersstufen.
In der ersten Gruppe begnügen wir uns mit den Feststellungen, die allein
auf den quantitativen Leistungen beruhen, d. h. ohne Auswertung der
qualitativen Schwierigkeitsunterschiede der einzelnen Widersinnigkeiten; die
zweite Gruppe berücksichtigt sowohl die quantitative wie die quantitativ-
qualitative Leistungswertung.
Kritikfähigkeit und Altersfortschritt.
Das Ergebnis zeigt folgende Tabelle:
Alter
15 jährig
16 jährig
17 jährig
18 jährig
Leistung
8,56
9,06
9,36
10,17
Sie gibt die durchschnittliche Anzahl der richtig kritisierten Absurditäten
auf den Kopf jeder Prüflingsgruppe an. Man sieht, wie mit steigendem Alter
die Kritikfähigkeit wächst.
*) Das Maß der Schwierigkeit ist die Prozentzahl der Fälle, in denen eine Aufgabe nicht
gelöst worden ist.
Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit
333
40
30
20
10
Die Verteilung der Leistungen auf die Altersstufen zeigt folgende Über-
sicht, die in Prozentangaben erkennen läßt, wieviele Prüflinge auf eine gewisse
Anzahl von Leistungen sich vereinigen; man erkennt also, wieviel Prozent
der Schüler innerhalb einer und derselben Altersgruppe auf 3, 4 usw. rich-
tige Kritiken entfallen.
Anzahl
der richtigen
15 jährig
16 jährig
17 jährig
18 jährig
Fälle
1
;
2
1
—
—
3
5,3
3,1
—
—
4
—
....
1,6
—
5
—
3,1
4,8
—
6
6,2
6,4
—
7
15,9
9,3
6.4
—
8
21,2
9,3
11,2
11,2
*>
31,8
18,1
19,2
16,8
10
i 15,9
24,8
16,0
28,0
11
! S,3
15,5
20,8
33,6
12
5,3
9,3
12,8
11,2
Ü 100,7 ! 99,2 99,2 100,8»)
Stellen wir die Werte in einer Kurve dar, dann erkennt man deutlich den
Altersfortschritt jeder Gruppe: zunächst verengt sich die Kurvenbasis fort-
schreitend, und zugleich wandert der Höhenpunkt der Kurve stetig von
niederen zu höheren Werten fort. Bezeichnend ist aber, daß der Alters-
fortschritt sich nicht ununterbrochen auf steigender Bahn bewegt. Sehen
wir von den außerhalb der geschlossenen Reihen hegenden Prozentangaben
5,3 und 3,1 der Fünfzehn- und Sechzehnjährigen als Zuf auswerten ab, dann
erkennen wir die geringere Kurvenbreite, also die geringere Streuung bei den
jüngsten und ältesten unserer Prüfhnge. Dazu stimmt durchaus, daß die
gleichen Gruppen die größten Kulminationshöhen erreichen.
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1 !
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1
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J^
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P=^
-^^
--^
f-
>
15 jährige
16 jährige
1 7 jährige
18 jährige
Wir sehen, daß die Fähigkeit zu kritischen Leistungen bei unsem Prüf-
lingen von Altersstufe zu Altersstufe durchgehend um die Bewältigung einer
Absurdität steigt — ganz unbekümmert um das verschiedene Gewicht der
einzelnen Anforderungen, die der Test steht.
') Die geringen Differenzen in den Endsummen (100) erklären sich aus den übUcben Er-
höhungen.
334
Marx Lobsien, Ein Test zur Prüfung der Kritikfähigkeit
Kritikfähigkeit und Intelligenz.
Quantitative Wertung.
Die Prüflinge wurden auf Grund wiederholter sorgsamer Schätzung in
Ranggruppen nach ihrer Intelligenz gebracht und dazu die Leistungen in der
Kritikfähigkeit in Beziehung gesetzt. Jede Altersgruppe ward für sich ge-
ordnet. Zunächst wurde jede Gruppe nach der Intelligenz in eine gute,
mittlere und schwache Unterabteilung gesondert. Die Schnitte wurden so
gelegt, daß die Mittelgruppe an Zahl jeder der beiden andern etwa um das
Doppelte überlegen war. Jeder Gruppe ward das zugehörige Quantum der
kritischen Leistungen zugeordnet. So ergab sich folgendes Bild:
Alter
gut
mittel
schwach
15 jährig
16 jährig
17 jährig
18 jährig
10,3
10,8
11,4
11,2
7,5
9,1
9,1
10,0
6,5
7,0
6,3
8,8
Durchschnitt
10,9
8,9
7,2
Eine Umrechnung auf Prozentwerte der Höchstleistung von zwölf richtigen
Lösungen erübrigt sich. — Man erkennt überall eine tadellose Beziehung
zwischen Intelligenz und Kritikfähigkeit ^).
Qualitative Wertung.
Die rein quantitative Wertung bietet eine zu geringe Streuungsbreite, so
daß sie eine verläßliche Rang-Korrelationsrechnung nicht zuläßt. Das erst
erlaubt die Beachtung der Leistungsschwierigkeiten im besonderen. Wir
ordnen nun nicht nach Gruppen, sondern stellen eine ausgebaute Rangreihe
für jede Unterstufe auf, ordnen den einzelnen Rangplätzen die zugehörigen
qualitativen Leistungen zu und berechnen nach der üblichen Formel die
Rangkorrelation mit dem Fehlerwerte.
Das Ergebnis der Berechnung zeigt folgende Übersicht:
Altersstufe
15 jährig
16 jährig
17 jährig
18 jährig
Korr.
w. F.
0,90
0,04
0,92
0,02
0,93
0,02
0,95
0,02
Wir finden bei sehr geringem wahrscheinlichen Fehler eine starke Korre-
lation zwischen der Intelhgenz und der Kritikfähigkeit.
Damit hat sich bei unsern Versuchen der hervorragende Wert des Stem-
schen Tests erwiesen.
>) Die kleinen Unterschiede in den Durchschnitten der Qaerreihen gegenüber der Tabelle S. 233
erklären sich von selber.
William Stern, Begabungsprüfungen in Fachschulen 235
Begabungsprüflingen in Fachschulen.
Von William Stern.
Prof. A. Freund, Die Gliederung nach Qualitätsklassen unter Anwendung experimenteller
Methoden. Zeitschrift für angewandte Psychologie 15 (1/2), S. 69—72.
Oberlehrer E. Beger, Förderung und Auswahl Tüchtiger an der öffentlichen Handelslehranstalt
zu Leipzig. Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen. 1919. Heft 2.
Ingenieur Otto Stolzenberg, Berufseignung. Vortrag, gehalten auf der Arbeitsnachweis-
konferenz der Vereinigung der Deutschen Arbeifgeberverbände in Lübeck. Berichte, Heft 6
der Vereinigung D. Arbeitgeber- Verb., Berlin. 1918.
Über die Mitarbeit der Psychologie an der Begabtenauslese sind der größeren
Öffentlichkeit bisher nur solche Versuche bekannt geworden, die sich auf das
allgemeine Schulwesen beziehen. Hierbei sind — wie es Oberlehrer Beger
im oben genannten Aufsatz ausdrückt — drei Richtungen: die „Berliner", die
„Hamburger" und die „Leipziger" Richtung hervorgetreten: die erste (Piorkowski
undMoede) machte die endgültige Auslese allein von der Testprüfung abhängig^);
die dritte (Leipzig) will in diametralem Gegensatz hierzu die psychologische
Prüfung ganz ausschalten und alles dem Lehrerurteil überlassen. Die mittlere
(Hamburg) strebt ein systematisches Zusammenwirken der in Schulzeugnis und
Beobachtungsbogen niedergelegten Lehrerurteile mit den Ergebnissen der Test-
prüfungen an.
Neben diesen Bestrebungen gehen nun aber andere, vielleicht nicht weniger
wichtige einher, die besonderen Aufgaben der Begabungsauslese in Fach-
schulen und für Fachschulen ebenfalls mit psychologischen Hilfsmitteln zu
lösen. Über drei hierhergehörige, zum Teil an etwas abgelegenen Stellen er-
schienene Veröffentlichungen sei hier berichtet, die sich auf eine Gewerbe-
schule, eine Handelsschule und eine technische Lehrlingsschule beziehen.
Dabei ist es interessant, daß die beiden erstgenannten Schulen in Leipzig
liegen, der Stadt, die sich für das allgemeine Schulwesen ablehnend gegen
psychologische Methoden verhält. Es handelt sich bei diesen beiden Schulen
zunächst noch um tastende Anfänge. Die dritte Veranstaltung findet in Berlin
statt; sie beruht auf dem Zusammenwirken eines Praktikers mit einem Psycho-
logen und ist bereits intensiver ausgebaut.
Die öffentliche Handelslehranstalt in Leipzig hat eine Abteihing für
Volksschulabgänger und eine höhere Abteilung für junge Leute aus höheren
Schulen, welche den Berechtigungsschein erwerben wollen. Seit einigen Jahren
sind für besonders tüchtige Lehrlinge der Volksschulabteilung Abendkurse
eingerichtet worden, um sie in bestimmte Klassen der höheren Abteilung über-
zuleiten. Da der Andrang zu diesen Abendkursen zu groß wnirde, erwachte
das Bedürfnis, nur die wirklich über dem Durchschnitt Stehenden hineinzu-
nehmen. Deshalb wurden zunächst Versuche mit Intelligenzprüfungen nach
der Methode Moede-Piorkowski veranstaltet. Bei der Nachprüfung einer ganzen
Klasse fand Beger eine sehr viel geringere Übereinstimmung der Testergebnisse
mit der Schulrangordnung als Moede-Piorkowski; aber die Abweichungen
selbst boten wichtige psychologische Anhaltspunkte zur Beurteilung der Schüler.
In einem Falle war ein Schüler, der in der vorläufigen Klassenrangordnung
') Neuerdings wird auch in Berlin die Notwendigkeit anerkannt, den Beobachtungsbogen mit-
hineinzuziehen.
236 William Stern
den neunten Platz halte, der weitaus beste im Test; nach einem Vierteljahr
war er auch in der Klasse Primus geworden. Der Test hatte also richtig
prophezeit. Bei der Auslese für die Abendkurse und bei der Überleitung in
die höhere Abteilung wird jetzt „kombiniert" verfahren : es werden Zeugnisse,
Beobachtungen der Lehrer, Ausfälle der pädagogischen Prüfung und Test-
ergebnisse zur geraeinsamen Grundlage der Entscheidung gemacht. „Wenn
wir wirklich im Laufe der Jahre dazu kommen müssen, eine strenge Auswahl
der Begabten für die Abendkurse zu treffen, dann kann es meines Erachtena
nur auf der Grundlage des Hamburger Systems sein. Im Vordergrund muß
die Beobachtung durch den Lehrer stehen, die dann durch eine mäßige An-
zahl von Tests ergänzt werden kann."
Um Angehörige der metallarbeitenden Berufe handelt es sich bei der
städtischen Gewerbeschule in Leipzig. Hier sollten zu Ostern 1917 250 Schüler
in 7 Klassen verteilt werden, die den Fähigkeiten entsprechend abgestuft sind;
und zwar fand die Zuteilung der Schüler auf die Qualitätsklassen statt ohne
Berücksichtigung der Schulzensuren, lediglich auf Grund einiger Versuche,
die der Ingenieur Professor Freund gemeinsam mit dem Gewerbelehrer Herzog
an den einzelnen Schülern unternahm. Hierbei wurde, dem gewählten Beruf ent-
sprechend, vor allem das Raum vorstellungs vermögen und die Fähigkeit, Ursache
und Wirkung klar zu erkennen, geprüft, daneben auch die allgemeine Intelh-
genz und zwar mit folgenden Aufgaben: 1. Textlückenergänzung nach Ebbing-
haus. 2. Entfaltungstest (aus einem mehrfach zusammengefalteten Papier wird
eine Ecke herausgeschnitten; der Prüfling muß aufzeichnen, wie nach der
Entfaltung das Papierblatt aussieht). 3. Umlegung von Dreiecken gegeneinander
nach dem Gedächtnis. 4. Verständnis für einen kleinen einfachen Mechanismus,
der keine technischen Spezialkenntnisse, sondern nur Einsicht in elementare
technische Zusammenhänge voraussetzt.
Die Verschiedenartigkeit der Testleistungen war überraschend groß; die Be-
wertung der Antworten wurde nach möglichst exakten Maßstäben vorgenommen,
zugleich aber der individuelle Eindruck des Prüfers (ob eine Antwort zögernd
gegeben, ob eine von Verständnis zeugende Zwischenfrage getan wurde usw.)
mit in Betracht gezogen. Den hier angefügten Satz Freunds kann ich freilich
in seinem ersten Teil nicht unwidersprochen lassen, gerade weil ich seinem
zweiten Teil voll zustimme: „Ich kann sehr wohl begreifen, daß dem reinen
Wissenschaftler ein derartig kombiniertes Verfahren nicht sympathisch ist;
ich sehe aber keine andere Möglichkeit, um den experimentellen Methoden
den Weg zu ebnen, als eine derartige Verbindung subjektiver und objektiver
Beurteilung." Gerade als Wissenschaftler muß ich immer wieder betonen, daß
ich nur ein solch kombiniertes Verfahren für gerechtfertigt, die einseitige
ziffernmäßige Verwertung des Testergebnisses dagegen für mechanisch und
deshalb verwerf hch halte; eben diese Kombination ist ja auch das unter-
scheidende Merkmal der „Hamburger" von der bisherigen „Berliner" Aus-
lesemethode.
Der Erfolg der GUederung in sieben Quahtätsklassen nach diesem Verfahren
war verhältnismäßig günstig; die weitere Erfahrung mit den Schülern zeigte,
daß nur wenige Irrtümer vorgekommen waren. Ostern 1918 wurde ähnhch
verfahren, nur daß diesmal zu den eigentlichen Tests auf Wunsch des Lehrer-
kollegiums Prüfungen des sprachUchen und des Rechenvermögens hinzukamen.
Begabungsprüfungen in Fachschulen 237
Ergebnis: „Die Gliederung hat sich auch dieses Jahr als erfolgreich heraus-
gestellt. Wesentliche Mängel bezw. Ungleichheiten innerhalb der Klassen sind
nicht hervorgetreten. Mit den besten Klassen konnte das vorgeschriebene
Pensum gründlicher und wissenschaftlicher durchgearbeitet werden als mit
den minderen Klassen,"
Besonders weit ausgebildet ist die psychologische Auslesemethodik bereits
bei der Neuaufnahme in die Lehrlingsschulen einiger technischen
Großbetriebe. BekanntHch haben solche Betriebe vAe z. B. die A. E. G.»
Ludwig Loewe, die Vulkanwerft in Hamburg bedeutende Schulveranstaltungen.
für den technischen Nachwuchs^); und da der Andrang zu den technischen
Lehrlingsschulen um ein Vielfaches die Zahl der Aufzunehmenden übertrifft,
stellte sich das Bedürfnis eines strengen Auf nähme Verfahrens ein. Wieder
wurde die Psychologie zu Hilfe gerufen; aber jetzt handelte es sich nich^
mehr um die allgemeine oder die sprachlich formulierte IntelUgenz, sondern
um die speziellen Teileigenschaften der technischen Begabung (zu denen
freilich auch eine „technische Intelligenz" gehört). In der Werkzeugmaschinen-
fabrik von Ludwig Loewe sind diese Methoden zur Auswahl des Nachwuchses
für hochwertige Facharbeiter (Maschinenbauer, Dreher, Werkzeugschlosser usw.)
gemeinsam von dem Leiter der Werkstättenschule, dem Ingenieur Stolzenberg,
und dem Psychologen Otto Lipmann ausgearbeitet und angewandt worden;
bisher liegt nur ein vorläufiger Bericht aus der Feder des Erstgenannten vor.
Geprüft woirden die folgenden Tätigkeiten, und zwar jede in einer Reihe
von Tests:
Schätzung von Raumgrößen (z. B. des Durchmessers eines Kreises, eines
Bolzens).
Augenmaß (z. B.: Strecken freihändig in 3 gleiche Teile teilen).
Feinheit desTastsinns (z. B. : Ordnen von Blechen nach ihrerDicke, von Schrau-
ben nach ihrer Gängigkeit).
Optisches Erkennen kleiner Fehler (z. B. Unebenheiten oder Abweichungen
von der Rechtwinkligkeit bei prismatischen Klötzen).
Konstruktive Raumphantasie (z. B.: Wie muß die Figur durch I j
einen Schnitt zerlegt werden, damit die Teile zum Quadrat j — — j
zusammengesetzt werden können? Ähnliches mit schwereren I '■
Aufgaben).
Optische Vorstellungsfähigkeit (z. B.: Wieviel Diagonalen hat ein Würfel?
ein Fünfeck?)
Erkennen und Unterscheiden von Einzelheiten (z.B.: 10 einander ähnliche
Blechstücke mit 3 charakteristisch gruppierten Löchern; welches Stück
entspricht einer vorgelegten Zeichnung?)
Verständnis für ein Getriebe mit mehrfacher Riemenübertragung (z. B. : Wie
muß sich Rad b drehen, wenn Rad a im Uhrzeigersinne gedreht wird?)
Sorgfalt des Arbeitens (z. B. : Ein Etikett genau auf die Mitte eines Deckels
kleben.)
Natürliche Intelligenz (Schloß mit 12 Schlüsseln; möglichst schnell den
richtigen finden. Der Intelligente scheidet von vornherein die unmöglichen
Schlüssel aus.)
Reaktionsschnelligkeit.
*) Nach Stolzenberg gibt es in Deutschland 70 solcher Werkschalen.
238 William Stern, Begabungsprüfungen in Fachschulen
Die Prüfungen, die für jeden Prüfling 1 1/2 Stunden dauern, sind bisher an
etwa 500 Jugendlichen angestellt worden. Die Ergebnisse werden als sehr
befriedigend bezeichnet; die Übereinstimmung zwischen dem Prüfungsausfall
und der inzwischen anderweitig festgestellten Berufseignung wird von Stolzen -
berg geradezu verblüffend genannt. Nähere Belege wird man abwarten müssen;
auch sind die Methoden im Einzelnen sicher noch verbesserungsbedürftig und
-fähig. Immerhin darf man jetzt wohl schon so viel sagen, daß die technische
Begabung wegen ihrer deutlichen Abgrenzung ein besonders aussichtsvolles
Gebiet der experimentellen Ausleseprüfung darstellt.
Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung
des Kindes.
Von Karl Bergmann.
CSchluß.)
Wortschöpfung.
Es handelt sich in diesem zweiten Hauptabschnitt um Wörter, die das
Kind selbständig prägte. Diese Neuschöpfungen teilen wir in zwei Gruppen ein.
1. Das Kind hört Wörter, versteht ihren Sinn und prägt nun nach dem
Muster dieser Ausdrücke seine eigenen Wendungen (Analogiebildungen).
Auffallend groß ist die Zahl der eine Steigerung ausdrückenden und auf
einem Vergleich beruhenden Zusammensetzungen. Der Knabe hörte die
Ausdrücke „riesengroß, mausetot, rabenschwarz", faßte die Wörter richtig
als Steigerungen von „groß, tot und schwarz" auf und bildet nun darnach
die folgenden Wendungen:
riesenblau (5/10) raauseglatt (7/4) , mausesatt (9/8)
riesenklein (6) mauserot (7/9) rabenhell (9/8)
riesendunkel (6) mausetrüb (9/2)
Eine so eigenartige Bildung wie rabenhell findet eine hübsche Parallele
in dem elsässischen kridefinster = sehr finster (gebildet nach kreideweiß =
sehr weiß).
Von weiteren Analogiebildungen erwähne ich:
nachhin kommt er (4/10) [gebildet nach vorhin]
zufünft (6/11) [nach zuerst] (d. h. als fünfter)
ungescheit (7/9) [nach den Eigenschaftswörtern mit un-]
ich bin überatmet (7/9) [nach überangestrengt?]
eisig warm (M. 7/10) [nach eisig kalt]
schlüssig (für fertig) (7/6) [nach fertig]
2. In allen diesen Fällen hat das Kind immerhin ein Vorbild, nach dem
es seine eigenen Wörter formen kann. Anders verhält es sich mit den
nachfolgenden Prägungen. Hier schafft das Kind viel freier, denn diese
Wörter lehnen sich nicht an irgendwelche Vorbilder an, nach denen sie
lautlich geformt werden, sondern sie entstehen ledigUch auf Grund der
Beobachtung, der Überlegung. Die Beobachtung kann nun zu folgenden
Arten der Namengebungen führen.
a) Die Namengebung erfolgt auf Grund eines Vergleiches, der sich auf
die Ähnlichkeit von Gestalt, Farbe, Bewegung, Zweck bezieht; das Kind
sieht z. B. ein längeres gedrucktes oder geschriebenes Wort, die einzelnen
Bergmann, Beiträge zur Untersuch, der sprachl. Entwickl. des Kindes 239
Buchstaben erscheinen ihm wie die Wagen eines Eisenbahnzuges aneinander
gereiht, und so ist dies längere Wort für das Kind eine Eisenbahn (M. 2/8; ;
weitere Beispiele dieser Art sind:
eine größere Menge von Leuten = dat (d. i. Soldaten) (2)
ein Pilz = ok (Stock) (2/1)
ein Geigenbogen == ok (Stock) (2/1)
ein Globus = ball (2/1)
ein Käfig = haus (2/1)
irgendeine Schrift = abd (2/2) (d. i. abc [vgl. 1. gl)
Hauch = rauch (4/3)
eine Briefmarke = pflästerchen (4/3)
ich bin in den Schmutz getreten = ich bin in den schwein getreten (5/6)
wir (die Kinder» sind durcheinander (nicht in Reih und Glied» gegangen = wir
sind krumpelig gegangen (M. 5/9) (vgl. auch: der Himmel ist krumpelig von
wölken [7/2])
da gibts eine Menge von Blumen, von Tannäpfeln = da wirbelts von blumen, von
tannäpfeln (8/10): zugrunde liegt ein Vergleich mit einer großen Zahl in der
Luft uraherschwirrender Kohlweißlinge, bei deren Anblick der Knabe ausrief:
da wirbelts von Schmetterlingen; als er am Abend des gleichen Tages auf der
Wiese viele Blumen und im Walde auf dem Boden viele Tannäpfel sah, rief
er wieder: da wirbelts von bl., von t.
ein grüner Lampenschirm = hadda (d. i. Blume) (l/ll)
zeichnen = d"eiba (schreiben) (2/5)
aufhören = bett (z. B. d^eiba bett «— der Papa soll mit dem Schreiben aufhören) (2/5)
b) Die Dinge werden nach auffallenden Eigenschaften benannt: Kasta-
nien = stacheln (?), Herd = hei[ß] (2/1).
c) Die Gegenstände werden nach dem Zweck benannt, dem sie dienen:
Bilder zum Ausschneiden sind lachbilder (M. 5/11), weil sie zum Lachen
dienen sollten; ein Güterzug ist ein kofferzug (M. 5/6), während ein Personen-
zug ein menschenzug (M. 5/6) ist; ein schönes Wort prägte das Mädchen im
einkehrhaus (M. 7/5) für Wirtshaus, „Restauration". Eine grüne Schreib-
unterlage ist ein grüner fleckenhalter (M. 5/10), „weil man doch auf ihr Tinten-
flecken mache".
Auch eine Anzahl von Personenbezeichnungen kann hier eingereiht
werden: Der Landsturmmann mit dem Gewehr, der die Kriegsgefangenen
bewacht, ist der stechermann (M. 5/6), der Baumeister ist ein bauermann (5/10),
der „Installateur", der die Lampen besorgt, ist der lichtmann (6/5); ein Ohren-
arzt ist ein ormacher (6/3). Neben diesen Berufsbezeichnungen seien noch
folgende Personenbenennungen erwähnt, wenn sie auch nicht völlig in diesen
Zusammenhang gehören: der Knabe, der bei einem bestimmten Spiel den
Schluß bildet, ist der Schlußmann (6/11); weil es beständig in das Schlaf-
zimmer geht, nennt sich das Mädchen selbst eine schlafzimmerin (M. 5/6),
und als der Knabe einmal schneidert und an einem Band näht, ist er ein
schneidherr (M. 5/10).
3. In den nachfolgenden Fällen sind die Bezeichnungen der Gegenstände
dem Kinde wohl bekannt, aber es schafft trotzdem neue Wörter, in denen
noch deutlicher der Zweck dieser Dinge im Gegensatz zu andern Dingen
ähnlicher Art zum Ausdruck gelangt: so erscheinen die Hosen als oberhosen
(6/7), der Vorhang ward zum obervorhang (M. 7/5) im Gegensatz zum sog.
Store; wenn der Rucksack als hintersack (4/5) bezeichnet wird, so braucht
die Benennung nicht aus dem Gegensatz heraus geschaffen zu sein, sondern
es wird lediglich die Angabe des Ortes vorhegen.
240 Karl Bergmann
4. Wie der Mann aus dem Volke unverständliche Wörter sich mundgerecht
zu machen sucht und die sog. „Volksetymologien" schafft, so begegnen wir
natürhch auch in der Kindersprache solchen Umdeutungen. Ein Zünd-
plätzchen wird zum zimmetplätzchen (M. 5/6), der Himbeersaft wird zum
himbeerfaß (M. 4/10 ?), allerdings kann auch nur eine Wortverdrehung hier
vorhegen; aus Badewanne wird badewand (M. 5/6), und die Ringelnatter wird
zur schhngelnatter (9/5). Eine hübsche Umdeutung ist apfelkose aus Aprikose
(5/11); der Städtename Gastein wird zu gastanien (7/9), der Personenname
Moritz zu morfritz (M. 3/9); Thermometer verwandelt sich in teometer (7/2),
wozu wohl der dem Kinde geläufige Name Theo beigetragen haben mag,
und aus der Telegraphenstange macht der Knabe zu einer Zeit, als er viel
vom Phonographen hört, eine phonographenstange (7/9).
5. Eine ergiebige Quelle für Neuschöpfungen bietet die Verschmelzung
zweier Wörter, bezw. Wortbestandteile:
fein -j- wunderschön = wunderfeinschön (5/2)
abkaufen -f verkaufen =. abverkaufen (5/2) (der Onkel muß mir etwas ab-
verkaufen)
ansehen + betrachten = anbetrachten (5/6)
Briefbogen -{- Papier = briefpabogen (6/8)
durchgehen + davonlaufen = durchlaufen (7/4) (das ist aber zum durchlaufen)
glattbahn (9/3) aus Glatteis + Eisbahn? überredet (6/11) (ich habe es schon
mit der Christel überredet) aus verabredet und überlegt?
6. In den von Dingwörtern abgeleiteten Zeitwörtern besitzt die
Sprache ein vortreffliches Mittel knappster und anschaulichster Ausdrucks-
weise; man vergleiche Flöte : flöten, Gabel : gabeln; Kugel : kugeln; Löffel :
löffeln; Tafel : tafeln; Wurm : wurmen usw. Außerordentlich reich an solchen
Bildungen sind die Mundarten, besonders die oberdeutschen; vgl. eis. köpfle =
kopfüber ins Wasser springen, lipple = saufen (v. d. Katze), straßen = auf
der Straße plaudern usw. Auch aus meinen Beobachtungen kann ich ein
Beispiel dieser Bildungsweise anführen: er baucht = er liegt auf dem Bauch
(M. 5/6; vgl. oben eis. köpfle).
7. Eine bemerkenswerte Übertragung der Sinneseindrücke hegt in
dem Satze vor: der Bub spricht so dunkel (6/6); hier wird die Bezeichnung
für einen Lichtgrad auf den Klang der Stimme übertragen. Vgl. schrift-
sprachlich „eine dunkle Stimme".
8. Bei den drei Beispielen dieses Abschnittes handelt es sich weniger um
Wortschöpfungen, mit deren Hilfe das Kind Gegenstände bezeichnet, als um
Ausrufe, die durch den Anblick bestimmter Dinge oder das Hören bestimmter
Töne bei dem Kinde ausgelöst werden. Wenn ich sie doch hier in diesem
Zusammenhang bringe, so geschieht dies deshalb, weil ich an ihnen zeigen
will, wie Wörter entstehen können. Nach Weihnachten gebrauchte der
Knabe beim Anblick des Christkindes (z. B. in seinem Bilderbuch) immer
das Wort hon (= Salon) (2/3); im Salon hatte nämlich der Christbaum
gestanden, an dessen Spitze ein „Christkindchen" befestigt war; der Anblick
des Christkindes erweckte die Erinnerung an den „Salon" (hon) mit seinem
Weihnachtsbaum. Noten riefen bei dem Knaben den Ausruf Schneemann
(2/2) hervor: sein Großvater hatte das Kinderliedchen „der Schneemann«
vertont, die Noten in das Bilderbuch neben das Bild des Schneemannes ein-
getragen und das Lied mit dem Kinde oft gesungen; Noten waren dann für
Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes 24-1
den Jungen einfach Schneemann. Als im Sommer das Eis gebracht wurde,
schellte der Eismann, und das Dienstmädchen holte mit dem Knaben das Eis am
Haustor; noch lange darnach brach der Knabe beim Schellen in den Ruf aus:
ei(s) (2/2). Wir sehen, wie ein Gegenstand oder ein Vorgang die Erinnerung an
irgend etwas, das mit ihm einst in Beziehung stand, e^v^^eckt und wie diese
Erinnerung dann auch sprachlich zum Ausdruck gelangt (Christkind : hon; No-
ten : Schneemann; schellen : ei[s]). Dieser Ausdruck kann unter Umständen,
wenn der Gegenstand bzw. der Vorgang fortwährend von den kindlichen Sinnen
aufgenommen wird und dadurch die Erinnerung an die Beziehungen auch fort-
während im kindlichen Bewußtsein auftaucht, sehr wohl zur stehenden Bezeich-
nung werden. Wir können uns sehr gut vorstellen, daß sich im Wortschatz des
Kindes die Benennungen hon, Schneemann, ei[s] für Christkindchen, Noten
und schellen festsetzen, mindestens so lange, als das Kind nicht die richtigen
Bezeichnungen von seiner Umgebung kennen lernt.
Grammatisches.
Ich beschränke mich in diesem Abschnitt auf die Darstellung des Zeitworts,
der Präposition, der Steigerung, der Satzbildung und der Verneinung:
1. Das Zeitwort.
a) Analogieformen:
ich sieh [nach du siehst usw.] (M. 3/6) du stohlst [nach gestohlen] (6 5)
diese sachen gillen nicht mehr [nach es sprich doch! (Aufforderung des Erwach-
gilt usw.] (M. 5/6) senen) Ich habe gesprichen (5) (Ant-
ich hab getu [nach tun usw.] (4/9) wort des Kindes)
das auto hat stillgehalten [nach er hält wer war denn da? (Frage des Erwach-
usw.] (4/5) senen) Wer soll denn da waren? (5)
ich hab abgereisst [nach abreissen] (4/5)' (Antwort des Kindes)
Die beiden letzten Beispiele zeigen, wie die Analogieformen unmittelbar
durch die vorangehenden Fragen hervorgerufen werden. Solche unmittelbare
Beeinflussung ist auch für den Satz: ich hab dich schon hingelegt (4/5) für
„ich habe mich schon hingelegt" anzunehmen, denn er erfolgte auf die
Aufforderung des Erwachsenen: leg dich doch hin! Auch der Ausruf: wie
freue ich dich (4/3) statt „wie freue ich mich" wird darauf zurückzuführen
sein, daß das Kind zwar genug Gelegenheit hat, von seiner Umgebung das
Reflexivpronomen in allen Personen zu hören, daß aber zunächst die 2. Person
Einzahl ganz besonderen Eindruck auf das Kind macht; denn diese hat in
oft gestellten Fragen und Aufforderungen wie z. B. freust du dich? leg dich
doch hin! Beziehung zu seinem eigenen Leben, wird daher eher von ihm
aufgefaßt und angewandt als die erste bzw. dritte Person.
b) In den zusammengesetzten Zeiten tritt zunäcÖst der Infinitiv an
die Stelle des Partizips der Vergangenheit:
bub hat heraufgehn (4) = der Bub ist heraufgegangen
bub hat tun (4) — = der Bub hat getan
bilde hat mitgehn (4) — Hilde ist mitgegangen
die bilde hat bub hauen (4) = der Bub hat die Hilde gehauen
ich habe nicht trinken (4) = ich hal>e nicht getrunken
bilde hat mit fritz mitgehn (M. 2/11) -= Hilde ist mit Fritz [mit]gegangen
Bald stellen sich jedoch die richtigen Bildungen mit ge- ein:
das auto hat stillgehalten (4/5) ich hab getu (4/9) ich hab geeten (4/9), ge-
ich hab abgereißt (4/5) sie hat hingefallen (?) essen (5/1)
Zeitschrift f. padagog. Psychologie. 16
242 Karl Bergmann
c) Als Hilfszeitv/ort für die zusammengesetzten Zeiten wird haben statt
sein gebraucht in den folgenden Fällen:
bub hat heraufgehn (4)
bilde hat mitgehn (4)
sie hat hingefallen (4)
2. Die Präposition.
Als das Kind anfing, in seinen Sätzen Präpositionen zu verwenden (vgl.
unten 4: Satzbildung), stößt die Wahl der richtigen Präposition zunächst auf
Schwierigkeiten; eine Lieblingspräposition ist „in", die unterschiedslos für „auf
und „unter" gebraucht wird:
in den markt gehn (4) n das bett stellen (4) = unter das Bett
das Schaukelpferd in die erde tun (4) ler onkel sitzt in erde (M. 2/11)
3. Die Steigerung.
Das Kind steigert regelmäßig: ich hab es im gernsten (6/5), guter (4/5), ich habe gutere
äugen wie der papa (M. 5/6). Der Komparativ von groß wird gebildet als: mehr groß (4),
höher groß (4) (ich will noch höher groß sein). Wie der Erwachsene für das jetzt ganz
abgeblaßte „sehr" gerne zu stärkeren Ausdrücken greift, so findet auch das Kind häufig
ein treffliches Mittel, einen besonderen Stärkegrad anschaulich zu bezeichnen. Da ist nicht
allein der Teller hochvoll (6/9), sondern der papa ist in himmi groß (4), d. h. bis in den
Himmel groß, und auf die Frage „wie lieb hast du mich denn?" erfolgt nicht etwa die
farblose Antwort: „sehr lieb" oder „so lieb" (unter entsprechenden Armbewegungen),
sondern das überraschende bis nach Rußland (M. 4/10); das Mädchen hat offenbar einmal
von Rußland (die Antwort erfolgte im Kriegsjahr 1915) als einem unermeßlich großen Land
gehört, und so wird Rußland für das Kind geradezu zu einem Gradmesser. Auch Dingwörter
werden gesteigert: ist das viel radauer? (6/3?) (d. h. macht das noch mehr Lärm; radau
wird von dem Kind adjektivisch = laut, lärmend aufgefaßt) und: es wird immer nächter
(9/3) (d. h. es wird immer dunkler; nächler Komparativ von nacht). Eine Verschmelzung
von Komparativ und Superlativ zeigt die Wendung: ich hab den völlsteren teller (6/4).
4. Die Satzbildung,
1. ak (d. i. Schnake) (1/10): mit diesem Wort fcfrdert mich der Knabe unter den ent-
sprechenden Schlagbewegungen zum Schnakenfangen auf.
2. baba dada auto (1/10) = Papa soll mit mir fortgehen und Auto (d.i. elektrische Bahn,
fahren; beim Aussprechen des Satzes deutet der Knabe auf meinen Hut und Stock.
3. danne hei (2/1) = die Kanne ist heiß.
4. butt obaba heiaheia (2/2) — das ist kaputt, der Großpapa soUs heilen.
5. dida gang (2/3) = die Christel wäscht den Gang auf.
6. dida gang (2/5) = die Christel ist auf dem Gang.
7. baba "äde (2/5) = Papa soll lesen.
8. baba "äde (2/7) = Papa liest.
9. wäg hin neue bilderbuch (2/5) = das Bilderbuch soll weggelegt werden, und zwar auf
den Platz, wo es gelegen hat (er deutet auf den betr. Platz); er will dann das neue, d. i.
ein anderes Bildeibuch haben.
10. mama dommi dobi (2/5) ^ die Mama soll zum Bubi kommen,
11. d"eiba bett (2/5) = der Papa soll mit dem Schreiben aufhören.
12. buch haba (2/5) = ich will das Buch haben.
13. baba an (2/5) = der Papa soll sich anziehen.
14. baba au (2/5) = der Papa soll sich ausziehen.
15. baba nein an (2/7) = der Papa soll sich nicht anziehen,
16. nein hihi bad bub bad (2/7) = Hilde soll nicht baden, der bub wiU baden.
17. guguk mei dimmi (2/7) = wir wollen Guckguck in deinem Zimmer spielen (wegen mei
dimrai == dein Zimmer vgl. weiter unten: Verschiedenes 1).
18. wida dun (2/7) = ich will es nicht wieder tun.
19. baba essen kommen (4) = Papa, du sollst zum Essen kommen.
20. baba kann bub auch hauen (4) = der Bub kann den Papa auch hauen.
Beiträge zur Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes 243
21. die bilde hat bub hauen (4) = der Bub hat die Hilde gehauen.
22. mama mach doch der Laden auf (4) = Mama, mach doch den Laden auf.
23. kann bub der baba brauchen? (4/3) = kann der Papa den Bub brauchen?
24. bub will doch sehen wasser abläuft (4/3) = der Bub will doch sehen, ob das Wasser
abläuft.
25. will mal sehen regnet (M. 31 = ich will mal sehen, ob es regnet.
26. das kann ich vorbeipflücken (4/5) = das kann ich im Vorbeigehen pflücken.
Was die Satzbildung, anlangt, so konnte ich vor dem Ende des 2. Lebens-
jahres keine Äußerungen feststellen, die den Namen eines Satzes in gramma-
tischem Sinne verdienten. Beispiel 1 stellt einen sogenannten „Einwortsatz"
dar, während alle übrigen Beispiele aus mehreren Wörtern bestehen. Im
dritten Lebensjahr iiberwiegen die Zweiwortsätze. Im einzelnen sind folgende
Feststellungen zu machen, die sich auch mit den Mitteilungen anderer Beob-
achter decken. Das Zeitwort macht die größten Schwierigkeiten; in \'ielen
Fällen fällt es ganz weg (vgl. 1, 3, 5, 6, 9, 13, 14, 15, 16, 17), und die
Sätze beschränken sich auf Substantiv, Adjektiv, Adverb und besitzanzeigendes
Fürwort. Wird ein Zeitwort gebraucht, so geschieht dies in den drei ersten
Lebensjahren nur in der Infinitivform (vgl. 7, 8, 10, 12, 18); die Imperati-
vische Bedeutung des Infinitivs erhellt aus Beispiel 7, 10 und 19. Erst Bis
das Kind vier Jahre alt ist, kann die Verwendung der Gegenwart, des Perfekts
und des Imperativs beobachtet werden, wobei aber für das Partizipium immer
noch der Infinitiv eintritt (s. 21 und oben Ib, wobei allerdings das
Beispiel bilde hat mit fritz mitgehn (M. 2 11) schon in das Ende des dritten
Lebensjahres des Mädchens fällt). Beachtenswert sind die Satzpaare 5/6 und
7/8 mit ihrer verschiedenen Bedeutung. Auch der Artikel tritt erst spät auf
(vgl. 21, 22, 23, aber wieder 20, 24). Die Beispiele 20 — 23 zeigen eine
entwickeltere Satzbildung, lassen aber noch die Fähigkeit vermissen, durch
die Stellung den Nominativ und Akkusativ klar auseinanderzuhalten, so daß,
da auch der Artikel fehlt, die Sätze zweideutig werden (s. 20, 21); als der
Artikel auftritt, wird der Nominativ für den Akkusativ gesetzt (22). Die
Sätze 24 und 25 sind die ersten Beispiele eines aus Haupt- und Nebensatz
bestehenden Satzgefüges, jedoch fällt die den Nebensatz einleitende Konjunk-
tion aus. Eine eigenartige Zusammenziehung haben wir in Satz 26, für den
auch das Auftreten des persönlichen Fürv^^orts „ich" erwähnenswert ist.
5. Die Verneinung.
Die Beispiele 15 und 16 des vorigen Abschnitts zeigen die Verwendung
von nein als Verneinungswort für „nicht" (2 7). Aus späteren Lebensjahren
führe ich folgende Beispiele für die Verneinung an:
warum gibts immer nicht samstags kuchen? (4/3) = w. g. nimmer (d. h. niemals) S. K. ?
immer bringt die Christel ihren teller nicht (4/5) =• die Chr. br. nimmer (d. h. niemals) L T.
der mann geht zu nirgends jemand (6/11) = der Mann geht zu niemand,
heut macht kein papa keinen laden auf (4 5) = heut macht der Papa keinen Laden auf.
Die drei ersten Beispiele zeigen die Neigung des Kindes, an Stelle der
zusammengezogenen schriftsprachlichen Verneinungen die einzelnen Bestand-
teile, den bejahenden und den verneinenden, auseinander zu halten. Mit dem
kindUchen immer nicht ist nimmer = ahd. ni + eo mer zu vergleichen, und
neben nirgends jemand ist niemand = ahd. nie -h eoman zu stellen. Der
letzte Satz zeigt doppelte Verneinung.
16*
244 Bergmann, Beiträge zur Untersuch, der sprachl. Entwickl. des Kindes
Verschiedenes.
1. In dem Satze guguk mei dimmi = wir wollen G. in meinem Zimmer
spielen meint der Knabe mit mei dimmi nicht etwa sein eigenes Zimmer,
sondern „Papas Zimmer". Wenn das Kind mich aufforderte, in meinem Zimmer
mit ihm Guckguck zu spielen, so hätte er also richtig sagen müssen: guguk dei
dimmi. Der Ausdruck mei dimmi kam daher, daß ich oft sagte: wir wollen
in meinem Zimmer G. spielen, und diese Absicht dann» auch immer ausführte.
So wurde für das Kind mei dimmi gleichbedeutend mit „Papas Zimmer".
Das Versprechen: ich will es nicht wieder tun kleidet der Knabe in die
Worte wida dun. Diese eigentümliche Wendung kommt daher, daß er oft
die Ermahnung hörte: das darfst du nicht wieder tun; er empfindet wohl,
daß dies eine Formel ist, die ihm etwas verbietet, und wendet sie nun auch
seinerseits als Versprechen, etwas nicht wieder zu tun, an. Faßt er so diese
Worte ihrer gesamten Bedeutung nach auch richtig auf, so ist er doch noch
nicht imstande, den Sinn der Einzelworte zu erfassen, und er beschränkt sich
auf die Wiedergabe der ihm besonders ins Ohr fallenden zwei letzten Wörter
(vgl. Lautgestaltung 2 b).
Beide Beispiele beweisen, wie eine Wendung ihrer Gesamtbedeutung nach
schon verstanden werden kann, ohne daß die Bedeutung der die Wendung
bildenden Einzelworte klar ist.
2. Einzelne Redensarten legen unwillkürlich den Vergleich mit fremden
Sprachen nahe; ich führe folgende an:
das ist mehr groß (4) [vgl. frz. plus grand].
ich will mal sehen, wer strenger ist (6/U), d. h. wer stärker ist [vgl. engl, stronger].
mal doch all der ofen (M. 5/2), d, h. den ganzen Ofen [vgl. engl, all the . . .].
das kostet teuer (M. 6/2) [vgl. frz. cela coüte eher].
großmama geht zu sich (M. 7), d. h. . . . geht nach Hause [vgl. frz. . . . va chez eile].
3. Beispiele für Pleonasmen:
ich habe bloß nur zwei (5/2).
kapellekirche (6/8).
bilde trinkt (?) das wasser ganz all (M. 3).
4. Welch eigentümliche Vorstellungen das Kind mit gewissen Wörtern
verbindet, mögen folgende Beispiele zeigen:
Hilde (der Name des Mädchens) fragt, wo ihr Bruder wäre; man sagt ihr, er sei bei der
Großmutter „eingeladen"; da fängt sie laut zu weinen an. Endlich stellt sich die Ursache
des Schmerzes heraus; sie fragt nämlich, ob nicht wieder die Läden aufgemacht würden;
sie hat offenbar „einladen" als „die Läden zumachen" aufgefaßt, und glaubte nun, ihr
Bruder müsse lange im Dunkeln sitzen (3/6).
Hilde hört, daß das Evchen verreist ist; sie fragt: da geht sie doch nicht kaputt? (3/6).
Hilde hört viel vom 18. Oktober und der Leipziger Schlacht sprechen (Erinnerungsfeier
1913): sie fragt dann mehrmals: schlacht ich heut leib? (3/6).
Als vom Totenfest gesprochen wird, fragt der Knabe, ob da die Leute tot gemacht
werden (5/1).
R. Prantl, Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 2'4ö
Die Untersuchung der Suggestibilität
mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs.
Von Rudolf Prantl.
Inhalt.
I. Das Hauptproblem 245
a) Binets Versuchsanordnung 245
b) Abänderungen beim Nachversuch 247
II. DerNachversuch 248
a) Reizlinienbereich 248
1. Die erste Spalte 248
2. Die zweite bis fünfte Spalte 251
b) Fallenbereich 254
c) Suggestibilitätskoeffizient-en 257
1. Herleitungen 257
2. Ihre Beziehungen zueinander 258
3. Ihre Beziehungen zur Anzahl der vermiedenen Fallen . . 263
d) Richtung und Schnelligkeit der Suggestionswelle. Das Problem
der vor- und rückläufigen Bewegung 266
e) Normalform des Binetschen Versuches . 238
f) Maß der Ablenkung des (ersten) Leitgedankens 269
III. Der Gegenversuch 270
a) Versuchsanordnung 270
b) Reizlinienbereich 271
c) Fallenbereich 274
d) Suggestibilitätskoeffizienten 274
IV. Übersicht, Ergebnisse, Probleme 277
I. Das Problem.
a) Binets Versuchsanordnung.
Binet stellte sich in seiner Arbeit „La suggestibilite" (Paris 1900) die Auf-
gabe, die Suggestibilität einer Person zu bestimmen, ohne von der Hypnose
Gebrauch zu machen. In der richtigen Erkenntnis, daß der Erfolg bei Täu-
schungsversuchen zum Hauptteil von der Suggestionskraft des Experimen-
tierenden abhängt, mithin bei derartigen Experimenten eigenthch mehr diese
Ej-aft als die Suggestibilität der Vp. untersucht wird, fahndete er nach Me-
thoden, die den Einfluß des Experimentators möglichst ausschheßen. Die
Suggestion sollte zu einer „unpersönhchen" oder besser „entpersönlichten"
(depersonnalisee, S. 87) werden, nur mehr aus der Art des eigentlichen
Versuchsstoffes herausquellen. Dies erreicht man im allgemeinen dadurch,
daß man die Vp. eine Aufgabe ausführen heißt, die dazu angetan ist, dem
Individuum einen Leitgedanken (une idee directrice, S. 86) aufzudrängen,
der als Autosuggestion die Reaktionen auf die Versuchsmaßnahmen beein-
flußt. Zeigt man etwa einer Vp. nacheinander und getrennt mehrere Linien
von wachsender Länge, so entsteht bei einiger Aufmerksamkeit (die als selbst-
verständlich vorausgesetzt werden darf) der Leitgedanke: „Die Linien werden
immer größer", der die Vp. verleiten kann, in der nächsten noch gar nicht
gesehenen Linie eine größere als die eben gesehene zu vermuten. Hierauf
baute Binet zwei Methoden, wovon die erste in dieser Abhandlung genauer
betrachtet werden soll. Er benützte Linien, die eine arithmetische Reihe bil-
den, deren Differenzen also konstant und zwar 12 mm sind.
246 Rudolf Pranti
Zuerst hatte er vor, einer geometrischen Reihe sieh zu bedienen, so daß die
Längen in konstantem Verhältnis zueinander gestanden wären, wonach ge-
mäß dem WeberBchen Gesetze auch die Schätzungsschwierigkeit die gleiche
geblieben wäre. Aber er stand aus dem Grunde hiervon ab, weil eine geo-
metrische Reihe doch bedeutend mächtiger anwächst und, falls das An-
wachsen unterbrochen wird, diese Unterbrechung viel zu sehr auffallen mußte,
was nicht im Interesse des Versuches lag. Der Kniff beruht nämhch darin,
daß nach einer Folge von 5 Linien (12, 24, 36, 48, 60 mm) mit viermahgem
Anwachsen (um je 12 mm) plötzlich eine Falle auftritt, indem die 6. Linie
der 5. gleich ist. In diesem Augenblick steht die Vp. unter der Einwirkung
zweier seelischen Strömungen. Die eine drängt, falls die Falle erkannt
wurde, auf Konstatierung deren Anwesenheit, die andere verleitet in dem
empirischen Bewußtwerden des Wachstums aller bisherigen Linien zu dem
Irrtum, es fände auch diesmal ein Anwachsen statt, ein Irrtum, der durch
die Größe der nächsten tatsächlich wieder anwachsenden Linie bekräftigt
wird, so daß als Linie 8 wieder eine Falle eingesetzt werden kann usw., wie
Tafel 1 angibt.
Tafel 1.
Linienfolge
Länge
Linienfolge
Länge
1
12 mm
7
72 mm
2
24 „
Falle 8
72 „
3
36 „
9
84 „
4
48 „
Falle 10
84 „
6
60 „
11
93 „
Falle 6
60 ,.
Falle 12
96 „
Natürlich darf die Vp. nicht wissen, daß man mit ihr Suggestionsversuche
anstellt. Deswegen gibt man ihr ein ungenaues, indifferentes Ziel, vielleicht
die Mitteilung, daß es sich um die Prüfung des Schätzungsvermögens handle
oder um die Untersuchung, mit welcher Genauigkeit gezeigte Linien nach-
gezeichnet werden u. dergl. Die Modellinien selbst zog Binet mit Tinte 1 mm
dick auf einem langen weißen Papierbogen parallel unter einander in Ab-
ständen von 2 cm, mit Zwischenräumen also, die genügten, um eine Linie
für sich zu zeigen, während die anderen verdeckt waren. Das 14 cm breite
Papier wurde platt auf den Tisch gelegt, derart, daß die Vp. es in einer Ent-
fernung von 50 cm horizontal sah. Um jeweils eine Linie freizugeben, legte
Binet auf den beschriebenen Modellbogen zwei undurchsichtige Papierblätter
mit einer als Spalte dienenden Entfernung, die dann nur verschoben werden
mußten, um eine Linie nach der anderen unter Verhüllung der nachfolgenden
und vorausgegangenen zu zeigen. Nach Besichtigung der betreffenden Linie
ward dieselbe sofort zugedeckt und wurde nicht mehr gezeigt, damit eine
nachträgliche Kontrolle und Korrektur ausgeschlossen war, worauf übrigens
die Vp. zuvor aufmerksam gemacht worden war. Nach der Reproduktion
der Linie wurde die neue enthüllt und zwar erst jetzt, um anzudeuten, daß
eine neue Linie darankäme. Von einer Darbietung zur nächsten sollten
etwa durchschnittlich 7 Sek. verfließen, weswegen zu langsame Vpn. ermun-
tert, zu schnelle etwas zurückgehalten wurden. Während aller Versuche
richtete Binet an die Vp. einige Plauderworte indifferenten Inhalts, etwa: „Nun
kommt die 3. Linie, jetzt die nächste", um die Aufmerksamkeit wach zu halten»
Zur Reproduktion der Linien stand der Vp. Quadratpapier zur Verfügung,
also Papier mit aufgedruckten, graublauen, aufeinander senkrecht stehenden
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 247
Linien in Entfernungen von 4 mm. Die Bogen maßen 20 cm zu 15 cm;
beim 1. cm am linlcen Rand war ein Punkt mit Tinte angemerkt, von dem
aus die gezeigte Linie dargestellt werden sollte. Hierzu war nicht die ganze
Linie auszuziehen, sondern nur deren anderes (rechtes) Ende diu-ch einen
weiteren Punkt oder kurzen Strich anzudeuten. Es war also der linke An-
fang und die Richtung der Linie schon gegeben, vorgeschrieben, das rechte
Ende gesucht. Alle Linien sollten von der angegebenen Marke an reprodu-
ziert werden, was in der Ausführung nur darauf hinaushef, daß vom ersten
(gegebenen) Punkte an weiterhin in Abständen von 12 mm je ein Punkt ab-
zusetzen war, mit Ausnahme bei den Fallen, wobei je zwei Punkte zusam-
menfielen. Damit sollte die Aufmerksamkeit mehr auf die Differenzen, als
auf die absoluten Längen der Linien gelenkt werden. Das Ausziehen der
Linien hingegen würde zu viel Kraft für Genauigkeit absorbieren und damit
die Suggestionswirkung schwächen.
Binet führte den Versuch an 45 Schülern einer Pariser Schule im Alter
von 7 bis 14 Jahren aus. Alle Ergebnisse ohne Ausnahme wurden in einer
Tafel vereinigt, worin in Milhm. die Länge angegeben wurde, welche jeder
Schüler der ersten Linie gab und die Differenzen aller folgenden Linien.
NiL . . z. B, (s. Tafel 2) zeichnete die erste Linie 16 mm lang (anstatt 12 mm);
die Differenz zwischen erster und zweiter Linie zeichnete er 8 mm (anstatt
12 mm); damit war also die 2. Linie im ganzen (16 -f- 8 ==) 24 mm ge-
zeichnet usw. Wurde aber eine folgende Linie kürzer als die vorausge-
gangene angegeben, so wurde die Differenz durch das Negativzeichen —
charakterisiert.
b) Abänderungen beim Nachversuch.
Nach der Lektüre des Binet'schen Versuchs hatte ich ledighch den Wunsch,
ihn nachzuprüfen und außer diesem Nach versuch noch einen Gegenver-
such durchzuführen, bei dem der Leitgedanke eine stete Verkürzung der
Linien bilden sollte, wonach nach meiner Ansicht ein Spiegelbild des Origi-
nalversuches entstehen mußte. Weiteres hierüber später.
Für den Nach versuch zog ich die Linien von Tafel 1 nicht auf einen
Bogen, sondern nahm für jede Linie ein Blatt von 17 cm : 5 cm, worin ich
dieselbe parallel zur Längsseite in die Mitte zeichnete. Alle Blätter band
ich in ein Büchelchen zusammen. Dasselbe enthielt außer den Blättern für
den Nach- und Gegenversuch noch deren 4 mit je einer Linie von der
Länge 72, 36, 96, 60 mm, weil ich wissen wollte, wie genannte Linien
außerhalb des Versuches ohne Suggestion gezeichnet würden. Ich band,
wie gesagt, die Blätter in ein Heftchen zusammen, in dem ich nm- immer
umzublättern brauchte, wenn die vorausgegangene Linie gezeichnet war;
selbstredend war auch für die Fallenlinie je ein eigenes Blatt vorhanden.
Ich glaube, daß das Umblättern nicht nur bequemer ist, als das Verschieben
eines Doppelbogens, sondern auch markanter als dieses andeutet, daß eine
neue Linie zu zeichnen ist und so eine Irrung weniger wahrscheinlich sich
einschleicht. Um im letzteren Punkte ganz sicher zu sein, numerierte ich
die Blätter (Nr. 1 bis 12) und ließ über jeden von den Kindern markierten
Punkt die Nummer des betreffenden Blattes zeichnen, worin, was wir nicht
verkennen wollen, eine Bekräftigung des Leitgedankens vom Anwachsen
der Linien liegen mag. Außerdem wich ich insofern von Binets Vwsuchs-
248
Rudolf Prantl
anordnung ab, als ich nicht auf quadriertes Papier reproduzieren ließ, son-
dern lediglich auf einfach liniertes. Einen nennenswerten Grund habe ich
hierfür nicht anzugeben; ich hielt diese Vereinfachung zwar nicht in der
Ausführung für bequemer, weil man doch mehr messen muß als beim qua-
drierten Papier, wohl aber der Versuchsidee mehr entsprechend. Mithin
mußte eine korrekte Reproduktion aller Linien') so ausfallen:
Fig.l
Die Vpn. bildeten Kinder des Würzburger Waisenhauses, dessen Leitung
ich für das freundliche Entgegenkommen zu großem Dank verpflichtet bin.
Die Kinder (26 Knaben und 24 Mädchen) erstrecken sich dem Alter nach
auf das 10. bis 16. Lebensjahr. Die 50 Ergebnisse vereinigte ich in einer
Tafel (3) ganz im Sinne Binets.
IL Der Nachversuch.
a) Reizlinienbereich.
1. Die erste Spalte.
Um Beleg und Vergleich zu gewinnen, sei außer der Ergebnistafel meines
Versuches auch die gekürzte Originaltafel Binets mit aufgeführt:
Tafel 2.
Noras
des
«
11
Difference entre les iignes
ao ai
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"2
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„ „7 et 8 _ . fletlO
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B
'S
let2
2 et 3
3 et 4 4 et 6
Pifege
6 et 7
Pifege
Set 9
Piöge
lOetll
Pifege
3^
2:
1. Nil . .
16
8
12
12 1 12
8
12
—12
16
4
12
4
124
7,6
1
11. Saga .
16
8
8
12 8
8
8
. 4
8
4
8
4
146
62
0
21. Pou .
12
4
16
12
12
12
8
8
16
8
8
8
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81
0
31. Obr .
16
8
8
12
12
12
12
12
8
8
8
8
209
90
0
41. Tizi .
>
>
>
> 8
12
8
8
8
8
8
8
210
112
0
Moyennes
13,6
8,68
8,8
9,7
9,2
7,5
8
5,1
7,8
6
7,1
6
Darnach wurde, wie das Mittel der ersten Spalte zeigt, die Linie von 12 mm
im Durchschnitt bei Binet 13,.6, bei mir 13,2 mm lang gezeichnet, wurde
also hier wie dort etwas überschätzt bzw. überzeichnet. Daß aber die Werte
nur nach außen hin genügend übereinstimmen, erkennt man, wenn man
die reproduzierten Längen in einer Häufigkeitstafel niederlegt. Um einen
gemeinsamen Maßstab zu gewinnen (Binet hatte 45, ich 50 Kinder für den
Versuch), war die jeweilige Variantenanzahl in Prozente umzurechnen. An-
') Die Figuren sind auf 'j^ Größe verkleinert wiedergegeben.
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallen Versuchs 249
Tafel 3.
Namen
der
Schüler
Differenz der Linien
1il2 j 2u3 3a.4
. _ i5 U.6 „ _ 7 U.8
4tL5 ipaUe 6"' Falle ^^-^
i3 ijS i*
S »; S «;! _
S il S HC
9U.10,. ..llu.l^ll jl| lll
Falle ^O"-» FaUr'^ i« i!>
±
1. Franz .
2. Georg .
3. Kathinka
4. Gertrud
5. Hermann
6. Fritz .
7. Hans .
8. Alfred .
9. Karl .
10. Heinrich
11. Johann
12. Otto .
13. Valentin
14. Richard
15. Hermann
16. Max .
17. Alfred 2
18. Rudolf
19. Werner
20. Max 2 .
21. Hilmar
22. Ernst .
23. Konrad
24. Theresia
25.Berta .
26. Blanka
27. Rosa .
28. Gretchen
29. Anna .
30. Rosa .
31. Elisabeth
32 Margarete
33. Klara . .
34. Emma . .
35. Maria . .
36. Gretchen 2
37. Barbara
38. Josepha
39. Therese
40. Elisabeth 2<
41. Franziska
42. Regina
43. Katharina
44. Lonie
45. Luise
46. Richard 2
47. Franz 2
48. Hugo .
49. Adolf .
50. Johann 2
Mittel .
17
15
11
17
11
12
7
11
13
11
II
12
9
18
11
12
10
26
16
II
10
12
14
15
14
22
8
12
28
13
13
10
11
9
15
10
10
12
16
10
13
12
12
14
15
14
19
13
11
12
22
10
13
6
11
14
18
4
11
14
17
15
20
7
10
—3
3
26
13
17
12
17
15
9
12
9
10
8
29
15
9
12
14
17
17
11
10
11
19
10
16
14
12
11
7
14
8
15
13
15
27
7
11
21
17
14
10
19
9
13
29
10
26
7
10
30
25
30
18
12
10
12
17
7
14
16
12
15
29
13
19
11
13
22
13
14
8
20
21
17
13
16
10
16
15
18
21
15
14
11
14
15
10
18
21
14
11
20
20
16
54
11
30
21
12
11
10
35
10
17
21
15
17
16
15
10
15
15
29
16
23
10
19
17
14
17
10
14
16
23
14
18
10
13
15
12
10
13
10
18
15
18
10
14
20
13
25
6
13
15
15
9
14
7
15
7
16
20
8
14
4
12
14
10
8
9
10
13
30
13
16
16
17
21
16
14
14
14
21
20
14
20
12
17
11
12
22
13
11
15
13
0
10
0
13
12
29
9
12
14
19
8
15
7
0
0
7
30
8
8
2
12
10
7
—4
0
'7
15
29
0
-11
5
0
0
5
12
.9
14
12
12
15
25
0
14
—4
6
3
17
6
11
9
10
7
0
16
12
21
8
8
11
21
12
30
18
13
15
3
18
13
16
2
12
4
21
15
9
10
15
35
16
20
7
12
15
16
8
9
7
10
14
0
27
12
8
12
7
11
13
7
4
16
0
8
0
—22
12
7
4
0
0
8
9
28
9
0
6
6
18
5
18
7
9
6
0
—3
0
12
17
35
0
5
15
0
0
—8
6
7
8
10
13
-15
27
0
8
7
4
3
16
7
0
4
2
9
10
14
12
—13
5
8
0
22
9
37
7
15
8
6
34
4
. 9
5
14
9
8
7
8
14
14
37
0
—2
7
12
14
0
7
7
11
12
10
15
18
10
8
IG
4
7
13
8
7
12
8
0
13
10
10
11
24
—8
8
12
13
13
5
5
5
5
0
0
9
16
11
12
8
35
-35*
14
11
0
}9
5
0
6
5
20
19
3
9
11
17
5
6
5
6
8
5
11
11
3
14
0
8
13
13
12
10
36
33
0
0
—8
13
4
6
8
9
0
0
8
19
8
8
7
8
8
9
11
13
12
14
16
9
13
19
9
10
6
5
4
17
4
4
7
20
16
14
5
8
0
9
12
0
11
13
8
11
6
5
16
0
101
7
26
18
0
4
.14
12
10
9
7
8
13
0
3
0
13
10
32
0
—3
0
0
10
0
9
11
9
12
18
5
18
0
9
2
3
16
15
8
6
177!
U4ii
104|
1181
138
lll
169
113
104
122
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103
^31
82|
108
88
Hl
249
133
112
98
143
107
96
98
113
119
139
r202}
113
117
95
114
134
105
132
100
135
157
120
147
178
92
149
97
97
130
123
116
134
132(10
0iJ4
0
2
161 2
lOi
I3420||l2,7
,781 15,94 16,58|14,38i 8,86:12,58 6.5fi lO.OO' 8.26 10,35 8.49
94
145
96
114
40
83
95
96
112
0
50
110 0
8$
76
82
124
77
116|
36
—2
0
96
104
98
0
1-36
67
16
20
10
95
89
95
80
95
9
21
9
181
121
0
0
0
0
0
0
2
2
4
0
0
0
4
3
4
3
3
2
0
0
0
0
0
1
0
3
0
1
0
0
0
76jio
49! 2
250
Rudolf Prantl
Tafel 4.
B.l'^'lo
4
53|
4
4
34
4
(^-97^-)
l Fälle
1
24
1
1
16
1
1
1 t 1
mm
7 8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
2l|22
23
24|25|26|27
28
( Fälle
1 1
2
6 1 9
9
5
4 ! 4
2
2
1
1
h
1 1 1
1
■ 1 in "/o
2
2
4
12
18
18
10
8
8
4
4
2
2
2
(^
— 100) 2
2
statt 12 mm z. B. wurde bei mir (P.) in 6 Fällen nur 10 mm gezeichnet,
das ist in {^'^-=) 12 o/o, bei Binet (B.) nur in 1 Falle, daß ist in (l-^^^
2
2 — o^Q. Bei einem Schüler (Nr. 41, Fini . .) hat B. aus einem unbekannten
Grunde die ersten vier Spalten nicht ausgefüllt, so daß in Tafel 4 der Wert fehlt
(2 \ 7
100 — 2g^=J 97 g^
beträgt. Aus der graphischen Darstellung der Tafel 4 in Figur 2 erhellt
sofort eine einschneidende Verschiedenheit des Binet'schen und meines Li-
nienzuges. Mein Versuch (ausgezogener Linienzug) läßt auch ohne Abrun-
dung durch irgendein Verfahren die Gauß'sche Fehlerkurve unschwer er-
kennen, was in jedem Falle, wie dem vorliegenden von vornherein erwartet
werden muß. Das Dichtigkeitsmittel liegt über 11 und 12; die Streuung be-
trägt (28 — 6 =) 22 mm. Beim Binet'schen Linienzug (punktiert) kann man
eigentlich von keinem
f^ Modus sprechen, wir
sehen vielmehr zwei hohe
Gipfel über 12 und 16,
zwei niedrige über 10
und 20. Das kommt zwei-
fellos davon her, daß
Binet quadriertes Papier
benützte. Die größte
Häufigkeit von 53 o/o fällt
auf 12 mm. Die Kinder
überschätzen zwar auch
bei Binet (wie wir schon hörten) ein wenig die Linie von 12 auf 13,6 mm;
aber da ganz nahe davon auf dem Papier das Ende eines Quadrates sich
befand, so dachten die Kinder blitzartig: „Gewiß ist dieser Punkt gemeint»"
Kinder sind ja von verschiedenerlei her gewöhnt, daß an sie gestellte Auf-
gaben „aufgehen", z. B. Rechenaufgaben. Die Tendenz der „Abrundung"
ist Allgemeingut der Menschheit. Immerhin standen die Binet'schen Ver-
suchskinder vor einem kleinen herkulischen Scheideweg"; denn außer dem
Ende des Quadrats (12 mm) lockte auch noch das Ende des nächsten
(von 16 mm) an. Mit der Neigung zum Überschätzen verband sich die Auto-
suggestion des nächsten Linienschnittpunktes, und so fielen 35 — o/o auf 16 mm.
Selbst der übernächste Linienschnittpunkt (von 20 mm) zog noch einen Treffer
(2 Q^ 0/0) an sich, obwohl zwischen 16 und 20 kein einziger liegt. • Endlich,
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 251
glaube ich, war auch das Quadratende vor 12 mm nicht ohne Einfluß; denn
der eine Fall von 10 mm liegt genau zwischen 8 und 12 mm. Ebenso
verteilen sich die zwei Varianten zwischen 12 und 16 ganz symmetrisch zu
12 und 16 mm. ^
Aus der Rastrierung des Binet'schen Quadratpapieres läßt sich der "punk-
tierte Linienzug restlos erklären. Die Linienschnittpunkte 12, 16, 20, 8 mm
wirkten offensichtlich als vier Magnete in einer mit zunehmender Entfernung
abnehmenden Stärke. Daher beträgt die Streuung nur (20 — 10 =) 10 mm.
Binet griff nicht ohne Gründe zu quadriertem Papier. Es bietet dasselbe,
wie er (S. 90) sagt, ein bequemes Mittel zur Abschätzung der nachgezeich-
neten Linienlängen und ihrer Unterschiede, ohne daß man sich eines Dezi-
metermaßstabes zu bedienen brauchte. Außerdem übt die Quadrierung des
Papieres eine Ergänzungssuggestion (une Suggestion supplementaire) auf die
Vp. aus: „Es ist etwas Merkwürdiges, daß, wenn man auf einem quadrierten
Papier Punkte zur Bestimmung von Entfernungen zu machen hat, man eine
Neigung verspürt, diese Punkte vorzugsweise auf die Schnittpunkte der Li-
nien zu setzen; das ist eine Suggestion, der wohl wenig Menschen sich ent-
ziehen. Es war also interessant zu verfolgen, in welchem Maße die Kinder
auf die Quadrierungssuggestion ansprachen. Infolge dieser Suggestion vari-
ieren die gezeichneten Längen im Minimum um 4 mm, sie wurden in Ab-
ständen von 4 mm gezeichnet" (S. 90). Binet entging also der Einfluß der
Papierrastrierung nicht. Wahrscheinlich fiel ihm die optimistisch „Suggestion
supplementaire" benannte Erscheinung erst im Laufe der fortgesetzten Ver-
suche auf, die er dann nicht wieder mit geänderten Bedingungen von vorne
beginnen wollte.
2. Die zweite bis fünfte Spalte.
Stimmte das Mittel der ersten Spalten meines Nachversuches mit dem des
Binet'schen Originalversuches wenigstens äußerlich noch leidlich überein,
so gehen von jetzt ab die Ergebnisse auch numerisch wesentlich ausein-
ander. Die Mittel des Nachversuches bewegen sich (mit 12, 78; 15, 94; 16,
58; 14, 38) über dem Normalmaß 12, das ihnen bei korrekter Reproduktion
zugekommen wäre; die Mittel des Binet'schen Versuches laufen (mit 8, 68;
8, 8; 9, 7; 9, 2) unter dem Normalmaß. Die Mittel beider Versuche haben
aber das gemein, daß sie bis zur vorletzten Stelle ansteigen, auf die letzte
zu schwach abfallen, daß mit andern Worten das Gewicht der vierten Spalte
ein Maximum aufweist. Auf diese anscheinend nebensächliche Tatsache
werden wir noch einigemal zu sprechen kommen.
Ich habe in meinen Vorarbeiten für jede der 12 Spalten eine Häufigkeits-
tafel mit graphischer Darstellung hergestellt, will sie aber hier nicht mit auf-
führen. Den Interessenten ist die Rekonstruktion aus den Tafeln 2 und 3
leicht möglich. Hier sind sie entbehrlich, wenn ich verrate, daß sie in ihrem
Grundcharakter alle der Figur 2 ähneln. Die Binet'schen Linienzüge besitzen
ausnahmslos die eigentümlichen Gipfel über den Vielfachen von 4 mm mit
auffallender Bevorzugung von 8 mm. Die Streuungen sind stets 12 mm,
während die meines Nachversuches bedeutend größer sind (32, 24, 49,
26 mm). Wieder offenbart also die Quadrierung des Versuchspapieres eine
starke Magnet- und Bremswirkung, die wir sehr hübsch verfolgen können,
252
Rudolf Prantl
wenn wir nicht die Differenzenmittel der Linienkopien, sondern die Mittel
der ganzen Längen messen und in einer Figur darstellen. Wir brauchen nur
die Mittel der ersten fünf Spalten nacheinander zu addieren und als Ordi-
nalen zu den Abszissen 12, 24, 36, 48, 60 mm aufzutragen.
In Figur 3 ist 0 A die Normallinie, auf sie hätten die oberen Endpunkte
der zu 0, 12, 24, 36, 48, 60 gehörigen Ordinaten bei korrekter Wiedergabe
fallen müssen. 0 A schließt mit der Abszissenachse natürlich einen Winkel
von 450 ein. Von ihr weicht der Binet'sche
Linienzug 0 B nach unten, meiner (0 D)
nach oben ab. Man wird mir sofort zu-
stimmen, wenn ich behaupte, daß die Ab-
weichung nach oben eine dem Versuch zu-
kommende, zu erwartende, also positive
ist; denn die 5 ersten Linien sollen ja den
Leitgedanken des Linienzuwachses erzeu-
gen, und wir dürfen doch nicht erwarten,
daß derselbe auf einmal unvermittelt wie
ein deus ex machina nach Vorführung der
fünf „Reizlinien" (ich will diesen Ausdruck
beibehalten und mit Rzl. abkürzen) auf-
treten soll. Wahrscheinlich wird die be-
kannte Suggestion schon bei der Wieder-
gabe der 3. Rzl. auftreten und zwar aus folgendem Grunde: Reproduktion
von Rzl. 1 kann überhaupt keine Suggestion erwecken, sowenig wie ein Punkt
die Richtung einer Geraden bestimmt. Wird eine weitere Modellinie (2) wieder-
gegeben, so ist ein Dreifaches möglich: Die Gerade ist größer, gleich oder
kleiner als die erste (oder wird hierfür gehalten). Die Erkenntnis des Ein-
tritts einer dieser Möglichkeiten bildet ein Suggestionselement. Die Sug-
gestion kann angebahnt sein. Von der ersten Möglichkeit macht der
Binet'sche Versuch selbst Gebrauch, von der dritten mein Gegenversuch
(Abschnitt III), von der zweiten meine Gegenversuche zum 2. Binet'schen
Liniensuggestionsversuch, worüber in dieser Abhandlung nicht die Rede
sein wird. — Die 3. Rzl. endlich kann die angebahnte Suggestion bestätigen,
falls das aus der Wechselbeziehung der Rzl. 2 und 3 stammende Suggestions-
element mit dem ersten gleichsinnig übereinstimmt.
Die Genesis eines Leitgedankens deckt sich scheinbar nicht mit dem
Schema der Analyse des Denkverfahrens, wie es von Dewey 0 und Kerschen-
steiner^) verfochten wird. Ich kann und will an dieser Stelle nicht auf das
an sich anziehende Seitenproblem eingehen und begnüge mich mit einem
Fußnotenhinweis auf die Literatvu* hierüber. ^j Ich will auch nur kurz aus-
führen, daß auch ein Nichtübereinstimmen der Suggestionselemente, falls
in den weiteren Regeln wenigstens das Verhältnis der Suggestionselemente
gewahrt bliebe, einen — allerdings anderen Leitgedanken einführen könnte.
Das wäre z. B. der Fall, wenn die Längen der Regeln kontinuierlich zwischen
') Dew«y, „How we think", Heath. Boston (1910 1).
*) Kerschensteiner, „Wesdn und Wert des naturkundlichen Unterrichts" (19131).
^) Über Kerschensteiner und Dewey referiert vergleichend: Prantl, „Kerschensteiner als
Pädagog". (Schöningh 1917,)
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 253
zwei Größen zickzackförmig hin- und hersprängen. Dann entstünde der
auch dem Aufbau nach kompliziertere Leitgedanke: „Die Linien wechseln
zwischen zwei bestimmten Größen". Bezeichnen wir die Rzl. mit li, h, h,
die Suggestionselemente si, S2, ss, die aus dem Verhältnis (es muß nicht
eben ein Quotient sein) aufeinanderfolgender Suggestionseleraente hervor-
gehenden Suggestionselemente zweiter Ordnung mit oi, 02, ca, so läßt sich
in theoretisch unendlicher Folge stets aus den je zwei Elementen der voraus-
gegangenen Ordnung ein neues der folgenden bilden. Es leuchtet aus dem
Schema (Tafel 5) unmittelbar das Bildungsgesetz heraus. Die
Bedingung der Entstehung des Leitgedankens erster Ordnung iafei 5.
ist si=S2, der der zweiten Ordnung 01 = 0-2, der der dritten ^^si
ci=C2 usw. Man benötigt zur Erzeugung des ersten min- , >S2Cr*'^*>ci
destens drei Rzl., des zweiten mindestens vier, des dritten , >S3^^ >«
mindestens fünf usf., falls nicht neue erschwerende Be- u-^^
dingungen eingeschaltet werden. Das gleiche gilt von der
Bekräftigung des entstandenen Leitgedankens, die mit der
Anzahl übereinstimmender Suggestionselemente gleicher Ordnung wächst.
Die theoretisch abgeleitete Wahrscheinlichkeit, daß zwischen Rzl. 2 und 3
bereits der Leitgedanke (1. Ordnung) entsteht, bestätigt sich durch einen
kleinen Nebenversuch. Wir dürfen nämlich annehmen, daß der Leitgedanke,
kamn geboren, auch schon wirksam wird, indem die Kinder im Bewußtsein
des Linienzuwachses die Linien besonders lang zeichnen, dem Experimentator
gewissermaßen beweisen wollen, daß sie den Unterschied wohl gemerkt.
Daß dem so ist, zeigt sich, wenn man die Linie von 36 mm außerhalb des
Hauptversuches für sich zeichnen läßt und das Mittel aller Reproduktionen
berechnet. Dieses stand in meinem Nebenversuch auf 36,80 (Streuung
56 - 28=) 28 mm, also unter dem Wert 41,9 mm, die innerhalb des Versuchs
nach Vorausgang der Rzl. 1 und 2 im Mittel gezeichnet wurden. Besäßen
wir einen aus großen Massenversuchen gewonnenen numerischen Wert für
die Überschätzung der Linie 36 mm, so wäre die Differenz 41,9 und jenem
Mittel ein Maß für [die suggerierende Kraft der RzL, in schlechter
Annäherung aus meinem Versuch berechnet, beträgt sie (41,92 - 36,80 =)
5,12 mm. Diese Kraft von über fünf Einheiten muß selbstredend auch im
B. sehen Originalversuch gewirkt haben, sie ist aber von der Gegenkraft der
„Suggestion supplementaire" der Quadrierung überwunden worden, so daß
das obere Ende der Ordinate 36 um (36,8-31,1=) 5,8 mm vom Über-
schätzungspunkt, um (36,0 - 31,1 =) 4,9 mm vom Normalpunkt und um
(41,9-31,1=) 10,8 mm vom Nachversuchpunkt nach unten absteht. Wir
gewinnen aus der Vergleichung beider Versuche eine Handhabe zur
rechnerischen Bestimmung jener „Ergänzungssuggestion".
Die gleichen Überlegungen gelten auch für die beiden nächsten Spalten
vier und fünf. Unter dem Einfluß des wahren d. h. gewollten Leitgedanken»,
entfernt sich mein Linienzug immer mehr von der Normallinie im positiven
Sinne, während der B.sche fortgesetzt im negativen Sinne von ihr wegstrebt.
Wenn der -wieder im ■ Nebenversuch gewonnene Wert 64,00 (Streuung
80-52 = 30 mm), einigermaßen brauchbar sich erwiese, wäre die Gesamt-
wirkung des Leitgedankens bisher (72,9-64,0=) 8,9 mm, die Gesamtwirkung
der Suggestion supplementaire (72,9-50=) 22,9 mm, also über 2,5 mal so>
groß und negativ gerichtet.
264
Rudolf Prantl
b) Fallenbereich (sechste bis zwölfte Spalte).
Die Falle gilt nicht nur dann als vermieden, wenn die Fallenlinie genau
so lang gezeichnet wurde als die ihr vorangehende Rzl., sondern auch,
wenn sie kürzer als jene reproduziert wurde; denn hierbei wirkte der Leit-
gedanke sicher nicht, beziehungsweise wurde er durch die gespannte Auf-
merksamkeit und eine große Genauigkeit der Abschätzung übertönt.
Die erste Falle wurde bei B. in drei Fällen (6^/90'^), bei mir iti zwölf
(240/0) vermieden. Woher dieser große Unterschied? Wir hörten bei der
Besprechung des Reizlinienbereichs, daß beim B.schen Versuch fast aus-
schließlich die Linienschnittpunkte der Rastrierung markiert wurden rnd
zwar am liebsten jeweils das Ende des übernächsten Quadrates. Die Punkte
wurden vorzugsweise um (2x4=) 8 mm nach rechts weitergerückt. Der
allgemeine Leitgedanke des Linienzuwachses war bei vielen zu dem speziellen
„Die Linien werden um zwei Häuschen länger" präzisiert. Diese konkrete
und daher offenbar um so wirksamere idee directrice ließ über 90 0/0 die
Falle übersehen und es stimmt der Durchschnitt von 7,5 mm gut hiermit
überein. Es liegen überhaupt die Mittel fast aller Spalten bei B. um 8 mm
herum, weil in allen Spalten mit Ausnahme der ereten und letzten das
Dichtigkeitsmittel auf 8 mm fiel.
Die *rste Falle machte eine Reihe der Versuchspersonen stutzig; hatten
die Kinder bisher unter dem Eindruck der Leitidee für sich darauf losge-
zeichnet und übertrieben, so merkten sie (es sind bei mir fast 25 0/0) infolge
der ersten Falle doch, daß die Längen nicht mehr stimmten. Diese Erkennt-
nis wirkte jedenfalls sehr ernüchternd, so daß die Meinung sich aufdrängte,
sie könnten vielleicht auch früher schon über irgendeine Falle oder dergl.
gestolpert sein. Das sollte nun teilweise durch Korrekturen (bis zu — 11 mm)
wett gemacht werden. Noch mehr tritt dies bei der zweiten Falle zutage
(Korrekturen bis zu — 22 mm), was ja eigentlich zu erwarten war, da doch
die einmal Gewarnten besser aufpaßten und noch andere dazu gewarnt
wurden. Nun möchte man weiterhin erwarten, daß aus eben diesem Grunde
die Stürze mit jeder Falle noch größer würden. Das ist aber, wie Tafel 6
zeigt, nicht der Fall. Falle III und IV bringen kaum nennenswerte Gefälle.
Tafel 6.
Falle I
II
III
IV
B.
1,7
2,9
1,8
1,1
P. 5,12 6,02 1,74 0,23
Das ist bei B. darauf zurückzuführen, daß die Mittel an sich schon so
niedrig liegen, daß sie kein Fallen mehr vertragen, wenn die Kinder nicht
blind sind; bei mir (P.) darauf, daß die durch die ersten zwei Fallen stutzig
gemachten Kinder (es sind schon über 50 0/0) nicht nur hinter der einzelnen
Fallenhnie, sondern auch jeder ihnen vorausgehenden Rzl. (das Fallenbereich
hat vier FallenMnien und drei eingeschaltete Rzl.) Fallen vermuteten und
deswegen auch diese als Fallen behandelten ! Diese merkwürdige Erscheinung
kommt bei B. wohl auch, aber nur ein einziges Mal vor. In meinem Versuche
wurde 24 mal teils 0, teils ein negativer Wert bei der Reproduktion der Rzl.
Suggestibilität mittels des ersten Binetsehen Linienfallenversuchs 255
verzeichnet! Trotz der durch die Fallen eingeleiteten Ernüchterung gerieten
aber doch manche Schüler im Zeichnen der Punkte sehr hoch und wurden
ihres Irrtums erst bei der vorletzten und letzten Linie gewahr. Daher die
gewaltigen Korrektionssprünge von 35 und 101 mm (in der Tafel 3 mit
* versehen), die ich bei der Berechnung des Mittels nicht berücksichtigen
durfte, ohne die Ergebnisse im Kerne zu fälschen, da doch in diesen extremen
Fällen der eine große negative Wert die Summe aller übrigen positiven
größtenteils entwertet hätte; das Resultat einer Versuchsperson darf nicht
das von 49 aufheben! Die letzte Reiz- und Fallenlinie ist deswegen ein
wunder Punkt in der B.schen Versuchsform.
Wie die letzte Vertikah-eihe der Tafeln 2 und 3 angibt, wurden bei B. 1 m
ganzen 13 Fallen vermieden, von einem Kind (13:45=) 0,29; bei mir 49,
von einem Kind (49 : 50=) 0,98, also rund über dreimal so viel. Anders aus-
gedrückt: Die Suggestion supplementaire des Quadratpapiers er-
schwerte den Versuch psychologisch auf das Dreifache.
Verteilen wir die auf 100 Kinder berechneten Fallen Vermeidungszahlen
auf die vier Fallen, so begegnet uns das schon von früher her bekannte
Maximum auf der zweiten Falle. Die Tafel 7 lehrt auch, daß die Ra-
Tafel 7.
Falle I
II ! III
IV
B. 4
13i 1 81
0
•24
32
18
24
strierung den Sinn des Versuchs gegen das Ende hin stark verdunkelt. Es
ist doch logisch und psychologisch ausgeschlossen, daß, wenn die ersten
drei Fallen bemerkt wurden, die vierte vollständig übersehen wird! Das
Umgekehrte wäre zu erwarten, wie es auch mein Versuch bestätigt. Wir
merken für später: Falle II und IV sind am leichtesten zu vermeiden.
Von jedem Kinde konnten 0, 1, 2, 3 oder 4 Fallen vermieden werden.
Ordnet man nach diesem Gesichtspunkt die wieder auf 100 Kinder berech-
neten Häufigkeiten, so erhält man Tafel 8, die wieder meine Behauptung
Tafel 8.
Vermiedene Fallen .
0
1
1
2
. 3
4
( R
Häufigkeit in
'4
•41
0
0
"/o bei ^ p
56
14 1
12
10
8
bestätigt, daß durch die Papierquadrierung des B.schen Versuches dieser sehr
erschwert wurde: Kein Kind vermied 3 oder alle 4 Fallen, während in
meinem Versuche die Gewichte vom zweiten ab eine ruhig abfallende
arithmetische Reihe liefern. Diese erzählt zudem, daß das Vermeiden von
3 oder 4 Fallen verhältnismäßig nicht mehr besonders schwieriger
ist als das von 2 Fallen, nachdem also schon durch sie das Bewußt-
sein der Fallenexistenz aufgetreten ist, welches für sich selbst wieder
Suggestivkraft besitzt und eine Art entgegengesetzt gerichtete ganz natürliche
256
Rudolf Prantl
Polarisationssuggestion vorstellt. Es ließe sich eine Theorie der bei
jedem Suggestionsversuch a priori zu erwartenden Gegensuggestionen schreiben.
— Aus der in Tafel 8 aufgeführten Reihe wäre übrigens unschwer auch eine
Schwierigkeitskurve zu berechnen und zu konstruieren unter der Voraussetzung,
daß die Vermeidungsschwierigkeit der Anzahl der jeweils anfallenden Treffer,
ähnlich wie ich bei anderer Gelegenheit 0 die Schwierigkeiten feststellte, von
einer n zifferigen Ziffernreihe 1, 2, 3 usw. Elemente sofort zu reproduzieren.
Man gewinnt am besten damit eine Übersicht über die Ergebnisse des
Original- und Nachversuches, daß man die Gesamtlängen (Summe der Mittel)
der Reproduktionen zusammenstellt und damit die in Fig. 3 begonnene
Illustrierung zu Ende führt.
Tafel 9.
Modellinie
12
24
36
48
60
=
72
—
84
—
96
=
wurde im fg
Durchschnitt J
13,6
22,3
31,1
40,8
50,0
57,5
65,5
70,6
78,4
84,4
91,5
97,5
reproduziert jp
bei ^ ■
13,2
25,98
41,92
58,5
72,88
81.74
94,32
100,88
110,88
llWM
129,49
137,98
isoliert bei P.
13,2
36,8
64,00
69,9
94,84
Die Staffeln der Fig. 4 zeigen augenfällig die Wirkung der Fallen. Die
durch die Rzl. erhaltene positive Richtung wird in meinem Linienzug bei-
behalten. Er verläuft vollständig
über der Normaihnie; selbst wenn
man die letzte Ordinate um die
Summe der 4 Fallenmittel (32,17)
kürzt, liegt der so erhaltene End-
punkt A' stark über der Normal-
linie. Der B.sche Linienzug über-
schreitet unter dem Einfluß der
Fallen die Normallinie nach lang-
samem Annähern knapp. Nehmen
wir Ihm aber durch Kürzung der
letzten Ordinate um das Mittel
der 4 Fallen (24,6) die Fallen-
wirkung, so entfernt sich C'B' wie
vorher OC weiterhin negativ von
der Normallinie. CA' bzw. C'B'
können sehr zwanglos als Extra-
polationen von OC bzw. OC auf-
gefaßt werden.
Ich ließ auch, wie anfangs be-
merkt, Linien von 72 und 96 mm
außerhalb des Versuchs zeichnen.
Sie wurden im Gegensatz zu den
früheren unterzeichnet mit 69,90
und 94,84 mm (siehe Tafel 9)..
•) Vergl, meine Abhandlung: „Beeinflussung der Gedächtniespanne durch die hypnotische
Suggestion". Journal für Psychologie und Neurologie, 24. Bd. S. 94.
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 257
Die Gesamtwirkung der Rzl. ist graphisch darstellbar als die Strecke zwischen
A' und dem (nicht eingezeichneten) Punkt 94,84 mm der letzten Ordinate;
sie beträgt also (105,91 - 94,84=) 10,97 mm. In A' hätte der B.sche Linien-
zug auch ungefähr enden sollen, wenn nicht die Quadrierung so sehr ge-
hemmt hätte. Wir finden wieder einen Wert der Kraft^irkung der Suggestion
supplementaire , indem wir mit obigem Wert 10,97 in die Strecke
A'B' = (105,81 — 72,6=) 33,21 hineindi\ddieren , die Seite 10 angegebene
Wirkung von 2,5 mm hat sich noch bis rund 3 mm erhöht.
B. verkennt den wahren Sachverhalt, wenn er zusammenfassend über die
Mittel der reproduzierten Linienzuwachse schreibt (S. 95): „Also beobachten
wir im ganzen, daß die Schüler die aufeinanderfolgenden Zuwachse der Modell-
linien reproduziert haben; aber sie haben sie reproduziert, indem sie sie
verminderten, und diese Verminderung fiel im allgemeinen um so stärker aus,
als die absolute Länge der Linien wuchs." Er bringt dann seine schiefe
Ansicht noch mit dem Weberschen Gesetz in Zusammenhang, wonach Ver-
änderungen um so weniger vorgenommen werden, je länger die Vergleichs-
linien sind. Das psychophysische Grundgesetz tritt wider Erwarten nicht
zutage.
c) Suggestibüitätskoeffizienten.
1. Herleitungen.
Der B.sche Linienf allen vereuch gestattet auf verschiedene Weise für jede
Versuchsperson einen Suggestibilitätsgrad zu bestimmen. Der einfachste Weg
wäre, vor dem eigentlichen Versuch die Linie von 60 mm für sich zeichnen
zu lassen, hierauf die 5 ersten bekannten Rzl. und dann unter Verzicht
auf die Fallen mit dem Versuch abzubrechen. Es ist ja anzunehmen, daß
die unter der Wirkung des zwischen Rzl. 2 und 3 geborenen Leitgedankens
die Linie von 60 mm schon weit überzeichnet wird, in viel stärkerem Maße,
als sie bei isolierter Reproduktion überschätzt wird. In meinem Versuche
geschah dies (siehe Tafel 9) im Durchschnitt um (72,88 — 64,00=) 12,88 mm.
Die Differenz wäre in jedem einzelnen Falle schon ein brauchbares Maß.
B. machte es wohl auch so, wie ich eben beschrieb, nahm aber die erste
FaUe noch mit. Er mußte es ja auch, da die 5. Reizlinie (siehe Tafel 9) im
ganzen genommen selbst im Versuch noch bedeutend unterzeichnet wurde
(50 mm) und die 60 mm erst mit der ersten Falle (mit 64 mm) überschritten
wurden. B. gab der isoliert gezeichneten Linie den Wert 100 und verglich
hiermit die Länge, welche der Schüler der Linie gab, nachdem er die Rzl.
1 — 5 gezeichnet hatte (par entrainement S. 96). Die Resultate trug er unter
dem Titel Coefficient de suggestibilite pour les longeurs de lignes in Tafel 2
ein. Meine ebenso gefundenen Resultate stehen in Tafel 3 unter „Linien-
suggestibilitätskoeffizient". — Ein Beispiel zur Erläuterung: Schüler Nr. 1,
Franz, gab der Linie (60 mm) isohert die Länge 61 mm -= i, im Versuch
aber die Länge v = (17 -|- 22 -+- 27 + 14 -H 15 + 13 =) 108 mm. Der Lsk.
(= Liniensuggestibilitätskoeffizient) berechnet sich aus:
61:100 = 108:x
(i :100= V :x)
x-i5i_M(_ -1.100). 177
Dl 1
Zeilschrift f. pädagog. Psychologie. 17
268 Rudolf Pranti
Anders bestimmte B. (S. 101 ff.) die Suggestibilität auf Grund der Fallen-
wirkung. Er nahm bei jedem Schüler das Mittel der vier Fallenspalten
(ecarts suggeres) und verglich es mit dem Mittel der vier ihnen jeweils vor-
angehenden Reizspalten (ecarts pergus). Diese Mittel werden im allgemeinen
nicht gleich sein, da der Charakter der sie bestimmenden Linien (Reiz- und
Fallenlinien) ein sehr verschiedener ist. Bei korrekter Reproduktion ist das
Fallenspaltenmittel 0, das Reizspaltenm.ittel gleich 12. In diesem Falle Hegt
keine Suggestionswirkung vor, die betreffende Versuchsperson verdient den
Fsk. (Fallensuggestibilitätskoeffizienten) 0, der als Quotient t^ erhalten wird.
B. dividierte also das Mittel r der Fallenspalte f durch das Mittel der Reiz-
spalten und multiplizierte (analog der Herleitung des Lsk.) den Quotienten
f
noch mit 100. Der Ausdruck für Fsk. = — -100 ist in Tafel 2 als Co-
r
effizient de suggestibilite pour les ecaits in der vorletzten 'Vertikalreihe
eingetragen. In der Ergebnistafel 3 meines Nachversuches ist er unter
„Fallensuggestibilitätskoeffizient" registriert. Seine Grenzen liegen bei B.
zwischen 7,6 und 132, bei mir zwischen — 36 und 145. Daß bei mir
auch negative Werte vorkommen, erklärt sich aus dem Umstände, daß die
Fallen vielfach auch negativ eingetragen wurden. Damit erleidet aber
der Charakter des Fsk. keine Veränderung, denn wenn eine Versuchs-
person die Anwesenheit einer Falle nicht durch Häufung der Punkte an
gleicher Stelle, sondern sogar durch Zurückgehen bekundet, beweist sie in
noch stärkerem Grade die Abwesenheit einer Suggestionswirkung; sie erweist
sich als nicht suggestibel und muß also, wenn man die Versuchsperson in
eine Rangordnung unter dem Gesichtspunkt der Suggestibilität bringt, an
die Spitze treten. Gleiche Überlegungen gelten für die Fsk. über 100, die
für den ersten Augenblick auch befremden. Zur Klärung der Bestimmung
des Fsk. noch ein Beispiel. Schüler Nr. 1, Franz, besitzt das Fallenspalten -
1 r^Q 1
mittel f -= ~ (13+16-1-12 + 12) = ~, das Reizspaltenmittel r = y (8+8+
9 + 15) = -*^. Fsk. = ^ • 100= ^1':% ' 100 = 132,5.
Man hat es mit Hilfe des Fsk. oder Lsk. in der Hand, nach durchgeführter
Ordnung derVersuchspersonen die Gesamtheit derselben als Kollektivgegenstand
zu behandeln und durch Reihenvergleichung Beziehungen zwischen ver-
schiedenen Eigenschaften im allgemeinen herzustellen bzw. zu untersuchen.
B. hat sich leider mit der Aufstellung der Koeffizienten begnügt, ohne sogar
auf den so naheUegenden Gedanken einzugehen, wenigstens die einerseits
durch die Lsk., andererseits durch die Fsk. bildbaren Reihen einander gegen-
überzustellen. Ich will dies nachholen und auch der Wechselbeziehung
zwischen den Koeffizienten und der Anzahl der von jedem Kinde vermiedenen
Fallen nachgehen.
2. Beziehungen zwischen den beiden Koeffizienten.
Zur Vergleichung der gemäß dem Lsk und Fsk gebildeten Reihen benutzte
ich nicht die Bravais-Pearsonsche Formel der Produktenmomente, da hierzu
die Aufstellung einer Verteilungstafel nötig gewesen wäre, bei deren Her-
stellung doch eine gewisse Willkür herrscht, indem man sich bisher auf keinen
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 259
bestimmten Maßstab bezüglich der Anzahl von Horizontal- und Vertikalreihen
geeinigt hat. Darum ist bei jeder Angabe des auf diese Weise berechneten
Korrelationswertes die Mitaufführung der Verteilungstafel zum Zwecke der
Nachprüfung wünschenswert, was viel Raum in Anspruch nimmt. Ich wählte
also die angeblich etwas weniger exakte Form von Spearman für die Rang-
ordnungen, ordnete also die Kinder einmal nach der Größe der Lsk, das
andere Mal nach der des Fsk, berechnete das Quadrat des Rangunterschiedes
eines jeden Kindes, um die Summe aller Quadrate (^d^) dann in die Formel
0=1 — "^ T einzusetzen, worin o die Größe der Korrelation und
^ n (n- — 1)
n die Anzahl der Kinder (50) bedeutet. Bei vollkommen gleichgerichteter
Korrelation wird p = 1, bei vollkommen umgekehrter wird q = — 1, bei
Abwesenheit jeder Korrelation wird p = 0. Eine Nachkontrolle ist nach den
Angaben der Tafel 3 ohne weiteres möglich.
Wie man bei wissenschafthchen Untersuchungen, wenn die Logik mit
ihren Analogieschlüssen zu ungestüm dem berechnenden Versuch voraneilt,
oft hinterher stark enttäuscht wird, so erging es mir hier. Ich erwartete
eine sehr große Übereinstimmung der Reihen und fand, daß soviel wie keine
besteht. p = 0,21 verneint fast jede Anwesenheit einer Korrelation, der
1 — p2
wahrscheinhche Fehler berechnete sich aus wF = 0,70643 — — : zu 0,095,
V n
ist also 2,2 mal so klein als p, was zur Not genügt. ^)
Da B., wie gesagt, eine derartige Vergleichung unterließ, berechnete ich
nach den Angaben der ungekürzten Tafel 2 auf gleiche Weise die Korre-
lation seiner Reihen. Sie beträgt p = 0,22 (w. F. = 0,09) und stimmt sehr
gut mit meinem Ergebnis überein.
Warum nun herrscht zwischen den beiden Reihen des Lsk. und Fsk. so
wenig Einklang? Ich glaube den Schlüssel zu diesem Rätsel darin zu er-
kennen, daß wir durch den Versuch gar nicht die Suggestibilität prüfen,
sondern zwei verschiedene Seiten derselben, wenn nicht zwei verschiedene
Suggestibilitätsarten .
Durch die ersten 5Rzl. des Versuches wird zweifellos die Suggestion des
Linienzuwachses (der Leitgedanke) erweckt und die Versuchsperson verleitet,
rein mechanisch den Markierungspunkt immer weiter nach rechts zu setzen.
Eine automatisch charakterisierte Suggestion, wie wir sie hier also vor uns
haben, wird aber auch nur auf den Automatismus der Suggestibilität
vornehmlich anzusprechen imstande sein, mithin diese Seite der Suggestibilität
dem Studium unterwerfen. Das würde noch reinlicher geschehen, wenn man
die Anzahl der Rzl. vermehrte und vom System der Fallen überhaupt absehen
würde. Unter diesen Umständen würde aber voraussichtlich die Suggestions-
wirkung irgendwo ihre Grenzen, zum mindesten aber ihr Maximum haben.
Trotzdem schon die 4. Rzl. ein solches liefert (s. S. 251) und der extrapolierte
Punkt A' (von Fig. 4) dagegen spricht, daß ein weiteres Maximum das erste
zu einem nur relativen stemple, möchte ich die MögUchkeit hiervon doch
nicht von der Hand weisen, da mit der Länge der Rzl. das Schätzungsver-
mögen abnimmt, was einem stärkeren Durchbrechen des Leitgedankens sehr
zu Hilfe käme. Gewißheit hierüber könnte nur ein eigener Versuch bringen.
') 8, Fröbes, Lehrbuch der experimentellen Psychologie, 1917, Bd. I S. 493. — Nach der Fonnel
der Produktenmomente berechnete ich i zu — 0,06 (bei einem w. F. von 0,095) !
17*
360 Rudolf Prantl
Vom Eintritt der Fallen an zerfällt die Schar der Versuchspersonen in
zwei leicht von einander trennbare Gruppen. Die eine fährt fort, rein mechanisch
Punkt für Punkt weiter rechts zu setzen (vgl. Nr. 3 in Tafel 3); sie zeichnet
sich durch eine starke, automatisch charakterisierte SuggestibiUtät aus. Die
zweite Gruppe merkt aber bald die Fallenexistenz, womit in ihnen ein neuer
Leitgedanke auftaucht: „Vorsicht, die Linien werden nicht immer größer!",
unter dessen Herrschaft sich meist im Unterbewußtsein des Kindes ein bitterer
Kampf mit dem ersten Leitgedanken abspielt. Im Verlaufe desselben heben
sich die Wirkungen beider Suggestionen einander ganz oder zum großen
Teil auf. Während der ersten Gruppe hohe Suggestibilitätskoeffizienten zu-
kommen, fallen für die zweite nur kleinere an und doch kann man ihr keine
geringere Suggestibilität zuschreiben. Sie zeigt vielmehr die Fähigkeit, auf
mehrere Leitgedanken gleichzeitig anzusprechen, sie ist distributiv charakte-
risiert. Im Extrem wird schließlich der erste Leitgedanke vergessen oder
vernichtet, der zweite dominiert. Dann fallen die negativen Fsk an. Wenn
die äußeren Bedingungen nicht so ungünstig lägen, könnte sich bei diesem
Extreme auch wieder ein gewisser Automatismus (nämlich der des zweiten
Leitgedankens) durchringen, wie z. B. bei Nr. 31 (Elisabeth), wo trotz des
viermaligen Linienanwachsens 4 mal negative Werte gezeichnet wurden. —
Suggestibilität kommt mithin jeder Gruppe zu, jener vornehmlich die auto-
matisch, dieser hauptsächlich die distributiv charakterisierte, welch letztere im
Extrem eine nervöse Gleitfähigkeit von einer Suggestion zur anderen mit
totalem Vergessen der ersten besitzt, ein Umstand, der ein psychologisches
Streiflicht auf die Gedächtnisschwäche und damit auch auf das Gedächtnis
der Suggestibilität wirft. Eine Asuggestibilität ist nirgends zu bemerken,
höchstens eine Antisuggestibihtät, die ihrem Wesen nach mehr eine negative
Suggestibilität ist, die hinter jeder Versuchsanordnung eine Beeinflussungs-
maßnahme argwöhnt und in dieser negativen Autosuggestibilität dem Auf-
treten eines Leitgedankens große Schwierigkeiten entgegenstellt. Diese Art
von Schülern bereitet dem Erzieher viel Arbeit und Sorgen. Sie sind ebenso
leicht zu verziehen als zu erziehen, da sie distributiv sowohl auf pädago-
gische Einwirkungen als auch ebensogut auf Gegenbeeinflussungen, woran
es im praktischen Leben nie fehlt, hören. Sie sind oft nur auf Umwegen
durch ein indirektes Verfahren, mehr durch negative als positive Erziehung
zu erobern. — Man sieht, daß unter Umständen aus scheinbar nichtssagenden
Reihenvergleichungen heraus uns auch Winke von großem praktischen Werte
zuteil werden können. Vielleicht kommt die experimentelle Pädagogik noch
in die Lage, aus einfachen Suggestionsversuchen heraus mit genügender
Sicherheit Schlüsse für die Beurteilung der Behandlung der Kindercharaktere
zu ziehen, wodurch dem Erzieher manche Mißerfolge und Enttäuschungen
erspart bheben.
Der zweite Teil des B. sehen Versuches dient also vornehmlich zur Unter-
suchung der distributiv charakterisierten Suggestibihtät und täte dies reinlich
bei geeignetem Ausbau desselben. Vorerst müßte zu diesem Ende das Reiz-
Hnienbereich fallen, damit nicht der Leitgedanke des ersten Teils in den
zweiten hineinverschleppt würde. Der Ausbau selbst läge analog dem des
ersten Teiles (s. o. !) in einer Vennehrung der Fallenanzahl. Hierbei würden
sich aller Wahrscheinlichkeit nach mit zunehmender Fallenzahl die in meinem
Nachversuch beobachteten Korrektionssprünge bei jeder Versuchsperson nach
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 261
und nach mit einer mehr oder weniger großen Deutlichkeit zeigen. Die Stelle
des Korrektioneintrittes wäre ein Maß für die Spanne der distributiv
charakterisierten Suggestibilität. — Das wäre ein quantitativer Ausbau.
Der qualitative hielte sich an die Ordnung des Leitgedankens, Im vorliegen-
den Falle finden wir (vom Reizlinienbereich abgesehen) zwei Leitgedanken
erster Ordnung: 1. „Die Linien werden größer" (die den Fallenlinien vorge-
lagerten Rzl.j und 2. „Die Linien bleiben gleich" (die Fallenlinien), die ver-
einigt den Leitgedanken zweiter Ordnung liefern: „Die Linien sind abwechselnd
größer, gleich". Theoretisch können wir neue Leitgedanken beliebig hoher
Ordnung einführen, praktisch stoßen wir schon bei solchen dritter Ordnung
voraussichthch auf größte Schwierigkeiten. Es ist nämlich sehr fraglich, ob
ein solcher überhaupt noch erkannt wird („Die Linien sind abwechselnd
größer, kleiner, gleich") und ob, falls er es wird, er nicht sehr schnell wieder
sich selbst zersetzt.
Kehren wir nun zur Besprechung der beiden SuggestibiUtätskoeffizienten
zurück. Der Lsk. ist aus dem Reizhnienbereich berechnet, aber mit Benut-
zung der ersten Falle, der Fsk. nur mit Benutzung des Fallenbereichs, aber
nach Vorausgehen des zweifellos nachwirkenden Reizlinienbereichs. Mithin
— und nun komme ich zu einem Abschluß in der Charakterisierung
des Binet'schen Versuches — haben sich beide Koeffizienten einander
infiziert, der erste gibt kein reines Maß mehr für den Automatismus,
der zweite kein reines mehr für die Distribution der Suggestibi-
lität. Hingegen ist er geeignet, das Wechselverhältnis von Auto-
matismus und Distribution, ihre gegenseitige Beeinflussung zu
studieren.
Hat sich bei Reihenvergleichungen eine starke KoiTelation im Gleich- oder
Gegensinn ergeben, so bedarf der Fall eigentlich keiner besonderen Diskus-
sion mehr. Man ist nach der Berechnung des Korrelationsmaßes — von
weiteren pädagogischen oder psychologischen Anwendungen abgesehen —
mit dem Problem zu Ende. Nicht so, wenn eine Korrelation anscheinend
fehlt; denn dann ist zu erörtern, ob die Abwesenheit jeder Beziehung nicht
auf gegenseitigen Aufhebungen innerer Faktoren beruhe, ob nicht hinter dem
geduldigen, neutralen Endwert das Kampfergebnis positiver und negativer
Mächte steckt. Man hat womöglich — immer wird es ja nicht möglich
sein — zu beantworten, warum eine Korrelation fehlt, ob nicht Parameter
auszuschheßen wären, um die Akorrelation in eine wertige Korrelation
überzuführen.
Ich packte nun das Problem so an: Ich sah bei den beiden nebeneinander
geschriebenen Rangordnungen beider Reihen (des Lsk. und Fsk.) nach, ob
wirklich gar keine Ähnlichkeiten vorlägen; ich suchte nach Optimen von
Ähnlichkeiten, die daran sofort erkannt werden, daß die Differenz der Rang-
plätze (oder das Quadrat davon, das zur Berechnung des Korrelationsmaßes
dient und neben den Rangplätzen steht) sehr klein ist. Ich nahm also die
14 kleinsten Differenzen heraus. Es sind die in Tafel 10 angegebenen
Nummern der Haupttafel 3. Ein kurzer Bhck über die Plätze der Rang-
ordnungen läßt uns mit einem Schlag erkennen, daß fast alle aufgeführten
Ränge sonderbarerweise" der höheren Hälfte beider Reihen angehören.
Das heißt ins Psychologische übersetzt: Diejenigen Schüler, die beim „Fallen-
versuch" zu so hohen Rangplätzen kommen, stiegen aus dem gleichen
262
Rudolf Plaut
Tafel 10.
Nr.
Rangplatz
der
nach dem
Tafel 3
Lsk.
Fsk.
!
1 j
45
49
7 !
44
50
8
21
36
13 i
48
37
18 j
19
26
20*
28
35
27
39
41
28
37
34
29
47
39
36
33
31
40
29
33
42
46
40
44
42
38
49
25
22I-
Grunde auch beim „Reizlinienversuch" so hoch. Nachdem aber der Grund
bei letzteren der Automatismus ist, ist er es auch für erstere. Daraus folgt
eine nicht geahnte, bisher versteckt gewesene Übereinstimmung der Reihen
und der Satz: „Die automatisch charakterisierte Sug-
gestibilität zeichnet sich im allgemeinen durch einen
besonders hohen Suggestibilitätskoeffizienlen aus."
Nun probierte ich das Gegenstück, nahm wieder die
Liste mit den Rangreihen und fahndete nach den
Rangpaaren mit den größten Differenzen. Die sieben
größten sind in der Tafel 11 aufgeführt. Eine neue
Überraschung: Von den 7 Fällen gehören 6 (Nr. 5
also ausgeschlossen) nach den Rangplätzen des Lsk.
in die niedere Hälfte, nach denen des Fsk. in die
höhere Hälfte. NatürUch müssen bei den größten
Differenzen von vornherein die Rangplätze auf ver-
schiedenen Hälften der Rangordnungen liegen, aber
sie könnten doch auch umgekehrt anfallen wie in
unserem Beispiel. Darnach haben auf die höhere
Hälfte der Rangordnung des Fallenversuchs sowohl
die Schüler Anwartschaft und Aussicht, die im Reiz-
linienversuch einen sehr großen, als auch die, welche
dort einen sehr niedrigen Koeffizienten besitzen, also
alle mit einer sehr großen und sehr kleinen automatisch
i I charakterisierten Suggestibilität. Erstere werden vom
(ersten) Leitgedanken lebhaft gepackt, schießen stark
voran und halten ihren Platz mit bedeutender Zähigkeit. „Der Automatismus
verrät starke Standhaftigkeit oder Stabilität." Je stärker diese Schüler von
der ersten idee direcMce erfaßt w^erden, desto weniger
sind sie geneigt, eine Gegenidee zu übernehmen.
Letztere hingegen sprechen sehr langsam auf den ersten
Leitgedanken an und geben ihm sehr gemessen Spiel-
raum; aber gerade deswegen sprechen sie auf den
zweiten ebenso langsam an, so daß er während des
kurzen Versuches keinen festen Fuß fassen konnte.
Wir dürfen nicht sagen, daß diese Schüler weniger
suggestibel seien, als die anderen, sondern müssen uns
anders ausdrücken: sie sind langsamer suggestibel, sie
besitzen die Fähigkeit, auf verschiedene Leitgedanken
gleichzeitig einzugehen, in geringem Grade, ihre Sug-
gestibilität ist wenig distributiv charakterisiert.
Endlich entdeckte ich auf dem Wege des Vergleichs
noch ein weiteres Moment, indem ich nachsah, in
welcher Gegend der Rangordnung des Reizhnien-
versuches die Varianten des Fallenversuches mit dem Suggestibilitätskoeffi-
zienten 0 lägen. Da stellte sich heraus, daß alle mit dem Fsk. 0 be-
hafteten Schüler beim Reizlinienversuch um die Mitte (16—26) der Rangreihe
herum stehen. Dadurch wird aber nur bestätigt und bekräftigt, was wir
schon hörten: Die beim Fallen versuch als nichtsuggestibel erklärten Kinder
(diese Bedeutung soll doch nach Binet der Fsk. = 0 haben) sind wohl sug-
Nr.
der
Tafel 3
Tafel 11.
Rangplatz
nach dem
Lsk. i Fsk.
3
5
9
14
17
21
23
13
38
12
1
17
8J
15'
42
2
45
44
43
48
46
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 263
gestibel und zwar mit mittelmäßig automatischer Charakterisierung, nur haben
sie infolge der Distribution der Suggestibilität dem zweiten Leitgedanken
ebenso Folge geleistet wie dem ersten, so daß der zweite den ersten gewis-
sermaßen in der Wirkung aufhob. Wir leiten den Satz ab :
„Die Wirkungen der automatisch und der distributiv charakterisierten Sug-
gestionen stehen zueinander im umgekehrten Verhältnis und heben einan-
der bei gleichen mittleren Werten auf."
Die Gegensätzhchkeit von Automatismus und Distribution kommt auch in
den beiden Suggestibilitätskoeffizienten zum Ausdruck. Während der Lsk.
mit dem Automatismus im gleichen Sinn zu- oder abnimmt, ist es mit dem
Fsk. gerade umgekehrt: Je größer er wird, desto weniger wurden doch die
Fallen erkannt und beachtet, destoweniger distributiv suggestibel erschien
dann die Vp. Daran müssen wir denken, wenn wir Tafel 12 beurteilen, die
obige Ergebnisse in etwas geänderter Form zusammengreift:
Tafel 12.
Lsk. i Fsk.
Ableitungen
klein groß
mittel 1 0
groß groß
Die langsam ansprechende Suggestibilität besitzt geringe Dis-
tribution
Mittelstarker Automatismus besitzt sehr große Distribution und
sehr kleine Stabilität
Sehr starker Automatismus besitzt sehr kleine Distribution und
. sehr große Stabilität
Nun ist es uns auch klar geworden, daß hinter der anscheinend nichts-
sagenden Gleichgültigkeit der verglichenen Reihen zueinander nm* die Ruhe
nach dem Sturm steckt, daß die Reihen in der Tat sowohl gleichgerichtete,
als auch umgekehrte Korrelation bergen, aus deren Wechsel- und Gegenspiel
eine scheinbare Akorrelation geboren wird.
3. Suggestibilitätskoeffizienten und
Anzahl der vermiedenen Fallen.
Es ist zu erwarten, daß der Fsk. zu der Anzahl der vermiedenen Fallen
in einem starken Abhängigkeitsverhältnis steht. Bei richtiger Beachtung aller
4 Fallen muß der Koeffizient gleich 0 werden (x = - = — = 0). Dertlieo-
retische Wert des Fsk. für 0 vermiedene Fallen liegt auf 100. Theoretische
Erwartungen und experimentelle Ergebnisse zeigt Tafel 13, Die Annäherung
Tafel 13.
Vermiedene Fallen . j 0 1
1
2
' 1
4
nach Berechnung
Fsk.
100 1 75
1
50
25 '
0
im Versuch
128 65 ' 21 1 1-2
ist schlecht, weil für die Berechnung der Mittel bei 1, 2, 3, 4 Vermeidungen
nur je 6, 6, 5, 4 Varianten vorliegen. Außerdem drücken negative Fsk. das
264
Rudolf Prantl
vor- und vorvorletzte Mittel (12, 21) stark herab. Aber bei alledem ist die
Richtung einwandfrei und klar: Je mehr Fallen vermieden werden,
desto kleiner wird der Fsk.
Ordnet man den Vermeidungszahlen 0 bis 4 anstatt der Mittel der Fsk.
nunmehr die Mittel der Lsk. zu, so beobachtet man (Tafel 14) ebenfalls ein
Tafel 14.
Vermiedene Fallen
Lsk
134 I 123 115 115
112
Fallen der Werte, anfangs im stärkeren, später im schwächerem Maße. Wir
dringen immer mehr in das Wesen und die Psychologie des Gesamtversuches
ein. Schon sind wir in der Lage, zahlenmäßig (wenn auch ;in schlechter
Annäherung) zu verfolgen, wie die automatisch charakterisierte Suggestion
(1. Leitgedanke) durch das vierstellige Fallensystem an Stärke verliert. Es
wäre nun interessant zu erfahren, wieviel von der beim Einsatz der ersten
Falle vorhandenen automatisch charakterisierten Suggestionskraft verloren
geht. Die Frage kann beantwortet werden.
Alle Lsk. liegen zwischen den Grenzen 87 und 249 (s. Tafel 3). Um Prozent-
vergleichungen zu ermöglichen, wollen wir die Koeffizienten zwischen die
Grenzen 0 bis 100 spannen. Entspricht eine zwischen 87 und 249 ange-
nommene Zahl a einem zwischen 0 und 100 ruhenden Wert x eindeutig,
dann gilt doch, daß die Abstände von a zu den Grenzen 87 und 249 sich
genau so verhalten, wie die Abstände von x zu den Grenzen 0 und 100;
also (a — 87) :' (249 — a) = (x — 0) : (100 — x); daraus
_ (a — 87) • 100 .
"" 162
Mit Benützung dieser Formel wird a = 87 zu x = 0; a -= 249 zu x = 100;
a — 134; 123; 115; 112 zu x=-29; 22; 17; 15. Damit geht Tafel 14 über
in Tafel 14 a, woraus klar ersichtlich, daß ungefähr die Hälfte ^^^j der zu
Tafel Ua.
1 i
Vermiedene Fallen j 0 1 1
2
3
4
i 29 ' 22
17
17
15
Beginn des Fallensystems wirksamen Suggestionskraft automatischen Charakters
durch die Suggestionskraft des 2. Leitgedankens überwunden wurde.
Zwängen wir die Fsk. ebenfalls in den Zahlenraum 0 bis 100 (Grenzen
— 36; 145; Formel x = -ip • 100), so sind die Prozentzahlen unmittel-
bar mit denen der anderen Art vergleichbar (Tafel 15).
Tafel 15.
Vermiedene Fallen
0
1
Mittel der in «/o
Fsk.
umgerechneten | -r ,
91
29
56
22
31
17
26
17
15
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 265
Ich führte nun den gleichen Gedankengang anstatt mit den Maßzahlen
der Fsk. und Lsk. mit den durch sie bestimmten Rangplätzen durch, wobei
außer dem Multiphzieren mit 2 (die 50 Schüler ■'Äiu'den zu 100 angenommen)
kein Umrechnen nötig war. Es ergab sich, daß diejenigen Schüler, welche
0 Fallen vermieden hatten, im Mittel beim Fallenversuch den 34,5 ten Rang-
platz unter 50 Kindern, also den 69. unter 100 einnehmen, beim Reizhnien-
versuch den 54. unter 100 usw. (Tafel 16).
Tafel 16.
Vermiedene Fallen
Mittel der f FaUenversuch . . j 69 j 47 i 20
Rangplätze \ — '■ 1
beim l Reizlinienversuch 54 ^ 38 ' 43
19
47
11
41
Ich empfehle dem Leser, sich die Werte dieser und der letzten Tafel gra-
phisch auf mm-Papier aufzutragen. Die Figuren zeigen den Grad von Ähn-
Uchkeit, den man bei Benützung verschiedener, aber doch nicht zusammen-
hangloser Methoden erwarten darf. Gleicht man nun beide Tafeln unter-
einander aus, um die Härten beider zu mildern, so gehen die Werte in fol-
gende über, bei denen wir es belassen wollen (Tafel 17^.
Tafel 17.
Vermiedene Fallen
! 0
Fallenversuch
Ausgeglichene Mittel
der Rangplätze beim 1 Reizlinienversuch .
80
52
26
42
30
30
23
32
28
Meine Behauptung geht jetzt dahin, daß diese ausgeghchene Tafel für die
im vorigen Kapitel abgeleiteten Sätze starke Beweiskraft besitzt. In der nach
dieser Tafel gezeichneten Figur 5 zeigen beide Linien-
züge über 0 (0 vermiedene Fallen) ihren höchsten
Punkt. Der automatisch charakterisierten SuggestiUbität
kommen in beiden Versuchen besonders hohe Koeffi-
zienten zu. Trotzdem hegt der Höchstw^ert der strich-
punktierten Kur\^e (ReizHnienversuch) nur auf dem
Mittelwert 42, da zum Höchstwert des Fallenversuches
auch kleine Werte des Rzl.-Versuches gehören (s. Tafel 12).
— Obwohl mit dem fortschreitenden Grad der Fallen-
vermeidungen der Automatismus der Suggestihbität ge-
drückt wird, hat der strichpunktierte Linienzug (der
nicht etwa den bloßen Automatismus, sondern die durch
den Fallenversuch erfolgte Niederdrückung und die
hierdurch erzwungene Lagerung illustriert,) das Be- .
streben, gegen diese Vergewaltigung sich zu wehren. ° ' * 3 «
Daher der Wendepunkt mn 2 herum. Der Automatismus bzw. die durch den
1. Leitgedanken eingeführte Suggestion krümmt sich unter dem Druck des
2. Leitgedankens. Automatismus und Distribution der Suggestibilität sind feind-
266 Rudolf Prantl
liehe Geschwister. Der Schnittpunkt um 2 (Mittel zwischen 0 und 4)
deutet endhch an, daß die Wirkungen der automatisch und distributiv
charakterisierten Suggestionen in gleichen mittleren Werten sich gegen-
seitig aufheben.
d) Richtung und Schnelligkeit der Suggestionswellen.
Das Problem der vor- und rückläufigen Bewegung.
Man kann insofern von einer Richtung und Schnelligkeit von Suggestions-
wellen sprechen, als das Mittel der Rangplätze mit der Fortdauer der Sug-
gestionswirkung nach oben oder unten oder gar nicht sich bewegt. Beide
(von Binet freilich nicht unterschiedenen) Leitgedanken treten wellenartig
auf; jede Rzl. bzw. jede Falle, also jedes Suggestionselement mag als Wellen-
stoß angesehen werden, der den Durchschnittswert der Varianten vorwärts
oder rückwärts drängt* Wir haben es mit Hilfe eines Parameters (Anzahl
der vermiedenen Fallen) zuwege gebracht, die Wirkung des Rzl.-Leitgedan-
kens vom Eintritt des Fallenbereichs an funktionsartig an die Wirkung des
Fallengedankens zu binden, wir haben 5 bestimmte Rangplätze des ?sk. 5
ganz bestimmten Rangplätzen des Lsk. zugeordnet, wie Tafel 17 zeigt: Waren
Schüler im Fallenversuch auf den Rangplätzen 6, 23, 26, 52, 80 angekom-
men, so standen sie (im Mittel) unter dem Einfluß^ der Rzl. auf der 28., 22.,
30., 42. Stelle im Rzl.-Versuch. Wir besitzen 5 Wertepaare (6—28; 23—32;
26 — 30; 52 — 30; 80 — 42) einer zwangsläufigen Bewegung zweier Reihen,
wovon die eine von Rangplatz 6 bis 80 einsinnig eilt, die andere von 28
bis 42 vorwärts, rückwärts, gleich, vorwärts.
Wir fragen uns nun, ob es nicht möglich sei, die Zwangsläufigkeit zu
brechen bzw. die Bewegungsrichtung der zwangsmäßig so unregelmäßig
laufenden zweiten Reihe in reiner Unabhängigkeit zu zeigen, ohne natürlich
den Zusammenhang zwischen den Bewegungen der Reihen zu verlieren; ob
es weiterhin dann nicht möglich sei, auf die relative Schnelligkeit des Koef-
fizientenanwaches beider Reihen zu schließen,
also festzustellen, ob in gewissen Punkten die
erste oder zweite Reihe schneller voranstrebte.
Um diese Frage zu lösen, sei eine knappe
geometrische Überlegung eingeschaltet. Eine
1. Person gehe auf der Geraden I in einer
bestimmten Zeit von A nach B, zugleich gehe
eine 2. Person auf der zu I parallelen Geraden II
von Ai nach Bi (also in entgegengesetzter
'^ Richtung wie die I.Person). Mitten zwischen
den parallelen Wegen Tund II sei eine zu beiden parallele Glaswand III
eingesetzt. Darauf oder darin wird die 2. Person von der 1. vor dem
Gehen im Bildpunkte A2 (= Schnittpunkt des Sehstrahls A Ai mit III),
nach dem Gehen im Bildpunkt B2 gesehen. Während nun die 2. Person im
Gegensinn zur ersten ging, wanderte doch der Bildpunkt mit der ersten
in gleicher Richtung. In dem in Figiu- 6 gezeichneten Beispiel entspricht
die Rückläufigkeit der 2. Person einer Vorläufigkeit ihrer Bild-
punkte auf III. Um die funktionelle Abhängigkeit von A B = a, A2 B2 = d,
Bi Ai = X in einer Formel zu bekommen, ziehen wir Ci A2 C |1 Bi B2 B.
B'i Ci
B
^ —
-* ^Ai
\
\
^
y
\
\ -.
V
d 1
y
^
\
\
AS.
c
y
3
Suggestibilität mittels des ersten Binefcschen Linienfallenversuchs 267
Dann ist _1 Ci A2 Ai ^ ^ C A2 A. Also Ai Ci = A C, oder x -|- d = a — d,
oder X = a — 2d. — Da aber die Richtung der Strecke x zu der von a ent-
gegengesetzt ist, multiplizieren wir x oder (a — 2d) noch mit — 1 und er-
halten dann Formel 1,
1. x = 2d — a,
die uns jederzeit über Richtung und Länge der von der 2. Person begangenen
Strecke Aufschluß gibt, falls a und d bekannt ist. Für den Fall z. B., daß der
Bildpunkt sich nicht bewegt, während Person 1 um a weiterschreitet, vdid
X = — a, d. h. die 2. Person wanderte die gleiche Strecke wie die 1., aber
im entgegengesetzten Sinne nach B'i. — Die relative Geschwindigkeit der
2. Person ist dargestellt durch:
2. ^ = 2d-a _2 d _ ^
a a a '
Von diesen Erwägungen wird man stets dann Gebrauch machen können,
wenn es sich um zwei entgegengesetzt gerichtete Bewegungen zweier Zahlen-
reihen handelt, von denen eine einsinnig verläuft, während die zweite selbst
nicht bekannt, sondern nur die durch die erste bedingte Zwangsläufigkeit,
die sich in anscheinend unerklärlichen vor- und rückläufigen Bewegungen
und Stillständen äußert. Die obenerw^ähnten Mittel (80; 52; 26; 23; 61 stellen
gewissermaßen die Wanderpunkte A, B usw. dar, auf ihnen steht zeitweihg
der Fsk. beim Anwachsen von 0 bis 100. Von ihm aus betrachtet, scheint
der Lsk. jeweils zu stehen auf den Mitteln 42; 30; 30; 32; 28. Das sind
also die Bildpunkte. Tragen wir nun auf zwei parallelen Geraden von senk-
recht übereinanderstehenden Anfangspunkten aus die angegebenen Werte
auf und verbinden korrelate Punkte geradlinig miteinander, schneiden wir
dann die Fortsetzungen dieser Verbindungsgeraden durch eine dritte Pa-
rallele, die außerhalb des Schnittpunktsystems aller Verbindungslinien läuft
(in unserem einfachen Falle in doppelter Entfernung von der ersten Geraden),
und numerieren wir die Schnittpunkte der Verbindungsgeraden mit der
eben gezeichneten Geraden der Reihenfolge nach, so löst sich mit einem
Schlag die auf der mittUeren Paiallelen störende, schwer verständliche Vor-
und Rückläufigkeit der Punkte auf.
Die Reihenfolge der Punkte der Pa-
rallele in ist der der Parallen I ent-
gegengensetzt, die aus Formel 2 be-
rechneten relativen Geschwindigkei-
ten alle dementsprechend negativ
(— 0,43; — 1; — 2,33; — 0,53).
Das Hauptergebnis der durchgeführten Transformation ist die
Bestätigung der Tatsache, daß mit dem Anwachsen des Fsk. die
Abnahme des Lsk. einhergeht, aber mit ungleicher Geschwindig-
keit. Weiter gehe ich auf spekulative Auslegungen der Figm- 7 nicht ein.
Wenn die differientielle Psychologie das Theorem der Vor- und Rück-
läufigkeit ausbauen würde, um sie praktisch für die Reihen vergleichung
anzuwenden, um innere Bewegungen von Reihen auf ihre Richtung und
Geschwindigkeit zu untersuchen, oder es sonstwie auszubeuten, so hätte ich
mit dieser Anregung genug getan.
268 Rudolf Prantl
e) Normalform des Binetschen Versuches.
Binet gibt keine Gründe an, warum er für seinen Versuch 5 Rzl. und 4
Fallen verwendet. Warum nimmt er nicht 3 oder 8 Rzl. und 5 oder 7 Fallen?
Gewiß hat Binet nur auf gut Glück den Versuch in der uns bekannten Form
zusammengestellt, ohne sich über diese grundlegenden Fragen vorerst den
Kopf zu zerbrechen, und es ist auch fast ein Ding der Unmöglichkeit, auf
rein theoretischem Wege ein Optimum aller Versuchsbedingungen festzulegen.
Das ist immer erst nach Erledigung von Vorversuchen oder Durchführung des
Hauptversuches angängig. Eine Art der Beantwortung bestände darin, den
Versuch mit Abänderungen wiederholt durchzuführen und die Ergebnisse zu
vergleichen. Das wäre ein zeitraubendes, schwieriges und doch von Anfang
an schon zweifelhaftes Unternehmen, da es immerhin eine mißliche Sache
ist, Suggestionsversuche an gleichem Schülermaterial zu wiederholen, das
dann schon voreingenommen ist, selbst wenn nicht durch Redereien unter ein-
ander der Witz des Versuches bekannt wurde. Neues Material hingegen schiebt
wieder geänderte Voraussetzungen hinein, deren Fehler bei der Auswertung
der Resultate schwer zu eliminieren sind. — Wir wollen daher versuchen,
obige Frage aus dem einen Versuch heraus zu beantworten.
Wir interessieren uns zuerst, wieviel Rzl. dem Binet'schen Versuch am
besten entsprechen. Die Aufgabe derselben ist bekanntlich, den Leitge-
danken des Linienzuwachses auf kräftige Weise zu erwecken. Diesen Zweck
erfüllen sie denn auch, wenn man nicht störendes Beiwerk (Quadrierung)
einflicht, in der wünschenswerten Art, aber nicht jede in gleichem Maße.
Ein Maximum ihrer Wirkung wird nämlich verhältnismäßig bald, schon mit
der 4. Rzl. erreicht. Ein Maximum, sagte ich, da ich nicht weiß, ob nicht
bei Fortsetzung des Rzl.-Systems noch ein 2. oder 3. noch kräftigeres ein-
träte. Aber selbst für den Fall, daß dem so wäre, hätten wir keine Zeit
und kein Verlangen darauf zu warten, weil damit die Modellinien überhaupt
viel zu sehr in die Länge gerieten, womit das Schätzungsvermögen und die
Fähigkeit, konstante Längenzuwachse zu erkennen, gemäß dem Weber'schen
Gesetz verschlimmert würde. Wenn diese Verschiebung in kleinen Grenzen
bleibt, so ist sie nur z weckdienhch ; denn etwas Unsicherheit leistet[dem Leitge-
danken Vorspanndienste. Aus diesem Grunde ist es auch nicht erforderlich,
sofort mit der 4. Rzl. das Gefüge derselben abzubrechen, trotzdem das Warn-
signal des Maximums ertönt, sondern können noch die 5. Rzl. mitnehmen,
besonders auch darum, weil das Mittel zwar von 16,58 mm auf 14,38 (s.
Tafel 3) zurückgeht, dieses Mittel aber doch noch beträchtlich über normal-
12 steht. Kurz gesagt, ich glaube, daß die Anzahl der Rzl. von Binet
so gut als möglich erraten wurde.
Das Fallenbereich mag so weit ausgedehnt werden, bis sich ungewollte
Störungen bemerkbar machen, daß etwa Korrektionssprünge einsetzen, die
mit ihren übergroßen Werten das Gesamtresultat der anderen Schüler über-
tönen. Diese Störung tritt bei der 4, Falle meines Nachversuches schon in
2 Fällen ein (s. Nr. 11 und 13 von Tafel 3). Ich durfte die besternten Zahlen
auch schlechterdings nicht zur Berechnung des Mittels und des Fsk. mitbe-
nutzen. Ich stellte letzteren dadurch fest, daß ich das Mittel der 3 ersten
Fallen durch das Mittel der sie einschheßenden 4 Rzl. dividierte und den
Quotienten mit 100 multiphzierte. Daß man auch noch anders verfahren
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfflllenversuchs 269
kann, werde ich noch zeigen. Der Umstand, daß die 4. Fallengruppe (mit
der vorangehenden Rzl.) schon Störungen verursachte, führte mich auf den
Gedanken, die Fsk. aller Schüler mit Benützung von nur 3 Fallen (der ersten
drei) zu bestimmen und nach Reihenbildung (Rangplätze) das Maß der Kor-
relation mit der mittels der 4 •= Fsk. hergestellten Reihe zu berechnen. Ich
erhielt p = 0,93 bei einem wahrscheinl. Fehler von 0,01. Diese fast voll-
kommene Korrelation macht die 4. Fallengruppe entbehrlich. Von der 3. zur
4. Falle tritt nur eine schwache Änderung in der Folge der Fsk. ein. Es
lag nahe zu untersuchen, ob nicht et^^a auch noch die 3. Falle überflüssig
sei. Ich berechnete also in der angegebenen Weise auch noch die Korrela-
tion der Reihen, die aus den Rangordnungen mit Benützung von nur zwei
Fallen und endlich nur 1 Falle des in Tafel 3 dargestellten Versuches sich
ergeben. Die Maße stehen in Tafel 18, ebenso die wahrscheinlichen Fehler.
Tafel 18.
Maß der Korrelation des 4 -Fallenversuchs mit dem
Fallenversucli
4-
i 3-
2-
1-
0-
Q =
1
'■ om
0,86
068
0,20
w F =
0
' 0,01
0,03
0,05
0.096
Man könnte zur Not selbst mit 2 Fallen sich begnügen. Das Korrelations-
maß g ^ 0,86 ist immer noch sehr groß. Die Zahlen bekunden übrigens
eine Einheitlichkeit des ganzen Fa 11 enUnien Versuches insofern, als dies Kor-
relationsmaß mit dem R z l.-Versuch, den ich in Tafel 18 einfach als
0- Fallen versuch eintrug, auf 0,20 abstürzt.
Auf Grund der vorstehenden Überlegungen geben 5 Reizlinien und 3
Fallengruppen die Normalform des Binet'schen Originalversuches.
Will man aber die 4 Fallen beibehalten oder sogar zum Zwecke der Unter-
suchung der Suggestibiliiätsspanne vermehren, so darf man den Fsk. mit
Benützung von n — 1 Fallen berechnen, wenn bei dernten Fallen-
gruppe Störungen eintreten.
f) Maß der Ablenkung des ersten Leitgedankens.
Die Methode der Reihenvergleichung benutzte ich überdies, um einen anderen
Gedanken, der den Versuch B.s im ganzen betrifft, zahlenmäßig zu verfolgen.
Nachdem B. doch zur Bestimmung des Lsk. auch die 1. Falle noch mitnimmt
(s. S. 258), müssen der Rzl.- und der FaUenversuch trotz ihrer entgegengesetzt
gerichteten Leitgedanken doch ein Stück Übereinstimmung besitzen. Dieser
geringe Verwandtschaftsgrad tritt zutage, wenn man die Kinder nach dem
mit Benutzung nur einer Falle (der ersten) berechneten Fsk. ordnet und die
erhaltene Reihe mit der nach dem Lsk. geordneten Reihe vergleicht. Das
Maß der Korrelation ist q = 0,54 (w. F. = 0,31). Der erste Leitgedanke
geht also offenbar in den 2. Teil des Versuches, den FaUenversuch über,
\NTrd aber schon mit der 1. Falle gebrochen und weiterhin immer noch mehr,
wie ein fortgesetztes Vergleichen des Rzl.-Versuches mit dem Ein-, Zwei-
Drei-, Vierfallenversuch ersichtlich macht.
270
Rudolf Prantl
Tafel 19.
_ Maß der Korrelation des Reizlinienversuchs mit deni
Fallenversucli
0-
1-
2-
3-
1
4- 1
Q =
1
0,54
0,35
0,30
0,20
w F =
0
0,07
0,09
0,091
0,096
Mit Hilfe der in Tafel 19 aufgeführten Werte kann man das Schicksal des
im Rzl.-Versuch entstandenen Leitgedankens, der in den Fallenversuch ein-
dringt, verfolgen. In Figur 8 sei durch AO die Richtung (nicht die Größe!)
des Leitgedankens charakterisiert. Er dringt bei 0 in das Gebiet des Fallen-
versuches ein und würde bei völlig
gleichgerichteter Korrelation der
Reihen (o = +1) ohne Richtungs-
änderung gegen B zustreben, bei
vollkommen umgekehrler Korrelation
(o = — 1) aber nach A zurückge-
worfen, bei Abwesenheit jeder Kor-
relation (q = 0) nach C, der Mitte
zwischen B (+ 1) und A ( — 1) hin-
gebrochen werden. Rechnen wir also
0,54; 0,35; 0,30; 0,20 in Winkelgrade
um: {rp = 0,54"" 90 =) 48,6«; 31,50;
27,00; 18,00 und tragen diese auf den
vier Kreisbögen auf, welche die stufenweise Fortsetzung des 4-Fallenversuches
darstellen, so gibt der Linienzug 0 I II III IV ein anschauliches Bild der Ab-
lenkung der Leitidee durch eine entgegengesetzte zweite.
Im Zusammenhalte mit dem Ergebnis von S. 264 geben wir über das
Schicksal der idee directrice folgenden Aufschluß: Sie wird von
ihrem Eintritt in den Fallenversuch an im ganzen um 720 ge-
brochen und verliert etwa die Hälfte ihrer Wirkungskraft.
III. Der Gegenversuch.
a) Versuchsanordnung.
Der B.sche Linienfallenversuch erlaubt verschiedene Umkehrungen. Der
Leitgedanke „Die Linien werden immer größer" ist nur ein Spezialfall eines
allgemeineren „Die Linien zeigen in ihrer Folge eine gewisse Regelmäßigkeit."
Die Regelmäßigkeit besteht bei Suggestionen erster Ordnung — nur von
solchen ist hier die Rede — entweder im Anwachsen, oder im Abnehmen
oder im Gleichbleiben. Den zweiten FaU bringt dieser Gegenversuch.
Zur Erweckung der Autosuggestion „Die Linien werden immer kleiner"
bedürfen wir wieder Rzl., und zwar nahm ich in Übereinstimmung mit dem
Originalversuch deren fünf. Am einfachsten wäre es nun allerdings gewesen,
die ModelUnie des B. sehen Versuches in umgekehrter Reihenfolge anzuordnen,
wobei dann mit Hereinnahme der 4 Fallengruppen folgende Scharung ein-
getreten wäre:
Nr. \
Länge /
der Linie:
1
96
2
84
3
72
4
60
5
48
6
48
36
8
36
9
24
10
24
11
12
12
12 (mm)
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 271
Diese Fassung mußte sofort abgelehnt werden, da doch erster s nach unten
hin kein Spielraum mehr zur Auswirkung des Leilgedajikens bliebe und
zweitens das durch die kürzeren Linien garantierte Schätzungsvermögen dem
Leitgedanken zu sehr widerspräche. Ich schob also den ganzen Zahlensatz
um 24 mm nach oben, so daß er sich zwischen 36 und 120 mm bewegt.
Tafel 20.
Linienfolge
Länge
Linienfolge
Länge
1
120 mm
7
60 mm
2
108 ,.
8
60 „
3
96 ,.
9
48 „
4
84 „
10
48 .,
5
72 „
11
36 .,
Falle 6
72 ..
.12
36 ..
Bezüglich der weiteren Ausführung verweise ich auf Abschnitt I. Das
Schülermaterial war das gleiche. Der Gegenversuch wurde sofort bei jedem
Kinde im Anschluß an den Nachversueh durchgeführt. Tafel 21 enthält alle
Ergebnisse aller Schüler.
b) Reizlinienbereich.
Die Reproduktion der 1. Linie von 120 mm als Versuch für sich aufgefaßt
ei^bt, daß von den Schülern die genannte Modellinie im Durchschnitt unter-
zeichnet wurde (115 mm). Aus der sehr großen Streuung aber von (174 — 84 =)
91 mm ersehen wir schon die sehr große Unsicherheit in der Schätzung.
Stellen wir einmal die Streuungen bei den isoliert gezeichneten Linien und
den ersten der Versuche (bei denen noch keine Suggestion wirkte) zusammen,
so offenbart sich mit zunehmender Länge der Modellinie eine Zunahme der
Streuung (Tafel 22.)
Tafel 22.
Modellinie 1 . .
12 36
72
96 1
120
Streuung s . .
i 22
1
28
51
68 '■
91
Reproduktion r
1 13^
363
69,9
943 '
115,0
Zwischen der wahren Länge 1 der Modelhnie, dem Mittel der Reproduktionen
r und der dabei anfallenden Streuung s bestehen zweifellos verschiedene
Zusammenhänge, die wert wären, einmal in Sonderstudien bearbeitet zu
werden. Die Streuung s übertrifft bei sehr kleinen Linien deren tatsächUche
Ausdehnung 1, um 1-30 mm herum aber bleibt s hinter 1 schon zurück.
r
Der Quotient — scheint von einem verhältnismäßig kleinen Wert an (etwa
20 mm) eine Konstante (etwa k = l,2) zu sein; das Produkt r • s (==ks2)
liefert dementsprechend eine Parabel. Trägt man nämlich die Produkte
r • s (aus Tafel 22 zu entnehmen) als Ordinalen zu den Abszissen 12, 36
usw. auf, so läßt sich durch die Endpunkte annähernd eine Parabel von
der Gleichung v = k x^ legen, worin k = — . — Daß zwischen 1 und r
s
Beziehungen herrscheu, derart, daß etwa um 70 mm herum — =1 wird
(Optimum des Schätzungsvermögens), hörten wir schon.
272
Rudolf Prantl
Tafel 21.
ei5
JS
2
1
1
1
1^
Differenz dei
Linien
i
11 u. 2
Falle
Liniensuggestibilitäts-
koefrizient
i
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Falle
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1
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1
122
—9
—4
29
16
20
—8
15
13
11
7
6
88
186
0
2
132
0
35
23
0
4
19
0
11
—7
16
—5
88
- 17
3
3
102
0
0
16
7
0
9
—4
27
5
10
6
67
13
2
4
99
—44
60
11
•6
0
3
3
8
5
3
5
80
65
1
5
106
18
7
9
6
0
6
0
8
0
14
0
84
0
1
6
155
15
14
12
12
11
13
11
14
13
14
—7
101
53
4
7
106
—16
0
5
20
4
25
0
17
0
18
0
56
5
3
8
92
—6
10
7
16
3
6
4
5
6
7
4
75
50
0
9
115
0
8
14
7
9
11
0
9
5
17
—8
93
14
2
10
93
0
0
0
16
0
13
0
7
0
13
0
74
0
4
11
124
0
—9
30
17
0
7
—5
10
12
18
0
85
13
3
12
83
11
—11
11
8
5
7
0
9
4
4
0
74
32
2
13
144
0
0
23
18
19
16
0
6
0
12
16
86
34
3
14
165
0
8
8
5
13
10
21
14
18
11
0
86
166
0
15
117
0
13
18
0
22
8
0
17
0
11
0
81
^1
3
16
119 1
6
7
14
0
9
13
11
11
0
6
3
78
77
1
17
112
4
15
9
10
6
7
3
5
3
12
3
88
44
0
18
111
—15
9
14
12
13
15
12
12
10
9
8
79
90
0
19
121
4
2
34
8
7
6
3
18
5
6
0
88
39
1
20
129
3
8
10
4
10
16
7
24
2
10
3
90
41
0
21
108 ,
6
4
9
20
2
12
4
9
2
7
2
81
21
0
22
114
—18
-7
49
21
9
4
0
15
7
7
0
95
34
2
23
121
4
0
9
12
8
6
9
11
16
4
10
93
130
0
24
115
0
8
11
8
9
10
8
22
0
4
3
81
45
1
25
109
5
4
18
2
6
18
—5
11
3
8
4
74
21
1
26
105
0
16
11
11
0
8
0
14
0
11
0
76
0
4
27
106
—15
—16
55
21
—12
26
— 7
19
—5
15
—6
63
-37
4
28
92
—19
-12
-13
79
—17
17
2
19
—1
9
—1
58
—14
3
29
115
0
0
0
29
0
0
0
30
0
0
0
96
0
4
30
115
0
17
12
18
-15
23
0
3
0
15
0
95
—25
4
31
106
5
17
8
6
—4
9
13
7
—2
16
—2
70
13
3
32
110
0
19
12
11
6
3
1
6
— 1
18
3
92
24
1
33
115
0
15
14
18
11
0
0
10
0
10
0
109
29
3
34
116
0
0
19
12
9
26
—9
15
0
9
8
79
13
2
35
142
0
11
7
0
8
40
6
7
0
14
10
78
39
1
36
89
—4
-4
14
17
—4
13
—4
19
6
7
—3
60
—9
3
37
108
0
—10
17
24
0
10
0
15
0
14
0
71
0
4
38
94
—26
—18
—6
88
—5
—5
—8
46
—4
10
—3
81
—16
4
39
117
—8
—13
—10
65
—6
28
6
4
5
11
8
73
12
1
40
122
—18
-10
—6
54
15
13
10
5
—10
18
8
90
16
1
41
100
0
13
10
6
3
10
2
9
3
7
5
71
41
0
42
107
—14
—11
43
18
11
12
—6
13
—2
11
0
88
6
3
43
120
0
34
9
0
5
15
0
6
0
14
0
79
14
3
44
115
0
0
29
20
9
0
5
6
0
15
0
96
34
2
45
111
—2
18
8
17
4
11
4
9
'2
7
3
85
30
0
46
115
—13
17
—2
27
8
7
6
17
4
8
0
96
31
1
47
137
15
3
20
15
8
16
5
8
4
10
4
96
43
0
48
174
—16
62
26
—13
29
17
11
16
—16
16
0
77
67
2
49
91
—10
—7
-4
49
5
5
5
4
6
4
5
81
32
0
50
115
-7
0
34
9
S
19
0
3
3
12
2
77
18
1
Mittel
116,02
-3,42
6,44
14,12
17,04
5,20
11.50
2,78
12,46
2,22
; 10,66
1,88
Suggestibilität mittels des ersten Binetachen Linienfallenversuchs 273
Die Unterschätzung der Modellinie von 120 mm fällt ebenso wie die Zu-
nahme der Streuung in die Erweiterung der früheren Ergebnisse. In den
nächsten 3 Spalten stoßen wir hingegen auf eine neue nicht erwartete Er-
scheinung. Spalte 2, 3, 4, 5, enthält bezw. 19, 13, 6, 1 negative Einträge.
Verschiedene Kinder zeichneten also die kleineren Linien größer und zugleich
einigemal hintereinander, so z. B. Nr. 38, 39, 40. Erst bei der 5. Rzl. merkten
diese Kinder, daß ihre Reproduktionen denn doch viel zu groß ausgefallen
waren und suchten dann ihren Irrtum durch starke Korrektursprünge von
54, 65, 88 mm wett zu machen. Außerdem enthalten Spalten 2, 3, 4, 5
bezw. noch 19, 8, 2, 4 mal 0. Die Längenabnahme wurde demnach (zusammen
mit den negativen Einträgen) in 75, 42, 16, 10^ o nicht erkannt. Über drei
Viertel der Versuchspersonen merkten bei der 2. Rzl., beinahe die Hälfte bei
der 3. noch gar nicht den Rückgang der Linienlängen. Der Grund hierfür
ist entweder der Umstand, daß im vorausgegangenen Versuch die Linien
wuchsen und die Kinder glaubten, es ginge dies nun so weiter; oder er hegt
auf der Linie des Weberschen Gesetzes, wonach bei verhältnismäßig großen
Reizen ein kleiner Reizunterschied nicht, also auch der Richtung nach nicht
erkannt wird, oder endUch in der Neigung, die Punkte in Unsicherheit über-
haupt lieber nach rechts als nach links abzuselzen, da die Hand gewöhnt ist,
während des Schreibens nach rechts weiter zu gehen.
Über die Stichhaltigkeit des ersten Umstandes verschaffte ich mir dadurch
Aufklärung, daß ich nach einem halben Jahr den Versuch an 26 Schülern
einfach wiederholte und diesmal den Gegenversuch voraus nahm. Dabei
zeigte sich aber, daß immerhin etwa die Hälfte der Versuchspersonen bei
der 2. Rzl., und ein Viertel bei der 3., ein Fünftel bei der 4. und 5. Rzl, sich
über die Richtung der Linienveränderung nicht klar war. Der unmittelbare
Vorangang des Nachversuchs nimmt dementsprechend etw^a den dritten Teil
der Anomalie auf sich, das übrige ist den anderen Umständen zuzuschreiben.
Mein Gegenversuch krankt von Anbeginn an zwei Übeln: Ich durfte dem
Versuch nicht einen anderen vorangehen lassen. Die Magnetnadel der Sug-
gestibilität besitzt eine überaus feine Empfindsamkeit. Dieser rein persönliche
Mißgriff könnte aber leicht bei weiteren Nachversuchen vermieden werden,
wenn ihm überhaupt viel Bedeutung zukommt. Es fällt mir selbst\'erständlich
nicht im mindesten ein, einen Fehler zu beschönigen, wenn ich hinzufüge,
daß infolge der großen Korrektionssprünge der auf einmal erwachte Leit-
gedanke von besonders großer Kraft war, da er ja explosionsartig nach
Überwindung einer nachweisbar von Anfang an bestehenden Spannung ent-
sprang. Darin, daß, wie bei Nr. 38 oder 40 die negativen Eintragungen absolut
genommen allmähUch abnehmen, sehen wir schon einen Kampf zwischen dem
alten Leitgedanken des Linienzuwachses aus dem Nachversuch und dem
zweifelnden Vermuten, daß diesmal doch eine neue Sachlage bestände.
Manchmal sprach ein Kind: „Die Linien werden kleiner, und ich habe sie
immer größer gezeichnet!" Ich staunte oft über die zweifelnde Haltung der
Schüler beim Zeichnen der Punkte. Die rechte Hand fuhr in nervösen Zick-
zackbewegungen wie ein Pendel hin und her, unwissend, wohin der Punkt
gehöre, bis schließlich fast eine Art Zufall die Lage desselben bestimmte.
Ich hatte mitunter den Eindruck einer fein spielenden Wage, auf der der alte
und der neue Leitgedanke mn die Vorherrschaft stritten. Durch das Bewußt-
werden des Irrtums wTirde ein starkes Erfassen des eigentlichen Leitgedankens
Zeitschrift f. padagog. Psychologie. IS
274
Rudolf Prantl
bewirkt, das sich in einem auffallenden Anwachsen der Mittel von — 3,42
bis + 17,04 bemerkbar macht.
Die zweite Mißlichkeit des Gegenversuches ruht darin, daß die Rzl. in
schwerer abschätzbaren Höhen spielen, sie also größtenteils ihre Aufgabe gar
nicht erfüllen. Ein einwandfreier Spiegelversuch mit Beibehaltung
der konstanten Liniendifferenz von 12 mm ist also zum B. sehen
Originalversuch nicht aufstellbar. Es wäre eine Sonderfrage für sich,
welche Differenzen man den Rzl. geben müßte, damit sie zu Suggestions-
elementen von gleicher Stärke wie die des Original Versuches würden.
c) Fallenbereich.
Figur 9 gibt den Überblick über den ganzen Gegenversuch (als Gegenfigur
zu Figur 4). Diesmal hegt der Linienzug fast ganz über der Normallinie,
obwohl das Gegenteil erwartet worden wäre. Im ausgeprägten Bogea nach
rechts sind die unter b. erwähnten
Mißlichkeiten klar zum Ausdruck ge-
bracht. Wieviel hiervon als Nach-
wirkung des unmittelbar vorange-
gangenen Versuches anzusehen ist,
gibt uns der Abstand des ausge-
zogenen zum punktierten Linienzug,
welch letzterer das Ergebnis des
Wiederholungsversuches illustriert.
Im Zusammenhalt damit haben wir
hierin auch ein Bild von der Wir-
kung einer zurückgedrängten und
sich dann um so lebhafter Platz
machenden Suggestion. (Das wäre
ein Kapitel für sich.) Wir bemerken,
daß unter dem Reaktionsüberdruck
der Linienzug sich gegen das Ende
hin endlich der NormalUnie bis zur
Schneidung nähert, während der
^ punktierte Zug mit verhältnismäßig
günstigerem Anfang über derselben
«ö ioi 96 s; "72 60 48 56 bleibt. — Die Fallen wurden beim
Gegenversuch in reicherem Maße
bemerkt als beim Nachversuch. Im ganzen wurden 91 (gegen 49) vermieden.
Der Gegenversuch bot nur halbe Schwierigkeit. Die ModelUnien führen ja
von einem Bereich des schlechten Schätzungsvermögens in das des günstigeren
hinein. Auf die 4 Fallen I bis IV verteilen sich die 91 Vermeidungen mit
15; 24; 25; 27 Fällen. Die Zahl der Vermeidungen nimmt diesmal reinhch
zu.' Ist einmal die erste Falle erkannt und vermieden, so sind die übrigen
leicht zu vermeiden. Der Leitgedanke hatte schwächere Suggestionskraft.
d) Suggestibilitätskoeffizienten.
Die Bestimmung des Fsk. erfolgt auf ganz gleiche Weise wie beim Nach-
versuch; die des Lsk. hingegen erfordert mehr Mühe. , Hierbei sollte ja nur
die Suggestionswirkung der ersten 5 Rzl. verwertet werden. Indem die Schuler
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 275
Linien von 120, 108, 96, 84, 72 mm hintereinander zeichneten, sollten sie
unter dem Einfluß des dabei entstehenden Leitgedankens „Die Linien werden
immer kleiner" bei der Reproduktion der zweimal gebotenen Linie von 72 mm
dieselbe bedeutend unterzeichnen, so wie umgekehrt beim Nach versuch die
Modellinie von 60 mm kräftig überzeichnet wurde. Während aber damals
von einem bestimmten Punkte, vom 0- Punkt aus begonnen wurde, mußte
diesmal mit einem unsicher wiedergegebenen Punkte, nämlich dem von
120 mm, der bekanntUch unterschätzt wurde, eingesetzt werden. Es war
also notwendig, erst rechnerisch die Reproduktionslänge dieses Endpunktes
z und damit auch den 6. gezeichneten Punkt a so zu normieren, als wäre z
tatsächlich gleich 120 gezeichnet worden. Da der Abstand von a einmal von
0 und z, dann von 0 und 120 dem Verhältnis nach gewahrt bleiben mußte,
bestimmte sich der Wert von a aus a : (z — a) = x : (120 — x), daraus x ==
— • 120. Damit waren noch nicht alle Schwierigkeiten gehoben. Der Lsk,
müßte doch um so größer ausfallen, je mehr die isoliert gezeichnete Linie
von 72 mm unterzeichnet wurde. Die reproduzierte Länge hiervon d war
also durch x zu dividieren und der Quotient endlich (analog dem früheren
Verfahren) mit 100 zu multiplizieren. Somit war der Lsk. zu berechnen aus:
d , ^^ 100 d • z 5 d • z ^ ^ , . ^.. ^
Lsk== — 100= ^„— = — -. . Daß man auf eme so umstand-
X 120 • a 6 a
liehe und verhältnismäßig mühselige Weise vorzugehen hat, ist an sich
kein Nachteil. Jeder, der etwas in Reihenvergleichungen gearbeitet, weiß,
daß man um ein paar numerischer Angaben willen oft ein paar Tage ange-
strengt zu rechnen hat. Arbeit und Zeit spielt in der Wissenschaft keine
prinzipielle Rolle. Anders ist es aber, wie es hier zutrifft, daß ein zu ver-
wendender algebraischer Ausdruck mehrere Größen enthält, deren jede in
ihrer Entstehung Zufälligkeiten ausgesetzt war, so d, z, a, — ein Umstand,
der den Wert des Gegenversuches auch nach dieser Seite herabsetzt.
Die Lsk. sind fast ausschließlich unter dem Normalwert 100, was dafür
spricht, daß die Suggestivkraft des Leitgedankens sehr schwach war.
Zwischen den aus dem Lsk. dieses und dem Lsk. des Nachversuches
gebildeten Reihen herrscht soviel wie keine Korrelation (o = — 0,02) , eben-
sowenig zwischen den aus den Fsk. gebildeten Reihen (o-= 0,18j. Unterein-
ander haben sie aber eine bescheidene Korrelation (o = 0,39). Daraus wäre
normalerweise der Satz abzuleiten, daß die Fähigkeit der Seele, auf den
Leitgedanken des Linienzuwachses einzugehen, eine ganz andere sei, als die
auf den der Linienabnahrae. Aber ich wage nach den geschilderten Uner-
quicklichkeiten, die dem Gegen versuch anhaften, kaum diesen Schluß zu
ziehen, obwohl er a priori nicht von der Hand zu weisen wäre, da die
SuggestibiUtät sehr diffiziler Natur zu sein scheint und auf anscheinend
ähnliche Suggestionen doch ganz verschieden ansprechen könnte.
Ich darf auch deswegen jenen Satz nicht aufstellen, weil trotz allen Nicht-
übereinstimmens der Reihen die Ergebnisse beider Versuche doch einiger-
maßen einander gleichkommen. Es fheßt nämlich noch eine letzte Vergleich-
quelle, und die ist diesmal gewiß die lauterste, weil sie die mit vielen Um-
ständlichkeiten und Zufälügkeiten behafteten Koeffizienten nicht braucht.
Ich meine einen Vergleich auf Grund der Anzahl der von jedem Kinde in
beiden Versuchen jeweils vermiedenen Fallen. Jeder Schüler konnte in
18»
276
Rudolf PrantI
jedem Versuche 0, 1 , 2, 3, 4 Fallen vermeiden ; das sind zwei gleiche Elementen-
reihen, aus denen man ein einziges Element zur Bildung von Komplexionen,
80 oft es angeht, verwenden kann. Die Anzahl der Variationen ist dann
gleich 52. Am einfachsten und übersichtlichsten tragen wir dieselben in
eine Verteilungstafel ein (Tafel 23). Hat z. B. ein Kind im Gegen(x)- Versuch
2 Fallen vermieden, im Nach(y)-Versuch deren 3, so wird es mit 1 in dem
Felde eingetragen, wo die mit 2 überschriebene Vertikalreihe mit der mit
3 überschriebenen Horizontalreihe sich schneidet.
Tafel 23.
0
1
2
3
4
0
10
5
5
5
4
29
1
2
2
1
1
6
.^ !
5
1
6
3
1
3
1
5
4
1
i
2
2
4
12
12
7
11
8
S = 50
Wir haben so eine äußerst einfache und klare Verteilungstafel gewonnen,
die noch dazu den Vorteil hat, daß bei ihrer Anlage bezüglich der Bildung
von Fächern keine Willkür herrschte. Würden beide Versuche nach
der Anzahl der vermiedenen Fallen völlig übereinstimmen, so träten
nur die Komplexionen 00, 11, 22, 33, 44 auf, d. h. dann wären in der Ver-
teilungstafel nur die Felder besetzt, die von der Diagonale von links oben
nach rechts unten durchlaufen werden. In unserem Beispiel treffen
(10-4-2-1-3 + 2=) 17 Fälle darauf. Umgekehrt enthalten die Felder der
Diagonale von rechts oben nach links unten die Komplexionen, die eine
vollkommen umgekehrte Korrelation erzeugen (40 usw.). In unserem Bei-
spiel sind es 5 Fälle.
Der Mittelwert der ganzen Tafel berechnet sich aus
:Sxy 126
-— =__i=^ = — ^ = 0,654.
y ^x2 • ^y2 "[7 267 ^"'^
r =
139
Der wahrscheinliche Fehler ist
j J.2 \ 0 654-
w F = 0,67449 -7=^ = 0,67449 . '- = 0,054, also etwa 11 mal so klein
]/n y50
als r, woraus ebenfalls hervorgeht, daß diese Vergleichsweise in diesem Falle
die sicherste ist. Da r = 1 vollkommen gleichgerichtete, r = — 1 vollkommen
umgekehrte Korrelation, r=0 das Fehlen jeder Korrelation bezeichnet, sagt
unser sehr sicherer Wert r = 0,654, daß der Nach- und Gegenversuch in bezug
auf die Vermeidung der Fallen verhältnismäßig noch gut übereinstimmen, daß
also die Suggestibilität für einen umgekehrten Leitgedanken doch
etwa die gleiche ist wie für den ursprünglichen. — Ich belasse es
bei diesem Hauptergebnis der Vergleichung beider Versuche.
Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs 277
IV. Übersicht — Ergebnisse — Probleme.
Der eingangs beschriebene Binetsche Linienfallenversuch erweist sich für
die Bestimmung der Suggestibihtät an sich als nicht sehr brauchbar, verfolgt
den von B. angegebenen Zweck nicht, wenigstens nicht unmittelbar. Er
arbeitet nur mit Autosuggestionen, bezieht sich also durchweg auf eine Art
Autosuggestibilität und könnte somit, von anderem vorerst abgesehen, zur
Aufhellung der Beziehungen zwischen Suggestionen und Autosuggestionen,
z\\ischen Suggestibilität und Autosuggestibilität mitvei'A^'endet werden.
Er besteht trotz aller äußeren Einfachheit aus zwei wesentlich verschiedenen
Teilversuchen, deren Leitgedanken einander direkt aufzuheben und durch
Richtungsablenkung abzudrängen bestreben. Somit eignet er sich vorzüglich
zur Untersuchung einander widerstrebender und bekämpfender Autosuggestionen.
Die Normalform bestände aus 5 Reizlinien und 3 Fallengruppen. Der erste
Bestandteil des Versuches, das Reizliniensystera für sich, liefert eine einfache
Methode zur Prüfung der automatisch charakterisierten Suggestibilität, die in
dem hiernach berechneten Lsk. ihren rechnerischen Wert erhält. Diese Methode
verdiente weiteren Ausbau durch Erweiterung des Rzl. - Bereichs. Ebenso
ließe sich der zweite Bestandteil des Versuches, das Fallensystem, weiter
ausbauen. Dieses wirft auf eine andere Seite der Suggestibilität, die Distri-
bution, ein bedeutsames Licht. Der Ausbau beider Teile gibt ein Verfahren
zm-Untersuchung der automatisch bzw. distributiv charakterisierten Suggestibilität.
Wie das Ergebnis des Reizhnien Versuches (1. Teil) jeweils durch den Lsk.
kurz zusammengefaßt wird, so auch das Resultat des Fallenversuches (2. Teil)
durch den Fsk. Aus der Vergleichung der nach dem Lsk. und Fsk. bildbaren
Reihen fließen folgende Sätze: 1. Die langsam ansprechende Suggestibilität
(geringes Reaktionsvermögen) besitzt geringe Distribution. 2. Mittelstarker
Automatismus besitzt sehr große Distribution, sehr kleine Stabilität. 3. Sehr
starker Automatismus besitzt sehr kleine Distribution und sehr kleine Stabilität.
Diese Sätze sind insofern nicht gesichert, als die Versuchspersonen nur auf
zwei verschiedene Leitgedanken anzusprechen brauchten. Durch Einführung
mehrerer Leitgedanken sind sie zu verallgemeinern. Wahrscheinlich gipfeln
alle im allgemeinen (erst nachzuweisenden) Gesetze: Mit Zunahme der Distri-
bution nimmt die Stabihtät ab. Auf je. mehr Leitgedanken ein Individuum
reagiert, desto weniger stark läßt es sich von jedem solchen beeinflussen. —
Endlich scheint die Suggestibihtät bei „Umkehrung von Leitgedanken" unge-
fähr gleich zu bleiben.
Bei der Gegenüberstellung des Original- und Nachversuches überraschte
eine starke Verschiedenheit der Ergebnisse, die auf die Verwendung von
quadriertem Papier bei B. zurückzuführen ist. Durch die Rastrierung des bei
der Reproduktion der Linien benützten Papieres wurde der eigenthche Leit-
gedanke wesentlich irritiert, indem ungewollt auftretende konkretere Neben-
leitgedanken („Wahrscheinlich ist dieser 2. Linienschnittpunkt gemeint.") selbst
stark suggestiven Charakter erhielten. Auf dem Ver«uchspapier angebrachte
Punkte und dergl. wirken anziehend, und zwar nimmt die Wirkung mit der
wachsenden Entfernung ab. Es wäre eine dankbare und nicht schwere
Aufgabe, zu untersuchen, ob die Abnahme mit dem Quadrat der Entfernung
erfolgt oder wie sonst. Da vermuthch verschiedene Markierungen (Punkt,
Kreuz, kleiner Kreis, Linienschnittpunkte, Farben und dergl.) verschieden
278 R- Prantl, Suggestibilität mittels des ersten Binetschen Linienfallenversuchs
wirken und jeder von ihnen gewissermaßen eine verschiedene „Masse" zu-
kommt, könnte auf diesem Wege ein psychologisches Pendant zum Newton-
schen Gravitationsgesetz entdeckt werden („2 Massen ziehen einander an
mit einer Kraft, die dem Produkt der Massen direkt und dem Quadrat ihrer
Entfernung voneinander umgekehrt proportional ist.")
Ebensowenig ist es ausgeschlossen, durch das Studium der Ablenkung
von Leitgedanken beim Eintritt in neue Umgebung (in ein Medium anderer
Art) auf einen dem Snelliusschen Brechungsgesetz vielleicht analog formulier-
baren psychologischen Satz zu stoßen.
Als Ergebnisse nebensächlicher Natur (im Hinbhck auf den Hauptversuch)
erhielten wir, daß Linien von 12, 36, 60 mm über-, von 72, 90, 120 mm
unterschätzt werden. Um 70 mm herum hegt wahrscheinUch ein Optimum
des Schätzungsvermögens. Zwischen der wahren Länge der Modelhnie, deren
Durchschnittsreproduktionen und den hierbei anfallenden Streuungen scheinen
verschiedene Beziehungen zu bestehen.
Im ganzen genommen bedarf der Versuch noch der Nachprüfung yon
einigen Tausend Versuchspersonen bis zur Annahme oder Ablehnung der
hier aufgestellten Hypothesen. Erstreckten sich diese Versuche auf Individuen
jeden Alters in genügender Häufigkeit und würden sie an der gleichen Gruppe
entweder nach längerer Zeit oder sofort wiederholt, so könnten noch Be-
ziehungen zwischen der Autosuggestibilität und dem physischen bzw. (wenn
die Individuen auch in Hinsicht auf ihr Intelligenz alter geprüft würden) In-
telligenzalter und die Grenzen aufgedeckt werden, innerhalb welcher die
Ergebnisse schwanken. Endlich wäre es noch interessant zu erfahren, ob
das Resultat einem Limes zustrebte und welchem, wenn man den gleichen
Versuch sehr oft hintereinander an ein und derselben Versuchsperson
wiederholte.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
über das psychologische Laboratorium in Hamburg bringt das erste Heft
einer neuen Sammlung!) mit dem Titel „Hamburger Arbeiten zur Begabungs-
prüfung" in einem Vorwort einen kurzen Rechenschaftsbericht, der hier im
Wortlaut wiedergegeben wird.
„Das psychologische Laboratorium in Hamburg nahm bisher unter den
deutschen psychologischen Instituten insofern eine Sonderstellung ein, als es
weder einer Universität noch einem Lehrerverein angegliedert war 2). Es ist
eine staatliche Veranstaltung, die als Abteilung des philosophischen Seminars
am allgemeinen Vorlesungswesen in Hamburg von Meumann im Jahre 1914
gegründet wurde, und diente bisher den Zwecken der Lehre und Forschung
in dem Sinne und Maße, wie es eben an einem allgemeinen Vorlesungswesen
möglich war. Seine Besucher bestanden zum weitaus größten Teil aus Lehrern
und Lehrerinnen der verschiedenen Schulgattungen; wenn diese im Vergleich
zu Studenten eine größere Reife, ein unmittelbareres Interesse, insbesondere
') Die Sammlung wird Veröffentlichungen des Instituts enthalten. Herausgeber ist William
Stern. Es gelangen zunächst 3 Nummern als BeUiefte 18, 19, 20 der Zeitschrift f. angew. Psych,
zur Ausgabe.
2) Seit dem 1. April 1919 ist es ein Institut der neugegründeten Hamburgischen Universität.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 279
an den Fragen der Jugendpsychologie, einen Schatz an praktischen Erfahrungen
und einen geübten Blick für die Anwendungsmöglichkeiten psychologischer
Erkenntnis mitbringen, so fehlt andererseits die Gleichmäßigkeit der Vorbildung,
oft auch die rein wissenschaftliche Einstellung und vor allem die Zeit zu
eingehender Beschäftigung mit wissenschaftlichen Aufgaben, da ihr Beruf ja
nur wenige Stunden für andere Beschäftigung übrig läßt. So konnte denn
nur ein verhältnismäßig kleiner Bruchteil dieser Seminarbesucher so weit ge-
führt werden, um durch selbständige wissenschaftliche Arbeit an den Forschungs-
und Prüfungsaufgaben mitzuwirken; einige Ergebnisse dieser Tätigkeit werden
in den folgenden Heften niedergelegt. Für Helferdienste dagegen stand er-
freulicherweise stets eine größere Zahl von genügend geschulten Persönlich-
keiten zur Verfügung.
Des w^eiteren erhielt unsere Tätigkeit dadurch ihr Gepräge, daß das Labora-
torium als staatMches Institut Anlaß und Möglichkeit hatte, unmittelbar an
Fragen des Allgemeinwohles Anteil zu nehmen. Auch dies gab Anlaß, daß
uns neben Problemen der theoretischen Psychologie solche der angewandten
Psychologie eingehend beschäftigten. Hierbei ergab sich ein erfreuliches Zu-
sammenarbeiten mit Behörden und öffentlichen Organisationen — insbesondere
der Oberschulbehörde und der Zentrale für Berufsberatung. Wesentlich gefördert
wurden diese Arbeiten dadurch, daß der hamburgische Staat für bestimmte
Aufgaben gelegentlich besondere Mittel gewährte oder die Heranziehung
wissenschaftlicher Hilfskräfte ermöglichte. So konnte neben dem ständigen
Hilfsarbeiter Dr. Heinz Werner (früher Dr. Theodor Kehr 7) längere Zeit
Dr. Benary für Eignungsuntersuchungen an Fliegern, Dr. Bobertag für die
Vorbereitung von Prüfungsmethoden für Straßenbahner im Laboratorium tätig
sein. Seit Anfang 1918 ist außerdem der Volksschullehrer R. Peter von der
Oberschulbehörde auf unbestimmte Zeit an das Laboratorium beurlaubt mit
dem Auftrage, die schulpsychologischen Veranstaltungen zu überwachen und
zu verwalten. Damit hat die von mir schon vor längerer Zeit aufgestellte
Forderung eines „ Schulpsychologen " eine gewisse Verwirklichung erfahren;
und ich sehe einen' besonderen Vorteil darin, daß nicht ein dem Schuldienst
fernstehender reiner Theoretiker, sondern eine Persönhchkeit, die praktische
Schulerfahrung mit psychologisch wissenschaftHcher Schulung verbindet, mit
diesen Aufgaben betraut worden ist.
In loserem Zusammenhang mit dem Laboratorium steht das von der ham-
burgischen Lehrerschaft gegründete „Institut für Jugendkunde", das freiUch
während des Krieges nur eine beschränkte Wirksamkeit entfalten konnte,
sowie eine „Arbeitsgemeinschaft für Psychologie der Berufseignung*. —
Den Mittelpunkt der psychologischen Institutsarbeiten bildet das Begabungs-
problem, sowohl nach der Seite der geistigen Allgemeinbegabung (Intelligenz)
wie nach der der Sonderbegabung für bestimmte Gebiete. Unsere Studien
erstreckten sich auf die Analyse der Begabungen, auf ihre Differenzierung
nach Altersstufen, Geschlechtern, sozialen und Schulbedingungen, auf die
psychographische Feststellung der Fähigkeiten bestimmter Individuen.
Bezüglich der Methodik war es uns von vornherein klar, daß hier das
Experiment nicht allein herrschen dürfe. Denn das Wesen einer Begabung
ist niemals auszuschöpfen durch die Art, wie ein Mensch auf bestimmte von
außen gesetzte Anforderungen (Reize) reagiert; sondern sie bekundet sich
280 Kleine Beiträge und Mitteilungen
auch in spontanen Verhaltungsweisen, in frei gewählten Interessenrichtungen
und Tatformen, die sich als solche grundsätzlich der künstlichen Erzeugung
im Experiment entziehen. Sie sind nur der Beobachtung zugänglich; und
eine wissenschaftliche Vertiefung und Systematisierung der natürlichen Be-
obachtung erschien uns daher ebenso notwendig wie ihre Ergänzung durch
die experimentelle und statistische Methode. Der Beobachtungsmethode diente
einerseits die Ausarbeitung von Beobachtungsbogen, andererseits die Anleitung
zu Intelhgenzschätzungen. Beide Hilfsmittel sind geeignet, die wertvollen Er-
fahrungen der Lehrer in psychologische Münze umzusetzen und sie dadurch
wiederum für praktische Aufgaben (Begabungsauslese, Berufsberatung) nutz-
bar zu machen.
Die Testmethode ist unentbehrlich, um exakte massenstatistische Ergebnisse
zu erhalten und um eine größere Anzahl von Individuen in bezug auf ihr
geistiges Niveau exakt zu prüfen und zu vergleichen. Die massenstatistischen
Untersuchungen dienen in erster Linie theoretischen Interessen, indem sie uns
Einblicke in Entwicklung und Gruppendifferenzierung der Begabung (nach
Schulstufen, Geschlecht usw.) gestatten; ja sie können auch zur Aufklärung
von Problemen der allgemeinen Psychologie (insbes. der Denkpsychologie)
beitragen. Zugleich aber bilden solche Massenstatistiken die notwendige Vor-
arbeit für die individualpsychologische Prüfung und Auslese; denn sie liefern ja
erst die Eichungsmaßstäbe für die Methoden, die wir der Beurteilung der
Einzelindividuen und der Entscheidung über ihre Auslese zugrunde legen dürfen.
Die bisherigen Testmethoden zur Intelligenzprüfung wurden von uns einer-
seits gesammelt, andererseits erweitert. Angesichts der großen Buntscheckig-
keit und teilweise schweren Zugänglichkeit der vielen für Intelligenzprüfungen
vorgeschlagenen Methoden schien es uns zunächst für unsere eigene Arbeit
wünschenswert, sie alle in übersichtlicher Ordnung beisammen zu haben, zum
mindesten soweit sie für die Prüfung Jugendlicher bestimmt waren. Diese
Sammelarbeit übernahm in dankenswerter Weise Herr Lehrer Wiegmann.
Da aber auch anderen Kreisen, die sich mit Intelligenzprüfungen beschäftigen,
eine solche Übersicht willkommen sein muß, so wurde nunmehr diese Sammlung
auch zur Veröffentlichung bestimmt und im entsprechenden Sinne von Herrn
Wiegmann unter meiner ständigen Beratung bearbeitet.
Daneben ging die Ausarbeitung neuer Methoden oder die Umgestaltung
älterer einher, wobei uns folgende Gesichtspunkte leiteten. Bei früheren Arbeiten
auf dem Gebiete der Intelligenzprüfung stand im Vordergrund des Interesses
die Feststellung intellektueller Schwäche auf früheren Stufen der Kindheit;
'deshalb waren die Tests für niedere Entwicklungsstufen der Intelligenz be-
sonders gründlich ausgearbeitet und durchgeprobt worden (es sei nur an die
Methodik Binet-Simon-Bobertag erinnert), während die Aufgaben, die
eine höhere Denkbetätigung verlangten, stark in den Hintergrund traten. Eine
Beseitigung dieses Mangels ist nun umso nötiger, als die neueren praktischen
Bedürfnisse immer mehr neben der Erkenntnis der frühkindlichen und zurück-
gebhebenen Intelligenzen auch die Begabungsdiagnose der höheren
Jugendjahre und der besonders Befähigten verlangen. Zugleich bieten
solche höhere Intelligenztests dem Theoretiker viel interessantere denk-
psychologische Probleme als die elementaren Tests,
Nun waren bereits während meiner Bresiauer Tätigkeit im dortigen Seminar
derartige Untersuchungen in Angriff genommen worden, die nun in Hamburg
Kleine Beiträge und Mitteilungen 281
weiter geführt und ausgebaut werden konnten; dies gilt besonders von dem
Minkus 'sehen Teste der Bindewortergänzung und von den Bilderbogentests.
Als neue Gruppe von Tests kamen die Ordnungs- und Kritiktests in Hamburg
hinzu; von schon bekannten Tests wurden die Definitionen, die Dreiwort-
methode, die Vergleichung, der Analogietest für unsere besonderen Zwecke
umgebildet. —
Die praktischen Aufgaben unserer Arbeit erstreckten sich einerseits auf
berufspsychologische Untersuchungen, deren Methoden und Ergebnisse an
anderer Stelle veröffentlicht werden^), andererseits auf Ausleseprüfungen,
durch welche aus einer größeren Anzahl von Kindern oder Jugendlichen die
für bestimmte Schulformen besonders Geeigneten herausgefunden werden
sollten. Das besondere Interesse, das der Schulrat für das Volksschulwesen,
Professor Umlauf, der pädagogischen Psychologie entgegenbringt, machte es
möglich, hier den praktischen Wert psychologischer Fähigkeitsprüfungen in
größerem Maßstabe zn erproben. Es handelte sich einerseits um die Auswahl
von etwa tausend etwa 10 jährigen Kindern für einen neuen, höheren Zug
der Volksschule, andererseits um die Aufnahme junger Mädchen von 14—16
Jahren in ein Lehrerinnenseminar, bei dem die Anmeldungen stets um ein
Vielfaches die Zahl der Aufzunehmenden übertrafen. Es ist zu vermuten,
daß derartige Auslesen auch in Zukunft mit psychologischer Unterstützung
vorzunehmen sein werden, auch wenn durch die veränderten Verhältnisse
die Schulorganisation ein neues Gepräge erhalten wird. Ja, es ist hier sogar
eine noch immer steigende Beteiligung der Psychologie zu erwarten; denn
der Gedanke der Einheitsschule, der sich jetzt durchsetzen wird, hat ja zu
seinem notwendigen Korrelat die Idee der Differenzierung nach Be-
gabungsarten und -graden. Deshalb verlangt mit Recht eine der Thesen,
welche im Hamburger Lehrerrat zurzeit über die künftige Gestaltung der
Einheitsschule aufgestellt werden: „Um jedes Kind seiner Art gemäß zu be-
handeln, zu beraten und zu beschulen, muß eine Erkenntnis seiner Eigenart
nach Neigungen und Interessen, Charakter und Gemütseigenschaften, Graden
und Arten der Befähigung angestrebt werden. Hierzu sind alle verfüg-
baren Mittel der praktischen und wissenschaftlichen Jugend-
Uunde heranzuziehen."
Diese Aufgabe stellt uns Psychologen nun aber vor eine Verantwortung,
die in ihrer ganzen Wucht gewürdigt werden muß. Unsere Methoden werden
diesen neuartigen Anforderungen nicht sofort angepaßt sein, sondern nur all-
mählich immer besser gerecht werden. Darum scheint mir zweierlei nötig.
Erstens: der Psychologe darf nicht allein diese Verantwortung auf sich nehmen,
sondern muß ein systematisches Zusammenarbeiten mit dem Pädagogen erstreben
Dies ist bei den ersten Veranstaltungen dieser Ait (in Berhn) noch nicht ge-
nügend geschehen; in Hamburg wurde von vornherein in diesem Sinne ge-
handelt. Bei den 10 jährigen fand diese endgültige Auslese in einer aus Päda-
*( In Zeitschr. f. angew. Psych, und in den, als Sonderdrucke herausgegebenen „Schriften zur
Psychologie der Berufseignung und des Wirtschaftslebens^' : Lpzg. Barth. Folgende Hefte dieser
..Schriften" enthalten Arbeiten aus dem Hamburger Institut : Heft 2: W.Stern, Über eine psychol.
Eignungsprüfung für Straßenbahnfahrerinnen. 1908 — Heft 4: W. Heinitz, Vorstudien über
die psychol. Arbeitsbedingungen des Maschinenschreibens. 1918. — In Heft 8: W. Benary,
Kurzer Bericht über Arbeiten zu Eignungsprüfungen für Fliegerbeobachter. 1919.
282 Kleine Beiträge und Mitteilungen
gogen und Psychologen zusammengesetzten Kommission statt, in welcher für
jeden vorgeschlagenen Schüler Schulleistung, Beobachtungsbogen und etwaige
besondere Empfehlung des Lehrers mit dem Ergebnis einer Testprüfung zu
einem Gesamturteil kombiniert wurden. Bei den Prüfhngen für das Lehrerinnen-
seminar wurde die übliche pädagogische Bildungs- und Kenntnisprüfung nicht
ersetzt, sondern ergänzt" durch eine psychologische Fähigkeitsprüfung. Wir
dürfen es uns nicht verhehlen, daß in weiten Kreisen der praktischen Pädagogen
ein Mißtrauen gegen die Beteiligung der Psychologie an der Begabungsauslese
besteht; um so mehr müssen alle Übergriffe vermieden werden, welche das
Mißtrauen gerechtfertigt erscheinen lassen können.
Zweitens : die ersten Veranstaltungen dieser Art sind berufen, wegweisend
zu sein ; daher müssen sie in vollster wissenschaftlicher Strenge mit genauer
Angabe der Methodik, mit objektiver Berichterstattung über gut Gelungenes
und weniger Gelungenes der Öffentlichkeit vorgelegt werden ; denn nur so
können sie für künftige Veranstaltungen ähnlicher Art Nutzen stiften. Eine
derartige Darstellung hatte noch gefehlt; denn die beiden Veröffentlichungen,
die über psychologische Ausleseprüfungen in BerUn und Hamburg bisher vor-
lagen, hatten den Charakter einer mehr populären Darstellung i) oder einer
vorläufigen Mitteilung ^) ""'^ 3). Nun aber wird für Hamburg das Fehlende
nachgeholt. —
Unter dem gemeinsamen Titel: „Hamburger Arbeiten zur Begabungs-
forschung" sollen von jetzt an die wissenschaftlichen Veröffentlichungen
über die oben besprochenen Tätigkeitszweige unseres Instituts zusammengefaßt
erscheinen. Es werden zunächst in schneller Folge die Nummern 1, 2 und 3
vorgelegt; weitere Nummern sollen später zwanglos ausgegeben werden.
In engem Zusammenhang mit diesen Spezialarbeiten wird eine Zusammen-
fassung des gegenwärtigen Standes unseres Problems ^— hoffentlich ebenfalls
noch im Jahre 1919 — veröffentlicht werden, nämlich die dritte, völlig um-
gearbeitete Auflage meines Buches: „Die Intelhgenzprüfung an Kindern und
Jugendlichen".
Die Einteilung der drei Nummern der „Hamburger Arbeiten" ist die folgende :
Nummer I (Beiheft 18 der Zeitschr. f. angew. Psych.) enthält den ausführlichen
Bericht über die Ostern 1918 veranstaltete Begabungsauslese mittels Be-
obachtungsbogens und Testprüfungen; anhangsweise ist eine vorläufige Mit-
teilung über die Begabungsauslese Ostern 1919 angefügt. Der Bericht stammt
aus den Federn verschiedener Verfasser; herausgegeben ist er von R. Peter
und W. Stern.4)
') Moede-Piorkowski-Wolff. Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organisation und die ex-
perimentelle Methode der Schülerauswahl. Langensalza, Beyer & Söhne, 1918.
^) Das psychol.-pädag. Verfahren der Begabtenauslese, Eine Sammlung von Beiträgen, hrsg.
von W i lliam Stern. Leipzig, Quelle & Meyer, 1918. (Sonderausgabe von Heft 3—5 von Zeitschr.
f. päd. Psych. 18).
3) Über eine ähnliche kleinere Veranstaltung in Berlin hat ein methodischer Bericht von
0. Lipmann begonnen, der aber noch nicht bis zur Darstellung der Aufnahmeprüfungen selbst
gediehen ist: InteUigenzmessungen zum Problem der schulischen Differenzierung. Zeitschr. f. angew.
Psych. 13. 351 bis 391. 1918.
*) Der genaue Titel lautet: Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. Bericht
über das psychol. Verfahren. 160 S. Die einzelnen Abschnitte behandeha: I. Überblick über
das Gesamtverfahren (Peter und Stern). II. Der Beobachtungsbogen (Martha Muchow). lU. Das
Kleine Beiträge und Mitteilungen 283
Nummer 11 (Beiheft 19) faßt unter dem Titel: „Untersuchungen über
die Intelligenz von Kindern und Jugendliehen** eine Reihe von
Einzelstudien zusammen. Die Untersuchungen beziehen sich auf die verschieden-
sten Altersstufen von der frühen Kindheit bis zur Fortbildungsschule hinauf.
An Kindergartenkindem wurden von dem Ehepaar Schober die bekannte
Heilbronner-Methode in verbesserter Form angewandt. Eine noch aus Breslau
stammende Massenuntersuchung meines verstorbenen Schülers Minkus, der
sich auf Volksschüler und Fortbildungsschüler erstreckte, \\ird von mir geschildert
und bezüglich des einen Tests der Bindewortergänzung ausgearbeitet; diese
Untersuchung hat auch einen besonderen denkpsychologischen Abschnitt.
Über die psychologischen Methoden bei der Aufnahmeprüfung zum Lehrerinnen-
seminar, die in 3 aufeinander folgenden Jahren angewandt wurden, gibt
Penkert Auskunft. Das (nicht-experimentelle) Verfahren derIntelUgenzschätzung
wird endlich von Roloff auf Grund eines umfassenden Materials in seinem
methodischen Wert und seiner Brauchbarkeit ge^s'ürdigt.
Nummer IE (Beiheft 20) enthält die „Methodensammlung zur Intelligenz-
prüfung von Kindern und Jugendlichen", bearbeitet von 0. Wiegmann
und W. Stern."
Das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie im Leipziger
Lehrerverein beginnt, nachdem der Krieg seine Tätigkeit, wenn auch nicht
unterbrochen, so doch sehr eingeengt hatte, ein überaus reges Arbeitsleben
zu entfalten. Neben den fortzuführenden und den neu in Angriff genommenen
experimentellen Untersuchungen sind vor allem einführende Kurse im
Gange. So leitet der Assistent Dr. Handrick einen solchen über das Thema : Die
Grundbegriffe der Psychologie ; so führt in einem anderen der wissenschaft-
liche Leiter des Instituts, Rudolf Schulze, gemeinsam mit Handrick und Schlager
die Anfänger in die Handhabung der \^^chtigsten Apparate ein; so wird femer
eine Übung zur Theorie der Begabtenforschung (mit besonderer Berücksich-
tigung der V^errechnungsverfahren) abgehalten. Weiter beschäftigt sich dann in
kleineren Arbeitsgemeinschaften eine Reihe von Ausschüssen mit \sichtigen
Fragen aus den Anwendungsgebieten der experimentellen Psychologie. Joh.
Schlag steht einem Ausschuß vor, der für die Untersuchung der Begabten
eine Vervollständigung der Testreihen für die Vierzehnjährigen und die Auf-
stellung von Testen zur Auswahl der Zehnjährigen sich zur Aufgabe gestellt
hat. In anderem Kreise wieder \^ird die Frage behandelt, wie die Erstschüler
(Elementaristen) der Einheitsschule auf Grund geleiteter Beobachtungen und
experimenteller Ermittlungen auf verschiedene Klassenzüge verteilt werden
können. Ferner hat sich, einen Auftrag des Deutschen Lehrervereins erfül-
lend, ein Ausschuß unter dem Vorsitz von Max Döring gebildet, der das
Thema „Kinder als Zeugen vor Gericht", eingehend zu bearbeiten hat. Neben
den Kursen und Ausschußsitzungen, die alle wöchentlich mindestens einmal
abgehalten werden, laufen wie früher so auch femer Vortragsfolgen her.
Den Beginn z. B. machte Rudolf Schulze mit einer Reihe über „die Wirkung
des Antriebs auf die fortlaufende köi-perliche und geistige Arbeit und auf
Ordnen von BegriHsreihen (Werner). IV. Definition von Begriffen (Roloff). V. Ergänzung von
Textlücken (Wiegmann). VI. Dreiwortmethode iBobsrtag). VII. Fabeltext (Lenore Heitschl.
VllL Prüfmig der Kritikfähigkeit (Meins). IX. Bildl)eschreibung (Penkert u. Schol)er). X. Prüfung
des sinnvollen Behaltens (Martha Muchow). XI. Ausleseprüfung 1919.
284 Kleine Beiträge und Mitteilungen
geistige Einzelleistungen." Regelmäßig wird schließlich auch die Bericht-
erstattung über die Bücher- und Zeitschriftenliteratur in der Weise fortgeführt,
daß das weite Gebiet der Psychologie in kleinere Teile aufgegliedert worden
ist, von denen jeder seinen ständigen Beobachter hat. Schließlich sei be-
richtet, daß sich das Institut mit Einführungskursen und Vortragsreihen auch
an dem Akademischen Fortbildungskursus, den der Sächsische Lehrer-
verein vom 6. — 21. Oktober d. J. in Leipzig abhält, tätigen Anteil nehmen
wird. — Das Institut darf sich dank dieser seiner regen Tätigkeit einer stei-
genden Beachtung erfreuen. Seine Mitgliederzahl ist durch einen schnellen
Zuwachs in jüngster Zeit auf weit über 300 gestiegen, und die sächsische
Staatsregierung läßt künftig, nachdem der Kultusminister mit seinen Räten
kürzlich persönlich in die Arbeit des Instituts Einblick genommen hat, jährlich
die Summe von 20000 M dem Institut zufließen. Auch darin, daß der Leiter
des Instituts gemeinsam mit Paul Schlager zu einer Vortragsreise nach
Schweden eingeladen ist, auf der sie u. a. vor Professoren und Studenten
der Universität Upsala über experimentelle Psychologie und Pädagogik
sprechen und Versuche vorführen sollen, darf eine Anerkennung erblickt
werden. Die äußeren Erfolge werden es ermöglichen, das Institut in naher
Zeit zu einer pädagogisch -psychologischen Forschungsstätte größeren Stiles
auszubauen.
Ein wirtschaftspsychologisches Laboratorium ist an der Handelshoch-
schule in Mannheim unter fachmännischer Leitung eingerichtet worden.
Es gliedert sich dem betriebswissenschaftlichen Institute ein und arbeitet dort
besonders in Gemeinschaft mit den Prüf- und Untersuchungsstellen für Or-
ganisationswesen und Werbewirkung. Ausgestattet mit dem erforderlichen
wissenschafthchen Rüstzeug, stellt es sich vornehmlich die folgenden Aufgaben:
1. Die Erforschung der Arbeits- und Berufseignung und die Ausbildung
und Durchführung von Eignungsprüfungen.
2. pie Erforschung des Lehrens, Lernens und Einübens wirtschaftlicher
Arbeitstätigkeiten und die Ausbildung zweckmäßiger Lehr- und Lern-
methoden.
3. Die Erforschung der Arbeitsgliederung und die Ausbildung zweckmäßiger
Formen der Arbeitsteilung und Arbeitszusammenfassung.
4. Die Erforschung der Arbeitstätigkeit und die Ausbildung zweckmäßiger
Arbeitsverfahren .
5. Die Erforschung der Angepaßtheit von Arbeitsmittel und Arbeitsmilieu
und die zweckmäßige Anpassung an den Arbeiter.
6. Die Erforschung der Arbeitsumgebungseinflüsse und ihre Ausnützung
im Interesse des Wirtschaftslebens.
7. Die Erforschung der Vorgänge des Ineinander- und Zusammenarbeitens
und ihrer zweckmäßigen Gestaltung.
8. Die Erforschung der psychohygienischen Verhältnisse der Arbeit und
der psychohygienischen Gestaltung der Arbeit.
9. Die Erforschung der psychologischen Ursachen der Betriebsunfälle und
der psychologisch richtigen Durchbildung der Unfallverhütung.
10. Die Erforschung der allgemeinen Gesetze der Werbewirkung, ihrer prak-
tischen Verwertung und die Prüfung von Werbemitteln und -maßnahmen
auf ihre Wirkung.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 285
Die psychologische Gesellschaft Essen 1919, die unter dem 1. Vorsitzenden
Oberarzt Dr. Kleefisch gegründet worden ist, hat sich zur Aufgabe gestellt,
das Gebiet der Seelenkunde nach der theoretischen wie praktischen Seite
hin zu pflegen. Besonders will sie den psychologischen Fragen aus dem Wirt-
schafts- und Kulturleben nachgehen, wie sie heute den Lehrer, den Arzt, den
Anwalt, den Geistlichen, den Künstler, den Verkäufer, den Politiker, den Volks-
wirtschaftler beschäftigen. Diese Zwecke sollen erreicht werden 1. durch Ver-
anstaltung von Vorträgen und Aussprachen; 2. durch praktische Arbeit in
Arbeitsgemeinschaften (gegebenenfalls nach Sondergebieten) ; 3. durch Bekannt-
gabe und Besprechung der psychologischen Literatur; 4. durch allgemein ver-
ständhche Volksvorträge über psychologische Gegenwartsfragen und 5. durch
Ausschreiben psychologischer Preisaufgaben. An Verhandlungigegenständen
für die Sitzungen sind u. a. zunächst vorgesehen : Schwer erziehbare Kinder —
Psychologische Grundfragen der modernen Kunstwissenschaft — Lernen und
Behalten — Zur Psychologie des Willens — Linkshändigkeit — Über das
Gefühl als Faktor in Unterricht und Erziehung — Zur Kinderpsychologie —
Zur Völkerpsychologie — Über die Begabung der Frau — Methoden der
Begabungsprüfung — Psychologie im Geschäftsleben — Psychologie der
Demagogik — Zur Psychologie der Arbeit.
Ein psychologisch-pädagogisches Preisausschreiben, das im Jahre 1917 vom
Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unter-
richts ausgegangen war, aber trotz der verlängerten Befristung auf Anfang 1919
keine befriedigende Erfüllung gefunden hat, wird jetzt erneuert. Der Preis
ist auf 500 M erhöht worden.. Es hat in etwas veränderter Form nunmehr
den folgenden Wortlaut:
Inwiefern vermag der Rechenunterricht über die Erwerbung
bloßer rechnerischer Fertigkeit hinaus die Intelligenz der
Schüler auszubilden, und wie ist das Unterrichtsverfahren zu
gestalten, damit das Rechnen als besonders geeignetes Mittel
für den Zweck der Begabungsprüfung verwendbar wird?
Von den Bearbeitern wird erwartet, daß sie Kenntnis von den Methoden
und den Ergebnissen der neueren Begabungsforschung haben. Die Bewerbungs-
arbeiten müssen in gut lesbarer Schrift geschrieben sein und sind bis zum
31. März 1920 an den Vorsitzenden des Vereins (zurzeit Geh. Studienrat Dr.Poske,
Berhn-Dahlem, Friedbergstraße 5) einzusenden. Sie müssen mit einem Kennwort
versehen sein; in einem besonderen Umschlag, der mit demselben Kennwort
bezeichnet ist, sind Name und Anschrift des Verfassers anzugeben. Das Ver-
öffentlichungsrecht geht mit der Zuweisung des Preises an den Verein über..
Nachrichten. 1. Prof. Dr. Rudolf Lehmann an der Akademie Posen ist
zum ordenthchen Honorarprofessor für Pädagogik an der Universität Breslau
ernannt worden.
2. An der Königsberger Universität habilitierte sich Dr. med. et phil. Walter
Schwarz für das Fach der Pädagogik.
3. Hermann Lietz, der Begründer der deutschen L^nderziehungsheime,,
ist im Alter von 51 Jahren gestorben.
286 Literaturbericht-
Literaturbericht.
E. V. Aster, Prof. an der Universität München, Einführung in die Psychologie. Samm-
lung „Natur und Geisteswelt ". 2. Aufl. Leipzig 1919. Teubner. 142 S. 2,00 M.
Wir wiederholen bei diesem unveränderten Abdruck, was seinerzeit in der Anzeige der ersten
Auflage über Asters gedrängte psychologische Gesamtdarstellung kennzeichnend gesagt wurde.
(XVII. Jahrg. S. 43.) Es tritt das Bändchen nicht als ein Auszug aus umfassenderen Werken
auf, sondern bietet das Bild eines Seelenlebens, wie es ein philosophisch eingestellter Gelehrter,
die herrschende Betrachtungsweise und die neuen Erkenntnisse seiner Zeit festhaltend, in
eigenster Erfassung und Verarbeitung schaut. In der Darstellungsart ist dabei ein deutlich
hervortretender didaktischer Zug bemerkenswert. Er wird sichtbar besonders in der Art, wie
beim Fortsclireiten im System die Problemstellungen mit besonderer Sorgfalt herausgearbeitet und
unterstrichen werden, wie sich die Darlegungen, die ohne allzu weites Entgegenkommen sich doch
auf ein leichteres Verstehen einstellen, reichlich mit meist eigengewählten und glücklichen Bei-
spielen durchsetzen, wie ferner in die Fachsprache Schritt für Schritt geschickt hineingeleitet
wird. Keineswegs erstrebt Aster aber mit seiner Einführung eine flache Gemeinverständlichkeit,
die keine ernsteren Anforderungen stellt. Er verlangt in seiner wissenschaftlichen Haltung viel-
mehr eine denkende Entgegennahme des vorgetragenen Stoffes. Inhaltlich tritt die experimen-
telle Richtung weiter zurück, als es ihre Bedeutung zuläßt. Auch eine reichlichere Einfügung
differential- und kinderpsychologischer Lehren, wie es z. B. im Abschnitte über die Vorstellungs-
typen geschehen ist, würde dem Ganzen dienlich sein. Daß dagegen die Sinnespsychologie sich
nicht wie üblich zu Ungunsten einer ausführlichen Behandlung der höheren seelischen Leistungen
vordrängt, gereicht dem. gutgeschlossenen, einheitlichen Gesamtbilde zum Vorteil.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. Hans Rupp, Privatdozent und erster Assistent am Psychologischen Institut der Universität
Berlin, Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik und Jugend-
psychologie. Leipzig 1919. Quelle & Meyer. 244 S. 10,00 M.
Der handliche und vom Verlag auf das beste ausgestattete Band ist ein wenig veränderter
Abdruck der Reihe von Aufsätzen, die Rupp im 15. bis 19. Jahrgang dieser Zeitschrift ver-
öffentlicht hat. Es wird eine solche Vereinigung in geeigneter Buchform von vielen Seiten sehr
begrüßt werden. Zunächst soll die Schrift ein Führer durch die psychologische Abteilung der
^Deutschen Unterrichtsausstellung" in Berlin sein. Aber sie stellt sich nicht dar als eine trockene
Aufzählung von Schaustücken. Denn in engster Verknüpfung mit der bildlichen Vorführung
und Beschreibung von Apparaten, die übrigens über den Bestand der Unterrichtsausstellung weit
hinausgehen, gibt sie eine systematische Darlegung all der psychologisch -pä'dagogischen Pro-
bleme, deren Untersuchung an die vorgezeigten Werkzeuge gebunden ist. So wird das Buch über
jenen ersten Zweck hinaus eine beste Einführung in die experimentell betriebene Pädagogik
und Jugendkunde. Es muß ebenso gebraucht werden können in den einführenden Übungen an
Hochschulen und an Lehrerbildungsanstalten, wie in den mancherlei Arbeitsstätten und Prüfungs-
ämtern, in denen beute das psychologische Experiment für Berufseignung usf. in so weitgehendem
Maße Anwendung findet. Zu jedem Lehrbuch der experimentellen Psychologie und Pädagogik
empfiehlt es sich zudem als trefflicher Begleiter.
Nicht unerwälint bleibe, daß Rupp in seinem Handbuch eine Reihe von Fragen erstmals
behandelt und eine Anzahl von neuen, eigen ersonnenen Apparaten und Versuchsanordnungen
vorführt. Es werden dadurch besonders die Gebiete des Farbensinnes, des Augenmaßes und
der motorischen Fertigkeiten, die eine große Anzahl bedeutsamer pädagogischer Probleme in
sich schließen, sehr wertvoll.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. R. Pauli, Privatdozent an der Universität München, Psychologisches Praktikum.
Leitfaden für experimentell-psychologische Übungen. Mit 90 Abb. im Text u. l Tafel. Jena 1919.
Gustav Fischer. 223 S. 11,00 M.
Die heute in aller Welt an der experimentell-psychologischen Forschung arbeitenden Institute
haben von Deutschland ihren Ausgang genommen. Aus bescheidenen Anfängen sind sie in
steter Pflege zu wissenschaftlichen Arbeitsstätten geworden, die in den Aufgaben, den Einrich-
tungen, der Exaktheit und Mannigfaltigkeit ihrer Methoden und den Formen ihrer mit der
Forschung verbundenen Lehrtätigkeit es den naturwissenschaftlichen Laboratorien nachtun, wo-
bei freilich das Ausland in vielen Stücken sein deutsches Vorbild überflügeln konnte. Eine
Literaturbericht 287
Aufgabe der Institute nun, die leicht zu gering eingeschätzt wird, ist die praktische Einführung
in die Methoden und die Technik der psychologischen Untersuchung. Daß man solche Übungs-
kurse zumeist nur mit zwei Wochenstunden ansetzt und ihre Leitung mitunter in die Hände des
jüngsten Assistenten legt, zeugt nicht davon, daß ihre Bedeutung und die Schwierigkeit ihrer
Gestaltung allenthalben — so zu meiner Studienzeit auch im Wundtschen Institut — voll gewürdigt
wird. Jedenfalls erfordert das psychologische Praktikum von seinem Leiter, soll es seinen Zweck
erfüllen, neben der selbstverständlichen wissenschafthchen Tüchtigkeit ein hohes didaktisches Ge-
schick, und es darf einigermaßen verwundem, daß die Lehrgedanken imd Lehrerfahrungen aus
den psychologischen Kursen so wenig mitgeteilt und verhandelt worden sind und daß u. a.
bis heute in Deutschland ein eigens für die psychologischen Einführungsübungen verfaßtes
Handbuch fehlte. Pauli versucht diesen Mangel zu beheben. Die Gesamtanlage seines Buches
zeugt von ernstem didaktischen Willen. Jedenfalls braucht es den Vergleich mit trefflichen
Seitenstücken auf naturwissenschaftlichem Lehrgebiete nicht zu scheuen. Es scheint denn doch,
daß sich die guten Wirkungen der hochschulpädagogischen Bewegung immer "deutlicher und
ausgedehnter spürbar machen. In der Auswahl des Stoffes weiß sich Pauli die erforderliche
Beschränkung aufzulegen. Aus den Tatsachen- und Fragegebieten greift er nur das für eine
Einführung durchaus Notwendige auf. Dagegen erstrebt er, richtig eingestellt auf den obersten
Zweck des psychologischen Praktikums eine gewisse Vollständigkeit in den Methoden. Doch
unternimmt er es nicht, unter methodischem Gesichtspunkt zu gliedern, sondern folgt im Aufbau
der üblichen systematischen Abfolge nach psychischen Funktionen. Vordringlich in der Be-
handlung ist selbstverständlich die Herausarbeitung der Fragestellungen und die Beschreibung der
Apparate und Versuchsanordnungen sowie die Anweisung zum praktischen Gebrauch. Der Kenner
des Gebietes kann sich dabei zwischen dem Bekannten an manchem wertvollen Fund von Ab-
geändertem und Neuem erfreuen. Sehr zu begrüßen ist die Beigabe von einer großen Anzahl
von Vordrucken, die der Festhaltung, Ordnung und Au.swertung der Versuchsergebnisse «dienen
sollen. Ihre Einrichtung zeigt, wie auch sonst die gesamte Gestaltung der Schrift, daß das
Buch aus der eigengeformten imd mit offenbarer didaktischer Neigimg geübten Lehrpraxis
erwachsen ist. Welche Regeln in ihr von Pauli befolgt werden, gibt er u. a. in einem Ab-
schnitte der Einleitung kurz an. Seine Anregungen werden sicher für die Mitglieder und Leiter
der psychologischen Praktika mit viel Gewinn entgegengenommen werden. Es sollte auch
der psychologische Unterricht in den Lehrerbildungsanstalten an Paulis Praktikum nicht
vorübergehen. Noch sei betont, daß sich Pauli befleißigt hat, soweit es die strengwissen-
schaftliche Haltung zuließ, in fremdwörterfreier und sclilichter und damit schöner Sprache zu
schreiben.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. N. Braunshausen, Einführung in die experimentelle Psychologie. Sammlimg
„Natur und Geisleswelt". 2. veränderte Aufl. Leipzig 1919. Teubner. 117 S. 2,00 M.
Das Bändchen hat sich bewährt als zuverlässiger Führer, der in Kürze eine Übersicht
über die wichtigsten Verfahren und Ergebnisse der experimentell betriebenen psychologischen
Forschung gibt. Es reicht aus für einen ersten Einblick,' den der gebildete Laie in dem Gebiete
sucht, das heute bei seinen weitausgreifen^en praktischen Anwendungen auch weiteren Kreisen
nicht mehr völlig verschlossen bleiben darf. Vielleicht, daß es sich auch als Begleiter der seelen-
kundlichen Schullehrbücher, die überwiegend der Bedeutung der experimentellen Psychologie
noch nicht gerecht werden, anbieten darf. Dem Ausbau, dessen sich die psychologischen ünter-
suchungsweisen in den letzten Jahren erfreuen konnten, ist Braunshausen in der neuen Ausgabe
andeutend nachgegangen, wenn auch nicht in dem uns notwendig erscheinenden Maße. So
hätten insbesondere in dem Abschnitt .InteUigenzprüfungen" (S. 87) bei Ausscheidung älterer
überholter Methoden die jüngeren Fortschritte in der Begabungsuntersuchung stärker berück-
sichtigt werden müssen. Als dankenswerter Zuwachs ist ein brauchbares Verzeichnis weiter-
führender Schriften zu nennen, das nicht bloß Titel anführt, sondern auch kurze Kennzeich-
nungen des Inhaltes gibt. Mit Abbildungen, die eine Darstellung der experimentellen Psychologie
nicht entbehren kann, ist nach wie vor gespart worden.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
W. Peper, Jugendpsychologie. Für Kl. III der wissenschaftlichen Kurse des Oberlyzeums.
3, Aufl. Teubner, Leipzig 1919. 126 S. 2,20 M.
Die neue Auflage dieses I. Teiles aus dem Peperschen Unterrichtswerke bringt einige er-
wünschte Erweiterungen. So berücksichtigt sie. sich an Sterns führendes Werk „Zur Psycho-
288 Literaturbericht
logie der frühen Kindheit" (Leipzig, Quelle & Meyer) anlehnend, mehr als beim ersten Erscheinen
das vorschulpflichtige Alter, und so bemüht sie sich auch, das psychologische Verständnis für
die unerwartet schnell zu praktischer Bedeutung gelangten Begabungsprüfungen anzubahnen. —
Pepers Jugendpsychologie ist nicht ein bequemer Auszug aus umfänglichen Darstellungen und aus
Einzeluntersuchungen des Gebietes, sondern eine von gutem unierrichtswissenschaftlichen Denken
geleitete schul methodische Bearbeitung. Sie mußte sich bei solcher Gestaltung an amtliche Vor-
schriften halten und so Forderungen für Auswählen, Zumessen und Anordnen des Stoffes er-
füllen, die mir und vielleicht auch dem Verfasser zum Teil fragwürdig erscheinen.
Leipzig. Otto Scheibner.
A. Rzehak, Prof. a. d. Deutschen technischen Hochschule in Brunn, Der gegenwärtige
Stand der Wünschelrutenfrage. Brunn 1918. Mährischer Gewerbeverein. 51 S 1,50 M.
Auf eingehende Literaturstudien sich stützend, versucht der Verfasser, seinen Gegenstand
nach den verschiedensten Seiten hin in aller Kürze darzustellen. Er gibt einen von weit zurück
bis in die jüngste Zeit heraufführenden geschichtlichen Überblick, zeigt die Formen des rätsel-
haften Werkzeugs und den verschiedenen Gebrauch, stellt die Deutungsversuche zusammen,
zählt die Anschauungen über die physiologischen Wirkungen und über die Rutenfähigkeit auf
und sammelt Stimmen des Für und Wider. Rzehak selbst tritt auf die Seite derer, die unter
den sich widerstreitenden Erklärern den Rutenausschlag als eine psycho - physiologische Er-
scheinung auffassen und glaubt folgende Sätze als vollkommen feststehend ansehen zu dürfen :
„1. Alle Rutenausschläge werden duixh Muskelbew^egungen erzeugt, die ihrerseits wieder —
sofern sie nicht ganz willkürlich sind — entweder durch Auto.suggestion, durch (zum Teil un-
bewußte) Sinneswahrnehmungen oder durch rein psychische Einflüsse hervorgerufen werden.
2. Erfolge und Mißerfolge der Rutengänger verteilen sich ungefähr so wie Treffer und Nieten
bei den Glücksspielen. 3. Eine unmittelbare Einwirkung unterirdischer Wasserläufe, Erzlager u. dgl.
auf die Wünschelrute ist bisher in keinem Falle mit Sicherheit nachgewiesen."
Erfahrungen, die ich kürzlich einem Zufall verdankte, scheinen den ersten der Rzehakschen
Sätze teilweise zu bestätigen. Mit einer Klasse 18— 20 jähriger Schülerinnen wohnte ich auf
einer Wanderung den Versuchen eines Rutengängers vor einem Kreise sehr namhafter Persön-
lichkeiten, darunter u. a. der frühere Kriegsminister v. Heeringen, bei. Die jungen Mädchen
drängten, ihre „Rutenfähigkeit" zu erproben, und es ergab sich dabei eine Streuung von völliger
Erfolglosigkeit durch verschiedene Grade der Wirkung hindurch bis zu einem Falle von bo-
ängstigend starker Reaktion. Diese Reihe der Schülerinnen entspricht einmal der mehr oder
minder starken Geneigtheit der jungen Mädchen, sich mit der Wünschelrute zu versuchen —
den stärksten Ausschlag erzielte eine auffällig scheue, sonst alles öffentliche Hervortreten ver-
meidende Schülerin, die sich zu unserer Überraschung fast leidenschaftlich zu dem Versuche
drängte — und entspricht dann fast genau auch der Ordnung, die ich auf Grund 2 '/j jähriger
Erfahrung mit der Klasse schon früher über den Grad ihrer Suggestibilität gewonnen hatte.
Ich gedenke, an anderer Stelle hierüber ausführlicher zu berichten.
Leipzig. Otto Scheibner.
Moede-Piorkowski-Wolff, Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organisation und
die experimentellen Methoden der Schülerauswahl. Mit 3 Textabbild, u. 2 Tafeln.
Langensalza 1918. Beyer & So. 223 S. 4,80 M.
Eine Besprechung dieses Buches, das, wie vorauszusehen war, außerordentlich viel Be-
achtung gefunden hat, erübrigt sich füi- uns, weil in dieser Zeitschrift sein Gegenstand von den
Verfassern Piorkowski und Moede selbst in einer kleinen Aibeit (Jahrgang IXX. S. 127 f.) dar-
gestellt worden ist und weil sich daneben in der und jener Abhandlung zum Begabtenproblem
auch kritische Bemerkungen über die Berliner Versuche finden. Ein abschließendes Urteil
kann erst dann gegeben werden, wenn gesicherte Erfahrungen darüber vorliegen, wie die experi-
mentell vorgenommene Berliner Auslese der Begabten sich in der für sie eigens eingerichteten
Schule bewährt hat. Es möge so oder so ausfallen: die Drei-Verfasser-Schrift wird ihren ge-
schichtlichen Wert behalten. Seh.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
Bildsamkeit und Persönlichkeit.
Von Walther Saupe.
Mit Recht hat Wilhehn Windelband wiederholt an bekannter Stelle die
optimistischen sowohl wie die pessimistischen „Antworten auf die Frage, ob
die Welt mehr Lust oder mehr Leid enthalte", als „gleichmäßig pathologische
Erscheinungen" hingestellt und hinzugefügt, daß diese Frage für die Wissen-
schaft ebenso unnötig wie unbeantwortbar sei. Trotzdem taucht in den Wert-
fragen fast aller Lebens- und Kulturgebiete immer wieder der Standpunkt
eines allzustarken Empfindens des Wertwidrigen ') auf, welches sich dem Wert-
haften vollkommen überordnet, und dies auf der Basis des ethischen Satzes,
daß, je tiefer die Befriedigung i.als emotionales Erfüllungserlebnis verstanden)
ist, desto höher der Wert sich stellt. — Nicht ohne Grund hat nun Theodor
Litt, mit dessen tief schürf endem Auf satze : „Lehrfach und Lehrpersönlich-
kei t " 2) sich diese Zeilen beschäftigen und ihn vielleicht auch hier und da nutz-
bringend ergänzen möchten, seine Gedanken in jener oben skizzierten Stellung
Max Schelers^) verankert, wenn nicht gar bisweilen sich in der Fassung
seiner Resultate von dessen Anschauungen beeinflussen lassen. Es handelt
sich hier, in Ergänzung zu der oben hergestellten Beziehung, um Schelers
öfters vertretenen Standpunkt eines kritizistisch- negativen Ressentiments,
welches sich in seiner Erwartung, den Aktvollzug eines guten Wollens durch
zentrale Glücksgefühle begleitet zu sehen (Scheler a. a. 0. II, S. 219 ff, 231 f),
herb enttäuscht sieht, und nun — nur aus Mangel an sicheren Entscheidungs-
gründen — sogleich zu negativer Verwerfung fortschreitet, anstatt mit einer
kritischen Urteilsenthaltung sich zufrieden geben zu wollen 4). Und dieses
Überwiegen des Wertwidrigen, im Zusammenhange mit der negativ-kritizi-
stischen, ressimenthaltigen Stellungnahme prägt sich besonders den Ausfüh-
rungen Litts über die Persönlichkeit des Lehrers (besonders S. 142 ff) so stark
auf, daß man von ihm (trotz der gegenteiligen Berufung auf W. Sterns
neuestes Werk „Die menschliche Persönlichkeit" Lpz. 1918) „eine fast nativi-
stische Starrheit und Unbeeinflußbarkeit" der Persönlichkeit (hier in dem
einfachen Sinne des sich entwickelnden Menschen verstanden) vertreten zu
sehen glaubt — ein Standpunkt, gegen den sich W. Stern schon in der Vor-
rede (S. XI) seines genannten Buches richtet. —
Es muß nun von vornherein betont werden, daß Th. Litt selbst (S. 140)
bei seiner schmerzlichen Feststellung eines starken Mangels an PersönUch-
keiten im Bereiche der ethischen Bildungswerte betont hat, er sage dies
0 Vgl. W. Windelband, Einleitung i. d. Philosophie (Tübingen 1914), S. 424.
2) In Ilbergs Neuen Jahrbüchern für Philologie ... 1918 II, S. 135 ff.
3) „Der Formalismus in der Ethik und die raateriale Wertethik" im „Jahrbuch für Philosophie
u. phänomenologische Forschung" Bd. I (1914) u. Bd. 11 (1916); auch in Buchausgabe (Halle 1916).
Ich zitiere nach dem Jahrbuch (zu dieser Stelle vgl. I; 492 u. 498 f.).
4) Scheler a. a. 0. II, 226—228 u. „Abhandlungen u. Aufsätze" Bd. I (Lpz. 1915) S. 45 ff. 74 f,
76, 90 f, 109 f. (,..Das Ressentiment im Aufbau der Moralen" T I.).
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 19
290 Walther Saupe
„unter dem ausdrücklichen Zugeständnis, daß es sich hier um ein seinem
Wesen nach unbeweisbares Werturteil handle" ; und doch ist der Schluß,
der aus dieser Zuständlichkeit gezogen wird, so schwerwiegend und hoffnungs-
los zugleich für die Zukunft unseres schwer bedrohten Bildungswesens, daß
man der „begrifflichen Beschreibung" der pessimistischen wohl mit gutem
Rechte die der optimistischen Stimnmngsrichtung entgegenstellen darf. Gewiß
gilt auch von ihr, wie Windelband ausdrücklich den hier benutzten Aus-
führungen (a. a. 0. S. 426) abschheßend hinzufügt, der Einwand, daß, „selbst
wenn man statistisch oder begrifflich ein Überwiegen von Lust ... in der
Gesamtheit der Dinge und der Erlebnisse nachweisen könnte, doch darin
noch lange kein Recht läge, das Universum als gut zu qualifizieren". Gleich-
wohl will es so scheinen, als ob, wie schon erwähnt. Litt (S. 141) durch sein
Beharren im „Zustandsteleologischen der Persönlichkeit" (Stern a. a. 0. S. 270)
zum Pessimismus geführt worden sei und sich nicht zu der — freilich eben
optimistisch gefärbten — Bejahung der Sätze durchgerungen habe, die ei-st
eigentlich in das Zentrum von Sterns Persönlichkeitsbegriff hineinführen :
„Die Zweckbedeutung des BeM^ußtseins liegt nicht in der glatten Spiegelung
persönlicher Vollkommenheitszustände (bei Litt etwa: Unvollkommenheits-
zustände), sondern in der tätigen Verarbeitung und Überwindung von Stö-
rungen der persönlichen Zweckbestimmtheit. Das Bewußtsein ist ein als
Waffe dienender Spiegel') . . . Aber sie (sc. jene Störungen) erhalten sofort
ihre positive Wertbedeutung, wenn man sie als dienende Faktoren in einer
jenseits des Bewußtseins liegenden Strebungsteleologie2) der Persönlichkeit
auffaßt. '^ (S. 269 f)
Bekennt sich nun unser deutsches Erziehergeschlecht noch zu Lessings
unvergänglicher Theorie von der Wertüberlegenheit des Wahrheitsstrebens
über den Wahrheitsbesitz , und gewinnt es daraus die feste Hoffnung auf
ein unzerstörbares Obsiegen des Wertstrebens über den Wertbesitz, so
darf und soll es sich nicht den guten Glauben, der sich nicht auf die „Gnade"
(Litt) allein verläßt und doch auch nicht aus jedem Individuum eine „Persön-
lichkeit zu machen" sich strengstens verpflichtet fühlt, als einen köstlichen
Besitz und Wechsel auf die Zukunft bewahren, daß es doch besser werden
könne: nicht nur auf praktischem Gebiete durch von der Vernunft geforderte
Maßnahmen, sondern auch in der Theorie von Menschenbildung und Menschen-
erziehung selbst. —
IL
Th. Litt hat selbst schon in seinem behandelten Aufsatze eine Fülle von
Wegen aufgewiesen, die für einen Ausbau nach den oben gekennzeichneten
Richtungen hin von höchstem Werte sind. Sie liegen in einer schärferen
Erfassung der menschlichen Persönlichkeit, und zwar eher in der des Er-
ziehers als der des Zöglings, und sodann in einer klareren und tiefergehenden
Herausschälung der Erziehungs- und Bildungswerte aus den einzelnen Bildungs-
fächern, auf deren Reahsierung die geistigen Kräfte der Persönlichkeit sowohl
von selbst zustreben als auch — in richtig verstandener Weise — hingelenkt
') Vgl. zu Goethes iiier wohl vorliegender Theorie von der Persönlichkeitsenlwicklung zuui
»schaffenden Spiegel" K. Burdachs Buch: Deutsche Renaissance (Berlin 1918 2), S. S4ff.
2) Stern bezeichnet sie auch noch schärfer als „funktionelle Richtungsteleologie" (a. u. 0.,
S. 268 f.).
Bildsamkeit und Persönlichkeit 291
oder hin entwickelt weiden müssen. Nun leugnet Litt - sicherlich mit
gutem Rechte — die Möglichkeit. „Peisönlichkeiten zu machen", bekennt
sich also freimütig zu dem Satze: ex nihilo nihil fit, wenn einmal die „Gnade"
fehle (S. 141): er gibt aber, nur wenige Zeilen später, zu, daß die Persönlich-
keit „werde, wachse, reife — falls eben in ihr der Keim zu solchem Wert-
wachstum eingeschlossen sei — von selbst durch volle, selbstvergessene Hin-
gabe an die Sache, ja sie entfalte sich in demselben Maße sicherer und
reicher, wie sie die Sache in den Mittel- und Zielpunkt des eigenen Strebens
und Schaffens rücke und die eigene Person aus den Augen verliere ..." —
In beiden Fällen wird man wohl die scharfen Zuspitzungen aufeinanderzu
umbiegen und sie so eine mehr und mehr gemeinsame Kraft entfalten lassen
dürfen: Persönlichkeiten sollen nicht „gemacht", sondern erweckt und durch
geistige Hilfeleistung bei ihrer wachsenden Selbstentfaltung gestärkt und
unterstützt werden; und andererseits hat die auf dieses Ziel hindrängende
Erziehung die schwere Aufgabe vor sich, jenes autonome, zunächst noch und
auf lange Zeit hinaus triebhafte Werden, Wachsen und Reifen der auf-
blühenden Persönlichkeit auf ihrem Wege zur selbstlosen Hingabe an die
Sache vor dem Sturze in Abgründe und vor der Verirrung auf falsche Wege
zu behüten und sie zu der Selbsterkenntnis und selbständigen Verwirklichung
ihrer inneren Bestimmung mit fester Hand emporzugeleiten.
Jene zweifache Betätigung der Erziehung aber stützt sich, bei wissenschaft-
licher Untersuchung, m. E. auf 3 Faktoren, die sich wie 3 konzentrische
Kreise von außen nach innen um den festen Problemkern herumlegen: auf
eine tiefere Erkenntnis des Kulturzusammenhangs (nach Struktur und
Entwicklung) und seiner Forderungen an den Menschen als shebungs-
teleologische PersönHchkeit; auf eine tiefere Erfassung der Möglichkeiten
und Mittel, die zur Bewältigung des Kulturganzen durch die im
Menschen angelegten Strebungsteleologien (unter Berücksichtigung ihrer
eigenen, inneren Selbstent>\icklung) dienen können; endhch: auf tieferer
Erkenntnis der „Konvergenz" dieses doppelseitigen Bildungsprozesses zu den
Forderungen der gegenwärtigen Lehr- und Erziehungsmethoden. — Eduard
Spranger hat mit Recht in seinen „Lebensformen" 'Halle 1914; auch in der
„Festschrift für AI. Riehl" ebenda) unter allgemeiner Zustimmung nicht ohne
Grund gefordert, daß der Vierzahl der logischen, ethischen, ästhetischen und
religiösen Werte, die auch jüngst in Windelbands „Einleitung in die Philoso-
phie" noch nicht zur rechten Einheit kommen konnten i), solche aus den
Gebieten der Wirtschaft, des Staates und der Gesellschaft zur Seite beten
müßten, und daß dann natürlich der Zögling auch zu ihrer Beherrschung
und Förderung im Prozeß der historischen Gesamtentwicklung emporgebildet
werden müsse. Diese ihre Forderungen aber kann die Kultur an den Menschen
nur dann erfolgreich richten, wenn sie durch ihre Probleme die in ihm ange-
legten Dispositionen des Vorstellens, Fühlens und Wollens entzündet und
anti-eibt zu einer Herauslösung der für den menschhchen £ildungsprozeß
ebenso als für die Förderung der Kultur unentbehrlichen Werte und Normen
der Verstandes-, Gefühls- und Willensbildung aus dem engmaschigen Netz
des komphzierten Kulturzusammenhangs, in das sie hineinverwebt sind. —
') Vgl. auch H. Rickert. Wilhelm Windelband (Tübingen 1917> S. 23.
19'
292 Walther Saupe
So ergibt sich in kurzen Umrissen folgendes Bild^j: Fordert zunächst die
erkenntnistheoretische Seite der Bildung die Einführung des Zöglings
in die Inhalte und logischen Grundbegriffe (innerer Strukturzusaramenhang,
Möglichkeit und Umfang unserer Erkenntnisse) jener sechs objektiven Kultur-
gebilde, so verlangt der Standpunkt der Gefühlsbildung die Aufstellung
sittlicher Prinzipien im Bewußtsein des Individuums, die als Ideale mit abso-
lutem Gültigkeitsanspruch gleichsam über den einzelnen Kulturgebieten
schweben sollen und sich für sie etwa als Wahrheitssinn, Arbeitssinn, soziale
Liebe im weiteren Sinne, politische Gesinnung, Gefühl für innere Harmonie
und religiöse Gesinnung (Erlösungssehnsucht) formulieren lassen. — Als Ziel
der Willenserziehung werden sich schließlich — in strenger Korrelation zu
jenen — die wichtigsten Kulturleistungen der einzelnen Gebiete im Rahmen
der Gesamtkultur ergeben, zu deren selbsttätiger Förderung der Zögling
emporentwickelt werden muß: das Erkennen und Wissen (als wissenschaft-
liche Betätigung im weitesten Sinne) ; die Beherrschung der für die psycho-
physische Kultur notwendigen Fertigkeiten; die Fähigkeiten politischen und
sozialen Verhaltens, ästhetischen Gestaltens und endlich die Religiosität selbst
als tätige Zurückbeziehung der einzelnen zersplitterten Erlebniswerte auf den
totalen Sinn und Wert des Lebens. Während also die Gefühlsbildung
sich der Aufstellung des jeweils werthaltenden Ideals auf der Gefühlsgrund-
lage als des notwendigen inneren Bindemittels zwischen Erkennen und Wollen
widmet (ideale Ethik), strebt der andere Teil der axiologisch- normativen
Problemseite: die Willensbildung nach Erweckung des sittlichen Strebens,
den Kulturprozeß im Rahmen seines innerlichen Zusammenhangs (konvergente
Ethik) zu fördern, aber nicht nur mit dem Ziele eines mathematisch regu-
lierten Maß Verhältnisses der einen Wertklasse zu den anderen , sondern in
erster Linie von der Absicht geleitet, sich mit dem in den Komplex der
individuellen Entscheidung eintretenden moralisch-kollektiven Wert-
bewußtsein auseinanderzusetzen (also im Sinne einer Zusammenfassung von
E. Sprangers sekundärer und tertiärer Wertung). Die Rechtfertigung dieser
strengen Zerlegung der axiologisch-normativen Problemseite, kurz gesagt : der
ethischen Sphäre in Gefühls- und Willensbildung in Idealwerte und Konvergenz-
werte liegt dann in der Auffassung (ganz abstrakt gefaßt), daß die Gesinnung
sich von der Rücksicht auf praktische Kulturbetätigung selbst freimacht, der
Wille aber ''„die geschichtlich und gesellschaftlich überlieferte Moral mit
ihren typischen Situationen und Urteilen" mit eingeschlossen) darnach strebt,
mit dieser kulturellen Betätigung untrennbar verwachsen zu sein, und dafür
jenen absolut-unbedingten Gültigkeitsanspruch einer gewissen Relativierung aus-
liefert. — Das Wesen des ethischen Fortschritts von der rein innersittlichen
Werthaltung zur praktischen Kulturbetätigung endlich liegt demnach in jener
resignierten Beschränkung, zu der sich Goethes Wilhelm Meister hindurch-
') Es liegt durchaus fern, hier etwas wie ein eigeaes „System" zu versuchen; die Auffassung
ist also nur kategorial verschieden von der der genannten Philosophen und auf die diesem
Aufsatze gesteckten Ziele zui^eschnitten.
2) Über den sehr wesentlichen Unterschied in der Höhe dieser Werte, der in ihrer Vorzugs-
bedeulung für die individuelle Persönlichkeit oder andererseits fiir eine größere generell-über-
persönliche Einheit gesellschaftlichen Charakters liegt und somit die ökonomisch-politischen
Wertgruppen von den abstrakten grundlegend ablöst, vgl. M. Scheler: Jahrb. I, S. 505 u. 512 f.
und (ergänzend) W. Stern a. a. 0„ S. 50 f.
Bildsamkeit und Persönlichkeit 293
ringt: „daß die Bestimmung des Menschen nur im Berufe zu suchen ist.
Entsagen soll er jenem Schwelgen im Allgemeinen, in Fühlen und Sehnen —
die Welt soll er erkennen lernen und darin seinen Platz sich suchen durch
Arbeit und nützliche Tätigkeit. Aus der Selbstbespiegelung, aus der weichen
Pflege individueller Beziehungen heraus, soll er in die harte Wirklichkeit
gestellt werden und in tätigem Zusammenhange seinen Mann stellen".^) —
Natürlich sind gerade jene beiden Gebiete des ^.Wertfühlens" und „Zweck-
strebens" 2) aufs innigste miteinander verwachsen : gleichsam die beiden Seiten
einer in uns aus dem Erkennen und dem Erleben des Kulturganzen empor-
quellenden ethischen Kraft, die ein leuchtendes Ideal aus dem Kullurganzen
herauszulösen sich bemüht (soweit es nicht aus metaphysischen Höhen stammt),
um es dann als lebenerweckende Kraft und als emporhelfenden Führer durch
die engen Maschen des dichten Kulturgewebes hindurchstrahlen zu lassen.
Kein Wunder, wenn es dabei an seinem starken, reinen Glänze Einbuße
erleiden muß, je tiefer es nach dem Boden der Kulturvertlechtung hinab-
strebt, und doch lebt es fort als empfangende und gebende Einwirkung, mit
der der Erkenntnis sich darbietenden materiellen und geistigen Umwelt
nicht minder eng verkettet als mit der aus den Individuen strömenden
Kraft eines freien Willens.
III.
Das innerliche Zusammentreffen und Aufeinanderbezogensein der geschil-
derten drei Funktionen führt von selbst auf die Forderungen einer schärferen
(theoretischen) Differenzierung des ganzen Bildungsprozesses inner-
halb der individuellen Persönlichkeit in eine vorphilosophische
und in eine philosophische Stufe. Als Zielforderurg steillt sich hiervon
selbst die völlige Angleichung an die lebendige Entwicklung ein , die von
den „vorphilosophisch - halbbewußten Bewußtseinsinhalten durch fortschrei-
tende Reflexion der Selbstverständigung des Bewußtseins" (Windelband:
Präludien I, 5, S. 27) zu der philosophischen Stufe sich emporringt, ebenso
yne etwa entsprechend — nur spezieller gefaßt — die vorwissenschaftlichen
Erkenntnistriebe durch Philologie (Wortkunde auf sprachwissenschaftlicher
Grundlage, Interpretation der Texte), zu reinwissenschaftlichen Erkenntnissen
gefördert werden. Infolgedessen kam die oben festgelegte zu strenger
Trennung führende Definition von Gesinnung • Werthaltung) und Willens-
stellung erheblich gemildert werden, indem — absichtlich unter schärferer
terminologischer Differenzierung — eine Scheidung von wertfrei-unref lek-
tierter Erkenntnis, Gefühl und Willen und wertbezogen-wissens-
bestimmter Erkenntnis, Gesinnung und Willen andererseits statuiert wird.
Dies wird umso klarer, wenn man sich noch einmal zusammenfassend des
Aufstiegs der drei wertfrei-vorphilosophischen Kräfte: des Erkenntnistriebes,
freispielenden Gefühls und ungebundenen Willens, zu der höheren philoso-
phischen, d. h. wertbezogen-wissensbestimmten Stufe (kraft ihres Zusammen-
treffens und Aufeinanderbezogenseins) möglichst deutlich bewußt wird.
') 8. Windelband: Präludien I -^ (Tübingen 1915) S 182.
■-) Nach der Terminologie Wilh. Diltheys, für den sie, zusammen mit den grundlegenden
Vorstellungen den auf alle BUdungsvorgänge einwirkenden „erworbenen Zusammenhang unseres
Seelenlebens darstellen" (vgl. u. a. in Philos. Abhdl. für Ed. Zeller [Leipz. 1887] S 366; be-
sonders auch die Abhandlung: ^.Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen
Wissenschaft" in .Sitzungsber d. Preuß. Akadem. d. Wissensch. 1SS8).
294 Waltlier Saupe
Aus dem Erkenntnistrieb entsteht die umfassende kritische Er-
kenntnis selbst, in der sich jene drei Grundkräfte: Erkenntnisfähigkeit,
Gefühl für den Wert der Erkenntnis i) und — daraus entspringend — Wille
zur Erkenntnis {Xöyog) verknüpfen zum gvvoqöv (geistige üvvO-eaig). — Aus
dem freispielenden Gefühl entsteht ein seelischer Organismus, in
welchem sich kritische Durchleuchtung und umfassende Analysierung des
Gefühls, Glaube an den Idealwert des Gefühls und endlich der Wille zu
dessen Setzung und unbedingter Anerkennung verbinden zu einer kritischen
Idealsetzung 2) — wenn sie nicht metaphysisch ist — vor dem als höhere
Macht hereinragenden Forum des Gewissens in seiner Grundbedeutung des
AU-wissens, in welchem Freiheit und Notwendigkeit eines frei anerkannten
Gehorsams innerlich zum sittlichen Problem zusammenfallen. — Aus dem
ungebundenen Willenstrieb entsteht der kulturbedingte organisierte
Willen, in welchem inneres ki'itisches Bewußtwerden über seine Ziele und
Mittel, Verantwortungsgefühl für Umfang und Konsequenzen der jeweihgen
Willenshandlung und unbeirrbarer Willensentschluß zum Handeln sich ver-
knüpfen zur organisierten Tat. — So wird im Zusammenwachsen und
im damit zugleich emporstrebenden und sich ausbreitenden Wachstum dieser
Kräfte ihr innerer Ausgleich innerhalb ihrer chaotischen Komplexion stetig
gesucht (Wurzel des Organismusgedankens), und zwar aus dem Grunde
und mit Hilfe einer im Innern eines jeden Menschen zu verlebendigenden,
idealsetzenden Kraft überpersonal-göttUchen Charakters (Wurzel des Indivi-
dualitätsgedankens), welche aus der Erkenntnis ihre sachliche Be-
reicherung und formallogische Regulierung empfängt (Primat des reinen
Intellekts und Wurzel der Seinsfragen) und welche andererseits dem
Willen zum Handeln die aus den ewigen und allgemeingültigen Idealwerten 3)
gewonnene wahrhaft sittliche Bestimmung erst aufprägt. Man könnte dies —
in Analogie zum Vorhergehenden — als Primat einer praktischen Ver-
nunft in ihrer Erweiterung von kulturfrei-idealer zu kulturbedingt-konver-
genter Ethik bezeichnen, welche kein Ausleseprinzip mehr darstellt, sondern
ein Kampfprinzip, mag nun die Auseinandersetzung die Autoritäten der
gesellschaftlichen und geistigen Umgebung zum Angriffsobjekt haben oder
den innersittlichen Charakter einer autonomen Selbstentscheidung und Zu-
stimmung zu eigenen sittlichen Erlebnissen (PfUchtenkonflikte, Verzicht oder
Nichtverzicht auf Frefiheit) an sich tragen. Hier wurzeln dann das sittliche
Verantwortungsgefühl und die Wertfragen.
IV.
Th. Litt hat sodann in einer Anmerkung (zu S. 147), die ihrem Gehalte
nach zu dem Wertvollsten seines ganzen Aufsatzes gehört und zwar gerade
') „Bereits die noetischea Probleme haben übrigens etwas von dem Wesen der axiologischen
an sich und stellen deshalb den Übergang von den theoretischen zu den praktischen dar*
(Windelband: Einleitung S. 255).
2j Ähnlich urteilt über den Charakter dieser „sittlichen Erkenntnis" M, Scheler: Jahrbuch 1
S. 468.
3) Sie sind von der Persönlichkeit selbst entweder aus ihren Auseinandersetzungen mit den
konkreten sittlichen Situationen und Kulturlorderungen herausgearbeitet worden oder haben sich
selbst im historischen Entwicklungsprozeß der Kultur zu Allgemeingültigkeit und Ewigkeitswert
emporgerungen.
Bildsamkeit und Persönlichkeit 295
wegen ihrer „erschreckend abstrakten Systematik und strengen Terminologie'',
den inneren Bildungsprozeß selbst untersucht und in eine gewisse Kon-
vergenz zu den Forderungen der pädagogischen Lehr- und Er-
ziehungsmethoden gebracht, wobei sich sofort eine Trennung der ethischen
von der fremdsprachlichen Fächergruppe auch in dieser Hinsicht ergeben
hat. Vielleicht ließe sich aber — es geschieht hier auf Grund eigener prak-
tischer Untersuchungen — dieser Bildungsprozeß in seiner engen Beziehung
zu den einzelnen Bildungsfächern noch schärfer differenzieren und damit
die Zahl der Ansatzpunkte für eine Persönlichkeitsbildung erheblich vermehren,
was hier jedoch nur im allgemeinen versucht werden soll. Litt hat mit Recht
den Umfang der Aktualisienmg der Potentialitäten des Bildungsprozesses zum
funktionellen Mittelpunkt der Beziehungen zwischen Bildner, Zögling und
ßildungsgut als den beteiligten Faktoren gemacht.
1. Ein eigener Aufbau l) würde nun unter der ersten Kategorie: Tätigkeit
des Erziehers, noch vor dem (ersten) Nachschaffen in und durch die
i^ehrpersönlichkeit eine rein grammatisch-logische Worterklärung des
Textes (Lektüre oder Lehrbuch) einschalten, um in ihm eine feste Grand-
basis für „die Zusammenstimmung dieser drei Potentiahtätengruppen" zu
schaffen. — Die erkenntnisbildende Seite des Lehr- und Erziehungs-
prozesses verlangt auf jener Grundlage für das erste Nachschaffen in
der Lehrpersönlichkeit eine AktuaHsierung von material-sachlichen
Erkenntniswerten (inhaltliche Belehrung) und andererseits von formal-
logischen Erkenntniswerten, über deren untereinander differenziale
Strukturen weiter unten noch zu handeln sein wird. — Zur Erkenntnisbildung
tritt nun die Erziehung als axiologisch-normalives Problemgebiet (dem
systematischen Aufbau in den vorangehenden Abschnitten entsprechend): sie
fordert die Aktualisierung von ethischen Idealwerten einerseits (s. S. 14ff)
und ethischen Konvergenzwerten andererseits, den Ansprüchen der
Gefühls- und Willensbildung entsprechend.
Zunächst sei, vor näherer Erklärung des Vorhergehenden, die Tätigkeit
des Zöglings angeschlossen. Auch hier ist die Vorstufe des rein gramma-
tischen Wortverständnisses nicht zu entbehren, auf der sich unmittelbar
jenes (zweite) Nachschaffen in und durch die Lernpersönlichkeit
erheben kann und zwar in seiner analogen Zergliederung in die AktuaUsie-
rung der der Erkenntnisbildung dienenden material-sachlichen und
formal-logischen Erkenntniswerte und in die Aktualisierung der die Er-
ziehung (oder Selbsterziehung) fördernden ethischen Ideal- und Kon-
vergenzwerte.
2. Das starre Gerüst bedarf zu seiner Ausfüllung nach der konkreten Seite
hin einer Reihe wichtiger Zusätze. Die auch hier zugrundeliegende Drei-
teilung des Wertgebiets findet ihre Rechtfertigung vor allem in der einer
jeden Wertgruppe zukommenden Akzentuierung ihrer Beziehungen auf
die drei Träger (s. S. 23) des Bildungsprozesses: liegt für die material-
sachliche Wertgruppe der Hauptton auf ihrer Werthaftigkeit für die
Sache (Bildungsgut), so für die formallogische Wertgruppe auf ihrer
Werthaftigkeit für die Lerngeraeinschaft, so für die beiden ethischen
') Vgl. darüber die Ansicht von J. Cchn im Logos Bd. VU (1917/18) S. 90, Anm. 1 (zu
Schelers Buch).
296 Walther Saupe
Wertsysterae auf Ihrer Werthaftigkeit für die Lehrpersönlichkeit. Nur
muß unter Werthaftigkeit — um Mißverständnissen zu entgehen — der Wert-
gewinn verstanden werden, welcher der einzelnen Wertgruppe für die
Wechselwirkung zwischen ihr und dem besonders akzentuierten Träger aus
diesem selbst zuströmt: aus dem Bildungsgut das Wahrheitsstreben, aus der
Gemeinschaft der Lernenden die dialektisch -logische Schulung; von selten
der Lernpersönlichkeit das vorbildliche Ethos der Belehrung und Erziehung
schlechthin.
3a. Auch der Doppelprozeß des Nachschaffens verlangt nach kon-
kreter Ausfüllung: Litt und Stern legen hierbei den Hauptakzent auf den
Vorgang der Auslese, die freihch — ihrer psychologischen Herleitung und Be-
schaffenheit nach — für das vorliegende Problem: Bildsamkeit und Persönlich-
keit gleichfalls einer eingehenderen Differenzierung zu bedürfen scheint. Von
Erzieher und Schüler hat hier, wenn auch in wesentlicher Verschiebung zu-
gunsten des ersteren, wobei nicht unmöghche Ausnahmen nach beiden Seiten
hin die Regel nur bestätigen können, zu gelten, daß zur (unbewußten) Ver-
kürzung ergänzend eine organische Auslese treten kann und daß zu
ihnen beiden in entsprechenden Gegensatz eine (vorwiegend unbewußte) Ver-
mehrung und andererseits eine (wiederum) organische Erweiterung!)
sich einstellen darf.
b. Zur rein logischen Gliederung folge die psychologische Recht-
fertigung. Mit Absicht stehen grammatische Worterklärung und Wort-
verständnis außerhalb des werterfüllten Nachschaffensprozesses, da hier der
vorliegende Text und andererseits die gestellte Zielforderung eine eng um-
grenzte Aufgabe, fast einer mechanischen Reproduktion gleich, umschreiben.
Aus diesen Fesseln nur muß, wenn er das Ganze des Nachschaffenspro-
zesses in sich erfüllt sehen will, der fremdsprachliche Unterricht in erster
Linie befreit werden, während die Auslösung der formal-logischen Erkenntnis-
werte aufs entschiedenste einer höheren Wertstufe zuzuweisen sein wird.
Denn sie fiihren schon in den Prozeß des Nachschaffens selbst tiefer hinein.
c. Es liegt sodann auf der Hand, daß unbewußte und unorganische Ver-
kürzung2) auf der einen, unbewußte und unorganische Vermehrung auf
der anderen Seite gegenüber den organischen Prozessen der Auslese und
Erweiterung eine tiefe, oft sogar nur vorbereitende Stufe im Verlaufe jenes
geistigen Geschehens bedeuten, da hier die Willensbetätigung innerhalb der
vorgenommenen Erkenntnishandlung ihre Kräfte aus einer breiten Gefühls-
grundlage zieht: Lust und Interesse des Lernfenden an der Sache lassen
die reine Erkenntnis sich vermischen mit Phantasie und egozentrischen Ge-
fühlen allerart, so daß die Auslese unbewußt oder, wenn bewußt, so doch
1) Die Lempersönlichkeit hat hierbei naturgemäß eine vorzugsweise passive Rolle zu spielen
Ähnliches bei Stern: a. a. 0. S. 162 f.
2) Dies trifft freilich vorwiegend für die ethische Fächergruppe (Litt a. a. 0. S. 137, 143 ff)
zu, wenngleich auch der fremdsprachliche. Unterricht reiche Gelegenheit an Situationen bietet,
wo der kontinuierliche Zusammenhang der zu aktualisierenden Bildungspotentialitäten durch
Lücken unterbrochen wird (Wiedererzählung, Besprechung an und ohne Text, Fachaufsatz usw.).
Man könnte hier den Satz prägen: Je entfernter der Text und das Lehrbuch, umso stärker die
Betätigung von Verkürzung und Vermehrung, von organischer Auslese und Erw^eiterung, nur
mit dem wesentlichen Unterschiede, daß das „Organische" eine doppelte feste Hand des Er-
ziehers verlangt, um seine Ansprüche an die geistige Betätigung des Zöglings im vollsten Um-
fange geltend machen zu können.
Bildsamkeit und Persönlichkeit • 297
durch Überwiegen des Emotionalen den Prozeß des Nachschaffens mehr oder
weniger willkürlich gestaltet, d.h. die Sache selbst umgestaltet. Die Betäti-
gung der organischen Auslese (im eigentlichen, engeren Sinne) und der
organischen Erweiterung, die doch mindestens von gleicher Wichtigkeit
ist, erweist sich hingegen als eine vom Willen erzeugte Tatliandlung, deren
Kraftquellen viel weniger im Grunde des Gefühlslebens als \aelmehr auf dem
Kampffelde scharfer Denkarbeit an der Sache liegen. Hier wurzelt jene
von Litt so streng und unerbittlich geforderte „Hingabe an die Sache selbst"
am tiefsten ; hier entspringt auch ein Strom von Lebensmächten, der sich in
die der Erkenntnisbildung dienenden material-sachlichen und formal-logischen
Werte kaum kräftiger ergießt als in die der Erziehung dienenden ethischen
Ideal- und Konvergenzwerte. Sicherlich ist die Willensbetätigung auf der Ge-
fühlsgrundlage von unleugbarer, unerläßlicher Bedeutsamkeit für das Gebiet
der (ethischen) Idealwerte ; und das Genie, insbesondere das ethische, findet
das Neue, das Eigentümliche seiner Schöpfung, nur „als Werkzeug über-
individueller Zielstrebigkeiten" (Stern a. a. 0. S. 60 u. 87 f), so stark und un-
beirrbar auch die autotele Selbstbestimmung des genialen Menschen in jene
Heterotelien eingeht.
Aber die Grundlegung durch das Denken vermag erst die Basis für den
Prozeß einer Ethisierung der Bildung zu schaffen, durch die ihr allein
eigentümliche Möglichkeit einer logisch, allgemeiner gesagt: wissenschaft-
lich fundierten Rechtfertigung oder Selbstrechtfertigung, was jene emotionale
Grundlage niemals wird erzielen können. Denn dann erheUt sich auch jenes
Siebengestirn von Fragen, in das sich die gesamte Bildungsarbeit gleichsam
auf eine starre Formel bringen läßt, und stellt jedes Bildungsobjekt, dem
unsere Arbeit gilt, in ein klares und deutliches Licht: was (es) ist und wie
es ist; warum es so ist, und warum es so für uns ist; was sein soll und
wie es sein soll; endlich aber: warum es gerade so sein muß. Zünden wir
in solcher Weise in unserer Jugend die Fackel der Wahrheit an, auf daß sie
die Welt in ihrem restlosen Eigenleben und ihren Forderungen an die mensch-
liche Persönlichkeit nicht ruhig hinnehme, sondern erst wahrhaftig entdecke
und erkennen lerne, was sie ist, was sie sein kann und was sie sein soll.
Sokrates und Piaton reichen hier einander d* Hände: ich weiß, daß ich
nichts weiß, aber ich will und werde wissen, weil ich es kann und der
Umwelt und mir selbst schuldig bin. —
Diese vielverzweigte, das gewaltige Meer menschlichen Lebens umfassende
Aufgabe, die von dem Menschen in seiner geistigen und sittlichen Entwick-
lung ihre Bewältigung fordert, kann aber kein Selbstbildungsprozeß (auch
nicht an der Hand gedruckten Materials, von den rein empirischen Erfah-
rungen des menschlichen Lebens ganz abgesehen, deren Bewußtwerden ja
auch einer mehr oder minder zufälligen „Auslese" unterliegt) leisten. Sie
verlangt für unsere Jugend Führer, die der Größe jener Aufgaben gewachsen,
also Persönlichkeiten sind und in ihrer Brust die niemals verlöschende Sehn-
sucht tragen nach unaufhörlicher Vollendung durch ewiges Lernen am Leben,
aus den Werken der Literaturen und nicht zum wenigsten von der lernen-
den Jugend selbst. Und in unserer Jugend liegt nun einmal der gleiche,
heiße Drang, Persönlichkeit i) zu werden, den eine gütige Natur mit den auf
') Vgl. dazu die Ausführungen des Verfassers in llbergs Neuen Jahrbüchern, 1917. II. Ab-
teilung (Bd. 40), S. 282 ff. Man möchte sich verpflichtet fühlen, auch angesichts der letzten
298 Walther Saupe
Entfallung an der Kulturbewältigung hindrängenden Anlagen funktionellen
Charakters ausgestattet hat, und so fordert sie von ihren Führerpersönlich-
keiten die Erfüllung oder die Mitwirkung an der Selbsterfüllung eigenen
inneren Strebens. Damit stehen wir, freilich hoffnungsfreudiger als Litt,
wiederum und endgültig vor dem urewigen Problem: Bildsam keit und
Persönlichkeit.
Hatte Litt die Persönlichkeit von der „Gnade" abhängig gemacht und an-
dererseits eine werthaltige Heranbildung des Zöglings von dem Vorhandensein
einer Lehrpersönlichkeit, so soll hier dagegen, auf der Grundlage der
vorangehenden Ausführungen und Resultate, der doppelte Nachweis versucht
werden, daß jeder Erzieher — mag ihn auch die „Gnade" nicht zur „Per-
sönlichkeit" geschaffen haben — sein Erziehungsamt nach bestem Wissen
und Gewissen in negativer und positiver Hinsicht vertreten kann und muß:
negativ durch Behütung des anvertrauten Kindes vor falschen Wegen und ihren
Gefahren!), positiv durch Anstoß zur Selbstbeteiligung und durch mithelfende
Lenkung des Zöglings auf diesem Wege. Es sei gestattet, hier nur in groben
Umrissen die wichtigsten Ansatzpunkte und Umgrenzung dieser Aufgabe an
ZögHng, Bildungsgut und Erzieher herauszuheben. —
Jedes heranwachsende Kind hat bestimmte Interessen 2), die ihm zunächst
wahllos zuströmen und, je nach der Größe seines Einheitsbewußtseins, un-
geordnet, oft geradezu chaotisch in ihm sich neben- und durcheinander
lagern. Hier hat der Erzieher, aus der Fülle eigener Erfahrungen schöpfend,
keinesfalls nur neue Interessen zu erwecken, sondern die, in denen sich
der Keim besonderer Begabung bemerkbar macht, zu einer notwendigen,
wertvollen Einheit (oft durch Erzeugung neuer, wertvoller Interessen) zu ver-
binden und zu lenken, ohne vor der Notv\'^endigkeit einer strengen Zurück-
drängung ablenkender, am Triebleben fest haftender Interessen zurückzu-
schrecken. Dreifach ist schon hier die Stufenfolge des Gegebenen: von der
Analyse über die kritische Prüfung zur synthetischen Vereinheitlichung ihrer
Erfassung und Verwertung. — Erst auf und an diesen Fundamenten kann
Vk'^ahre Begabung, deren Ej^tenz freilich auf „Gnade" angewiesen ist, ent-
wickelt werden aus einer Anlage rein konservativen Charakters (einem
ruhenden Schatze vergleichbar) zur organischen, d. h. bewußten und organi-
schen „Energie".^) In das Gebiet des Reinsittlichen aber führt drittens die
Ausdeutung der Begabung als ethischer Verpflichtung und Grundlage einer
Ethisierung der Bildung schlechthin : der Zögling soll erkennen, daß er einer
Bildungsgemeinschaft angehört (Schule, Klasse, auch Eltern) und doch indi-
viduelle Persönlichkeit ist, deren Förderung er nicht minder verpflichtet ist
Ereignisse in Jena und Spandau, die Schärfe jener Ausführungen zu mildern, wenn man die
wundervollen, aus der Mitte dieser Jugendbewegung stammenden Worte des ehrenvollst, nur
allzu früh dahingegangenen Eisenacher Dichters Walter Flex in seinem „Der Wanderer zwischen
beiden Welten" (1918 S. 43 f.) tiefbewegt liest.
') Litt scheint das vollständig übersehen zu haben,
^) Vieles in den folgenden Ausführungen wird dem obengenannten Buche von W. Stern
verdankt; da sich Litt darauf beruft, ist es hier stärker herangezogen worden.
3) Stern (S. 88) hat mit Recht darauf hingewiesen, daß ein Zusammenwirken von Interesse
und Begabung sogar die Kraft habe, „aus ursprünglichen Schwächen hochwertige Fähigkeiten
zu entwickeln'-.
Bildsamkeit und Persönlichkeit 299
in Gesinnungshaltung und Aibeitsleistung. In der Darlegung gerade dieser
ins ethische und soziologische Gebiet hinübergreifenden Probleme hat der
Lehrer seine ganze Persönlichkeit einzusetzen, durch die Überzeugungskraft
seines Wissens und seiner Rede und durch die Vorbildlichkeit seines Han-
delns und andererseits durch unerbittliche scharfe Kritik (d. h, Ausdeutung)
an der Begabungsrichtung seines Zöghngs und ihrer verschiedenartigen, oft
noch kaum entdeckbaren Ausstrahlungen. So führt der Weg vom Zögling
selbst zu seinem Vorbild und Führer, dem Erzieher. Stern (a.a.O. S. 174f)
hat für ihn mit Recht tiefe Verb^autheit mit einer aus dem oben erwähnten
Konvergenzgrundsatz abgeleiteten „Anthropotechnik" gefordert: die äußeren
Erziehungsmittel (Unterricht, Erziehung u. a.} sollen „geeicht werden durch
die Beziehungen auf die inneren Mittel der Anlagen, mit denen sie kon-
vergieren". Ihr inneres Zentrum besitzt die „Anthropotechnik" in der schar-
fen Erfassung der Gesetze, welche die "innere Beeinflussung des Zöglings
unter Berücksichtigung seiner Individualität gewährleisten und gleichfalls
eine weit schärfere Differenzierung fordern und auch verdienen, als sie Stern
i,a. a. 0. S. 120) getroffen hat. Die indirekte Beeinflussung — ob absichtlich
oder unabsichtlich, macht keinen Unterschied aus — stützt sich zur Ver-
mittlung auf eine Verlebendigung der Kultur- und Naturwerte, deren sich
der Zögling zu bemächtigen hat.i) Anders die direkte Beeinflussung
als Fühlungnahme von Mensch zu Mensch, wo sich absichthch und unab-
sichtlich streng scheiden: verläuft sie unabsichtlich, so wurzelt sie in der
einfachen Tatsache, daß das Eigenleben des Erziehei-s in seiner unbewußten
MenschUchkeit sich als notwendiger Bestandteil des Gesamtmilieus darstellt;
verläuft sie aber absichtlich, so fällt dem Bildner die Rolle des absichts-
vollen Erziehers zu, der seinerseits, ist er vorwiegend dogmatisch veranlagt,
das Bildungsgut selbst als komplexes Gebilde, sachlich analysiert und logisch
geordnet, dem Schüler zur kritiklosen Annahme vorlegt, oder, ist er — ich
möchte sagen: idealistisch veranlagt, durch Auflösung des Bildungsguts in
Probleme ihn selbst diese Probleme erleben und zum Ganzen und zur Lö-
sung der es umschließenden Fragen durch selbständige kritische Arbeit und
ethische Bewertung gelangen läßt. Ich möchte behaupten, daß hierin sich
erst das Wesen einer wahren Erziehungsgemeinschaft erschließt: in der
geistigen und ethischen Fortbildung von Erzieher und Zögling auf Grund
gemeinsamen Schaffens^); und wenn auch unleugbar der Erzieher, weil er
über ein weit höheres Maß von aus seiner Erfahrung bereitliegenden (gei-
stigen und ethischen) „Einstellungsformen" verfügt als jener, in der Erkennt-
nis von dessen innerer Struktur und Beeinflussung ihm unendhch überlegen
ist, so weiß er nur zu oft dem ZögUng Dank für die unbefangene Betrach-
tung und naive Erkenntniskritik, mit der der ahnungslose Zögling an den
Problemkomplex herantritt. Beide MögUchkeiten der direkten Beeinflussung
freihch werden, da nicht voneinander ableitbar, in der Praxis auf wechsel-
seitige Unterstützung und Ergänzung angewiesen sein, wobei, je nach der
psychologischen Konstitution von Lehrer oder ZögUng, der eine oder andere
Standpunkt prävaliert. Ist der Erzieher mehr sb-enger Lehrer als freundhcher
') Hier stellt der Erzieher seine Persönlichkeit vollständig hinter das Werk und läßt es ganz
aus und durch sich selbst wirken.
*) Schon ol)en erschien dies sein Wesen als ,^ingabe an die Sache selbst" aul dem „Kampf-
felde scharfer Deukarljeit au der Sache".
300 Walther Saupe, Bildsamkeit und Persönlichkeit
Führer — ich lasse die Fülle von Zwischenstufen beiseite — , so wird sich
das neue Gebiet (Lehrstoff) als fremde Macht dem Zögling gegenüberstellen,
eine Schranke, welche der Erzieher, wenn er Persönlichkeit ist, seinen Zög-
ling durch psychologische Ableitung des Neuen, also auf induktiv- em-
pirischem Wege, überwinden lassen wird. Der entgegengesetzte Charakter
der Lehrpersönlichkeit wird den Schüler gar nicht zu der Empfindung einer
fremden Macht kommen lassen und kann dann zunächst unter freudiger
Zustimmung des Schülers das Bildungsobjekt in seinen Grundzügen dedu-
zieren. Läßt er dem dann noch die psychologische Ableitung folgen, so
findet jener in ihr die Bestätigung des durch Deduktion Gelernten, und
daß somit sein Interesse und die Erinnerung verstärkt wird, bedarf nicht
erst weiterer Betonung. So wird die Entscheidung i) zwischen Induktion
und Deduktion in der Pädagogik psychologisch erledigt, wobei eine andere
rein logische Lösung dieser Fragen immer noch möghch bleibt.
Zwischen Lehrer und Zögling steht endhch das Bildungsgut selbst, und
auch an ihm gibt es nun Ansatzpunkte für eine Persönlichkeitsbildung zu
suchen. Als Hauptproblem darf sich hier wohl betrachten die Forderung
des Bildungsgutes, die in ihm eingeschlossenen Zwecke und Werte mit der
Autoteile des Zöglings zu seiner geistigen und sittlichen Selbstentfaltung
verschmolzen zu sehen, auf daß rückwirkend sich ihre Förderung durch
den heranwachsenden Menschen ergeben kann.2) Stern, der hier von „An-
leitung des Zöglings zur Introzeption der Fremdzwecke in seine Eigenzwecke
(die der Lehrer natürlich aufspüren muß) spricht, hat auch hier neben dieser
direkten Methode den indirekten schon erwähnten Weg außer acht gelassen :
die vorbildliche Selbstdarstellung der Introzeption der Fremdzwecke in
Eigenzwecke durch den Erzieher (vgl. die Anmerkung!). Hier ist wenig
tun oft unendlich mehr als lange reden, wenn, imi nur einiges zu erwäh-
nen, der Erzieher dem Zöghng seine und seiner Kollegen (als richtig an-
erkannte) Abhängigkeit nicht nur von überindividuell-überpersonalen Wesen-
heiten und Forderungen geistigen und gesellschaftlichen Charakters, sondern
auch von den übergeordneten Behörden zeigt und — nach der anderen
Seite hin — ihn hinweist auf die freiwillige Herabstimmung und das Ein-
gehen des Erziehers auf die kindlichen Wünsche und Bedürfnisse, auf sein
väterliches Verständnis und die ihm entgegengebrachte Geduld, wie sie
etwa einer ganzen Klasse gegenüber (als einem ganz anderen soziologischen
Phänomen) niemals von rechtem Werte sein dürfte. So erscheint denn doch
das von Stern (a. a. 0. S. 59 ff.) geforderte Ziel der Persönlichkeitsbil-
dung: die Erweiterung des Ich ins Mikrokosmische, oder wie es hier ge-
nannt werden soll : die Heranbildung des Individuums zum produktiven Teil-
haben an den Werten aus zielstrebiger, persönlicher Einheit heraus und im Sinne
einer Freiheitstat, in dem freundlichen Lichte einer möghchen VerwirkHchung,
') Vgl. auch die sehr berechtigten Einwände gegen die Induktion in der Pädagogik iu
M. Siebourg's „Handbuch für höhere Scliulen" (Ziele u. Wege d. Unterrichts", Lpz. 1918, S. 97f).
^) Seelisch schiebt sich hier noch als schwer kompliziertes Problem die Tatsache ein, daß
diesem Ausgleich der Forderungen des Bildungsgutes mit der Autoteile des Zöglings ein solcher
zwischen jenen Forderungen und der Autoteile des Erziehers vorausgehen muß, von dem wei-
teren Gegensatze der Autoteile des Erziehers und des Zöglings noch ganz zu schweigen. Doch
gehört dies in das Kapitel „Heranbringung des Stoffes an den Zögling" und damit zu dem um-
fassenderen Thema: „Vorbereitung des Erziehers auf den Unterricht", das sich hier nicht mehr
erledigen läßt.
Martha Muchow u. Wilh. Höper, Beobachtungsbogen u. Schülerauslese 301
wenn man ihre beiden Hauptrichtungen scharf im Auge behält: die Heran-
bildung des Menschen zum Werkzeug überindividueller Zielstrebigkeiten,
und zugleich zu einer starken, unbestechlichen Selbstbestimmung. Damit
aber verliert der Persönlichkeitsbegriff und seine Realisierung den substan-
tiellen Charakter, den ihm Litts „Gnaden"vorstellung gibt, wird aber dafür
zur funktionellen Veranlagung — von Anfang an hat sich ja eine Fülle von
Ansatzpunkten für den Erzieher als Bildner von Persönlichkeiten aufweisen
lassen — und ewigem Kampfprinzip, dem ein „Paradies voll ewiger Har-
inonie" (Stern, S. 63) nichts anderes als ein Danaergeschenk bedeuten würde.
An seine Stelle setzt es die Forderung, die Umwelt und das Ich immer tie-
fer zu erfassen und sein Denken und Tun der Entwicklung der Kultui* und
ihrer Werte zu weihen, zu deren Förderung wir berufen sind.
Trotz seines Skeptizismus hat Litt den Sprung aus dem theoretischen ins
praktische Gebiet gewagt. Doch soll ihm in diesem Zusammenhang nicht
dorthin gefolgt werden, zumal da Litt m. E. jenes Problem eigenthch gerade
nur bis dahin verfolgt hat, wo eine neue Welt der Fragen sich auf tut, die
sich am schärfsten durch die Beziehung : Lehrfach, Lehrplan und Werttheorie,
umschreiben läßt. Litt hat sie nicht betreten, w^ohl gehindert durch seine
pessimistische Stellung zu Wesen und Begriff der Persönlichkeit und ihrer
Heranbildung; wer jedoch hier optimistisch fühlt und denkt, wird sich mit
ihr und ihren Probiemkomplexen schon um seiner eigenen Bildungs- und
Selbstbildungsarbeit willen befassen dürfen und auch sollen.
Beobachtungsbogen und Schülerauslese.
Zwei Berichte aus dem Psycholog. Laboratorium der Hamburgischen Universität.
Von Martha Muchow und Wilhelm Höper.
Vorbemerkung. Mehr und mehr setzt sich die Überzeugung durch, daß sich die Auslese
begabter Schüler gründen muß auf eine Verbindung experimenteller Prüfungsmethoden mit den
Methoden einer systematischen Beobachtung. Um diese letztere herbeizuführen, sind
, Beobachtungsbogen' ausgearbeitet worden, die den Lfehrern die psychologischen Gesichts-
punkte zur Beobachtung der Schüler darbieten sollen. Die umfangreichsten Erfahrungen mit
Beobachtungsbogen liegen bisher in Hamburg vor, wo in den Jahren 1918/19 bei der Auslese
10 jähriger Volksschüler und Volksschülerinnen etwa zwei Tausend solcher Bogen ausgefüllt
worden sind. Aus den Hamburger Erfahrungen sind die beiden folgenden Berichte hervor-
gegangen, die über Bedeutung, Methodik und Ergebnisse des Beobachtungsbogens aufklären sollen.
Der Hamburger Beobachtungsbogen des Jahres 19! 8 ist im Psychologischen Laboratorium von
Fräulein Martha Muchow mit Unterstützung des Unterzeichneten und anderer Seminarteilnehmer
ausgearbeitet worden; er findet sich in dieser Zeitschrift Bd. 19 S. 138 ff. abgedruckt. Das eben
erschienene Buch: R. Peter und W. Stern, „Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg"
(Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung Nr. 1, Leipzig, Barth 1919) enthält einen aus-
führlichen Bericht über ihn von Martha Muchow.
Auf Grund der bei der ersten Anwendung gemachten Erfahrungen wurde für 1919 eine z. T.
abgeänderte Form des Beobachtungsbogens gewählt; diese Fassung enthält Fragen und Beob-
achtungsanweisungen aus folgenden psychischen Gebieten:
1. Anpassungsfähigkeit 7. Denken
2. Aufmerksamkeit 8. Sprachlicher Ausdruck
3. Ermüdbarkeit 9. Arbeitsart
4. Wahrnehmung und Beobachtungsfähigkeit 10. Gemüts- und Willensleben
5. Gedächtnis H Besondere Interessen und Talente.
6. Phantasie
302 Martha Muchow
Der neue Bogen ist der umseitig genannten Schrift von Peter und Stern als Anhang bei-
gegeben; außerdem ist er als Sonderdruck im Buchhandel erschienen unter dem Titel
„Psychologischer Beobachtungsbogen für Schulkinder 1919". Leipzig, Barth 1919.
Die ausgefüllten Bogen des Jahres 1919 sind für die Zwecke der Auslese von Martha Muchow,
Rudolf Peter und Dr. Höper durchgearbeitet worden. Stern.
Notwendigkeit und Möglichkeit der Heranziehung des Lehrerurteils
bei der Begabtenauslese.
Von Martha Muchow.
Das Problem der Zuweisung der richtigen Schüler an die richtigen Schul-
gattungen ist ohne Zweifel eins der schwierigsten, die in dem gesamten
Problemkomplex der Einheitsschule auftauchen. Wenn aber die von
der Lehrerschaft mit zäher Ausdauer errungene neue Schulform kein bloßer
Name sein soll, so muß es gelingen, gerade für diese Frage eine möglichst
einwandfreie Lösung zu finden. Freilich ein absolut sicheres Bestimmungs-
maß für die Aufnahmefähigkeit in diesen oder jenen höheren Zug gibt es
überhaupt nicht, wird es nie geben. Kennen wir doch alle jene Glanzschüler
der Elementarklassen, die nachher an einer gewissen Grenze anfangen zu
versagen, die langsam in der Rangordnung der Klasse immer tiefer und
tiefer sinken und schließlich, sogar mit dem Durchschnitt nicht mehr Schritt
haltend, sitzen bleiben ; oder jene Sorgenkinder der Unterklassen, die in den
letzten Schuljahren, oft erst in der Fortbildungsschule, mit dem Übergang
zur Pubertät und Reife plötzlich einen ungeahnten Reichtum an Gaben ent-
falten. Aber die Methode, bei welcher die Gefahr, daß echte Begabungen
niedergehalten, unechte blendende emporgehoben werden, auf das geringste
mögliche Maß beschränkt wird, zu suchen, dürfen wir uns dennoch nicht
verdrießen lassen.
Bei der Schaffung unserer neuen Schulgattungen tritt mit größter Deutlich-
keit der Fähigkeitsgesichtspunkt hervor. Bei der Zuweisung der Schüler
zu den Oberzügen der Einheitsschule darf daher keineswegs der Kenntnis-
und Wissensgesichtspunkt ausschlaggebend sein. Wir müssen versuchen,
an die Fähigkeiten und Begabungen selber heranzukommen, wenn wir über
die Aufnahmefähigkeit entscheiden wollen.
Darin aber liegen in zwiefacher Hinsicht . bedeutende Schwierigkeiten.
Einerseits erschwert die Art der Arbeit im Unterbau die Diagnose der
für die Oberzüge erforderlichen Fähigkeiten ganz wesentlich dadurch, daß
eben diese Fähigkeiten durch sie nur sehr wenig ins Spiel gesetzt werden,
sich also in den Leistungen der Elementarschüler nur sehr selten dokumen-
tieren. Das Ergebnis der Elementarbildung darf deshalb keineswegs allein
darüber entscheiden, ob ein Kind eine höhere Bildungsanstalt und welche es
zu besuchen habe. Auch für den Fall der Ausgestaltung des Unterbaus nach
den Grundsätzen der Arbeitsschule würde diese Schwierigkeit bestehen bleiben.
Das, was die höheren Züge verlangen, wird stets die Neigung und Veran-
lagung zur geistigen Arbeit in den Formen mehr wissenschaftlichen Denkens
sein. Diese Fähigkeit bei einem Schüler in der Arbeit der Grundschule ein-
wandfrei und mit Sicherheit nachzuweisen, wird immer sehr schwierig sein
und nur feinster psychologischer Analyse und hervorragender pädagogischer
Einfühlung gelingen.
Das Lehrerurteil bei der Begabtenauslese 303
Damit kommen wir zu der zweiten Schwierigkeit, die nicht in der Natni-
des Elementarunterrichts Hegt, sondern beim Lehrer. Es wird hier etwas
vom Lehrer verlangt, was er gewiß bis zu einem bestimmten Grade teils als
natürliches Gut besessen, teils im Lauf der Jahre auf dem Erfahnmgswege
erworben hat, aber was er doch noch nie für so schwerwiegende Entschei-
dungen wie die über den Lebensweg eines jeden seiner Schüler anzuwenden
nötig hatte.
Er soll außer zu der pädagogischen Einstellung, die in der Haupt-
sache eine solche auf Wirken ist, zu einer psychologischen, passiv
beobachtenden Einstellung fähig sein. Er soll nicht nur die äußeren
Leistungseffekte seiner Schüler sehen, sondern die dahinter stehenden Fähig-
keiten und Anlagen erkennen und in ihrem Anteil an der Leistung bestimmen
können. Er soll sogar imstande sein, eine ziemlich sichere Prognose für die
spätere Entwicklung dieser Anlagen zu stellen. Kurz, er soll ein solches
Maß von jugendpsychologischem Verständnis und psychologischer Schulung
beweisen, wie es die große Mehrzahl unserer Pädagogen heute noch nicht
besitzt, auch nicht besitzen kann, weil es eine Unterweisung in praktischer
Jugendpsychologie in unseren Lehrerbildungsanstalten nicht gegeben hat.
So würden denn die Schüler, welche in den zahlreichen Schlußklassen der
Grundschule von sehr verschiedenen Lehrern ausgesondert worden sind, wohl
niemals ein homogenes Material für einen Oberzug darstellen. Der eine Lehrer
wählt nach diesen, der andere nach jenen Gesichtspunkten aus. Von einer
exakten Vergleichbarkeit könnte keine Rede sein. In den meisten Fällen
wird sich der Lehrer kaum darüber klar sein, welche Einzelbeobachtungen,
welche Symptome ihn eigentlich zu seinem Urteil geführt haben. Die Zuord-
nung bestimmter Anlagen zu den einzelnen Symptomen ist ja überhaupt
außerordentlich schwankend, und subjektiven Einflüssen und Deutungen
ist hier Tür und Tor geöffnet. Eine sehr bedeutende Rolle spielt in dieser
Hinsicht z. B. der psychologische Typ, dem der Lehrer angehört. Ganz ohne
dessen Absicht gibt er den Maßstab ab für die Art des Schülers, und zwar
zumeist in dem Sinne, daß sein eigener Typ dem Lehrer auch als der normale
erscheint. An ihm mißt er, nach ihm bestimmt er den Wert oder Unwert
des Kindes. Andersartige Kinder kommen dabei natürlich sehr häufig nicht
zu ihrem Recht.
Ein ganz wesentUches Hemmnis für die Auslese nach Fähigkeiten ist, wie
schon angedeutet, die pädagogische Einstellung des Lehrers. Sie kann
eine richtige psychologische Beobachtung und Beurteilung empfindlich stören,
ja geradezu durch eine einseitige Werteinstellung gegenüber manchen Eigen-
schaften, wie sie in der Pädagogik von Alters her gang und gäbe ist, un-
möglich machen. Wie oft wird z. B. das Phlegma eines Jungen verurteilt,
ohne daß man daran denkt, daß ihm vielleicht nur die geistige Nahrung
fehlt, welche er braucht.
Aber wenn auch die psychologische Schulung der Lehrerschaft eine andere,
bessere, mehr an der Praxis orientierte wäre, als sie es heute ist, so würde
dennoch die Verantwortung für die Auslese bei der ungeheuren Tragweite,
welche sie für das Lebensschicksal des einzelnen sowohl als auch für das
Wohl der Allgemeinheit hat, kaum von ihr allein getragen werden können.
Es muß für die Begabtenaussonderung ein Mindestmaß von Exaktheit, eine
gewisse Vergleichsmöglichkeit für die Auszulesenden gefordert und eine
304 Martha Muchow
Methode, die das gewährleistet, gesucht werden. Diese zu linden, konnte
nur die Aufgabe der systematischen Zusammenarbeit von Pädagogik und
wissenschaftlicher Psychologie sein.
Es ist bekannt, daß bei dem ersten Versuch einer Anwendung der Psycho-
logie bei der Schaffung von Begabtenklassen (Berlin, im Herbst 1917) die
Intelligenzprüfungsmethode als einziges Auslesemittel benutzt worden
ist. Das Lehrerurteil wurde so gut wie gar nicht berücksichtigt. Es kam nur
insofern zum Ausdruck, als den Schulen das Vorschlagsrecht für die Prüfungen
überlassen blieb.
Den Mitgliedern des Hamburger Psychologischen Laboratoriums erschien,
als Ostern 1918 auch ihnen die Mitarbeit an der Begabtenauslese zur Auf-
gabe gestellt wurde, dieser Weg als einseitig, als eine zu starke Belastungs-
probe für eine so junge Methode, wie die Testprüfung sie darstellt. Die
alleinige Verantwortung für die Auslese, welche die Lehrerschaft nicht tragen
konnte und wollte, sollte damit wiederum einseitig der experimentellen Psycho-
logie zugemutet werden. Sie konnte und wollte sie aber ebensowenig aliein
tragen wie jene.
Kann doch das Experiment auch bei der geschicktesten und viel-
seitigsten Zusammensetzung der Testserien nicht die Gesamtheit der
intellektuellen Eigenschaf ten erfassen, geschweige denn der seelischen
überhaupt. Für die Zwecke unserer Einheitsschule oder der Begabten-
klassen genügt es aber durchaus nicht, daß wir den hohen Grad dieser
oder jener einzelnen Fähigkeit (z. B. zur Bildung von Analogien, zum Defi-
nieren, Kombinieren usw.) feststellen. Wir erwarten von den Schülern unserer
zukünftigen höheren Schulgattungen ja nicht nur überdurchschnittliche Schul-
leistungen und die Bewältigung umfangreicherer Lehrpensen ; sie sollen sich
auch im späteren Leben durchsetzen, sich ihren Platz als Führer und Vor-
bilder erringen und ihre Begabung für den Fortschritt und die Wohlfahrt der
Allgemeinheit fruchtbar machen. Dazu aber gehört mehr und anderes als
nur eine höhere Intelligenz, als eine besondere Begabung für die wichtigen
Denktätigkeiten. Der Kampf um die führende Stellung erfordert Individuen
von ganz bestimmter Beanlagung des Gemüts- und Willenslebens, von festem
Charakter; er fordert Beharrlichkeit, Ausdauer, Selbständigkeit, Initiative,
organisatorisches und Führertalent. Alle diese Eigenschaften lassen sich aber
nicht experimentell ermitteln. Das Tiefste, Beste, Wertvollste der menschlichen
Persönlichkeit erschließt sich doch eben nicht dem technisch-exakten Ver-
fahren.
Ein weiterer Mangel des Experiments liegt in seiner Lebensferne. Der
Versuchsleiter legt dem Kinde einzelne konstruierte und künstlich isolierte
Aufgaben vor, die in dieser Nacktheit im Leben wohl nie vorkommen. Und
gerade den Anforderungen des Lebens soll sich der auszulesende Schüler doch
nachher gewachsen zeigen! Der Experimentator sieht außerdem das ihm
sonst völlig fremde Kind nur unter ganz außergewöhnlichen Bedingungen,
unter dem Druck von Prüfungsangst und Scheu. Er gründet sein Urteil auf
die Analyse der wenigen kurzen Prüfungsergebnisse, die ihm meistens nur
in schriftlich fixierter Form vorliegen. Bei Massenuntersuchungen wird er
zwischen sich und die Kinder eine große Zahl von sehr verschiedenartig be-
gabten und geschulten Helfern treten lassen müssen. Selbst bei sorgfältigster
Instruktion wird ein vöUig gleichartiges Arbeiten in den einzelnen Gruppen
Das Lehrerurteil bei der Begabtenauslese 305
kaum erzielt werden. Durch die verschiedene Veranlagung, besonders durch
das verschiedene Temperament der Prüfer werden stets für den einen Prüfling
günstigere, für den anderen ungünstigere Bedingungen geschaffen werden,
deren Einfluß unkontrollierbar ist.
Alle diese Mängel des Experiments zeigen, daß seine Resultate, die uns zwar
den großen Vorteil einer exakten Meßbarkeit und Vergleichbarkeit ge-
währen, doch nicht sicher genug sein können, um die Begabtenauslese einzig
und allein darauf zu gründen. Die Testprüfung bedarf dringend der Er-
gänzung, und zwar der Ergänzung durch ein auf breiterer Grundlage
ruhendes Urteil. Die Lehrerschaft muß und wird daher den Anspruch er-
heben, neben den Prüfungsergebnissen auch ihre Erfahrungen zu deren Er-
gänzung und Deutung geltend zu machen.
Die wiederholte Betonung des Fähigkeitsgesichtspunktes entkräftet sofort
einen Einwurf, der hier vielleicht gemacht werden könnte: daß ja das Lehrer-
urteil in den üblichen Schulzeugnissen vorhanden sei und verwendet
werden könne. Das ist aber keineswegs möglich ; denn einerseits enthalten
die Schulzeugnisse nur Urteile über Leistungen, nicht aber über Anlagen
und Fähigkeiten. Andererseits sind die in den Zeugnissen verschiedener
Lehrer bemerkbaren Unterschiede äußerst unzuverlässig, da erfahrungs-
gemäß die zahlenmäßige Bewertung einer Leistung durch verschiedene Lehrer
außerordentlich verschieden und subjektiv und ferner stark durch das Niveau
der Leishmgsfähigkeit der betreffenden Klasse bestimmt ist.
Es ist deshalb mit Recht von Stern von vornherein gefordert und von den
verschiedensten Schulmännern bei Begabtenauslesen praktisch versucht worden,
das Lehrerurteil über die Schüler in einer anderen Form heranzuziehen. Für
die Auslese begabter Volksschüler in Hambujg 1918 ist zu dem Zwecke zum
erstenmal die Methode einer nach psychologischen Gesichtspunkten orientier-
ten, dmch ein systematisches detailliertes Schema geleiteten Beobachtung der
Schüler durch den Lehrer ausgearbeitet und neben dem experimentellen Ver-
fahren angewendet worden.
Dieser neuen, inzwischen vielfach angewendeten Metiiode erschließt sich
das meiste von dem, was in dem Prüfungsergebnis und den Schulzensuren
nicht zum Ausdruck kommen kann, besonders die Beanlagung des Gemüts-
und Willenslebens. Ihre Ei*gebnisse stehen auf einer viel breiteren und natür-
licheren Grundlage als das Urteil des Prüfers. Sie stützen sich auf eine viel-
seitige Bekanntschaft mit dem Schüler. Der Lehrer hat Gelegenheit gehabt,
das Kind zu beobachten bei seinem Verhalten in den verschiedensten Lebens-
lagen, bei mündlichen und schriftlichen Aufgaben der verschiedensten Art;
er kennt sein Fragen und Antworten, seine Gleichgültigkeit und Anteilnahme
bei verschiedenen Stoffen, seine Ausdauer und Beharrlichkeit bei Schwierig-
keiten, seine Selbständigkeit oder sein Anlehnungsbedürfnis beim Arbeiten,
seine Umsicht und Tatkraft oder seine Unbeholfenheit und Energielosigkeit,
sein soziales Verhalten und vieles mehr. Er hat mit ihm in der gleichen
Lebensgemeinschaft gestanden, und während dem Experimentator für seine
Feststellungen nur eine sehr kurze Zeitspanne zur Verfügung steht, gründet
sich das Urteil des Lehrers auf eine Fülle von Beobachtungen, die in monate-,
ja jahrelanger Arbeitsgemeinschaft mit dem Schüler gesammelt wiu-den.
Es ist vielfach von Lehrern gegen unsere Methode der durch einen Frage-
bogen gebundenen Beobachtung eingewendet worden, sie lasse der freien
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 20
306 Martha Muchow
schöpferischen Individualitätenbeschreibung so wenig Spielraum und verleite
zur Verwischung der individuellen Differenzen der Schüler, Freilich würde es
für eine spätere differentiell-psychologische Verarbeitung wertvoller sein, wenn
wir über jeden Schüler einen Bericht in Form eines freien Resumes erhalten
könnten; aber doch nur in dieser einen Hinsicht. Die Vergleichbarkeit
der Berichte wäre in diesem Falle doch sehr schwer zu erzielen, wenn nicht
überhaupt unmöglich. In den meisten Fällen würde auch wohl diese Art
von Urteilen kaum etwas anderes sein als eine Wiederholung der Schulnoten
in Worten. Auf die psychologisch wichtigen, zur Ergänzung und Unter-
stützung der Testprüfung erforderlichen Fragen würden wir wohl oft keine
Antworten erhalten, weil es der Mehrzahl der Lehrer an der dazu nötigen
psychologischen Schulung mangelt.
Diese Schulung allmählich zu erreichen, wird aber vielleicht gerade durch
die Bindung an einen ausführlichen Fragebogen gelingen. Es gilt jedoch,
bei der Schaffung eines solchen Schemas zunächst alle diejenigen Dinge fort-
zuräumen, die den Lehrern die Aufgabe zu schwierig machen könnten. Wir
faßten aus diesem Grunde z. B. unseren Hamburger Beobachtungsbogen damals
nicht in Stichworten ab, sondern stellten vollständige, möglichst ganz eindeutige
Fragen, die zugleich zu der erforderlichen Beobachtung anleiteten. Oft ver-
langten wir vom Lehrer nur ganz objektive Feststellungen, ohne daß er eine
psychologische Deutung vorzunehmen brauchte. (Z. B. Stellt das Kind selb-
ständig sinnvolle Fragen? Äußert es eigene Gedanken?) Besondere Vor-
sicht wird bei der Herstellung eines solchen Schemas immer nötig sein bei
der Formulierung der Fragen. Psychologische Ausdrücke, die in der naiven,
volkstümlichen Psychologie, im alltäglichen Sprachgebrauch oft etwas ganz
anderes bedeuten als in der wissenschaftlichen Terminologie, müssen streng
vermieden werden. Um möghchst genau anzuleiten, haben wir in unserem
Hamburger Bogen fast überall Alternativfragen verwendet. Die Erfahrungen
mit dem Bogen zeigten jedoch, daß trotz aller Vorsicht bei der Formulierung
der Fragen eine Suggestiv Wirkung der Fragestellung nicht ganz zu vermeiden
gewesen war und daß vor allem alles mehr abseits der Fragen Liegende oft
unbeobachtet blieb. Aus diesem Grunde soll zu Ostern ein Versuch mit
einem Stichwortschema gemacht werden. Ein weiteres methodisches Hilfs-
mittel war die Angabe von recht zahlreichen Gelegenheiten zur Beobachtung
der erfragten Eigenschaften im Schulbetrieb. Zur Einführung in die neu-
artige Arbeit werden außerdem kurze, übersichtliche gedruckte Erläutenmgen,
die das Mindestmaß dessen enthalten, was der Lehrer vor der Ausfüllung
wissen muß, und eine ausführlichere mündliche Aufklärung nötig sein.
Die Anwendung eines solchen Beobachtungsschemas denken wir uns etwa
so, daß der Bogen ein oder mehrere Jahre, bevor die eigentliche Auslese
erfolgen soll, in der Hand des Klassenlehrers ist, so daß er an seiner Leitung
seine täglichen Beobachtungen klären, sichten, nachprüfen und auf ferner
liegenden Gebieten zu neuen angeregt werden kann. Am besten sollte jedes
auffallende Kind von dem Augenblick an systematisch an der Hand des Schemas
beobachtet werden, wo es beginnt aufzufallen.^) Es kommt ja nicht nur
darauf an, daß das Vorhandensein einer Eigenschaft behauptet wird; es
*) Hermann Rebhuhn, Entwurf eines psychologischen Beobachtungsbogens für begabte Volks-
Bchüler, Ztschr. f ang. Psych. 13, 416—428, 1918 (auch separat: Leipzig, J. A. Barth.)
I
Das Lehrerurteil bei der Begabtenauslese 30 7
müssen, damit das Urteil von Wert ist, auch Belege gesammelt sein und an-
gegeben werden. Sehr wünschenswert wäre es daher, wenn solche Beob-
achtungen — und zwar am besten Tatsachen und. Deutungen getrennt —
in einem Tagebuch, nur ganz grob rubriziert, aufgezeichnet würden und erst
nach längerer Zeit, wenn zu dem betreffenden Punkte mehr gesammelt worden
ist, das Urteil gefaßt und in den Bogen eingetragen würde. Der Vorzug
dieser Methode wäre ein doppelter: einerseits würde der Lehrer am Zeitpunkt
der notwendigen Einlieferung der Bogen Material in Fülle haben, das sein
Gedächtnis sonst gar nicht festgehalten haben würde; andererseits würden
die Urteile viel z uverlässiger sein als bei sofortiger Eintragung. Man durch-
schaut nämlich oft genug gar nicht sofort, welche Dinge sich eigentlich hinter
diesem oder jenem Symptom verbergen. Man deutet sehr häufig im Anfang
falsch, und erst nach längerer Zeit erkennt man dann deutlicher, welche
Motive ein Kind zu irgendeiner Verhaltungsweise gebracht haben.
Bei den beiden Anwendungen des Hamburger Beobachtungsbogens konnte
dieser Weg von den Lehrern aus Zeitmangel noch nicht eingeschlagen werden.
Die Erfahrungen der beiden Jahre 1918 u. 19 geben daher niu* ein unvoll-
kommenes Bild von dem, was durch diese Methode zu erreichen möglich ist.
Immerhin sind sie, gerade wegen der ungünstigen Verhältnisse, unter denen
die Bogen ausgefüllt werden mußten, sehr lehrreich. So wiesen z. B. 1918,
als die Beobachtungszeit nur 4 Wochen betrug, die weitaus meisten Fragen
trotzdem 75— 980/o Antworten auf, ein Beweis, daß in den alltäglichen Er-
fahrungen der Lehrer ein reicher Schatz von psychologischen Beobachtungen
vorhanden ist, der nur durch ein richtiges Fragen gehoben zu werden braucht.
1919 blieb das zahlenmäßige Bild der Antworten bei einer 4 Monate langen
Beobachtungszeit ungefähr das gleiche, aber die Qualität der Aussagen, die
Menge der Begründungen und konkreten Belege steigen in einer ganz über-
raschenden Weise, so daß wir es in diesem Jahre schon versuchen zu dürfen
glauben, die Angaben der Lehrer einer wissenschaftlichen Untersuchung der
Begabungstypen zugrunde zu legen.
Der Umfang der Lehreraussagen über die Schüler trotz der Kürze der Zeit
entkräftet übrigens auch den Einwand, der von Pädagogen am häufigsten
gegen den Bogen gemacht worden ist: den, daß er zu lang sei und dadurch
die Ausfüllung unmöglich mache. Das Resultat der ca. 3000 vorliegenden
Ausfüllungen widerlegt das ganz deutlich. Ein umfangreicher Bogen ist
nämlich auch durchaus nicht schwerer zu beantworten als ein kurzer. Im
Gegenteil, je kürzer ein Schema ist, desto allgemeiner müssen naturgemäß
seine Fragestellungen werden; desto weniger weiß man damit anzufangen,
desto mehr Arbeit und Überlegung erfordert seine Ausfüllung — und desto
weniger ist nachher aus seinen Angaben zu entnehmen. Werden z. B. statt
einer allgemeinen Frage nach der Denkbegabung des Schülers mehrere
Teilfragen nach der SchneUigkeit der Auffassung, der Neigung zu selbstän-
digem sinnvollen Fragen, zum Äußern eigener Gedanken usw\ gestellt, so
weiß der Lehrer sofort, was er anführen soll. Außerdem sind Einzelheiten
stets leichter zu beobachten als Komplexe. Es ist ja auch keineswegs nötig,
daß alle Fragen beantw^ortet werden; wenn sie nur zu weiteren Beobachtungen
anleiten und anregen, so erfüllen sie doch schon einen sehr wichtigen Zweck,
dem unser Bogen neben der eigentlichen Auslese immer dienen will: der
Förderung des Verständnisses und des Interesses des Lehrers für die Indi-
20*
308 Martha Muchow, Das Lehrerurteil bei der Begabtenauslese
vidualitäten seiner Schüler zum Nutzen seiner erzieherischen und didaktischen
Arbeit.
Die hauptsächhchste Aufgabe des Bogens bei der eigentlichen Auslese
in Hamburg bestand darin, daß er eine individuah'sierende Behandlung jedes
einzelnen Schülers ermöglichte. Besonders in den Fällen, wo zwischen dem
Schulzeugnis und dem Testergebnis Widersprüche bestanden, gab das Lehrer-
urteil im Beobachtungsbogen den endlichen Ausschlag. Ein Zahlenbeispiel
aus dem Jahi'e 1918 möge zeigen, wie wichtig die Heranziehung des Lehrer-
urteils gewesen ist. Da etwa 2/3 der angemeldeten Schüler aufgenommen
werden konnte, wurde die Grenzzahl der erforderlichen Testpunkte so fest-
gelegt, daß ein Drittel der Schüler darunter stand. Hätten wir nun das
Berliner Verfahren angewendet, so wären alle diese Kinder ohne weiteres
durchgefallen. An ein Individualisieren wäre nicht zu denken gewesen. Nun
trat aber der Beobachtungsbogen mit seinen Erklärungen auf. Eine nach-
trägliche Statistik der zweifelhaften Fälle, d. h. der eigentlich in der ft-üfung
durchgefallenen Schüler, zeigte, daß unter diesen 28,8 0/0 solcher Kinder waren,
bei denen der Lehrer über ein langsames Arbeitstempo berichtete. Stichproben
unter ihren Testarbeiten zeigten in der Tat auffallend viele unvollendete und
darum geringer bewertete Leistungen. Anscheinend war also die Versuchs-
zeit für sie zu kurz gewesen. Ihnen wäre ohne Zweifel großes Unrecht
geschehen, wenn sie darum nicht aufgenommen worden wären, zumal
erfahrungsgemäß oft Langsamkeit und Gründlichkeit Hand in Hand gehen.
Nur das Lehrerurteil konnte hier korrigierend eingreifen. Eine weitere
Statistik der Aufgenommenen unter den langsamen Arbeitern zeigte, daß
das in 36 <>/o der Fälle geschehen war.
Haben somit die Hamburger Versuche die Notwendigkeit und die Möglich-
keit der Heranziehung des Lehrerurteils in systematischer Form erwiesen, so
gilt es nun, sobald die Organisation der Einheitsschule einigermaßen klare
Form gewonnen hat, das für den Übergang aus der Grundschule in die ver-
schiedenen höheren Züge erforderliche Beobachtungsschema zu gestalten. Daß
es sich von unserem Hamburger Bogen in manchem unterscheiden wird, ist
wohl selbstverständlich. Es wird sich ja dabei einerseits vermutlich um eine
andere zu beobachtende Altersstufe und andererseits wegen der fachhchen
GHederung der Oberzüge weit mehr um eine Scheidung von Begabungs typen
als um die Kennzeichnung der Grade handeln wie bei der Aussonderung für
unsere bisherigen Begabtenklassen. Aus dem letzten Grunde wird es vielleicht
auch geraten sein, die durch die Fragestellung bedingte besonders straffe
Bindung ein wenig zu lockern und dem Lehrer durch die Angabe von
Beobachtungsgesichtspunkten in Form von Stichworten mehr Freiheit zur
eingehenden Schilderung der besonderen Veranlagungen der Schüler zu
gewähren.
Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919.
Von Wilhelm Höper.
Um die Entscheidung bei der Auswahl von Begabten für die höher führen-
den Züge der Einheitsschule streiten sich die psychologische Wissenschaft
und die praktische Pädagogik. In jeder der beiden Richtungen gibt es Ver-
treter, die den Anspruch erheben, das Problem selbständig, ohne Mitwirkung
Höper, Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919 809
der andern, zu lösen. Daß der Anspruch unberechtigt ist, hat der Vergleich
zwischen psychologischer Auslese und Verlauf des Unterrichts in einer Ber-
liner Begabtenklasse gezeigt — wenn man auch annehmen darf, daß eine
vollkommene Ausschließung von Irrtümern niemals erreicht werden wird.
Auch in der modernen Pädagogik gibt es eine Strömung, die den Anspruch
erhebt, aut Grund von „künstlerischen Charakteristiken" der Kinder zu ent-
scheiden, welches Kind für eine höhere Bildung in Betracht kommt und
welches nicht. Bei der Hamburger Auslese der Begabten, die auf ziemlich
breiter Grundlage ausgeführt wurde und darum viel eher ein Bild davon
geben kann, wie der Aufstieg der Begabten aus der Grundschule in Zukunft
aussehen wird, ist man bestrebt gewesen, beiden, der Psychologie und der
pädagogischen Praxis, einen Einfluß auf die Entscheidung einzuräumen.
Über die vorjährige Auswahl hat das Psychologische Laboratorium in Ham-
burg einen ausführlichen Bericht herausgegeben.') Dieses hat auch die Ver-
arbeitung des diesiährigen Materials übernommen. Ein kleiner Ausschnitt
daraus sei schon hier mitgeteilt.
Es handelte sich in Hamburg in diesem wie im vorigen Jahre um die
Auswahl von Kindern für fremdsprachliche („F-")- Klassen der Volksschule.
Das Urteil der Schule machte sich dabei in vierfacher Weise geltend:
1. Auswahl innerhalb der Klasse von Kindern, die für die Anmeldung in
Betracht kamen;
2. Erteilung einer Gesamtzensur für die Leistungen jedes angemeldeten
Kindes ;
3. Hervorhebung einiger nach Meinung der Lehrkraft besonders befähigter
Kinder durch Unterstreichen der Namen in der Anmeldeliste;
4. Ausfüllung eines ausführlichen, nach psychologischen Gesichtspunkten
geordneten Fragebogens („Beobachtungsbogen").
Das Urteil in dem letzteren ist naturgemäß am ausführlichsten, und eine
Zusammenstellung und Übersicht über die Ergebnisse der Bogen ist darum
besonders interessant, weil in diesen ausführlichen Bericht über das einzelne
Kind alles hineingearbeitet werden konnte, was von der Lehrkraft an Beob-
achtungen und Belegen während der ganzen Unterrichtsarbeit gesammelt
worden war. Unter gewissen Voraussetzungen konnten also die Antworten
in den Bogen, wenn ihre Sichtung und Zusammenstellung in der Behörde
von geeigneten Personen erfolgte, die Grundlage bilden für „künstlerische
Charakteristiken" der Kinder — oder es gar selbst sein. Nachteilig wirkte
der Umstand, daß wegen der Kriegsverhältnisse die Lehrkräfte in den Klassen
oft gewechselt und daß manche Lehrer nach ihrer Heimkehr aus dem Felde
die Klasse erst im Januar übernommen hatten. (Der Beobachtungsbogen war
in der Hand der Lehrkräfte seit November, die Ausfüllung hatte bis zum
5. März zu erfolgen.) Außerdem ist es auch vorgekommen, daß bei den in
der Großstadt besonders häufigen Umschulungen ein angemeldetes Kind frisch
zugeschult und danmi wenig b'ekannt war.
Wie hat man sich nun das Zustandekommen des Urteils, das in den Ant-
worten zusammengefaßt ist, zu denken?
1. Durch fleißige Arbeit im Unterricht und Fühlungnahme mit den Kindern und
ihren Eltern außerhalb der Schule wird ein Überblick über die Klasse gewonnen;
') Die Auslese befähigter Volksschtiler in Hamburg. Herausgg. v. Peter u, Stern, Beiheft 18
Zeitschr. f. angew. Psychol.
310 Wilh. Höper
2. durch Einfühlung in die Seelen der Kinder werden die einzelnen Kin-
desnaturen intuitiv erkannt;
3. für individuelle Behandlung der Kinder genügt in vielen Fällen der
pädagogische Takt; für ausführlichen Bericht über ein Kind ist außerdem
ein bewußtes Erkennen der Kindesnatur nötig, eine Analyse der „Meinung"
über das Kind;
4. die Beobachtungen über die einzelnen Kinder werden gesammelt (im
Gedächtnis oder schriftlich);
5. über Anlage und Zweck des Beobachtungsbogens wird Klarheit gewonnen ;
6. die vorhandenen Beobachtungen werden gesichtet, so daß sie ein mög-
lichst klares und vollständiges Bild von dem Kinde geben ;
7. schließlich erfolgt für die endgültige Festlegung des Urteils die sprach-
liche Fassung, auch diese individuell, dem einzelnen Falle angemessen.
Die Punkte 1 — 4 können oder sollen erledigt sein, bevor die Arbeit am
Beobachtungsbogen in Angriff genommen, ja bevor seine Art bekannt wird.
Denn bei der Zusammenstellung des Bogen s von selten der Verfasserin be-
stand die Kunst darin, nach allem Nötigen zu fragen (und danach diese
Fragen unter psychologische Gesichtspunkte zu bringen); was aber für Be-
urteilung eines Kindes zu wissen nötig ist, sollte der Lehrer von sich aus
auch entscheiden können. So ist die Lehrerarbeit am Beobachtungsbogen
nicht eine solche, die aus der Art des Bogens erst hervorgeht, sondern Zu-
sammenstellung des Bogens und Vorbereitung der Lehrerarbeit an ihm sind
zwei Arbeiten, die einander parallel gehen. (Daß eine Auswahl von Kindern
nötig werden würde, war nach der vorjährigen Einrichtung von F-Klass en bekannt.)
Der Gang, wie er oben durch die sieben Punkte dargelegt ist, ist so klar,
daß man annehmen kann, es dürfte keiner von ihnen fehlen, wenn das
Urteil Wert beanspruchen soll. Andererseits kann man wieder sagen: die
Forderung dieses Ganges hat normativen Wert, und allen Punkten wird nur
der vorzügliche, wenn nicht der ideale Erzieher entsprechen können.
Zu 1.: Es ist schon der Umstand angeführt, daß manche Lehrer die Klasse
erst eben bekommen hatten. So finden sich unter den Bogen manchmal
Bemerkungen, wie: „Da ich die Klasse erst seit Januar 1919 führe, ist es
mir unmöglich, die Charakteristik der Schüler entsprechend festzulegen", aller-
dings hier mit dem Zusatz: „umsomehr als mir derartige Bestrebungen bis
vor kurzem unbekannt waren* (54, a). Oder: „Ich habe die Klasse seit
Ostern, die Besetzung der Fächer hat vielfach gewechselt, und ich kann
meine Beobachtungen fast nur auf die Ergebnisse in Deutsch und Rechnen
stützen" (26, b). Oder: „Ich habe die Klasse erst seit Dezember 1918; die
Beobachtungen sind daher unvollkommen" (17, a). Allerdings finden sich
auch höhere Ansprüche an Zeit zur Erkennung der Kinder, wie folgende
Nachschrift beweist: „Die Angaben machen keinen Anspruch auf absolute
Richtigkeit. Sollen sie wirklich erschöpfend und genau gemacht werden, so
muß die betreffende Lehrperson die Klasse von unten herauf geführt haben,
und die Bogen resp. die Fragen müssen bei der Einschulung der Kinder be-
kannt gegeben werden" (6, b).
Zu 2.: Die Frage, ob objektive Menschenkenntnis möglich ist, ist zu ver-
neinen. Sehr interessant ist es aber, dem Grunde dafür nachzugehen. Wenn
wir mit einem Menschen reden, so schwingen bei beiden nicht alle Saiten
mit, sondern nur die, die bei beiden gleichartig gestimmt sind. Eine hübsche
Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919 311
Ausmalung dieses Gedankens bringt Paul Göhre in seinem neuen Buch „Der
unbekannte Gott": ein Bekannter von ihm hat das Bild eines gemeinsamen
Freundes gemalt. Göhie erblickt aber in dem Bilde andere Züge, als er am
Freunde kennt, wohingegen einige ihm bekannte fehlen. — So können wir
zwar von einem Kinde intuitiv feststellen, daß es diese oder jene Fähigkeit
hat — wenn wir sie selbst bis zu einem gewissen Grade besitzen. (Welche
Folgerungen man daraus für die Auswahl der werdenden Lehrer zu ziehen
hat, gehört in ein anderes Kapitel.) Den ganzen Menschen aber werden
wir immer nur nach uns selbst beurteilen.
Zu 3. : Für die individuelle Behandlung des Kindes kommt es auf die Fäden
an, die zwischen ihm und dem Erzieher gesponnen sind, und bei der Durch-
bildung und Gewissenhaftigkeit unserer Lehrerschaft wird das in den aller-
meisten Fällen genügend sein, damit dem Kinde sein Recht wird. Fragt
man sich aber, warum man dieses Kind so und nicht anders behandelt, so
kommt man zur Analyse der „Meinung" über das Kind. Diese Art zu in-
dividualisieren ist natürlich in unseren vollen Klassen nur sehr schwer durch-
zuführen, und manche Lehrkraft mag auch nicht die Fähigkeit haben, sich
über die sämthchen Faktoren der „Meinung" bewußt zu werden. Dieses hat
- vielleicht neben mangelndem Verständnis oder nicht genügender Vertiefung
in die Anlage des Bogens — mitgewirkt bei solchen Bogen, die nichtssagend
sind und in den Antworten keine klare Differenzierung der verschiedenen
Kinder ergeben. Unter dem Bogen aber stehen dann manchmal als Zusam-
menfassung und Ergänzung sehr wertvolle Notizen, die ein helles Licht werfen
auf die Eigenart der betreffenden Kindesnatur. Eine Lehrkraft der Schule 71
beantwortet von den 52 Fragen bei
Kind 1: nur 10 Fragen in 37 Wörtejn
» ^ • » " r? "^ "'^ ■^
« 4: „ 10 „ „30
Da die Antworten noch dazu häufig den Wortlaut der Frage wiederholen
(eine Gefahr für den Beobachtungsbogen !), so ist natürUch eine Differenzierung
der Kinder danach nicht möglich. Als Zusammenfassung aber stehen unter
dem Bogen kurze Bemerkungen:
Bei Kind 1 : „Fleiß, Ehrgeiz lassen alle Schwierigkeiten überwinden. Es
genügt, daß der Knabe einen Mangel an sich klar erkennt, um ihn dann
bald und sicher auszumerzen. Fröhliches, frisches Zugreifen auch in prak-
tischen Dingen."
Bei Kind 2: „Nicht immer gleichmäßig in den Leistungen; Zeiten, daß man
sowohl nach der einen als nach der anderen Seite staunt, lösen einander ab.
Gute sprachliche Begabung. Schalkhafte, übermütige Veranlagung."
Bei Kind 4: „Sehr begabt besonders für Auffassung alles konkret Gegebenen.
Auch steht der selbstverständlich einfache sprachliche Ausdruck unmittelbar
zur Verfügung. Es fehlt oft an Fleiß bei eigenem Arbeiten, wenn der Schüler
sich selbst überlassen ist, z. B. bei häuslichen Arbeiten. Bedeutende Spann-
kraft, die nie Ermüdung zeigt."
Sieht man sie nicht klar vor sich, den praktischen, frisch Strebenden, den
kleinen Schwerenöter, den sachlichen und Tatmenschen, der doch immer An-
trieb braucht? Und so könnte man noch mehr Beispiele aufzählen.
Zu 4.: Für derartige ausführliche Berichte, w^ie sie im Beobachtungsbogen
verlangt werden, ist eigentlich die systematische (schriftHche) Sammlung von
312 Wilh. Höper
Notizen unerläßlich; nur ein ganz vorzügliches Gedächtnis kann alle die
Kleinigkeiten festhalten und im rechten Augenblick reproduzieren, diese
Dinge, die im Schulleben täglich vorkommen und in ihrer scheinbaren Be-
deutungslosigkeit doch ein so helles Licht werfen auf die Eigenart unserer
Kinder. Das Ideale für diesen Zweck wäre die Führung von Tagebuchblättern
für alle Kinder, mit Rubriken, die am Kopf Stichworte tragen, ungefähr ent-
sprechend den größeren Abteilungen des Beobachtungsbogens, nur in lockererem
Aufbau und weiterem Rahmen. Ich glaube, es würde nicht unmöglich sein,
am Schluß jedes Unterrichtstages charakteristische kleine Vorfälle aus dem
Schulleben zu notieren und so allmählich für jedes Kind eine Reihe von
Notizen zu sammeln, die in ihrer Zusammenstellung ein einigermaßen klares
Bild geben würden. Selbstverständlich werden nicht alle Kinder gleich-
mäßig Gelegenheit zu solchen Notizen geben, und auch nicht alle Rubriken
des Fragebogens werden gleichmäßig davon betroffen werden können. Es
hat z. B. fast niemand versäumt zu betonen, daß das geschilderte Kind eine
gute Beobachtungsgabe hat, und in sehr vielen Fällen sind Beispiele dafür
genannt worden. Die Fragen aber: „lernt das Kind verstandesmäßig oder
mechanisch?" und „erholt das Kind sich schnell nach der Ermüdung?" sind
oft unbeantwortet geblieben. Ein wenig aufmerksames Sammeln von Beob-
achtungen würde da geholfen haben. Andererseits sind vielfach Belege ge-
geben, wie Aufsätze, Zeichnungen, auch Gedichte der Kinder, manchmal mit
sehr feinen Bemerkungen über den Wert solcher Dokumente. Deren indi-
vidualisierender Wert ist natürlich verschieden, aber immer sind sie von der
Lehrkraft hinzugefügt in individualisierender Absicht. So begründet eine
Lehrkraft einmal die Mitteilung von kleinen, feinen Beobachtungen außerhalb
des Bogens damit: „Ich kann nicht recht beurteilen, ob man aus den Ant-
worten auf die Fragen wirklich ein rechtes Bild von dem Kinde bekommt".
Eine andere legt einen Aufsatz oder Stücke daraus von den von ihr beur-
teilten Kindern bei, und zwar von allen Kindern über dasselbe Thema -
ein Verfahren, das natürlich für einen Vergleich zwischen den Kindern sehr
fördernd ist. Eine Lehrkraft bemerkt unter einem Bogen, der Knabe, der
angebHch vom Singen „eine trockene Kehle" bekäme und darum die Ge-
sangsstunde nicht liebte, wäre nicht etwa halsleidend, sondern musikalisch
unbegabt, und mehr von daher und von der Zensur 3 als von der „trockenen
Kehle" rühre die Abneigung. Ein Lehrer legt eine bunte Karte von der
Umgebung Hamburgs bei (Schwarze Berge bis Sachsenwald) und gibt an,
daß der kleine Künstler diese im 3. Schuljahr von der Wandkarte abgezeichnet
habe. Oft sieht man auch an den Proben, wie die Individualität der Lehr-
kraft auf das Kind abgefärbt hat. Z. B. berichtet 144, b, daß ein Kind von
unwiderstehlichem Drange zum Dichten getrieben wird, mitten in der Stunde
sein Schreibheft herauszieht und schreibt. Das Gedicht, das mitgeteilt wird
(vom Kinde selbst geschrieben), weist den Wesenseinfluß der Lehrkraft auf,
wie sie sich in der Ausfüllung der Bogen zeigt: künstlerische Charakteristiken,
die sehr subjektiv gefärbt sind und nicht gerade ein klares Bild der einzelnen
Kinder geben.
Zu 5.: Die Klarheit über Anlage und Zweck des Bogens ist nicht immer
vorhanden gewesen bei der diesjährigen Ausfüllung. Woran Hegt das? Zu
einem großen Teil ohne Zweifel daran, daß die Lehrerschaft mehr praktisch-
pädagogisch als psychologisch eingestellt ist, daß es ihr daher Mühe macht,
Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919 313
die Analyse bis zu dem gewünschten Punkte durchzuführen. Selbstverständ-
lich kann auch nicht nur die Einstellung, sondern der Mangel an psycholo-
gischer Befähigung den Grund dafür geben, wenngleich das in unserer
Lehrerschaft wohl kaum sehr häufig vorkommen dürfte. Von Unklarheit über
den Zweck des Bogens mag aber eine Erscheinung herrühren, die sich ver-
schiedentlich gezeigt hat: da waren die Bogen teils ziemlich einsilbig ausge-
füllt (\ielleicht hatte es der Lehrkraft an Zeit gefehlt), teils auch etwas breiter,
aber alle Bogen der Lehrkraft ergaben dasselbe Bild (meist das eines Muster-
schülers), ohne wesentlich differenziert zu sein. Die Ausfüllung des Bogens
hat doch den Sinn und Zweck, der Schule einen ausreichenden Einfluß auf
die Entscheidung über Aufnahme oder Ablehnung des Kindes zu gewähren.
Dieser Zweck wird aber nicht erreicht, wenn alle Kinder einer Lehrkraft mit
den gleichen schmückenden Beiwörtern belegt sind, so daß eine Auswahl
zwischen ihnen unmöglich ist. Ebensowenig kann da von Klarheit über
Anlage und Zweck des Bogens die Rede sein, wo von den 52 Fragen z. B.
nur 13 beantwortet sind. Gewiß beansprucht die Ausfüllung eine große
Aufwendung an Kraft und Zeit von selten der Lehrkraft, aber ist nicht der
Zweck gut? Wir tun es für die beste Förderung unserer Kinder, der ein-
zigen Hoffnung in dieser schweren Zeit. Gibt es nicht praktische Gesichts-
punkte, die hier eine Anspannung der Kräfte fordern ? Wir tun es für unser
eigenstes Arbeitsgebiet, die Schule, wir tun es fiu- die Unabhängigkeit unseres
Standes. Und da darf es einfach nicht vorkommen, daß die Möglichkeiten,
die tler Schule sich bieten, an der Auswahl der Begabten mitzuarbeiten,
wegen irgendwelcher persönlichen Interessen dahingegeben werden, daß z. B.
eine Lehrkraft, die ihre Klasse 3 Jahre hat, ohne einen besonderen Grund
die Bogen vollständig unausgefüllt abgeliefert.
Zu 6.: Beim Durchlesen von sehr vielen Bogen hat man das Vergnügen,
die Kinder in plastischer Gestaltung zu erkennen, so wie sie sich geben in
Arbeit und Spiel, in der Schule und auf der Straße, unter sich und dem
Lehrer gegenüber. Da sieht man sie richtig vor sich und hat Freude an
beiden, der Art des Kindes und der Klarheit in der Darstellung der Lehr-
kraft. Es muß aber ausgesprochen werden, daß auch eine ganze Anzahl
Bogen vorhanden sind, bei denen das nicht der Fall ist. Einiges davon
(NichtausfüUung des Bogens usw.) wurde schon beim vorigen Punkte be-
sprochen. Aber das waren eigentlich Ausnahmefälle. Häufiger ist es vor-
gekommen, daß zwar quantitativ die Bogen in durchaus genügender Weise
ausgefüllt sind, daß aber trotzdem sich kein klares Bild von dem so ge-
kennzeichneten Kinde gewinnen läßt. Woran liegt das? Einmal wahrschein-
lich an der Art der Sammlung und Sichtung des Beobachtungsmaterials:
Nicht die wirklich charakteristischen Züge eines Kindes waren festgehalten,
sondern mehr die Nebensachen, die dazu noch in epischer Breite erzählt
wurden. Auch die Ausdeutung solcher Beobachtungen, wo sie gegeben wurde,
war manchmal anzuzweifeln, da sie in V/iderspruch stand zu anderen An-
gaben. Vor allem aber waren es die Widersprüche in den Antworten selbst,
die den Wert des darin niedergelegten Lehrerurteils oft stark herunterdrückten.
So z. B. wird von einem Kind berichtet, es sei langsam und schwerfällig;
an anderer Stelle, es sei sehr rege und möchte gern immer antworten, außer-
dem, es habe seine ehr gewandte mündliche und schriftliche Darstellung.
(Hier ist wohl für schwerfällig zu setzen : vorsichtig. Außer dieser termi-
314 Höper, Erfahrungen mit dem Hamburger Beobachtungsbogen 1919
nologischeii Unsicherheit der Lehrkraft »st auch noch ein Bestieben erkenn-
bar, das Kind herauszustreichen.) Von einem andern heißt es: „Ist oft
flüchtig, übersieht leicht", aber: „führt seine schriftlichen Arbeiten sorg-
fältig aus"; „lernt schnell", aber: „arbeitet etwas langsam". Ein anderes:
„Pflichtgefühl bestimmt sein Handeln"; danach aber wird angegeben, daß
es „Schulen gelaufen" ist. Auch unvollkommene Auffassung der Frage-
stellung ist bemerkbar; z. B. in einem Bogen, der für das Kind sehr (viel-
leicht reichlich) günstig ist, schreibt die Lehrkraft in Frage 6: „Nicht sehr
phantasiebegabt, sondern bei aller Wiedergabe sehr korrekt". Oder: auf die
Frage, ob die Aufmerksamkeit des Kindes leicht zu erregen ist, wird die
Antwort gegeben, es habe zu 3 oder 4 früher gelernten Gedichten auf An-
regung hin eine eigene Melodie erfunden.
Zu 7.: Die Gewissenhaftigkeit der Lehrkraft dokumentiert sich oft in sehr
feiner Weise in der Art der sprachlichen Formulierung der Antworten. Die
quantitativen Unterschiede sind natürlich sehr groß. Im allgemeinen sind
die Antworten der weiblichen Lehrkräfte wortreicher, die der männlichen
kürzer, ohne doch darum weniger scharf zu sein. Oft läuft eine wortreiche
Antwort auf Umschreibungen hinaus, meist aber bringen die langen Antworten
auch Belege für die Angaben. Am wenigsten war mit den Bogen anzufangen,
in denen die Fragen nur mit ja oder nein beantwortet waren. Was nützt
es, zu wissen, daß ein Kind längere Zeit aufmerksam bleibt, Beobachtungen
gesammelt hat, eigene Gedanken äußert usw.; das Maß alles dessen erst
differenziert die Kinder voneinander und macht die Scheidung in Geeignete
und Ungeeignete für den vorgesehenen Zweck möglich. Noch ein anderer
Punkt machte die Verwertung der in den Bogen niedergelegten Urteile
schwierig: viele Antworten wiederholten einfach den Wortlaut der Frage in
positivem oder negativem Sinne, so daß sie wenig überzeugend wirkten und
kaum mehr differenzierten als das bloße Ja oder Nein. (Hier haben wohl
die Frageform und die manchmal vorgedruckten Antworten etwas suggestiv
gewirkt.) SchließUch ist noch ein Letztes zu erwähnen: wenn man sich bei
der Ausfüllung des Bogens nicht zu sehr von dem Wortlaut der Frage be-
einflussen läßt, sondern sich die Natur des zu schildernden Kindes recht
vorstellt, wird man meistens bei verschiedenen Kindern zu verschiedener
Formulierung der Antworten kommen. Auch dieses ist in einer Anzahl von
Fällen zu vermissen, und es zeigt sich dann meist bei gleichmäßig formulierten
Antworten für dieselbe Frage bei verschiedenen Kindern eine recht geringe
Differenzierung der Kinder.
Die Folgerungen, die aus dem allen zu ziehen sind, betreffen: a) den Be-
obachtungsbogen, b) die Lehrerschaft, c) die Vergleichung der Bogen.
a) Einige Forderungen, die an den Bogen zu stellen sind, sind schon er-
wähnt. Zu erwägen ist, ob nicht die Anlage als Fragebogen aufgegeben
wird zugunsten einer Anlage in Stichwoiten. Die Anleitung zur Ausfüllung
des Bogens müßte dann ausführlicher sein und vielleicht auch in anderer
Weise erfolgen. Unbedingt nötig ist, daß die leeren Bogen den Schulen früh
genug übersandt werden und daß ihnen mindestens ein Halbjahr vorher mit-
geteilt wird, daß und zu welchem Zweck eine Auswahl der Kinder stattfindet,
damit eine systematische Vorarbeit der Lehrkräfte möglich ist.
b) Die Gesichtspunkte für Zusammenstellung des Beobachtungsbogens
werden zwar von Vertretern der psychologischen Wissenschaft ausgearbeitet.
Judith Lichtenstein, Psychol. Ermittlungen im Kindergarten 315
Die Lehrerschaft muß sich aber klar darüber sein, daß sie mit der Arbeit
und der Verantwortung dafür, die sie übernimmt, auch einen außerordent-
lichen Einfluß auf die Auswahl der Kinder gewinnt. Eifer und Interesse für
die Sache sind umsomehr zu fordern, als es sich um wohlberechtigte Interessen
des Lehrerstandes handelt, die sich nicht wahren lassen durch Kritik ohne
Arbeit. Wo die psychologische Einstellung und das psychologische Ver-
ständnis fehlen, - und sie haben vielfach gefehlt - da ist für eine weitere
psychologische Ausbildung der Lehrerschaft zu sorgen. Auch das sollte die
Lehrerschaft, die dieses Bedürfnis fühlen muß, selbst in die Hand nehmen.
Der jetzt von vielen Seiten geforderte Schulpsychologe ist heute notwendig,
aber dieser Zustand wird ein Übergang sein.i) Das Ideal ist und bleibt es, daß
ein jeder Lehrer genügend geschult ist, um sein eigener Schulpsychologe zu sein.
c) Selbst bei bestem Willen und reifstem psychologischen Verständnis wird
der Lehrer für die Aufnahme eines Kindes in eine „höhere" Schule immer
nur vorschlagen, nicht endgültig entscheiden können. Das verbieten
die Verschiedenheiten in Anforderungen an das Kind und in der persönlichen
Stellung zu ihm, in Gründlichkeit und Verständnis bei der Ausfüllung des
Bogens. Es muß vielmehr eine Zentralstelle vorhanden sein, bei der alle
Bogen zusammenkommen und nach festen Gesichtspunkten verarbeitet werden
von Personen, die pädagogisch wie psychologisch geschult sind und genügend
praktische wie Lebenserfahrung besitzen, um auf Grund der gegebenen Urteile
die Kinder zu vergleichen und — unter Heranziehung weiterer Hilfsmittel —
auszuwählen. (Der Gesichtspunkt der Vergleichbarkeit, der durch feste Anlage
des Bogens soweit überhaupt mögUch gewährleistet wird, würde fortfallen
bei frei gestalteten „künstlerischen Charakteristiken", ganz abgesehen davon,
daß nicht jede Lehrkraft in der Lage sein dürfte, solche aufzustellen.) Bei
dem Umfang des Materials würde eine solche Zentralstelle, zumal wenn sie
auch die andern Faktoren, die bei der Auslesearbeit in Betracht kommen
(psychologische Prüfungen, Verarbeitung von vorliegendem Material, Aus-
arbeitung von Anweisungen, schulorganisatorische Arbeiten), berücksichtigen
will, nicht nur zeitweilig, sondern das ganze Schuljahr zu arbeiten haben.
Nur bei einer solchen Zusammenfassung der Aibeiten auf psychologischem
und pädagogischem Gebiete kann es gelingen, das Problem der Begabten-
auswahl zu lösen, das die Grundlage bildet zu allen Fragen der in ihrer
MögUchkeit und Gestaltung so viel umstrittenen „Einheitsschule".
Fragebogen
zu psychologischen Ermittlungen im Kindergarten.
Von Judith Lichtenstein.
Es bedarf dringend der Feststellung, ob der Kindergarten, wie er heute
geführt wird, der Eigenart des Kindes entspricht, ob er kindgemäß ist.
Dieser Aufgabe will der nachstehende Fragebogen dienen. Die Ordnung seiner
1) Der Leiter der Zentralstelle (vielleicht „Bezirkspsychologe"?/ würde natürlich nie über-
flüssig werden können. Ich halte es für eine schon in absehbarer Zeit zu erfüllende not-
wendige Forderung, daß jedes ausgebaute Schulsystem seinen Schulpsychologen hat (psycho-
logisch geschulter Lehrer mit verringerter Stundenzahl und event. höherem Gehalt), der die Be-
gabungsauswahl an seiner Schule zu regeln hätte. Nur auf diesen bezieht sich das oben Gesagte.
316 Judith Lichtenstein
Fragegruppen ergab sich ungezwungen dadurch, daß wir die Einwirkungen,
die das Kind im Kindergarten von seinem Eintritt an bis zu seinem Austritt
empfängt, verfolgten.
Von der für möglichst viele Kinder anzustrebenden gründlichen und
kritischen Beantwortung des Fragebogens erwarten wir ein Tatsachenmaterial,
das weitere Auskunft gibt über die Fragen:
1) wie sich das Kind in den Kindergarten eingewöhnt,
2) wie sich das Kind spontan zu den Fröbelschen Gaben stellt,
3) ob die technischen Arbeiten dem beim kleinen Kinde tatsächlich schon
vorhandenen Drange nach ernsthafter Betätigung Befriedigung geben,
4) ob Bewegungsspiele ein glückliches Mittel sind, die Phantasie des Kindes
planvoll zu betätigen,
5) wie sich die Kinder zu Besprechungen stellen,
6) wie die Kinder den Einheitsgedanken (Monatsgegenstand) in sich auf-
nehmen und verarbeiten (schließlich auch, wie sich die verschiedenen Kinder
in alledem unterscheiden).
Natürlich ist der folgende Frageb.ogen der Ergänzung bedürftig. Viele
Fragen, z. B. die, ob die individuelle Eigenart des Kindes im Kindergarten
zu ihrem Rechte kommt, konnten nur gestreift werden. Denn wir wollten
die Arbeit nicht allzuweit ausdehnen und so die Veröffentlichung immer
wieder hinausschieben. Wir werden aber nicht aufhören, weiter an dem
Bogen zu arbeiten und bitten auch die, die den Bogen benützen werden,
Lücken aufdecken und füllen zu helfen. ^ Allerdings ist dazu eine gewisse
psychologische Vorbildung nötig. 2)
Bei der Benutzung des Fragebogens ist noch folgendes zu beachten: Bei
der Beantwortung der einzelnen Fragen sind Tatsachen anzugeben, nicht
etwa bloß Urteile oder Eigenschaftswörter. Jeder, der aus dem ausgefüllten
Fragebogen seine Schlüsse zu ziehen hat, muß in der Lage sein, sich aus
den angegebenen Tatsachen selbst ein Urteil bilden zu können.
Der Fragebogen enthält drei Spalten. In der ersten Spalte stehen die Fragen.
Die zweite Spalte enthält Hinweise, wie man sich das zur Beantwortung not-
wendige Material beschafft. In der dritten Spalte habe ich Antwortbeispiele
angeführt. Dabei habe ich, um möglichst sprechende Beispiele bringen zu
können, die Angaben meinen Notizen über verschiedene Kinder entnommen.
Es ist aber notwendig, daß nun der Versuch gemacht wird, möglichst
*) Hinweise sowie Beantwortungen des Fragebogens bitten wir zu senden an Dr. Alfred Mann,
Breslau XVI, Maxstr. 16. Die Materialien werden an einer Zentralstelle zur wissenschaftlichen
Bearbeitung zusammengestellt und später ernsthaften Interessenten leihweise überlassen werden.
*) Ich erhielt sie im Breslauer psychologischen Universitätsseminar bei Herrn Professor W.
Stern und im Jugendleiterinnenkursus durch Herrn Dr. Alfred Mann, dem auch diese Arbeit
viele Anregungen und Verbesserungen verdankt. — Und dann braucht mau dazu auch Zeit. Die
beobachtende Jugendleiterin, oder wer es auch immer sei, darf von Betriebssorgen nicht erdrückt
werden. Und hier möchte ich nicht verfehlen, der Seminarleiterin Fräulein Gertrud Laßwitz,
die mir vor 1 V» Jahren die Einrichtung und Leitung eines Volkskindergartens übergab, meinen
besonderen Dank auszusprechen. Denn sie hat trotz der ungünstigen Zeitverhältnisse stets dafür
gesorgt, daß mir Zeit und Lust blieb, meine im Jugendleiterinnenkursus gefaßten Vorsätze und
Ideen auszuarbeiten und fortzubauen.
Psychologische Ermittlungen im Kindergarten
317
alle Fragen für ein Kind zu beantworten.
merkungen J)
Angefügt sind besondere Be-
Frage
Beobachtungs-
gelegenheit
Antwortbeispiel
l) Kommt das Kind in den
Kindergarten aus eigenem An-
trieb oder wird es geschickt
(anfänglich und dann weiter)?
2) Wenn das Kind aus
eigenemAntrieb in den Kinder-
garten kommt, hat es dann
t)estimmte Erwartungen und
Wünsche, die ihm im Kinder-
garten erfüllt werden sollen ?
3) Wenn es geschickt wird,
aus welchen Gründen ge-
schieht dies dann?
4) Fällt es ihm leicht oder
schwer, sich in die neue Um-
gebung zu finden? (Genaue
Beschreibung des Verhallens
des Kindes!)
5) Findet sich das Kind
überhaupt leicht oder schwer
in eine neue Lebenslage?
L Eingewöhnung.
Festzustellen durch Befra-
gen der Angehörigen und vor-
sichtiges Befragen des Kindes.
In entsprechenden Lebens-
lagen zu beobachten.
Experiment : Man gebe dem
Kinde fremdartiges Spielzeug
oder bringe es mit fremden
Kindern oder Erwachsenen
zusammen und beobachte
dann sein Verhalten.
Festzustellen durch Befra-
gen der Angehörigen, vor-
sichtiges Befragen des Kindes ;
auch spontanen Äußerungen
des Kindes zu entnehmen.
Festzustellen durch Befra-
gen der Angehörigen.
Zu beobachten an einem
Kinde, das zum ersten Male
einen Kindergarten besucht.
Von Günther (4 J ) erzählt das
Dienstmädchen, daß er überall
gleichaltrige Kinder aufsuchte,
um mit ihnen zu spielen. Er bat
die Eltern, ihn in einen Kinder-
hort zu schicken. Er kam zu
uns jeden Tag mit neuer Freude
und war traurig, als Krankheit
ihn hinderte.
Emsts (5 J.) Kusine Eva geht
schon längere Zeit in den Kin-
dergarten und erfreut Bekannte
und Verwandte durch Hersagen
kleiner Verschen. Ernst läßt nun
seinen Eltern keine Ruhe. Er
will gleichfalls in den Kinder-
garten gehen, um auch so viel wie
Eva zu lernen.
Erich (4 J.) wird geschickt,
weil die Mutter durch ein Ge-
schäft verhindert ist, auf ihn acht-
txigehen.
Solange die Mutter dabei ist,
ist Erwin (3 J.) ganz ruhig. Kaum
ist sie fort, überwältigt ihn der
Schmerz. Er weint und will ihr
nachlaufen. Um zu vermitteln,
nehme ich ihn auf den Arm und
sage : , Wir wollen sehen, wo sie
hingeht." Er ist am Fenster und
erzählt in atemloser Hast: „Da
wohnen wir. Da läuft eine Maus
am Haus. Nu macht sie muh."
Diese letzten Vorstellungen schei-
nen Macht über ihn zu gewinnen.
Nach ein paar Minuten geht er
ruhig zu den Kindern.
Beobachtungen fehlen mir.
1) Eine vierte Spalte sollte l>esondere Bemerkungen enthalten ; aus drucktechnischen Schwierig-
keiten konnten diese aber nicht neben die Einzelfragen, zu denen sie gehören, gesetzt werden,
sondern wurden fortlaufend am Schlüsse des Bogens angefügt.
318
Judith Lichtenstein
Frage
Beobachtungs-
gelegenheit
Antwortbeispiel
6) Wird dem Kinde erst
nach einiger Zeit bewußt, daß
es sich in fremder Umgebung
befindet? Falls das Kind im
Kdg. Bangigkeit nach Hause,
Furcht u. dgl. zeigt — treten
diese Erscheinungen bald auf
oder erst später ? (Schreit das
Kind, wenn es gebracht wird ?)
7) a) Möchte das Kind lieber
allein sein oder liebt es die
Gesellschaft (anderer Kinder,
Erwachsener) ?
b) Bevorzugt das Kind Ein-
zel- oder Sozialspiele? (a und
b sind zu beantworten sowohl
für die Zeit des Eintritts in den
Kdg. als auch nach längerem
Aufenthalt!)
8) Empfindet das Kind die
anderen (Erwachsene, Kinder)
als Störung ? Wie äußert sich
da»? Ändert es sich, wenn
das Kind schon längere Zeit
den Kdg. besucht hat ? (Ge-
nnue Zeitangaben !)
S. Nr. 4.
Hier muß die beobachtende
Person so diskret wie mög-
lich sein, um nicht Schmerz-
ableiter zu werden.
a) Beim Freispiel der Kin-
der zu beobachten.
b) 'Bei den meisten Kindern
wird es schwer sein, ein Über-
wiegen nach einer Seite fest-
i zustellen. Vielleicht kann
j man dem Kinde Spielzeug
j geben (Experiment!), das zu
! ruhiger, einsamer Vertiefung
I einlädt, z. B. ein Zusammen-
j setzspiel, und nun beobachten,
I ob sich das Kind trotzdem
1 Spielgefährten herbeiholt. —
! Hier sind auch die Angehöri-
! gen zu befragen, denn es wäre
I wichtig, festzustellen, ob Kin-
I der, die zu Hause immer allein
I spielen, im Kdg. besonders
j eifrig Spielgefährten suchen.
Es empfiehlt sich, ein Zim-
I mer im Kdg. zu haben, in
I das sich das Kind, falls es
! Verlangen darnach hat, zu-
1 rückziehen kann.
9) Wie lange dauert es, bis
das Kind die anderen kennt
und mit Namen rufen kann ?
Alle paar Tage kann man
das Kind nach den Namen
j der anderen, auch Erwach-
1) Die Beobachtung des kindlichen Spiels kann vielleicht
wichtig werden! Beispiel oben!
Hilde (5 J.) kam sehr selb-
ständig in den Kdg. Sie war
einen Tag vorher durch ihre
Mutter angemeldet worden, so daß
weder ich sie, noch sie mich
kannte. Sie nannte deutlich ihren
Namen, setzte sich zu den an-
deren Kindern. Gegen 11 Uhr
nahm sie plötzlich ihre Brottasche
und erklärte, sie ginge jetzt. Wir
durften sie natürlich nicht gehen
lassen, und nun trat der Tren-
nungsschmerz hervor. Sie hieb
und biß um sich, wollte weder
essen noch sich schlafen legen.
Dieser Zustand dauerte ungefähr
*/i Stunde, bis sie vor Müdigkeit
einschlief. Nach dem Schlafen
war sie wieder ganz ruhig.
a) Ich suche Alfred (4 J.) und
finde ihn schließlich in einem klei-
nen Zimmer ruhig in einer Ecke
sitzen. Auf meine Frage, warum
er nicht mit den anderen Kindern
spiele, sagt er: „Hier ist es feiner."
b) Fritz (6 J.) bevorzugt So-
zialspiele. Die Kinder haben
Spielzeug erhalten, Fritz den Roll-
wagen, Rudi den Kaufmanns-
laden. Zwischen diesem bezie-
hungslosen Spielzeug fand er die
Brücke: Von dem Wagen wird
Zucker abgeladen, der im Laden
verkauft wird. In dieser Weise
zog er auch das andere Spiel-
zeug in sein Bereich, so daß er
bald mit einer Reihe von Kindern
spielte. (Anzeichen von organi-
satorischem Talent? •)
Liese (5 J.) kennt, möchte man
sagen, seit ihrer Geburt nichts als
Anstaltsleben. (Krippe, Kinder-
garten). Aber: sie spielt in einer
Ecke ,, Mutter und Kind" und
singt; sowie ich hereinkomme,
verstummt sie und schreit mich
an: „Sollst weggehen!"
Beobachtungen fehlen mir
für die Lebens- (Berufs-) Prognose
Psychologische Ermittlungen im Kindergarten
319
Frage
Beobachtungs-
gelegenheit
Antwortbeispiel
(Genaue Angaben der
Sachen und der Zeit!)
Tat-
1 0) Befreundet sich das Kind
zuerst mit Kindern oder Er-
wachsenen ?
11) Ist das Kind zuerst he-
sonders anhänglich an einen
bestimmten Erwachsenen, ein
bestimmtes Kind oder Tier?
Schwindet diese Anhänglich-
keit mit der Zeit ? (innerhalb
welcher.au» welchemGrunde ?
Tatsachenangabe !) oder bleibt
12) Wie lange dauert es,
bis das Band am Spiel oder
an der Beschäftigimg der an-
deren teilnimmt?
senen, fragen. Nur muß man
sich hüten, daß daraus nicht
ein Oben, ein Lernen für da.«
Kind wird, — Ob das Kind
die anderen kennt, läßt sich
am besten beim Freispiel
beobachten.
Am besten t)eim Freispiel
zu beobachten, da ja hier das
Kind ganz seinen Neigungen
folgen kann.
S. Xr. lö.
Hier ist genau zu t)eob-
achten. ob das Kind zuerst
nur zusehen mag, ob es dann
nur an bestimmten Beschäf-
tigungen teilnimmt, ob die
Auswahl der Beschäftigung
etwa mit der Bevorzugung
einer besonderen Technik zu-
sammenhängt oder ob das
Kind nur nach rein persön-
lichen Gesichtspimkten aus-
wählt.
Ursel (5 J.) beachtet die an-
deren Kinder nicht und flüchtet
immer in den Schutz eines Er-
w^achsenen. Da öffnet sich dann
ihr Mund, und sie kann erzählen.
In den ersten 14 Teigen klam-
merte sich Erwin (3 J.) sehr fest
an mich an. Die Freundlichkeit
meiner Gehilfin gewann ihn aber,
so daß er die Richtung wech-
selte imd ihr treuer Begleiter
wurde. Meine Gehüfin erkrankte
und konnte längere Zeit nicht in
den Kindergarten kommen. Er
war nun allein und schwebte
hilflos im Räume. Er pendelte
tatsächlich die ersten Tage her-
um, ohne zu wissen, was be-
ginnen. Dann freundete er sich
mit den anderen Kindern an und
verteilte gleichmäßig seine Gunst
Als meine Gehilfin nach 6 Wochen
wiederkam, hatte sie fönihn die
Bedeutung verloren.
Beobachtungen fehlen mir.
n. Beschäftigung mit Fröbelsehen Gaben.
13) Wählt das Kind lieber
selbst seine Beschäftigung,
öder braucht es Bestimmung
durch andere?
Festzusteüeu durch ein
kleines Experiment:
Man lasse einige Male hin-
tereinander das Kind selbst
wählen und teile dann an
den nächsten Tagen die Be-
schäftigung selbst zu. Durch
Beobachten und vorsichtiges
Befragen stelle man fest, was
dem Kinde lieber war.
Beobachtungen fehlen mir.
320
Judith Lichtenstein
Frage
Beobachtungs-
gelegenheit
Antwortbeispiel
14) Weiß das Kind von vorn-
herein, was es mit der Gabe
anfangen soll, oder muß es
ihm von Erwachsenen vor-
gezeigt werden? (Vorbauen
usw.)
15) Verwendet das Kind die
Gaben in Fröbels Sinne? Be-
nutzt es z. B. Täfelchen wirk-
lich dazu, einen Gegenstand
daraus zu legen, Bausteine
zum Bauen?
1 6) Wie lange hält das Kind
bei demselben Beschäf tigungs-
mittel aus? Zeigen sich zu
verschiedenen Zeiten bei ver-
schiedenen Gelegenheiten sehr
große Unterschiede ? (Tat-
sachenangabe ! Beschreibung
des Beschäftigungsmittels !)
17) Welche Gabe wählt das
Kind, wenn es Gelegenheit
zur Wahl hat?
1 8) Wählt es jedesmal die-
selbe Gabe? Schließt es jedes-
mal dieselbe Gabe aus?
19) Fall« das Kind bei der
Auswahl wechselt, nach wel-
cher Gabe greift es oft, nach
welcher selten?
20) WUl sich das Kind
lieber mit Spielzeug als mit
einer Gabe beschäftigen?
Man gebe dem Kinde, das
noch nicht mit den Gaben
vertraut ist, eine Gabe und
achte darauf, daß von keiner
Seite eine Beeinflussung er-
folgt. Wichtig ist, festzustellen,
ob das Kind geradezu um
Hilfe bhtet.
Man gebe dem Kinde Gaben,
die es noch nie in der Hand
gehabt hat, vielleicht Stäb-
chen oder Täfelchen.
Dies festzustellen , wird
längere Zeit in Anspruch neh-
men. Die verschiedenen Ge-
legenheiten undZeiten ergeben
sich einfach. Man lasse das
Kind einmal in einem ruhi-
gen Zimmer sich mit den
Gaben beschäftigen, ein an-
deresmal, wenn die anderen
Kinder um es herumspielen,
einmal bei Beginn des Kinder-
gartens, dann wieder am
Schluß, vor dem Frühstück,
nach dem Frühstück, nach
dem Miitagsschlafe, nach dem
Spaziergange usw.
Damit das Kind bewußt
wallten kann, muß es die
Gaben natürlich vorher genau
kennen. Man führe das Kind
vor den Schrank, zeige genau,
was in jedem Kasten ist,
überzeuge sich, daß das Kind
das nun weiß, und lasse wäh-
len. Dadurch vermeidet man
die Gefahr, daß das Kind bei
der ersten besteuGabe zugreift.
Man gebe dem Kinde meh-
rere Male Gelegenheit zur
Wahl, möglichst zur selben
Zeit, unter denselben Um-
ständen.
S. Nr. 18.
Man lasse das Kind selbst
Spielzeug und Gaben auf
einem Tische aufbauen und
Beobachtungen fehlen mir.
Lotte (4 J.) hat Täfelchen und
stellt sie hintereinander auf. Sie
spielt mit ihnen Eisenbahn, statt
aus ihnen einen Gegenstand zu
legen.
Beobachtungen fehlen mir.
Wir hatten Stäbchen, Bausteine.
Kugel, Würfel, Walze gescheuert.
Dies alles lag nun in der Küche
zum Trocknen. Frieda (3 .1.)
wählt Bausteine und Stäbchen.
Sie legt die Bausteine nebenein-
ander („das ist eine Eisenbahn"),
stellt ein Spieltöpfchen herauf
und tut Stäbchen hinein. Die
Stäbchen stellen den Rauch dar.
Beobachtungen fehlen mir.
Beobachtungen fehlen mir.
Beobachtungen fehlen mir.
Psychologische Ermittlungen im Kindergarten
321
Frage
Beobachtungs-
gelegenheit
Antwortbeispiel
(Wählt das Kind jedesmal
dasselbe ?)
21) Richtet sich die Wahl
des Kindes nach der des
Kameraden? Wählt das Kind
dasselbe oder das ergänzende
Spielzeug, dieselbe oder die
ergänzende Gabe?
22) Will das Kind lieber
arbeiten als frei spielen?
23) Will das Kind lieber
Spielzeug haben als arbeiten ?
24) Will das Kind lieber
arbeiten, als sich mit Gaben
beschäftigen ?
25) Welche technische Be-
schäftigung wählt das Kind,
falls ihm Gelegenheit zurWahl
gegeben wird?
26) Wählt es jedesmal die-
selbe technische Beschäf-
tigung, schließt es jedesmal
die gleichen technischen Be-
schäftigungen aus?
27) Falls das Kind bei der
Wahl wechselt, nach welcher.
Arbeit greift es oft, nach
welcher selten?
28) Wählt das Kind die Be-
schäftigung, für die es beson-
dere Geschicklichkeit zeigt?
29) Richtet sich die Wahl
des Kindes nach der des
Kameraden?
30) Ist es dem Kinde lieber,
wenn es seine Arbeitwählt, od.
wenn sie ihm zugeteilt wird?
achte dann darauf, daß das
Kind auch wirklich wählt.
Man lasse einen besonders
befreundeten Spielkameraden
mitwählen.
Beispiel für sich ergän-
zendes Spielzeug: A. wählt
den Pferdestall, B. die Pferde.
in. Technische Arbeiten.
Durch Befragen des Kindes,
dem beides bekannt ist, fest-
zustellen, bei Beginn des Frei-
spiels imd nach einer Stunde
Freispiels. (Feststellung bei
demselben Kinde öfters nach
längeren Zeiträumen wieder-
holen !)
Man lasse das Kind selbst
(unter Anleitung) Spielzeug
n. Material zur .\rbeit aufbauen
und achte dann darauf, daß
das Kind auch wirklich wählt.
Man lasse das Kind selbst
(unter Anleitung) Gaben und
Material zur Arbeit aufbauen
und achte dann darauf, daß
das Kind auch wirklich wählt.
Man gehe mit dem Kinde
die Beschäftigungsmöglich-
keiten durch und lasse dann
wählen.
S. Nr 25.
Ich schlage vor, sich hier
einmal auf die rein Fröbel-
schen Beschäftigungen zu be-
schränken, da sonst eine Über-
einstimmung in der Versuchs-
anOrdnimg unmöglich ist. ')
S. Xr. 25.
Durch Vonmtersuchungen
muß man darüber unterrichtet
sein, auf welchem Gebiete die
Geschicklichkeit besteht.
Man lasse einen besonders
befreundeten Spielkameraden
mitwählen.
S. Nr. 13.
Feststellungen fehlen mir.
Hardi (6 J.) will lieber arbeiten.
Kurt (5 J.), arm an Erfindungs-
geist, will flechten.
Gerhard (5 J.) ist empört, daß
wir heute nicht arbeiten. Er be-
ruhigt sich erst, als ich ihm klar
mache, daß auch Stäbchenlegen
eine Arbeit sei.
Ernst (5 J.) will flechten.
Feststellungen fehlen mir.
Feststellungen fehlen mir.
Feststellungen fehlen mir.
Feststellungen fehlen mir.
Feststellungen fehlen mir.
') .\l8o auf Falten, Flechten, Ausschneiden, Ausnähen, Zeichnen nach Fröbelschem System
Zeitschrift f. padagog. Psychologie. 21
322
Judith Lichteiistein
Frage
Beobachtungs-
gelegenheit
31) Hat das Kind Freude
an der Arbeit selbst, oder
brennt es darauf, den Gegen-
stand ferligznstellen, um ihn
dann aufzubewahren oder
damit zu spielen usw. V
32) Findet das Kind be-
sondere Genugtuung darin,
technische Schwierigkeiten zu
überwinden, oder hemmen im
Gegenteil Schwierigkeiten den
Arbeitsmut?
Dies ist beim Flechten gut
zu beobachten, auch beim
Ausnähen usw. Es gibt Kin-
der, die bei jedem Stich aufs
Ende blicken und überlegen,
ob sie wohl heute noch fertig
werden können, und andere,
die aus ruhiger Freude an
ihrer Tätigkeit arbeiten. Auch
nach Fertigstellung des Ge-
genstandes ist dies festzu-
stellen. Manchen Kindern ist
der Gegenstand, sobald er
fertig ist, vollständig gleich
gültig. Sie zerstören ihn oder
werfen ihn achtlos herum.
Dies ist gut bei den Fröbel-
schen Ausnäh- oder Flechl-
mustern festzustellen. — Man
wähle vielleicht ein Muster,
das besondere Schwierigkei-
ten birgt, bei dem es dann
klar zutage tritt, ob das Kind
davon gefördert oder gehemmt
wird.
Antwortbcispiel
Ernst (5 J.) sagt bei jedem
Stich: „Wenn ich fertig bin,
schenk' ich die Karte meiner
Mutti." — Fritz (6 J.) hebt sich
alle seine Sachen hinter dem
Spiegel auf
Feststellungen fehlen mir.
IV. Bewegungsspiele.
33) Spielt das Kind, sich
selbst überlassen, Spiele, die
formal dem Bewegungsspiele
gleichen, die also auch feste
Gesetze und straffe Organi-
sation zeigen?
34) Spielt das Kind, sich
selbst überlassen,Rollenspiele,
die den Rollenspielen im Be-
wegungsspiele gleichen ?
35) a) Stellt das Kind spon-
tan Erlebnisse durch Bewe-
grmgen dar?
b) Macht es Bewegungen
zu seinen Phantasievorstel-
lungen? (Hantiert es mit dem
Nichts ?) (s. Stern, Psychologie
der frühen Kindheit, S. 194.)
Beim
achten.
Freispiel zu beob-
Beim Freispiel festzustellen.
Beim Freispiel festzustellen.
Beim
achten.
Freispiel zu beob-
Günther (6 J.) erklärt: „Das
ist das Dienstmädchen, die Frie-
de! das Kind. Mutter ist gestor-
ben. Wenn der Nikolaus kommt,
kriechen sie unter den Tisch und
ich verdresch' ihn. (Planmäßiges
zielbewußtes Spiel in der Tat!)
Günther (6 J.); „Ich bin der
Putzer." Er steht auf der Schau-
kel des Schaukelpferdes und
streicht die Wand entlang mit dei-
Hand. Dann klettert er noch
höher auf das Geländer und putzt
weiter.-
Rudi (5 J.) erzählt; „Einmal
hat es geblitzt, daß in der Küche
alles licht war. Der Blitz kommt
ganz schnell, erst bums, dann
bums (Aufhauen auf den Tisch),
dann blitzt's ganz schnell (Hände
gehen schnell durch die Luft).
Psychologische Ermittlungen im Kindergarten
323
Frage
Beobachtungs-
gelegenheit
Antwortbeispiel
36) Bindet das Kin9, sich
selbst überlassen, ein Spiel
logisch an das andere, oder
bricht es ein Spiel ab und
fängt frisch von vorne wieder
an, flattert es also?
37j Spielt das Kind, sich
selbst überlassen, Bewegungs-
spiele?
38) Welche Spiele spielt es
in diesem Falle? Spielt es
solche, bei denen dieBewegung
die Hauptsache ist, also Tanz-
spiele, oder solche, in denen
die Kinder bestimmte RoUen
darstellen, z. B. „Vöglein singt
im Walde" oder .Handwerker-
Bpiel*^ ?
39) Wie sind die Bewe-
gungen des Kindes? Ahmt
es mechanisch nach oder ent-
stammen die Bewegungen
innerer Anschauung, ist also
das Spiel zum inneren Erleb-
nis geworden? (Tatsachen
imd Äußerungen sind genau
anzugeben !)
iO) Baut das Kind die Spiel-
gesetze, die im Spiele ent-
halten sind, durch eigene
Ideen aus?
^
Beim Freispiel festzustellen.
41) Gestaltet das Kind selb-
ständig ein Lied oder eine
Geschichte zum Bewegungs-
spiel ?
42) Wird das Kind in der
Darstellung seines Spielerleb-
nisses durch die Herumspie-
lenden gestört? (Tatsachen-
angaben 1)
Man lerne mit den Kindern
ein Lied oder erzähle eine
Geschichte, die dazu einlädt,
dargestellt zu werden.
Beim Spiel in der Ge-
meinschaft und beim ein-
zelnen Spiel zu beobachten.
Vorsichtige Fragen geben
hierüber vielleicht auch Auf
schlußi
Beim Freispiel festzustellen.
Beim Freispiel festzustellen.
Falls es zu lange dauert, ehe
man zu Ergebnissen kommt,
kann man ein Kind zum
Spielleiter machen und ab-
warten, welche Spiele es spielt.
(Expei-iment !)
Dies ist sehr schwer fest-
zustellen. Immerhin werden
wir während des Spiels Tat-
sachen und Äußerungen be-
obachten können, die darauf
hindeuten.
Beim Bewegungsspiele zu
beobachten.
Rudi. (5 J.) streut Sand: »Es
regnet. Da muß ich mir eine
Krone aufsetzen." Er setzt sich
eine Sandform auf den Kopf. Er
vergräbt seine Füße : „Nun kann
ich nicht mehr laufen." (Ansätze
zum zusammenhängenden Spiel
sind vorhanden!)
Magda(5J.) und Ruth (6 J.) spie-
len fast bei Jedem Freispiel Bewe-
gungsspiele. „Rira rutsch", „Klein
Häschen wollt' spazieren gehen."
Beobachtimgen fehlen mir.
Wir spielen das Wäschespiel
und plätten gerade. Gerhard
(5 J.) plättet mit Eifer, fährt plötz-
lich schmerzhaft mit der Hand
zurück und sagt; „Ich hab* mich
aber gebrannt."
Wir spielen das nicht gerade
schöne Spiel „Von den Neger-
lein", die immer weniger wer-
den. Gerhard (5 J.) ist das fünfte,
das zuviel Bier trinkt. Ohne daß
es ihm angedeutet worden ist,
tut er, als ob er trinke, seine
Faust ist das Glas, taumelt hin
und her, fällt zur Erde imd stirbt
Magda (6 J.) gestaltet „Klein
Häschen wollt" spazieren gehn"
zu einem Kreisspiel. Ein Kind
ist die Mutter eines Häschens.
Das Häschen fällt ins Wasser,
macht einen großen Sprung, läuft
schnell nach Haus, die Mutter
schlägt es.
Beobachtungen fehlen mir
324
Judith Lichtenstein
Frage
Beobachtungs-
gelegenheit
Antwortbeispiel
V. Einheitsgedanke (Monatsgegenstand).
43) Wird das Handeln des
Kindes oft längere Zeit hinter-
einander von bestimmten Vor-
stellungen und Ideen be-
herrscht ? Spielt das Kind z. B.
tage- oder wochenlang die-
selben Spiele?
44) Ist dem Kinde der Ein-
heitsgedanke der Gedanke
geworden, mit dem es sich
längere Zeit hintereinander
spontan beschäftigt?
45) Wie findet sich das Kind
mit dem Einheitsgedanken ab,
wenn es nicht Anlage dazu
hatte, sich längere Zeit mit
demselben Gegenstand zu be-
schäftigen? Wird das Kind
vielleicht durch den Einheits-
gedanken dazu gebracht, daß
es sich nun auch längere Zeit
hintereinander mit demsel-
ben Gegenstand beschäftigen
kann? Oder beharrt das Kind
bei seiner Anlage, ist ihm
also der Einheitsgedanke nur
ein Erlebnis neben anderen
geworden ?
46) Ist der Einheitsgedanke
dem Kinde überhaupt zum
Erlebnis geworden?
Wir müssen uns bemühen,
jede Beeinflussung vom Kinde
fernzuhalten, damit die Vor-
stellungen und Ideen, die wir
aus Äußerungen des Kin-
des erschließen, nicht vorher
durch unsere Einwirkung ent-
standen sind.
Aus freien Äußerungen des
Kindes, wie Freispiel, Frei-
zeichnen, Freibauen zu ent-
nehmen.
S. Nr. 44.
Man beobachtet das Kind
während der Zeit, in der man
einen Einheitsgedanken streng
durchführt, und während der
Zeit, die man ohne Einheits-
gedanken hinbringt.
Am besten und klarsten,
beim Zeichnen festzustellen.
Man gebe Ma'erial zum Zeich-
nen und lasse die Kinder
zeichnen, was sie wollen. Falls
das Kind spontan Stoffe des
Einheitsgedankens darstellt,
kann man vorsichtig darauf
schließen, daß der Einheita-
gedanke zum Erlebnis ge-
worden ist.
Gerhard (5 J.) spielt immer
wieder Eisenbahn. Ich solle
mitfahren, meint er. Ich mag
aber nicht, da ich zu müde bin.
Wir könnten ja etwas anderes
spielen, denke ich. Er belehrt
mich aber: „Ich kann bloß Eisen-
bahn. Ich kann weiter nichts
als Lokomotive."
Einheitsgedanke: „vor Weih-
nachten". Gerhard (6 J.) spielt
bereits den 3. Tag Weihnachts-
mann. Er holt sich einen Stock,
kommt stampfend und klopfend
die Treppe herunter. Die ande-
ren Kinder müssen unter den
Tisch kriechen.
Exakte Beobachtungen fehlen
mir.
Da ich hier keine Zeich-
nungen bringen kann, verzichte
ich auf die Antwort.
47) Hat das Kind Freude
an Besprechungen? Oder | festzustellen
VL Besprechimgen. ')
Während der Besprechung
Aus dem Ver-
Herbert (6 J.) ist ein sehr
ruhiges Kind, aber Besprechun-
•) Da die Besprechungen im Kdg. nach keiner Richtung hin festbegrenzt sind — sie erstrecken
sich auf Bilder, Gaben, Gegenstände, Erlebnisse — so konnte ich bloß wenige allgemeine Fragen
formulieren. Hier ist Arbeit für meine Mitarbeiter!
Psychologische Ermittlungen im Kindergarten
325
Frage
Beobachtungs-
gelegenheit
Äntwortbeispiel
zeigt es Abneigung dagegen ?
Vielleicht weil es sich nicht
genug dabei betätigen kann ?
halten des Kindes, besonders
der Aufmerksamkeit, zu er-
sehen. — Wir können das
Kind auch fragen, ob wir
uns vielleicht wieder ein Bild
ansehen wollen.
gen langweilen ihn so, dafi er
nicht einen Augenblick ruhig auf
seinem Platz sitzen kann, die an-
deren stört usw.
Vn. Sehlofifragen.
48) Liegen Anzeigen dafür
vor, daß die Eindrücke des
Kdg. das Kind tiberreizen?
49) Welche Momente des
Kindergartenlebens haben die
tiefsten Spuren beim Kinde
zurückgelassen ?
Sehr gut ist dies festzu-
stellen, wenn das Kind Kin-
dergarten spielt. Denn das
Kind wird nur dies aus dem
Kindergartenleben heraus-
greifen und darstellen, was
den tiefsten Eindruck hinter-
i lassen hat.
austeilen Lothar, Tassen Erika, Taschen kann austeilen der Horst.
die richtigen Taschen der Kinder)'. Ruth: „Noch nicht essen.
Friedel (4 J.) und Ruth (6 J.)
organisieren das Spiel. Friedel
l)eginnt mit dem Kreisspielen, wie
wir jeden Morgen. Sie läßt aber
bloß das Morgenlied singen .Es
geh'n viel Englein durch die
Welt", dann läßt sie hinsetzen.
Sie bestimmt: „Brettchen kann
Aber nicht richtig (d. h. nicht
erst Hände auf den Rücken*.
Friedel sagt zu Rudolf: „Geh a mal raus, wir müssen die Bank abrücken*. Sie fängt noch
einmal an auszuteilen. Sie hebt jetzt die Hand (diese Bewegung verstärkt die Illusion, daß sie
die Tasche in der Hand hält). Sie fängt an zu zählen: „1 . . . 2 . . . 3 . . ." Ruth: „Wir haben
ja schon ausgeteilt". Friedel läßt sich nicht stören, sondern fährt fort : „Danke schön dem Horst
und dem Rudolf. Nu laßt's euch gut schmecken*. Erika bewegt den Mund, als ob sie äße.
Friedel genügt es jetzt aber nicht mehr, nur so zu tun. Sie holt rosa Florpapier aus dem Papier-
korb und teilt es aus. Rudolf steckt das Papier in den Mimd und ißt wirklich. Plötzlich ist
das Papier Faltblatt, und Friedel kommandiert: „Ecke auf Ecke . . ."' (Ich muß ein paar Minuten
fortgehen. Als ich wiederkomme, ist das Spiel. etwas vorgerückt.) Friedel: „Anstellen, in den
Garten gehen!" Die Kinder müssen beim Marschieren singen: „Ein scheckiges Pferd". Sie läßt
den Kreis zumachen und wieder ein Morgenlied singen „Recht frisch imd munter aufgewacht"
(keine strenge Spielhierarchie).!) Sie spielt weiter „Fädchen, Fädchen wie am Rädchen" und
zieht die Kinder in das Nel)enzimmer. „Hinsetzen, Lothar, hierher". Sie fängt das Fingerspiel
an „Wir spielen, wir spielen und fangen lustig an". Sie teUt wieder Brettchen aus. Ruth:
„Nein, jetzt ist Mittag. Jetzt schlafen die Kinder". Friedel: „Miltagskinder bleiben sitzen, die
anderen stellen sich an. Tante Lene bleibt über Mittag, die anderen gehen fort". (Das erste
Mal bewußte Anlehnung an die Wirklichkeit. — Den weiteren Verlauf konnte ich nicht mehr
beobachten).
Vorsichtige Folgerungen: Friedel ist besonders die Technik des Kindergarienlebens zum Er-
lebnis geworden, die äußeren Linien, die Form, wenig der geistige Inhalt. Das Kommandieren
ist ein Teil ihrer Seele, so daß das Kommandieren im Kindergarten die größte Resonanz ge-
funden hat. Für unseren Kindergarten spricht, daß Friedel nicht eine Person, sondern die Ge-
setze des Kindergartens nachbildete. Das ist ja auch unser Wunsch. Wir sind Diener unserer
Sache. Gegen unseren Kindergartenbetrieb spricht, daß bei Friedel nicht einmal vom Geiste, der die
Beschäftigungen veranlaßt, vom Einheitsgedanken etwas zu merken war. Wir sagen z. B. immer
„Wir falten Sterne, um dem Christkind beim Schmücken zu helfen". Aber dies schließt ja
nicht aus, daß ihr diese Ideen nicht zum Erlebnis geworden sind. Wir sind ja nicht solche
Realisten, d£iß wir alles Innere dargestellt, veräußerlicht sehen wollen. Wir haben den Glaubenl
') Vgl. A. Mann, Zur Psychologie und Psychographie der Aufmerksamkeit,
angewandte Psychologie IX, Seite 446/447.)
(Zeitschrift fflr
t
326 Judith Lichtenstein
Bemerkungen zu den Fragen.
Zu 2) Hieraus können wir ersehen, was dem Kinde anfangs am Kindergarten wesent-
lich erscheint, was es von ihm erwartet. Zu 3) Wichtig z. B. in Fällen, in denen Kinder
wegen unerquicklicher häuslicher Verhältnisse geschickt werden. Wenn sich solche Kinder
leicht eingewöhnen, so braucht dies nicht für die Kindgemäßheit des Kindergartens, son-
dern ■ kann unter Umständen bloß gegen elende häusliche Verhältnisse sprechen. Zu 4 ) Wenn
es erwiesen wäre, daß es den meisten Kindern sehr schwer fällt, sich in die neue Umgebung
ru finden, so ergäbe sich vielleicht daraus, daß das Kindergartenleben Momente enthält, die der
kindlichen Seele nicht entsprechen. Zu 5) Falls das Kind sich überhaupt schwer in jede neue
Situation findet, so braucht sein schweres Eingewöhnen in den Kindergarten nicht gegen den
Kdg. zu sprechen. Zu 6) Wenn die starken Gefühle der Bangigkeit, Furcht usw. erst sehr spät
auftreten, so muß doch der Kdg. der kindlichen Seele so viel Reizvolles bieten, daß sie ihren
Schmerz eine Zeitlang vergißt. Zu 7} a) Die Kinder, die immer wieder sich zurückziehen, sind
besonders sorgfältig zu beobachten. Es ist leicht möglich, daß zart organisierten Kindern das
Gemeinschaftsleben im Kdg. zur Qual und zum Schaden an Körper und Seele wird . b) Höchst
wahrscheinlich werden Kinder, die Sozialspiele bevorzugen, sich leicht in den Kdg. einfügen und nach
den Spielgefährten im Kdg. verlangen. Zu 8) s. Nr. 7 a) Liegen hier einmal Beantwortungen von
vielen Kindern vor, so wird es interessant sein, festzustellen, ob dies Verhalten' etwa über-
wiegend Mädchen, und auch diese wieder nur in einem bestimmten Alter, haben. Vielleicht
lehnen diese Kinder den Kdg. aber auch nur in einer plötzlichen Laune ab. Zu 9) Von dem Kinde,
das bald die anderen kennt und mit Namen rufen kann, läßt sich vielleicht (nicht unbtedingt)
annehmen, daß seine Seele sich eifrig mit ihnen beschäftigt, daß sie geöffnet war und nach neuen
Menschen verlangte. Zu 10) Dies hängt auch von den häuslichen Verhältnissen ab. Kinder, die
EU Hause wenig von Mutterliebe spüren, werden sich vielleicht im Kdg. sehr an Erwachsene klammem,
Kinder aus liebevollem Hause wenig. Zu 11) s. Nr. 10. Zu 12) Es würde vielleicht gegen^den
Kdg. sprechen, wenn es sehr lange dauert, ehe sich ein Kind, das sich sonst schnell anschließt,
zur Teilnahme entschließt. Zu 13) In fast allen Kindergärten werden die Be.schäftigungen dem
Kinde zugeteilt. Wenn sich nun herausstellte, daß die meisten Kinder lieber selbst wählen,
80 würde unsere bisherige Darbietungsart nicht kindgemäß sein. Zu 14) In fast allen Kdg. wird
vorgebaut, vorgelegt, besprochen usw. Falls das Kind nun ganz von selbst die Verwendungs-
möglichkeiten der Gabe erkannte, würden wir auf unser Eingreifen verzichten müssen, denn es
ist doch selbstverständlich, daß wir nur dann dem Kinde den Weg zeigen dürfen, wenn es diese
Hilfe braucht. Zu 15) Fröbel hat immer betont, daß seine Baugaben dem Zerstörungstrieb der
Kinder entgegenarbeiten. Muß nicht aber das Kind auf einer Altersstufe zerstören? — Der schlimmste
Vorwurf gegen Fröbels Beschäftigungsmittel ist der, daß er sich ja alles sehr schön ausgedacht
und nach mathematischen und philosophischen Gesichtspunkten klar geordnet habe, daß er aber
nicht die geringste Rücksicht auf die kindlichen Bedürfnisse genommen habe. Wenn sich nun
herausstellte, daß das Kind spontan die Gaben in der Weise anfaßt, wie Fröbel gewollt hat, so
wäre dies eine Rechtfertigung für Fröbel. Zu 16) In den meisten Kindergärten ist ein- für alle-
mal die Zeit festgelegt, innerhalb derer das Kind sich mit den Gaben beschäftigt. Wir müssen
nun erst feststellen, ob diese Zeit wirklich dem Bedürfnis des Kindes entspricht. Zu 17) Es ist
möglich, daß eine Reihe von Kindern, unbeeinflußt voneinander, dieselben Gaben wählt. Man
wird dann mit äußerster Vorsicht beurteilen können, welche Gaben sehr, welche wenig und welche
gar nicht kindgemäß sind. Zu 18) Sollte das Kind immer wieder dieselbe Gabe auslassen, so
müßte versucht werden, den Grund dafür zu erforschen, der in irgendeiner äußeren Kleinigkeit
liegen kann. Es braucht also nicht in jedem Falle gegen die Gabe zu sprechen, wenn sie
vom Kinde nicht gewählt wird. Zu 19) Sollte das Kind besonders häufig gerade zu einer be-
stimmten Gabe greifen, so kann dies auch an einer bloß akuten Einstellung der Persön-
lichkeit liegen, die oft wochenlang dauern kann. Es braucht also nicht unter allen Umständen
gegen eine Gabe zu sprechen, wenn sie selten gewählt wird. Die Beobachtungen müssen dem-
nach lange fortgesetzt werden. Zu 20) Es braucht nicht für die Gaben zu sprechen, wenn sie
vom Kinde jedesmal wieder gewählt werden. Dies kann daran liegen, daß das Kind zu Hause
mit bestimmtem Spielzeug überfüttert ist. Zu 21) Die Beantwortung dieser Frage erschließt
ein besonders wichtiges Gebiet im Kindergartenleben. Wir streifen hier das Problem der Ge-
meinschaftserziehung und ihrer Bedeutung für das Kind. Wenn sich herausstellt, daß die Kinder
sich untereinander, stark beeinflussen, so werden wir daraus schließen, daß das Kind sich be-
einflussen lassen wiU, daß es Beeinflussung — passiv oder aktiv — braucht. Für Kinder, die
80 miteinander und ineinander spielen, daß sie immer die sich ergänzenden Dinge heraussuchen,
würde es vi^leicht eine Verkümmerung bedeuten, wenn sie diesen Trieb nicht ausleben können,
Psychologische Ennittiungen im Kindergarten 327
d. h. wenn ihnen das Leben in Gemeinschaft mit Kameraden nicht gewährt wird. Vgl. dazu
im Gegensatz Nr. 6, 7, 8, 9, 10, 12. Zu 22) ^Aj-beilen'' nennen wir alle die Tätigkeiten, die
fremdzwecklich (Spielen ist Selbstzweck) sind. — Da das Arbeiten im Kdg. sehr stark be-
trieben wird ist es wichtig, einmal zu erlahren, ob das Kind darnach verlangt, und wann es
am meisten darnach verlaugt. Zu 23) Viele Kinder können sich nicht beim Freispiel beschäf-
tigen und greifen deshalb sofort nach bestimmter Tätigkeit Wir wollen nun feststellen, ob das
Kind, auch wenn es durch sein Spielzeug voll ausgefällt ist, nach Arbeit verlangt, d. h. ob es
unter allen Umständen technische Arbeiten braucht. Zu 24) s. Nr. 23. Wir können auch vor-
sichtig urteilen, ob das Kind Gaben oder technische Arbeiten braucht. Zu 25) Es ist möglich,
daß eine Reihe von Kindern unbeeinflußt voneinander dieselben Beschäftigungen wählt. Man
wird dann mit äußerster Vorsicht beurteilen können, welche technische Beschäftigimg kindgemäß,
welche wenig und welche gar nicht kindgemäß ist. Zu 26) s. Nr 25. Zu 27) s. Nr. ü5. Zu 28)
Aus dieser Frage ersieht man, wie vorsichtig man im Urteil über die Kindgemäßheit einer tech-
nischen Beschäftigung sein muß. Zu 29) s. Nr. 21. Zu 30) s. Nr. 13. Zu 31) Viele Kinder-
gartenreformer fordern, daß wir nur solche Gegenstände arbeiten lassen sollen, „von denen das
Kind auch wirklich etwas hat". Sollte es sich herausstellen, daß dem Kinde weit mehr am
Arbeitsweg als am Arbeitsziel liegt, so dürften wir, um kindgemäß zu handeln, jenen Reformern
nicht folgen. Zu 32) Jeder Kindergärtnerin sind die Fröbelschen Schulen bekannt, die Beschäf-
tigungen mit steigender Schwierigkeit bringen. Sollte es sich zeigen, daß das Kind immer neue
Schwierigkeiten sucht oder wegwerfend z. B. darüber urteilt, daß es dasselbe Flechtmuster immer
wieder flechten soll, so hätte Fröbel in seinen Schulen wirklich einem Bedürfnis des Kindes ent-
sprochen. Zu 33) Wenn wir feststellen müßten, daß die meisten kleinen Kinder (2 — 6 J.) in ihren
spontanen Spielen weder feste Gesetze noch straffe Organisation zeigen, daß wir ihnen also im Be-
wegungsspiel etwas ganz Fremdes bieten, so müßten wir Bedenken gegen das Bewegungsspiel
tragen. Verschärft würden diese Bedenken, wenn die meisten Kinder trotz häufigem Bewegungs-
spiel nichts davon im Freispiel zeigten.' Wir müßten dann sagen, daß das Kind diese Momente
im Bewegungsspiel ablehnt. Zu 34) Wenn wir feststellen müßten, daß die meisten kleinen
Kinder keine Rollenspiele spielen, so müßten wir gegen die Rollenverteilungen im Bewegungs-
spiel große Bedenken haben. S. weiter Nr. 33. Zu 35) Der Reiz aller Bewegungsspiele beruht
auf der Idee, daß alles, was gesagt oder gesungen wird, sofort getan wird. Wir müssen nun
feststellen, in welchem Maße das Kind, unbeeinflußt von uns, Bewegungen zu seinen Vorstel-
lungen macht. Zu 36) In den meisten Kdg. werden die Bewegungsspiele an den Faden einer
Erzählung gereiht. Sollte es sich herausstellen, daß die meisten Kinder zusammenhangslos ein
Spiel an das andere binden, so wäre jene Spiel weise zu verwerfen. Zu 37) Kinder, die so gern
Bewegungsspiele spielen, daß sie in ihrem Freispiele darnach greifen, müssen doch Anlagen
und Triebe haben, die zu ihrer Entfaltung Bewegungsspiele brauchen Zu 38) Sollte es sich
zeigen, daß immer dieselben Spiele hervorgesucht, immer dieselben ausgelassen werden, so
könnten wir einige Spiele als mehr, einige als weniger kindgeniäß bezeichnen. Zu 39) Be-
wegungsspiele, deren Bewegungen den Kindern so fremd sind, daß sie nicht nacherlebt werden
können, sind nicht kindgemäß. Zu 40) Auch dies ist ein Maßstab für die Kindgemäßheit eines
Bewegungsspieles. Zu 41) Wenn wirklich viele Kinder selbständig Bewegungsspiele schaffen,
die unseren gleichen, so ist diese Tatsache ein Beweis dafür, daß wir wirklich einem Bedürfnis
des Kindes entgegengekommen sind und es befriedigt haben. Zu 42) Hier berühren wir wieder
die Frage der Gemeinschaftserziehung. Es ist möglich, daß ein Kiad Schaden leidet, wenn von
ihm verlangt wird, daß es sich über sein Erlebnis äußert. Denn manche Kinder haben ein sehr
stark entwickeltes Schamgefühl. Für diese Kinder wäie das Kindergartenleben jedenfalls nicht
geeignet. Wenn das Kind ganz ohne unsere Einwirkung seine Handlungen durch feste Vor-
stellungen und Ideen eint, ist unsere Methode des Eiuheitsgedankens aus der Seele des Kindes
herausgeboren. Zu 44) Nur wenn der Einheitsgedanke die Kraft besitzt, .die die ohne unser
Einwirken entstandenen Vorstellungen und Ideen haben, ist er kindgemäß. Zu 45) Sollte es
sich herausstellen, daß auch die Kinder zum Einheitsgedanken greifen, die sonst ohne einigen-
den Gedanken lebten, so könnten wir sagen, daß das Kind den Einheitsgedanken, den wir bieten,
unbewußt wünscht, daß es ihn braucht. Zu 46) Nur diejenigen Stoffe werden wir als einigende
Gedanken wählen dürfen, die das Kind als Erlebnis verarbeiten kann. Zu 47) Sollte es sich
herausstellen, daß die meisten Kinder Besprechungen ablehnen, so müßten wir sie streichen.
Allerdings wird viel an der Geschicklichkeit des Besprechenden liegen, ob das Kind Freude daran
hat oder nicht. Zu 49) Nachdem wir die einzelnen Darbietungen des Kdg. auf ihre Kindgemäß-
heit hin geprüft haben, schauen wir noch einmal die einzelnen Blumen zu einem Strauße zu-
sammen, halten ihn dem lächelnden Kinde hin, das voU Freude eich Blumen heraussucht und
selbst einen Strauß nun windet.
328 Max Brahn
Besinnliches zur Begabungsprüfung.
Von Max Brahn.
Weit über den Kreis der Fachleute erstreckt sich die Anteilnahme an den
Fragen der Begabungs- und der damit zusammenhängenden Berufswahlprüfung.
Die Schule wird Einheitsschule, und der Aufstieg in die höheren Schulformen
soll immer mehr in die Hände der Lehrer gelegt werden. Die Arbeit im
Beruf soll bei dem schrecklichen Zustande unserer Wirtschaft immer ertrag-
reicher gestaltet werden, und die im Staate entscheidenden Parteien legen
Wert darauf, diese Erhöhung unter anderem durch Einführung des Taylor-
systems zu erreichen. Auch hier Begabtenprüfung und Berufsauslese.
Auf beiden Seiten aber gibt es Menschen genug, die sich mit dem Gedanken
solcher experimenteller Prüfungen, wie man sie nennt, nicht recht befreunden
können und weiterhin den gesunden Menschenverstand und die Lebens-
erfahrung entscheiden lassen wollen. Der Streit nimmt häufig unerfreuliche
Formen an, die der SachHchkeit schaden, und wie es immer geschieht, wird
auf beiden Seiten durch Übermaß gesündigt. Darum scheint es mir nötig,
einmal in eine ruhige Abwägung des Vorhandenen und des Möglichen ein-
zutreten.
Vorhanden sind zunächst die Methoden, die von Binet ausgegangen sind
und die es ermöglichen sollen, etwa bis zum 12. Jahi* festzustellen, ob ein
Schüler dem Durchschnitt der Begabung seines Lebensalters entspricht,
darunter oder darüber steht. Bevor der Krieg ausbrach, war man nach
einigen Jahren des Streites in ein recht ruhiges Fahrwasser gekommen; man
begann bei uns und besonders in Amerika, jede Einzelheit der Methode
kritisch zu prüfen, entfernte Untaugliches, variierte die Untersuchungen nach
allen Seiten und verglich sie mit den Erfahrungen der Schule. Es hatte
sich in Deutschland ein Ausschuß gebildet, der die einzelnen Tests unter
sich verteilte, lun jeden einzelnen genau auf seine Brauchbarkeit zu prüfen.
Dieser Weg muß jetzt neu beschritten werden. Daß die Methoden nicht
unbrauchbar sind, die Auswahl der unbegabten oder minderwertigen Schüler
sehr erleichtern und zum Teil sicherer gestalten, scheint mir außer Zweifel.
Wie weit man sich auf sie völhg verlassen kann, das wird nicht durch lautes
Schreien über ihre Taughchkeit und Untaughchkeit, sondern diu-ch vieltausend-
fache Erfahrung entschieden werden.
Nun wurde neulich gesagt, daß Wundt in einem Brief sich dem Sinne
nach so ausgedrückt habe, daß er die Begabungsprüfungen als Schwindel
ansähe. Ich bin nicht in der Lage, nachzuprüfen, ob das der Wortlaut war,
habe aber auch gar kein Interesse daran, es zu tun. Wundt ist der Be-
gründer der rein theoretischen experimentellen Psychologie, und seine Ver-
dienste werden darin stets unvergessen bleiben. Er hat sich von Anfang
an der angewandten Psychologie nach seiner ganzen Sinnesart zweifelnd
gegenübergestellt, er hat ihre Entwicklung nirgends sichtbar verfolgt, er hat
— so bin ich überzeugt — in seinem Leben nie eine Begabungsprüfung an
einem Kinde gesehen, und man kann von ihm auch nicht verlangen, daß er
in seinem hohen Lebensalter die Gesichtspunkte aufgibt, die ihn gerade zum
berufenen Führer der rein theoretischen Seelenlehre gemacht haben. Man
hat darum aber keinen Grund, den geringsten Wert auf seine Äußerungen
über die Begabungsprüfungen zu legen: nichts ist gefährlicher und unwissen-
Besinnliches zur Begabungsprüfung 329
schaftlicher, als die Autorität eines Menschen auf einem Gebiete auf andere
Gebiete zu übertragen. Darum kann man über Wundts Äußerungen zur
Begabungsprüfung ruhig zur Tagesordnung übergehen.
Es ist anzunehmen, daß sich diese Äußerung auch auf die zweite jetzt im
Vordergrunde stehende Methodik der Begabungsprüfungen bezieht, wie sie
in Berlin bei der Auswahl der Begabten angewandt worden ist. Da ich
Gelegenheit hatte, solche Untersuchungen in erheblichem Umfange im Auf-
trage der Stadt Hannover auszuführen, so kann ich auch aus Erfahrung
darüber sprechen.
Zunächst sei anerkannt, daß die beiden Begründer dieser Methoden sieh
durch ihr kühnes Zupacken ein Verdienst erworben haben. Sie haben zu
einer Einheit zusammengefaßt, was sonst schon im ganzen vorhanden war,
haben Lücken ergänzt und den ersten Versuch gemacht, praktische Folgerungen
zu ziehen. Das wird ihr Verdienst bleiben.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die einzelnen Methoden, die sie dabei
anwenden, in ihrem Werte recht verschiedenartig sind. Teils sind es alte
experimentelle Methoden, die sowohl in der Ausführung wie in den Ergeb-
nissen eine große Genauigkeit zeigen, teils sind es neu eingeführte, die sich
auf sehr zusammengesetzte Vorgänge des Seelenlebens beziehen und darum
sowohl unerprobt -wie grundsätzlich schwierig sind.
Nun ist es ohne Frage nicht zu billigen, daß man neue schwierige Methoden
in die Gesamtheit der Untersuchungen als wesenthch aufnimmt, ohne daß
man sie zunächst einzeln aufs gründhchste durchgeprüft hat. So kommt es
dann, daß den Ergebnissen dieser neuen schwierigsten Methoden eine Un-
sicherheit und Ungenauigkeit anhaftet, die nicht klein zu bewerten ist. Wenn
zum Beispiel Definitionen von Worten verlangt und diese als sehr gut, gut usw.
gewertet werden, so gestehe ich, daß es weder meinen Mitarbeitern noch
mir in Hannover immer geglückt ist, die Wertungen in der gleich sicheren
Weise vorzunehmen wie in BerUn. Hier wäre es am Platze gewesen, diese
Methoden als solche erst aufs genaueste durchzuarbeiten und ihre Schwierig-
keiten allmähhch zu überwinden, wie das etwa in späteren Arbeiten in Ham-
burg für andere Methoden, zum Beispiel als Bindewortmethode, geschehen
ist. Das Gleiche gilt für eine Reihe von Methoden, die sich auf die Begriffs-
bildung und auf die Einfühlung in ein Bild beziehen, bei denen mir stets
die Schwierigkeit der Beurteilung so groß erschienen ist, daß nur mit einem
gewissen Zwange ein zahlenmäßiger Ausdruck für die Güte der Leistung
möglich war.
Dauerd unmögUch sind solche Methoden durchaus nicht, und ihre Wertung
kann durch lange sorgfältige Arbeit bis zu einem hohen Grade sicher gestaltet
werden. Piorkowski hat in seiner ersten Arbeit über die Kombinations-
fähigkeit der Kinder (Päd.-psychol. Arbeiten, Bd. IV) auf meine Anregung
die Ergebnisse einer Methode von einigen zwanzig Leuten bewerten lassen.
Dabei stellt sich dann heraus, daß für gewisse Aufgaben eine Übereinstim-
mung der Bewertung in weitgehendem Maße möghch ist, für andere dagegen
nicht. Diese müssen weggelassen werden. Es bedarf also für jede einzelne
Aufgabe einer methodischen Vorarbeit, nicht für ihre Ausfühiung, sondern
auch für die Bewertung selbst.
Wie weit es dabei möglich sein wird, die höheren Geistesvorgänge zahlen-
mäßig zu fasseil, das läßt sich nicht durch allgemeine Urteile entscheiden.
330 Max Brahn
Man verfolge darin die Entwicklung der Kinderpsychologie, bei der es auch
zunächst einen Sturm dagegen gab, daß man an Kindern. außer durch Ein-
fühlung wesentlich Neues finden könne. Und trotzdem läßt sich behaupten,
daß selbst diejenigen, welche die Anwendung genauer Methoden auf die
Kinderseelenlehre leugneten und auch heut noch leugnen, in ihrer Darstellung
derselben gern und umfangreich auf die Ergebnisse solcher Methoden zurück-
greifen, die sie theoretisch verdammen. Und auch da, wo das strenge Experi-
ment versagte, hat es uns oft genug Anregungen zu neuartigen systematischen
Beobachtungen gegeben, die in ihrer Anlage besser, in ihren Ergebnissen
ertragreicher waren als die früheren Methoden. Es ist ein Unglück, daß man
das Wort Experiment auf alle diese Methoden übertragen hat, während es
gar nicht mehr zureicht, die Art der Methoden wirklich zum Ausdruck zu
bringen. Es handelt sich vielfach um eine neuartige Einstellung, die darauf
ausgeht, gegenüber dem rein persönlichen Urteil, das auf Einfühlung beruht,
ein auf Sammlung von Tatsachen beruhendes, unter wissenschaftlichen Ge-.
Sichtspunkten gewonnenes, von persönlichen Urteilen möglichst unabhängiges
Ergebnis zu zeitigen.
An den Begabungsuntersuchungen ist ferner zu tadeln, daß die Art, wie
man die Ergebnisse h)erechnet, noch häufig etwas sehr Willkürliches hat.
Wenn — um ein einfaches Beispiel zu geben — das Durchstreichen von
Buchstaben gewertet wird nach der Anzahl der richtig durchstrichenen , der
falsch durchstrichenen und der ausgelassenen Buchstaben, so bedarf es sehr
langer Vorarbeiten, um festzustellen, wie hoch man etwa den Wert eines
falsch durchstrichenen und eines ausgelassenen Buchstabens einzusetzen hat.
Wenn eine Geschichte vorgelesen und gleichzeitig gerechnet wird, so muß
man die Bedeutung, die man der einzelnen ausgeführten Rechnung und dem
einzelnen behaltenen Teil der Geschichte zuerteilt, an vielen Beispielen durch-
versuchen und mathematisch sehr sorgfältig behandeln. Ein Beispiel, wie
man da vorzugehen hat, liegt in dem 9. Bande der „Pädagogisch-psycho-
logischen Arbeiten" vor, in denen ich Leipziger Lehrer anregte, zunächst
einmal nur dieser Frage nachzugehen, wie man die Berechnungen nach
langen Erfahrungen und Überlegungen ausgestalten soll. Ehe solche Arbeiten
nicht abgeschlossen und von vielen Seiten unter verschiedenen Verhältnissen
wiederholt sind, wird immer wieder eine starke Unsicherheit den Ergeb-
nissen anhaften.
Dann ist es die schwere Aufgabe derer gewesen, die solche Untersuchungen
begonnen haben, festzustellen, wie viele verschiedene Geistesvorgänge sie
untersuchen wollen. Sie haben sechs Grundformen: Aufmerksamkeit, Ge-
dächtnis, Begriffsbildung usw. ausgewählt und jeder dieser sechs Funktionen
die gleiche Bedeutung für die Gesamtbegabung zugeschrieben. Darin liegt
natürlich eine, wenn auch nicht so leicht zu begleichende Willkürlichkeit.
Das wünschenswerte Vorgehen wäre es, erst einmal solche Untersuchungen
in sehr großer Zahl anzustellen, denen man noch keine praktische Bedeutung
zuschreibt. Dann müßte man nach den Vorschriften der Korrelationsrechnung
in sehr vielen Fällen feststellen, ob es nicht einzelne Funktionen gibt, die
in der Gesamtbegabung eine größere Rolle spielen wie andere als gleich-
wertig angesetzte. Es könnte sich dann herausstellen, daß zum Beispiel die
Begriffsuntersuchung bei den vorliegenden Methoden sehr wenig mit der All-
gemeinbegabung zusammenhängt. Nun wäre zu untersuchen, ob das der Wirk-
Besinnliches zur Begabungsprüfung 33 1
lichkeit entspricht, oder ob die vorliegenden Methoden noch unzm-eichend sind,
weil sie die wirkliche Fähigkeit, Begiiffe zu bilden, nicht ernstlich feststellen.
Nur im Zusammenarbeiten mit den Lehrern und stets weitergeführten theo-
retischen Erwägungen wäre eine solche Frage zu lösen. Sie wird aber nicht
gelöst, wenn Inan einfach hunderte Fälle untersucht und die Richtigkeit der
Unternehmung als gegeben annimmt. Die Lösung der Fragen würde große
Fortschritte machen, wenn man nicht nur die Gesamtergebnisse der Unter-
suchung, sondern die Einzelergebnisse sowohl mit den früherem Lehrern der
Schüler wie mit denen, die sie aus den Begabten-Klassen kennen, bespräche,
genau zerlegte und besonders solche Fälle aufzuklären versuchte, in denen
Schüler, die als begabt erklärt sind, in den Begabten-Klassen nicht mitkommen.
Daß solche Fälle häufig sind, hat ja einer der Lehrer der Begabten-Klassen
neulich in einem Vortrage ausführlich dargelegt. Darin liegt ein Material vor,
das uns praktisch ebenso fördern wird wie wissenschaftUch.
So kann man gegen die einzelnen Versuchsanordnungen ebenso Bedenken
erheben wie gegen die Zusammenstellung und gegen die Gleichstellung der
Werte jeder einzelnen Methode. Wird ja in Berlin, wie ich weiß, dauernd
an der Weiterbildung der Untersuchungen gearbeitet, und das Verdienst der
Erfinder wird noch größer werden, wenn sie in jahrelanger kritischer Arbeit
dauernd ausschalten und ergänzen werden. Auch von anderer Seite werden
neue Methoden ersonnen , die in ruhiger steter Arbeit zum Ziele führen ■•
werden. Es ist vielleicht gar zu schnell in weiten Kreisen, besonders der
Lehrer, das Bestehende auch als das schon sachhch Zutreffende angesehen
worden, wie überhaupt eine gewisse Gefahr vorliegt, unter dem Drange des
praktischen Bedürfnisses die Ergebnisse der psychologischen Wissenschaft zu
schnell als für die Praxis maßgebend anzusehen, statt sie zunächst in der
Praxis eine Reihe von Jahren zu ei-proben und auszugestalten. Damit ist
aber gegen die schließliche Erfüllbarkeit der Forderungen nichts gesagt wie
gegen ihre heutige Benutzung unter den nötigen kritischen Vorbehalten.
Gegen den Einwurf, daß die einmalige Untersuchung nicht zuverlässig sei
und leicht zufällige Ergebnisse bringt, läßt sich mancherlei sagen. Wohl
kann es vorkommen, daß ein Kind bei einer Untersuchung gerade krank ist
und dadurch schlechte Ergebnisse hat; auch ein hoher Grad von Mißstimmung
oder z. B. von Unterernährung kann in dieser Weise wirken. Darum scheint
es in der Tat angebracht, daß man, wo irgend möglich, solche Untersuchungen
nicht ein einziges Mal macht, sondern sie mindestens zwei-, am besten dreimal
wiederholt. In den Schulen z. B. müßten nicht erst am Abschluß einmalige
Versuche gemacht werden, sondern in den letzten zwei oder drei Schuljahren
wiederholte, so daß man zugleich sehen könnte, ob die gleichen Anlagen
sich jedesmal in gleicher Weise zeigen. Aber wenn die Methoden gut aus-
gebildet werden, dann zeigt sich, daß im ganzen wirklich scharf ausgebildete
Anlagen nicht gar zu sehr in den Ergebnissen von einander abweichen, wenn
man sie mehrfach prüft. Ich konnte z. B. feststellen lassen, daß bei den
Schall meß-Trupps die Geschwindigkeit, mit der die einzelnen Menschen auf
Reize antworten, selbst in der Reihe von Monaten keine sehr großen Ver-
änderungen durchmacht und daß 'nur bei ganz bedeutenden Einwirkungen
von außen oder innen wesentliche Verschiebungen stattfinden. Durch vor-
herige Erhebungen und Befragungen wird man in jedem Einzelfalle fest-
zustellen haben, ob am Tage der Untersuchung eine solche wesentliche
332 Max Brahn
Störung vorliegt. Außerdem erfordert auch das Leben, daß man bis zu
einem hohen Maße imstande ist, selbst unter nicht besonders günstigen Ver-
hältnissen Arbeiten zu leisten; ja, es gibt Berufe, in denen es darauf außer-
ordentlich ankommt. Jedenfalls ist eine grundsätzliche Schwierigkeit, die zu
einer Ablehnung dieser Methoden führen könnte, hier nicht zu finden. Denn
Wiederholung ist ja stets möglich.
Ebensowenig kann man die Versuche ablehnen, weil bei ihnen eine ge-
wisse Befangenheit des Prüflings eintritt. Bei einigen hundert Untersuchungen
dieser Art ist es mir noch nicht ein einziges Mal begegnet, daß wesentliche
Befangenheit sich zeigte. Weder bei unbegabten Schülern der Hilfsschule,
noch bei Hochbegabten hat die Befangenheit großen Einfluß ausgeübt. Freilich
ist dabei vorausgesetzt, daß der Untersuchende einigermaßen auf den Prüf-
ling eingeht und ihn nicht durch harten Ton oder ungeschickte Äußerungen
abstößt.
Nun hört man häufig den Einwand, die Anwendung dieser Methoden sei
„Rationalismus", sei eine Bevorzugung der bloßen Verstandesbegabung. Wenn
man sich unter Ausschaltung aller anderen Erfahrungen über einen Menschen
ganz allein auf die Versuchsergebnisse stützt, so begeht man allerdings den
Fehler, seine Verstandesanlagen allein als ausschlaggebend anzusehen. Daß
im Leben noch ganz andere Eigenschaften wesentlich mitsprechen, liegt so
* sehr auf der Hand, daß es wohl als neue Erkenntnis nicht bezeichnet werden
kann. Aber es ist sehr wohl berechtigt, Menschen, die nicht zunächst den
geistigen Anforderungen entsprechen, die ein Beruf oder die höhere Schule
stellt, auszuscheiden, womit nicht gesagt ist, daß jeder, der ihnen entspricht,
auch für einen höheren Beruf oder eine höhere Schule geeignet ist. Wohl
sind Eigenschaften des Charakters und des Gefühls wichtig, aber sie können
die Verstandesanlagen niemals für die Berufe ersetzen, die hier in Frage
kommen. Bloße Willensstärke, Fleiß, Sorgsamkeit, Gefühlstiefe geben an
sich noch keinen Menschen, der zum Führer des Volkes auf irgendeinem
Gebiete sich eignet. Verstandesanlagen allein tun es ebensowenig, sind aber
eine Voraussetzung, ohne die jene Übersicht über Dinge nicht zu erreichen
ist, die nun einmal die Voraussetzung weitreichenden verantwortlichen Schaffens
ist. Niemand, der an den Begabungsuntersuchungen beteiligt ist, würde die
Möglichkeit ablehnen, auch Willens- und Gefühlseigenschaflen zu untersuchen,
um ein ganzes Bild der Persönlichkeit zu bekommen. Es ist nicht der
Rationalismus, der uns vorläufig nur die Verstandeseigenschaften untersuchen
läßt, sondern die Unmöglichkeit, den anderen Vorgängen des Seelenlebens
mit genauen Methoden bisher beizukommen. Hier wird an der Ergänzung
unablässig gearbeitet werden müssen; wie weit man auf diesem Gebiete zum
Ziel kommen wird, läßt sich nicht von vornherein sagen. Daraus folgt nur,
daß man sich der bisherigen Grenzen bewußt sein muß und daß Schüler,
die zwar den Anforderungen des Versuches genügen, nach Ansicht der Lehrer
aber moralisch sonst für den Aufstieg nicht geeignet sind, nicht in die höheren
Schulen gelassen werden sollen. Und daraus wiederum folgt, daß es drin-
gend, ja unerläßhch notwendig ist, sich nicht auf die Versuche allein zu
stützen, sondern das Urteil des Lehrers mit heranzuziehen.
Allen denen aber, die sich grundsätzhch gegen diese Versuche wenden,
kann man nur die Frage entgegenhalten, was sie denn eigentUch Besseres
an deren Stelle zu setzen haben. Nichts weiter — wenn ich recht sehe —
Besinnliches zur Begabungsprüfung 333
als die Erfahrung des Lehrers und des Lebens, und diese weiden ja seit
Urzeiten immer angewandt, ohne daß sie bisher Befriedigendes erreicht haben.
Jede Art der Ergänzung der bisherigen praktischen Erfahrungen muß will-
kommen geheißen werden. Aber es ist nicht abzusehen, woher denn eigent-
lich auf dem Gebiete der Einfühlung und bloßen Beobachtung irgend et^vas
Neues kommen soll. Was auf diesem Wege an Erkenntnis gewonnen werden
kann, das haben tiefblickende Philosophen und Künstler wie Männer des
praktischen Lebens seit Jahrtausenden zusammengesucht und uns kundgetan.
Die Verfeinerung unseres gesamten wirtschaftlichen und geistigen Lebens hat
dazu geführt, daß gerade die erfahrenen Praktiker, nicht zufrieden mit dem,
was ihnen gewöhnliche Erfahrung gibt, nach irgendwelchen genaueren
Methoden suchen und sich an uns wenden in einer solchen Fülle und immer
von neuem wieder, daß ich stets erstaunt bin zu sehen, wie stark das Be-
dürfnis nach feinerer Auswahl der Menschen und wie schwach die Fähigkeit
ist, dasselbe mit den bisherigen Mitteln zu befriedigen. Darum sollte sieh
niemand von der bloßen Theorie her grundsätzlich gegen diese Untersuchungen
wenden, sondern er sollte ins Leben herausgehen und dort sehen, wie not-
wendig irgend etwas Neues auf diesem Gebiete ist, und unter Zurückweisung
von Voreiligkeiten mitarbeiten daran, irgend etwas Neues zu schaffen. Wenn
die amerikanische Industrie auf derartige Untersuchungen ungeheuere Summen
ausgibt, wenn bei uns immer mehr sich die Überzeugung Bahn bricht, daß
auch wir eine feinere Menschenauswahl treffen müssen, so werden alle diese
rein theoretischen Einwendungen höchstens Verwirrung schaffen, aber sie
werden den Lauf der Dinge nicht aufzuhalten vermögen. Haben sie etwas
Neues und Gutes an Stelle des unvollkommenen Alten zu setzen, so mögen
sie damit heraustreten und schaffende Arbeit leisten. Sonst mögen sie wohl
Kritik an Voreiligkeiten, an Einzelheiten üben, wozu aber nötig ist, daß sie
sich eine genügende Kenntnis der Dinge verschaffen; sonst aber wird ihre
Kritik wertlos sein, weil sie etwas bloß Verneinendes ist. Wir aber brauchen
neue schaffende Arbeit auf allen Gebieten. «
Darum ist es eine wichtige Aufgabe unserer Regierungen, sich dieser Dinge
anzunehmen und dafür zu sorgen, daß Mittel und geeignete Menschen bereit
gestellt werden, um endlich einmal mit Kritik in großem Umfange alle diese
Fragen grundlegend zu behandeln. Die Ministerien für den Unterricht müßten
sich ebenso stark daran beteihgen, wie die neugegründeten Arbeits- und
Wohlfahrtsministerien. Eine Konferenz von Männern der Schule, des in-
dustriellen Lebens und von erfahrenen Pädagogen müßte die Formen fest-
stellen, in denen über ganz Deutschland ein Netz solcher Arbeit zu werfen
ist. Dann würden wir sicher in wenigen Jahren Fortschritte zu verzeichnen
haben, denen gegenüber alle nur verneinende Kritik in kurzer Zeit ver-
stumnjen würde.
334 Aloys Fischer
Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden im Dienst
von Erziehung und Unterricht.
Von Aloys Fischer.
1.
Die Untersuchung der Sprach ent Wicklung im individuellen Leben
ist eine Aufgabe von größter wissenschaftlicher Bedeutung; sie liefert nicht
nur dem Linguisten Anhaltspunkte, um die Entstehung und Entwicklung der
Sprachen und der Sprache überhaupt zu deuten, sie ist vor allem eine Fund-
grube für den Seelenforscher und den Pädagogen. Es ist bekannt, daß das
höhere Geistesleben in weiter Ausdehnung an Sprechen und Sprache ge-
bunden ist; der Geistesaustausch zwischen den Individuen einer Gesellschaft
vollzieht sich überwiegend auf sprachlichem Wege; das Maß der Teilnahme
an dem gemeinsamen geistigen Besitz eines Volkes hängt mit von der Ent-
wicklung des Sprachverständnisses, der Höhe des Sprachbewußtseins ab, die
Rückwirkung auf die Anderen, die Überlieferung und Fortbildung des geistigen
Erbgutes von den sprachschöpferischen Fähigkeiten.
Diese Einsichten sind wohl allgemein verbreitet, aber eine wichtige Kon-
sequenz derselben hat noch nicht die ihr gebührende Beachtung gefunden.
So gewiß sich die individuelle Sprachentwicklung nur in der Wechselwirkung
des aufwachsenden Menschen mit seiner Umgebung vollzieht, so wenig ist
doch die Mitwirkung des Sprechenlernenden am Spracherwerb zu übersehen,
und so wenig darf man voraussetzen, daß die Verwendung einer Vokabel,
Redensart oder Sprachform in jedem Fall den geistigen Besitz der usuell
damit verbundenen Bedeutung oder darin liegenden logischen Beziehung ge-
währleistet. Sprache ist immer individuelle Sprache; oft, vielleicht in den
meisten Fällen führt die Sprachentwicklung bei den Individuen einer Gesell-
schaft zur inhaltlichen Gleichheit der in der Sprache eingeschlossenen Bedeu-
tungen und geistigen Funktionen; aber ebenso gewiß ist, daß dieses Ziel
vielfach gar nicht, oft nur hinsichtlich eines Teiles des Sprachbesitzes, bei-
nahe immer in verschiedenem Tempo erreicht wird. Wenn Sprache nur als
individuelle real ist, und als solche von der jedes anderen Individuums in
dieser oder jener Hinsicht abw^eichen kann, und wenn Sprache (wie oben voraus-
gesetzt) Kleid und Symbol des geistigen Wesens ist, dann ist die Erforschung
der individuellen Sprache eine gi'undlegende Aufgabe jener Psychologie, die
als Individualitätenforschung den größten Wert wie den größten Reiz besitzt.
Die unersetzliche Bedeutung der echten Philologie als eines Teiles der all-
gemeinen Kulturforschung besteht eben in dieser Erkenntnis der Sprache als
des Schlüssels zum Verständnis der Individualitäten, auch der Volksindivi-
dualitäten. Und wenn auch die Allgemeinheit der Menschen geläirfig die
„Sprache Goethes" oder die „Sprache Ulilands" hervorhebt, so bekennt sie
sich zur gleichen Auffassung; Sprache ist ihr dabei Ausdruck und Symbol
des geistigen Wesens, der Persönlichkeiten Goethes und Uhlands.
Es wäre ein kurzsichtiger Intum, zu glauben, daß die Sprache etwa nur
bei Dichtern, Schriftstellern und ähnlichen Persönhchkeiten, die vorzugsweise
in der Sprache sich ausgelebt haben, den Wert eines psychologischen Quellen-
materials besitze, bei anderen Menschen nicht. Ist die Sprache in einem Fall
Sprach psychologische Untersuchungsmethoden 335
ein Seelendeuter, so ist sie es überhaupt, und die arme, verstümmelte, teil-
weise flexionslose Sprache des geistig Zurückgebliebenen, sein Wortschatz
und seine Lieblingswendungen sind für ihn und seinen Geisteszustand ebenso
gültige Belege wie der Stil Goethes für Goethe.
Die psychologische Individualitätsforschung muß aber Ernst machen mit
dem Studium der individuellen Sprache; ein ungefährer Eindruck von der
Sprechweise, der mündlichen und schriftlichen Ausdrucksbreite einer Person
genügt natürlich nicht, um daraus Schlüsse zu ziehen; die feinsten Eigentümlich-
keiten und Abweichungen von der Norm der Umgebung müssen erfaßt werden,
die Deskription der Sprachentwicklung muß systematisch, vollständig und so weit
als möglich genetisch, wenigstens unter Berücksichtigung der wesentlichen
Einflüsse, durchgeführt werden, die nachweisbar an der Gestaltung einer be-
stimmten individuellen Sprache mitgearbeitet haben.
Ich möchte das Gesagte einmal am konkreten Beispiel verdeutlichen. Wenn
ich nur weiß, daß mein Dienstmädchen das Wort „Delikatesse** kennt und
vei"wendet, so könnte ich mich leicht zu dem Glauben verleiten lassen, daß
es dieses Wort in genau dem^gleichen Sinn verwendet wie ich; mit der
gleichen Einsicht in seine Herkunft wie der fremdsprachlich Gebildete.
Wenn ich aber herausbringe, daß es dieses Wort: „Delikat — Essen" ausspricht
und auch so ableitet, so ist mir diese Abweichung von dem Sinn und der
Heiieitung, in der ich dieses Wort verstehe und verwende, viel wertvoller,
aufschlußreicher. Und wenn dasselbe Mädchen konsequent „grafentätisch"
im Sinne von „gravitätisch", „Kindermatograph" im Sinne von Kinematograph
gebraucht, so wird mir klar, A\äe, in welcher Weise es sich Fremdworte an-
eignet und zurechtleg-t : Klangähnlichkeiten lassen es an ein ihr völlig bekanntes
und geläufiges Wort denken; mit diesem' wird das Fremdwort ganz oder teil-
weise kontaminiert; dabei wird der Bestandteil, der dem bekannten Wort
klangähnlich ist, als bedeutungsverleihender verwendet. Die Probe aufs
Exempel müssen jene Fälle liefern, in denen diese Art der Aneignung von
Fremdwörtern zu einem Sinn führt, der von der eigenthchen Bedeutung ver-
schieden, ihr vielleicht sogar entgegengesetzt ist. Natürlich ist der geschilderte
Vorgang zunächst noch nicht individuell charakteristisch ; er ist ein Fall einer
Gesetzmäßigkeit der VolksetjTnologie. Aber wenn ich nun weiter beobachte,
wenn ich den Wortschatz des Dienstmädchens, die Unterschiede desselben
in der mündlichen Rede und in allem Geschriebenen (Briefen, Haushaltbüchern),
den durchschnittlichen Satzumfang, Formfehler und Formrichtigkeiten fest-
stelle, die Grenze des Verständnisses für gehörte (gelesene) Sprache usw., so
individualisiere ich immer stärker; und schließlich gewinne ich, lediglich durch
die Aufnahme der Sprachdeutungen, einen sehr genauen Einblick in die Vor-
stellungswelt, die richtigen, halbfalschen, falschen, klaren, verworrenen Be-
griffe, in das Bild, das es sich von der Welt macht, in die Lücken, die es hat
(verglichen sei es mit meinem eigenen Weltbild, sei es mit einem als „normal*
vorausgesetzten Weltbild) ; ich gewinneEinblick in die form.aleArt seinerGedanken-
bewegung, Gedankenverknüpfung, in den Mechanismus der logischenFunktionen;
ja ich kann sichere Schlüsse ziehen auf die Hintergedanken und Hintergründe
ihres seelischen Lebens, die ich mit anderen psychologischen Hilfsmitteln gar
nicht oder nur nach langen Untersuchungen erhoffen kann.
Es scheint mir eine sehr wichtige und vordringliche Aufgabe der Metho-
dologie der Individualitiitsforsr^hung zu sein, einmal die Fragen und Grund-
336 Aloys Fischer
Sätze zu präzisieren, nach denen die Aufnahme und Interpretation der indi-
viduellen Sprache zu erfolgen hat. Ich darf nicht den Anspruch erheben, in
dieser Frage schon klar zu Ende zu sehen ; was ich im folgenden an metho-
dischen Vorschlägen entwickle, bitte ich deshalb nur als Vorarbeit gelten
lassen zu wollen. Auch die methodologischen Winke der psychanalytischen
Schule, die sehr wertvolle Momente enthüllen, reichen noch nicht hin, das ganze
Gebiet der individuellen Sprache dem Psychologen zu erschließen.
Steht die Bedeutung des Studiums der individuellen Sprache für den Psycho-
logen fest, so ist damit auch ein gutes Stück ihrer pädagogischen Bedeutung
schon erwiesen. Erziehung ist in jedem Falle auch seelische Formung; diese
setzt voraus, daß man den psychischen Zustand, in den eingegriffen werden
soll, kennt, daß man fähig ist, seine allmähliche Veränderung zu beobachten,
daß man ein Bild von dem erstrebten Endzustand besitzt und mit den Phasen
des der Erziehung unterworfenen Individuums vergleichen kann. Zu all
diesen Leistungen ist aber die Deutung der Sprache Hilfsmittel. Dazu kommt
ein zweites: Sprache und Sprachleben sind selbst Unterrichts- und Erziehungs-
gebiete. Wir müssen wünschen, daß des» erzogene und gebildete Mensch
auch in seiner Sprache und Sprechweise als solcher kenntUch sei, und wir
wissen, daß Sprachgewöhnungen unterrichtlicher und erziehlicher Beeinflussung
zugänglich sind. Die Didaktik des Sprachunterrichts ruht also in doppeltem
Sinn auf der Psychologie und Psychogenesis der Sprache. Sprache und Schrift-
tum bilden endlich in Unterricht und Erziehung eines der Hauptmittel, man
darf sagen, das einzige allen Kindern zugängliche Mittel, um am geistigen
Leben des Volkes teilzunehmen. Auch aus diesem Grunde muß die Beschäf-
tigung mit Sprechen und Sprache pädagogisch hoch gewertet werden.
Mit Sprechen und Sprache, mit Sprachen kann man sich nun in verschie-
dener Absicht beschäftigen ; je nach dem Gesichtspunkt, den man hauptsäch-
lich verfolgt, sind immer andere Seiten wichtig und wechseln die Methoden.
Ich möchte im folgenden ausschließlich solche Verfahren charakterisieren,
durch die sich Lehrer und Erzieher (und alle, die deren Amt verwalten) be-
fähigen, über den Stand der sprachlichen Entwicklung eines einzelnen Kindes
sich zu orientieren und aus der Sprache des Kindes alle Schlüsse zu ziehen,
die auf das geistige Leben gezogen werden dürfen. Damit ist gesagt, daß
der individualpsychologische Gesichtspunkt allein für die Auswahl maßgebend
ist, und daß die Methoden in zwei Gruppen zerfallen, in solche der Erhebung
des Sprachbestandes an sich und solche der Deutung desselben, der Auswertung
für die Erkenntnis anderer, nicht mehr sprachlicher Züge der Individualität.
2.
Die Frage, wie man sich über den Sprachbesitz und die sprachlichen Fähig-
keiten einen Überblick verschaffen kann, hängt von der Beantwortung einer
Vorfrage ab, von der Überlegung nämUch, was man an der Sprache eigent-
lich erfassen will. Zugleich muß berücksichtigt werden, welches Alter das
Kind besitzt, dessen Sprache „erhoben" werden soll. Ich bemerke nun, daß
ich von den Problemen der Lautentwicklung, ebenso von den Vorstufen
der Sprachentwicklung vollständig absehe, von Schrei, Lallmonolog, Schall-
nachahmung, von den Etappen der Entdeckung der Zeichenfunktion der Sprach-
laute, vom Erwerb der ersten Wortbedeutungen und den Anfängen des echten
Sprachverständnisses wie des ersten aktiven Sprechens. Der grundlegende
Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 337
Spracherwerb der ersten 2 — 3 Lebensjahre ist uns heute sehr gut bekannt^). Die
Sprache des Kindes der sozial gehobenen Stände kann als ziemlich voll-
ständig erforscht gelten, die offenen Fragen, die es auf ihrem Gebiete noch gibt,
berühren vorzugsweise das theoretische Interesse, für die Sprachpädagogik des
Elternhauses besitzen wir alle erforderlichen Grundlagen. Der kindliche Sprach-
erwerb in den einfachen und niederen Ständen ist zwar weniger vollständig
bekannt, aber die vorhandenen Grundlagen und Methoden dürfen als aus-
reichend gelten, wenn sich die Kräfte finden, die mit ihnen das erforderliche
Massenmaterial beschaffen wollen. Weshalb ich hier die Darstellung der drei
ersten Lebensjahre ausschließe, das hängt mit meiner auf die öffentliche
Erziehung gerichteten Endabsicht zusammen. Die Sprachentwicklung soll
erst von dem Zeitpunkt an ins Auge gefaßt werden, in dem die früheste außer-
häusliche Beeinflussung der Kinder, der Kindergarten beginnen kann. So-
weit die öffentliche Säuglingspflege in Findeihäusern, Säuglingsheimen, Be-
ratungsstellen und in der Hauspflege Kenntnisse des Sprachmaterials und der
Methoden zu ihrer Erforschung nicht entbehren kann, glaube ich allen Be-
dürfnissen durch die vorhandene Literatur genügt.
Denken wir also an das Kind im Spiel- und Schulalter, auf den Stufen der
höheren Schule und an die sogenannte reifere Jugend, so können wir die
Frage, was wir an sei nerSprache und Sprachentwicklung erforschen
wollen, mit folgenden Problemgebieten beantworten: Wir wollen Einsicht 1. in
den Wortschatz und sein Wachstum, 2. in die Struktur des Sprachbaues, also
in die Grammatik, Formenlehre und Syntax dieser werdenden Sprache, 3. in das
werdende Verhältnis der Kinder und Jugendlichen zu den Daseins weisen
der Sprache (als geschriebener, gedruckter, gehörter, gesprochener usw.), also
insbesondere die Differenzen zwischen Sprechsprache und schriftlichem Aus-
druck, zwischen Sprachverständnis (im Hören und Lesen) und aktivem Selbst-
sprechen, 4. in die Anfänge des persönlichen Gepräges in der Sprache, insbe-
sondere des schriftlichen Ausdrucks, des Stiles, 5. in die Faktoren, welche
auf die Sprachentwicklung Einfluß üben, und in ihre relative Dynamik.
Natürlich zerlegt sich jeder dieser Problemkreise in eine mehr oder minder
gi'oße Zahl von Einzelfragen, die später dargelegt werden. So z. B. wird man
über die Verbindung der Hauptsätze in der zusammenhängenden Rede wie
im Aufsatz ganz sicher gesonderte Beobachtungen und Erhebungen machen
können und müssen, ebenso über die Entwicklung des Verständnisses und
des Gebrauches von Nebensätzen. Gerade für den Einblick in die Genesis
der Gedankenbildung ist diese Erforschung der sozusagen logischen Gelenke
des Sprachkörpers von größter Bedeutung, Aber man darf die sprachpsycho-
logische Untersuchung trotz der methodischen Arbeitsteilung nicht in Einzel-
fragen zerfallen lassen; deshalb habeich hier die Problemgruppen vorangestellt.
Auch die Methoden der Erhebung nehmen an dieser Zweiteilung zwischen
Allgemeinen und Speziellen teil; wir müssen Methoden ziu- Gewinnung von
Dokumenten der Sprachentwicklung überhaupt unterscheiden von solchen,
die zur Lösung eines konkreten Einzelproblems eigens ausgedacht sind. Die
ersten liefern uns die größere Menge des Materials, helfen uns, die wirkliche
Sprache zu erfassen, die letzteren gewähren uns intimere Einblicke in Einzel-
') Die reiche Literatur über die Spracbaniän^e des Kindes besitzt namentlich in Deutschland
vorzügliche Zusammenfassungen.
Zeitsclirift f. pädagog. Psychologie. 22
338 Aloys Fischer
heiteii, müssen aber dafür mit den Gefahren einer Verkünstelung der Sprache
durch die Bedingungen des Versuches und der Erhebung rechnen.
Ich gUedere die Darstellung so, daß ich mit den allgemeinen Methoden be-
ginne, dann die speziellen Methoden m i t den Problemen, denen sie zugeordnet
sind, folgen lasse, und mit den allgemeinen Gesichtspunkten der wissenschaft-
lichen Deutung und Verwertung des gesamten Materials abschließe.
3.
Allgemeine Methoden zur Gewinnung von Dokumenten der Sprach -
entwicklung bei Kindern und Jugendlichen.
Sieht man von jeder Rücksicht auf eine Spezialfrage der Sprachentwicklungs-
psychologie ab, will man allgemeine Grundlagen für die Charakterisierung
der Sprache von Kindheit und Jugend gewinnen, so muß man sich bewußt
bleiben, daß direkt und unmittelbar jeweils nur die Sprache einzelne)- Kinder,
die Sprache von Kinderindividuen, erfaßt werden kann. Alle Aufzeichnungen
müssen demnach genau und vollständig das Alter des Kindes, seine Her-
kunft, eine Charakteristik des Sprachgebrauches seiner Umgebung, die Umstände
der Erhebung mitverzeichnen. An allgemeinen Methoden stehen uns dann
zur Verfügung:
1. Das Protokoll des Lebensgespräches. Dabei ist zu unterscheideji
das Gespräch des Kindes und Jugendlichen mit einem Erwachsenen von dem
Gespräch mit kindlichen und jugendlichen Altersgenossen; ebenso zu unter-
scheiden, ob die Aufzeichnung unmittelbar nach dem Gespräch stattfindet
oder als Niederschrift eines absichthch oder zufällig belauschten Gespräches
während des Gespräclies selbst erfolgt, wie im Kammerstenogramm. Damit
das Protokoll auch für dritte benutzbar ist, müssen alle Umstände des Ge-
spräches dazu notiert werden.
Die Niederschrift selbst muß den Anteil aller am Gespräch beteiligten Per-
sonen im genauen Wortlaut festhalten.
Gerade diese Forderung ist schwer erfüllbar, und darum äußerst selten er-
füllt. Die Mehrzahl der Aufzeichnungen begnügte sich damit, das Auffällige
zu notieren, fast alle ließen die Gesprächsteile, die erwachsene Personen
beisteuern, unbeachtet. Es ist verständlich, daß so verfahren wurde und wird;
man will ja doch Dokumente der Kindersprache, glaubt also bei der Proto-
kolUerung auch nur zur Niederschrift der Kindesäußerung verpflichtet zu sein.
Man übersieht dabei vollständig, wie stark die kindliche Ausdrucksweise durch
die erwachsenen Mitunterredner beeinflußt wird, wie viele vom Erwachsenen
als solche gar nicht mehr gespürte Hilfen es dem Munde desselben entnimmt.
Es existieren einzelne Aufzeichnungen in der Literatur, nach denen 4- und
5jährige Kinder über einen Wortschatz, eine Ausdrucksgeläufigkeit verfügen,
die so außerordentlich sind, daß bei mir dei- Verdacht sich regt, ob es sich nicht
um einfache gesprächsweise Übernahme von erwachsenen Partnern handelt,
um jenes momentan aufblitzende und mit dem Moment wieder erlöschende
Halbverständnis, das jeder aus der Erfahrung kennt und das doch niemand
als auffallende Kindeileistung bezeichnen würde; ohne diesen Hintergrund
der erwachsenen Mithilfe muß sie jedoch notwendig als solche erscheinen.
Wenn das Protokoll des Lebensgespräches" allen diesen Ansprüchen genügt,
dann stellt es die beste Materialquelle für das Studium der Sprech spräche von
Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 339
Kindern und Jugendliehen dar: es übertrifft alles an Lebensnähe, denn es
fixiert einfach einen Ausschnitt aus dem Leben selbst.
Die Technik der Protokollierung muß freilich erlernt sein; die Beherrschung
einer Stenographie ist unerläßlich, die größte Gewissenhaftigkeit bei nach-
ti'äglicher Niederschrift Pflicht; es muß alles Unsichere, vom Gedächtnis
nicht genau Festgehaltene als solches gekennzeichnet werden; es muß jede
Deutung als vom Erwachsenen vollzogene notiert sein. Manchmal wird der
Führer des Protokolls auf Deutungen nicht verzichten können, weil nur er
aus der Anschauung der konkreten Situation die Bedeutung zu erraten ver-
mag; aber auch noch so unentbehrliche Deutungen müssen als solche be-
zeichnet und belegt werden.
Zur Aufnahme von Lebensgesprächen haben Eltern, Kindergärtnerinnen,
Hortkräfte und Lehrer eine abnehmende Menge von Gelegenheiten; wertvoll
wird namentlich das zufällig erlauschte Gespräch von Kindern und Jugend-
lichen unter sich sein, auch wenn wir nicht allzu viele davon haben und haben
werden, die meisten überdies nur in nachträglicher Niederschrift festgehalten
werden können.
Weniger natürlich, weil schon durch den Erwachsenen provoziert und in
jedem Fall sowohl durch seine Art der Frage wie durch die im Kinde und
Jugendüchen gleich wirksam werdende Rücksicht auf ihn beeinflußt, ist nun
2. das Protokoll eines abgeforderten Berichtes über ein Erlebnis,
einen Eindruck, eine Person oder Sache, eine eigene Handlung und Unter-
lassung.
Der Veranstalter läßt sich „erzählen"; natürhch leitet er ein, gibt zu mindest
den Anstoß, hütet sich aber ängstlich zu suggerieren und zu helfen. Frei-
lich sind die Hilfen, die ein Kind namentlich benutzt, oft so fein, daß der
Erwachsene selbst sie nicht bemerkt; jeder Lehrer weiß, daß ein Kind in der
Schule unter den Augen des Lehrers mehr leistet als zu Hause; die ganze
Schulatmosphäre hilft mit; das Kind hest aus den Zügen des Ei-wachsenen
ab. ob es recht oder falsch arbeitet, wie es weiter fortfahren soll. Uns Erwachsenen
geht es noch ähnlich; außer Zusammenhang mit Raum und Stimmung ver-
mögen auch wir oft nur schlechter zu arbeiten. Hier liegen noch unerforschte
Grundlagen der assoziativ-reproduktiven und besonders der produktiven Seelen-
tätigkeit vor.
Auch der umgekehrte Fall ist möglich: die Aufforderung, etwas zu er-
zählen, kann das Kind verwirren, ja geradezu zum Sprechen unfähig machen.
Natürlich leidet in solchen Fällen der Ausdruck erheblich; wir erhalten höchstens
eine durch Befangenheit und innere Hemmung getrübte, durch die Rücksicht
auf die erwachsene Autoritätsperson mitbestimmte Leistung.
AUe diese Umstände sind in erhöhtem Maße bei dem vom Lehrer in der
Schule abgeforderten mündlichen Bericht (und mutatis mutandis auch schrifl-
Uchen) Bericht zu bedenken.
Auf der anderen Seite hat der abgeforderte Bericht seine besonderen Vor-
züge. Er ist eine ergiebige, leicht anwendbare Methode, läßt sich unschwer
zu Massenversuchen verwenden, und wenn uns der Gegenstand bzw. Sach-
verhalt genau bekannt ist, auf den er sich bezieht, vermögen wir gerade aus
ihm die Prägnanz und Treffsicherheit bzw. Vagheit des Ausdrucks zu erfassen.
Die Protokollierung des abgeforderten Berichtes kann in zweifacher Weise
erfolgen: entweder wird der Bericht unmittelbar nach seiner Erstattung nieder-
22*
340 Aloys Fischer
geschrieben, mit allen Umständen, Fragen und Hilfen, oder er wird von einer
dritten Person unauffällig mitgeschrieben. In diesem Fall ist natürlich pein-
lichst für die Unwissentlichkeit Sorge zu tragen. Wo es möglich ist, hat das
unwissentliche Zwei-Männer- Verfahren natürlich große Vorteile.
Ist das Protokoll des Berichtes aufgenommen, so hat sogleich die Nachtrags-
arbeit zu beginnen; die Feststellungen über Richtigkeit und Falschheit, VoD-
ständigkeit und Unvollständigkeit des Berichtes müssen sofort gemacht werden ;
vom Standpunkt der Ergiebigkeit für die Sprachentwicklungs psychologie muß
aber vor allem notiert werden, was über Tonfall und Modulation, Sprachtempo
und erläuternde bzw. begleitende Geste beobachtet wurde. Es ist unzweifel-
haft auf der Stufe desKindesund vielfach auch noch bei den Jugend-
lichen das sprachliche Moment nur Teil eines Gesamtausdruckes,
ohne andere Komponenten oft nicht einmal verständlich, meistens nicht prägnant.
Zur Bezeichnung der Tonstufen, der Tempi und Pausen kann man sich die
von den Sprachforschern, besonders den Phonetikern und Germanisten aus-
gebildeten Zeichen zurechtlegen; die Schreibung der Dialekte wird außerdem
noch auf das KindUch- Mundartliche achten müssen, für die Gesten ist ein
Schema der Bezeichnung schwer möglich. Soweit die unwissentliche Photo-
graphie verwendet werden kann, ist sie zu benützen.
Eine kurze Gesamtcharakteristik des sprechenden Kindes (wie es sich hält,
dreht und wendet beim Sprechen usw.) ist als Abschluß der Aufnahme nach-
zutragen; der Eindruck, den der Erwachsene gewinnt, ist ein Fingerzeig für
die nachträgliche Synthesis der protokollierten Einzelheiten durch dritte wissen-
schaftUche Bearbeiter.
Zu den künstlicheren, damit einerseits stärker von der unre flektierten Sprach-
norm abgebogenen, anderseits eindeutigeren Methoden gehen wir über mit
3. dem Protokoll der geforderten Nacherzählung.
Die kindhche und jugendliche Leistung der Wiederholung bzw. Wiedergabe
eines Redezusammenhangs ist sehr komplex ; hier kommt sie lediglich als Beleg
für den Stand der Sprachentwicklung in Betracht.
Die Durchführung des scheinbar einfachen Versuches ist sehr selten richtig
geschehen ; für gewöhnlich wird schon übersehen, denWortlautdesOriginal-
textes zu fixieren. Das ist unbedingt erforderlich. Ob er dann vom V.-L.
memoriert und wie eine eigene Rede gesagt oder formell vorgelesen wird, ist
ein bedeutungsvoller Unterschied in der Durchführung, der notiert werden muß.
Jedenfalls muß aber der Wortlaut selbst in einer den nachträglichen Zwe":l
und die allmähliche gedächtnismäßige Umbildung ausschließenden Weise
fixiert sein.
Der fixierte Originaltext darf ferner seinem sachlichen Inhalt, seiner Be-
deutung nach der Auffassung und dem Verständnis keine Schwierigkeiten
bieten. Tut er es, so ist er wohl geeignet zur Analyse des Denkens und der
Kritik von Gedanken, aber nicht für sprachpsychologische Arb eiten. Der Text
muß so sein, daß der sachliche Inhalt in jedem Falle aufgefaßt, verstanden
wird; denn was wir wissen wollen, ist nur dies: wie wirkte ein Text auf den
Versuch des Kindes und Jugendlichen ein, den im Text behandelten Sachzu-
sammenhang selbst nochmal auszudrücken?
Damit ist zugleich ein drittes Anfordernis an den Text klar geworden: er
muß im ganzen den Umfang des unmittelbar Behaltbaren überschreiten, je
nach der Altersstufe erhebUch überschreiten. Täte er dies nicht, so bestünde
Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 341
Gefahr, daß an Stelle eines eigenen Formulierungsversuches die glatte Re-
produktion des Originaltextes erfolgt. Der Text muß so lang sein, daß ein
wörtliches Behalten auf Grund einmaligen Hörens ausgeschlossen ist.
Ich möchte in meinen Forderungen noch einen Schritt weiter gehen: der
Aufbau des Textes aus Sätzen muß gleichfalls auf die Spanne des sprachlichen
AuffassuDgsumfangs Rücksicht nehmen; es müssen auch die Teile in der Länge
wechseln, teilweise über die Spanne des unmittelbaren Gedächtnisses hinaus-
gehen; sonst besteht die Gefahr der wörtlichen Reproduktion von Teilen.
Man darf von einem Text zur Prüfung sprachlicher Fähigkeiten nicht ver-
langen, was ein solcher für andere Zwecke an sich tragen müßte. Die Nach-
erzählung an sich können wir auch benutzen, um das Verständnis, die Unter-
scheidungsfähigkeit für Wesentliches und Nebensächliches zu prüfen; selbst-
verständlich müßten dafür die Texte anders gewählt und gestaltet werden.
Man hat nun bei derartigen Versuchen der Nacherzählung meist den Fehler
des „Zuviel auf einmal* begangen, Texte gewählt, die schon dem Verstäftdnis
Schwierigkeiten bereiteten oder in jedem Sinn zu umfangreich waren, um
überhaupt auch nur im allgemeinen Aufbau behalten zu werden. Die Aus-
wertung solcher Versuche für sprachpsychologische Probleme ist natürhch kaum
möghch. Das Experiment, die künstliche Methode muß spezialisieren; hier
sind nur d i e Gesichtspunkte hervorgehoben, die für die Nacherzählung als
Hilfsmittel zur Untersuchung sprachlicher Kenntnisse und Fähigkeiten gelten.
Das Protokoll über eine abgeforderte Nacherzählung wird sich sachlich oft
nicht von einem anderen unlerscheiden, das ich aber doch getrennt als vierte
Quelle, Belege für die Sprachentwicklung zu sammeln, hervorheben möchte,
ich meine
4. die Wiederholu^ng einer Erzählung mit eigenen Worten. Aus
der Praxis der Schule ist allbekannt, daß Kindern und Jugendlichen immer
wieder die Aufgabe gestellt wird, das vom Lehrer Erläuterte, in einem Buch
Gelesene „mit eigenen Worten" zu wiederholen. Diese Maßnahme verfolgt
den Zweck, den Lehrer über den Grad und die Grenze des Verständnisses
aufzuklären, den Schüler in eigentätigem Ausdruck sich etwaigen Selbst-
täuschungen zu entziehen. Alle derartigen, für die Psychologie des Denkens
wertvollen Nebenabsichten scheiden in diesem Zusammenhang aus; die Wieder-
holung mit eigenen Worten soll lediglich als Grundlage zu Schlüssen auf die
Sprache dienen. Damit dies möghch ist, muß das sachliche Verständnis über
allen Zweifel erhaben sein; wir werden also zu Texten greifen müssen, die
eher unter als über der Altersreife des Kindes liegen.
Mit der 5. Methode, dem Formulierungsversuch, betreten wir das Ge-
biet der nach strengen Anforderungen experimentell ausgestalteten Erhe-
bung. Der Grundgedanke der Formulierungsversuche besteht darin, den Kindern
und Jugendlichen die sachlichen Elemente eines Gedankens zu geben —
\e nachdem in Stichworten, fragmentierten Sätzen, Bildern usw. — und von
ihnen die Formulierung des Gedankens zu verlangen, nichts als dies, daß sie
den Gedanken, den Sachverhalt sprachhch ausdrücken.
Der Formuherungsversuch ist das grundlegende sprachpsychologische Ex-
periment in pädagogischem Zusammenhang; jede Aussage, jeder Aufsatz stellt
auch einen solchen dar. Für die wissenschaftlichen Zwecke muß er gleich-
wohl erst methodisiert werden, und wir werden bei dem Cberbhck über die
speziellen Methoden viele Varianten kennen lernen. Hier sollte er nur als
342 Aloys Fischer
eine allgemeine Fundgrube für sprachpsychologisches und sprachpädagogisches
Material genannt sein.
Neben diesen ersten fünf Methoden treten solche, bei denen die Sprache
der Kinder und Jugendlichen von ihnen selbst aufgezeichnet ist. Dem Pro-
tokoll des Lebensgespräches am nächsten stehen 6. Brief und Tagebuch-
aufzeichnung der Jugend.
Freilich müssen bei ihrer Verwertung als Denkmäler der Sprache ganz be-
hutsame, feine Überlegungen mitsprechen. In erster Linie beruht ihr psycho-
logischer Wert auf dem Inhalt. Die sprachliche Form ist bei Briefen und
Tagebucheinträgen selten der unreflektierte Ausdruck, wie er im Lebens-
gespräch belauscht werden kann. Bei den Briefen schiebt sich die Rücksicht
auf den Adressaten, beim Tagebuch die der Jugend (namentlich der Jugend,
die Tagebücher schreibt) so geläufige Schriftstellerpose zwischen Erlebnis und
Ausdruck, Gedanken und Form. Es gibt nur sehr wenige Kinder und Jugend-
liche*und nur sehr wenige Gelegenheiten, die vollständig aufrichtig, unbefangen
schreiben, wie sie denken und sprechen. Jeder Brief ist eine Bemühung, das
Tagebuch sogar ein „Werk".
Mögen sie aus diesen Gründen nicht mehr die naive, unreflektierte Sprache
bieten, so lehren sie uns anderseits die Art des Sprachbewußtseins kennen,
die bewußt gebilligten Vorbilder, die Höhe sprachlicher Leistung, bis zu der
sich willentliche Konzentration und Besinnung erheben kann.
Außerdem stellt die geschriebene Sprache eine der Existenzweisen der Sprache
dar; sie müssen wir ebenso erfassen wie die Sprechsprache ^). Es ist ein äußerst
wichtiges Problem, zu finden, wie sich beim einzelnen Menschen Sprechsprache
und schriftlicher Ausdruck berühren, fördern, hemmen, beziehungslos neben-
einanderstehen. Es gibt prachtvolle Redner, die äußerst mäßige Schriftsteller
sind, große Stilkünstler, die kaum sprechen konnten. Es ist wichtig, zu wissen,
ob ein Mensch sozusagen seine gewöhnliche normale Einstellung verläßt, so-
bald er schreiben muß, ob es ihm völlig einerlei ist, vor Hörern seine Ge-
danken zu entwickeln oder mit der Feder in der Hand.
Diese auf der Stufe des Erwachsenen stark fühlbaren Unterschiede haben
ihre Vorläufer, ihre Anfänge schon in der Zeit der Kindheit und Jugend.
Für manche Kinder hört die Ausdrucksfähigkeit geradezu auf, sobald sie schreiben
(nicht sollen, sondern auch nur) wollen, während andere mit einer naiven
Selbstgefälligkeit sich gar nicht genug tun können, dritten der Unterschied
überhaupt nicht spürbar wird.
Aus Briefen und Tagebüchern werden wir sowohl den Stand der schrift-
lichen Ausdrucksfähigkeit wie das Verhältnis zur geschriebenen Sprache selbst
erfahren können. Aber die Benutzung dieser Dokumente ist in weitem Maße
davon abhängig, daß wir in die Entstehungsweise und En tstehungsumstände
der Briefe und Tagebuchaufzeichnungen Einblick erhalten. So wenig ein vom
Lehrer diktierter, aus einem Musterbuch abgeschriebener Glückwun schbrief an
Vater oder Mutter etwas für die Pietät, Dankbarkeit und Liebe des Kindes
beweist, so wenig oder womöglich noch weniger beweist er etwas für seine
Beherrschung der schriftlichen Sprachform. Im ersten Fall kann wenigstens
») Das Verhältnis von .Dialekt* und „Schriftform der Sprache* hat aa sich nichts zu tun mit
dem Verhältnis zwischen „mündlichem" und „schriftlichem" Ausdruck; man kann auch Dialekt
(ichreiben.
Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 343
eine zufällige Deckung zwischen dem fremden Muster und dem eigenen Ge-
fühl des Kindes sein, im zweiten Fall ist es eher wahrscheinlich, daß sich
die sprachliche Unfähigkeit und Urteilslosigkeit gerade das ihr unmöglichste
Vorbild aussucht. Vielfach aber sind in der Literatur kinderpsychologische
Schlüsse aus solchem Material gezogen worden. Nur die reine Kinderleistung,
nur die selbständige, du-ekt nicht mehr beeinflußte Kinderschrift hat größten
Wert. Damit ist zugleich gesagt, dai3 die ergiebigste Stoff quelle 7. der Schul-
aufsatz bzw. der Aufsatz im Zusammenhang mit Schulleben und Unterricht
auch noch Belege für die Sprachentwicklung bietet, aber die größte Behut-
samkeit in der Deutung und Benutzung verlangt.
Was ist alles aus Aufsätzen der Kinder und Schüler schon herausgelesen
worden! Oft sind die gröbsten Unterschiede zwischen der fast wörtlichen
Übernahme eines Musteraufsatzes und einer völlig freien Niederschrift ignoriert
worden, beinahe immer blieben die entfernteren Einflüsse der schulischen
Vorbereitung, der Lehrerpersönlichkeit, ihrer Sprache und ihres literarischen
Geschmacks ungefaßt und unfaßbar außer Betracht; es bedeutete schon viel,
als auf den guten Toder meist schlechten) Einfluß der in den Schullesebücheni
gesammelten literarischen „Vorbilder" aufmerksam gemacht wurde.
Mag füi" pädagogische Schlußfolgerungen eine derartige Behandlung
der Aufsätze weniger gefährlich sein, für ihre Benutzung zu psychologischen
Schlüssen ist die peinlichste Unterscheidung zwischen Aufsatz und Aufsatz
unerläßlich. Stehen doch Leistungen, deren Schuld oder Verdienst ausschließ-
lich dem Kinde zufällt, neben solchen, für die es gar keine Verantwortung
trägt, die nicht sein Werk sind, so gewiß seine Feder die Worte niederschrieb,
aus denen sie bestehen. Was vom Inhalt und Aufbau der Sätze gilt, ist auch
bei der Beurteilung ihrer sprachlichen Seite nicht zu vergessen.
Eine Gruppe der Aufsätze, die nicht nur so genannten, sondern wirkhch
so entstandenen freien Aufsätze ij bilden die Überleitung zur letzten Quelle
von Dokumenten der Sprachentwicklung, 8. zu den Produkten des freien
literarischen Schaffens der Kinder und Jugendlichen.
Die Sammlung von literarischen Erzeugnissen der Jugend ist oft angeregt,
durch F. Giese^} bisher im größten Stile wenigstens einmal durchgeführt worden.
Alle Probleme sind aber mit dieser Sammlung noch lange nicht gelöst, viel-
leicht nicht einmal gestellt; deshalb ist es nicht überflüssig, an dieser Stelle
die freie literarische Produktion nochmals hervorzuheben und auf sie als Be-
leg für die Sprachentwicklung aufmerksam zu machen.
Von vornherein ist wahrscheinlich, daß nur bei Kindern mit ausgesprochener
Sprachbegabung, literarischer Interessenrichtung und in literarisch angeregter
Umgebung der literarische Versuch früh, relativ häufig und erfolgreich auf-
1) Unter diesem Gesichtspunkt wären auch die Foi-schungen von Th. Valentiner über die
Entwicklung der Phantasie im Lichte freier Aufsätze (Beihefte zur Zeitschrift für angewandte
Psychologie und psychologische Sammelforschung Heft 13, Leipzig, Barth) noch auszuweiten bzw.
zu ergänzen.
2) Von der Literatur über das dichtende, allgemeiner das schriftstellemde Kind verdienen Her-
vorhebung die älteren Werke; Adolf Dyrotf: Über das Seelenleben des Kindes. Bonn 1911,
Seite 83 — 189. Bemard Perez: L'art et la poesie chez l'enfant. Paris 1S88. Sie überlrifft an
Gründlichkeit der Fragestellung und namentlich an Reichtum des beigebrachten Materials bei
weitem Fritz Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen (Beihefte zur
Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammellorschung, HeftVII. Leipzig 1914).
34-t Aloys Fischer
tritt; diese Wahrscheinlichkeit ist durch die bisherigen Forschungen auch be-
stätigt worden.
FreiUch wird wohl eine größere Anzahl von Kindern Reim- und Dichtversuche
machen, aber es geschieht nur gelegentlich oder (wie in den höheren Schulen
einzelner Bundesstaaten) auf ausdrückliches Verlangen der Schule; die Ver-
suche fallen für die meisten offenbar so wenig befriedigend aus, daß sie
keine Fortsetzung erfahren. Es wäre interessant und ist eine noch zu leistende
Aufgabe, zu ermitteln, wie viele Kinder und Jugendliche überhaupt keinen
Versuch machen, wie viele nur „gelegentlich" dichten, es wenigstens ver-
suchen und dann wieder aufgeben, wie viele während längerer Zeit hterarischen
Neigungen und Plänen nachgehen, wie viele das nur in der Jugend getan
haben, während sie in der Reife und Berufsarbeit nicht nur jeden literarischen
Ehrgeiz einbüßen, sondern sogar die Teilnahme am literarischen Schaffen
anderer zurücktritt oder verloren geht. Nicht die Prozentzahlen an sich sind das
Wissenswerte, sondern der Einblick in die Gründe und bestimmenden Erleb-
nisse; Grenzen des Sprachbewußtseins werden uns dabei faßbar.
Auch bei den Kindern und JugendHchen, die „dichten", genauer gesagt,
die längere Zeit, nicht selten während der ganzen Schullaufbahn, Ausarbeitungen
machen, die ihnen selbst und ihren Kameraden, vielleicht sogar ihrem Lehrer
als „Literatur" imponieren, wenigstens als Frühforraen und Anfänge solcher,
geht das freie Schaffen sehr oft weder aus sprachkünstlerischer Begabung noch
aus dichterischer Problemstellung hervor, sondern entspringt einem allgemeinen
Ehrgeiz, einem brennenden Willen, sich zu unterscheiden und auszuzeichnen,
der aus Mangel an anderen Gelegenheiten und Möglichkeiten auf das literarische
Gebiet verschlagen wird. Das „schwierigere" Gedicht reizt den Ehrgeiz mehr
als der „leichtere" Prosaaufsatz, die „erfundene" Erzählung mehr als die durch
stoffliche Anhaltspunkte geregelte Beschreibung. Dabei hat natürlich das Kind
eine sachverständige Vorstellung weder vom einen noch vom andern, es
entnimmt diese Art der Wertschätzung einfach dem (hierin ebenso falschen)
Vorbild der Erwachsenen. Weil sie diese „Gedichte" „schwerer" finden als
Prosaausarbeitungen, wird der jugendliche Ehrgeiz auch auf sie hingedrängt.
Nur ein kleiner Teil gewinnt allmählich ein innerliches Verhältnis zur Literatur
und fühlt sich zur literarischen Produktion gedrängt von dichterischer oder
sprachkünstlerischer Problemstellung aus; sie pflegen ihr Talent mit einer
gewissen Konsequenz, versuchen sich in immer neuen Aufgaben, studieren
Vorbilder, erleben alle Freuden und Enttäuschungen des Schöpfertums, natür-
lich in jener Verkleinerung und Gewichtslosigkeit, die für das Jugendleben
allgemein charakteristisch ist.
Noch wichtiger, aber zugleich noch schwieriger zu ermitteln als bei Briefen
und Aufsätzen sind 9. die Anlässe und Umstände der Entstehung bei Ge-
dichten und literarischen Versuchen. Wenn wir z. B. bei einem jungen Gymnasial-
schüler feststellen können, daß seine private Lektüre ausschließUch Heine
ist, werden uns bestimmte lyrische Gedichte aus seiner Feder vielleicht gar
nicht überraschen, die uns ohne solche Kenntnis der stillschweigend wirksamen
Muster in ganz anderem Licht erscheinen müßten.
Erforderlich für die Interpretation und Bewertung der Leistung ist auch
die Kenntnis der Vorarbeiten, ersten Notizen, des Brouillons, der Skizze, die
Kenntnis der Verbesserungen und der Gründe für sie. Aber haben wir schon
bei den Werken der großen Literatur nur ausnahmsweise noch die Vorarbeiten,
Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden 345
so pflegt der jugendliche Schriftsteller mit Absicht alles zu vernichten, was
er auf dem Weg bis zur Vollendung hinter sich gelassen hat.
Endlich sollte ein literarisches Produkt nur im Zusammenhang mit anderen
Sprachzeugnissen seines Urhebers gewürdigt werden. Ohne jede Ahnung
seiner Sprechsprache, seines Briefstiles, seiner Schulaufsätze muß der fremde
Beurteiler in vielen Fällen zu irriger Einschätzung kommen.
An der literarischen Produktion haben Jugendpsychologie und Pädagogik
ein vielfaches Interesse, vor allem an ihrem Inhalt, den seehschen Dimensionen,
in denen er sich bewegt. In diesem Zusammenhang ist jedoch von ihnen
ausschließlich als Sprachzeugnissen die Rede. Daß sie das auch sind, unter-
Uegt keinem Zweifel, ohne daß deshalb hier schon alle Gesichtspunkte klar-
gelegt zu werden brauchen, denen die Auswertimg gerecht werden muß.
Das Protokoll des Lebensgespräches, der spontane Bericht, der abgeforderte
Bericht, die Wiederholung mit eigenen Worten, der Formulierungsversuch,
der Brief, der Aufsatz und der literarische Versuch sind Hilfsmittel, mn uns
ganz allgemein Belege über die aktive Seite der Sprache von Kindern und
Jugendlichen zu unterrichten, liefern Materialien, aus denen wir auf den Stand
seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit schließen können. Wir müssen wo-
möglich Belege jeder Art für das einzelne Kind heranziehen und dürfen sicher
keine Generahsation über die Sprache der Kinder und der Jugend überhaupt
ableiten, die nicht auf alle diese Materialquellen basiert sind.
Über die rezeptive Seite des Sprachbewußtseins, über Sprach auf fassung,
Sprachverständnis, Sprachgeschmack und Sprachkritik müssen wir uns teilweise
noch auf anderen Wegen informieren. Gewiß zeigen z. B. das Lebensgespräch
oder auch die Wiedergabe den Grad des Verständnisses an, aber es ist eine
durch die Forschung viel bestätigte Beobachtung, daß das Sprach Verständ-
nis an Umfang und Feinheit das aktive Selbstsprechen weit übertrifft; jeder
versteht mehr Worte als er selbst gebraucht, Redewendungen und Ver-
bindungen, die er nicht anwendet; das Sprachverständnis ent«'ickelt sich
auch früher als das aktive Selbstsprechen, anders als das aktive Sprechen.
Wenn wir also nm- das im aktiven Ausdruck steckende Sprach Verständnis
prüfen, könnten wir dies nicht in seiner ganzen Entwicklung fassen.
Von den Hilfsftiitteln, die uns zur Prüfung des Sprachverständnisses zur
Verfügung stehen, und die sich leichter experimentell gestalten lassen, ver-
dienen Hervorhebung: 10. Die sprachlichen Auffassungserhebungen.
Meistens sind sie bisher in quantitativer Absicht ausgebaut worden; man
wollte den Umfang der Sätze ermitteln, den Kinder dieses oder jenes Alters
auf Grund einmaligen Hörens gerade noch behalten können. Nichts hindert
jedoch, diese Versuche auch zu quahtativen Feststellungen über Art und Grenze
des Verständnisses auszubauen.
Ich erwähne z. B. den einfachsten Versuch dieser Art, der ermittelt, ob ein
Kind, das ausschließüch das Patois seiner Gegend gehört hat und nm- Dialekt
sprach (also vor dem Schuleintritt), einen hochdeutschen Satz versteht, der
inhalthch einem längst verstandenen Dialektsatz ganz genau entspricht. Andere
Varianten des Versuches ergeben sich, wenn man einen Gedanken auf ver-
schieden sch\sierige Weise ausdrückt, wenn man schließlich Sätze wählt, die
ihrem Inhalt und Bau nach sicher über den Horizont des Kindes oder Jugend-
lichen hinausgehen. Gerade dabei wird es interessant sein , festzustellen,
welche Einzelheiten etwa noch verstanden, wie das übrige geraten, ergänzt,
346 Aloys Fischer, Sprachpsychologische Untersuchungsmethoden
erfunden, schließlich mißverstanden wird. Wir erhalten in die Psychologie
der Mißverständnisse und falschen Auffassungen wertvolle Einblicke.
Der Auffassungsversuch kann auch zum Leseversuch umgeändert werden,
bei dem der aufzufassende und zu verstehende Text ohne die Hilfen des
lebendig sprechenden Menschen, ohne Unterschied der Betonung dargeboten
•\-7ird und die Versuchsperson selbst sich erst (nach Überwindung des
mechanischen Teils der Leseschwierigkeit^n) in den Sinn und Zusammen-
hang einfühlen muß, bis ihr das Verständnis aufgeht.
Aus der Lesestunde der Kinder wissen wir, daß ein inhaltlich unbekanntes
Lesestück viel schlechter gelesen wird als ein vei-wandtes, dessen Inhalt voi*
her besprochen wurde, daß isolierte Sätze von einiger Länge zu mehr Ver-
lesungen Anlaß geben als Sätze in einem zusammenhängenden Stück, weil
die Verständnishilfen hier größere sind, sich allmählich summieren, das ge-
lesene Stück schon auf das erstfolgende vordeutet. Alle diese Verhältnisse
legen uns den Gedanken nahe, die Methodik der Untersuchung des Sprach-
verständnisses in dieser Richtung auszubauen.
11. Die Interpretationvon vorgetragenen oder gelesenen Zusammenhängen
ist ein weiteres, freilich unter dem Einfluß von schulischen Hilfen stehendes
MitteL Ob die Interpretation so einfach ist, wie bei der Bedeutungserklärung
eines "Wortes oder so kompliziert, wie bei der Analyse einer Dichtung, macht
innere Unterschiede in der Handhabung der Methode aus, ist aber kein Ein-
wand gegen ihre Verwendung zur Prüfung des Sprachverständnisses. Auf
frühkindlicher Stufe freilich wird man sich mit der einfachsten Form von
Interpretation zufrieden geben z. B. mit einer Reaktion, die zeigt, daß das
fragliche Wort, der fragliche Ausdruck ungefähr verstanden ist, mit einem Satz,
in dem es richtig verwendet wird. Je länger die Schuleinflüsse wirken, je
mehr die Art der Schule ein Interpretieren übt, desto höhere Anforderungen
dürfen wir an das in Interpretation auswirkbare Sprachverständnis stellen.
An letzter Stelle dürften 12. statistische Ermittelungen über die
Privatlektüre zu nennen sein. Solche liegen schon vielfach vor, in päda-
gogischem Interesse gemacht, um Anhaltspunkte zur Bekämpfung der kind-
lichen und jugendlichen Neigung zum Schund zu finden, aus psychologischen
Gründen, um der Interessenverteilung in der Kinderwelt auf die Spur zu
kommen oder um zu ennitteln, ob Kinder lieber selbst lesen oder sich lieber
vorlesen lassen, lieber laut oder leise lesen und andere teils wertvolle, teils
müßige Fragen zu beantworten. Auch für die Prüfung der rezeptiven Sprach-
fähigkeiten kann die Lektüre herangezogen werden. Man denke nur z. B.
an den Vergleich zwischen der Höhe des mündlichen und schriftlichen Aus-
drucks eines Schülers auf der einen, der Stilhöhe seiner Lieblingslektüre auf
der anderen Seite, oder an die Fragen der Beeinflussung der Ausdrucksfähig-
keit durch die Lektüre, die man in pädagogischen Kreisen so gern betont,
obgleich sie noch niemals mit einwandfreien Methoden und in umfassender
Weise zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht worden ist.
Zu allen diesen Quellen, die uns für die Masse, den Durchschnitt zur Ver-
fügung stehen, ungleich ergiebig und verschieden zuverlässig, aber zusammen
v^ohl iinstande, uns zu belehren, treten nun 13. die Ausnahmefälle der
Sprach entwickln ng, sowohl jene an der untersten wie an der obersten
Grenze, pathologische Verkümmerung und Unentwickeltheit der sprachlichen
Fähigkeiten wie auffallende Frühreife und Sonderbegabung für sprachlichen
Kleine Beiträge und Mitteilungen 347
Ausdruck; es müssen herangezogen werden 14. die Sprachfehler und
Sprachdefekte, auch die in der Breite der Norm liegenden, im Laufe der
Entwicklung sich bessernden oder durch Unterricht und Übung heilbaren, und
15. stellt das Verhältnis zu fremden Sprachen eine letzte Möghchkeit
dar, sich über Sprachbe\\nißtsein und Sprachentwicklungsstand zu informieren.
Man denke nur an die psychologisch so ungemein wertvollen Einblicke, die
wir bei der Übersetzung aus fremden Sprachen in uns selber tun können,
die in den Finessen einer Synonymik stecken, und an die geradezu über-
raschende Verschiedenheit unserer Schüler im Hinblick auf die verschiedenen
Einzelleistungen des fremdsprachlichen Unterrichts, etwa an den auffallenden
Unterschied der Leistung bei der Übersetzung ins Lateinische im Vergleich
zur Leistung bei der Version, den wir gerade bei intelligenten, sprachbegabten
Schülern nicht selten finden. Sprechen wird nicht rational erlernt, durch ein
Mosaik von Regeln und bewußten Anwendungen, sondern durch Einfühlung
in den Geist einer Sprache. Und diese Fähigkeit kann noch als Komponente
des Sprachbewußtseins und der Sprachbegabung (wenn man von einer solchen
reden darf) analysierend herausgehoben werden.
Dieser Überblick soll nichts als zeigen, auf wie vielen und w^ie verschiedenen
Wegen man das Studium der individuellen Sprache in Angriff nehmen kann,
in Angriff genommen hat. Es ist erklärlich, daß die Forschung nicht immer
zu einstimmigen Ergebnissen kam, selbst wenn direkte Fehler und Nachlässig-
keiten ihre Arbeit nicht außerdem geschädigt haben. Wenn die Wiederkehr
derselben vermieden werden soll; dann muß die Methodik selbst neu durch-
dacht und durchgebildet werden. Das kann aber nicht mehr „im allgemeinen"
geschehen — es gibt für sprachpsychologische Forschung so wenig eine Universal-
methode wie für andere Wissenschaftsgebiete — sondern nur im Hinblick auf
präzis gestellte und scharf abgegrenzte Einzelprobleme. Mit der Darstellung
der dafür heute möglichen oder gar schon erprobten Methoden sind wir beim
Kern unserer Aufgabe angelangt. Daß sie alle Einzelprobleme gefunden habe,
darf die folgende Übersicht nicht behaupten; aber weil mit jedem neuen
Problem auch die Methodenfrage neu auftaucht und alle Spezialisierung der
Methodik doch von einem allgemeinen Boden erfolgt, durch Fortbildung, Ab-
änderung, Anpassung vorher schon gebrauchter ungefährer Verfahren, so war
der vorstehende 'Überblick geboten und unvermeidlich. (Fortsetzung folgt.)
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Die Schulforderungen des Deutschen Lehrervereins haben nach den
Beschlüssen der 27. Vertreterversammlung am 10., 11. und 12. Juni 1919
nunmehr die folgende Fassung erhalten:
L Wesen und Aufgabe der Schule.
1. Der Volksstaat beruht auf der Erziehung aller Staatsbürger zur höchsten
Leistungsfähigkeit und vollen sittlichen Verantwortlichkeit. Die öffentliche
Schule muß daher der gesamten Volksjugend die Möglichkeit bieten, alle
Anlagen und Kräfte des Körpers und des Geistes auszubilden.
2. Damit dem Bildungserwerb keinerlei Hindemisse und Beeinträchtigungen
entgegenstehen, muß die öffentliche Schule eine einheitlich aufgebaute und
348 Kleine Beiträge und Mitteilungen
nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung einheitlich verwaltete Volks-
bildungsanstalt sein, deren Zweige und Stufen unter sich eng verbunden sind,
3. Das Berechtigungswesen in seiner heutigen Gestalt ist aufzuheben. Der
Zugang zu bestimmten Berufen und Berufsschulen darf nicht vom Besuch
bestimmter Schularten und Schulstufen abhängig gemacht werden, sondern
muß allen Anwärtern offen stehen, die ihre Eignung durch tatsächhche
Leistungen bekunden. Zu den Berufsschulen in diesem Sinne sind auch die
Hochschulen zu rechnen.
II. Schulpflicht.
1. Die Schulpflicht beginnt frühestens mit dem vollendeten 6. Lebensjahre
und endet mit dem vollendeten 18. Lebensjahre. Mindestens 8 Jahre hindurch
ist ihr in Schulen mit vollem Tagesunterricht zu genügen, weiterhin entweder
in solchen oder in den für beide Geschlechter verbindlichen Fortbildungs-
schulen, die als Erziehungsschulen auf beruflicher Grundlage auszubauen sind.
2. Für Kinder vom vollendeten 3. Lebensjahre an sind öffentliche Kinder-
gärten einzurichten, deren Besuch im allgemeinen freiwillig, aber für Kinder,
denen eine geordnete häusliche Erziehung nicht zuteil wird, pflichtgemäß ist.
3. Der Erfüllung der Schulpflicht dienen die öffentlichen Bildungsanstalten,
'deren Besuch völlig unentgeltlich ist. Über das schulpfUchtige Alter hinaus
sind vom Staat Bildungsmöglichkeiten zu schaffen.
4. Alle privaten Schulunternehmungen, die die Kinder nach Stand, Ver-
mögen und Bekenntnis der Eltern absondern, sind abzulehnen. Nicht-
öffentliche Schulen als Ersatz für die Schule der allgemeinen Schulpflicht
sind nur ausnahmsweise für besondere Fälle aus ernsten erzieherischen Be-
dürfnissen und sachlich zwingenden Gründen zuzulassen. Sie unterstehen
wie die öffentlichen Schulen der staatlichen Beaufsichtigung. Privatschulen,
die als Ersatz für öffentliche Schulen gelten sollen, dürfen nicht aus öffent-
lichen Mitteln unterstützt werden,
m. Aufbau.
1. Da sich die Anteilnahme am Leben und Schaffen des Volkes grund-
sätzlich nach Befähigung und Neigung entscheiden muß, so kann auch die
Zulassung zu den öffentlichen Bildungsanstalten nur nach diesen Grundsätzen
erfolgen. Das gesamte öffentliche Bildungswesen muß darum nach dem
Plan der Einheitsschule aufgebaut werden, der Unentgeltlichkeit des Unterrichts
und der Unterrichtsmittel für alle Zöglinge und erhöhte Fürsorge durch
Unterhaltsbeihilfen für Unbemittelte zur Voraussetzung hat,
2. Für blinde, schwachsichtige, taubstumme, schwerhörige, sprachleidende,
schwach befähigte, krankhaft veranlagte, sittlich gefährdete sowie für Krüppel-
kinder ist erzieherisch und unterrichtlich besonders zu sorgen.
4. Schulen der verschiedenen Arten und Grade sind, entsprechend den
tatsächhchen Bedürfnissen, in ausreichender Zahl einzurichten und auf das
Staatsgebiet zu verteilen.
IV. Schule und Religionsunterricht.
1. Die öffentlichen Schulen sind gi-undsätzUch für Kinder aller Bekenntnisse
gemeinsam.
2. Die Schule erblickt in der Erziehung zur sittUchen Persönlichkeit ihre
höchste Aufgabe und sucht diese durch das gesamte Schulleben zu pflegen.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 349
3. Der Religionsunterricht als besonderes Lehrfach ist Sache der religiösen
Gemeinschaften.
4. Der Staat und die Gemeinden überlassen den Religionsgemeinschaften
auf Antrag die Schulräume zu den für die Schule geeigneten Zeiten.
5. Die Lehrer haben das Recht, sich an der religiösen Unterweisung durch
freien Vertrag mit den religiösen Gemeinschaften zu beteihgen.
6. Kein Kind darf gegen den Willen der Erziehungsberechtigten zur Teil-
nahme am Religionsunterrichte gezwungen werden.
V. Hilfseinrichtungen der Schule.
1. In der Schulkinderfürsorge ist der Einfluß der Schule sicherzustellen.
2. Die gesamte schulpflichtige Jugend ist schulärztlich zu überwachen.
3. Die bestehenden Einrichtungen zur Ergänzung und Verbesserung der
Ernährung, Bekleidung, Unterbringung und Beschäftigung der Kinder in
Kleinkinderbewahranstalten, Kindergärten, Kinderhorten, Heimschulen, Schüler-
werkstätten, Lehrlingsheimen, Ferienkolonien, Waldschulen, auf Schulwan-
derungen, im Landaufenthalt usw. sind zu erweitern und zu vervollkommnen.
4. Darüber hinaus sind je nach Bedarf mit den öffentlichen Schulen Ein-
richtungen (Schülerheime) zur teilweisen oder völligen Verpflegung, Bekleidung
und Unterbringung besonders der auswärtigen Schüler zu verbinden, deren
Benutzung für unbemittelte Schüler ganz oder teilweise unentgeltlich ist.
5. Für abgehende Schüler ist unter Mitwirkung der Schule eine sachgemäße
Berufsberatung zu schaffen.
VI. Lehrerbildung.
1. Die Lehrerbildung ist im Geiste und nach den Anforderungen der Ein-
heitsschule einheitlich, aber den mannigfachen Anforderungen der einzelnen
Bildungszweige und Bildungsstufen entsprechend im einzelnen vielseitig und
mannigfaltig zu gestalten.
2. Die grundlegende Vorbildung wird darum auf den zur Hochschule
führenden allgemeinen und Berufsschulen gemeinsam mit den Anwärtern
anderer wissenschaftlicher und technischer Berufe, keinesfalls auf gesonderten
Anstalten vermittelt.
3. Die erziehungswissenschafthche Fachbildimg erfolgt auf der durch eine
erziehungswissenschaftliche Abteilung (Fakultät) erweiterten Universität.
4. Die für Ober- und höhere Berufsschulen erforderliche fachwissenschaft-
Uche, künstlerische und berufstechnische Bildung wird durch entsprechende
Hochschulstudien erlangt, kann aber auch durch Selbstbildung erworben
werden.
5. Die erziehungswissenschaftliche Abteilung der Universität ist so einzu-
richten, daß neben der Einführung in die Erziehungswissenschaft die
praktische Vorbereitung für den Lehrerberuf in vielseitiger und den einzelnen
Schulverhältnissen entsprechender Weise erfolgt. Innerhalb der erziehungs-
wissenschaftlichen Abteilung bestehen darum auch besondere Einrichtungen
für die Ausbildung der technischen sowie der Lehrer an Heilerziehungs-
und an Berufsschulen.
6. Für die Fortbildung aller Lehrer sind Schulsammlungen, Büchereien
und erziehungswissenschaftliche und fachwissenschaftliche Vorlesungen und
Übungen einzurichten und bestehende Einrichtungen durch ausreichende
360 Kleine Beiträge und Mitteilungen
staatliche Unterstützung zu entwickeln. Jeder Lehrer erhält von Zeit zu
Zeit einen Urlaub Zum Besuch dieser Einrichtungen sowie zum Besuch
anderer Schulen und Erziehungsanstalten.
VII. Förderung und Pflege der Erziehungswissenschaft.
1. Auf der Hochschule muß die Erziehungswissenschaft nicht nur Gegen-
stand der Lehre, sondern auch der Forschung sein, besonders nach ihrer
Beziehung zu Staat, Gesellschaft und Wirtschaft.
2. Zur Prüfung und Verbesserung aller inneren und äußeren Schulver-
hältnisse, der Erziehung, des Lehrverfahrens, der Auswahl und Gestaltung
der Unterrichtsstoffe, der Lehrmittel, der Schulgebäude usw., zur erziehungs-
wissenschaftlichen Bearbeitung der Schulzählungen, zur Beobachtung der
Entwicklung des Schul- und Erziehungswesens im Auslande ist in jedem
Lande ein ständiger Ausschuß aus Lehrern aller Schulgattungen und Nicht-
schulmännern der verschiedensten Lebensgebiete und Gesellschaftsschichten ein-
zusetzen, der sich, je nach dem Beratungsgegenstande, durch Sachkundige ergänzt.
3. Diesem Ausschuß liegt es auch ob, neue Vorschläge in erziehungs-
wissenschaftlichen Schriften zu behandeln sowie ihre Erprobung in Schul-
versuchen, Versuchsklassen und Versuchsschulen im Rahmen der öffentUchen
Schuleinrichtungen anzuregen, insbesondere auch alle von anderer Seite
kommenden Vorschläge zu prüfen.
Vin. Anstellung, Besoldung und Amtsbezeichnung der Lehrer.
1. Die Anstellung der Lehrer erfolgt durch den Staat, die Amtsübertragung
unter Mitwirkung der Selbstverwaltungskörper und unter Berücksichtigung
der Wünsche der Lehrenden.
2. Für alle Lehrer und Lehrerinnen des Staates besteht eine einheitliche
Besoldungsordnung. Die Lehrer und Lehrerinnen sind unter gerechter
Würdigung ihrer Vorbildung und ihrer Arbeit in den Gesamtplan der staat-
lichen Besoldungen einzuordnen.
3. Für den Lehrerstand werden einheitliche, die Ajntsstellung einfach und
schlicht angebende Amtsbezeichnungen eingeführt.
IX. Freiheit und Selbständigkeit des Lehrerstandes.
1. Mit dem Lehi-amt dürfen kirchHche und sonstige Dienstleistungen nicht
a ratsgemäß verbunden werden.
2. Alle das Gewissen bedrückenden, die-Freiheit der Lehre und die staats-
bürgerliche Betätigung der Lehrer einschränkenden Bestimmungen und Ein-
richtungen sind zu beseitigen. Auch darf die Berufung eines Lehrers in
Ämter der Schulverwaltung oder Schulaufsicht nicht von seiner Parteistellung
abhängig gemacht werden.
X. Schulgesetzgebung, Schulverwaltung und Schulaufsicht.
1. Die Schule ist eine Veranstaltung des Staates, die Lehrer und Lehrerinnen
sind Staatsbeamte.
2. Das Reich hat unter Trennung der Schule von der Kirche und unter
Anerkennung der notwendigen Selbständigkeit der Schule ein Reichsschul-
gesetz zu erlassen, das die Einheitlichkeit des deutschen Erziehungswesens
und ein Mindestmaß von Bildung gewährleistet.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 361
3. Eine oberste Reichsbehörde für das Bildungswesen, der ein aus er-
ziehungskundlichen Fachleuten und Vertretern der verschiedenen Berufs-
stände zusammengesetzter Reichserziehungsrat zm* Seite steht, sorgt für die
Wahrung der notwendigen Einheitlichkeit der Bildungs- und Erziehungs-
einrichtungen.
4. Die Landesschulgesetzgebung dmch die gesetzgebenden Körperschaften
hat sich auf ein Rahmengesetz mit allgemeinen Richtlinien zu beschränken.
Die Durchführung im einzelnen ist Sache der Selbstverwaltung. Ohne Zu-
stimmung der obersten Selbstverwaltungsstellen soll keine Änderung der
Schulgesetze möglich sein,
5. Die Schulverwaltung ist nach den Grimdsätzen der Selbstverwaltung
einheitlich für alle Schulgattungen zu gestalten. Sie geschieht auf allen
Stufen durch Verwaltungskörper, die aus gewählten Lehrern aller beteiligten
Schularten und aus Vertretern aller Volkskreise zusammengesetzt sind, im
Zusammenwirken mit Behörden des Staates. Fachbeiräte müssen ihnen zur
Seite stehen.
6. Die mehrklassige Schule leitet und verwaltet der Lehrkörper unter dem
Vorsitz eines von ihm auf Zeit gewählten Schulleiters (Obmannes). Das
Schulleitungsamt ist ein Ehrenamt. Besondere Prüfungen sind vom Schul-
leiter nicht zu fordern. Der Schulleiter ist nicht der Vorgesetzte der übrigen
Lelu-er. Jeder festangestellte Lehrer ist in seiner Arbeit selbständig.
7. Die Schulaufsicht ist ausschüeßlich Sache des Staates. Sie ist durch
Fachleute auszuüben, die vom Staat unter Mitwirkung der Lehrerschaft in
ihr Amt berufen werden. Die Berufung in den Aufsichtsdienst ist nur von
der Bewährung im Amte abhängig zu machen.
8. An den einzelnen Schulen sind Elternbeiräte zu bilden, die als Vertreter
der Schulgemeinde an der Verwaltung der äußeren Angelegenheiten teil-
nehmen. Den Elternveitretungen und sonstigen fachkundigen Staatsbürgern
ist auch auf den verschiedenen Stufen der Schulverwaltung ein angemessener
Einfluß zu sichern.
Allgemeine Grundsätze zur Neugestaltung des Schulwesens sind vom päda-
gogischen Ausschuß des Zentralinstitutes für Erziehung und Unter-
richt aufgestellt worden. Sie sind hervorgegangen aus Verhandlungen, zu
denen Verti-eter der wichtigeren Lehrerverbände und der Hochschullehrer-
schaft hinzugezogen waren, und sie sollen Vorschläge bieten für die vom Reichs-
ministerium in Aussicht genommene Reichsschulkonferenz. Man einigte sich
auf eine Reihe von Leitgedanken, aus denen folgende hervorgehoben seien:
„Das gesamte öffentliche Schulwesen soll auf einer gemeinsamen Grund-
schule aufgebaut und vom Geiste der Selbstv^erwaltung und Selbsh-egierung
durchdrungen sein."
„Die neue Schulorganisahon muß alle die mannigfachen Schularten, die
sie den Begabungen und Berufen gemäß einzurichten hat, in stufen\veiser
Abzweigung aufbauen, in ein einheitliches System mit tunUchst zahlreichen
Übergangsmöglichkeiten bringen und unter einheitliche behördliche Leitung
stellen."
„Alle Schulgesetze dürfen nur Rahmengesetze sein, innerhalb deren die
Freiheit der einzelnen Schulträger nicht beeinträchtigt werden darf."
352 Kleine Beiträge und Mitteilungen
Von Einzelheiten der Neugestaltung, über die man sich mit großer Mehr-
heit verständigte, seien folgende erwähnt:
„Die gemeinsame Grundschule muß mindestens vierjährig sein; es soll aber
den Schulträgern gestattet sein, den gemeinsamen Unterricht bis zu sechs
Jahren weiter auszubauen. Versuche mit der weiterausgebauten Grundschule
sind in möglichst weitem Umfang ohne Verzug zuzulassen."
„Als geradlinige Weiterführung der Volksschulen sollen Aufbauschulen
als neue Form der höheren Schulen eingerichtet werden."
„Die Aufbauschule ist vornehmlich als Sammelschule einzurichten zur Auf-
nahme der besonders beanlagten Schüler und Schülerinnen vom Lande und
aus kleinen Städten."
Über den Ausbau der einzelnen Schularten, insbesondere der Aufbauschule
und der Mittelstufe des Gesamtschulwesens mit Einschluß des Fortbildungs-
und Fachschulwesens, sowie über die Fragen der Lehrerbildung und der
Schülerauslese sollen noch besondere Ausschußberatungen stattfinden.
Eine Neuordnung der Niederösterreichischen Landeslehrerakademie ist im
Gange. Gegenwärtiger Leiter der Anstalt ist Prof. Dr. Willibald Kammel, der
dort das pädagogisch-psychologische Laboratorium seinerzeit begründet und
bisher geleitet hat — eine Arbeitsstätte die immer mehr in ein Institut für
Jugendkunde umgewandelt werden soll und als solches die Aufgabe erhält,
besonders die Begabungsforschung und Berufspsychologie zu betreiben. Neu
geschaffen werden an der Akademie eine Reihe Seminare, so für Heimat-
kunde, Deutschkunde, Arbeitsschulbewegung, Kunstpädagogik und Heil-
pädagogik. In der deutschkundlichen Abteilung soll u. a. auch das Jugend-
schriftenwesen eine besondere Pflege finden. Dem Seminar für Arbeits-
schulbewegung werden Werkstätten angegliedert. Zur Verwertung der in den
einzelnen Instituten erzielten Forschungsergebnisse ist eine neue Zeitschrift
„Die pädagogische Akademie" begründet worden; sie wird Beiträge zur theo-
retischen und praktischen Pädagogik und deren Hilfswissenschaften bringen.
Begabtenschulen in Deutschösterreich sind die drei staatlichen Erziehungs-
anstalten Wien-Breitensee, Wiener Neustadt und Traiskirchen. Sie verfügen
über die besten Lehrmittel und über besonders geeignete Lehrkräfte. Unter-
richt und Verpflegung im Schulheim (Internat) sind kostenfrei. Für das
kommende Schuljahr wurden 180 Stiftungsplätze in den ersten Klassen aus-
geschrieben. Etwa verbleibende Plätze werden gegen Bezahlung vergeben.
Die Aufnahme erfolgt nach dem vierten Volksschuljahr. Gefordert wird,
daß im Rechnen und in der Sprache das Zeugnis „gut" erlangt ist. Die
Leitung der Schule, der das Kind vorher angehörte, ist verpflichtet, beim
Unterrichtsamte einen Schülerbeschreibungsbogen einzusenden.
Die amtliche Einführung des pädagogisch-psychologischen Aufnahmever-
fahrens in Deutsch -Österreich ist durch Erlaß des Unterstaatssekretärs für
Unterricht Otto Glöckel angeordnet worden. Es wird darnach für den Über-
gang der Volksschüler und -Schülerinnen in die unterste Klasse der höheren
Schulen ein pädag.-psych. Verfahren angewandt, das der in Deutschland ein-
geführten Begabungsauslese ähnelt. Unter ausdrücklichem Hinweis auf die
Ergebnisse der modernen Psychologie fordern die Bestimmungen:
Kleine Beiträge und Mitteilungen 353
„Die Auswahl der sich zur Aufnahme in die unterste Mittelschulklasse
meldenden Schüler (Schülerinnen) hat zu erfolgen
a) auf Grund von Schülerbeschreibungen, die über die beim Schüler während
des Volksschulunterrichtes gemachten Wahrnehmungen Aufschluß geben;
b) auf Giiind einer Aufnahmeprüfung, durch die nicht bloß das Ausmaß
der erworbenen Kenntnisse, sondern hauptsächlich die Begabung des
Schülers festgestellt werden soll."
Für die Schülerbesctu-eibung wird ein Schema vorgelegt, das, wie es scheint,
dem Hamburger Beobachtungsbogen nachgebildet ist, doch haben Kürzungen
und Änderungen stattgefunden. Über die Aufnahmeprüfung, die von den
Lehrern der aufnehmenden Schule abzuhalten ist, heißt es:
„Da sich die Aufnahmeprüfung nicht bloß auf die Feststellung eines be-
stimmten Ausmaßes von durch den Volksschulunterricht erworbenen Kennt-
nissen beschränken, sondern die für den Eintritt in die Mittelschulstudien
ausreichende Begabung des Schülers feststellen soll, sind bei der Aufnahme-
prüfung einerseits die Aufgaben und Fragen nach psychologischen Gesichts-
punkten auszuwählen und andererseits die Leistungen der Prüflinge entspre-
chend dem gegenwärtigen Stande der Begabungsdiagnostik zu beurteilen.
Es kommen daher in erster Linie Aufgaben und Fragen in Betracht, die
in ihren Lösungen Art und Grad der Begabung (Auffassung, Gedächtnis,
Arbeitsart, sprachUche Ausdrucksfähigkeit usw.) deutlich erkennen lassen."
Die genauen Anweisungen findet man abgedruckt in dem amtlichen Teil
der „Volkserziehung; Nachrichten des deutsch- österreichischen Unterrichts-
amtes" 1919, Stück 11. Im pädagogischen Teil desselben Heftes sind eine
Reihe erläuternder Aufsätze über Begabungsproblem, Begabungsprüfung und
Schülerbeschreibung enthalten.
ErstmaUg soll diese Aufnahmeform , die eine psychologisch gut geschulte
Lehrerschaft voraussetzt, bereits im Herbst 1919/20 zur Anwendung kommen.
Eine Warnung vor dilettantischer Anwendung von Testprüfungen geht
von dem Hamburger psychoFogischen Laboratorium aus. Es laufen dort jetzt
fast täglich Anfragen und Bitten mn Testmaterial ein. Auch andere Institute
berichten von solchem Eifer, ebenso die Schriftleitungen einiger Fachzeit-
schriften. Daß sich hierin eine Gefahr für die päd. Psychologie wie auch
für die Schule auftut, ist von Fachmännern \siederholt nachdrücklich betont
worden. Das Hamburger psychologische Laboratorium warnt erneut vor ge-
fährhchem Übereifer, indem es den Beantwortungen der Anfragen die folgende
„Mitteilung" beilegt.
Angeregt durch die Veröffentlichungen des psychologischen Laboratoriums in Hambui^,
ergehen in letzter Zeit an dieses Institut viele Fragen über die Anstellung von Teslprüfungen
Die Fragesteller haben meist den Wunsch, diese Methoden selbst praktisch anzuwenden.
So erfreulich das rege Interesse für dieses Gebiet der experimentellen Psychologie ist und
60 wünschenswert es ist, daß die in der Praxis stehenden Pädagogen sich durch eigenes Erproben
experimenteller Metboden ein Urteil über sie bilden, so notwendig erscheint es doch, auf die
folgenden Punkte nachdrücklich hinzuweisen :
1. Jede Testprüfimg ist ein psychologisches Experiment und unterscheidet sich in wesent-
lichen Punkten von irgendwelchen Maßnahmen und Aufgabestellungen des praktischen Unter
richts und der Erziehung.
2. Jedes Experiment unterliegt also den Forderungen, die von der Methodik der psycholo-
gischen Wissenschaft aufgestellt werden. Diese Forderungen sind nicht so leicht zu erfüllen
als es auf den ersten Blick scheint Jedenfalls ist vollkommenes Vertrautsein mit der Arbei's-
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 23
354 Kleine Beiträge und Mitteilungen
weise experimentell-psychologischer Forschung und mit der Deutung psychologischer Ergebnisse
vor der Ausführung von Experimenten durchaus notwendig. Der durchschnittliche im Seminar
empfangene Psychologieunterricht reicht hierzu nicht aus; auch durch bloße Lektüre ist die
erforderliche Schulung und Technik nicht einwandfrei zu erwerben,
3. Ungenügend vorbereitete, ohne die nötige Sach- und Methodenkenntnis angestellte Experi-
mente, sowie die von falschen Gesichtspunkten aus durchgeführten Betrachtungen über wirkliche
oder vermeintliche Ergebnisse solcher Arbeiten können nicht nur den Ruf der wissenschaftlichen
Psychologie schädigen, sondern auch der gerechtfertigten Anwendung der Psychologie auf prak-
tisch-pädagogische Fragen bedauerlichen Eintrag tun.
Das Bremer Institut für Jugendkunde, ') unter dem Vorsitz von Dr. Theodor
Valentiner stehend, hat auch über die letzte schwierige Zeit hinaus seine
Tätigkeit fortgeführt. Die Reihe der veranstalteten Vorträge befaßte sich,
abgesehen von den sechs Vorlesungen, die Prof. Dr. W. Stern aus Hamburg
über das Begabungsproblem hielt, nicht mit jugendkundlichen Fragen, Da-
gegen lagen die wissenschaftlichen Arbeiten im engeren Gebiet der
pädagogischen Psychologie. Von einem Ausschuß ist ein neues Auslesever-
fahren für die Aufnahme der Schüler in höhere Schulen bearbeitet und der
Schulbehörde vorgelegt worden. Es bedient sich eines Beobachtungsbogens,
der — wie seine Bearbeiter meinen — wesentliche Fortschritte bringt. Eine
psychologisch statistische Untersuchung befaßt sich mit dem Religionsunter-
richte. Sie bediente sich des Weges der Umfrage. Über die Ergebnisse soll
demnächst berichtet werden. Im kommenden Jahre müssen zunächst die
begonnenen Arbeiten, insbesondere die Behandlung der Auslese der tüchtigen
Schüler ihre Fortführung erfahren. Daneben soll den Fragen des Jugend-
schriftenwesens besondere Mühe zugewandt werden. — Das Institut war
bisher wirtschaftlich nur auf die Zuwendungen von selten seiner Mitglieder
und Freunde gestellt. In seinem Weiterbestehen bedarf es aber dringend der
erbetenen staatlichen Unterstützung.
Die Abteilung für Jugendkunde in Chemnitz wurde Mitte 1911 als Abteilung
für experimentelle Psychologie und Pädagogik im Chemnitzer Lehrerverein
gegründet.
Sie verfolgt den Zweck, in die experimentelle Psychologie und Pädagogik
einzuführen und zugleich Anregung und Gelegenheit zu selbständigen wissen-
schaftlichen Arbeiten auf diesen Gebieten zu geben. Dazu dienen Vorträge
in regelmäßigen Wochenversammlungen, wissenschafthche Kurse und Aus-
führung wissenschaftlicher Untersuchungen, Den Mitgliedern steht eine
Bücherei der wichtigsten pädagogisch-psychologischen Schriften zur Verfügung,
Vor dem Kriege beschäftigte sich die Abteilung vorwiegend mit den psycho-
logischen Grundlagen des Rechnens, besonders der Zahlauffassung, und mit
Untersuchungen über die „Beliebtheit der Unterrichtsfächer", Die erste Arbeit
kam nicht zum Abschluß, während die zweite als Ergebnis zwei Arbeiten
von Artur Lode zeitigte: 1. „Die Beliebtheit und Unbeliebtheit der Unterrichts-
fächer" und 2. „Experimentelle Untersuchung über die Urteilsfähigkeit der
Schulkinder".
Eine umfassende Untersuchung über Kinderideale, die zugleich Material
zur Bewertung der Aussageversuche liefern sollte, konnte nicht abgeschlossen
^) Vergl. Bremer Schulblatt 1919, Nr, 10, S. 78: Institut für Jugendkunde (Jahresbericht vom
Schriftführer Fritz Heeger).
Kleine Beiträge und Mitteilungen 355
werden, da die Bearbeiter im Kriege blieben und das reiche Material verloren
ging. Nicht zum Abschluß gelangten leider auch, durch den Krieg ver-
schuldet, die „Nachprüfungen der Binet- Simon -Bobertagschen Tests" an
Chemnitzer Kindern. Seit Ostern arbeitet die Abteilung, die nun ihren Namen
in „Abteilung für -Jugendkunde" umänderte, mit meigt neuen Mitgliedern
(jetzt etwa 45 Damen und Herren). Arbeitsgebiet ist zur Zeit das „Be-
gabungsproblem". In einem längeren Kursus wurde die Entwicklung dieses
Fragengebietes behandelt. Neben der theoretischen Behandlung ging eine
Durchprüfung neuer Tests her. Den Abschluß brachte kürzlich die „Be-
arbeitung eines Individualbogens". In Angriff genommen wurde zuletzt das
Arbeitsthema: „Intelligenzprüfung nach Rossolimo".
Die Leitung der Abteilung liegt in den Händen der Herren Oberlehrer
Dr. Hans Keller und Artur Lode. Mitglieder der Abteilung können alle
Damen und Herren werden, die sich für das psychologisch-pädagogische
Arbeitsgebiet interessieren. Die wissenschaftlichen Kurse 'sind auch Nicht-
mitgliedern gegen Entrichtung eines Beitrages zugänghch.
Das pädagogisch-psychologische Laboratorium an der Niederösterreichi-
schea Landeslehrerakademie in Wien versendet den Bericht über sein 6. Ar-
beitsjahr. Es kennte, wenn auch beeinträchtigt durch widrige Zeitumstände,
seine Tätigkeit erfreulich fortführen. An der bei der Gründung gestellten
Aufgabe festhaltend, hat es auch in dem Jahr 1918/19 die Erziehungswissen-
schaft in empirischen Untersuchungen gepflegt und hat weiterhin durch Ver-
anstaltungen mannigfacher Art neben der Forschung auch der Lehre gedient.
Von dem Staatsamt für Unterricht ist der verdienstvolle Leiter des Labora-
toriums, Professor Dr. Willibald Kammel, mit seinem Assistenten wiederholt
zu Sitzungen beigezogen worden, in denen jugendkundliche Fragen zu ver-
handeln waren. Ebenso zeigten andere höhere Amtsstellen reges Interesse für
die sich in stetem Fortschritte entv^ickelnde Arbeitsstätte. Die Zuwendungen,
die das Laboratorium von der Niederösterreichischen Landesverwaltung erhält,
gestatteten einen weiteren Ausbau des Instrumentariums und der Bücherei.
Die Reihe der Gegenstände, die in einzelnen Untersuchungen von dem
Institute behandelt wurden, zählt auf: Messungen zur Beobachtung der kör-
perliehen Enhvicklung der Wiener Schulkinder — Die Ideale der Wiener
Schulkinder — Behebtheit und Unbeliebtheit der Unterrichtsfächer — Experi-
mentelle Untersuchungen über die mimischen und pantomimischen Ausdrucks-
symptome der Aufmerksamkeit in ihrer didaktischen Wertigkeit — Die
Periodizität der psychophysischen Energie — Bestimmung der Schulbahn
von verfrüht in die Schule eingetretenen Kindern — Prüfung der Unterrichts-
ergebnisse im elementaren Rechnen auf Grund der Läyschen Zahlbilder und
der Russischen Rechenapparate — Prüfung des heimatkundlichen Vorstel-
lungskreises von Wiener Schulkindern — Leseapparate zur Feststellung der
schnellsten und zugleich sichersten Lesbarkeit der im öffentlichen Leben am
häufigsten vorkommenden Farbenzusammenstellungen — Untersuchung der
Beziehungen zwischen Schädelumfang und Intelligenzgrad — Analyse des
Bewußtseinsinhalts neu eintretender Schüler — Psychologische Analyse des
Traumes bei Kindern — Die Psychologie des Gerüchtes — Vorversuche zur
Neugestaltimg der Aufnahmeprüfung an Mittelschulen — Untersuchungen über
die Psychologie des Wunderkindes.
23*
356 Kleine Beiträge und Mitteilungen
Aus diesen Untersuchungen und Verhandlungen ist wie in früheren Jahren
auch diesmal wieder eine Anzahl Veröffentlichungen hervorgegangen; andere
Abhandlungen sind für den Druck vorbereitet.
An Kursen veranstaltete das Laboratorium u. a. Vorlesungen an der Lehrer-
akaderaie über „Experimentelle Pädagogik" (Akademiedirektor Dr. W. Kam-
mel) und über „Schülerkunde" (Assistent Professor L. Battista), ferner die
Urania-Lehrkurse über „Erziehungslehre unter Berücksichtigung der experimen-
tellen Pädagogik" und über „Ausgewählte Kapitel aus der Kinderpsychologie",
schließlich einen Lehrgang über „die Psychologie und Pädagogik des Spieles"
zur Heranbildung von Horterzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Auch
eine sehr rege Vortragstätigkeit in Vereinen und wissenschaftlichen Ge-
sellschaften wurde entfaltet.
Die Neuregelung des deutsch-österreichischen Schulwesens stellt nach den
uns vorliegenden amtlichen Schriftstücken hohe Anforderungen an die psycho-
logische Schulung der Lehrerschaft. Man setzt dabei offenbar auch große
und gewiß berechtigte Hoffnungen auf das psychologisch-pädagogische Labo-
ratorium.
Das Laboratorium für industrielle Psychotechnik an der Technischen
Hochschule zu Charlottenburg. Auf Anregung von Prof. Schlesinger,
ord. Professor für Betriebswissenschaft und Werkzeugmaschinen an der Tech-
nischen Hochschule Charlottenburg, wurde von der Forschungsgesell-
schaft für betriebswissenschaftliche Arbeitsverfahren an derTech-
nischen Hochschule zu Charlottenburg die erste Hochschulforschungsstelle für
industrielle Psychotechnik geschaffen. Das Laboratorium ist als eine beson-
dere Abteilung dem Versuchsfeld für Werkzeugmaschinen und Be-
triebslehre eingegliedert und wird von dem Privatdoz. Dr. Walter Moede
geleitet. Die Betriebswissenschaft umfaßt an der Technischen Hochschule
einen technischen Teil, der sich mit der Einrichtung der Fabriken befaßt,
einen kaufmännischen Teil, der die kaufmännischen Organisationen behandelt
und einen psychotechnischen Teil, der sich auf die Menschen bezieht, ihre
Eignung für bestimmte Arbeitsposten sowie ihre Arbeitsverrichtungen, deren
günstigster Ablauf ebenfalls durch psychotechnische Studien zu gewährleisten ist.
Die beiden Hauptarbeitsgebiete des Laboratoriums sind daher Eignungs-
forschung sowie Rationalisierung der Arbeit auf Grund von Bewegungs-,
Zeit- und Ermüdungsstudien.
Die Hochschulvorlesungen umfassen die Fabrikorganisation, ein Spezial-
gebiet, das Prof. Schlesinger vorträgt, und Psychotechnik der industriellen
Arbeit, die von Dr. Moede abgehalten wird und Eignungsprüfung und Ra-
tionalisierung der Arbeits-, Anlern- und Absatzverfahren behandelt. Die
Psychologie der Reklame wird in der Absatztechnik kurz gewürdigt.
Zur Ergänzung der Vorlesung dienen Einführungskurse für Studierende
sowie Übungen für Fortgeschrittene. Außerdem ist ein großes psychotech-
nisches Praktikum eingerichtet für Ausführung selbständiger Arbeiten. Psy-
chotechnische Arbeiten in dem Laboratorium berechtigen zur Promotion an
verschiedenen Universitäten gemäß besonderen Vereinbarungen, sowie an der
Technischen Hochschule, wo der Dr. ing. erworben werden kann.
Neben diesen für die Hochschüler berechneten Kursen finden von Zeit zu
Zeit Spezialkurse statt für praktische Berufsberater und Betriebsingenieure
Kleine Beiträge und Mitteilungen 357
Der Erlaß der vereinigten Ministerien vom 19. März 1919 wünscht die Mit-
arbeit des Psychologen bei allen größeren Berufsberatungsämtern, und die
Beschlüsse des 10. Kongresses der deutschen Gewerkschaft fordern die Ein-
führung der Eignungsprüfung bei aUen angeschlossenen Organisationen. Bei-
spielsweise findet Anfang Oktober ein Kurs für Betriebsingenieure zur Aus-
bildung in der Eignungsprüfung des industriellen Lehrlings statt, an dem vor
allem die Leiter der industriellen Werkschulen teilnehmen werden. Im An-
schluß daran wird die Eignungsprüfung für Fahrerberufe gelehrt, wofür
zahlreiche Anmeldungen der Vertreter von Verkehrsgesellschaften vorliegen.
Die eigentliche Forschung und Begutachtungstätigkeit des Laboratoriums
richtet sich nach den Aufträgen der Industrie. Als erste Aufgabe wurde die
experimentelle Eignungsprüfung des industriellen Lehrhngs behandelt. Die
Bewährung der Methoden in der Praxis ergab sich auf Grund einer mehr-
fachen Eichung in Berliner Werkschulen. Die psychotechnische Eignungs-
prüfung des industriellen Lehrlings ist z. Zt. eingeführt in der A. E. G., bei
Loewe, bei Siemens & Halske, im Borsig-Werk, bei Fritz Werner, im Riebe-
Werk, bei Frister A. G. u. a., die teils in eigenen Laboratorien prüfen, teils
die Lehrhnge ins Laboratorium schicken oder diesem die ganze Auswahl
überlassen, die dann gemeinsam mit den Schulen der einzelnen Bezirke vor-
genommen wird.
Von Behörden senden Prüflinge: das Jugendamt der Stadt Berlin, das Be-
rufsamt, das besonders Handwerksstellen vermittelt, und die Deputation für das
höhere Schulwesen, die technisch Hochbefähigte schickt. Außerdem wird in
der Sprechstunde jeder Ratsuchende geprüft und beraten. Für die Prüfungen
sind feste Tarife festgesetzt.
Andere Aufträge beziehen sich auf Spezialarbeiter und -arbeiterinnen der
Fabriken. Außerdem \\airden Vorstudien abgeschlossen für den Telephondienst
und das Maurerhandwerk. Andere Aufträge wurden von Verbänden, Innungen
und anderen Vereinigungen erteilt und ausgeführt.
Über die Arbeiten des Laboratoriums wird laufend berichtet in der Monats-
schrift „Praktische Psychologie", die das gesamte Gebiet der ange-
wandten Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der Berufsberatung und
industriellen Psychotechuik behandelt. Im Anschluß hieran wird eine psycho-
technische Bibliothek herausgegeben, von der Band 1 die Betriebswissenschaft
und Psychotechnik erörtert, Band 2 der Lehrlingsprüfung gewidmet ist, wäh-
rend Band 3 die Prüfung und Ausbildung des Straßenbahners auf psycho-
technischer Grundlage darstellt und schließlich Band 4 der Leistungssteige-
rung durch Übungstherapie ge\^^dmet ist, (Verlag Hirzel, Leipzig.)
Dem Laboratorium stehen Institutsräume (mit Forschungs- und Übungs-
apparaten souie einer Handbibliothek) in Charlottenburg, Rosinenstr. 5 zur
Verfügimg, außerdem wird die frühere große Schießhalle der militärtech-
nischen Akademie benutzt, sofern die Untersuchungen große Räume und
besondere technische Einrichtungen, z. B. Kinematographen, Sand- und Stein-
massen und ähnliches erfordern. Als Assistenten sind am Laboratorium tätig
der Fachpsychologe Dr. R. W. Schulte und die Dipl.-Ingenieure W. Rinne,
Schilling, Hamburger, sowie cand. rer. pol. Meinhold, neben denen eine
Reihe von Mitarbeitern und Praktikanten weitere Assistenzdienste leisten.
Das Gebiet der industriellen Psychotechnik wird durch diese innige syste-
matische Zusammenarbeit von Fachpsychologen und praktischem Ingenieur
368 Kleine Beiträge und Mitteilungen
Schritt für Schritt erschlossen werden. Die Erfolge des hiesigen Hochschul-
laboratoriums haben Veranlassung gegeben zur Einrichtung ähnlicher Institute
an anderen Hochschulen.
Das Leipziger Prüf amt beschäftigt sich mit Eignungsprüfungen. Es ist
als privates Unternehmen gegründet worden von Rudolf Schulze, dem
wissenschaftlichen Leiter des Institutes für experimentelle Pädagogik und
Psychologie im Leipziger Lehrerverein, in Gemeinschaft mit dem Assistenten
dieses Institutes, Dr. Johannes Hand r ick, und dem als Herausgeber des
Pädagogischen Jahresberichtes bekannten Leipziger Lehrer Paul Schlager,
dem 1. Schriftführer des Institutes. Prüfamt und Institut arbeiten in steter
Verbindung. Für wissenschaftliche Untersuchungen stehen dem Prüfamt die
Apparate der Sammlung Schulzes zur Verfügung. Unter anderem befinden
sich darunter das von Schulze für Berufseignungsprüfungen konstruierte
Chronoskop mit Schlaghammer und Hilfsapparaten zur Untersuchung der
Willensvorgänge; ein Ergograph nach Dubois und ein Dynamometer nach
Collin zum Studium des Arbeitsvorganges; Ästhesiometer nach Spearman;
Farbkreisel, Reizhaare, Kälte- und Wärmekolben und ähnhche Apparate zur
Prüfung der Sinnesempfindlichkeit; für Massenuntersuchungen ein besonders
geeigneter Gedächtnisapparat und ein Tachistoskop zu Aufmerksamkeitsprü-
fungen (beide Apparate von Schulze konstruiert); ein Schallschlüssel nach
Römer für die genaue Messung von Lese- und Rechenzeiten und für andere
komplizierte Reaktionen; zur Untersuchung der Gefühlsvorgänge die bei
Anwendung der Ausdrucksmethode üblichen Apparate: Pneumograph (mit
Mareyschem Tambour) für Atraungsprüfungen und Sphygmograph zu Puls-
untersuchungen usw.; ein Tremometer zur Untersuchung der Eignung für
die Lenkerberufe (Fheger, Kraftwagen- und Straßenbahnführer usw.); für
die Prüfung einfacher geistiger Akte und für die Untersuchung der Dauer-
spannung der Aufmerksamkeit werden die im Verlag der Dürrschen Buch-
handlung herausgegebenen Schulzeschen Rechenhefte und Buchstabentafeln
benutzt; für die Untersuchung höherer geistiger Vorgänge die vom Institut
des Leipziger Lehrervereins hergestellten Lückentexte nach Ebbinghaus usw.
Das Prüf amt hat zunächst als Hauptaufgabe ins Auge gefaßt, über die
Eignungsprüfungen aufzuklären. Das geschieht durch Führungen und Vorträge
in denen die Vertreter der Arbeiterschaft und der Unternehmerkreise mit den
Methoden der Eignungsprüfungen unter Vorführung von Versuchen bekannt
gemacht werden. So hielten die Leiter des Prüfamtes Vorträge vor der Be-
ruf sgenossenschaft der Bauunternehmer Leipzigs, den Vertretern der großen
Firmen der Schwerindustrie, des Buch- und Verlagshandels, vor Angestellten-
verbänden und Arbeiterkörperschaften, vor Vertretern von Versicherungsan-
stalten und Transportgesellschaften.
Später sollen in Verbindung mit Unternehmern und Arbeitern in einzelnen
Betrieben Einzeluntersuchungen über die Eignung für die Betätigung an be-
sonderen Maschinen ausgeführt werden, unter anderem über die Eignung der
Arbeiter für den Farbendruck. Zur Zeit ist eine Untersuchung über Arbeits-
typen im Gange, die sich auf körperhche und geistige Arbeit erstreckt und
über Arbeitsqualität und Arbeitsfähigkeit des Prüflings Aufschluß geben soll.
Eine Köhier Arbeitsgemeinschaft für normale und pathologische Psychologie
ist auf Anregungen aus der Lehrerschaft begründet worden. Der wissen-
Kleine Beiträge und Mitteilungen 359
schaftliche Rückhalt des Vereins ist durch Zusammenarbeit mit dem Provin-
zialinstitut für klinische Psychologie und mit deren Übungsschule für Hirn-
verletzte gesichert. Als Aufgaben verfolgt die Vereinigung nach einer Mitteilung
in der Zeitschrift „Die neue Erziehung":
1. Wissenschaf thche Fortbildung der Mitglieder im Gebiete der pädagogisch-
psychologischen Probleme.
2. Besprechung der Methoden der Begabtenauslese und der Zuweisung
in die Sonderklassen für Schwachbefähigte.
3. Ergreifung von Maßnahmen zur Errichtung eines Instituts für pädago-
gische Psychologie in Köln.
4. Allgemeine Werbung für die Pflege und Wertung der pädagogischen Psy-
chologie in der Presse und an maßgebenden Stellen.
Eine Deutsche Gesellschaft für soziale Pädagogik ist unter dem Vorsitz
von Universitätsprofessor Dr. Paul Natorp in Marburg begründet worden.
Sie setzt sich das doppelte Ziel, die Beziehungen zwischen Erziehung und
Gemeinschaft und die Gestaltung einer Gemeinschaftserziehung, getragen vom
Geiste wechselseitiger Hilfsbereitschaft in geistigen Dingen und strengster
sozialer Gerechtigkeit, zu pflegen. Die Gesellschaft wird eine Vierteljahrs-
zeitschrift für soziale Pädagogik begründen, als deren Herausgeber Professor
Natorp, Stadtschulrat Dr. Buchenau und Direktorin Lili Droescher zeichnen.
Aus der Materialsammiung zur Schülerbewegung sei als neuartiges Stück
folgendes Schreiben vorgelegt, das der Leitung der Berliner Schulen, die von der
Korporation der Kaufmannschaft unterhalten werden, zugegangen ist: „Laut
der Massenversammlung vom 27. v. Mts. treten hiermit alle Pflichtfortbildungs-
und Fachschüler in den Streik (Schulstreik). Wir Fachschüler (Korporation
der Kaufmannschaft) erklären uns mit unsern Genossen solidarisch. Der
Streik soll mit dem 30. Juni beginnen und, sollten unsere Forderungen nicht
bewilligt werden, noch nach den Ferien fortsetzen. Forderungen der Fach-
schüler: 1. Die Verlegung der Schulzeit in die Arbeitszeit (vormittags), 2, Ver-
staatlichung aller Privatschulen, 3. Mitbestimmungsrecht der Schülerräte in
Schulfragen, Lehrplänen, Stundenplan usw., 4. Abschaffung der Schulgelder,
5. Einrichtung von Sportstunden sowie von Spielabenden, 6. Herausweisung
der Prügel- und Schimpfpädagogen. Wir bitten von dem Schulstreik und
seinem Zweck Kenntnis zu nehmen und dies sämtlichen Leitern bekannt-
zumachen. Es soll sich kein Lehrer wagen, unsere Streikposten wegzujagen,
sonst müssen wir mit andern Mitteln eingreifen.
Freie Jugend Groß-Berlin. Die Schülerräte.
Eine Auskunftsstelle für Kinderfürsorge hat das Zentralinstitut für
Erziehung und Unterricht durch den Ausbau der Abteilung, die sich
bisher der Kleinkinderfürsorge widmete, geschaffen und damit sein Auf-
gabengebiet mn einen wichtigen Arbeitszweig erweitert. Neben der älteren
Schwesterabteilung wird die neue Stelle die Entwicklung der Schulkinder-
fürsorge sammelnd, registrierend und "anregend verfolgen. Hier wie dort
werden Auskünfte auf Grund des sorgfältig gesammelten Materials unentgelt-
lich an Behörden, Vereine und Persönlichkeiten erteilt, die aus den Erfah-
rungen oder der wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiete der Kinderfür-
360 Kleine Beiträge und Mitteilungen
sorge Rat und Anregung schöpfen wollen. Eine Auswahl wertvoller Berichte,
Richtlinien und Beschreibungen werden in Form von Leihmappen, Abbildungen
vorbildlicher Einrichtungen als Glasbilder erhältlich sein.
Die Auskunftsstelle für Kinderfürsorge ist bestrebt, unter Vermeidung von
Doppelarbeit mit allen auf verwandten Gebieten arbeitenden Körperschaften
und- Persönlichkeiten zusammenzugehen, den Austausch von Erfahrungen
und ganz besonders die Fühlung zwischen Schule und Jugendfürsorge zu
fördern und somit am Ausbau einer planmäßigen Kinderfürsorge mitzuwirken.
Ein Spreehlehrerseminar beabsichtigt das Zentralinstitut für Erzie-
hung und Unterricht in Berhn im Herbst dieses Jahres zu eröffnen. Es
besteht Bedürfnis nach Fachleuten des gesprochenen Wortes, die in allen
einschlagenden Fragen beraten und unterrichten können, also befähigt
sind, körperliche und psychische Sprachhemraungen zu heilen, die An-
gehörigen von Sprechberufen zu zweckmäßiger Handhabung der Sprach-
werkzeuge zu erziehen, in die Kunst des Vortrages und der öffentlichen Rede
einzuführen. An vielen dieser Fragen ist insbesondere das Schulwesen
dringend interessiert. Das Sprechlehrerseminar soll darum solche sehr begehrte,
aber kaum vorhandene Sachverständige in einem wissenschaftlich und praktisch
gegründeten Lehrgang heranbilden. Als Dozenten siud erste Fachkräfte,
als Fachleiter der Lektor an der Universität Berlin Dr. Drach in Aussicht ge-
nommen; der Psychologe, Arzt, Stimmbildner, der Schulmann, der Vortrags-
künstler und der Parlamentarier werden jeder den Sprachvorgang von seinem
Gesichtspunkt aus darstellen und zugehörige Übungen veranstalten. Das
Seminar wird Teilnehmern beiderlei Geschlechts ohne Vorbedingung zugäng-
lich sein; Anfragen und Anmeldungen sind an die Geschäftsstelle des Zentral-
instituts (W 35, Potsdamerstr. 120j zu richten.
Nachrichten. 1. Dr. Eduard Spranger, Professor für Pädagogik und
Philosophie in Leipzig, hat den Ruf an die Berhner Universität angenommen.
2. Der Göttinger Professor Dr. David Katz ist als außerordentlicher
Professor für Pädagogik und Philosophie nach Rostock berufen worden.
3. Akademieprofessor Dr. Willibald Kammel hat sich an der Wiener
Universität als Dozent für experimentelle Pädagogik und pädagogische
Psychologie habilitiert.
4. Privatdozent Dr. Nohl in Jena geht als a. o. Prof. für Philosophie und
Pädagogik an die Universität Göttingen.
5. Dr. med. Fritz Chotzen in Breslau hat daselbst einen Lehrauftrag für
sexuale Hygiene und sexuale Pädagogik an der Universität erhalten.
6. Der Weimarische Landtag hat einstimmig beschlossen, an der Universität
Jena an Stelle von Wilhelm Reins persönhchem Ordinariate einen ordent-
lichen Lehrstuhl für Pädagogik zu schaffen und das pädagogische Uni-
versitätsseminar zu erweitern.
7. Durch Verordnung vom 19. Sept. 1919 ist in Preußen allen Volks-
schullehrern der Zugang zum vollen Studium an den preußischen
Universitäten geöffnet worden,
8. Eine internationale Konferenz für Erziehung beabsichtigt das
Genfer „Institut J. J. Rousseau" im Jahre 1920 zu veranstalten.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 361
9. Ein psychologischer Ausbildungskursus für Hilfsschullehrer
wird von der städtischen Schuldeputation Berlin ') veranstaltet. Taubstummen-
anstaltsdirektor Schorsch hält eine zwölfstündige Vorlesungsreihe über „Die
heilpädagogische Behandlung von Sprachstörungen"; Professor Dr. Stier
spricht in acht Stunden über „Psychische und nervöse Störungen im Kindes-
alter"; Professor Dr. Schäfer handelt in Vorlesungen (30 Std.) über „All-
gemeine Psychologie, Kinderpsychologie und Sprachstörungen". Die Teilnahme
für Berliner Lehrkräfte ist unentgeltlich.
10. In den Akademischen Ferienkursen an der Universität Leipzig,
veranstaltet vom Sächsischen Lehrer\'erein in der Zeit vom 6.-25. ökt.
1919, sind Psychologie und Pädagogik folgendennaßen bedacht:
Psychologische Übungen (Rud. Schulze, Paul Schlager, Dr. Job. Hand-
rick), Begabungsforschung (Dr. Handrick), Praktikum zur Begabungsforschung
(Job. Schlag), Unterrichtslehre der Arbeitsschule (Otto Scheibner), Schulprak-
tische Probleme (Paul Vogel und Otto Erler), Grundfragen der ethischen Er-
ziehung iProf. Dr. Eduard Spranger), Vergangenheit und Zukunft des Moral-
unterrichtes (Prof. Dr. Paul Barth), Wirtschaf thche und politische Grundlagen
der Pädagogik (Privatdozent Dr. Max Brahn).
11. In den wissenschaftlichen Vorlesungen des Berliner Lehrer-
vereins (91. Halbjahr: Winter 1919 — 20) finden sich Philosophie, Er-
ziehungswissenschaft und Seelenkunde folgendermaßen vertreten:
Prof. Dr. A. Siebert: Ethik, ihre Probleme, Gesetze und Hauptrichtungen,
unter Bezugnahme auf einschlägige Fragen der Pädagogik (Willens-, Gefühls-
und Verstandesbildung). — A. Bogen: Über Organisation der geistigen Arbeit
(mit Übungen). — Stadtschulrat Dr. A. Buchenau: Einfülirung in die Pi;dagogik
als Wissenschaft ; Pädagogisch-psychologisches Seminar (Systematische Übungen
über Natorps „Pestalozzi"). — Rektor Seinig: Fortsetzung der Untersuchung
für die Erziehung bewußten Denkens in der Volksschule (mit Lehrproben auf
der Unter-, Mittel- und Oberstufe). — Unterstaatssekretär a. D. Dr. M. H.
Baege: Gehirn und Seele (Grundzüge der physiologischen Psychologie). —
Rektor H. Rebhuhn: Einführung in die exakte Erziehungswissenschaft (Me-
thoden und Ergebnisse der experimentellen Seelenkunde, angewandt auf Un-
terricht und Erziehung).
12. Ein Ausbildungskursus für die Eignungsprüfung industrie-
eller Lehrlinge wird in der Zeit vom 13. — 18. Oktober in der Tech-
nischen Hochschule zu Gl arlottenburg veranstaltet. Er wird dort in dem
von Dr. Moede geleiteten Laboratorium für industrielle Psychotechnik statt-
finden. Neben Vorlesungen und Kursen, in denen die Teilnehmer unter
fachmännischer Leitung selbständige Prüfungen nach bestimmten Methoden
vornehmen sollen, sind auch Besichtigungen Berliner Werkschulen vorgesehen.
Das Progiamm nennt folgende Gebiete: Betriebswissenschaft und Psycho-
technik; Psychologie der Jugendlichen; Prüfung der Sinnestüchtigkeit sowie
des räumhchen Vorstellungsvermögens; Krankhafte Störungen im Seelen-
leben der Jugendlichen; Übungen in der Untersuchung von industriellen
Lehrlingen im Laboratorium für industrielle Psychotechnik; Prüfung der Auf-
') Das Berliner Hilfsscbulwesen umfaßte zu Beginn des Sommerhalbjahres 168 Klassen mit
rund 3400 Schülern, darunter befanden sich etwa 100 Schwerschwachsinnige in sechs
Sammelklassen.
362 Kleine Beiträge und Mitteilungen
merksamkeit und der Reaktionsleistung ; Prüfung der Denkprozesse ; Prüfung
des technischen Verständnisses und konstruktiven Denkens ; Eignungsprüfung
des Straßenbahnführers (im Psychotechnischen Laboratorium der Großen Ber-
Uner Straßenbahn).
13. Einen Lehrgang für Studienreferendare veranstaltet die päda-
gogische Abteilung des Zentralinstitutes (Berlin) in der Zeit vom 21. Okt.
bis 12. Dez. 1919; er bringt die folgenden psychologischen Darbietungen:
Die Bildungs- und Erziehungsideale in Vergangenheit und Gegenwart (in
philosophischer und psychologischer Beleuchtung) (Dr. Müller v. Freien-
fels) — Jugendkunde auf psychologischer Grundlage (Realgymnasialdirektor
Dr. Otto) — Psychologisches Praktikum (Dr. Bobertag).
Literaturbericht.
Dr. Kurt Sternheim, Einlührung in die Philosophie vom Standpunkte des Kritizis-
mus. Sammlung „Wissen und Forschen". Bd. VIII. Leipzig 1919. Meiner, 291 S. 7,00 M.
Systematisch orientiert behandelt das Buch im ersten Abschnitte zureichend ausführlich „Das
Problem der Philosophie", sehr gründlich sodann „Die Erkenntnis des Wahren", weiter dann
weniger eingehend die Ethik. Der befremdende Wegfall der Ästhetik wird aus dem äußeren
Zwange, den Umfang zu beschränken, erklärt. Geschichtliche Betrachtungen sind in die syste-
matische Darstellung vielfach, besonders bei den theoretisch entscheidenden Problemen, ein-
geflochten. — Sternheim bemüht sich, den schwierigen Zugang zum Kritizismus diu-ch mancherlei
Mittel der äußeren und inneren Prägung seiner gedanklichen Entwicklungen gangbarer zu ge-
stalten. In dem von uns gelesenen logischen und erkenntnistheoretischen Teile gelingt dies so
weit, als es eben ohne Aufgabe streng wissenschaftlicher Haltung noch möglich ist. Den Mut,
in einer philosophischen Darstellung wenigstens solche Fremdwörter, die nicht zur wissen-
schaftlichen Fachsprache gehören, möglichst zu vermeiden, bringt er nicht auf. Tr.
Dr. Artur Buchenau, Pestalozzis Sozialphilosophie. Eine Darstellung auf Grund der
„Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts".
Sammlung „Wissen imd Forschen". Bd. IX. Leipzig 1919. 183 S. 5,00 M.
Durch diese Schrift wird nach hundert Jahren einem Wunsche Herders, dessen Gesamt-
urteil über Pestalozzis , Nachforschungen* die vernichtende Selbstkritik seines Verfassers auf
ein gerechteres Maß brachte, zu günstiger Stunde die späte Erfüllung — dem Wunsche, es
möchte sich eine geschickte und freundliche Hand des schwer verständlichen Werkes, das so
ganz „die Geburt des deutschen philosophischen Genius" sei, annehmen. Buchenau durfte sich
zu dieser Aufgabe berufen fühlen. Er ist Schüler Natorps, der wie keiner sonst in den „sozialen
Pestalozzi' eingedrungen ist, und er hat die „Nachforschungen" jahrelang in Übungen und Vor-
lesungen vor Lehrern behandelt. Daß er in seiner Wertung des Buches m. E. zu hoch geht,
ist der begreifliche häufige Fehler des Forschers, der seinen Gegenstand mit besonderer Liebe
umfängt. Jedenfalls bleibt es dankenswert, daß Buchenau den Weg in die schwierigen, oft
dunkel liegenden und krausen, oft wunderbar tiefen und schönen Gedankengänge der „Nach-
forschungen" zu einer Zeit gangbar macht, in dem Pestalozzis heiße Sehnsucht nach einem
neuen Menschentum, das selbsteigene Sittlichkeit adelt, den schweren Atem des beklommenen
deutschen Volkes noch belebt. Seh.
A. Hunzinger, Das Christentum im Weltanschauungskampfe der Gegenwart.
3. Aufl. Leipzig 1919. Quelle & Meyer. 122 S. 2,50 M.
In der Sehnsucht und dem Ringen weitester Kreise nach einer Weltanschauung ist Hunzingers
fesselnde Auseinandersetzung mit den philosophischen Richtungen, die das Christentum be-
kämpfen oder abseits von ihm nach allgemeinerer Anerkennung streben, rasch zu dem Ansehen
einer viel empfohlenen Schrift gekommen. Von einer Darstellung der Gegenwartskrisis in der
Frage der Welt- und Lebensanschauung ausgehend, zeigt er die christliche Auffassung in Gegen-
überstellung zur exakten Naturwissenschaft und zu den Ausprägungen, die der Monismus in
seiner natur^istischen, spiritualistischen und konkreten Form gefunden hat. Ein Schlußabschnitt
Literaturbericht 363
behandelt schließlich das ChristeDtum und die moderne historische Denkweise. Gegenüber ihrer
Vorgängerin sind in der neuen Auflage nur kleine Verbesserungen im Äußeren notwendig ge-
worden. Wir wiederholen unsere frühere Empfehlung der scharfsinnigen Schrift. Tr.
Johannes Volkelt, Professor der Philosophie an der Universität Leipzig, Religion und
Schule. Leipzig 1919. Meiner. 64 S. 2,70 M.
Volkelt will der deutschen Schule die religiöse Unterweisung erhalten wisäten. Freilich soll
sie deu Lehrer nicht in innerste Not werfen und darf für ihn darum kein auferlegter Zwang
sein. (S. 54.) Es ist nach seiner Überzeugung auch unmöglich, einen festen unterrichtlichen
Gang wie in anderen Fächern festzulegen. „Weder das Bejahen noch das Verneinen des aus-
gebildeten, kirchlich festgelegten Dogmas dürfte als zum Kern der Religion gehörig behandelt
werden. Etwas von Lessing-Kantischem Geiste müßte in dem Religionsunterrichte walten.'* (S. 57.)
„Sodann aber ist es unerläßlich, daß der Religionsunterricht die Fragen der Lebensgestaltung
und Sittlichkeit in seinen Umkreis ziehe und daß dies in einer die moderne Kultur berücksich-
tigenden Weise geschehe." (S. 59.) ,.Ein reiner Moralunterricbt in der Volksschule wird die Ge-
fahr der Trivialität und schulmeisterlichen Verständigkeit nur schwer vermeiden können." (S. 60.)
Volkelt entwickelt diese Anschauungen aus tiefführenden Darlegungen über das Wesen der
Religion, aus Erörterungen über die Religion als Kulturmacht und aus Aufdeckungen ihres Ver-
hältnisses zu Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit. Auch psychologische Sachverhalte sucht er
heranzuziehen. Aber der Abschnitt über „Religion und das Seelenleben des Kindes (S. 32 — 35)
geht vorbei an den neuen kinderpsychologischen Forschungen und führt nicht über die Ein-
fühlungen hinaus, wie sie etwa in dichterischer Schönheit bekannt sind aus Pestalozzis
Schriften: so in der ,, Abendstunde eines Einsiedlers" und dem wundervollen 13. und 14. Briefe in
„Wie Gertrud ihre Kinder lehrt". Seh.
Dr. Paul Barth, ordentlicher Honorarprofessor an der Universität zu Leipzig, Ethische Jugend-
führung. Grundzüge zu einem systematischen Moralunterricht. Leipzigl919. Dürr. 103 S. 5,00 M.
Paul Barth hat es für nicht zu gering erachtet, dem deutschen Volksschüler für den Sitten-
unterricht einen Leitfaden — „Lebensführung" betitelt — darzureichen, und er — der Univer-
sitätslehrer — hat selbst die Gestaltung des neuen Schulfaches, das neben oder an den Platz
der herkömmlichen Religionslehre einrücken wird, mit Fortbildungsschülern versucht. Nun
bietet er hier als Fr.icht seiner Erprobung eine für Eltern und Lehrer bestimmte Begleitschrift
zu seinem Schülerbuch. Sie will den Gedankenkreis der „Lebensführung" in systematischen
Zusammenhang bringen. In den begrifflichen Aufbau wird gleichzeitig Historisches eingeführt
und zur Belebung sind aus Dichtungen solche Stücke eingeflochten, die den moralischen Er-
örterungen stimmungsvolles Leben zu geben vermögen. •
Es ist ein anderes, aus einer Wissenschaft heraus den Schulstoff auszuwählen, als ihn didak-
tisch dann weiterhin zu formen. Barth meistert beides. Daß er aus eigener Berufstätigkeit die
Wirklichkeit des Unterrichts kennt und daß er als Verfasser der heute angesehensten „Unter-
richts- und Erziehungslehre", die auch in mehrere Sprachen übersetzt worden ist, im unter-
richtswissenschaftlichen Forschen und Denken Bedeutendes geleistet hat, tut seine besten Wir-
kungen auch in diese kleine Schrift hinein: sie ist in ihren stofflichen Entwicklungen reichlich
durchsetzt mit unterrichtstechnischen Ratschlägen, deren Wichtigkeit nur der ermessen wird, der
selbst einmal didaktisches Neuland bearbeitet hat. Über den Erfolg des systematisch betriebenen
MoralunteiTichtes ist dabei Barth mit uns darin einig, daß nur dann eine treibende Kraft ent-
wickelt wird, wenn außer der Belehrung zugleich die Persönlichkeit des Lehrers, durchdrungen
von einem tiefsten Gefühle für die sittlichen Werte, ihren stillen, mächtigen Einfluß ausübt und
wenn das Gemeinschaftsleben der Klasse in sich die erkannten Tugenden betätigt. „ . . . nieder-
ziehend wirken wird ihn (den Schüler) die wirtschaftliche Armut, die uns bevorsteht. Aber ge-
rade sie kann ihn auch emporheben, wenn er sie mit festem Willen bekämpft. Niederziehend
wirkt noch mehr ein Teil der öffentlichen Meinung, der zu viel von Rechten, zu wenig von
Pflichten spricht. Umso fester gilt es, der Jugend das Pflichtgefühl einzuprägen, vertrauend,
daß es dann unzerstörbar werde. Denn Goethe hat recht: Niemand glaube, die ersten Ein-
drücke der Jugend verwinden zu können*.
Es hätte sich wohl empfohlen, das Kapitel über das Seelenleben ausführlicher auszugestalten.
Penn wir haben die gleiche Erfahrung wie Barth machen können, daß es ganz überraschend ist,
wieviel Verständnis und Freudigkeit reifere Schüler den psychologischen Fragen entgegenbringen.
Um dieses natürlichen Interessenzuges willen und wegen der Vertiefung, die durch see len kund-
liche Betrachtungen den verschiedensten Sthulstoffen möglich wird, vertreten wir die alte
364 Literaturboricht
Forderung der Philanthropen, daß auch in den Volksschulen — in den höheren Lehranstalten wird
Psychologie als Fach nicht länger mehr entbehrlich sein können — die Einführung in das
menschliche Seelenleben nicht bloß so zufällig, sondern bewußt und planmäßig bei geeigneten
Gelegenheiten betrieben wird. Der Moralunterricht ist ein solcher didaktischer Ort. Wir hätten
von Barth, auch wenn wir heule bei der guten psychologischen Vorbildung der Lehrer ihrer
Fälligkeit zu eigener Gestaltung ganz gewiß sind, doch gern gesehen, wie er im Einzelnen
seinen moralischen Unterweisungen die unerläßlichen psychologischen Einschläge gibt.
Leipzig. Otto Scheibner.
Wilhelm Wundt, Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der
Methoden wissenschaftlicher Forschung. L Bd. Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie.
4. neubearbeitete Auflage. Stuttgart 1919. Ferdinand Enke. 654 S. 3<',00 M.
Ehrfürchtig wie einem Wunderbaren schaut die wissenschaftliche Welt dem Schaffen des
hochbetagten Wundt an seinem literarischen Werk zu. Die neue Auflage seiner Logik ist nicht
ein bequemer, wenig veiänderter Abdruck, sondern sie läßt beim ersten Zublicken erkennen,
wie die Hand des 87jährigen neugestaltend und weiterführend an ihr gearbeitet hat. Nicht
so freilich, daß Wundt sich weitläufij^ mit den neueren einflußreichen Richtungen kritisch aus-
einandersetzte. Aber er arbeitet den Grundgedanken seines Werkes, dem er seit dem Erscheinen
der ersten Auflage im Jahre 1879 treu geblieben ist, vielfach noch entschiedener und gründ-
licher heraus. Unbefangen von den Vorurteilen einer tausendjährigen Überlieferung, will er
seine Logik auf den wirklichen Tatbestand des Denkens begründen. Quellen logischer Erkennt-
nis sind ihm darum einmal die Sprache, als das lebendige Zeugnis dafür, wie talsächlich ge-
dacht wird, und die gesicherten und erfolgreichen Verfahrungsweisen, deren sich die wissen-
schaftliche Forschung im Dienste des Erkennens bedienen. Dabei verwahrt sich Wundt auf
das entschiedenste dagegen, daß seine Anschauungen, wie es u. a. Husserl in seiner Beurteilung
Wundts tat, in die Richtungen einer psychologislischen Logik eingereiht werden. In der Tal weist
Wundt, was er auch u. a. in einer Abhandlung dieser Zeitschrift ') scharf auseinandergesetzt
hat, der Psychologie und der Logik ganz und gar verschiedene Aufgaben zu, die unter anderen Vor-
aussetzungen und anderen Methoden zu erfüllen sind. Befaßt sich die psychologische Unler-
suchung mit dem Gesamtbereich unseres Seelenlebens in seiner unmittelbaren Wirklichkeit imd
ohne Rücksicht auf seinen Erkenntnisinhalt, so soll die Logik auf eigenartigem Wege die Vor-
gänge des Erkennens erforschen, die eine Bedeutung für unser praktisches Denken und für die
Wissenschaft besitzen. „Während die Psychologie uns lehrt, wie sich der Verlauf unserer Ge-
danken wirklich vollzieht, will die Logik feststellen, wie er sich vollziehen soll, damit er zu
wissenschaftlichen Erkenntnissen führe." Damit weisen freilich die Aufgaben der Logik gebie-
ten^ auf die psychologische Untersuchung zurück. „Sollen die Gesetze des logischen Denkens
nicht als gegebene unerklärba^e Tatsache gellen, so werden sie vor allem bei ihrem Ursprung
in der inneren Erfahrung aufgesucht werden müssen." Neben der Darstellung der logischen
Normen verlangt darum eine wissenschaftliche Darstellung der Logik eine „psychologische Ent-
wicklungsgeschichte des Denkens". Wie diese in dem ersten Band der Logik, der sonst noch
die Formen des Denkens, dann die Entwicklung und die Prinzipien des Denkens bringt, in Kürze
abgehandelt wird, ist ein Meisterstück Wundtscher Darslellungsknnst. Seh.
Dr. Paul Schuster, Universitätsprof. in Berhn, Das Nervensystem und die Schädlich-
keiten des täglichen Lebens. (Sammlung „Wissenschaft und Bildung".) Zweite, neu
bearbeitete Auflage. Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 137 S. mit 16 Abb. 1,50 M.
Der Schwerpunkt dieser trefflichen Schrift, die bald nach ihrem ersten Erscheinen auch ins
Russische übersetzt worden ist, liegt in Darlegungen über Schädlichkeiten, die unser Nerven-
system treffen können, und in Belehrungen zur Erhaltung seiner Gesundheit. Nur einleitend
wird einiges Unerläßliche über Bau und Funktionen geboten. Es wird durch diese Beschränkung
Raum gewonnen für eine um so weiter ausgreifende und umfassendere Darstellung des Gebietes
in ärztlicher Betrachtung. Erstaunlich ist es, welch reiche Beziehungen der Verfasser von seinem
Gegenstande aus zu den verschiedensten Erscheinungen des persönlichen und kulturellen Lebens
aufzudecken vermag und wie er so im besten Sinne aufklärend und volkserzieherisch wirkt. Als
Beispiel sei aus vielem herausgehoben, wie die Ausführungen über die mannigfachen Gifte sich
mit gesellschaftlichen Sitten und Gebräuchen beschäftigen und wie die Darstellung über die
Wirkungen von Unfällen hinführen zu Betrachtungen über das Versicherungswesen. Ein beson-
') Logik und Psychologie. Jahrgang X, S. Iff.
Literaturbericht 365
deres Kapitel ist den psychischen Einflüssen auf das Xervensystem gewidmet. Unter anderem
behandelt Schuster auch die Erscheinung der psychischen Ansteckung und der geistigen Epidemien.
Für die heute so überaus wichtige Frage der Berufswahl wird das Buch wertvoll durch die Ab-
schnitte über Berufsschädlichkeiten und über besonders gefährdete Berufsarten, zu denen vor allem,
wie statistisch von Schuster belegt und aus der Eigenart der Unterrichtsarbeit und aus der
Lebenslage erklärt wird, der Lehrberuf zählt (S. 114). Schulpädagogisch bedeutsam ist das
Schlußkapitel des Buches. Es behandelt die Frage der Anstrengung und wendet sich dabei
auch den nervösen Erscheinungen bei Prüflingen und der Frage der Schülerüberbürdung zu. Die
abschließenden Darlegungen beschäftigen sich mit der Erziehung durch die Eltern. Nachdrück-
lich wird das Haus hier auf die Schädigungen aufmerksam gemacht, die der Gesundheit der
Nerven durch Überhitzung der Phantasie und durch Überspannung des Ehrgeizes drohen.
Wir wünschten, daß dieses volkserzieherische Buch in weitesten Kreisen seine guten Wir-
kungen ausüben könnte.
Zschopau. Paul Ficker.
A. Meinong, Beiträge zur Pädagogik und Dispositionstheorie. Eduard Martinak zur
Feier seines 60. Geburtstages dargebracht von Fachgenossen, Schülern und Freunden. Leip-
zig 1919. A. Haase. 165 S. 12.50 M.
Die drei Beiträge, die den Eingang dieser Festschrift bilden und von Meinong, Höfler und
einer Schülerin Maitinaks verfaßt sind, würdigen die Persönlichkeit, der die nachfolgende wissen-
schaftliche Gabe gewidmet ist. Sie reicht vorerst eine Reihe kürzerer Abhandlungen dar,
die in das Gebiet der Dispositionstheorie führen. Meinong selbst gibt eine klare Ana-
lyse des Begriffes der Disposition und definiert sie als Zweckkönnen. Prof. Richard Meister
untersucht dann die pädagogische Bedeutlang des Dispositionsgedankens. Er stellt dar, wie jedes
Unterrichtsfach als ein Dispositionssystem zu erfassen ist und in eine Kette von dispositions-
bildenden didaktischen Grundakten aufgelöst werden muß. Es schließt sich eine Abhandlung über
die Begabungsforschung an. Besonders wichtig war uns dann eine Untersuchung des Privatdozenten
Dr. Otto Tumlirz, die darauf abzielt, die Unterschiede zwischen Wissens- und Fragebegehren
herauszuarbeiten. Ebenso bringt der Aufsatz, in dem Ernst Mally sich mit der Begriffsbildung
beschäftigt, nicht unbeträchtliche wissenschaftliche Ausbeute. Eine weitere Folge von Arbeiten
bewegt sich im Felde der pädagogischen Theorie und Praxis. Diese uns zum Teil femerliegenden
und darum überschlagenen Beiträge behandeln die Prüfung der Reife, die Didaktik des physi-
kalischen Schulunterrichtes, den Werteausgleich im Schulleben und das Thema: Intuition und
Jugend.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
K. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes. Jena 1918. Fischer. 378 S, 10 M.
K. Reumuth, Die logische Beschaffenheit der kindlichen Sprachanfänge.
Sammlung von Abhandlungen, herausgegeben von E. Spranger Nr. III, Leipzig 1919.
Dürr. 68 S. 3,00 M.
Die beiden Schriften sind an Umfang und allgemeiner Bedeutung recht verschieden ; aber
ihre gemeinsame Besprechung rechtfertigt sich, weil in beiden eine neue Wendung der Kindes-
psychologie zum endgültigen Durchbruch kommt, die sich in früheren Werken dieses Gebiets
bereits vorbereitet hatte. Es handelt sich um die Anwendung der modernen Denkpsychologie
auf die ersten Anfänge des Seelenlebens.
Als die Kindespsychologie ihre ersten wissenschaftlichen Schritte tat, hatte sie sich zunächst
gegen einen falschen Intellektualismus zu wehren, der die seelischen Frühstadien kritiklos nach
der Analogie des entwickelten Seelenlebens deutete und von „Schlüssen", „Allgemein-Begriffen"
usw. sprach, wo rein assoziative Mechanismen oder Äußerungen bloßer Affekte vorlagen. Aber
dies Bestreben, die Anfänge so primitiv wie möglich zu fassen, ging nun nach der andern
Seite zu weit; und da setzt jetzt die neue Denkpsychologie als wohltätige Reaktion ein. Diese
Richtung ist bekanntlich durch die Phänomenologie Husserls einerseits, durch die Würzburger
Schule Külpes andererseits bestimmt; sie hat allmählich unsere Auffassung des Seelenlebens
wesentlich umgewandelt, freilich zunächst des reifen, erwachsenen Seelenlebens, welches der
phänomenologischen Innenschau und der experimentellen Selbstbeobachtung zugänglich ist. Sie
hat uns davon überzeugt, daß der Versuch, das geistige Leben allein aus Vorstellungen und
ihren mechanischen Verknüpfungen zu verstehen, gänzlich in die Irre geht, daß die eigentlichen
Denkinhalte (unanschauliche Gedanken, Bewußtsein der Gewißheit, Relationsbewußtsein usw.)
neben den Vorstellungen eine eigene Gruppe von seelischen Erscheinungen darstellen und daß
366 Literaturbericht
die Denkakte (das Erfassen eines objektiven Sachverhalts, das Fällen eines Urteils, das Lösen
einer Aufgabe) in ihrer sinnvollen Zielstrebigkeit niemals in blol3 assoziative Vorstellungs-
verknüpfung aufgelöst werden können.
Nun gilt es, diese neuen Gesichtspunkte auf die ersten Stadien der seelischen Entwicklung
zu übertragen. Groos und ich selbst hatten in unsern Werken über Kindheitspsychologie bereits
die grundsätzliche Bedeutung der Denkpsychologie auch für die Entwicklungsprobleme betont und
in einer Reihe von Einzelanwendungen von ihr Gebrauch gemacht. Aber die Probleme sind
so schwierig, die Fülle der neuen Aufgaben und Gesichtspunkte so groß, daß die Hauptarbeit
erst noch zu leisten ist. Und für diese liefern die beiden heute zu besprechenden Bücher
wertvolle Beiträge.
Bühlers stattliches Werk ist hervorgegangen aus einem kleinen 1911 veröffentlichten
Beitrag zu einem medizinischen Handbuch, ist aber von Grund aus neu geschrieben. Der
Krieg hat bewirkt, daß Abfassung und Druck sich durch eine Reihe von Jahren hinzogen,
so daß nicht immer der neueste Stand der Forschung berücksichtigt werden konnte und manches
vom Verfasser als noch nicht gelöst und geleistet genannt wird, was inzwischen bereits Be-
arbeitung gefunden hatte. B, gehört bekanntlich zu den führenden Forschern der Würzburger
denkpsychologischen Schule, und deshalb ist der hierauf bezügliche Teil des Buches der weitaus
bedeutendste. Aber der Rahmen des Buches ist weiter gespannt; es will die gesamte geistige
Entwicklung umfassen. (Gemüt und Willensleben treten zurück.) Und so werden denn die
Anfänge des Seelenlebens, die Entwicklung der Raum- und Zeitauffassung, des Sprechens,
Zeichnens, Vorstellens behandelt, ehe das Denken selbst zur Besprechung kommt. Während
sich einige Kapitel referierend an die Darstellung des schon Bekannten halten (z. B. bei der
Sprache), bringen andere sehr fruchtbare neue Gesichtspunkte, so besonders das Kapitel über
das Zeichnen, in welchem die Ähnlichkeits- und Gegensatz-Beziehungen des Zeichnens zum
Sprechen herausgearbeitet, die besonderen seelischen Bedingungen der übernormalen zeichnerischen
Begabung und die Parallelen der Kinderzeichnung zu den prähistorischen Höhlen-Zeichnungen
besprochen werden — ferner die Ausführung über Märchenalter und Märchenphantasie, wobei
sich B. auf eingehende literatur-psychologische Studien seiner Gattin stützen konnte').
War schon bei den bisher genannten Kapiteln fortwährend auf den Einschlag von denk-
psychologischen Momenten in die Auffassungs-, Darstellungs- und Phantasietätigkeit Bezug
genommen, so beschäftigt sich nun das 7. Kapitel ausschließlich mit der Entwicklung des
Denkens. Hierbei holt Bühler zum Teil weit aus, gibt allgemeine psychologische Betrachtungen
und Analysen wertvoller Art, deren Anwendung auf das Kind zum Teil erst als Anregung und
Aufgabe für künftige Forschungen hingestellt wird, setzt sich mit andersartigen Standpunkten
{7. B, mit G. E. Müllers Lehre von der Erinnerungsgewißheit) auseinander, kurz, läßt uns die
ganze Schwierigkeit der Problematik, aber auch den ganzen Reichtum dessen, was schon im
frühen Seelenleben des Kindes an Denkhandlungen vollzogen wird, ahnen. Dabei ist B. stets
sehr vorsichtig; er sucht zunächst überall mit einfacheren Erklärungen auszukommen, läßt den
Vorstellungs-Assoziationen und Gedächtnisspuren, den Gewöhnungen und Übungen weitgehendes
Recht, zeigt aber überall, wie in dem Anerkennen von Sachverhalten, im Fällen echter Urteile,
in der Namengebung, im Erfassen kausaler Beziehungen usw. die Grenzen des bloßen Assoziations-
spiels endgültig überschritten werden. Sehr wertvoll waren hierbei, insbesondere für die Er-
forschung des vorsprachlichen Denkens, Analogien aus der tierischen Intelligenz. Liegt doch
seit kurzem in den Untersuchungen, die W. Köhler'^) in der Affenstation auf Teneriffa an
Schimpansen angestellt hat, eine nach Inhalt und Methodik geradezu klassische Studie über
tierisches Denken vor, die mit Recht von Bühler herangezogen wird. Köhler hat gezeigt, daß
Affen imstande sind, bei neuartigen Situationen (z. B. wenn eine begehrte Frucht nicht auf
einem der eingeübten Wege erreichbar ist) sich zu helfen, indem sie Erfindungen machen, sich
Werkzeuge verschaffen und schaffen, Kisten herbeiholen und hinaufklettern usw. Diese
Handlungen machen durchaus den Eindruck des Sinnvollen, und es ist nur die Frage, ob es
sifh dabei um wirkliche „Einsicht", Überlegung, Urteilsfähigkeit handelt, was Köhler auf Grund
seiner persönlichen Beobachtung mit Bestimmtheit behauptet, oder ob man nur von „Einfällen*
sprechen darf, wozu Bühler neigt. Von welch entscheidender Wichtigkeit solche Tieranalysen
für die Frage sein können, ob und in welcher Weise ein wirkliches Denken ohne Sprache auch
beim Menschen möglich sei, ergibt sich von selbst.
*) Vgl. das inzwischen erschienene Buch : Charlotte Bühler, Das Märchen und die Phantasie
des Kindes. Beiheft 17 zur Zeitschrift für Angewandte Psychologie. Leipzig 1918.
^ Intelligenzprüfungen an Anthropoiden I. Abhandlungen der Berliner Akademie der
Wissenschaft. 1917. Physik.-math. Klasse Nr. 1.
Literaturbericht 367
Die Schlußabschnitte des bedeutenden Bühler' sehen Buches behandeln biologische Probleme,
die Ursachenfrage der geistigen Entwicklung und die Bedeutung des Spiels. —
Viel enger ist die Aufgabe, die sich Reumuth gestellt hat und mit Scharfsinn zu lösen
versucht. Er beschränkt sich auf die Anfangsstadien des kindlichen Sprechens, deren „logischen"
Gehalt er festzustellen unternimmt. Er fragt: Was meint das Kind mit seinen ersten sprach-
lichen Ausdrücken? — und sieht in diesem „Meinen* bereits ein logisches Verhalten in
Husserl'schera Sinne. Denn sobald die Sprache mehr als ein bloßes Lallen oder Nachahmung
ist, sobald sie etwas ausdrücken will, ist dieses , Etwas" ein transsubjektiver Gegenstand, kein
bloßes Traumwirrsal von Vorstellungen. Dieser „Objektivierungsprozeß" wird nun ausführlich
im Anschluß an Husserls Lehre von den intentionalen Akten besprochen, aber auch die Lehre
anderer Logiker und Denkpsychologen, insbesondere auch Erdmanns Scheidung zwischen
formuliertem (sprachlichem) und intuitivem (nicht sprachlichem) Denken wird herangezogen.
R. kommt zu dem Ergebnis, daß bereits vor dem Beginn des sinnvollen Sprechens zwei
logische Leistungen vom kindlichen Geist vollbracht werden: das Herausheben einzelner
Empfindungen aus dem verworrenen psychischen Gesamtzustand und das Herstellen einzelner
transsubjektiver Beziehungen. Mit der Sprache selbst beginnt sich dann allmählich das
Begriffsbewußtsein zu entwickeln; zunächst beschränken sich die Bedeutungen auf individuelle
Gegenstände, die als identische immer wiedererkannt werden („Eigennamen"); erst langsam
und mit Zwischenstufen kommt die Erkenntnis des Gemeinsamen und Allgemeinen zustande.
Zum Schluß betrachtet R. kritisch die Lehren anderer Psychologen über die Sprachanfänge
(darunter auch des Referenten), denen er eine zu geringe Berücksichtigung des Logischen und
eine zu starke Betonung des reinen Vorstellungsmechanismus vorwirft.
Sicherlich hat R. mit dieser Kritik in manchen Punkten recht: aber nun geht er seinerseits
in der Logisierung der kindlichen Sprachanfänge zu weit. Freilich, wenn man alles, was über
das bloße Haben und Verknüpfen von Vorstellungen hinausgeht, „Logik" nennt, mag er recht
haben; aber wird durch solche Erweiterung nicht die scharfe Bedeutung des „Logischen" ver-
gewaltigt? Ist es fruchtbar, die Leistungen der „unterscheidenden und vergleichenden Auf-
merksamkeit' im ersten Lebensmonat, welche einzelne Empfindungen und Erapfindungsgruppen
aus dem diffusen Gesamtzustand herauslöst, als „Denkleistungen" zu bezeichnen? R. nennt
„Denken" jeden Akt des Subjekts, der auf einen transsubjektiven Gegenstand gerichtet ist,
unabhängig davon, wie weit bei dieser Zielstrebigkeit Bewußtsein beteiligt ist; ich halte es für
zweckmäßiger, von Denken nur dort zu sprechen, wo eine dem Bewußtsein vorschwebende
Aufgabe eine Richtung gebende Kraft auf Einstellung und Ablauf des seelischen Verhaltens
ausübt. Darum ist auch der Ausdruck „unterscheidende" Aufmerksamkeit, den ich eben
zitierte, so zweideutig. Im ersten Lebensmonat gibt es zwar schon ., unterschiedliche" Auf-
merksamkeit (d. h. eine solche, die einzelne Teilinhalte herausgreift, andere abgleiten läßt und
auf verschiedene Reize verschieden reagiert); aber von einem Akt des Unterscheidens in
logischem Sinne ist noch lange keine Rede (S. 44 sagt R. selbst: „Unterscheiden kann das
Kind schon sehr früh; aber erst spät taucht die Kateg-orie des Unterschiedes selbst als
intentionaler Gegenstand auf." Wäre es nicht richtiger, bloß im letzten Falle von Unterscheiden
als „logischem" Akt zu sprechen?) — Ein anderes Beispiel für zu weit gehende Logisierung
scheint mir die Behauptung des Verfassers zu sein, daß die ersten Wortbedeutungen den
Charakter von „Eigennamen" haben. Das Kind meine mit Puppe immer dieselbe eine Puppe.
Hier wird eine Identifikation des gegenwärtigen Eindrucks mit früheren vorausgesetzt, zu denen
das Kind noch gar nicht fähig zu sein braucht. Die ersten Wortbedeutungen haben weder
Eigennamen-, noch allgemein begrifflichen Charakter: das Kind meint den eben gegenw^ärtigen
Gegenstand, ohne auf frühere — sei es identifizierend oder verallgemeinernd — Bezug zu nehmen.
R.'s Schrift zeigt einerseits, welche Hilfe eine tief schürfende Analyse der Denkprozesse
der Kindespsychologie leisten kann, andererseits aber auch die Gefahr, die entsteht, wenn mau
die abstrakte logische Arbeit nicht ständig an dem vollen, reichen Erleben primitiv kindlichen
Tuns prüft und mißt.
Hamburg. William Stern.
Anweisungen für die psychologische Auswahl der jugendlichen Begabten. Bd. IX
der „Pädag.-psychol. Arbeiten". Hrsg. von Max Brahn. Leipzig 1919. Dürr. 90 S. 3,60 M.
Im Institut des Leipziger Lehrervereins besteht ein Ausschuß iür Begabungsforschung, aus
dessen gemeinsamer Arbeit die vorliegende Schrift hervorgegangen ist. Es handelt sich im
wesentlichen um eine methodische Untersuchung: eine Reihe Tests wurden ausgeprobt, ihre
für die Prüfung geeignetste Form mit genauer Anweisung für den Prüfer festgelegt, das Wertungs-
verfahren ausgearbeitet. Eine praktische Verwendung der Tests zu wirklichen Begabungsprü-
368 Literaturbericht
fangen hat noch nicht stattgefunden; doch sind durch sie künftige Ausführungen solcher Prü-
fungen in sehr dankenswerter Weise vorbereitet worden.
Die Tests sind im allgemeinen für die gleiche Altersstufe gedacht, die auch Moede und
Piorkowski prüften, also für 13— lö-jährige. Auch in der Art der Tests findet eine bewußte
Anlehnung an die beiden Berliner Psychologen statt; doch werden manche umgeändert, einige
neue hinzugefügt. Die Tests sollen folgende psychische Gebiete prüfen: Aufmerksamkeit, Be-
obachtungsfähigkeit, Gedächtnis, sprachliche Kombination, Begriffsbildung, Urteilsfähigkeit.
Zu einigen Tests seien kurze Anmerkungen gemacht.
Aufmerksamkeit. Hier wird als neuer Test das Rechnen in einem nicht dekadischen
System empfohlen. Ich halte diese, bekanntlich von Voigt in Leipzig zuerst angewandte Prüf-
methode für recht wertvoll ; aber ob sie gerade geeignet ist, ein Bild von dem Grade der Auf-
merksamkeit zu geben? Denn andere Faktoren, insbesondere allgemeine Intelligenz und mathe-
matische Sonderbegabung scheinen bei diesen Leistungen so stark mitzusprechen, daß es mir
sehr bedenklich erscheint, den Ausfall als Symptom der Aufmerksamkeit anzusehen. Mit einem
anderen, von Moede-Piorkowski übernommenen Aufmerksamkeitstest kann ich mich gleichfalls
nicht recht befreunden, mit der sog. „Mehrfachhandlung" (gleichzeitiges Rechnen und Anhören
einer vorgelesenen Geschichte). Denn ein solches Zerteilen der Aufmerksamkeit auf zwei dis-
parate Aufgaben ist ein ganz gekünsteltes Verhalten, das zum mindesten für die Leistungen
in der Begabtenschule garnicht in Betracht kommt (denn wir wollen doch nicht wissen, ob ein
Junge imstande ist, auf den Unterricht aufzupassen und zugleich unter dem Tisch Indianer
ge schichten zu lesen); die freilich sehr wichtige Distributionsfähigkeit der Aufmerksamkeit
bezieht sich fast stets auf gleichzeitige Teilziele einer einheitlichen Handlung; und durch
diese teleologische Einheit wird der ganze psychische Prozeß ein anderer.
Inder Abteilung Kombination begegnet uns als neue Methode der Test „Wirre Gedanken".
Die einzelnen Sätze einer Geschichte werden auf Zettel geschrieben, die durcheinandergemischt
vorgelegt werden und vom Prüfling geordnet werden müssen. Nach den Erfahrungen, die wir
in Hamburg mit ganz ähnlichen „Ordnungstests" gemacht haben, verdient eine solche Methode
Beachtung.
Mit besonderer Sorgfalt ist in dem Abschnitt Begriffsbildung das „Finden des Wesent-
lichen" bearbeitet worden. In der Tat ist die Fähigkeit, aus einem größeren Vorstellungs-
komplex das tragende Bedeutungsskelett herauszufinden, so wichtig, daß wir besonderen Wert
auf deren Feststellung legen müssen. Die Leipziger haben Geschichten und naturwissenschaft-
liche Beschreibungen so umgearbeitet, daß der Wesenskern durch mancherlei Beiwerk und Ab-
schweifungen verhüllt ist; gefordert wird, daß bald von der gesamten Geschichte, bald von ein-
zelnen Abschnitten ein möglichst kurzer und treffender Auszug gegeben wird. Als eine glück-
liche Idee erscheint mir ferner der ,, Telegrammtest": Umwandlung eines Briefinhalts in ein
Telegramm; denn hier kann man den Zwang zur Verdichtung des Inhalts auf die wesentlichen
Begriffe besonders anschaulich machen.
Auch für die Prüfung der Kritikfähigkeit gibt es eine neue Schattierung : mögliche und
unmögliche Reihenaufgaben werden durcheinandergemischt vorgelegt; die unsinnigen sollen
herausgefunden werden.
Die Beschreibung der Tests ist eingerahmt von einer allgemeinen Einleitung über Wert und
Bedeutung der Begabungsprüfungen und einem Schlußabschnitt über Beobachtungsbogen. In
der Einleitung von Brahn steht das Wort: „Die Begabungsforschung hat das Glück oder Un-
glück') gehabt, schnell Bedeutung für die Praxis zu gewinnen". In der Tat, wenn aus jener
plötzlichen praktischen Verwertung psychologischer Methoden kein Unglück werden soll, dann
müssen wir mit allem Nachdruck dafür sorgen, daß nicht übereifriger Dilettantismus sich dieses
Verfahrens bemächtigt und es damit binnen kurzem in Grund und Boden ruiniert. Dazu aber
ist es nötig, daß die ganze Schwierigkeit der Methodik und ihrer Anwendung ungeschminkt
und rücksichtslos dargelegt wird. Dies ist in der weitverbreiteten Berliner Schrift von Moede
und Piorkowski nicht geschehen, um so mehr sind wissenschaftlich-methodische Arbeiten wie
die vorliegende Leipziger Schrift und die gleichzeitige Veröffentlichung über die Hamburger
Auslese ein dringendes Erfordernis.
Hamburg, William Stern.
*) Von mir gesperrt.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries; in Leipzig.
Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders
der Beamtenpflicht.
Von Paul Sickel.
I. Theorien der Pflicht.
Die ethischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte waren beherrscht von^
dem Gegensatze der normativen und der genetisch-empirischen Richtungen.
Während die normative Ethik absolut allgemeingültige Normen des Handelns
aufstellen will, die von den zeitlichen Vorstellungs- und Willensrichtungen
ganz unabhängig sind, sieht die genetisch -empirische Ethik die Sittlichkeit
als ein geschichtliches Entwicklungserzeugnis an. Es ist klar, daß beide Auf-
fassungsweisen als wissenschafthche Methoden nebeneinanderbestehen können:
denn die geschichtliche Entwicklung des ethischen Sinnes schließt die Gel-
tung absoluter Normen oder Werie keineswegs aus. Der Gegensatz entstand
erst daraus, daß die genetisch -empirische Ethik die absolut geltenden sitt-
lichen Normen überhaupt leugnete und durch zeitlich bedingte, stets wech-
selnde Vorstellungen ersetzen wollte. Gibt sie diesen Anspruch auf, so ist
ihr als einer psychologisch-historischen Lehre voUe Berechtigung neben der
normativen Moralphilosophie zuzuerkennen.
Die verschiedenen Ansichten über Aufgabe und Wesen der Ethik müssen
sich auch in dem Begriffe der Pflicht widerspiegeln.
Als Vertreter der normativen Richtung ist an erster Stelle Kant zu nennen.
Nach ihm beruht das Pfhchtgefühl auf dem Bewußtsein eines inneren Sollens,
das absolut gebietet, ganz unabhängig von irgendwelchen anderen Beweg-
gründen, wie Erfolg oder Neigung. Ob ich etwas gern oder ungern tue, ob
mein Handeln Erfolg oder Mißerfolg hat, Nutzen oder Schaden bringt, ist für
seine sittliche Bewertung ganz gleichgültig. Zwecke dürfen mein Wollen in
keiner W' eise bestimmen. Ich habe dem inneren „Du sollst", dem kategorischen
Imperativ unweigerlich zu folgen. Man sieht, daß dies ein rein formaler
Begriff, eine ideale Konstruktion ist, der die Wlrkhchkeit nur annäherungs-
weise entsprechen kann. In diesem rein formalen Charakter des Kantischen
Pflichtbegriffes liegt seine Stärke, aber auch seine Schwäche.
Im Gegensatz zu dieser formalen Ethik verlegt die materiale den Sinn und
das Motiv der Pflichterfüllung in den Zweck oder den Gegenstand meines
Wollens. Das zu schaffende Werk, der erstrebte Erfolg bestimmen hier die
Richtung meines Handelns. Es ist meine Pfhcht, Werte zu verwirklichen und
Leistungen zu vollbringen, die ich aus irgendeinem Grunde als notwendig
oder nützlich erkannt habe. In ihrer niedrigsten Form sinkt diese Lehre zur
Erfolgsethik hinab, nach der letzthin der Erfolg eine Handlung rechtfertigt.
In verfeinerter Ausprägung findet sie sich als teleologische Morallehre (z. B.
bei Paulsen), wonach zwar der sittliche Wert einer Person in ihrem impera-
tiven Pflichtgefühl beruht, das Handeln selbst aber durch wertvolle Zwecke
gelenkt werden muß. Neuerdings ist (von Max Scheler) der bemerkenswerte
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. .14
370 Paul Sickel
Versuch unternommen worden, eine absolute Ethik auf materialer Grundlage
aufzubauen, die von der Anerkennung absolut geltender sittlicher Werte aus-
geht. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie den schroffen Gegensatz von Kantischer
und Nützlichkeitsmoral zu überwinden sucht. Für uns ist jedoch die materiale
Ethik vor allem in der krassen Form der Erfolgsmoral wichtig, weil sie die An-
schauungen und die Praxis des Durchschnittslebens in weitem Maße beherrscht.
Während die genannten Theorien eine Norm der Pflicht, sei sie nun formal
oder material, aufstellen, suchen die genetisch-empirischen Lehren den Pflicht-
begriff aus seiner historischen oder auch individuellen Entwicklung zu ver-
stehen. Sie wollen zeigen, wie das Pflichtbewußtsein allmählich aus anderen
psychischen Elementen entstanden ist. So führt Herbert Spencer das „ab-
strakte Pflichtbewußtsein" auf zwei Elemente zurück: 1. auf die Unterordnung
unter die Autorität allgemein geltender Gefühle, wie Ehrlichkeit, Wahrhaftig-
keit, Fleiß usw., deren Autorität stärker ist als die unmittelbaren Gefühls-
antriebe; und 2. auf den Zwang, sei er politischer, sozialer oder rehgiöser
Art, der mit dem Gefühl der Furcht vor Strafe im Falle der Verletzung ver-
knüpft ist. Dieses Gefühl der Furcht verwandelt sich allmählich in das Ge-
fühl der Verpflichtung. Man sieht, ■ daß hier das Pflichtbewußtsein auf etwas
anderes, was nicht eigenthch „Pflicht" ist, zurückgeführt wird und der Be-
griff der Pflicht seine Selbständigkeit und wesenhafte Ursprünglichkeit ver-
liert. In das Innere der sittlichen Persönlichkeit, in den transzendentalen
Grund der Pflicht dringen solche Lehren nicht.
Dasselbe gilt auch von Guyaus „Moral ohne Pflicht", so anregend seine
Ausführungen auch sein mögen. Auch nach Guyau ist Pflicht nicht ein un-
bedingt Forderndes und Gebietendes in mir; vielmehr ist sie wesentlich ein
Lebens- und Kraftüberschuß, der nach Äußerung und Verwendung verlangt.
Dieser naturalistische und vitalistische Pflichtbegriff trifft ebenfalls nicht den
Kern des Problems. Denn es handelt sich doch gerade um die richtige Len-
kung des natürlichen Lebenstriebes. Welche Äußerung der Lebensenergie
ist sitthch? welche unsittlich? — das ist die Frage. Die Pflicht schränkt
doch gerade den totalen Lebensdrang ein. Hatte Kant die Pfhcht wesentlich
negativ als Hemmung der Triebe aufgefaßt, so stellte Guyau (ähnlich wie
Nietzsche) einen mehr positiven und in gewissem Sinne höheren Pflichtbegriff
auf: Pflicht ist es, das zu leisten, was in meiner Kraft, in meinem Können
steht. Damit macht Guyau jedenfalls auf einen Punkt aufmerksam, den die
Ethik bisher wenig beachtet hatte. Aber was sittlich und unsittlich ist, er-
klärt seine Theorie nicht, auch nicht durch die anderen „Äquivalente", die
er für das Pflichtgefühl einsetzt, wie z. B. das wachsende Gemeinschafts-
gefühl und die Freude am Wagnis.
n. Psychologische Pflichttypen.
Neben die beiden genannten Methoden läßt sich nun noch eine dritte stellen,
die weder Normen begründen noch historische Entwicklung geben will, son-
dern die zu einer bestimmten Zeit, etwa in der Gegenwart herrschenden
sittlichen Vorstellungen, Triebe und Willensrichtungen psychologisch zu er-
forschen, zu beschreiben und zu verstehen sucht. Sie hat es mit dem empi-
rischen sittUchen Bewußtsein in seiner ganzen sozusagen unreinen, d. h. mit
heterogenen, unethischen Elementen vermischten Tatsächlichkeit zu tun, ins-
Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht 37 1
besondere auch mit der Verschiedenheit der ethischen Auffassung, wie sie durch
die besondere Lebenslage der Menschen bedingt ist. Man hat es längst als
einen Mangel der herkömmlichen Ethik erkannt, daß sie die individuellen
Unterschiede des sittlichen Bewußtseins vernachlässigt. Eine solche „diffe-
renzieUe" Behandlung der ethischen Phänomene mag zwar eher der Psycho-
logie angehören; ihre Bedeutung wird dadurch nicht verringert. Sie kann
neben der eigentlichen Ethik, die ja mit Recht einen sozialen Charakter an-
genommen hat, bestehen. Von besonderer Wichtigkeit ist die Erkenntnis des
herrschenden Ethos auch für die Pädagogik. Wir sind dadurch nämlich in
der Lage, den Abstand der Durchschnittsmoral einer Zeit von den als geltend
angenommenen Normen zu messen, woraus sich dann ergibt, in welcher Rich-
tung eine pädagogische Einwirioing erforderlich und durch welche Mittel sie
zu erreichen ist.
Der Pflichtbegriff erscheint nun besonders geeignet, um die Bedeutung einer
solchen psychologisch verstehenden Behandlung ethischer Probleme ins rechte
Licht zu setzen.
Wir haben demnach zu fragen : Wie ist das Pflichtgefühl der heutigen Men-
schen tatsächlich beschaffen? Und dazu stellen wir vier Haupttypen des
Pfhchtbewußtseins auf, aus denen sich die Pflichtcharaktere einzelner Menschen
oder Gruppen zusammensetzen wie chemische Stoffe aus ihren Elementen.
Wenn wir dabei wieder auf jene oben angeführten Theorien der Pflicht stoßen,
so darf das nicht verw-undern, da jeder Ethiker aus dem komplexen Pflicht-
bewußtsein ein einzelnes Element heraushebt, das ihm persönlich oder für
seine Zeit als besonders wesentlich erscheint.
Die psychologischen Pflichttypen scheiden wir zunächst in solche allgemein
formaler Art, denen ein allgemein gültiges Gesetz oder Gebot zugrunde liegt,
und solche, die eine individuell besondere Bestimmung enthalten. Die for-
malen Typen sind 1. der rein sittliche Imperativ oder die Pfhchterfüllung „aus
Pfhcht"; 2. das äußere Gebot oder die Pflichterfüllung aus Zwang (oder
Autorität). Individuell bestimmt kann die Art der Pflichterfüllung werden
1. durch die Person, 2. durch die Sache, den Gegenstand der Tätigkeit.
1. Der reine Pflichtbegriff, Kants kategorischer Imperativ, kennt als Motiv
des Handelns nur das autonome innere „Du soUst", ohne jede Rücksicht auf
andere Beweggründe, sei es persönliche Neigung oder sachliches Interesse.
Verkörpert ist er in dem Typus des idealen Beamten, der nichts als seine
Pflicht tut, diese aber mit strengster Gewissenhaftigkeit. Dieser Pflichtbegriff
zeigt nüchterne Kälte und Starrheit, aber in seiner Freiheit von jedem außer-
sittMchen Einflüsse eine Erhabenheit, die bekanntlich Kant zu seinem be-
geisterten Preise der Pflicht anregte.
2. In vollem Gegensatz hierzu steht die Pflichterfüllung aus Zwang. Auch
hier herrscht ein Imperativ, aber statt des freien inneren „Du sollst" das
äußere, erzwungene „Du mußt". Die bloß zwangsweise Pflichterfüllung ist
an sich ohne jeden sittlichen Wert. Sie ist „Dienst" und ihr Typus der Sklave.
Sie stellt die tiefste Stufe menschlicher Leistung dar und ist in sittlich-geistiger
Beziehung entwürdigend. Man findet sie daher nur in der genetischen Ethik als
frühe Entwicklungsstufe des moralischen Bewußtseins vertreten, so bei Spencer.
Die beiden genannten Typen werden nun trotz ihrer absoluten begriffüchen
Gegensätzlichkeit im wirklichen Leben durch eine Reihe von Zwischenstufen
verbunden, die sich imter den Begriff der Autorität fassen lassen, indem wir
24*
372 Paul Sickel
von der rein äußeren Autorität allmählich zur inneren Autorität des Sitten-
gesetzes übergehen. Auf diesem Wege liegen z. B, die Stufen der staatlichen
Autorität, der Sitte und der Religion.
3. Individuell kann die Pflicht bestimmt werden zunächst von selten der
Person. Es ist der Schaffensdrang, der Überschuß der Lebenskraft, das Be-
wußtsein des Könnens, was hier zur Leistung treibt. Nicht ein Sollen oder
Müssen liegt hier zugrunde, sondern ein „Du willst", dem erst als Folge das
„Du sollst" hinzutritt. Es ist ein Schaffen und Erzeugen aus persönlichem
Antrieb. Verkörpert ist es im Künstler. Und wenn dem rein sittlichen Impe-
rativ Starrheit und Erhabenheit anhaftet, so zeichnet diesen Typus Wärme
und Begeisterung aus. Theoretisch ist er vertreten durch Nietzsche und Guyau.
4. Endlich kann die Pflichterfüllung auch von der Sache her bestimmt
werden. Maßgebend ist dann der Trieb zum Werke als Erfolg der Tätigkeit,
die Herstellung eines irgendwie wertvollen oder nützlichen Dinges. Der Arbei-
tende geht in seinem Werke auf, ordnet sich dem Gegenstande unter und
läßt seine Persönhchkeit zurücktreten. Man kann hier von „Werkleistung"
oder „Arbeit" im eigentlichsten Sinne sprechen. Dagegen bietet sich kaum
ein bezeichnender Ausdruck für die Persönlichkeit, die diesen Typus verkörpert.
Vielleicht könnte man — mit der nötigen Dehnung des Begriffes — schlecht-
hin vom „Arbeiter" sprechen. Doch kann natürlich jede Art geistiger oder
körperlich-geistiger Tätigkeit diesem Typus zufallen. Theoretisch spiegelt er
sich in der materialen Ethik, besonders der Erfolgsethik.
Für die Berufspflichten, d. h. die Leistungen, die sich täglich in gewisser
Gleichförmigkeit wiederholen, kommt nun noch ein sehr einflußreiches Moment
in Betracht: die Macht der Gewohnheit. Sie kann in doppelter Weise wirken:
einmal, indem sie die anfangs mit Widerstreben (sei es „aus Pflicht" oder
„aus Zwang") geleistete Tätigkeit allmählich erleichtert und angenehmer macht;
dann aber auch umgekehrt, indem sie gegen eine zuerst mit (persönlichem
oder sachlichem) Interesse ausgeführte Arbeit abstumpft und sie langweilig
und lästig erscheinen läßt. Im ersteren Falle wird die Pflichterfüllung mecha-
nisch ; das Pflichtgefühl, falls es zuerst den Ausschlag gab, wird gleichgültig.
Im zweiten Falle, wo das ursprüngliche Interesse durch die Gewöhnung ab-
nahm, kann ebenfalls mechanische Tätigkeit die Folge sein ; es kann aber
auch, da die Arbeit nun gegen die eigene Neigung fortgesetzt wird, der
kategorische Imperativ des „du sollst" geweckt und die ursprünghch aus
Interesse begonnene Tätigkeit nun aus reinem Pflichtgefühl fortgesetzt werden.
Welche Entwicklung eintritt, hängt ganz von der psychischen Eigenart des
einzelnen ab.
Besonders zu beachten ist ferner, daß in der WirMichkeit des seehschen
Lebens niemals reine Typen — höchstens annähernd als Grenzfälle — vor-
kommen, sondern immer Mischungen, in denen meist alle vier Typen in
verschiedenen Stärkegraden miteinander vereinigt sind. So wird der Künstler
neben dem inneren Schaffensdrange auch Interesse am Gegenstande haben;
auch wird das Gefühl der Pflicht, das innere „du sollst" und selbst ein ge-
wisser äußerer Zwang (etwa die Notwendigkeit des Geldverdienens) selten
ganz fehlen. Beim Kaufmann wird am stärksten das Interesse am Erfolg
sein, ohne daß dabei die anderen Typen völlig zurücktreten.
Ja man kann sogar sagen, daß jeder einzelne Pflichttypus für sich als
schöpferisches Prinzip unfruchtbar ist und keine vollwertige Lebensarbeit
Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht 373
begründen kann. Daß bloßer Zwang keine hohen Leistungen hervorbringt,
ist selbstverständhch. Das Interesse am sachlichen Erfolge allein wird bei
sehr vielen Tätigkeiten, die unser Kulturleben erfordert, versagen. Der innere
Schaffensdrang genügt nicht, um eine fortlaufende, gleichmäßige Aufgabe
zu eriedigen und bringt die Gefahr mit sich, zu einem egoistischen persön-
Mchen Ausleben zu verführen. Der reine Pfhchtstandpunkt ist natürhch als
abstraktes ethisches Prinzip unantastbar; aber Paulsen übertreibt wohl kaum,
wenn er sagt: „Pfhchtgefühl mag in der Welt viel Schhmmes verhindert
haben, aber das Schöne und Große ist nie aus dem Pflichtgefühl (ich würde
hinzusetzen: allein) gekommen, sondern aus den Trieben des lebendigen
Herzens". Erst eine Vereinigung mehrerer, unter Umständen aller Motive
kann wertvolle Leistungen, insbesondere. Dauerleistungen ergeben. Sie wird
übrigens schon dadurch befördert, daß jeder Mensch die verschiedenen Motive
als Stufen seiner sittMchen Entwicklung durchläuft. Denn die Erziehung des
Kindes beginnt mit Zwang und Autorität und bedient sich vor allem der
allmählichen Gewöhnung. Dann treten der persönliche Tätigkeitsdrang (be-
sonders beim Spiel) und die Lust am Werke hinzu, während das eigenthche
Pflichtgefühl als bewußte Autonomie sich erst nach und nach aus den „un-
reinen" Pflichtmotiven herauslöst. Jedenfalls aber bleiben auch die niederen
Stufen der sittlichen Entwicklung noch bestehen, wenn die höheren schon
erreicht sind; und man mag es als eine weise Einrichtung der geistigen
Ökonomie ansehen, daß sie zur Erreichung der notwendigen Zwecke des
menschhchen Lebens die verschiedensten Motive bereithält, so daß, wenn
das eine, etwa das autonome Pflichtgefühl, versagt, ein anderes, sei es auch
der „wohltuende" Zwang, eintritt.
Das Pflichtgefühl des einzelnen Menschen ist also ein sehr verwickeltes
Gebilde, das nur zum Teil im eigentlichen Sinne „sittlich" ist. Abzuweisen
ist die oberflächlich rationalistische Auffassung, als ob ein (etwa, angeborenes)
rein formales Pflichtgefühl des sich jeweils ihm bietenden empirischen Inhaltes
bemächtigte, ihn sozusagen ergriffe und dann durchsetzte. Vielmehr ist die
Art des Pfhchtgefühls jedesmal individuell durch den Inhalt, an dem es er-
scheint, bestimmt. Wenn man auch von einem durchgehenden persönlichen
Pflichtgefühl des einzelnen Menschen als Bestandteil seines Charakters
sprechen kann, so wird doch das Pflichtbewußtsein je nach der auszu-
führenden Handlung sehr verschieden sein. Derselbe Mensch, der gewissen
Zwecken gegenüber eine sehr lebhafte Verpfhchtung fühlt, bleibt bei andern
Aufgaben, die objektiv ebenso wichtig sind, gleichgültig. So etwa, wenn
Eltern, die auf die sitthche und gesellschaftliche Erziehung ihrer Kinder aUe
Mühe verwenden, die intellektuelle Bildung vernachlässigen. Also: die
Inhalte bestimmen das Pflichtgefühl wesentlich mit.
in. stärke und Umfang des Pflichtgefühls.
Man kann beim PfUchtgefühl Stärke (Intensität) und Umfang unterscheiden,
obwohl beide von einander abhängig sind. In ersterer Hinsicht handelt es
sich um die Kraft des Willens und Gefühls, mit der die gegebenen Inhalte
gerade als sittlich gefordert erlebt werden, wie sie von dem Bewußtsein
des sittlichen SoUens umfaßt und durchdrungen werden, im Gegensatz zu
äußeren Nötigungen und A.nbrieben, die unter Umständen ja denselben ob-
374 Paul Sickel
jektiven Erfolg haben können. Dieselbe amtliche Tätigkeit kann von dem
einen mit dem tiefen Bewußtsein einer sittlichen Verpflichtung, von dem
anderen (äußerlich vielleicht ebenso gut) als eine, nun einmal notwendige
Arbeit verrichtet werden. Bei wem das ethische Bewußtsein eine bedeutende
innere Kraft und Tiefe hat, dem wird alles, was ihm überhaupt als erstrebens-
wert und geboten erscheint, zu einer verantwortungsvollen sittlichen Aufgabe.
Es gibt eine Stufe ethischer Gesinnung, wo das Leben als Ganzes mit Ein-
schluß aller Einzelheiten als eine hohe sittliche Forderung aufgefaßt wird.
— Was nun aber alles in den sittlichen Gesichtskreis tritt, das hängt einer-
seits von individuellen Faktoren, nämlich der geistigen und ethischen
Eigenart des Menschen ab, andrerseits auch von seiner sozialen Stellung.
In letzterer Hinsicht ließe sich — wenigstens theoretisch — für jeden Stand,
ja für jeden einzelnen Menschen ein normaler Pflichtenkreis denken, an dem
der tatsächliche Umfang seines individuellen Verantwortlichkeitsbewußtseins
zu messen wäre. Dabei kommt neben der Stärke und Lebhaftigkeit des
ethischen Gefühles besonders auch die sitthche Einsicht in Betracht. Diese
Einsicht ist „sitthch" nicht nur, insofern sie sich auf Gegenstände des
ethischen Bereiches bezieht, sondern sie ist auch in gewissem Grade sittlich
gefordert. Der Mensch muß und soll wissen, was er entsprechend seiner
Lage zu tun hat und was er eben vermöge seiner gesellschaftlichen Stellung
auch wissen kann. Wenn der sokratische Satz, daß Tugend ein Wissen
sei, irgendwie zu recht bestehen soll, so muß er jedenfalls dahin ergänzt
werden, daß das Wissen um den mir angemessenen Pflichtenkreis eben mit
zu den sittlichen Aufgaben gehört. Hier liegt wieder einer jener unentrinn-
baren Zirkel vor, wie sie unser Geistesleben so viel zeigt: wir können nur
das als unsere Pflicht anerkennen und ausführen, was unser Wissen, unser
Gewissen uns als sittliches Gebot erkennen läßt; aber wir sollen wissen,
was gemäß unserer Lebenslage unsere Pflicht ist.
Der Umfang des Pflichtenkreises erstreckt sich auf die Mitwelt und die
Nachwelt, indem er sich in beiden Fällen vom „Nächsten" zum Entfernteren
und Fernsten ausweiten kann — wobei wir von dem problematischen Be-
griffe der Pflicht gegen sich selbst absehen. Das Pflichtgefühl gegen die
Mitlebenden hängt wesenthch von der Ausbildung des Sohdaritätsgefühles
ab. Die strenge Abgeschlossenheit des einzelnen und der Familien der Groß-
stadt gegen die übrigen, z. B. auch gegen die Nachbarn (ein Begriff, der
beinahe veraltet ist!) und überhaupt die Vereinzelung der Menschen im
modernen Leben, die sog. Atomisierung der Gesellschaft hat zu einer festen,
fast starren Umgrenzung des sozialen Pflichtenkreises geführt, wozu auch
die schematische Bestimmtheit der Berufs-, besonders der Beamtenpflicht
beigetragen hat. Jeder hat seine genau umschriebene Aufgabe und hat sich
nicht in fremde Angelegenheiten zu mischen. Dadurch hat das allgemeine
VerantwortHchkeitsbewußtsein sehr gelitten. In der freilich engeren Welt
unserer Vorfahren fühlte sich jeder mehr oder weniger mitverantwortlich
für das Wohl und Wehe auch des Fernerstehenden. Mit der Ausweitung
unseres Lebens und der Zunahme der Beziehungen nach allen Seiten hat
das teilnehmende Pflichtgefühl nicht gleichen Schritt gehalten. An seine
Stelle ist der wirtschaftliche, berechnende Sinn getreten, der im anderen in
erster Linie den Konkurrenten und Gegner sieht. Vor allem fehlt das Be-
wußtsein, daß jede private Handlung zugleich eine öffenthche Bedeutung
Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht 375
hat. Die Kriegswirtschaft hat es deutlich genug gezeigt, daß die Art meine
Ernährimg auch eine öffentliche Angelegenheit ist. Schon Ruskin, der hierin
recht unenglisch dachte, hat auf die Unsittlichkeit des Luxus und den Mangel
an Verantv\'ortlichkeitsgefühl bei den wohlhabenden Kreisen hingewiesen.
Wenn jemand überflüssigen Luxus für sich fordert, dessen Herstellung den
Arbeiter nicht wie echte Kunst als Menschen sittlich hebt, sondern zum
Sklaven und Werkzeug erniedrigt, so begeht er Raub an der Arbeitskraft
und schädigt das sittliche Gefühl der Menschheit. Bei wahrem sozialen
Gemeinschaftsgefühl, das sich bis zum Menschheitsgefühle steigern kann,
kennt auch das Pfhchtbeuiißtsein keine Grenzen; es bleibt nicht beim
„Nächsten" stehen, sondern erstreckt sich bis zum „Fernsten".
Ebenso bedarf das Pfüchtgefühl zeitlich der Ausdehnung. Die Einsicht,
daß schlechthin jede meiner Handlungen Folgen hat, die sich in unabseh-
barer Reihe in die Zukunft erstrecken und meinem Machtbereich später
meistens völlig entzogen sind, muß das Verantwortlichkeitsgefühl gewaltig
steigern. Wie wenig aber sind z. B. Eltern bei ihrer Erziehung, zumal bei
dem ihren Kindern vorgelebten Beispiele sich beuiißt, daß sie nicht nur
dieses eine Kind, sondern in ihm eine ganze Reihe von Nachkommen er-
ziehen. Auf diesem Gebiete hat das PfUchtgefühl der sozialen Gruppen
wie der Gemeinde oder des Staates einen Vorsprung; je umfassender die
Gemeinschaft ist, desto weiter erstreckt sich die Vorsorge in die ferne Zukunft,
während die individuelle Moral noch ganz auf das Nächste eingestellt ist.
Die Ausweitung des PfUchtenkreises hängt im allgemeinen davon ab, daß
ich über meine persönhchen, egoistischen Zwecke auch fremde und über-
persönUche Zwecke nicht nur erkenne und anerkenne, sondern sie auch als
meine Zwecke in mein ethisches Bewußtsein aufnehme, daß ich die Auf-
gaben der Gemeinschaft, des Staates, ja der Menschheit zu meiner eigenen
Angelegenheit mache. Derjenige Grand, der ethisch am stärksten zugunsten
der Demokratie spricht, ist zweifellos der Übergang der sittMchen Verantwort-
hchkeit von wenigen, die sie auf die Dauer für die Gesamtheit nicht tragen
können, auf möglichst \iele, auf alle. Die demokratische Ausdehnung der
Rechte und damit der Pflichten auf alle setzt also zugleich die Ausdehnung
des individuellen Pflichtenkreises wie auch die Stärkung des Pfüchtgefühles
voraus. Sie kann daher nur dann zum HeUe gereichen, wenn das Volk
schon eine ziemlich hohe Stufe der SittUchkeit erklommen hat.
IV. Die Beamtenpflicht.
Wenden wir unseren Blick von diesen allgemeinen Erörterungen auf die
Eigenart der heute herrschenden Auffassung der Pfhcht, so können wir als
deren typische Gestalt wohl die BeamtenpfUcht ansehen, wobei das Wort
Beamter im weitesten Sinne für alle diejenigen gebraucht ist, denen ihre
Aufgabe von einer Organisation bzw. einem Vorgesetzten gestellt wird —
im Unterschiede von den selbständigen Berufen des Kaufmanns, Unterneh-
mers, Künstlers usw. Zwischenstufen gibt es natürhch auch, wie etwa der
staatliche Lehrer, der im Dienste eines Verlegers arbeitende Schriftsteller,
oder auch der Arzt, insofern seine Pfhcht durch Bestimmungen der Organi-
sation eingeschränkt wird.
Die besondere soziale und psychologische Lage des Beamten hat einen
eigenartigen , modernen" Pfhchtbegriff erzeugt. Was der Beamte (und der
.376 Paul Sickel
Arbeiter) zu tun hat, steht nicht in seinem Belieben; ja vielfach ist auch
die Art und Weise, wie er es zu tun hat, ihm von außen vorgeschrieben.
In großen Organisationen, besonders im gesamten Verwaltungswesen kann
der Beamte oft den Sinn und Zweck der ihm gestellten Aufgabe ebenso
wenig begreifen wie der Arbeiter im industriellen Großbetriebe den Zweck
des einzelnen Maschinenteils, den er anzufertigen hat. Ja es kann vor-
kommen, daß der Beamte die rein praktische oder sogar die sittUche Be-
rechtigung der von ihm geforderten Tätigkeit nicht anzuerkennen vermag,
so daß ein Widerstreit zwischen Beamtenpfhcht und persönlicher sittlicher
Überzeugung entsteht. Da indes die Lebensstellung meist von der „treuen'*
Erfüllung der Beamtenpflicht abhängt, so wird man es selten zum offenen
Widerstand kommen lassen. Die gewöhnliche Haltung des Beamten ist viel-
mehr derart, daß er eine reinliche Scheidung zwischen Amtsmoral und per-
sönlicher Sittlichkeit macht und die Verantwortung für das amtlich Gelei-
stete eben auf den Vorgesetzten oder schließlich den Staat abschiebt, die ja
in dieser Hinsicht breite Schultern haben. Es entsteht demnach ein Dualis-
mus der Moral, wie er z. B. für die Auffassung des deutschen Luthertums
maßgebend geworden ist : innere Persönlichkeitsethik und unpersönliche
Amtspflichtmoral. Auch Bismarck vertrat wohl diesen Standpunkt. Daß da-
bei große äußere Leistungen möghch sind, steht außer Frage. Aber im
Grunde ist es doch ein unerträglicher Widerspruch, wenn der überwiegende
Teil der Beruf sleistungen, was ihren Inhalt und Zweck angeht, dem persön-
lichen ethischen Verantwortlichkeitsgefühl entzogen und in dieser Hinsicht
sittlich gleichgültig ist. Dazu kommt, daß bei sehr vielen Berufen die
Arbeit auch ihrem sachlichen Gehalte nach gleichgültig ist oder es durch
stete Wiederholung allmählich wird, so daß sie gewohnheitsmäßig und mecha-
nisch abgeleistet wird. Das persönliche und sachliche Interesse sinkt also
ebenfalls stark herab. Ja es fehlt selbst der ganz äußere (und sittlich frei-
lich wertlose) Antrieb des größeren finanziellen Gewinnes durch verstärkte
Leistung, wie es bei den selbständigen Berufen der Fall ist. Da das Gehalt
und dessen regelmäßige Steigerung ein für allemal feststehen, so liegt für
sittüch nicht sehr starke Persönlichkeiten die Versuchung nah, sich auf ein
Mindestmaß der Leistung zu beschränken. Man tut eben nicht mehr als
seine „Pflicht", würdigt dabei den Begriff der Pflicht so sehr herab, daß ihm
kaum noch etwas von der Bedeutung des freien inneren SoUens bleibt.
Pflicht ist dann dasjenige, was man tun muß, um den Anforderungen der
Vorgesetzten eben noch zu genügen. Nietzsche sieht mit Recht darin Leicht-
sinn und Harmlosigkeit in sittlicher Beziehung und meint: „Wer seinem
höheren Selbst nicht angehört hat, sondern der Gesellschaft dient oder einem
Amte oder seiner Familie, der spricht immer von „Pflichterfüllung" — damit
sucht er sich zu beschwichtigen". Tatsächlich wird mit dem Worte Pflicht
arger Mißbrauch getrieben.
Es ergibt sich also, daß der Beamtentätigkeit jene wirksamen Stützen des
eigenthchen PfUchtgefühls, das persönliche und sachliche Interesse, in wei-
tem Maße fehlen, daß dagegen die Gewohnheit und das Bewußtsein der
äußeren Autorität das echte sittUche Gefühl stark überdecken. Andererseits
ist es aber auch klar, daß bei dem geschilderten Charakter der Beamten-
tätigkeit nur ein wahrhaft ethisches Pflichtgefühl im Kantischen Sinne auf
die Dauer ein Herabsinken der Beamtenleistungen verhindern kann, eben
Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, besonders der Beamtenpflicht 37^1
weil die anderen Antriebe zur Einsetzung aller Kräfte, die etwa beim Künst-
ler, beim Kaufmann und Unternehmer wirksam sind, hier meist versagen.
Wir stehen damit wieder vor einem scheinbar unvermeidbaren Zirkel: die
Beamtentätigkeit bringt leicht eine Schwächung und Auflockerung des Gesamt-
Pflichtbewußtseins mit sich ; aber gerade sie fordert doch wieder ein starkes
ethisches Pfhchtgefühl. Oder: die ethische Persönlichkeit wird durch die
mechanische Pfichterfüllung erstickt; sie ist aber andererseits unentbehrMch
für die Erhaltung eines sitthch hochstehenden Beamtentums. Die Lösung
dieser Schwierigkeit kann nur auf pädagogischem Gebiete liegen.
Bevor wir uns ihr zuwenden, muß noch einer mittelbaren sittlichen Stütze
des Beamtenpfüchtgefühls gedacht werden, nämlich der Berufs ehre. In
früheren Zeiten war sie besonders ausgeprägt bei dem „ehrbaren" Handwerk
und bildete die Hauptgrundlage für die ethische und bürgerliche Schätzung
dieses Standes. Sie ist dann mehr und mehr auf den Beamten übergegangen,
der sich seiner Bedeutung als „Staatsdiener" bewußt wurde. Es zeigt sich
nun die merkwürdige Tatsache, daß bei den heutigen Ständen das Gefühl
für die Berufsehre im umgekehrten Verhältnis zu dem unmittelbar erlebten
geistig-sittlichen Werte der Berufstätigkeit steht. Denn bei den selbständigen
und freien Berufen, wo der einzelne seine Tätigkeit selbst bestimmt, ihren
Sinn und Zweck erkennt und aus eigenem Antriebe schafft (wie besonders
t)eim Geistesarbeiter und Künstler, aber auch beim Kaufmann) ist die Berufs-
ehre bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei den abhängigen Berufen. Am
deutlichsten zeigt sich das ja beim Offiziersstande, wo die Berufsleistung auf
der Skala der geistigen Tätigkeiten doch recht niedrig steht, während die
Berufs- und Standesehre ein Maximum erreichte. Damit ist aber auch schon
der Grund für dieses Mißverhältnis klar. Gerade wo die Pflichtleistung an
sich selbst nur geringe geistig-sittliche Werte darstellt, bedarf sie zu ihrer
Stütze und Rechtfertigung einer von außen hergeholten Bewertung, Und so
muß dem Beamten besonders viel an der Schätzung seines Tuns durch die
Gesellschaft liegen, Täghche Schreibarbeit über mir im Grunde ganz gleich-
gültige Dinge (wie etwa Rechtsstreitigkeiten) kann unmöglich ein Hochgefühl
von dem Werte meiner Beschäftigung erzeugen. Auch das Bewußtsein, ein
Ghed einer großen Organisation zu sein, wiegt nicht allzu schwer, da mit
ihm doch das Gefühl der Abhängigkeit eng verknüpft ist. Was hier den
einzelnen aufrichtet, ist eben die Berufsehre, die übrigens von subalternem
Bürokratendünkel und Beamtenstolz wohl zu scheiden ist. Ihre ethische
Bedeutung aber beruht darauf, daß sie die wichtigste Stütze des reinen
Pflichtgefühls, des strengen kategorischen Imperativs ist, der für die Beamten-
tätigkeit mehr als für andere Berufe notwendig ist. Was der Pflichterfüllung
des Beamten an sachlicher Teilnahme und persönhchem Schaffensdrange
abgeht, das wird ihm zum Teil ersetzt durch das Bewußtsein, daß seiner
Tätigkeit als Gesamtheit von der Gesellschaft eine Anerkennung gezollt
wird, die von dem Werte seiner Einzelleistung mehr oder weniger unab-
hängig ist und die er eben in der Berufsehre mittelbar erlebt.
V. Zur Pädagogik des Pflichtbewußtseins.
AUe erwähnten Stützen und Ersatzmittel können freilich das eigenthch
ethische Pflichtgefühl nicht entbehriich machen. Seine Entwicklung ist daher
378 Paul Sickel, Zur Ethik und Psychologie der Pflicht, bes. der Beamtenpflicht
eine der wichtigsten Aufgaben der Erziehung. Man hat in der frühzeitigen
Gewöhnung an strenge PfHehterfüllung einen besonderen Ruhmestitel der
deutschen Schule gesehen; er soll ihr nicht bestritten werden. Und doch
glaube ich, daß man nicht immer den richtigen Weg eingeschlagen hat und
die Pflichterziehung der Schule sich im späteren Leben nicht überall bewährt.
Der Grund hierfür liegt darin, daß man den starren Kantischen Imperativ
allzu einseitig zugrunde legt und die Zwischenstufen der persönhchen und
sachlichen Anteilnahme vernachlässigt. Offenbar muß jede Erziehung zur
PfUcht von Zwang und Gewöhnung ausgehen, um daraus erst allmählich
das eigentlich sittliche Pfichtbewußtsein zu entwickeln. Im allgemeinen wird
in der häuslichen Erziehung wohl mehr das Verbieten geübt als eine positive
Entwicklung des ethischen Gefühls erstrebt. Vor der Schulzeit wird das
Leben der Kinder hauptsächlich vom Spiel beherrscht; nur wenige Eltern
werden planmäßig einen allmählichen Übergang zu pflichtmäßigen Aufgaben
herstellen. Um so schroffer wirkt dann der Gegensatz zwischen dem freien
Phantasie- und Spielleben der behaglichen Familienstube und dem kahlen,
nüchternen Schulraum, wo nun plötzlich der kategorische Imperativ in seiner
unerbittlichen Strenge auftritt. Die Pflicht der Schule erscheint daher sehr
oft von Anfang an als etwas Hartes, UnfreundHches, Feindliches, als bloßer
Zwang. Daß dies für die Enstehung eines persönlichen, schaffensfreudigen
Pflichtgefühls nicht günstig ist, liegt auf der Hand. Zumal nun auch die
allmähliche Höherentwicklung des Pflichtbewußtseins während der langen
Schuljahre nicht genügend gefördert wird. Bis in die Oberstufe der höheren
Lehranstalten bleibt oft das Zwangssystem herrschend. Viele Pädagogen, be-
sonders der älteren Richtung, sehen gerade in der gegen die eigene Neigung
erfüllten Aufgabe ein besonders erziehUches Moment. Zum Teil mit Recht.
Nur darf dieses Verfahren nicht zur Einseitigkeit ausarten. Jedenfalls übte
die Schule bisher viel zu wenig die Pfhcht aus eigenem Tätigkeitsdrange
und aus Interesse an der Sache. Dagegen tritt das Streben nach Erfolg in
verhängnisvoller Weise hervor. Bei dem jetzigen Erziehungs- und Unterrichts-
system wird die Tätigkeit des Durchschnittsschülers wesentlich von dem
Streben beherrscht, durch ein Minimum von Arbeit ein Maximum von Erfolg
zu erzielen oder auch durch möglichst wenig Anstrengung noch eben das
äußere Ziel, nämlich die Versetzung zu erreichen. Das persönliche Pflicht-
gefühl kommt nicht zur Entfaltung, und daher wird auch das Bewußtsein
des Sollens nur selten aus dem der äußeren Autorität in das der freien
Selbstbestimmung übergehen. Paulsen spricht den schweren Vorwurf aus :
„Die Schulen mit ihrer durchgeführten Klasseneinteilung und ihren Verset-
zungsängsten richten jetzt den Sinn von klein auf auf das Karrieremachen. "
Tatsächlich leisten sie jener oberflächhchen und sittUch bedenklichen Pflicht-
auffassung Vorschub, die oben als Hauptgefahr der BeamtenpfUcht gekenn:
zeichnet wurde. Es ist pädagogisch falsch, die Erziehung des jugendhchen
Pflichtbevmßtseins einseitig auf den Kantischen Imperativ des reinen Sollens
aufzubauen. Man verleidet dadurch der Jugend die Pfhchterfüllung von vorn
herein. Gerade das heranwachsende Alter hat noch wenig Verständnis für
das rein Formale des Sittengesetzes, haftet vielmehr mit allen Sinnen am In-
halt, an der Sache. Zugleich ist es von einem Drang nach Selbstbetätigung,
einer Schaffensfreude erfüllt, die leicht erlahmt, wenn man ihr allzu früh
mit dem starren Gebote der unpersönlichen Pflicht entgegentritt. Das Kind
Adalbert Gregor, Über den Einfluß von Kriegs- u. Zeitkomplexen usw. 379
soll die Pflicht lieben lernen; und dazu sind die Vorstufen Freude am
Werke und persönliche Schaffenslust.
Die Auffassung der Pflicht aber, die sich dem jugendliehen Geiste einprägt,
ist entscheidend für die spätere sittliche Entwicklung. Und wenn man be-
denkt, daß sich auf der Grundlage der Beamtenpflicht das ganze sittliche
Leben des Staates aufbaut, der seiner Organisation nach Beamtenstaat ist,
so ist es klar, welche Bedeutung für unsere nationale Zukunft die Erziehung
zu einem freien, lebendigen Pflichtgefühl hat, einem Pfhchtgefühl, in dem
sich rein sittliche Antriebe, Schaffensdrang und Freude am Werke innerhch
durchdringen.
Ober den Einfluß von Kriegs- und Zeitkomplexen auf die
Definitionsleistung bei Kindern.
Von Adalbert Gregor.
Kurz vor Kriegsausbruch habe ich eine zuerst in meinem Leitfaden der
experimentellen Psychopathologie 1) entworfene Methode zur Intelligenzprüfung
ausgebaut-), die im wesenthchen darin besteht, daß der Versuchsperson eine
Reihe ausgewählter Begriffe verschiedener Quahtäten zur Definition aufge-
geben werden. Um Material für die Beurteilung der Leistungen normaler
Individuen zu gewinnen, xsiirden dank der BereitAxnUigkeit des Leipziger
Lehrervereins mit dieser Methode in zahlreichen Knaben- und Mädchenklassen
Massenversuche angestellt, die ich in meinen „Untersuchungen über die Ent-
wickelung einfacher logischer Leistungen" 3) veröffentlicht habe. Die Vollen-
dung dieser Versuche wurde durch den Kriegsausbruch verhindert, und ein-
zelne Klassen blieben damals ungeprüft, was aber für den von mir zunächst
verfolgten Zweck ohne besonderen Belang erschien. Als ich jedoch nach
Kriegsende an die Aufgabe schritt, die Definitionsmethode auch quantitativ
zu verwerten^), um aus den Leistungen das Intelligenzalter zu bestimmen,
sah ich mich genötigt, die 1914 gebUebenen Lücken zu ergänzen: dabei
wurde ich auf eigentümliche Definitionen gelenkt, welche lediglich durch die
seither veränderten Zeitverhältnisse zu erklären waren. Da diese Erscheinung
sowohl psychologisches als auch wesentlich sozial-ethisches und pädagogisches
Interesse beansprucht, so unirden über die ursprüngliche Absicht hinaus zu
den vor dem Kriege unternommenen Versuchen Parallelversuche angestellt,
für deren Durchführung ich dem Leiter der 30. Volksschule zu Leipzig-
Stötteritz, Herrn Direktor Pritsche zu Danke verpflichtet bin. Das hier ver-
arbeitete Material setzt sich sonach aus Normalversuchen 1914 und Vergleichs-
versuchen 1919 zusammen. Beide Versuchsreihen erstreckten sich auf Knaben
und Mädchen und zwar je auf die II. — VI. Klasse (7. — 3. Schuljahr).
Die zur Untersuchung der Denkleistung von mir im Definitionsverfahren
verwendeten Begriffe waren von vornherein so gewählt, daß verfängliche
'■) Berlin (S. Karger) 1910.
^) IntelUgenzuntersuchungen mit der Deünitioosmethode. Mft f. Psych, u. Neorolog. 1914.
■>) Zft. f. angewandte Psychologie Bd. 10. S. 339 ff. 1915.
^> Die Arbeit soll in der Zft. f. Kinderforschung veröffentlicht werden.
380
Adalbert Gregor
Worte, welche sich bei den bekannten Assoziationsversuchen als komplex-
auslösend erwiesen hatten, vermieden wurden, da die Berührung von Kom-
plexen die intellektuelle Leistung beeinträchtigen konnte. Natürlich war es
klar, daß diese Aufgabe, Komplexe auszuschließen, überhaupt nicht lösbar
sei, wie denn auch in meinen Versuchen, die in ausgedehnter Weise an Ver-
wahrlosten i) angestellt wurden, einzelne Reaktionen z. B. auf Arbeit, Ver-
gehen, Urteil in stark verlängerter Reaktionszeit und im Inhalt der Aussage
Komplexwirkungen erkennen ließen. Als Komplexreaktionen sind auch die
im folgenden zu besprechenden Definitionsleistungen normaler Volksschüler
aufzufassen, obzwar das affektive Moment, da es sich um Massenversuche
in der Schule handelte, nicht feststellbar war.
Da bei der Auslösung von Komplexen der Zusammenhang, in dem das
Stichwort gegeben wird, von Bedeutung ist, lasse ich die in diesen Versuchen
verwendeten Wörter in der dabei stets beobachteten Ordnung folgen und setze
ein bis mehrere + Zeichen daneben, je nach dem Grade, in dem sie sich
wirksam zeigten, Komplexe auszulösen.
Stuhl
Schrank
Tisch
Mantel
Rohr
Grenze
Arm
Bein
Mund
Zunge
Auge
Gehirn
Haus
Laube
+ +
Zelt
Schiff
Tür
Arbeit
Tausch
Pfand
Ordnung
Pacht
Bündnis
Kolonie
Gemeinde
Gesetz
Obrigkeit
+ + +
+
+
+ + +
+ + +
++
++
+
+
+
6. Erklärung
—
Absicht
Ursache
—
Widerspruch
Urteil
7. Laster
Mut
Gerechtigkeit
Mitleid
+
Sitte
1
Vergehen
Irrtum
Rache
Die Tatsache, welche zu diesen Ausführungen Anlaß gab, kann durch die
Gegenüberstellung je zweier Tabellen veranschaulicht werden, von denen
die ersten beiden (Tabelle 1 u. 3) sämtliche Definitionen einer III. Mädchen-
klasse für die Begriffe Mut und Tausch aus den im Frühjahr 1914 ange-
stellten Versuchen enthalten. In den beiden anderen Tabellen (2 u. 4) sind
die analogen Leistungen einer Mädchenklasse gleicher Ordnung nach den
Versuchen des Frühjahrs 1919 zusammengestellt. Der Vergleich beider
Gruppen läßt auffällige Unterschiede erkennen. Die 1914 für Mut gegebenen
Erklärungen gehen mehr ins allgemeine, verschiedentlich werden abstrakte
Namen Zorn, Tapferkeit, Wagen gebraucht. Einigemale kommen auch indi-
viduelle Reaktionen vor, wobei anzunehmen ist, daß die Stellung der eigenen
Persönlichkeit zu dem Begriffe Mut die Aussage bestimmte (vgl. Nr, 1, 2, 3,
15, 26, 28, 31). Dagegen zeigen die Definitionen aus dem Jahre 1919 Tab. 2.
ohne weiteres die Beziehungen zum Kriege. Sie sind im ganzen viel kon-
kreter, der Mut wird als spezifische Eigenschaft des Soldaten im Kriege ge-
faßt. Einen wesentlich andern Komplex verrät die Definition Nr. 36. Man
muß hier wohl an den Einfluß unserer jetzigen Zeitverhältnisse denken, der
') Gregor-Voigtländer, Die Verwahrlosung, ihre klinisch-psychologische Bewertung und
ihre Bekämpfung. Berlin 1918.
über den Einfluß von Kriegs- und Zeitkomplexen usw.
381
Tabelle 1.
Versuche 1914. III. Mädchenklasse.
Mut
9.
10.
11.
12.
13.
U.
15.
16.
Wenn man sich vor niemand fürchtet.
Ist wenn sich anspornt und sich vor
nichts fürchtet.
Mut ist, wenn man keine Angst hat.
Mut
Mut ist Zorn.
Ein Held, der sich alles wagt.
Kraft, ein starker Wille, eine feste
Zuversicht auf eine Hülfe.
Die Angst ist von diesen Menschen
gewichen.
Ein furchtloses Wagen.
Ist eine Ehre.
Wenn jemand mutig ist, er fürchtet
sich vor keinem Menschen.
Mut ist, wenn man sich nicht fürch-
tet und tapfer ist.
Mut ist ein Ding, das sich anfeuert
im Kampf.
Mut ist, wenn man sich vor nichts
fürchtet.
Wenn jemand gegen ein wüdes Tier
geht, ist es Mut.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
Die !>fenschen haben Mut.
Wenn man verloren hat und man
faßt immer wieder Mut.
Mut ist, wenn man tapfer auf einen
los — der ein Unrecht getan hat.
Mut ist, wenn man sich — —
Mut ist Kraft die man im
braucht.
Mut ist Tapferkeit.
Die Kraft des Menschen.
Krieg
Wenn man wo zögert, da muß man
sich den Mut nehmen.
Tapfer sein, mutig sein, kräftig.
Mut ist, wenn man keine Angst hat
und ist beherzt, wenn auch etwas
Schlimmes zufügt.
Einen Willen.
Man hat keine Angst.
Der Mut ist ein
Mut ist
Tabelle 2.
Versuche 1919. III. Mädchenklasse.
Mut.
1.
2. ist ohne Furcht.
3. kühn, nicht ängstlich sein.
4. zeigt der, der etwas kann.
5. muß jeder Deutsche haben.
6. hat der Soldat, wenn er in den
Ivrieg zieht.
7. In dem jetzigen Kriege haben man-
che Soldaten.
8. Wenn ein Mann Mut besitzt, so
kennt er keine Furcht.
9. den Mut hat der Krieger.
10. ist wenn man der Gefahr entgegen-
sieht vmd nicht zurückweicht.
11. ist, wenn jemand für nichts Angst hat.
12. ist Waghalsigkeit.
13. Mut der Soldaten war 1914 groß.
14. Mut braucht der Soldat im Kriege.
15. ist, wenn einer recht tapfer kämpft.
1 6. DerMann hat denMut mit in denKrieg.
17. Der Soldat hat Mut.
18. Die Soldaten haben Mut.
19. muß man haben.
20. Mut ist, wenn man einen
21. Der Soldat hatte Mut im Kriege.
22. Mut zum Kämpfen hat er.
23. dazuspringen.
24. Ich habe heute frischen Mut.
25. Mut ist die Tapferkeit.
26. Das Kind hat Mut.
27. darf den Menschen nicht verlassen.
28. Der Soldat hat Mut.
29. Der Krieger hat frischen Mut.
30. ich habe den Mut ins Wasser zu
springen.
31. Mut ist, wenn ein tapfer streitet
32. wenn er tapfer kämpft.
33. wenn er tapfer kämpft.
34. hat der Ivrieger.
35. ist, wenn er sich alles wagt.
36. wenn er Mut liat, etwas zu st«hlen.
37. haben die deutschen Soldaten.
38. braucht der Soldat im Kriege.
39. ich hatte Mut.
40. Mut die Soldaten.
41. der Soldat hat Mut.
42. gegen den Feind.
43. Der Knabe hat Mut.
44. hat der Soldat.
45. Mut zeigt der etwas kann.
382 Adalbert Gregor
Tabelle 3.
Versuche 1914. UI, Mädchenklasse.
Tausch.
2. Die Kinder haben etw. die einen möchten dieses gern haben, d. andern das,
so tauschen sie.
3. Ein Tausch ist, wenn man jem. etw. gibt und der gibt uns etw. anderes dafür.
4. Einen Gegenstand jemand geben und sie geben uns einen andern.
5. Ein Tausch ist ein Wechseln.
6. Die Germanen vertauschten für kein Geld ihre Haare.
7. Ein Wechseln.
8. Damit tauscht man eine Sache für eine andere ein.
9. Wechsel.
10. Die alten Deutschen vertauschten ihr Vieh für Schmucksachen.
11. Ein Tausch ist, wenn man mit noch jem. für etw. anderes tauscht.
12. Wenn man sich einen Ring für ein Armband gibt, das ist ein Tausch.
13. Ein Tausch ist, wenn man etw. hat und tauscht es für etwas anderes.
14. Ein Tausch ist ein Ding, womit man etwas anderes eintauscht.
15. Ein Tausch ist, wenn man etw. hat und ein andrer auch, und ich gebe es
den andern u. er gibt mir d. andere.
16. Wenn zwei Leute mit einem Gegenstand tauschen, so ist es ein Tausch.
17. Man verwechselt etwas.
18. Man verwechselt etwas.
19. Ein Tausch ist, wenn man eine Uhr gegen eine Kette vertauscht.
20.
21. Der Tausch ist —
22. Ein Wechsel —
23. Ein Tausch ist, wenn — von einem Kinde ein Bild bekomme und ich gebe
auch eins, d. ist Tausch.
24. Der Tausch ist, da gibt — etwas und man bekommt etw. anderes dafür.
25. Ein Tausch ist, was nicht so schön ist, so kommt eine Frau, was sie kaufen
kann, so bekommen wir Geld dafür.
26. Ein Tausch ist, ein um den andern etwas Anderes zu geben.
27. Ein Handeln.
28. Ein Tausch ist, wenn ein Mädchen dem andern eine Feder gibt und das
andere ein Löschblatt.
29. Wenn man etwas falsch gebracht hat, so kann man es wieder umtauschen.
30. Ein Tausch ist, wenn man mit jemanden tauscht,
31.
32.
33. Ein Tausch ist da, wenn man was sieht, nnd man möchte es auch haben,
da tauscht man.
34. Wenn wir etwas vertauschen, das ist Tausch.
Tabelle 4.
Versuche 1919. III. Mädchenklasse.
Tausch.
1. Der Tausch ist eine gegenseitige Wechselung.
2. Die Leute tauschen wegen Lebensmittel beim Bauern.
3. Jeder Tausch ist ein gegenseitiges Wechseln.
4. Ein Tausch wird durch ein gegenseitiges Wechseln der Gegenstände vollbracht.
5. Tausch ist wenn ich jemand um etwas anderes gebe.
6. Ein Tausch tut man wenn man nicht hat.
7. Tausch heißt, wenn andere Leute mit einander etwas tauschen.
8. Ein Tausch ist, wenn man mit einem anderen etwas wechselt.
über den Einfluß von Kriegs- und Zeitkomplexen usw. 383
9. Ein Tausch ist wenn man etwas anderes haben will, so tauscht man mit an-
deren Leuten.
10. Tauschen tun viele Leute sie geben Stoff und dafür bekommen die Leute
Lebensmittel.
11. Die Bauern tauschen mit Zucker und die Leute bekommen Kartoffeln oder
Eier.
12. Manche Leute machen einen Tausch, sie tauschen mit etwas.
13. Wenn ich etwas gekauft habe und will es nicht haben, so tausche ich es
wieder um.
14. Manche Leute tauschen mit Sachen.
15. Es tauschen viele Leute mit Eßware.
16. Viele Leute tauschen mit etwas andern.
17. Viele Leute tauschen mit Lebensmittel.
18. Die Länder tauschen um was wir nicht haben bekommen wir von einem
anderen Land, und sie von uns was, was sie nicht haben.
19. Die Leute tauschen jetzt mit den Lebensmitteln.
20. Tausch ist, wenn dir jemand was gibt und du gibst ihm wieder was.
21. Wir tauschen mit anderen Ländern Ware ein.
22. Tausch ist ein Ding, welches wir im Kriege viel getan haben.
23. Tausch heißt wenn die Leute sich gegenseitig mit Nahrungsmitteln aushelfen
oder mit sonstigen Gegenständen.
24. Der Tausch ist, wenn man etwas vertauscht und etwas anderes davor be-
kommt.
25. Manche Leute machen einen Tausch mit einander da geben sie Zucker und
wollen Kleidung dafür haben.
26. Wir Deutschen tauschen mit den Franzosen, wir geben ihnen Zucker, sie
geben uns weißes Mehl.
27. Die Leute tauschen Sachen mit Lebensmittel ein um etwas zu essen haben.
in viel deutlicherer Weise in der Definition des Begriffes Tausch zutage
tritt. Wenn in den Versuchen aus dem Jahre 1914 (Tab. 3) dieser Begriff
exemplifiziert werden sollte, so wurde auf die Germanen zurückgegriffen
Nr. 6, 10; oder es lieferten die kleinen Tauschhändel der Schulkinder den
Stoff. Die Definitionen von 1919 (Tab. 4) führen uns mitten ins reale
Leben und bedürfen keiner Erläuterung.
Mit den beiden Beispielen haben wir bereits auf die wesentüchen in un-
seren Definitionsversuchen wirksamen Komplexe hingewiesen. Im folgenden
sei noch auf die weiteren Reaktionen eingegangen, die in ähnlicher Weise
von dem Typus der 1914 gewonnenen Leistungen abwichen.
Der Kriegskomplex wurde ebenfalls diu-ch Arm und Bein, ferner durch
Grenze, ganz besonders aber durch Zelt angeregt. Arm und Bein weckten
die Vorstellung verletzter GHedmaßen: „der Arm, das Bein ist zerschossen,
— der Soldat hat ein Holzbein". Der Begriff Grenze wnirde 1914 in mehr
oder weniger guter Formulierung meist mit Landesende definiert. Einzelne
brachten auch das Moment der Zollrevision herein; Grenzschutz wurde als
Merkmal nur selten genannt. 1919 rückt diese Seite stark in den Vorder-
grund: „Die Grenze wird überwacht, — an der Grenze stehen Posten, —
an unserer Grenze marschieren Soldaten" usw. In noch stärkerem Maße
erweist sich der Kriegskomplex beim Begriff Zelt wirksam. Auch hier wurde
1914 die Beziehung zum Soldaten gelegentlich erwähnt. Jetzt werden der-
artige Definitionen geradezu stehend: „Zelt haben, brauchen die Soldaten, —
das war den Kriegern ihre Wohnung — " zuweilen kommen dabei technische
384 Adalbert Gregor
Ausdrücke in falscher Anwendung vor: „Zelt ist ein Gegenstand unter
welchem die Feinde decken."
Von den abstrakten Begriffen wird der Kriegskomplex durch Bündnis, Er-
klärung, Mitleid, Rache ausgelöst. Bei Bündnis werden die bekannteren
des Vierbundes und der Ententestaaten genannt. Als inhaltlich auffällige
Aussagen sind Definitionen aus der III. Knabenklasse zu erwähnen: „der
Feind schließt mit Deutschland ein Bündnis" und in der Umkehrung: „Deutsch-
land hat mit dem Feinde ein Bündnis geschlossen". Derartige Denkfehler
müssen, zumal da es sich um ältere Schüler handelt, vom Pädagogen be-
achtet werden. „Erklärung ist wenn der Krieg losgeht" in diesem Falle
(V. Knabenklasse) erschöpft Kriegserklärung den Begriff. Gewöhnlich äußert
sich der Komplex aber in der Exemphfikation: „Die Franzosen, Engländer
erklären uns den Krieg". Mitleid erweckt wieder die Vorstellung verwun-
deter Krieger, gelegentlich auch gefallener Familienmitglieder. Rache wird
teils, und zwar von jüngeren Kindern, den Soldaten im allgemeinen, häufiger,
meist von älteren Schülern, Franzosen und Engländern, einmal auch den
Deutschen zugeschrieben.
Die Komplexwirksamkeit des Wortes Obrigkeit erweist sich dadurch, daß
im Gegensatz zu 1914, wo Kaiser und König meist als Inbegriff der Obrig-
keit erschienen, jetzt bei der Exemplifizierung des Begriffes militärische
Chargen genannt werden. Mehrfach wird aber auch schon der Ausdruck
Präsident gewählt.
Nach beiden Richtungen zielen die Begriffe Kolonie und Schiff. Letz-
teres wird ganz selten als Kriegsmittel gefaßt, viel häufiger wird 1919 da-
durch einer unserer Zeitkomplexe angeregt; nämlich das Interesse an der
Lebensmittelversorgung: „Ein Fahrzeug auf dem Lebensmittel befördert wer-
den" bildet in höheren Klassen geradezu eine stehende Definition. Primitiver
wird der gleiche Gedanke in den Mädchenklassen ausgedrückt: „ist sehr
nützlich, denn es bringt uns Lebensmittel". Der Hungerkomplex tritt uns
beim Begriff Kolonie entgegen. Tatsächlich kann man sich die sehr ge-
läufigen Definitionen „da gibt es Milch, — da gibt es etwas zu trinken",
heute kaum anders als einen Ausruf des Entzückens denken. Bei älteren
Schülern spielt in die Definitionen von Kolonie auch der Kriegskomplex
hinein. Zunächst werden häufiger, als es 1914 der Fall war, z. T. fälschlich
deutsche Kolonien aufgezählt. Ganz unzweideutig tritt der Komplex jedoch
hervor, wenn vom Raube der Kolonien durch die Engländer die Rede ist.
Eine lediglich quantitative Differenz ergaben 1919 die Definitionen von
Pacht. Feld- und Gartenpacht werden jetzt in einzelnen Klassen damit
förmlich identifiziert.
Zum Abschlüsse sind noch einzelne individuelle Reaktionen von besonderer
Eigenart zu erwähnen, die eine bemerkenswerte Stellungnahme zu den Zeit-
verhältnissen erkennen lassen. Die meisten der folgenden Begriffe ergaben
vielfach auch typische Definitionen mit deutlicher Komplexwirkung. Es seien
hier aber die Reaktionen hervorgehoben, die einen tendenziösen Anstrich
zeigen.
Gesetz: ist was von den Räten veranlaßt ist (II. MädchenkL),
Eine Verfassung von Räten (II. Knabenkl.).
Einhalten eines Vertrages gegen das Volk (II. Knabenkl.).
Daß die Herrscher nichts machen können mit dem Volk (11. Knabenkl.).
über den Einfluß von Kriegs- und Zeitkomplexen usw. 385
Gemeinde: ist ein Dorfrat (V. Knabenkl.).
(jerechtigkeit: um die Menschen nicht zu empören wenn die Armen
genau so viel Brot zugeteilt bekommen, wie die Reichen.
Vergehen: es sind jetzt viele Vergehen begangen worden.
Rache: wenn einer 1 C. Kohlen hat und einer nicht, so übt er am Kohlen-
händler R. aus (n. Knabenkl.).
Sitte: das Stehlen ist jetzt Sitte (UI. Knabenkl.).
Da diese Aussagen von älteren Schülern (II. — III. Kl.) gemacht werden,
so sind sie nicht einfach als Reproduktionen mißverstandener Wortverbin-
dungen aufzufassen, vielmehr als Ausdruck tatsächhcher Anschauungen, die
pädagogisch ernst genommen werden müssen.
Über die Häufigkeit, in welcher Kcmplexreaktionen in unseren Versuchen
vorkamen, gibt nachstehende Tab. 5 Aufschluß, in welcher die Zahl der
Schüler, in deren Definitionen Kcmplexwiikung festzustellen war, mit +,
die Zahl jener, bei denen Komplexreaktionen fehlten, mit — bezeichnet wurde.
Tabelle 5.
Knaben
Mädchen
Klassen
+
. —
+
—
II '
25
10
38
7
in
35
2
26
9
IV
35
1
40
7
V
24
14
10
38
VJ
26
11
8
25
Das Ergebnis unserer vergleichenden Untersuchung von Definitionsleistungen
vor und nach dem Kriege hat nach verschiedenen Richtungen Interesse:
1. Zunächst sind die hier gemachten Beobachtungen für die Verwendung
der Methode selbst wichtig, da sie eine Bestätigung ihres Grundprinzips er-
bringen. Sie sollte ein Verfahren bilden, welches die Denkleistungen unab-
hängig vom Schulwissen zum Ausdruck bringt; hier finden wir einen deut-
lichen Bew-eis, daß die Lebenserfahrungen des Kindes bestimmend auf den
Ausfall des Versuches sind.
2. Ist es psychologisch von Interesse, daß Kriegs- und Zeitkomplexe das
Bewußtsein des Kindes derart erfüllen, daß eine durch sie besonders be-
tonte Seite des Begriffes für sein Wesen gehalten wird.
3. Ist es vom sozial-ethischen Standpunkt bemerkenswert, wie sich Vor-
gänge der jüngsten Zeit im kindMchen Geiste reflektieren, seine Anschauungs-
weise bestimmen und Einfluß auf sein moralisches Urteil gewinnen.
4. Glauben wir aus unseren Versuchen einen Hinweis und eine Mahnung
für die Pädagogik entnehmen zu müssen. Es ist ja sicher nicht gleichgültig,
welchen Niederschlag die Zeitverhältnisse im jugendlichen Gemüt finden, und
es ist Sache der Pädagogik, falsche und moralisch bedenkliche Ideenverbin-
dungen zu lösen.
Es könnte vielleicht als ein Umweg erscheinen, von dem hier betretenen
Wege Anregungen zu pädagogischem Handeln zu holen. Allein es ist doch
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 25
386 Adalbert Gregor, Über den Einfluß von Kriegs- u. Zeitkomplexen usw.
zu erwägen, ob die tatsächliche Denkungsweise des Kindes in solchen un-
gezwungenen Versuchen nicht reiner zum Ausdruck kommt als in den üb-
lichen pädagogischen Besprechungen, bei denen gleich von vornherein eine
bestimmte moralische Einstellung gegeben ist, welche das eigentliche Urteil
des Kindes in den Hintergrund drängt. Unter diesem Gesichtspunkte erscheint
die Durchführung derartiger Versuche zu rein pädagogischen Zwecken er-
wägenswert.
Über das logisch-rechnerische Denken der Zehn- bis Zwanzig-
jährigen au! Grund experimenteller Untersuchungen.
Von Woldemar Voigt.
Die im folgenden besprochenen Untersuchungen bilden die Fortsetzung
einer im Jahre 1913 veröffentlichten Arbeit „Über die Anlage zum Rechnen".')
Der große zeitliche Zwischenraum erklärt sich aus der Teilnahme des Ver-
fassers am Feldzuge. Währenddessen ist die Arbeit von Meumann besprochen
worden 2), und das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie des
Leipziger Lehrervereins hat die von mir ausgebildete Methode — das Rechnen
in fremden Systemen — als Test für die „psychologische Auswahl der jugend-
lichen Begabten" verwendet. 3)
Die Einflüsse der Kriegszeit auf die physiologisch -psychologische Grund-
lage der Untersuchungen bilden ein Problem für sich, sie sind im vorliegenden
Falle aber ohne Belang, da — bis auf einen Sonderfall — im großen ganzen
die Einwirkungen auf alle Versuchspersonen die gleichen sind. Besondere
Schwierigkeiten ergeben sich nur in der Verknüpfung der diesmaligen Er-
gebnisse mit denen von 1912, einmal wegen der eben erwähnten Einwirkungen
des Krieges in der Zwischenzeit und sodann wegen der notwendig gewor-
denen Verschiedenheit der Aufgaben. Die Schwierigkeiten erweisen sich
jedoch nicht als unüberwindlich.^)
Die Versuche.
1. Lektion und Aufgaben. Die 1912 verwendete Lektion ») ist in allen
Fällen in der gleichen Weise wieder gehalten worden, nach Möglichkeit
wörtlich und im übrigen so, daß die geringste Abschweifung oder unerwünschte
Weiterführung sofort und durchaus unterbunden wurde. Das war nach Lage
der Sache in der höheren Mädchenschule begreiflicherweise nicht immer ganz
leicht. In den Lehrerbildungsanstalten ging es ohne Schwierigkeit so, daß
sie als „Probelektion" dargeboten wurde. Jedenfalls kann die Lektion kein
Hindernis für die Vergleichung und Verknüpfung der früheren und jetzigen
Ergebnisse bilden.
Als Aufgaben für die Umrechnungen habe ich dieselben genommen wie
früher c), bei den Rechnungen sind Subtraktion, Multiphkation und Division
1) ßrahn u. Döring, Archiv für Pädagogik, Abt. II: Die pädagog. Forschung, Jalirgang I,
Heft 2, Leipzig 1913, S. 129—197.
2) Meumann, Vorlesungen z Einf. in die exp. Päd., Leipzig 19U, Bd. in, S. 819.
^ Erahn, Pädagogisch-psychologische Arbeiten des L. L. V., Leipzig 1919, IX. Bd., S. 41>
*) Siehe S. 405. s) Voigt, a. a. 0., S. 132ff. «) Voigt, a. a. 0., S. 135ff.
W. Voigt, Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 337
hinzugekommen. Die eine Wurzel war nur als Zeitfüllsel für schnelle Rechner
gedacht; sie ist übrigens von keiner Vp. in Angriff genommen worden. Von
einigen älteren Vpn. habe ich sofort nach Schluß des Experiments eine ganz
kurze, ungekünstelte Schilderung ihres seehschen Erlebens verlangt.
Es waren niu* zweimal je zwei verschiedene Aufgabenreihen nötig, da ich
diesmal zur gleichen Zeit benachbarte Schüler in verschiedenen Systemen
habe rechnen lassen.
1. Aufgabenreihe.
Umrechnungen im Achtersystem (U VIII).
274. 316, 407, 100, 53, 10, 1234, 1000, 20400, 275036-
Umrechnungen im Sechsersystem (U VI).
351, 444, 302, 100, 34, 10, 2054, 1000, 14302, 404302.
2. Aufgabenreihe.
Rechnungen im Achtersystem (R VIII).
a) 365 -^ 754
b) 35 - 43
c) 235 + 7257 - 67
d) 547-256
e) 7006-5325
f) 517 . 6
g) 53 . 76 .
h) 56&4:7
i) 1005:57
k) 36366:713
1) &43456 : 306
m) V333141
a) 365
754
1341
b) 35
43
100
c) 235
7257
67_
7603
d) 547 e) 7006
256 5325
271 1461
f) 517 .6
3732
g) 53 . 76
h) 5664:7 = 654
54
46
43
34
i) 1005:57=13
57_
215
215
k) 36366 : 713 - 42 1) 643456 : 306 = 2075 m) 1/333141 = 517
3454 614 31
1626
1626
2745
2552
1736
12 231
121
122 11041
11041
Rechnungen im Sechsersystem (R VI).
a) 425 + 354
b) 23 + 33
c) 235 + 4124 - 55
d) 435 - 243
e) 5004-3142
f) 315 . 4
g) 31 . 54
h) 2445:5
i) 504:35
k) 25332:514
1) 434042 : 205
m) ]/303121
425
354
1223
b)
23
_33
100
c) 235
4124
55
4502
d)
g) 31 .54 h)
204
235
2554
2445:5
23
14
14
5
5
435
243
152
321
e)
5004
3142
1422
504:35
35
114
114
f) 315 .4
2112
12
k)
25332 : 514
2350
1432
1432
32 1)
434042 : 205 - 2054 m) y303121 = 415
414 24
2004 12' 231
1441 121
1232 122 11021
1232 11021
2. Ort, Zeit, Personen. Die Untersuchungen sind mit Erlaubnis des
Herrn Oberschulrat Prof. Dr. Gaudig an der II. höheren Mädchenschule und
v^8«
Woldemar Voigt
dem Lehrerinnenseminar zu Leipzig und mit Erlaubnis des Herrn OberscjJulrat
Dr. Hözel am Lehrerseminar zu Frankenberg i. Sa. angestellt worden, und
zwar in den Monaten Mai und Juni 1919 jeweils in den frühen Vormittags-
stimden außerhalb der planmäßigen Unterrichtszeit. Die Lektion erforderte
je 20 — 22 Minuten, die erste Aufgabenreihe 9, die zweite 13 Minuten, der
ganze Versuch somit 42 — 44 Minuten.
Für die männlichen Vpn. waren die Vorbedingungen insofern etwas un-
günstiger, als immer drei Klassen gleichzeitig arbeiten mußten, und zwar
im Singsaale des Frankenberger Lehrerseminars, der nicht mit Schreibtischen
ausgestattet ist. Eine einfache Pappunterlage auf dem Knie mußte die
Schreibplatte darstellen; ich nehme aber an, daß diese kleine Unbequem-
lichkeit ohne wesentlichen Einfluß auf die Ergebnisse des Experiments ge-
blieben ist. Herrn Seminardirektor Oberschulrat Dr. Hözel sei gleich an
dieser Stelle für die gütige Mithilfe bei der Anordnung und Beaufsichtigung
des Experiments — an einem wunderschönen Festtagsmorgen! — ergebenst
gedankt.
Es sind — von Vor- und Einzelversuchen abgesehen — im ganzen 359 Per-
sonen untersucht worden, und zwar 110 männhche und 249 weibhche. Sie
verteilen sich wie folgt:
Geboren
Durchsch
.-Alter
männl.
weibl.
Bezeichnung
1.7.05 — 31.6.06
14. Leb.-
Jahr
291)
XIV a
1.7.05 — 31.6.06
14. „
—
222)
XIV
1.7.04 — 31.6.05
15. „
15
392)
XV
1.7.03-31.6.04
16. „
24
262)
XVI
1.7.02 — 31.6.03
17. „
]8
29
XVII
1.7.01 — 31.6.02
18. „
21
21
XVIII
1.7.00- 31.6.01
19. „
16
20
XIX
bis 31. 6. 00
20.-22.
„
163)
63
XX
110
249
Für die Gruppierung ist der Klassenverband nicht maßgebend gewesen, son-
dern nur das Alter. Da die einzige Vorbedingung für die Möglichkeit der
Lösung der Aufgaben die ist, daß die Schüler die vier Grundrechnungsarten
kennen und können, so erscheint diese Art der Gruppenbildung zum min-
desten unbedenkhch. Zur Gewinnung von verwendbaren Vergleichswerten war
sie zweifellos notwendig.
Schließlich ist hier noch darauf hinzuweisen, daß für den Vergleich der
Geschlechter nur die Gruppen XV — XIX in Frage kommen können, ganz
besonders wenn es sich um Durchschnittswerte handelt; es stehen sich dann
94 und 135 Vpn. gegenüber.
Die Ergebnisse.
Es war zunächst notwendig, Gruppentafeln anzulegen, auf denen jede ein-
zelne Schülerin mit ihren Einzelleistungen verzeichnet ist. Hierbei ergab sich
übrigens, daß nicht alle Schülerinnen bei Umrechnungen und Rechnungen
ungefähr gleichwertige Leistungen aufweisen. Eine ganze Anzahl schneidet
bei den Rechnungen erheblich besser ab als bei den Umrechnungen, und —
was noch sonderbarer ist — mehrere Schülerinnen erledigen die Umrech-
') Volksschülerinnen.
2) Höhere Mädchenschsile.
') Kriegsteilnehmer.
Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 389
nungen glatt und versagen bei den nachfolgenden Rechnungen fast voll-
ständig. Das läßt im ganzen genommen auf drei Typen logisch-rechnerischen
Denkens schließen', zu deren genauer Charakterisierung jedoch ausführliche
Einzelprüfungen erforderlich sind. Ferner gewinnt man aus diesen Tafeln
den Eindruck, daß im allgemeinen bei den einzelnen weiblichen Vpnen.
richtige (r), halbrichtige (^, ^) und falsche (f) Lösungen in bunterem Wechsel
nebeneinanderstehen als bei den einzelnen männlichen Vpnen., und dieser
Eindruck wird sich im folgenden als Tatsache erweisen.
Sodann mußte für jede Gruppe festgelegt werden, wie viele der überhaupt
gestellten Einzelaufgaben (a) r, ^, j, f und gar nicht gelöst worden waren.
Und diese Tafeln galt es dann zum Zwecke des Vergleichens in Prozent-
tabellen umzurechnen (Tafeln B und C)'). Hier beziehen sich die senkrechten
Reihen auf die einzelnen Aufgaben, die wagerechten auf die einzelnen
Gruppen. A bedeutet Addition, S Subtraktion usf., im übrigen sei auf die
Abkürzungen der vorigen Arbeit hingewiesen. -) Die Tafel II ist die einfache
Fortsetzung der Tafeln B und C insofern, als die Zahlen von II den Durch-
schnitt der wagerechten Reihen von B und C darstellen. Allerdings sind die
Durchschnittswerte wegen der vielen Nullen bei den Divisionen direkt aus
den ursprünglichen absoluten Ergebnissen errechnet worden, also nicht als
Mittel der Einzelprozent zahlen. Das D auf den Tafeln I, II, in, IV und VI
bedeutet immer das Mittel aus den zugehörigen senkrechten oder wagerechten
Reihen; in diesem zweiten Falle ist das Mittel freihch nur aus den Gruppen
XV— XIX gewonnen. 3) Die Tafeln I, HI, IV, V und VI sind ähnhch II die
Zusammenfassung ausfülirlicher Tabellen, die wie alle übrigen bisher ange-
deuteten aus naheliegenden Gründen nicht abgedruckt werden können. Sie
werden mit dem gesamten Material in dem Institut für experimentelle Päda-
gogik an der Universität Leipzig aufbewahrt und stehen gegebenenfalls zur
Dm-chsicht zur Verfügung.
Ich habe aüe Tafeln, auch die ausführlichen, unter Anwendung farbiger
Tuschen graphisch dargestellt. Die Ergebnisse springen dann mit außer-
ordentlicher Klarheit sofort ins Auge. Wenn im folgenden also gelegenthch
die Ausdrücke höher und tiefer auftreten, so erklärt sich das aus der Zu-
grundelegung dieser graphischen Darstellungen, die übrigens auch in dem
genannten Universitätsinstitut zur Einsicht bereit liegen.
1. Die Quantität der Leistucigen.
a) Gesamtzahl der Lösungen. Den 330 Fünfzehn- bis Zwanzigjährigen,
um deren Untersuchung es sich im wesentlichön handelt, sind im ganzen
6930 Aufgaben gestellt w^orden, von denen sie 4752, d. h. 69 o/o in Angi-iff
genommen haben. Es sind also im allgemeinen wesentlich mehr als die
Hälfte aller gestellten Aufgaben auch gerechnet worden. Nur in einem ein-
zigen Falle (siehe Tafel I XVI w VI-S) sinkt die Beteiligungsziffer ein wenig
unter 50 "/o. Die Ergebnisse düi-ften demnach auf genügend breiter Grund-
lage ruhen, wenn auch die Beteiligung an der Lösung der überaus schwierigen
Divisionsaufgaben naturgemäß ziemlich gering ist. Ich habe diesem Umstände
! Aus technischen Gründen nicht abgedruckt. -) Voigt, a. a. 0.. Seite 140. ^ Siehe S. 388.
390 Woldemar Voigt
Rechnung getragen, indem ich bei der Feststellung der Durchschnittswerte
entweder die unsicheren Zahlen weggelassen oder einen ganz anderen Rech-
nungsmodus gewählt habe. 1) Die unsicheren Zahlen selbst habe ich, auch
wenn sie ganz unwahrscheinlich erschienen, ohne jegliche Veränderung in
die ausführhchen Tabellen gesetzt, denn die Tabellen bilden das unanfecht-
bare Fundament der Erklärungen, an dem man selbst nicht unter Hinweis
auf die Erfahrungen der Klassenlehrer rütteln darf, wenn nicht das Gefüllt
des unsicheren Tappens aufkommen soll. Die Bewertung der Sicherheit
der einzelnen Tabellenzahlen ist eine Sache für sich. 2) Immerhin: Ich habe
im Jahre 1912 bei Versuchen in der Frauenhochschule 3) Werte erhalten, die
ich, weil sie mir zu unnatürlich erschienen, damals mit allem Vorbehalt
angegeben habe. Heute weiß ich, daß sie durchaus kein wertloses Zufalls-
ergebnis waren; denn sie werden durch die vorliegenden Untersuchungen
ausnahmslos bestätigt. Die exakt gewonnene Zahl kann eben nur durch
ebenso exakt gewonnene andere bestätigt oder gegebenenfalls widerlegt werden,
und die auf sogenannter praktischer Erfahrung beruhende spekulative Er-
klärung ist nur mit größter Vorsicht zu verwenden, weil sie unverhältnismäßig
stark modifiziert wird durch hervorstechende Ausnahmen, die beim Kollektiv-
versuch genügend kompensiert werden. Zudem habe ich ja — wie schon
gesagt — bei der Gruppenbildung den Klassenverband zerrissen, sodaß bei
den Erklärungen der sogenannte Habitus der Klasse nur eine ganz bescheidene
Rolle spielen darf. Ich verweise an dieser Stelle gern auf die ganz kurzen,
aber treffenden Anmerkungen Lays') über das Wesen der experimentellen
Pädagogik.
Die Beteiligung der männlichen Vp. bewegt sich im Durchschnitt
zwischen 74 und 880/0, dabei vom 15. bis zum 18. Lebensjahre ungefähr
auf gleicher Höhe, aber mit immerhin erkennbarem Abfall der Sechzehn- und
Siebzehnjährigen bei allen Versuchen. In die Augen fallend ist das überall
deutliche Hervorstechen der über 18 Jahre alten Schüler, nur bei den Rech-
nungen erreichen diese lediglich dieselbe Beteihgungszahl wie die Fünfzehn-
jährigen. Die zwischen diesen Punkten liegende Senkung der Kurve läßt
vermuten, daß die Naivität in der Beurteilung der Schwierigkeit der Aufgaben
allmähhch der bewußten Abschätzung der Schwierigkeiten und der vor-
handenen Fähigkeiten Platz macht. Die Beteiligung an den Umrechnungen
ist auf allen Altersstufen wesentlich größer als die an den Rechnungen; die
Durchschnittszahlen für die fünf vergleichbaren Stufen sind 85 und 71. Das
mag an der Schwierigkeit der Division liegen, kann aber auch zunächst nicht
erkennbare Gründe haben. Merkwürdigerweise ist die Beteiligung an den
Aufgaben des nicht besprochenen Sechsersystems zum mindesten dieselbe
wie im besprochenen Achtepsystem, meist sogar größer, wie auch die Durch-
schnittswerte in der 3. Spalte ausweisen. Eine Ausnahme machen nur die
Fünfzehnjährigen und — die Kriegsteilnehmer: diese beiden Gruppen finden
in der sofortigen Verwendung des nichtbehandelten VI. Systems eine wesent-
liche Schwierigkeit.
Die weiblichen Vp. Die Beteiligungsziffer der Vierzehnjährigen liegt
merkhch höher als die aller anderen Altersstufen und wird von diesen in
») Siehe S. 389. -) Voigt, a. a. 0., S. 158. ^^ Voigt, a. a. O., S. 188.
*) Lay, Experimentelle Pädagogik, Leipzig 1912, S. 8.
Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 391
keinem Falle wieder ganz erreicht, auch von den Zwanzigjährigen nicht. Der
Vorteil des naiven Herangehens an die Tätigkeit wird also anscheinend nach der
Pubertät verloren und kann durch die Entwicklung des rechnerischen Verständ-
nisses nie ganz wett gemacht werden, eine gewisse Hilflosigkeit wird im allgemei-
nen nie wieder vöHig überwunden. Auf den Vergleichsstufen ist die Beteiligung
im ganzen gleich, bei den Umrechnungen fast durchweg aufsteigend zwischen
54 und 68, bei den Rechnungen dagegen abfallend von 65 bis 53. Die Um-
rechnungen werden also allmähhch als leichter, die Rechnungen mit zu-
nehmendem Alter als schwieriger empfunden. Die Durchschnittswerte der
Vergleichsgruppen (XV — XIX) liegen für die 1. und 2. Rubrik dicht beiein-
ander auf 61 und 58, im Sechsersystem sogar umgekehrt auf 55 und 57. ^
Überhaupt arbeiten die weiblichen Vp. im Durchschnitt ohne jede Ausnahme
im Sechsersystem mit geringerer Beteiligung als im Achtersystem. Das Nicht-
besprochene erscheint somit den Mädchen durchweg schwieriger als das
Besprochene; es ist, als fehle ihnen der Mut, neue Bahnen geistiger Betätigimg
ungeleitet zu beschreiten.
Tafel I.
Überhaupt gerechnete Aufgaben (1 : a)
Durchschnittswerte.
Umrechnungen Rechnungen Durchschnitt (U + R)
XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX D I XR' XV XVI XVII xvm XIX xxü D I xrv XV XVI xvn xvm xix xx d
Die männlichen Versuchspersonen
Vin-S — 89 77 74 84 99 99 85
VI-S — 80 81 86 83 97 91 85
D — 85 79 80 83 98 95 85
76 67 67 66 70 83 69 . — 80 72 71 76 85 91 77
— 77 71 67 73 83 71 73 ! — 79 76 77 78 90 81 79
77 69 67 70 77 77 71 1 — 80 74 74 77 88 86 78
Die weiblichen Versuchspersonen
VIII-S 84 51 68 69 71 74 84 66 : 65 58 66 55 57 55 60 58 : 75 55 67 62 64 65 72 62
VI-S 80 57 47 54 64 54 78 55 68 53 64 61 57 50 58 57 i 74 55 56 58 61 52 68 56
D 82 54 58 62 68 64 81 61 67 56 65 58 57 53 59 58 75 55 61 60 63 59 70 59
Vergleichen wir die männlichen und weiblichen Vp.! Die jungen
Männer haben im Durchschnitt IS^'o aller Aufgaben gerechnet, die Mädchen
nur 590 0; das ist eine ganz beträchthche Spannung. Sie ist am größten
— 85 — 55 = 30 — , wenn man nur die Umrechnungen im Sechsersystem,
am kleinsten — 69 — 58 = 11 — , wenn man nur die Rechnungen im Achter-
system berücksichtigt. Hiermit bestätigt sich das bereits Gesagte, daß näm-
lich die jungen Männer nicht nur aggressiver sind in der Aufnahme der
Arbeit, sondern daß sie sich auch im allgemeinen durch die Notwendigkeit,
schnell entschlossen neue Wege einzuschlagen, nicht stören lassen. Daß die
männhchen Vp. im einzelnen fast durchgehends im Sechsersystem mehr
arbeiten als im Achtersystem, während für die weibhchen Vp. gerade das
Umgekehrte gilt, wurde schon erwähnt.
b) Die richtigen Lösungen. Von den beiden Vergleichsgruppen zu-
sammen sind ungefähr 40 Vo aller gestellten Aufgaben richtig gelöst worden.
Das ist mit Rücksicht auf die unverhältnismäßig große Zahl der verlangten
— schwierigen ! — Divisionen ein recht brauchbarer Wert, der sich übrigens
noch erhöht, wenn man die Leistungen der Vierzehnjährigen und der Zwanzig-
jährigen mit in Betracht nimmt. In methodischer Hinsicht ist es sogar ein
392 Woldemar Voigt
Vorteil, daß er nicht zu hoch hegt; denn sonst wäre er ein Zeugnis für zu
große Leichtigkeit der Aufgaben, und es könnten sich keine brauchbaren
Unterschiede ergeben.
Tafel IL
Völlig richtige Lösungen (r : a)
Durchschnittswerte.
Umrechnungen Rechnungen Durchschnitt (U + K)
XIV XV XVI XVII XVm XIX XX D | XI V XV XVI XVII XVIU XIX XX D I XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX D
Die männlichen Versuchspersonen
Vni-S — 59 56 54 61 88 91 63 j — 34 36 33 29 45 45 36 1 — 47 46 44 45 67 68 50
VI-S — 45 28 72 53 79 40 52 j — 35 37 40 38 51 32 40 — 40 33 56 46 65 36 46
D — 52 42 63 57 84 66 58 I — 35 37 37 34 48 39 38 ! — 43 39 50 46 66 52 48
Die weiblichen Versuchspersonen
23 29 39 28 24 31 35 30
18 25 19 24 16 23 35 22
21 27 29*26 20 27 35 26
VIII-S 62 34 43 52 51 63 66 46
VI-S 54 33 17 34 25 29 58 28
D 58 34 30 43 38 46 62 37
43 32 41 40 38 47 51 38
36 29 18 29 21 26 47 25
40 30 29 35 29 37 49 32
Die männlichen Vp. Den charakteristischen Verlauf der Entwicklung
der rechnerischen Anlage deuten neben allen Rechnungen die Kombinations-
werte für das Achtersystem am besten an (Tafel II, 3. Längsspalte). Danach
tritt während des 15. bis 18. Lebensjahres ein gewisser Stillstand der rech-
nerischen Leistungsfähigkeit ein, der mit Beginn des 19. Jahres durch einen
ganz gewaltigen Ruck nach vorwärts abgelöst wird. Die Einzelziffern für
die Subtraktionen, Multiphkationen und Divisionen auf Tafel B, sowie die
entsprechenden Werte für die richtigen plus halbrichtigen (r + yj Lösungen
auf den nichtabgedruckten Tafeln bestätigen den Ruck ganz besonders. In
diesen Zusammenhang gehört auch die aus Tafel B in der 3. Querspalte erkenn-
bare merkwürdige Erscheinung, daß die 15- bis 18 jährigen und die Kriegs-
teilnehmer bei der ersten Multiplikation weniger richtige Lösungen aufzuweisen
haben als bei der zweiten, während allein die 19jährigen für beide Multi-
phkationen die gleiche Leistungszahl — 57 — erreichen. Wie aus Einzel-
versuchen zu erkennen war und die Selbstbeobachtung bestätigt, läßt sich
die zweite Multiplikation mechanischer lösen als die erste, weil im Rechen-
unterrichte schriftliche Multiphkationen bei weitem am häufigsten mit
mehrstelhgem Multiphkator vorkommen. So arbeiten also erst die Neunzehn-
jährigen im allgemeinen unabhängiger von der mechanischen Grundlage,
gewissermaßen prinzipieller als die Jüngeren. Bei den Subtraktionen lösen
ganz entsprechend die Neunzehnjährigen die zweite Aufgabe, die das Prin-
zipielle schärfer hervortreten läßt, etwas besser als die erste, während bei
den Jüngeren und den Kriegsteilnehmern im allgemeinen das Gegenteil der
FaU ist. Sehr interessant sind die Leistungswerte füi; die Umrechnungen
zweisteüiger Zahlen in der 3. Querspalte von Tafel B. Diese sind nämlich
wesentlich höher als bei den benachbarten Exempeln in den jüngeren Gruppen
(XV z. B. 44—95—69), merkhch niedriger dagegen in den älteren (XVIII z. B.
67—42 - 67). Die Zahlen der r -h ^-Tabellen sprechen übrigens noch deut-
hcher. Mir ist diese Erscheinung wiederum ein Beweis für die mechanischere
Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw, 393
Art des Rechen-Denkens der Jüngeren gegenüber der prinzipielleren, sach-
licheren der Älteren. Vielleicht kommt auch die anschauliche Grundlage
der Lektion den Jüngeren bei den Umrechnungen zu Hilfe, während sie für
die abstrakter denkenden Älteren fast als Hemmung wirkt. Jedenfalls ist
das Rechnen der niederen Gruppen ein wesentlich anderes als das der
oberen, und die Werte für das VI-S. in der 3. Längsspalte von Tafel II
können diese Ansicht nur bekräftigen. Sie illustrieren nämlich nach meiner
Auffassung eine gewisse qualitative Umgruppierung innerhalb der im ganzen
quantitativ gleichen Leistungsfähigkeit der Gruppen XV— X\TI1. Kurz nach
der Pubertät tritt ein geringes Erschlaffen der selbständigen Gedankenführung
ein, von dem sich der junge Mann aber binnen Jahresfrist völlig erholt, und
zwar so, daß die selbständigen Leistungen die bloßen Nachahmungen ganz
beträchtlich übertreffen. Man vergleiche die Zahlen 40—33—56 mit den
darüberstehenden 47 — 46 — 44. Noch deutlicher erkennbar ist das eben Ge-
sagte aus den Umrechnungen im Vl-System (1. Längsspalte). Auf den eigen-
tümlichen Zickzackverlauf dieser Kurve und der von ihr beeinflußten möchte
ich nur hinweisen. Vielleicht ist es nicht falsch, den Verlauf der Entwicklung
des logisch-rechnerischen Denkens nach dem 14. Lebensjahre in zweijährige
Perioden zu zerlegen, in denen Aufstieg und Erschlaffung aufeinander folgen,
doch immerhin so, daß ein kleiner Fortschritt übrig bleibt. Da es sich bei
den Erschlaffungen aber um verhältnismäßig geringe Werte handelt, so
könnten zufällige KonsteUalionen innerhalb der Versuchsgruppen zur Er-
klärung ausreichen. Ganz übergehen möchte ich aber die immerhin inter-
essante Erscheinung nicht. Zu ihrer befriedigenden Deutung, \^^e überhaupt
zur Deutung der meisten bisherigen Ergebnisse sind noch zahlreiche ausführ-
liche Einzeluntersuchungen erforderlich. Bei den Rechnungen sind die
Leistungen im Vl-S. durchweg höher als die im VIII-S. Eine Ausnahme
machen nur die Kriegsteilnehmer, deren Leistungen hier — übrigens auch
bei den Umrechnungen — noch unter die der Fünfzehnjährigen sinken. Bei
den Umrechnungen tritt mit dem 17. Lebensjahre ein immerhin erkennbarer
Wechsel ein. Die jungen Männer lösen also neuartige Aufgaben, an die sie,
wie schon ausgeführt, ohne Scheu herangehen, mit besserem Erfolge als
bekannte. Daß dieser bessere Erfolg bei den Umrechnungen zunächst
ausbleibt, möchte ich wiederum auf die anschauliche Grundlage der Lektion
zurückführen, die hier bei den jüngeren Männern hemmend wirkt, weil sie
zu Umständlichkeiten im Denken verleitet.
Die Kriegsteilnehmer geben mit dem starken Abfall ihrer Leistungen im
VI-S. Beweise von dem ungünstigen Einflüsse der Kriegserlebnisse auf die
Produktivität. Jeder geistige Arbeiter unter den Heimgekehi-ten wird mir
diese Erscheinung auch für sich bestätigen können. Einfache Reproduktion
von einstmals Gelerntem, einfache Fortführung vorgezeichneter Gedanken-
gänge erschienen uns kurz nach unserer Rückkehr von der Front ziemlich
leicht, selbständige Produktion, selbständiges Bearbeiten bisher unbekannter
Materie war ungeheuer schwer, ja unmöglich. Offiziersaspiranten, die zum
Kursus kamen, erklärten mir seinerzeit zu ihrer Entschuldigung überein-
stimmend, daß die vielen technischen Ausdrücke der M.-G.-Waffenlehre und
der M.-G.- Schießlehre ihnen ganz außerordentliche Schwierigkeiten böten.
„Für mich ist das Wort Splint schon ein Studium für sich", sagte einer
ganz treffend.
394 Woldemar Voigt
Die weiblichen Vpn. Die Mädchen im Alter von fünfzehn bis neunzehn
Jahren leisten im Durchschnitt sämtlich Geringeres als die Vierzehniährigen,
und die Zwanzigjährigen nicht viel mehr als diese (Tafel II, 3. Spalte: 40-^>49).
Das ergibt sich noch deuthcher aus den Umrechnungen allein, wo die ent-
sprechenden Zahlen 58 und 62 lauten. Zwischen diesen Endpunkten liegt
eine tiefe Senkung, die übrigens wiederum das charakterische zweijährige
Zickzack erkennen läßt. *) Bei den Rechnungen bewegen sich die Leistungs-
zahlen sechs Jahre lang zwischen 20 und 29, und für die Zwanzigjährigen
ist auch nur 35 verzeichnet. Die niedrigsten Zahlen werden im VI-S. erreicht,
und zwar in den Umrechnungen von Gruppe XVI 17, in den Rechnungen
von Gruppe XVIII 16. Überhaupt liegen die Kurven für das VI-S. ohne jede
Ausnahme unter denen für das VIII-S., am beträch tUchsten bei den 16- bis
19jährigen. Die Lust und Fähigkeit zu selbständiger Betätigung ist also
in diesen Jahren am geringsten, steigt mit dem 20. Jahre etwas an, ohne
aber die Lust und Fähigkeit zu angeleiteter Betätigung ganz zu erreichen.
So scheint mit dem Eintritt der Pubertät die rechnerische Anlage des weib-
lichen Geschlechts auf dem Höhepunkt angelangt zu sein, und die Pubertät
selbst kennzeichnet sich als eine Zeit erregter Überproduktion von Energie,
der notwendig eine Periode der Entspannung folgen muß.
Aus den Einzelleistungen in der Subtraktion und Multiplikation ergibt
sich jedoch ein erkennbarer Vorteil für die Zwanzigjährigen, die hier eine
ähnliche Sonderstellung einnehmen wie die 19 jährigen Männer (Tafel C).
Während nämlich ihre jüngeren Geschlechtsgenossinnen die 1. Multiplikation
durchweg weniger richtig lösen als die 2., ist bei Gruppe XX für beide M.
die gleiche Leistungszahl — 42 — verzeichnet. Die 2. Subtraktion, also die
prinzipiellere, lösen alle Mädchengnippen schlechter als die 1., sie ähneln
in dieser Erscheinung den jüngeren Männergruppen. Dasselbe gilt für die
Umrechnung der zweistelligen Zahl; diese bietet keiner Mädchengruppe be-
sondere Schwierigkeiten. Sie rechnen eben alle, wie ich auch aus spon-
tanen Äußerungen entnehmen konnte, anschaulich und mechanisch. Der
Vorteil der Zwanzigjährigen, wie er sich am besten bei den schwierigen
Einzelleistungen (S., M., V-stelHge und Vl-stellige U.) erkennen läßt, ist also
doch im wesentlichen nur quantitativer Art. Mit diesem Jahre hat sich eben
das weibhche Geschlecht von den Erschlaffungen im Gefolge der gewaltigen
geschlechtUchen Umformung so weit erholt, daß der Geist wieder freier wird
zur Ausführung umfangreicherer rechnerischer Gedankengänge. Groß ist der
Fortschritt nicht, man vergleiche nur die Gruppen XIV und XX in den Um-
rechnungen auf Tafel C genauer miteinander! Ich erlebe eine Bestätigung
dessen, was man aus diesem Vergleiche erkennen kann, fast jede Woche
beim Übungsunterricht im Rechnen, wo sich zwanzigjährige Lehrerinnen und
vierzehnjährige Schülerinnen hinsichtlich der gesamten rechnerischen
Gewandtheit oder Ungewandtheit kaum merklich voneinander unterscheiden.
Es ist auch keineswegs anzunehmen, daß nach dem 20. Jahre ein stetiges
Fortschreiten eintreten könnte. Ich verweise nur auf die Versuche in der
Frauenhochschule zu Leipzig im Jahre 1912.2)
Der Leistungsturz von XIV nach XV, wie er sich besonders bei den Um-
rechnungen auf den Tafeln C und II erkennen läßt, ist so gewaltig, daß er
') Siehe S. 393. ^) Voigt, a. a. O., S. 191 f.
Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 395
fast unnatürlich anmutet. Er wird aber gemildert durch die Werte von S und M
in der 3. Querspalte von Tafel C (26—13—7—23 gegenüber 34— 31— 23— 21!),
die eine quantitative Änderung und Besserung andeuten. Man ist versucht,
das Bild von der Umlagerung der Atome in der Molekel zu gebrauchen. In
der Befürchtung, daß der außerordentliche Leistungssturz sich aus groben
Zufälligkeiten ergeben haben könnte, hat mich eine Fünfzehnjährige etwas
beruhigt, die gelegentlich ganz spontan erklärte: „Voriges Jahr waren wir
die beste (!) Klasse in der Mathematik, und dieses Jahr können wir aber
auch rein gar nichts." Lehrerurteile stimmen mit dieser Äußerung überein.
Männliche und weibliche Vpn. Trotz ihrer Sonderstellung innerhalb
der weiblichen Versuchsgruppen haben die zwanzigjährigen Mädchen noch
nicht den Leistungsstandpunkt der siebzehnjährigen jungen Männer und der
Kriegsteilnehmer erreicht; von den neunzehnjährigen Männern werden sie
um mehr als 300;'o übertroffen (Tafel 11, 3. Längsspalte: 49:66). Überhaupt
sind die Durchschnittswerte für die männlichen bzw. weiblichen Vpn. 48*^/o
bzw. 320/0; die untersuchten jungen Männer leisten also genau 50 ^ 0 mehr
als die gleichalterigen Mädchen. Daß dieser ganz außerordentliche Unter-
schied aus der weiblichen Unselbständigkeit erwächst, ergibt sich mit beson-
derer Deutlichkeit aus den Rechnungen im Sechsersystem. Hier sind die
Durchschnittszahlen für die männlichen und weiblichen Vpn. 40 und 22,
d. h. jene übertreffen diese um fast 100" 0. Interessant ist es, daß die Kriegs-
teilnehmer gerade im VI-S. in allen Fällen trotz des eben Festgestellten ganz
beachtlich hinter ihren Altersgenossinnen zurückbleiben. Der Krieg hat also
in dem vorliegenden Falle „in überhohem Maße verweibhchend" gewirkt.
Besonders lehrreich für den Vergleich der Geschlechter sind die Tafeln B
und C, soweit sie sich auf die Divisionen beziehen. Die Gesamtleistungs-
zahlen der 3. Querspalte bewegen sich hier für die männlichen Vpn. zwischen
7 und 44, für die weiblichen zwischen 0 und 7. Bis zur 4, Division sind
nur die jungen Männer vorgedrungen (Gruppe XV!); die weibhchen kommen
nirgends über eine Divisionsaufgabe hinaus. Die Sonderstellung der neun-
zehnjährigen jungen Männer wird durch die Divisionen besonders gut
illustriert. Auch die nichtgedruckten r -\- ^ -Tabellen widersprechen in keinem
Falle dem eben Gesagten, bestätigen es vielmehr und zeugen noch deutücher
für die Überlegenheit der männlichen Vpn. So sind beispielsweise deren
Zahlen für die Additionen durchweg so gut, daß sich eine einzelne Gruppe
überhaupt nicht herausheben kann (84 — 100 o'o). Die Mädchen sinken da-
gegen schon bei der 2. Addition auf 51 0 0 (Männer 91 0/0).
Im ganzen genommen ergeben sich für die männhchen und weiblichen
Vpn. bei Berücksichtigung der halbrichtigen Lösungen die Prozentzahlen 59
und 43, d. h. die weiblichen Vpn. haben einen wesenthch größeren Zuwachs
an halbrichtigen Lösungen aufzuweisen. Das Gesamtbild der rechnerischen
Entwicklung können diese r -\- —-Tabellen im übrigen jedoch nicht verändern,
sie bieten aber eine gute Handhabe, um auch die QuaUtät der Leistungen
zahlenmäßig zu charakterisieren.
Vorher ein Wort zu der Schwierigkeit der Operationen; denn auch
die vorliegenden quantitativen Versuche können Fingerzeige für die Beant-
wortung dieser Frage geben, obwohl es sich im Grunde nicht um Additionen,
396
Woldemar Voigt
Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen im 'gebräuchlichen Sinne
handelt, sondern um logisch-rechnerische Denkübungen an diesen elemen-
taren Rechenoperationen und mit ihrer Hilfe. Die folgende Übersicht be-
zieht sich in ihren senkrechten Reihen auf die einzelnen Aufgaben, in ihren
wagrechten entweder nur auf die völlig richtigen Lösungen oder auf die
richtigen plus halbrichtigen zusammengenommenen. Es handelt sich um
Durchschnittswerte für alle Vpn. ohne Rücksicht auf das Lebensalter.
Männliche Versuchspersonen
Weibliche Versuchspersonen
r+:
A
A
A
s
S
I\I
M
D
D
D
D
A A
A
S S
M M
D
D
D
73
77
73
68
54
5
54
4
35
4
44
0
11
3 3
6
1
63 53
56
51
40 32
36
21 29
25
3
0
0
93
96
93
90
59
6
64
2
69
6
65
7
14
9 1 5
9
1
92 182
82
72
48|58
49
47 143
45
3
2
0 !
1
Männliche und weibliche Versuchspersonen
r
^+2
65
45
£6
32
56
Es ist zunächst unverkennbar, daß der Divisionsvorgang ein besonders
schwieriger, vielleicht sogar ein ganz besonderer Prozeß ist*). Sodann er-
gibt sich aus den Zahlen, daß die Additionen die geringsten Schwierigkeiten
geboten haben. Das liegt einmal daran, daß 2 Additionen in der Lektion
vorgerechnet worden sind, erklärt sich andererseits aber auch aus dem Wesen
des Additionsvorganges selbst, der mit Sicherheit weniger Energieaufwand
erfordert als der Multiplikationsprozeß, soweit dieser nicht völlig mechanisiert,
sondern regelbedingte Tätigkeit ist-). Nach der letzten Zeile der Übersicht
zu schließen, scheinen Multiplikationen und Subtraktionen gleich „schwer"
zu sein, vielleicht letztere sogar etwas schwerer, weil sie später auf dem
Aufgabenzettel auftreten. Bei den Multiphkationen finden • sich viel mehr
halbrichtige Lösungen als bei den Subtraktionen; die Halbheiten erklären
sich zumeist aus dem Zurückfallen in das gewohnte Zehnersystem, ein Be-
weis, wie verlockend ausgefahren die Multiplikationsgleise sind, d. h. wie
außerordentlich mechanisch das gewöhnliche Multiplizieren vor sich geht 2).
Einzelversuche geben dieser Ansicht recht. Die weiteren Einzelheiten der
Tabelle sind nicht uninteressant; da es sich aber nur um je 2 bis 4 Rechen-
beispiele handelt, haben die Zahlen zu geringe Beweiskraft^).
2. Die Qualität der Leistungen.
a) Das Verhältnis der halbrichtigen Lösungen zu den richtigen.
Die männlichen Vpn. Durchschschnittlich machen die halbrichtigen Lösungen
der jungen Männer 25 o/o der richtigen Lösungen aus, für die Umrechnungen
bezw. Rechnungen heißen die entsprechenden Werte 16 o/o und 34 "/o. (Tafel
III.) Dieser beträchtliche Unterschied ist nicht verwunderlich; denn bei den
U. handelt es sich in allen Aufgaben um einheithch gestaltete Gedankenreihen.
') Meumann III, S. 652. (Andere Meinung.)
-) Meumann, Vorl. III, Seite 652.
■'; Vergl. auch Seite 392. *) Vergl. auch Seite 387, 389, 390.
Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 397
die im allgemeinen nur in einer Richtung verschoben werden können, bei
den R. dagegen können in vier verschiedenen Operationen die verschiedensten
Entgleisungen vorkommen. Die größere Möglichkeit ist die Ursache der
größeren Tatsächlichkeit, ein einfaches Beispiel der Wahrscheinhchkeitslehre
(Strafgesetz).
In allen Fällen wahrt sich das 19. Lebensjahr seine günstige Sonderstellung,
am deuthchsten aber eben bei den Rechnungen. Überhaupt ist das Bild,
das die Umrechnungen bieten, etwas verworren; die Zahlen sind eben hier
zu günstig, d. h. zu klein, sodaß sie auf einer zu geringen Anzahl von Einzel-
ergebnissen ruhen und in erhöhtem Maße Zufälligkeiten unterliegen. Ein
Widerspruch zu .der Gruppierung XV bis XVIII — XIX, XX ist jedenfalls nicht
aus ihnen zu entnehmen. Auch in dieser Tabelle bilden die Rechnungen
im VI-S. keine besondere Schwierigkeit für die männlichen Vpn.; mit Be-
ginn des 18. Jahres werden die Leistungen in diesem System sogar sicherer
und exakter als im besprochenen Achtersystem. Um so mehr muß daher
die Sonderstellung der Kriegsteilnehmer auffallen, bei denen ein ganz ge-
waltiger Unterschied zu Ungunsten des Sechsersystems zu konstatieren ist.
Tafel m.
Verhältnis der halbrichtigen zu den richtigen Lösungen ( ^ : r ]
Durchschnittswerte.
Umrechnungen Rechnungen Durchschnitt (U — K)
;av xvxvixviixvraxixxx d i xiv xv xvi xvn x\Tn xix xx d ixrvxvxvTXvnxvmxixxx d
Die männlichen Versuchspersonen
Vin-S — 6 0 21 13 8 3 9 ! — 41 36 31 -15 20 31 34 1 — 24 18 26 29 14 17 22
VI-S — 19 69 10 27 5 53 23 i — 43 39 32 40 13 59 33 ; — 31 54 21 34 9 56 28
D — 13 35 16 20 7 28 16 I — 42 38 32 43 17 45 34 ' — 28 36 24 32 12 37 25
Die weiblichen Versuchspersonen
YIll-S 9 5 30 30 24 18 15 22 ! 81 40 46 50 66 38 36 43 : 45 23 38 40 45 28 26 33
VI-S 28 29 48 39 75 61 20 44 j 81 48 87 65 79 cO 32 62 1 55 39 68 52 77 56 26 54
D 19 17 39 35 50 40 18 33 181 44 67 58 73 44 34 53 [ 50 31 53 46 61 42 26 43
Die weiblichen Vpn. Im ganzen genommen ist die Exaktheit der Mäd-
chen vom 14. bis zum 19. Lebensjahre gleich gut bezw. schlecht, nur die
Zwanzigjährigen heben sich ein wenig hervor, auch insofern, als bei ihnen
allein die Aufgaben im Sechsersystem ebenso sicher gelöst werden wie im
Achtersystem, gelegentlich sogar ein wenig sicherer. Alle andern weibHchen
Gruppen rechnen im VI-S. ganz erheblich unsicherer, unexakter, man möchte
beinahe sagen liederhcher und gewissenloser als im VIII-S. Sehr interessant
sind bei den Vierzehnjährigen die Zahlen für die Umrechnungen verglichen
mit denen für die Rechnungen. Die Spannung beträgt nämhch im Durch-
schnitt 62 (!), im VIII-S. sogar 72. Das ist nur ein Beweis dafür, daß die
Mädchen im 14. Lebensjahre in der Anschauimg noch eine sehr erwünschte
Stütze suchen und finden. Die Abstraktion, wie sie bei den Rechenopera-
tionen verlangt wird, bietet ihnen dagegen große Schwierigkeiten und ver-
leitet sie zu halbgewalkter, „ungefährer" Arbeit. In der Folgezeit erweist
sich — wie auch gelegentliche Äußerungen bestätigen — die Anschaulich-
keit immer mehr als Hindernis zu völlig richtiger Tätigkeit (1. Längsspalte),
398 Woldemar Voigt
und selbst die Zwanzigjährigen gewinnen mit ihrer besseren abstrakten Er-
fassung der Sachlage kaum die fröhliche Sicherheit des 14. Lebensjahres
wieder. Naturgemäß zeigt sich aber ihre Überlegenheit über die Jüngsten in
den Rechnungen dafür um so erkennbarer.
Die männlichen und weiblichen Vpn. Durchschnittliche Maßzahlen
für die Unexaktheit der rechnerischen Tätigkeit sind 43 und 25, d. h. die
Mädchen rechnen fast noch einmal so — bewußt oder unbewußt — unsicher
wie ihre männlichen Altersgenossen. Die größte Spannung findet sich wie-
derum bei den Rechnungen im VI-S.; hier liegen die Durchschnittswerte auf
33 und 62, und die Vergleichs werte der Einzelgruppen fallen dementsprechend
natürlich ebenso ungünstig für die Mädchen aus. Das Erfordernis größerer
Selbständigkeit und ausgedehnterer Abstraktion zwingt die männlichen Vpn.
zu umso energischerem Kraftaufwand, größerer Konzentration und damit
vorzüglicherer rechnerischer Exaktheit, verleitet aber die Mädchen — im all-
gemeinen! — zu Flüchtigkeiten, Halbheiten, d. h. zu großer Unexaktheit.
Im 15. Lebensjahre arbeiten junge Mädchen und Jünglinge noch gleichmäßig
gut oder schlecht, von da an trennen sich die Wege immer mehr. Trotz
alledem rechnen die Kriegsteilnehmer unexakter als ihre Altersgenossinnen,
was wiederum beim VI-S. ganz besonders deutlich erkennbar wird.
b) Das Verhältnis der falschen Lösungen zu den richtigen. Es
^sind durchschnittlich halb soviel Aufgaben falsch gerechnet worden wie
richtig {430/0 + 540/..) : 2 = 48 0/0, siehe Tafel IV. Dabei ist aber zu bemerken,
daß bei den Divisionen ganz außerordentlich viele Falschlösungen auftreten,
so daß im allgemeinen ein geringerer Prozentsatz in Frage kommt. Somit
sind die Versuchsergebnisse — wiederum methodisch genommen — auch in
dieser Hinsicht als recht brauchbar zu bezeichnen.
Tafel IV.
Verhältnis der falschen zu den richtigen Lösungen (f : r)
Durchschnittswerte.
Umrechnungen Rechnungen Durchschnitt (U + K)
XIV XV XVI XVII XVm XIX XX D 1 XIV XV XVI X VII XVUI XIX XX D I XrV XV XVI XVII XVIII XIX XX D
Die männlichen Versuchspersonen
VIII-S — 27 38 19 25 5 5 25 } — 80 38 72 79 33 51 57
VI-S — 59 121 10 30 18 75 39 — 78 53 36 54 51 59 52
D — 43 80 15 28 12 40 32 1 — 79 46 54 bl 42 55 55
Die weiblichen Versuchspersonen
VIII-S 25 53 30 4 23 0 12 22 1 97 57 40 45 69 38 33 50 1 61 55 35 25 46 19 23 36
VI-S 21 44 136 22 80 24 16 49! 194 67 152 86 179 59 32 93 108 56 144 54 130 42 24 71
D 23 49 83 13 52 12 14 36 1146 62 96 66 124 49 33 72 1 85 56 89 40 88 31 21 54
— 54 38 46 52 19 28 41
— 69 87 23 42 35 67 46
— 61 62 35 47 27 48 44
Die männlichen Vpn. Bei den jungen Männern tritt unverkennbar
ganz allmählich ein Sinken der Zahl der fehlerhaften Lösungen ein (3. Längs-
spalte), die 19- jährigen stehen durchweg am günstigsten da, und die Kriegs-
teilnehmer fallen nicht auffallend ab. Das ist ein Zeichen für eine gewisse
Stetigkeit und Ruhe im Denken und für eine klare Einsicht in die eigenen
Fähigkeiten. Dabei unterscheiden sich VI-S. und VIU-S. nicht wesentlich;
bei den Rechnungen fallen die Zahlen für das neuartige VI-S. sogar ein
Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 399
wenig besser aus. Das im vorigen Abschnitte Gesagte wird somit ergänzt:
die männlichen Vpn. lassen sich durch die Neuartigkeit der Anforderungen
auch nicht zum Fehlermachen verleiten.
Die weiblichen Vpn. In den Vergleichsgruppen ist keineriei Auf-
stieg zu fehlerfreierer Arbeit zu spüren, man verwische nur bei den D-Werten
der 3. Längsspalte den charakteristischen Zickzackverlauf der Kurve durch
Bildung von Mittelwerten für je 2 benachbarte Versuchsgruppen. Und die
Zwanzigjährigen sind kaum sicherer als die Neunzehnjährigen. Auffallend
sind aber die enormen Werte im VI-S. — sie reichen teilweise bis an 200
heran — und die gewaltigen Schwankungen zwischen den einzelnen Alters-
gruppen. Zudem werden im Sechsersystem ohne Ausnahme mehr Fehler
gemacht als im Achtersystem.
Die männlichen und weiblichen Vpn. So kommt es, daß männ-
liche und weibhche Vpn. sich besonders im VI-S. imterscheiden : Die Maß-
zahlen sind 52 und 93, d. h. die Mädchen arbeiten fast noch einmal so
fehlerhaft wie die jungen Männer. Im Achtersystem dagegen ereignet es
sich sogar, daß die Mädchen hier und da um ein geringes fehlerfreier
arbeiten als die jungen Männer. Nach -Ahmen, Nach -Denken: das ist die
Stärke des weibhchen Geschlechts in der Welt der Zahlen. Wo es geführt
und angeleitet wird, macht es innerhalb dessen, was es leistet, prozentual
wenigstens nicht mehr ausgesprochene Fehler als das männliche.
c) Charakteristische Lösungen, Halbheiten und Fehler. Wie
schon ausgeführt wurde*) und wie besondere aus Einzelbeobachtungen und
Einzeläußerungen hervorgeht, ist die Division allen Vpn. als eine ungemein
schwierige Leistung erschienen. Und gerade hier rechnen die jungen Männer
genau doppelt soviel richtig wie die Mädchen — wenn man die halbrichtigen
Lösungen mit betrachtet, sogar sechsmal soviel-), — und während die Mäd-
chen sich nur ganz vereinzelt an die leichtesten Divisionen heranwagen,
führt schon ein Fünfzehnjähriger alle 4 Divisionen glatt und ohne Umwege
durch. Der Sprung in der Entwicklung vom 18. zum 19. Lebensjahre ist
auch bei der Division deutlich erkennbar; die Mädchengruppen dagegen
unterscheiden sich nicht wesentlich: ihre beiden jüngsten Gruppen leisten
gar nichts, und im übrigen handelt es sich um kaum nennenswerte Zahlen.
Jedenfalls heben sich die Zwanzigjährigen in keiner Weise hervor, und ein
mathematisches Talent ist in keiner Gruppe zu erkennen 3).
Bei den männhchen Vpn. treten gelegentlich aus der schriftlichen Dai*-
stellung deutlich erkennbar Lösungswege hervor, die von klarster Erfassung
der rechnerischen Probleme und von erfreulichster Selbständigkeit zeugen.
So rechnet beispielsweise ein Neunzehnjähriger im VI-S.: 3^ 54
Elegant ist diese Lösung nicht, und man fühlt ordentlich den beson- 4
deren Energieaufwand, den sie erfordert hat, aber der junge Mann -200
hat sich die richtige Lösung erzwungen. Ein Sechzehnjähriger führt ^
die Aufgabe 315 • 4 auf die Addition 315 -h 315 -\- 315 -h 315 zurück. ^^
Ähnliche Lösungen oder gar die Ausführung einer Proberechnung,
die die neunzehn- und zwanzigjährigen jungen Männer häufig anwenden, wird
man bei den Mädchen vergebüch suchen. Wenn diese bei der Anwendung des
aus dem Zehnersystem bekannten Lösungsweges auf Schwierigkeiten stoßen.
*) Siehe Seite 396. -) Aus Einzeltabellen zusammengestellt. ^) Vergl. auch Seite 403.
400 Woldemar Voigt
ist — soweit ich sehe — der Fall für sie erledigt. Der rechnerische Prozeß
verläuft bei ihnen eben meistens mechanisch. Wie können sonst noch
Zwanzigjährige für 20400 im VIII-S. 435200 im X-S. gewinnen, wo doch aus
den voraufgehenden — richtigen! — Lösungen zu entnehmen war, daß der
neue Wert ziffernmäßig kleiner als 20400 sein mußte!
Von Größenbewußtsein ist beim weiblichen Geschlechte auf allen Stufen
beinahe nichts zu spüren, dagegen findet man bei den männhchen Vpn.
unwahrscheinlich große Zahlen nur auf den Zetteln der Fünfzehnjährigen.
Es war mir interessant, bei einer gleichzeitigen Untersuchung eines Herrn
u nd einer Dame hinsichtlich des Vorhandenseins einer Art Größenbewußtsein
— im fremden System kann es sich ja nur um ein vages Ungefähr, um ein
gewisses Ortsgefühl handeln — Entsprechendes feststellen zu können.
In den Umrechnungen verschieben alle Mädchengruppen häufig die Stellen-
werte; sie erhalten bei verschiedenen Aufgaben gleiche Lösungen, sie ver-
wechseln bei der Addition die zu merkende und die zu schreibende Zahl,
sie gewinnen Differenzen, die größer sind als der Minuend, Quotienten, die
bei ganzzahligem Divisor größer sind als der Dividend: das alles findet man
bei den jungen Männern nicht oder nur ganz vereinzelt auf der Unterstufe
und — bei den Kriegsteilnehmern. Und wo sich das Größenbewußtsein doch
einmal regt, da hilft sich das Mädchen durch irgendeine Division mit 5
oder mit 2, mit 36, mit 64, manchmal auch abwechselnd, oder es läßt ganz
einfach eine Null oder einen Bruch oder ein Komma weg und schreibt bei-
spielsweise auf den Zettel 302 = 27,0,5 = 2705! Man wird sich vergeblich
bemühen, diese Lösung psychologisch zu deuten. So zeugen die falschen
Lösungen der Mädchen von einer rechnerischen Gewissenlosigkeit, die bei
den jungen Männern nirgends zu erkennen ist.
Weil bei der Umrechnung von 10 sich 8 bzw. 6 ergibt, werden von vielen
Mädchen alle gegebenen Zahlen einfach mit ^/ö oder ^/ö multipliziert, was
falsch bleibt, auch wenn die Zwanzigjährigen ihre Fehler in das schillernde
Gewand einer Proportion mit x kleiden. Weil bei den vorgeführten Addi-
tionen zufällig an viertletzter Stelle eine Eins erschien, wird noch von neun-
zehnjährigen Mädchen bei allen Lösungen eine 1 vorgesetzt usw. Solche
voreilige Verallgemeinerungen eines einzigen Falles führen die Mädchen
zuweilen zu den sonderbarsten Regeln, die teils so komphziert sind, daß ich
und die betreffende Vpn. nach einigen Tagen sie nicht mehr herausfinden
konnten, teils so verblüffend einfach, daß mir die Arbeiten schon nach
wenigen Minuten triumphierend in die Hand gegeben wurden. Gewiß kommen
solche Verallgemeinerungen auch unter den Fehlern der männlichen Vpn.
vor, aber wi ederum nur einige Male bei den Fünfzehnjährigen. Zwar rechnet
^uch ein Achtzehnjähriger beispielsweise 274 ==128 + 56 -f- 5 und verändert
bei sonst richtigem Lösungsverfahren durchgängig die Einer durch Multi-
plikation mit ^jö, aber dieser Fehler zeugt m. E. nicht von leichtfertiger Ver-
allgemeinerung.
Interessant ist für die Rechentätigkeit der Mädchen noch die folgende
Lösung einer Fünfzehnjährigen: 53 = 5 • 18 + 3 • 8. Das Kind gehört sicher
zum akustischen Typ, hält sich an die Achten, die im Ohre nachklingen
und bringt nun rein gefühlsmäßig eine Lösung zustande, ohne sich im
übrigen wegen des rechnerischen Problems irgendwelche Ungelegenheiten zu
machen.
Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 40I
Eine andere Fünfzehnjährige schreibt bei der Umrechnung von 274 aus
dem Vm-S. ins X-S.: ^ .
2 Händen
2 .
10= 20
2
2
8= 16
10
10
8= 80
20
20
8-160
30
30
8 = 240
34
auf
274
4 Hände gehen 32, bleiben 2 Finger übrig. Bei 274 sind 234.
Das ist ein Kleben am Anschauhchen, das bei den männlichen Vpn. nirgends
mehr zu finden ist, das aber bei den Zehn- bis Dreizehnjährigen beiderlei
Geschlechts naturgemäß häufiger anzutreffen war. Solche Anklänge an das
kindUch anschauliche Rechnen finden sich aber auch noch bei den zwanzig-
jährigen Mädchen: In einer 7. Klasse der höheren Mädchenschule, wo ich
die Anwendungsmöglichkeit des Versuchs für dieses Alter feststellen wollte,
rechneten eine ganze Anzahl im Achtersystem 35 4-43 = 71, und dieser
doch ganz charakteristische Fehler findet sich noch bei der Gruppe XX!
So beweisen die Fehler das bereits Gewonnene und bekräftigen die Ver-
mutung, daß nach dem 20. Lebensjahre bei dem weiblichen Geschlechte
keinerlei Höherentwicklung der Anlage zum Rechnen erfolgt ^).
Rein mechanisches Verfahren, mangelndes Größenbewußtsein, mathematische
Gewissenlosigkeit, vorschnelles Verallgemeinern, gefühlsmäßiges Arbeiten,
Kleben am Anschauhchen: das sind die Schlagworte, mit denen man — im
allgemeinen! — die rechnerische Tätigkeit der Mädchen von 14 bis 20 Jahren
kennzeichnen kann.
Die jungen Männer machen sich im Laufe der Entwicklung von allen diesen
Fehlern, soweit sie sie überhaupt besitzen, völlig frei.
Wenn man nun aber bei den Kriegsteilnehmern wiederum Stellenverschie-
bungen, Multiplikation mit ^/s, unmotiviertes Anhängen einer Null beim Ad-
dieren, Hilflosigkeit in der Behandlung der Zahlen unter 8 — ebenfalls bei
der Addition — vorfindet und daneben die besonders guten Leistungen in
dem anschauhch dargebotenen Achtersystem in Betracht zieht, so erkennt
man, wie verwildernd der Krieg auf das abstrakte Denken eingewirkt hat,
wie wenig er dagegen dem anschaulichen Denken hat anhaben können.
Dieses anschauliche Denken ist eben das natürhche und natürlich bleibende.
3. Individuelle Verschiedenheiten'innerhalb der Versuchsgruppen.
Stellt man die Vpn. nach der Zahl ihrer richtigen Lösungen — von Cr
bis 21 r — zu Gruppen zusammen, so ergibt sich innerhalb der Vergleichs-
gruppen 2) je eine ziemlich gleichmäßig verlaufende Prozentkurve, die sich
beim männlichen Geschlechte von 8r bis 20 r, beim weiblichen von Or bis
18r erstreckt, also hier bezeichnenderweise um ein bedeutsames Stück nach
der ungünstigen Seite verschoben erscheint. Das Studium der Kurven läßt
es als zweckmäßig erscheinen, Vpn. mit Or bis 5r, 6r bis 13r, 14r bis 17r,
mehr als 17r zu je einer Gruppe zusammenzufassen, um verwendbare Ver-
gleichswerte zu erhalten (Tafel V, II). Die 3 Additionen und die ersten
beiden Umrechnimgen stellen nämhch nur eine einfache Anwendung des
') Siehe Seite 395. ^) Siehe Seite 387.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 26
402
Woldemar Voigt
in der Lektion Besprochenen dar und erfordern keinerlei Selbständigkeit
(0 bis 5); die fehlenden 8 Umrechnungen sind eine einfache Fortführung
der begonnenen Gedankenreihe, die geringe Selbständigkeit erfordert und in
der anschaulichen Grundlage der Lektion eine wesentUche Stütze finden
kann (6 bis 13); die 4 Subtraktionen und Multiphkationen erscheinen den
Vpn. — nach schriftlichen Äußerungen — als etwas wesentlich Neues, das
ohne selbständige Erfassung des Sachganzen nicht zu bearbeiten ist, wenn
die Selbständigkeit auch nur in mechanischer Analogiebildung zu den Ver-
fahren des Zehnersystems bestehen kann (14 — 17); die Divisionen dagegen
bieten den meisten Vpn. unüberwindliche Schwierigkeiten, die sie übrigens
auf die verschiedenste Weise zu umgehen suchen. Es ist natürlich nicht an-
zunehmen, daß durchweg die genannten Exempelgruppen genau so, wie eben
besprochen, bei den einzelnen Vpn. auftreten.
Tafel V.
Individuelle Verschiedenheiten
I. innerhalb der Vergleichsgruppen
Or
Ir
2r
3r 4r 5r 6r
7r 8r
9r
lOrllr
12rl3r
14rl5r
16rl7rl8rl9r
20r 21 r
männl. Vpn.
weibl. Vpn.
13
5 3 6
8 4 3
3 11
6 6
6 9
5 4
4 4
7 i 7
5 12
4 I 4
8 6 4
3 4 1
n. innerhalb der Einzelgruppen
männliche Versuchspersonen
0-5r 6-13r 14-17r >17r
XIV
—
—
—
—
XV
13
53
27
7
XVI
8
71
21
0
XVII
17
33
50
0
XVIII
24
38
29
10
XIX
0
38
31
31
XX
19
25
4-1
13
XV-XIX /
13
48
31
9
weibliche Versuchspersonen
0~5r 6-13 r 14-17 r >17r
14
64
23
0
XIV
36
54
10
0
XV
46
38
15
0
XVI
34
48
17
0
XVII
33
52
14
0
XVIII
45
30
20
5
XIX
19
30
51
0
XX
39
46
15
1
f XV-XIX
Die Tabelle läßt wiederum die neunzehnjährigen jungen Männer besonders
hervortreten: Unter ihnen allein ist keiner, der weniger als 6r hat, und 31 ^/o
können 18 und mehr richtige Lösungen aufweisen. Das ist nicht Zufalls-
erscheinung oder Ergebnis besonderer mathematischer Erziehung; denn
einerseits decken sich Gruppen und Klassen nicht, und andererseits ist aus
den Zahlen der Achtzehnjährigen deutlich die Vorbereitung zu dem einsetzen-
den Sprunge zu erkennen (lOO/o haben hier mehr als 17r). Zudem ist ja
eben irgendwelche spezielle Übung so gut wie völlig ausgeschlossen.
Die Sechzehnjährigen ballen sich in der 2. Längsspalte zusammen: die
Fähigkeit zu selbständigen Leistungen ist also allgemein vorhanden, aber
noch schwach entwickelt *). Ein ähnliches Zusammenballen erkennt man in
geringerem Grade schon bei den Fünfzehnjährigen, deutlicher noch — bei
den vierzehnjährigen Mädchen.
») Vergl. Seite 390.
Losisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 403
So wirft die einsetzende Pubertät die Mädchen mit elementarer Wucht über
die Schranken des Kindlichen hinaus, um sie recht bald — allerdings inner-
lich verändert — an diese Schranken zurückfallen zu lassen O- Die Kurven
der fünfzehnjährigen bis neunzehnjährigen Mädchen sind nämhch der der
vierzehnjährigen ähnlich, hegen aber sämthch ungünstiger als diese und
ungünstiger als alle Kurven der männhchen Vpn. Nur die zwanzigjährigen
Mädchen erringen in der 3. Längsspalte eine beträchthche Zahl. Ilire Kurve
gleicht frappierend der der IT-jährigen jungen Männer, die noch weit von
dem zweiten Ruck in der Entwicklung entfernt sind.
Geburtstag
11. 12. 13. n. 15. 16. 17. 18. 19.
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1
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Ein einziges unter 220 Mädchen hat mehr als 17 Aufgaben richtig gelöst,
nämlich 18, von den 109 männlichen Vpn. haben es 10 auf teilweise sogar
20 richtige Lösungen gebracht! Auf 20 rechnerisch zweifellos über den
Durchschnitt begabte junge Männer kommt ein einziges annähernd gleich be-
fähigtes junges Mädchen!
So ist naturgemäß auch die Durchschnittskurve der Vergleichsgruppen bei
den Mädchen schmaler als bei den jungen Männern; die geringere Entwick-
lungsfähigkeit der Mädchen bedingt eine größere Gleichförmigkeit in der
rechnerischen Anlage. Dabei ballen sich die Mädchen in der 1. und 2. Längs-
spalte noch besonders zusammen, während die jungen Männer höchste Werte
in der 2. und 3. (!) Längsspalte aufweisen: die Variationsbreite ist beim
männlichen Geschlecht somit gerade in der günstigen Richtung wesent-
lich größer.
Die Kriegsteilnehmer gleichen in der Form der Kurve am deutlichsten ihren
siebzehnjährigen Geschlechtsgenossen, stehen jedoch in den ersten drei Zahlen
M Vergl. Seite 395.
26"
404 Woldemar Voigt
etwas ungünstiger da als diese; dafür reicht aber ihre Variation bis in die
Gruppe der 18 Lösungen hinein, sodaß auch bei ihnen der charakteristische
Unterschied vom weibhchen Geschlechte deutlich zu erkennen ist. Minimale
Leistungen treten häufiger auf als bei den zwanzigjährigen Mädchen und
seltener als bei den anderen weiblichen Versuchsgruppen, soweit diese in
das Versuchsgebiet gehören.
4. Verknüpfung der vorliegenden Untersuchungen
mit denen von 1912.
Kriegseinflüsse. Volksschülerinnen und „höhere" Schülerinnen.
Um die Verbindung mit den Ergebnissen von 1912 i) herstellen zu können,
habe ich die vorliegenden Untersuchungen auch mit Mädchen des 14. Lebens-
jahres vorgenommen 2). Deren Beteihgung an der Lösung der Aufgaben ist
nur wenig geringer als die der fünfzehnjährigen Knaben — Maßzahlen 75
bzw. 80, Tafel I, Seite 391 — und eben so groß wie die der sechzehnjährigen
und siebzehnjährigen jungen Männer, sowohl bei den Umrechnungen wie
bei den Rechnungen. Das will nicht allzu viel besagen, ist aber immerhin
bemerkenswert. Wichtiger ist, daß auch bei den richtigen Lösungen —
Tafel II, Seite 392 — fast gleiche MaßzahJen für die vierzehnjährigen Mäd-
chen und die fünfzehnjährigen Knaben vorliegen, nämlich 40 und 43. Im
einzelnen liegt hier die Sache so, daß die Mädchen die Knaben hei den Um-
rechnungen, wo die anschauliche Denkweise zweifellos ein Vorteil ist, über-
treffen, daß sie den Knaben aber in den Rechnungen merklich nachstehen;
denn hier ist der Denkvorgang notwendig abstrakterer Natur. Daher ist
denn auch hier der Prozentsatz an halbrichtigen Lösungen bei den Mädchen
ganz besonders hoch (Tafel III, Seite 397). Trotz allem wird aber das Ergebnis
der Untersuchung von 1912 bestätigt; denn die Mädchen sind um die Zeit
des 14. Lebensjahres den Knaben quantitativ immer noch um fast ein Jahr
in der Entwicklung der rechnerischen Anlage voraus, wenn sich auch der
nunmehr einsetzende Umschwung schon vorbereitet. Es ist nicht ohne Reiz,
zur genaueren Beleuchtung des eben Gesagten die Einzelwerte auf den
Tafeln B und C (nicht abgedruckt) zu vergleichen.
Die Verknüpfung der obengenannten Ergebnisse mit denen der vorliegen-
den Arbeit stößt nunmehr jedenfalls auf keinerlei Schwierigkeiten, und die
Entwicklungskurve kann vom 10. bis zum 20. Lebensjahre ohne Unter-
brechung verfolgt werden.
Die einzelnen Maßzahlen von 1912 sind natürlich mit den vorliegenden
nicht vergleichbar, schon weil es sich teilweise um andere Aufgaben handelt.
Aber selbst wenn durchweg dieselben Aufgaben hätten gestellt werden können,
bestünden schwere Bedenken gegen den Einzelvergleich; denn der gesamte
psychische und physische Habitus der Jugend von 1919 scheint ein anderer
zu sein als der von 1912. Diese Vermutung läßt sich zahlenmäßig recht
gut stützen:
Ich habe nämlich die vorliegenden Untersuchungen auch in einer durchaus
normal befähigten Volksschulklasse 3) vorgenommen, und da die Umrechnungs-
aufgaben dieselben waren wie 1912, können wenigstens die durschschnitt-
>) Voigt, a. a. 0., Seite 166 ff. ^) Vergl. Seite 387. ^) Vergl. Seite 388.
Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjährigen usw. 405
liehen Maßzahlen, soweit sie sich auf das Achter- und Sechsersystem zu-
sammengenommen beziehen, nebeneinandergestellt werden. Sie sind, was
Beteiligung betrifft,
88') für 1912, 662) für 1919
was die richtigen Lösungen betrifft,
6-j3) „ 1912, 40*) ,. 1919
r
T +
100
73*)
1912, 59
1910
79^
1912, 46
1910
100
87,5*) .. 1912, 69 .. 1919
^ f
Man sieht, daß die Volksschülerinnen von 1919 quantitativ und qualitativ
ganz beträchtlich viel weniger leisten als die von 1912. Zufallsergebnisse
können so große Zahlenunterschiede nicht sein, haben doch die Vierzehn-
jährigen von 1912 beispielsweise 63 0 0 mehr richtige Lösungen zustande
gebracht als ihre — auch normal befähigten — Altersgenossinnen von 1919,
die kaum mit den 12^2- jährigen von 1912 auf gleicher Stufe sich befinden.
So hat das Kriegselend die geistige Entwicklung unserer Jugend geschädigt!
Ich wage es nicht, auf die Einzelheiten näher einzugehen, dazu ist das vor-
liegende Material leider nicht umfangreich genug. Es handelt sich aber
zweifellos um eine Frage, die — trotzdem die Tatsachen so traurig sind —
besondere Untersuchungen dringend erfordert.
Der obengenannte Versuch bietet auch zugleich Gelegenheit, die Leistungen
der höheren Schülerin mit denen der Volksschülerin zu vergleichen (Tafel VI).
Tafel VI.
Leistungen gleichalteriger Volksschülerinnen und Schülerinnen der höheren
Mädchenschulen.
Durchschnittswerte .
Volksschule
l:a
r: a
r
2=^
VIII-S
VI-S
D
63
69
66
42
38
40
22
8
15
VIII-S
VI-S
D
61
67
64
17
25
21
100
56
78
VIII-S
VI-S
D
62
68
65
30
32
31
-L
61
32
47
höhere Schule
f:r
I:a
f:r
Umrechnungen
35 &4
76 80
56 82
Rechnungen
148 65
111 68
130 67
Durchschnitt (U -f R)
92 75
94 74
93 75
62
9
25
54
28
21
58
19
23
23
81
97
18
81
194
21
81
146
43
45
61
36
OD
108
40
50
85
') Voigt, a. a. 0., Seite 148, Tafel A c.
3_) Voigt, a. a. 0., Seite 152, Tafel B c.
-) Vergl. Tafel VI, Seite 405.
*) Voigt, a. a. 0.. Seite 153, Tafel C, D, E c.
406 Woldemar Voigt
Fast volle Übereinstimmung der zwei Klassen zeigt sich in den Rechnungen:
beide haben 21 ^jo aller Aufgaben völlig richtig gelöst. Quantitativ sind
gleiche Halbheiten — auf 100 richtige Rechnungen kommen 78 bzw. 81 halb-
richtige — und gleiche Fehler — 130 bzw. 143 — sind vorhanden. Und
da ferner die Volksschülerinnen im Sechsersystem sogar etwas besser sind
als die „höheren" Schülerinnen, so kann man wohl behaupten, daß die
logisch-rechnerischen Fähigkeiten in den mittleren und einfachen sozialen
Schichten gleichmäßig verteilt sind.
Ich betrachte das eben Ausgeführte zugleich als Beweis für die Brauch-
barkeit der Untersuchungsmethode, die sich damit wiederum völlig unab-
hängig vom Lehrplane zeigt und somit die Vergleichung auch ganz ver-
schieden vorgebildeter Vpn. gestattet, wenn diese nur die vier elementaren
Rechenoperationen beherrschen.
Sonderbarerweise schneiden aber in den Umrechnungen die Volks-
schülerinnen ganz erheblich schlechter ab als ihre Altersgenossinnen in der
höheren Mädchenschule, wenigstens soweit es sich um die Quantität der
Leistungen handelt — 40:58 — ; besondere Unterschiede in den Fehlern
habe ich nämlich nicht feststellen können, und das Verhältnis der halb-
richtigen zu den richtigen Lösungen ist bei den Volksschülerinnen sogar noch
eine Kleinigkeit besser als in der höheren Schule — 15 : 19 — . Da es sich
nun bei den Umrechnungen im wesentlichen um Analogiebildungen handelt,
um genaues Erfassen eines Systems, kann ich mir das quantitative Versagen
der Volksschülerinnen im Gegensatz zu dem vorhin Gesagten nur aus dem
Lehrplan erklären, der in der höheren Schule im ganzen und im einzelnen
mehr Gelegenheit zur Übung des systematischen Denkens bietet. So kenn-
zeichnen sich die Umrechnungen als eine Methode, die möglichst gleich-
mäßig vorgebildete Vpn. erfordert und deren Ergebnisse bei Vergleichungen
nur mit der nötigen Vorsicht zu verwerten sind.
Zusammenstellung der Ergebnisse.
Indem ich wiederholt») auf Sterns Kanteten 2) hinweise, fasse ich die Er-
gebnisse der Versuche in folgende Sätze zusammen;
1. Die Entwicklung des rechnerischen Denkens erfolgt zwischen dem
10. und 20. Lebensjahre nicht stetig, sondern sprunghaft, und zwar zeigt
sich beim männlichen Geschlechte zweimal — zur Zeit der Pubertät und
beim Beginn des 19. Lebensjahres 3) — , beim weiblichen Geschlechte einmal
— ' zur Zeit der Pubertät — ein deutlich rasches Ansteigen der Rechenfähigkeit.
2: Die Pubertät, die beim weiblichen Geschlechte reichlich ein Jahr früher
einsetzt, bedeutet in der Entfaltung der Anlage zum Rechnen für beide Ge-
schlechter eine Überproduktion an Energie, die einen Rückschlag zur Folge
hat, der sich beim männlichen Geschlechte in einem mehrjährigen Stillstande
der Entwicklung, beim weiblichen in unzweifelhaftem Nachlassen der Rechen-
fähiffkeit äußert. Diese Erschlaffung ist erst bei Beginn des 20. Lebensjahres
völlig überwunden.
3. Die rechnerischen Leistungen des männlichen Geschlechts sind vor der
1) Voigt, a. a. 0., S. 168.
2) Stern, Differentielle Psychologie, Leipzig 1911, S. 33. ^ Lay, a. a. 0., S. 83.
Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- biß Zwanzigjährigen usw. 407
Pubertät merklich geringer als die des weiblichen, übersteigen aber diese
nach der Pubertät immer beträchtUcher.
4. Der Verlauf der Entwicklung und die vergleichsweise Größe der
Rechenfähigkeit lassen sich ungefähr durch die Kurven i) S. 403 charakteri-
sieren.
5. Die individuelle Variation hinsichtlich der Entwicklung der rechnerischen
Anlage ist beim männlichen Geschlechte wesenthch breiter als beim weib-
lichen und hegt im ganzen günstiger als bei diesem.
6. Die Arbeitsweise ist vor der Pubertät bei beiden Geschlechtem im
wesenthchen gleichartig 2). Zwischen dem 14. und 20. Jahre ist die rech-
nerische Tätigkeit des männlichen Geschlechts charakterisiert durch zu-
nehmende Selbständigkeit, Sicherheit, Konstanz eines dauernd korrigierenden
Größen- und Regelbewußtseins 3) und das Streben nach klarer, abstrakter
Erfassung der Probleme (Aktivität). Beim weibhchen Geschlechte lassen
sich in dieser ganzen Zeit — wenn auch allmählich abnehmend — der
Wunsch nach Führung, das Streben nach Mechanisierung, das Haften am
Anschaulichen, die Neigung zu vorschnellem Verallgemeinern und gefühls-
mäßiger Erledigung der Probleme, sowie mangelndes Größenbewußtsein und
häufiges Versagen des Regelbewußtseins erkennen (Rezeptivität).
7. Die Rechenfähigkeit der Kriegsteilnehmer ist quantitativ und quahtativ
bedeutend geringer, als ihrer Entwäcklungsstufe entsprechen würde. Ihre
Arbeitsweise ähnelt in vielen Beziehungen der naiven und der weibhchen.
8. Das Kriegselend hat bei Volksschülerinnen stark hemmend auf die
Entfaltung der rechnerischen Fähigkeiten eingewirkt.
9. Gleichalterige Volksschülerinnen und Schülerinnen der höheren Mädchen-
schule zeigen im wesenthchen gleiche rechnerische Fähigkeiten.
Als nächstUegende praktische Folgerungen sind zu erwähnen:
1. Der Unterricht im Rechnen muß den Mädchen auf allen Stufen
durch weitestgehende Veranschauhchung , durch Herausstellung und Übimg
von Normalverfahren ^), sowie durch fortgesetztes Abschätzen der gegebenen
und zu errechnenden Größen entgegenkommen. Der übergroßen Neigung
zum Mechanisieren ist durch häufige Erarbeitung eleganter Lösungen zu
begegnen.
2. Die Koedukation ist nach dem 14. Lebensjahre für den Unterricht
in der Arithmetik abzulehnen. Das durchschnittsbegabte Mädchen muß diesen
Unterricht in einer altersgleichen Knabenklasse unverhältnismäßig stark hemmen.
Koirelationen.
Da bei den Versuchen nicht die gebräuchlichen Rechenbuchaufgaben ver-
wertet worden sind, erhebt sich die Frage, ob sie denn auch wirklich das
') Die Darstellung fußt im wesentlichen auf den Maßzahlen der Tafel II*) dieser und der
Tafel B*) jener Arbeit. Die Zahlen der letzteren mußten folgerichtig durchweg mit ^/s multi-
pliziert werden; denn die Verknüpfung erfolgt durch Vermittlung der Gruppe XIV (Im), für
die diesmal 40 "/o, 1912 aber 64°/'o*) vermerkt sind. Das gesamte übrige Zahlenwerk beider Ar-
beiten ist zur Ergänzung und Abrundung berücksichtigt worden.
^) Voigt, a. a. 0., S. 167, Pkt. 5. ') Damm, Korrelative Beziehungen zw. elementaren
Vergleichsleistungen, Zeitschr, f. ang. Psych., Leipzig 1914, S. 76.
*) Kühnel, Neubau des Rechenunterrichts, Leipzig 1916, II, S. 1. (Gegenteilige Ansicht,)
') Vgl. S. 392. *) Voigt, a. a. O., S. 152. *) Ebenda, S. 152 u. 153, Absch. c.
408 W. Voigt, Logisch-rechnerisches Denken der Zehn- bis Zwanzigjähr. usw.
erfassen, was man im landläufigen Sinne als Rechnen bezeichnet. Um der
Beantwortung dieser Frage praktisch nahe zu kommen, habe ich bei vier
Klassen die Ergebnisse des Versuchs mit den Einzelzensuren für Rechnen
bzw. Arithmetik, übrigens auch mit denen für Begabung und Gesamtleistung
(ohne technische Fächer) in Beziehung gesetzt. Es handelt sich um neun-
zehnjährige und fünfzehnjährige Seminaristen, deren Zensuren mir Herr Ober-
schulrat Dr. Hözel gütigst mitgeteilt hat, und um Seminaristinnen der ersten
Klassen, die von den Herren Oberschulrat Dr. Gaudig und Oberlehrer
Scheibner geleitet werden und bei denen sich die Zensuren durchweg auf
mindestens fünfjährige Beobachtung gründen. Die Sicherheit aller Zensuren
beruht ferner wesenthch mit darauf, daß die Klassen teilweise von Grund
auf durchgeführt worden sind; dabei hat man individuelle Einseitigkeiten
der Beurteilung durch häufige Zensurenkonferenzen zu vermeiden gesucht.
Es bestehen in den genannten vier Klassen folgende Korrelationen (Tafel VII) :
Tafel Vn.
Korrelationen
zwischen Versuchsergebn
Rechenzensur (Begabungs-
j Zensur
is und
Gesamt-
leistungsz.
1. männl. Vpn.
Gruppe XIX
Gruppe XV
2. weibl. Vpn.
Klasse G. \ Gruppe
Klasse Seh./ XX
n r
14 0,63
15 0,37
16 0,67
15 0,61
w.F.
0,09
0,14
0,08
0,09
r w.F.
0,44 0,13
0,40 0,14
0,78 0,05
0,70 0,07
r w.F.
0,44 0,13
0,39 0,14
0,71 0,07
0,71 0,07
Die Werte sind, da sich die extremen Korrelationen mit 4- 1 bzw. — 1
ausdrücken i), für die weiblichen Vpn. durchweg außerordentlich günstig, für
die männlichen nur insofern, als sie sich auf das Rechnen der Neunzehn-
jährigen beziehen, wo dieselbe Korrelation wie bei den weiblichen Vpn. auf-
tritt (-^- 0,63). Die meisten Zahlen sprechen also für die Sicherheit der Ver-
suchsergebnisse, der Rest jedenfalls nicht dagegen.
Es fällt ferner sofort ins Auge, daß die Korrelation zwischen Allgemein-
begabung und Versuchsergebnis in den beiden Seminaristinnenklassen merk-
lich höher ist als die zwischen Rechenzensur und Versuchsergebnis. Hiernach
wäre zu schließen, daß der Versuch das gesamte logische Denken des
Menschen erfaßt und die Art der Entwicklung der Gesamtintelligenz 2) zu
illustrieren vermag 3), und die vorsichtige Betonung, daß es sich um logisch-
rechnerisches Denken handle, wäre zwar einerseits nicht falsch, anderer-
seits aber absolut überflüssig. Die Gesamtheit der geistigen Veran-
lagungen entwickelte sich dann eben in der dargelegten Weise,
und die aufgezählten Unterschiede in der Arbeitsweise der Geschlechter gälten
allgemein. Damit wäre über die Intelligenz des weiblichen Geschlechts nicht
der Stab gebrochen; denn was für die Arbeit mit Zahlen zum Fehler werden
muß — gefühlsmäßiges Verfahren, rasches Verallgemeinern, anschauliches
^) Damm, a. a. 0., S. 18ff. und Schulze, Aus der Werkstatt der exp. Psychologie u. Päd.,
Leipzig 1909, S. 264. '^) Lay, a. a. O., S. 93.
'') Vgl. auch Meumann. a. a. 0., III, S. 809.
Ernst Lentz, Zum psychol. Problem der „Fremdsprachen und Muttersprache" 409
Denken usw. — , kam? bei anderer geistiger Betätigung zu einer gewissen
Überlegenheit des weiblichen Geschlechtes führen. Doch alle diese Fragen
gehören nicht in den vorliegenden — tatsächlichen — Teil der Arbeit, sie werden
den Gegenstand des zweiten — theoretischen — Teiles bilden, der sich mit der
not^vendigen 1) genaueren Deutung und Analyse der Erscheinungen befassen
\\ird und dessen Bearbeitung zugleich mit der Nachprüfung des gesamten
Materials Herr Assistent Dr. Damm-), Leipzig, freundlichst mit übernommen
hat. Hierin werden auch die Einzelzahlen und kleinen Differenzen mehr zu
ihrem Rechte kommen können, die in einem rein tatsächhchen Teile nur
gelegentUch herangezogen werden dürfen, wenn man nicht den Vorwurf der
Überschätzung des Zahlenwerkes auf sich ziehen will.
Zum psychologischen
Problem „Fremdsprachen und Muttersprache'*.
Von Ernst Lentz.
Was W. Stern über Epstein „La Pensee et la Polyglossie'* kürzUch in dieser
Zeitschrift 3) berichtet, bestätigt im allgemeinen meine Ansichten, die ich bei
verschiedenen Gelegenheiten geäußert habe, und zwar 1. in dem Aufsatz
über das lateinische Extemporale in der Reifeprüfung der Gymnasien, Pädag.
Archiv 1895; 2. in der Zeitschrift für die Reform der höheren Schulen,
1897 unter dem Titel „Die geistige Verfassung des Gymnasiasten"; 3. ebenda
1897 in einem Vortrage, gehalten auf der Generalversammlung des Vereins
für Schukeform zu Braunschweig. „Gegenv/art und Zukunft des lateinischen
Unterrichts auf den Gymnasien"; 4. ebenda 1898 unter dem Titel „Die
Erfolge der lateinischen Lektüre unter den neuen Lehrplänen" ; 5. in meinem
Aufsatz der „Deutschen Welt" 1905 „Für die Muttersprache"; 6. in einem
Buche „Die Vorzüge des gemeinsamen Unterbaues aller höheren Lehranstalten",
3. Aufl., BerMn 1904; 7. in einem Schulprogramm des Königl. Gymnasiums
zu Danzig „Ein Lehrgang der lateinischen Kasussyntax in Quarta" 1907.
Nr. 1, 3, 4 und 5 sind wiederabgedruckt in meiner Aufsatzsammlung „Pädagog.
Neuland", Berlin, Salle 1907. Auch der Anhang dieses Buches enthält
Äußerungen zu denselben Fragen.
Als ich 1879 ins altphilologische Lehramt trat, war ich durchaus von
gegenteiligen Ansichten beherrscht und zwar von der unter den Philologen
seit Fr. Aug. Wolf traditionellen Einschätzung der Fremdsprachen und
besonders der alten als des besten Bildungsmittels für die männhche Jugend
ohne Unterschied der Veranlagung. ^) Der üniversitätsunterricht, der oft auf
'( Damm, a. a. O., S. 78.
-) Außer den im Texte genannten Herren und allen Vpn. bin ich noch Herrn Privatdozenten
Dr. Brahn, Leipzig. Herrn O.-Postass. Voigt, Plauen, Herrn stud. Zenker, FrL J. Rothmann,
Leipzig, Frl. Lehrerin C. Ruthenberg. Bel'hn, und Frl. Lehrerin Et. Weinhold. Leipzig, zu
besonderem Danke verpflichtet.
^) Die Erlernung und Beherrschung fremder Sprachen. Bd. 20 (3/4) S. 104. 1919.
''l Die Wolfsche Lobpreisung der einzigartigen Wirkimg des altklassischen Studiums beschließt
seine , Darstellung der Altertumswissenschaft" v. J. 1807, in der Hoffmannschen Ausgabe von
1833, S. 50 — 75. Es ist ein Glaubensbekenntnis, keine wissenschaftliche ITntersachung. Der
Geist der Jugend wird nach dem des gelehrten Altsrs vorgestellt.
410 Ernst Lentz
Wolf sich zu beziehen Gelegenheit hatte, hatte zwar niemals seine Empfehlung
der Altertumswissenschaft berührt, aber wir jungen Philologen brachten diese
Anschauungen schon von der Schule mit und bestärkten uns gegenseitig
darin. Danach war die Grammatik angewandte Logik, ihre Beherrschung
in den produktiven (expressiven nach Epstein) Leistungen der sicherste
Beweis logischen Denkens, eine Bürgschaft auch für das Verstehen der
Schriftwerke und die beste Grundlage muttersprachlicher Schulung. Leider
entsprachen die Erfahrungen des Lehramts diesen Anschauungen in keiner
Weise: Der allgemeine geistige Zustand der Schüler sank von Klasse zu
Klasse, die große Frische der Sextaner war auf der Mittelstufe oft einer
entsetzlichen Schwerfälligkeit gewichen, ihr quickes Sinnesleben war ertötet,
und logisches Denken wiesen viele, darunter auch gute Grammatiker, als
unbequeme Zumutung zurück (Nr. 2). Die muttersprachlichen Leistungen
litten an Latinismen und einem Mangel lebenswarmen Sprachempfindens,
die Übersetzungen in die Muttersprache (Herübersetzungen) waren, wenn
aus dem Stegreif verlangt, eine Stümperei, auch in den Reifeprüfungen, und
die Grammatik haftete nicht. Die Extemporalien waren meistens eine schwere
Not, weil hinter dem Ganzen keine Freudigkeit wohnte, kein Gefühl des
geistigen Fortschritts, des geistigen Lohnes für alle Mühen. Schüler, die ich
in Quarta nach Nr. 7 mit gutem Erfolg unterrichtet hatte, wußten grund-
legende sprachliche Gesetze dieses Pensums in Sekunda mit wenigen Aus-
nahmen nicht mehr. Es kam nun darauf an festzustellen, ob diese Er-
fahrungen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hatten. Das darf man wohl
behaupten, nach den Äußerungen so vieler Schulmänner, die Paulsen in
seiner Geschichte des gelehrten Unterrichts wiedergibt. Auch vmrde mir,
wenn ich bei Amtsgenossen anderer Gymnasien nachfragte, nirgends recht
widersprochen. Aber man tröstete sich, indem man die Schuld dem „Ballast"
zuschob, den die höhere Schule mitschleppe, wobei man nicht bedachte,
daß fast die ganze Ladung dahin gerechnet werden müßte. Mir schien die
Lehre der Schulpraxis den Beweis dafür zu erbringen, daß die oben ge-
nannten Grundanschauungen der gymnasialen Pädagogik einer Nachprüfung
auf ihre psychologische Berechtigung unterzogen werden müßten. Ich habe
sie unternommen und in den genannten Schriften darüber Rechenschaft gelegt.
Zunächst wurde mir der Irrtuip- offenbar, mit der Methode der expressiven
Arbeiten auch die der impressiven erledigt zu sehen. An der Hand von
Rothfuchs' bekannten didaktischen Weisungen legte ich mir für die Herüber-
setzungen eine Lehrart zurecht, die die Eigenart des impressiven Sprach-
könnens berücksichtigte und habe damit gute Erfolge erreicht, auch in der
Reifeprüfung, auch bei Schülern mit schwächeren Fremdsprachkenntnissen,
aber guter muttersprachlicher Bildung. Überraschend war, was der Unter-
richt Erw^achsener erzielte, die ich in den letzten Jahren gelehrt habe.
Manchem fiel es wie Schuppen von den Augen. So kann die von Epstein
stark betonte Unterscheidung impressiver und expressiver Leistungen der
sprachlichen Methodik nicht dringend genug empfohlen werden.
Indem ich weiter nach der Ursache des gekennzeichneten geistigen Nieder-
ganges auf der Mittelstufe forschte, begnügte ich mich nicht damit, die
Schuld dem „Ballast" zuzuschieben. Denn ich fand die ScWimmsten gar
nicht einmal auf den untersten Bänken, vielmehr in dem geistigen Mittel-
gut, das, ganz von den Aufgaben der Schule beherrscht, seine geistige
/
Zum psychologischen Problem „Fremdsprachen und Muttersprache« 411
Nahrung nur aus den Büchern und hauptsächlich den sprachlichen zog
(Type erudit Binets). Dagegen erfreute mich mancheiner, an dem der Fremd-
sprachenunterricht verzweifelte, der aber Zeit gefunden hatte, offenen Auges
sich in Straße und Flur zu tummeln, mit Antworten auf Verstandesfragen,
vor denen auch Musterschüler verstummten. Diese Erfahrung war die Grund-
lage, auf der meine Beobachtungen und Studien sich verdichteten zu der
Erkenntnis, daß der gymnasiale Lehrplan auf der Unterstufe dem Grund-
gesetze geistigen Werdens widerspricht, wonach Ausbau des Vorstellungs-
schatzes und seine Einkleidung in die Muttersprache die Hauptaufgabe des
Unterrichts ist, also der Muttersprach- und der Sachunterricht die wahren
Quellen der Geistesschuiung sind. (Nr. 3, 5, 6.) Es ist das ja alte Weisheit.
Sie findet sich schon in des Comenius Rufe nach Sachbildung und rein
muttersprachlicher Schulung bis zum 12. Lebensjahre, ist scharf ausgeprägt
bei John Locke, erfährt eine plastische Darstellung in Herders Wort : „In die
IMuttersprache ist unser Denken gepflanzt, und unsere Seele und unser
.johr und unsere Organe der Sprache sind mit ihr gebildet" — tritt bei
Herbart herv-or in seiner Absage an die gegensätzliche philologische Spe-
kulations-Pädagogik und ist doch auch durch die Arbeiten der experimentellen
Pädagogik bereits zum unverlierbaren Gut jeder ernsthaften Erziehungs-
wissenschaft geworden. Damit erwächst uns die Verpflichtung, auf die der
Muttersprache durch den fremdsprachlichen Unterricht drohenden Gefahren
zu ac^fen,'^ wie"'srg~atrch'-atts ^steins Untersuchungen klar zutage treten.
Ich" habe auf sie wiederholt hingewiesen, besonders in Nr. 3 u. 5. Es heißt
doft-tmgefähr: Dieselben Gedanken erhalten vom 10. bis zum 13. Lebens-
jahre auf den alten Schulen vier verschiedene Einkleidungen. Es wäre auf-
fallend, wenn der Sprechende sich da nicht vergriffe, zumal die fremd-
sprachlichen Formen mit größtem Nachdruck dem BewTißtsein eingeprägt
und empfohlen werden, sie, deren Beherrschung das Fortkommen auf der
Schule bestimmt. In wenigen ist das heimische Sprachgefühl so mächtig,
um sich siegreich zu behaupten. Das Deutsch unserer Gelehrten und Be-
hörden, die Angst und Unfähigkeit des gebildeten Mannes, öffentlich frei
zu sprechen, beweisen das zur Genüge. Ein Widerspruch aber ist es zui
allem vorurteilslosen Denken, daß gerade im Gegenteil eine Förderung des!
deutschen Sprachgefühls von dem frühzeitigen Fremdgprachenbetiiebe erwartet
wird. Wenn Sprachfertigkeit eine schnelle und sichere Verbindung der
Gedanken mit ihren lautlichen Abbildern in bestimmten, einer Sprache
eigentümlichen Satzformen bedeutet, so wird diese Sicherheit am ehesten
erreicht, wenn nur eine Verbindung geübt wird. . Gelangen wir doch zu
der zuverlässigsten, a. n. zur'UllCeWüßteri Betätigung jeder Gewohnheit nur/
dann, wenn unser Tun nur eine Art des Geschehens kennt. So verdanken
wir die unfehlbare Sicherheit der Bewegungen, die auch dem Nachtwandler
iioch zu Gebote steht, dem Umstände, daß wir mu- eine Möglichkeit des
fcrehens kennen und üben. Sprechen ist al)er auch nichts anderes als eine
Gewohnheitssache, die demselben Ziele zustrebt, wie jede andere Gewöhnung,
dem des unbewußten Könnens. Und zu demselben Ziele führt auch der-
selbe Weg: stetige Übung der stets gleichen Willensantriebe zu gleichem
Tun, d. i. beim Sprechenlernen zu den stets gleichen Verbindungen von
Gedanken und Worten. Selbst in vorgeschrittenem Alter lockern diese Ver-
bindungen sich, wenn eine andere Sprache die Umgangssprache wird, wie
/
412 Ernst Lentz
u. a. Schliemann an sich nach dreimonatigem Aufenthalt in London bemerkte.
Kinder verlernen (auch nach Meumann) ihre Muttersprache unter solchen
Verhältnissen ganz. Sollte es danach wirklich einen andern Weg zur Aus-
bildung der Muttersprache geben, als den von dieser theoretischen Erwägung
und solcher Erfahrung gewiesenen: Gut sprechen hören und gut sprechen
üben, Gutes lesen und das Aufgefaßte niederschreiben, kurz den Ablauf der
Assoziationen zwischen Gedanken und Muttersprache und umgekehrt fördern
und ungestört erhalten? Wenn der Schöpfer dieses Wunderwerk der Ge-
dankenbildung und Gedankenprägung geschaffen und dem Menschen ohne
dessen besondere Beschwerde zu unbewußtem Gebrauch gegeben hat, sollte
man irgend etwas erdenken können, das besser wäre als der Weisung der
Natur zu folgen, als das freie Spiel des Wunderwerkes? Sollte es irgendwo
von besonderer Weisheit zeugen, wenn man Transmissionen ohne Not. unter-
bricht oder dieselbe Welle mit mehreren Räderweirken zusammenschließt
Muß es dabei nicht Störungen geben hier und dort?
Damit stehen wir allerdings im schärfsten Gegensatz zur gekennzeichneten
philologischen Pädagogik, die die Unterbrechung der unbewußten Assoziation
zum Zwecke bewußten Vergleichs mit anderen Sprachformen und zwar mit
möglichst verschieden gearteten auch für ein vorzügliches Mittel der mutter-
sprachlichen Schulung erklärt. Steckt vielleicht doch ein gesunder Kern darin?
Man könnte ihn darin finden, daß in der Tat die unbewußte Sprach-
erlernung nicht bei allen Menschen ausreicht und zwar aus dem von Epstein
und mir gekennzeichneten Grunde der Sprachhemmung durch andere sprach-
liche Einflüsse. Kinder, auch die gebildeter Eltern, sprechen in der Regel
nicht die Mundart ihres Vaterhauses, sondern die der Umgebung, von der sie
Klang- und Tonfarbe, mundartliche Ausdrücke und auch Sprachfehler über-
nehmen. Sie werden daher öfter zu sprachlicher Besinnung angehalten
werden müssen. Auch unterliegen alle Menschen den Einwirkungen der
sprachumbildenden Kräfte, vor allem der Bequemlichkeit und der falschen
Analogie, der Verwechslungen infolge ähnlichen Klanges sich anreihen (s. unten).
Treten nicht starke Widerstände von selten der guten sprachlichen Über-
lieferung und ihrer Wächter ein, dann entartet die Sprache, was die Gram-
matik und die Wortgeschichte aller Sprachen lehren. Aber solche Wächter
sind doch vor allen Dingen neben gebildeten Eltern die Lehrer der Mutter-
sprache, nicht einer fremden. Wie viel Tausende von Gelegenheiten bieten
sich dem deutschen Lehrer, bei sprachlichen Entgleisungen den Sünder auf
die rechte Bahn zu lenken ! Man denke an eine mit der Rückgabe von Auf-
sätzen ausgefüllte Stunde ! Dabei vergesse man nicht, daß der muttersprach-
liche Unterricht bisher nur mit den Brocken der Lehrzeit hat vorlieb nehmen
müssen, die die wohlgenährten fremden Herren ihm übrig gelassen hatten.
Was wird er schaffen können an liebevoller Einführung in die Geschichte
der Sprache und der Wörter, an sprachpsychologischen und etymologischen
Betrachtungen, an Deutungen sinnverwandter, ähnlich klingender, abstrakter
und seltener Wörter, in der Sonderung der verschiedenen Bedeutungen des-
selben Wortes, wenn man ihn als gleichberechtigt mit jenen anerkennen und
ihm etwa eine Lehrstunde täglich zuweisen wird! Auch der fremdsprach-
liche Unterricht gibt Gelegenheit, einige dieser Aufgaben gelegentlich zu er-
füllen, aber es ist Gefahr vorhanden, daß seine Guttaten mehr als aufgewogen
werden durch folgende Schädigungen:
Zum psychologischen Problem „Fremdsprachen und Muttersprache" 413
1. Der fremdsprachliche Unterricht wendet das Hauptinteresse der fremden/
Sprachform zu, die daher sich schärfer eindrückt als die muttersprachliche.'
2. Bei Abweichungen der Muttersprache von der Fremdsprache erscheint
aus demselben Grunde die fremdsprachliche Form leicht als die vollkommenere.
Im lateinischen Unterricht wenigstens pflegt die Muttersprache als die „un-
genauere" bezeichnet zu werden. Und doch könnte man wohl begreifen,
daß es ungenaue Sprachen überhaupt nicht geben kann, weil Genauigkeit der
Mitteilung dringendes Bedürfnis ist. Freilich birgt die Mehrdeutigkeit der
Wörter die Möglichkeit eines Mißverständnisses in sich, aber diese ist in allen
Sprachen gegeben und kann durch Vorsicht vermieden werden. Die S\Titax
ist so wenig Ursache von Mißverständnissen, daß der Depeschenstil in der
Regel sogar mit einem Bruchteil von ihr verständlich bleibt. Daß vdr in
unserer Muttersprache infolge mangelhafter sjTitaktischer Formen uns nicht
genau genug ausdrücken könnten, ist also eine ungeheuerliche Behauptung,
und wenn sie das Ergebnis des Unterrichts bei allen Lateinschülem ist, wie
meine Erfahrung mich gelehrt hat, dann rede man nicht von Verdiensten
dieses Lehrfaches mn unsere Muttersprache. Denn jede Minderung der
Achtung vor ihr bedeutet eine Minderung der Liebe zu ihr und des Willens
zu ihrer Pflege. Die Schule spricht übrigens Solche Behauptimgen auch zu
dem Zwecke nach, um den Schülern die dürre Kost der Hinübersetzungen
die kAi'npnfTPf^^nlfPnyiiyachs bringen, schmackhaft zu machen.
3. Dazu kommt, daß der Lehrer oft als Brücke z\\ischen den verschieden
gearteten Sprachen den Schülern Z\vischenformen empfehlen muß, also fremde
Sprachformen in muttersprachlichem Gewände. Willst du wissen, ob ,wer'
,qui' oder ,quis' heißen muß, so setze ,derjenige welcher' dafür ein, ein
[bewährtes Mittel, so bewährt, daß das undeutsche .derjenige welcher' fast
Idas muttersprachliche ,wer verdrängt hat. .Die Verschworenen fanden sich
i zusammen zur Ermordung Caesars' bedarf erst der Umformung in: ,sie kamen
zusammen zu dem zu ermordenden Caesar*, um ,ad Caesarem necandmn
convenerunt' zu ermöglichen. Der im pajrfernen Stil so häufige Gebrauch
des Gerundivs hat daher seinen Ursprung. Und nun vergegenwärtige man
sich das fürchterliche Deutsch der Übersetzungsbücher, die wir als Schüler
und Lehrer gebrauchen mußten! (Nr. 4, 5, 6, 7.) Wie konnte sich da ein
gesundes deutsches Sprachgefühl entwickeln? Wie haben wir kämpfen
müssen, um die lateinischen Schlacken vom Guß der muttersprachlichen
Gedankenform zu entfernen ! Dies schlechte Deutsch war eben die Zwischen-
form, die das Übersetzen erleichterte, und wenn es sich in neueren Büchern
auch verbessert hat, so \^ird der Schüler immer noch die Brückenform in
Gedanken bilden und dadurch nach wie vor sein muttersprachliches Gefühl
beeinträchtigen oder gar töten. Es ist klar, daß die geschilderten Gefahren
desto größer sind, je verschiedener die Fremdsprache von der Muttersprache ist-
Nun könnte maiTein wen den, ich sähe zü"schwarz, das neunjährige Kind'
sei doch schon hinreichend im Gebrauch der Muttersprache gefestigt, um die
angestrengte Beschäftigung auch mit einer wesentlich anders gearteten Sprache
ohne Schädigung zu vertragen. Damit vergleiche man meine Angaben in
Nr. 7. Ich habe noch auf Quinta 80 v. H. aller in einer Klassenarbeit von
der ganzen Klasse gemachten Fehler auf mangelhaftes Verständnis der Mutter-
sprache zurückführen können, ich habe auf Quarta 50 v. H. festgestellt. Ich
habe beobachtet, wie leicht ähnlich lautende Wörter und Sprachformen ver-
:/
414 Ernst Lentz, Zum psychol. Problem der „Fremdspraclien und Muttersprache'-
wechselt werden: nennen und ernennen, bitten und erbitten, schmähen und
verschmähen, sich erinnern und erinnern, lernen und lehren, rauben und
berauben, brauchen (nötig haben) und gebrauchen, entscheiden und sich
unterscheiden, kommen und bekommen, fahren und erfahren, auch Gefahren
(wir haben erfahren periculosi habemus), hören und gehören, legen, hegen
und sich legen, wähnen und erwähnen, stellen und sich stellen, erlangen
und gelangen, zählen und erzählen, zweifeln und verzweifeln, sorgen und
besorgen, beschweren und sich verschwören (noch auf der Prima), verteilen
und mitteilen (ebenda), züchten und züchtigen, gereichen und erreichen,
Scham und Schmach (auf Prima), hören und erhören, erwähnen und erwägen
(auf Prima), raten und verraten, befehlen und befehhgen (auf Prima), kaufen
und verkaufen, weder — noch und entweder — oder (noch auf Oberprima), so-
gleich und zugleich, zugleich und zuviel, sobald als und so lange als, jeder
und jener, wenig und zuwenig, denn und wenn und dennoch, wer von beiden
und jeder von beiden, kluger und klüger, ich habe Überfluß und ich habe
Überfluß gehabt, ich werde lieben und ich werde geliebt, ich habe und ich
hatte geliebt, du sollst kommen (Befehl) und du sollst gekommen sein u. a. m.
Ich gebe zu, daß der ältere Schüler den Sinn der Übersetzungsvorlage meistens
richtig erfaßt haben wird und nur sein Gedächtnis sich geirrt hat, aber das
wäre nicht der Fall gewesen, wenn er beim Lernen des lateinischen Wortes
stets ein hinreichendes Verständnis der Wortbedeutung gehabt hätte. Ich
könnte es mir nicht denken, daß ich beim Erlernen einer Sprache ,erwähnen'
und ,erwägen' verwechselte, erinnere mich auch nicht solcher Fehler bei
Sprachstudien im Mannesalter. Der ältere Schüler büßt die Schwäche seiner
Kindheit. Bei dem jüngeren Alter kann aber auch ein Übersetzen ohne Er-
fassen des Inhalts angenommen werden, wobei lediglich Wort mit Wort, also
auch das mißverstandene Wort mit seinem Deckwort getauscht wurde. Es
war nun gewiß gut, daß die lateinische Arbeit Veranlassung bot, die mutter-
sprachhchen Irrtümer festzustellen und zu berichtigen, aber dies könnte doch
auch, wie oben schon gesagt, der muttersprachhche Unterricht leisten, wenn
er sich diese Aufgabe stellte und Zeit hätte, sie zu lösen. Auch unbewußt
klärt sich der Wortvorrat, denn unseren Volksgenossen verständhch zu werden
und ihre Gedanken richtig zu deuten, ist ja dringendes Bedürfnis, ist ja ein
Mittel der Selbsterhaltung, und der Verkehr arbeitet unausgesetzt daran, dieses
Mittel immer mehr zu verbessern. Oder ist es denkbar, daß jemand sein
Leben hindurch ein Dutzend der oben genannten Wortpaare verwechselte?
Dasselbe gilt auch von der Unterscheidung sinnverwandter Begriffe, von denen
manche in der Fachvorbereitung geschieden werden müssen, wie die juristischen
„Eigentum" und „Besitz"; „Verbrechen, Vergehen, Übertretung"; „Verwandt-
schaft" und „Verschwägerung", die philologischen „Wurzel" und „Stamm",
die physiologischen „Arterien" und „Venen" usw. Von der sachhchen Be-
lehrung empfängt die sprachliche auch hierbei das hellste Licht, wenn auch
hier und da, wie bei „affinitas" und „cognatio", die Synonymik anderer
Sprachen lehrreich sein kann, aber doch in höherem Grade die gleichaltriger
Kulturvölker, deren Gedankenschatz dem unserigen näher steht.
Daß die Herübersetzung die geistige Tätigkeit kräftig anregt, indem sie
durch mannigfaltige Gedankenoperationen das Verhüllte zu entschleiern sucht
(Nr. 4), soll nicht bestritten werden, wohl aber, daß dies in einem bei anderen
Aufgaben nicht erreichten Maße geschieht. Dasselbe gilt auch für den sprach-
Johannes Prüfer, Vom Kulturwert des Kinderspiels 415
liehen Gewinn. Der Übersetzer hat in der Tat Gelegenheit, bei dem Tausche
der Worte die sprachlichen Münzen seines eigenen Besitzes näher zu be-
trachten, unter ihnen die passendste auszusuchen und sich seines Besitzes
zu freuen. Aber nur der sprachlich Vorgeschrittene, der eben über einen
gewissen sprachlichen Reichtum verfügt. Er ist auch allein der freudige Mit-
arbeiter des Lehrers bei der Festlegung einer guten Übersetzung, während
der sprachlich Arme im Gefühl dieser Armut sich bedrückt fütilt und sich
nur eifrig bemüht, die Frucht der Lehrstunde schwarz anf weiß nach Hause
zu tragen. Ob jener aber in einer Stunde gehaltvoller muttersprachlicher
Lektüre nicht größere Förderung erfährt bei dem ungleich reichhcheren Ge-
winn an wertvollen Gedanken, ist doch die Frage.
Es gibt meines Erachtens keinen stichhaltigen Grund dafür, von der Be-
schäftigung mit Fremdsprachen eine anders nicht zu erreichende För-
Iderung der Muttersprache und damit der geistigen Bildung zu erhoffen,
dagegen manchen dafür, ihre schwere Schädigung zu fürchten. Das Volk
der Griechen darf wohl als klassisches Beispiel für die Wirkung einsprachiger/
Bildung im Gegensatz zu der Erfahrung unserer vielsprachigen Schüler/
dienen. Daß die Entlastung der Unterstufe unserer höheren Schulen vom
lateinischen Unterricht muttersprachliche Bildung und geistige Frische ge-
fördert hat, ist auch nicht mehr zu leugnen (Nr. 6). Ich selbst kann es aus
meiner Tätigkeit an einer Reformschule bezeugen.
Die alten Sprachen werden, von Verpflichtungen befreit, denen sie nicht
gerecht werden können, erlesenen Schülern in reiferem Alter geboten und
als Träger einer großen Gedankenwelt in einer schnell in sie hineinführenden,
dasJV er stehen in erster Linie bezweckenden Lehrart behandelt, auch femer
einen Ehrenplatz in der Jugend bildung beanspruchen dürfen. Von einer
psychologisch richtigen Unterweisung des jüngeren Alters und im besonderen
von einer besseren muttersprachhchen Bildung wird auch der altphilologische
Unterricht wie das gesamte Geistesleben der Jugend den größten Gewinn
haben (Nr. 7).
Vom Kulturwert des Kinderspiels.
Von Johannes Prüfer.
Die Kräfte der Seele entwickeln sich nur durch angemessene Tätigkeit.
Trägheit und Ruhe ist Gift für die Seele. Nur wo die Seele tätig ist, herrscht
Leben, Entwicklung, Entfaltung. Je vielseitiger und intensiver die Tätigkeit,
umso mannigfaltiger und höher die Entwicklung. Der innerlich reiche Mensch,
der sich von klein auf vor immer neue Notwendigkeiten gestellt sieht, ent-
faltet sich daher am besten.
In den frühesten Kinderjahren ist jede normale Seele tätig, rege. Man
hat diese innere Regsamkeit nicht mit Unrecht als das wertvollste Gut der
Kindheit bezeichnet. Je länger der Mensch sich dieses Gut bewahrt, umso
reicher wird seine Entwicklung sein. Ein guter Kenner afrikanischer Ver-
hältnisse hat einmal gesagt, daß die Frühreife der Neger es sei, die ihrer
Höherbildung so große Schwierigkeiten bereitet. Mit anderen Worten: die
Kindheit, die Jugendzeit der Neger, also die Zeit der seelischen Entfaltung,
416 Johannes Prüfer
der inneren Anpassung ist zu kurz, ist zu früh abgeschlossen. Die innere
Entwicklung dieser Menschen kommt zu früh zum Stillstand. Daher bleibt
bei ihnen alles Tradition und Nachahmung. Das schnelle Heranreifen der
Negerkinder ist also die wichtigste Ursache des kulturellen Stillstands dieser
Völker. Je länger ausgedehnt die Kindheit und Jugendzeit der Glieder einer
Volksgemeinschaft ist, eine umso günstigere Vorbedingung ist dies für die
Kulturentwicklung dieses Volkes, weil eben nur dann in den Einzelnen d i e
Kräfte reifen können, die immer neue Kulturgüter und Kulturwerte zu schaffen
vermögen. Wir fassen natürhch „Jugend" hier im weitesten Sinne. Solange
der Mensch noch nicht „fertig" ist, solange seine Seele noch empfänglich
ist für Neues, solange sie sich noch entfaltet, solange sie noch wächst und
höher strebt, so lange kann man den Menschen noch „jung" nennen. Zum
Glück gibt es ja Menschen — und es sind nicht die schlechtesten — die
in diesem Sinne noch mit weißen Haaren jung sind.
Da nun die Kultur eines Volkes im Laufe der Jahrhunderte immer reicher,
immer differenzierter und komplizierter wird, weil immer bedeutendere Kraft
dazu gehört, wenn der Einzelne wirklich die Kultur höhe seines Volkes er-
reichen will, und weil noch mehr Kraft dazu erforderlich ist, Werte zu er-
zeugen, die selbst über das vorhandene Niveau hinausragen (das ist ja aber
doch der Sinn aller kulturellen Höherentwicklung), weil das alles so ist, so
muß naturgemäß die Zeit des Heranreifens, der inneren Beweglichkeit und
Entfaltung — also die Kindheit und Jugendzeit — bei fortschreitender Kultur
immer weiter und ausgedehnter werden. Bei kulturell aufsteigenden Völkern
ist dies auch der Fall. Sobald aber dieser Prozeß unterbrochen wird, so-
bald die Ausdehnung der Jugendzeit mit der Höherentwicklung der Kultur
nicht mehr gleichen Schritt hält, ist Gefahr im Verzug, Gefahr für die Höher-
entwicklung, ja für den Fortbestand wahrer Kultur überhaupt. Denn dann
muß der Fall eintreten, daß zwar hohe Kulturgüter vorhanden sind, aber
die Glieder eines solchen Volkes bringen — wenn sie zu früh reif, zu früh
„fertig" werden — nicht mehr Zeit und Kraft auf, in den Geist einzudringen,
der einst diese Güter und Werte geschaffen hat. Solch armselige Epigonen
blähen sich dann wohl noch eine Zeitlang mit den äußeren und sicht-
baren Zeichen der Kultur, die einst ihre Väter hervorgebracht, aber sie
haben sich dieselbe nicht innerhch erworben. Die Kultur ist ihnen nicht
wahrer Besitz geworden. Ihre Seele ist nicht hineingewachsen in die letzten
und feinsten Wurzeln ihrer angestammten Kultur, darum fehlt ihnen Kraft
und Saft, neue Blüten und Früchte zu treiben. Kultureller Stillstand und
kultureller Niedergang ist die Folge. — Ob es in Menschenkraft liegt, diesen
Prozeß zu verhindern, ihn wenigstens hinauszuschieben, oder ob es das
Schicksal jeder Kultur sein muß, an mangelnder, an aufhörender Jugend-
frische ihrer Träger abzusterben, wer wollte das entscheiden? —
Wir können nichts weiter tun, als alles das zu fördern, was unsere Jugend
vor Frühreife bewahrt, was unser Geschlecht vor zeitigem Altern schützt.
Der Seele so lange als möglich die innere Regsamkeit, das Wachsen und
Blühen ihrer Kinder- und Jugendtage zu erhalten, ist daher heiligste Aufgabe
der Erziehung. Das heißt natürlich nicht, das Kind künstlich auf einer
niederen Entwicklungsstufe festhalten, sondern es heißt nur: Das köstlich
rege Leben, das in jedem gesunden Kinde pulsiert, den naturgegebenen
starken Bildungstrieb im jungen Menschen frisch und stark erhalten.
Vom Kiüturwert des Kinderspiels 417
Wie kann das geschehen?
Durch das Spiel. —
Mehr und mehr wird in der modernen Pädagogik die hohe Bedeutung
erkannt, die das echte Kinderspiel für die Entwicklung des Menschen hat.
Worin hegt diese hohe Bedeutung?
Um das zu erkennen, muß man sich vergegenwärtigen, wie denn eigenthch
das Spiel entsteht. Das Spiel ist etwas, was aus dem Innersten des Kindes
hervorquillt. Der Mensch wird mit dem Trieb zum Spielen geboren. Das
Spielen braucht ihm nicht erst von außen angelernt zu werden, sondern er
bringt die Anlage zum Spielen mit ins Leben, wie er die Anlage zum Laufen,
zum Sprechen, zum Beobachten, zum Denken mitbringt. Das Kind braucht
nur Raum und Stoff zur Betätigung seines Spieltriebes. Beides dem Kinde
zu gewähren, ist daher Pflicht des Erziehers.
Wir sahen oben, daß der Mensch sich am reichsten entfalten wird, der
vor immer neue Notwendigkeiten gestellt ist. Echtes, freies Kinderspiel in
seiner unendlichen Mannigfaltigkeit bietet immer von neuem solche Anregungen,
solche Notwendigkeiten, durch die des Kindes Seele in Bewegung, Entfaltung
und frischem Leben erhalten bleibt. Das Kind, das möglichst lange und
mit ganzer Seele spielt, wird also besonders „kulturfähig" sein. Es kommt
nur darauf an, das reine Kinderspiel allmählich in „höheres Tun" über-
zuführen, ohne die innere Regsamkeit der Seele dadurch zu stören, mit
anderen Worten, das Kind bezw. den Menschen möglichst lange jung
zu erhalten auf dem Wege zur „höheren Bildung".
Was ist das: Bildung?
Man spricht gewöhnlich von „gebildeten" und „ungebildeten" Menschen.
Wenn man aber einmal ernstlich daran geht, festzustellen, was eigentlich
ein „gebildeter Mensch" ist, welche charalcteristischen Züge er trägt und
wo der „ungebildete Mensch" anfängt, da wird man finden, daß man dabei
gar nicht recht zu einem befriedigenden Resultat kommt. — Reiches Wissen,
gute Umgangsformen, soziale Gesinnung, Harmonie der Seelenkräfte und
dergleichen, keines dieser Dinge erschöpft den Begriff „gebildeter Mensch".
Über den bekannten Münchener Kunsthistoriker Riehl wurde einmal erzählt,
er sei eines Tages beim Spazierengehen au einen Park gekommen, über dessen
Eingang die Worte gestanden hätten: „Nur für gebildete Menschen!" — da habe
er lange überlegt, ob er da wohl hineingehen dürfe. Diese schalkhafte
Episode aus dem Leben Riehls zeigt deutlicher als langatmige Ausführungen,
was es mit dem Begriff „gebildeter Mensch" auf sich hat.
Man kann zuweilen beobachten, daß Eltern Maßnahmen treffen, um ihren
Sohn oder ihre Tochter „bilden" zu lassen, etwa indem sie den Sohn auf
eine Presse schicken, damit er das „Einjährige" erwirbt, oder die Tochter
ein Jahr in ein „\sissenschaftliches Pensionat", oder auch, indem sie ein
Konversationslexikon oder ein Pianoforte für die Kinder kaufen. — Ihnen
schwebt der „gebildete Mensch" als etwas Fertiges vor, als etwas, was man
eben eines Tages einmal werden kann. Wenn nun auch nicht alle so naive
Vorstellungen haben, der Glaube ist doch in den weitesten Kreisen noch
vorhanden, daß die Bildung etwas Abgeschlossenes sei, also eine Sache, die
man erwerben kann evtl. durch Besuch einer höheren Schule.
Gegenüber diesem Fundamentalirrtum muß es einmal ganz deuthch, aus-
gesprochen werden: Bildung ist kein Besitz, Bildung ist keine meßbare näher
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 27
418 Johannes Prüfer, Vom Kulturwert des Kinderspiels
zu bestimmende Größe, sondern Bildung ist ein Zustand, besser Bildung
ist ein Vorgang. Bildung ist der natürliche Wachätumsprozeß, Bildung
ist die allmähliche Formung der Seele. Sie ist also das Gegenstück zu geistiger
Erstarrung, zu seelischem Stillstand und Tod. In jeder jungen gesunden
Menschenseele treiben und drängen gestaltende Kräfte von innen nach außen,
wie in jedem Keim, wie in jeder jungen Pflanze, wie in jedem gesunden
Organismus ein Bildungstrieb sich regt. Je länger dieser Zustand anhält,
umso besser. Innere Regsamkeit der Seele, Entfaltung der persönlichen
Anlagen, Hingabe an die Dinge und Menschen der Umgebung und Gewinnung
eines persönlichen Verhältnisses zu ihnen, Vertiefung in die Gefühle, Gedanken
und Ideen der Umwelt, ein ständiges Hinüber und Herüber, ein unaufhörliches
Geben und Nehmen, das alles gehört zum Bildungsprozeß, wie Atmen und
Stoffwechsel zum Lebensprozeß des Körpers. Die Seele, die sich in solchem
Zustand befindet, bildet sich ganz von selbst, sie formt sich, sie gestaltet und
entfaltet sich.
Es ist aber nicht nur ein kräftiges Entwickeln von innen heraus, sondern
auch ein Aufnehmen von außen; denn die Seele ist ja mit dem Trieb geboren,
sich die Umwelt geistig zu erobern. Sie will erkennen und wissen, sie will
sich freuen am Schönen und will sich erheben am Edlen und Erhabenen.
Und durch das alles wird sie immer größer und reifer. Das alles gehört
mit zum Bildungsprozeß.
In seiner Jugend macht jeder gesunde Mensch diesen Prozeß durch. Das
unverdorbene Kind zeigt in seinem Wesen — besonders in seinem freien
Spiel — alle die Züge, die wir eben geschildert haben. Bei den meisten
tritt nur leider allzu früh eine Unterbrechung dieses Prozesses ein, bei manchen
mit 14, bei manchen mit 18 oder mit 24 Jahren. Besonders sind es „be-
standene Prüfungen", die in den jungen Leuten den Glauben erwecken, sie
seien nun „fertig" und „reif". Der „Student" wird nur zu oft zum „Philister",
zu jenem widerwärtigen Typ des Selbstzufriedenen, Satten, Fertigen. Lagarde
hat einmal gesagt, jeder hätte den Zugang zur wahren Bildung, der am
Morgen mit dem Wunsch aufstände, am Abend wieder etwas besser, etwas
reifer, wieder ein Stück weiter zu sein auf dem Wege zur Menschwerdung.
Das ist's, worauf es ankommt! Nie mit sich zufrieden, nie mit sich fertig,
immer suchend, immer weiter strebend und ringend, gar nicht anders können,
als sich so immer weiter bildend, das ist's, was den edlen vom unedlen
Menschen unterscheidet. Diesen Zustand so lang als möglich auszudehnen,
ihn nicht mit 14 oder 18 Jahren schon aufhören zu lassen, das sollte vor
allem das Ziel der Erziehung sein. Das ist allein der Weg zu edlem Menschen-
tum. Hamerling hat einmal das Wort geprägt: „Ewige Sehnsucht ist ewige
Jugend" — ewige Sehnsucht (nach dem Ideal) ist zugleich ewige Bildung.
Die psychologische Laborantin als Beruf.
Von Fritz Giese.
Der ungeheuere Aufschwung, den die praktische Psychologie in den letzten
Jahren genommen hat, eröffnet jedem, der in der Bewegung steht, die Hoff-
nung auf eine weitreichende Geltung psychologischer Forschung und Arbeit
schon für die nächste Zukunft. Aber je mehr diese der Praxis dient, sich
Fritz Giese, Die psychologische Laborantin als Beruf 419
entfernt von der stillen Arbeit des Forschers und den Räumen mehr theo-
retisch gerichteter Laboratorien, um so lebhafter drängen gleich äußerliche
Fragen zur Lösung. Unbedingt eine der wichtigsten, wenn nicht die ent-
scheidende, ist aber die Frage nach den die Masseniuitersuchungen aus-
führenden Persönhchkeiten.
Nachdem sich gezeigt hat, daß, nach Durchbrechung innerer Schwierig-
keiten, die insbesondere bestanden in gewissen theoretischen Hemmungen
der angewandten Psychologie, eine Seelenkunde für die Wirklichkeit möglich
ist, hat sich zugleich für die bahnbrechenden Forscher auf diesem Gebiet
ein schwerwiegendes Problem offenbart. Man kann in fast sämthchen der
wenigen zurzeit in Vollbetrieb befindlichen Instituten für praktische Psy-
chologie, industrielle Psychotechnik oder Eignungsprüfungen die Beobachtung
machen, daß die Überfülle der Nachfragen und die Erfordernisse der dringend
vorhegenden Untersuchungen in ihrer äußerlichsten Mechanik die schöpferische
Arbeit der leitenden Fachpsychologen zu ersticken drohen. Manche Ange-
bote nach neuen Untersuchungsverfahren für bestimmte Versuche, nach psy-
chologischer Eichung irgendwelcher Maschinen und Gebrauchsgegenstände
müssen zurückgestellt werden oder bleiben vöHig unberücksichtigt aus Zeit-
mangel, den die Berechnungen und die äußerhchste Durchführung der Ver-
suchsreihen sowie die Instandhaltung der Versuchsanordnungen hervorrufen.
Das Untersuchen von nur einem Dutzend Lehrlingen, Kriegsrentenempfängern,
Schülern an einem Tage — eine in der Praxis durchaus geläufige Ziffer —
erfordert einen Aufwand an psychischer Energie, der es dem betreffen-
den üntersucher (eingerechnet Versuchsvorbereitung und Verrechnung) un-
möglich macht, darüber hinaus tätig zu sein. Als Übergangsform findet man
vielfach auch die Tätigkeit von akademisch gebildeten Assistenten oder Stu-
dierenden, welche die Gelegenheit benutzen, um im Zusammenhang mit der-
artigen erforderlichen Alltagsprüfungen Examens- oder Doktorarbeiten her-
zustellen. Man findet ferner die nebenamthche Tätigkeit von Lehrern, Be-
amten bei Behörden, gelegentliche Mitarbeit von Ärzten, außerhalb des Rah-
mens ihrer Praxis, und Versuchsleitung durch Ingenieure, die von den Firmen
ebenfalls nebenamtlich mit Durchführung der Versuche betraut wurden. Im
großen und ganzen aber fehlt es an einem eigentMch psychologisch vor-
gebildeten Mitarbeiterstab für die Praxis.
Es läßt sich wohl denken, daß in einigen Jahren, zumal infolge der Pro-
paganda, welche auf Technischen und Handelshochschulen für Wirtschafts-
psychologie im Schwange ist, sich die Verhältnisse bessern und mehr aka-
demisch vorgebildete Personen für die praktische Psychologie zur Verfügung
stehen werden. Trotz allem wird sich aber zeigen, daß in dieser Lösung
nicht das wünschenswerte Ausmaß an Arbeitsentlastung erreicht wird. Ein-
mal nämlich ist das praktische psychologische Arbeitsgebiet so ungeheuer
groß, daß die akademisch Vorgebildeten vom Strudel der Aufgaben aufge-
braucht werden dürften. Ferner sprechen auch volkswirtschafthche Gründe
dagegen, daß allerorts höher bezahlte Posten für eigenthche Psychologen
geöffnet werden können. Entscheidend aber scheint ein drittes zu sein.
Die praktische psychologische Arbeit wirkt — sobald sie in Massenunter-
suchungen notwendig wird — für den betreffenden akademisch Vorgebildeten
nicht förderUch, sie ist im Grunde genommen eine ziemhch mechanische,
allzu betont unproduktive und vereinfachte Tätigkeit, als daß sie eine höher
27 ♦
420 Fritz Giese
vorgebildete Persönlichkeit befriedigen könnte. Liegen die Untersuchungs-
methoden erst einmal fest, so ist der Ablauf der Einzeluntersuchungen gleich-
förmig, wesentlich monotoner und eingeengter, als etwa die praktischen
Fälle des Arztes, Rechtsanwaltes oder Diplomingenieurs. Je mehr es sich
darum handelt, in bestimmten Betrieben Daueruntersuchungen für gewisse
Prüflingskategorien durchzuführen, um so eintöniger wird diese Arbeit wer-
den und um so weniger erhebend auch für solche Beamten sein, die nur
nebenamtlich dergleichen durchführen sollen.
Es liegt auch im Interesse der psychologischen Wissenschaft, daß sie über-
haupt nicht „nebenamtlich" geführt werden sollte. Ebensowenig wie jemand
nebenamthch praktischer Arzt, Theologe, Rechtsanwalt oder Oberlehrer sein
darf, ebensowenig sollte es mit dem Fachpsychologen der Fall sein. Nur
Persönlichkeiten, die voll und ganz im Beruf aufgehen, können eine gedeih-
Hche Fortentwicklung der Psychologie voll wissenschaftHcher Tiefe erhoffen
lassen. Der Diplompsychologe (um einen Ausdruck Poppelreuters zu be-
nutzen), ist ein voll in sich abgeschlossener Beruf. Aber eben dieser Be-
rufsangehörige ist zu schade dazu, um praktisch mechanisierteren Tätigkeiten
unterworfen zu werden, genau so, wie der Rechtsanwalt nicht beim Formular-
ausfüllen, der Arzt als bloßer Heilgehilfe und Masseur, oder der Theologe
als Kantor volle Befriedigung finden würde, darf der Fachpsychologe nicht
zufrieden sein, von andern fertig ausgearbeitete Versuchsreihen Tag für Tag
durchzuführen, ohne Zeit zu finden zu eigner Forschung und persönhcher
Arbeit. Volkswirtschaftlich muß es sogar Bedingung sein, daß akademisch
Vorgebildete (nur aus diesen Kreisen darf der praktische Fachpsychologe
kommen) zur produktiven Berufstätigkeit gelangen. Dieses gilt natürüch
auch für die akademisch vorgebildete Psychologin.
Es fehlt uns, wie hieraus klar wird, an mittleren Berufsangehörigen,
ähnlich dem Kanzlei- und Büropersonal der Verwaltungsbehörden, dem fach-
männisch vorgebildeten Pflegepersonal in Krankenhäusern, den mittleren
Technikern in Fabriken. Man benötigt einen Stamm fachmännisch vorgebil-
deten Hilfspersonals, das imstande ist, ohne eigentliche höhere Produktivität
nach Anweisungen die erforderlichen Massenuntersuchungen gewissenhaft
fortzuführen und dabei doch wieder in dieser Tätigkeit als Vollberuf auf-
geht und Freude daran hat, also nicht nebenamtlich arbeitet.
Auch zu diesem mittleren psychologischen Hilfspersonal gehört selbstver-
ständlich eine gewisse Berufseignung, wie sie zum Kanzlisten, zum Post-
beamten usw. gehört. Hauptpol der Eignung ist zunächst Einfühlungs- und
Beobachtungsgabe und sonstige Seiten psychologischer Beruf squahtäten, außer-
dem gründliche Spezialausbildung.
Nun dürften volkswirtschaftUche Gründe vorliegen, die ein Überfluten
von selten männlicher Mitarbeiter hindern. Gleiche Bezahlung ist auf anderen
Gebieten wohl mit geringeren Mühen zu erzielen. Abgesehen davon scheint
aber auch aus rein psychologischen Gründen weibliche Mitarbeit für diese
Zwecke besonders erwünscht. Die Gabe des Sichanpassens an fremde In-
dividualitäten, das Verständnis zumal für Jugendliche und Kinder, die große
Geduld und Geschicklichkeit im Durchführen mühsamer, dazu fertig vorge-
schriebener Arbeitsweisen; das aUes spricht außer wirtschaftlichen Gründen
(geringere Gehaltansprüche der Frau, Abwanderungsnotwendigkeit aus andern
vordem gewohnten Mittelberufen in Anbetracht der Überfüllung) für Bevor-
Die psychologische Laborantin als Beruf 421
zugung der Frau. Man möchte entsprechend Interesse für die „psychologische
Laborantin" als neuen Frauenberuf wecken.
Die Standestätigkeit der psychologischen Laborantin (also der Nichtaka-
demikerin!) entspricht der der Laborantinnen in chemischen, photographi-
schen, biologischen, physikalischen usw. Instituten: mittlerer Dienst Ent-
sprechend wird auch die Besoldung ausfallen.
Die psychische Disposition geht, außer der rein organisatorisch-wissen-
schafthch-produktiven Seite beim Fachpsychologen, überein mit der Eignung
zum praktischen Psychologen überhaupt. Auf eine Eignungsprüfung für
praktische Psychologen komme ich bei anderer Gelegenheit näher zurück.
Die seelische Struktur ist verhältnismäßig kompliziert, weil die Berufsanforde-
rungen von äußerst disparaten Seiten des Kulturlebens an den Psychologen
herantreten. Ich gebe nur kurz in Schlagworten ein Schema an, das, ohne
auf die Untersuchungsmethoden einzugehen, für die Eignungsprüfung der
psychologischen Laborantin in Betracht kommen könnte.
I. Generelle Diagnose der Gesamtfunktionen,
insbesondere eingehend: allgemeine Intelligenz — Gedächtnis — Auge, Ohr — Hand (als
komplexes Sinnesorgan) — Realitionsablauf.
n. Prüfung spezieller Berufsfunktionen:
a) Zeitbewußtsein: Schätzen von Zeitlängen mit und ohne Arbeitsausfüllung — absolute
Zeit
b) Sprache: Sprechton, Ermüdbarkeit der Stimme — Stimmwirkung — Sprechmelodie — Sprech-
stil — Wortfindung.
c) Rechnen: Elementarrechnen — statistisches Verständnis, graphische Darstellungsfälligkeit
— allgemeine Rechenexaktheit — Formelverständnis.
d) Gedächtnis für momentane visuelle Eindrücke (Gesichter, Versuchsanordnungen) — fort-
laufende Zusammenhänge (Tatbestände, Verhaltungsweisen von Menschen usw.)
e) Aufmerksamkeit: Konzentrationsfähigkeit — Ablenkbarkeit — Aufmerksamkeitsspaltung
(mehrdimensional; simultan; sukzessiv). Abstraktion, Generalisation, „Findigkeit", Fehlerdiagnose
für Versuchsanordnungen — Allgemeine Beobachtungsgabe (synthetisch — analytisch, Intensität
— Qualität, Gegenstände — Menschen) — Aufmerksamkeitsschwankungen.
f) Intelligible Funktionen, allgemeine Apperzeption (Geschwindigkeit — Qualität), Spezial-
verständnis für physikalische, technische, medizinische, mathematische Gegebenheiten, Urteils-
und Kritikfähigkeit, Kombination (optisch, akustisch, sprachlich, phantastisch), pädagogische
Fähigkeit (vgl. b).
g) Emotionale Funktionen: Einfühlungsgabe (Anpassung an neue Aufgaben und Menschen)
Suggestibilität — Temperamentsform, Gemütsanlage.
h) Voluntative Funktionen: Reaktionsablauf (mehrfache Reize — Störungseinflüsse)
Suggestivität, Verhalten bes. zu Kollektiveinwirkungen vgl. e).
i) Arbeitstyp: Tempo, Schwankungen, Ermüdbarkeitskoeffizient, Verhältnis zur Arbeit.
Neben die Eignungsprüfung hätte eine sehr eingehende \\issenschafthche
Vorbereitung zu treten. Man wird, wie man es bei anderen Laborantinnen
verlangt, als Mindestmaß 4 — 5 Semester ansetzen müssen: die Photographin,
Röntgenschwester, Gärtnerin usw. benötigt ähnliche Zeiten. Die Ausbildung
wird neben praktischer Tätigkeit an einem psychologischen Institut, dort
oder an Hochschulen Vorlesungen und Übungskurse fordern.
Fragt man nach den Erfahrungen, welche Laboranlinnenarbeit im Rahmen
der Praxis gezeigt hat, so braucht man nur an die Unentbehrlichkeit der
chemischen, photographischen weiblichen Mithilfe, an die Röntgenschwester
zu erinnern, um die Frage zu beantworten. Auch für die Psychologie liegen
Erfahrungen aus Kriegszeiten vor : So benutzte Poppelreuter für seine Kopf-
422
Fritz Giese, Die psychologische Laborantin als Beruf
schußstation bereits weibliche, natürlich nur bezahlte, nie ehrenamtliche Mit-
arbeit. Ich selbst habe an meinem Laboratorium, das der praktischen Psy-
chologie im weitesten Sinne dient, die besten Erfahrungen an weiblicher
Laborantinnenarbeit gemacht. Dieses auch z. B. bei dem spröden Menschen-
material, wie es Rentenempfänger und erwachsene ungebildetere Patienten
gegenüber den viel leichter zu untersuchenden Kindern und JugendUchen
darstellen. Die Frage nach dem Heranbilden eines Stammes geeigneter psy-
chologischer Hilfskräfte ist möglicherweise künftig in dieser Richtung zu lösen.
Notwendig wird irgend eine Lösung auf jeden Fall.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Zur Kriminalität der Jugendlichen während der Kriegszeit veröffentlicht
Ruth V. d. Leyen in der „Deutschen Jugendgerichtshilfsarbeit " (3. Jahrgang,
Nr. 2), dem Organ des Ausschusses für Jugendgerichte und Jugendgerichts-
strafen, ein umfassendes statistisches Material, das den Berichten über die
Berliner Jugendgerichtshilfe entnommen ist. Die stetige und schnelle Zu-
nahme für Knaben und Mädchen belegen die nachstehende Tabelle 1 und
das beigegebene Kurvenbild.
TabeHe 1.
1914
1915
1916 i
1917
1918
männl.
weibl.
894
237
1198
215
2307
374 -
2762
456
3871
816
zus.
1131
1413
2681 i
3158
4687
C^
^
•^
CS
i
S
S
Die Art der Straftaten gibt Tabelle 2 in der Übersicht an; sie bedarf nicht
weiterer Erläuterungen. Bemerkenswert ist vor allem, wie mit dem Wachsen
der wirtschafüichen Not in der Zeit von 1917 zu 1918 die Vergehen gegen
das Eigentum einen steilen Anstieg nehmen.
Kleine Beiträge und Mitteilungen
423
Tabelle 2.
I. Verbrechen undVerbreclien gegen Staat,
öffentliche Ordnung und Religion
§§ 80—168 St. G. B.
Widerstand . .
Hausfriedensbruch
Meineid ....
n. Verbrechen und Vergehen gegen die
Person §§ 169-241.
Sittlichkeitsverbrechen
Beleidigung . . .
Abtreibung . . .
Fahrlässige Tötung .
Körperverletzung
lU. Verbrechen und Vergehen gegen das
Vermögen §§ 242 330.
Diebstahl (§§ 242. 243)
Unterschlagung . .
Raub und Raubmord
Erpressung .
Hehlerei . . .
Betrug ....
Urkundenfälschun«
Wilddieberei . .
Sjchbeschädigung
Brandstiftung . .
Transportgefährdung
IV. Vergehen im Amt §§ 331—369
Ämtsvergehen . § 350) .
V. Übertretungen §§ 360—370.
Gewerbsunzucht
Mundraub
Sonstige Übertretungen . . .
VI. Kriegsvergehen. (Die Kriegsvergehen
wurden in den Jahren 1914 — 17 zu
den Übertretungen gezählt) ....
Strafbefehle
1914. I915il916'l917 1918
23 27
9 10
3
1
30. 17
712
109
1
1
25
41
4
23
2
1
1015
155
8
22
21
30
29
16
6
1
26
11!
11
13 1
3
i!
2
1
41
35'
1845
2325
363
311
12
4
2
2
75
97
75
87
40
58
31
21 ■
9
3
11
13
1
30
3181
343
19
2
177
95
104
1
27
110
24! 16 17
3 1 26 i 29
103 140 83
178
341
1131 1413,2681,3158 4777
Zur Organisation der Begabtenauslese in Berlin wurden von der Arbeits-
gemeinschaft für exakte Pädagogik die folgenden Grundsätze angenommen:
Im Interesse einer fruchtbringenden Anwendung der Ausleseverfahren für
begabte Volksschüler wird für Berlin ein besonderer Ausschuß für die
Begabtenauslese eingesetzt.
Dieser setzt sich zusammen aus Vertretern der Behörde, aus Fachpsycho-
logen, Lehrern von Begabtenklassen und der Grundschule. Die Lehrer wählt
die Lehrerkammer aus. Die Fachpsychologen werden von den Mitghedem
des Ausschusses zugewählt.
Die Arbeit des Ausschusses erstreckt sich auf Feststellung der Anforde-
rungen an die jeweilig Auszulesenden, sowie Prüfung der bisher verwendeten
Ausleseverfahren, Ausarbeitung solcher Verfahren für Berliner Verhältnisse
nach einheitlichen psychologischen und pädagogischen Gesichtspunkten.
Nach Abschluß der Vorarbeiten ist dem Ausschuß die Auslese der Begabten
zu übertragen.
424 Kleine Beiträge und Mitteilungen
Als weitere Aufgabe fällt ihm die Heranbildung psychologisch geschulter
Mitarbeiter zu im HinbHck auf den zu erwartenden größeren Umfang der
künftigen Auslese,
Die nötigen Mittel werden durch die Behörde bereitgestellt.
Über eine Begabungsprüfung am Gymnasium berichtet die Auskunftsstelle
für Jugendkunde im Pädagogischen Zentralblatt (1. Jahrg. 1. Heft). Es handelte
sich dabei um Vorversuche für die Durchführung der Absicht, am Arndt-
Gymnasium zu Dahlen bei der Aufnahme neuer Schüler die übliche päda-
gogische Kenntnisprüfung durch eine psychologische Untersuchung der Be-
gabung zu ergänzen. In Gemeinschaft mit Dr. Liebenberg, einem Oberlehrer
der Anstalt, wurden die Klassen Septima bis Quinta auf ihre Normalleistungen
untersucht. Es geschah dies an der Hand von folgenden Versuchsforderungen:
1. Gedächtnismäßiges Erfassen sinnvoll zusammenhängender Wörter.
2. Finden analoger" Begriffe.
3. Ordnen von Figuren unter selbst zu findenden Gesichtspunkten (Größe,
Helhgkeit usw.).
4. Bilden von Sätzen aus drei angegebenen Wörtern.
5. Finden eines passenden Begriffes zu einem vorgelegten Ausgangs worte.
6. Ermitteln des Oberbegriffes zu je 6 Paaren vermischt dargebotener unter-
geordneter Begriffe.
Die ermittelten Leistungen wurden nach Punkten bewertet; und darnach
eine Rangordnung gefunden. Neben dieser standen für eine Klasse die
Schülerreihe nach der Begabungsschätzung durch den Klassenlehrer und nach
der Sitzordnung auf Grund der Versetzungszeugnisse. Die Vergleichung ergab
hier folgende Korrelationskoeffizienten:!
1. Begabungsprüfung und Klassenplatz 0,71.
2. Begabungsschätzung und Klassenplatz 0,76.
3. Begabungsschätzung und Begabungsprüfung 0,91.
Es ist verständlich, daß die Übereinstimmung zwischen Begabungsprüfung
und Begabungsschätzung höher sein muß, als sie zwischen den beiden anderen
Beziehungen besteht, ist doch im Klassenplatz nicht die reine Begabung,
sondern die Tüchtigkeit, die außer durch die Anlagen noch durch andere
Faktoren bedingt ist, der ordnende Gesichtspunkt.
Eine Sammlung pädagogiseh-psychologiseher Fragebogen und Sebüler-
personallisten ist von der Auskunftsstelle für Jugendkunde im Zentralinstitut
für Erziehung und Unterricht angelegt worden und kann dort eingesehen,
zum Teil auch leihweise überlassen werden. Sie umfaßt die folgenden Gruppen:
1. Personalbogen, die im wesentlichen ZeugnisUsten sind.
2. Personalbogen, die zu psychologischen Beobachtungen der Schüler durch
t ?die Lehrer anleiten und dazu eine Reihe von Fragen über die geistige
Eigenart des Schülers enthalten.
3. Fragebogen, die von Eltern und anderen Erziehern auszufüllen sind, zu-
meist für die Schule.
4. Gesundheitsbogen, Personalbogen für schulärztliche Beobachtungen.
5. Personalbogen für Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung.
6. Personalbogen für Abnorme: Hilfsschüler, Fürsorgezöglinge, kriminelle
Jugendliche.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 425
7. Kinderpsychologische und pädagogische Fragebogen, die zur Erforschung
bestimmter psychologischer oder pädagogischer Probleme auf dem Wege
der Umfrage ausgearbeitet worden sind.
8. Weitere psychologische Fragebogen, die verschiedensten Probleme be-
treffend.
Das Institut für Psychologie und Pädagogik an der Handelshochschule
Mannheim — unter Leitung von Prof. Dr. W. Peters stehend — ist seit dem
Sommerhalbjahr 1919 im Entstehen. Das Institut soll die Hörer der Handels-
Hochschule, die sich dem Lehramt an Handelsschulen widmen, und ferner die
in der Praxis stehende Lehrerschaft der gesamten Mannheimer Schulen in die
Probleme und Methoden der Psychologie und psychologischen Pädagogik
einführen. Für die Zwecke des philosophischen Unterrichts wird dem Institut
ein kleines philosophisches Seminar angegliedert. Die Forschungstätigkeit
des neuen Instituts wird vornehmlich drei großen Gebieten gewidmet sein:
1. der psychologischen Analyse der menschlichen Arbeit in deren ganzem
Umfange. Es soll sich hierbei nicht etwa um Taylor-Untersuchungen handeln
und nur nebenbei um die neuerdings wohl überschätzten Fragen der beruf-
hchen Eignungsprüfung. Eine Psychologie der Arbeit, die zu einem Verständ-
nis des Arbeitsvorganges, seines Verlaufes, seiner Wurzeln und der Faktoren,
die ihn beeinflussen, gelangen will, muß nach der Meinung des Leiters des
Instituts von den grundlegenden Untersuchungen Kraepeüns und seiner Schüler
ausgehen.
2. der psychologischen Untersuchung der geistigen Entwicklung, wobei den
Fragen der Entwicklungsgesetze und der psychologischen Eigenart des geistig
Zurückgebliebenen und des sonstwie abnormen Kindes besondere Aufmerk-
samkeit zugewandt werden soll.
3. der psychologischen Analyse der Begabungen. Der Nachdruck liegt
hier auf dem Wort „Analyse". Es soll sich nicht nur um Begabungsprüfungen
für praktische Zwecke handeln, sondern vor allem um eine Förderung unseres
Verständnisses der Begabungsdifferenzen.
In diesem Rahmen sind auch Untersuchungen über die Fragen geplant,
die das System der Begabungsschule (Mannheimer Schulsystem) mit sich
bringt. Das Institut wird bestrebt sein, nur zuverlässige, methodisch ein-
wandfreie Untersuchungsergebnisse an die Öffentlichkeit zu bringen. Es soll
nicht dazu beitragen, die Flut unzureichender Publikation auf dem Gebiet
der psychologischen Pädagogik zu vergrößern.
Neben der Lehr- und Forschungsarbeit wird das Institut Individualitäts-,
Intelligenz- und Begabungsprüfungen, soweit solche heute für praktische
Zwecke nutzbar gemacht werden können, im Dienste der öffentlichen Wohl-
fahrt vornehmen. Es plant ferner die Einrichtung einer psychologisch-päda-
gogischen Sprechstunde für Lehrer aller Schularten.
Das Provinzialinstitut für praktische Psychologie in Halle a. S. ist für
die Provinzen Sachsen und Anhalt als zentrale Arbeitsstelle für alle prak-
tisch-psychologischen Angelegenheiten begründet worden. Hervorgegangen
aus der bereits dort befindlichen „ProvinzialberatungssteUe für Hirnverletzte"
und deren Hilfslazarett, umfaßt es nunmehr zwei eigene Villen, die
teils ausgedehnte psychologische Laboratoriumsräume, Unterrichts-, Übungs-
42() Kleine Beiträge und Mitteilungen
Zimmer und Vortragssaal besitzen, teils 80 Betten zur Aufnahme und Be-
obachtung bzw. Behandlung von Patienten aufweisen. Außerdem ist eine
Studien- und Übungswerkstatt mit Maschinenbetrieb, vorläufig in erster Linie
Tischlerei, Polsterei, nebst therapeutischer Beschäftigungswerkstatt dem In-
stitut angeschlossen. Verwaltungstechnisch und wirtschaftlich wurde das
Unternehmen der in unmittelbarer Nähe befindlichen Landesheilanstalt, die
unter Direktor Prof. Dr. Pfeifer besteht, angeghedert. Zum fachpsychologi-
schen Leiter ist Dr. F. Giese, Berlin, berufen worden. Die Arbeit des Instituts
vollzieht sich in drei Sektionen. Gruppe 1: Psychologische Eignungs-
prüfungen. Hier werden für die Provinzen mittleres und unteres Beamten-
personal, die Zöglinge der Provinzialtaubstummen- und Blindenanstalt, die
Insassen der Landesheilanstalt, die Arbeiter in Provinzialbetrieben auf Berufs-
eignung und Begabung untersucht. Ebenso erfolgt Begutachtung von Renten-
empfängern für die Landesversicherung und die Militärverwaltung auf Berufs-
taughchkeit. Gruppe II: Psycholechnisches Eichamt. Es dient der
Durchführung rationellen, auf psychologischer Grundlage beruhenden Betriebes
in den Werkstätten, Anstalten und Unternehmungen der Provinzen; ein-
beschlossen ist die Prüfung von Gebrauchsgegenständen (z. B. Beleuchtungs-
körpern, Schildern) und von Werbematerialien, Reklame, auf ihre psycho-
technische Wertung u. a. m. Gruppe III: Wissenschaftliche Forschungs-
arbeit. Zurzeit sind Studien über Pathologie des Gedächtnisses, über Aufmerk-
samkeit und Stirnhirnverletzungen, Einfluß psychotherapeutischer Übungen,
Spontanwertungen bei Kindern und Jugendlichen usw. im Gange. — Das Institut
arbeitet außer für die Provinz ebenso für Kommunen und Private. So ist es
z. B. ständig psychologische Berufsberatungsstelle für Lehrlinge und Schüler in
Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt der Stadt Halle, ferner Prüfstelle für
Telephonistinnen der Post ; es ist schließlich zu mannigfachen Untersuchungen von
Spezialfragen von der medizinischen Fakultät der Universität und von Privat-
firmen u. a. angeregt worden. Ein Stab von Ärzten, Hilfsschullehrern und
anderen Pädagogen, von Laborantinnen und Schreibhilfen gewährleistet die
erwünschte Abwicklung der praktischen Arbeit.
Tagung des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege und der Ver-
einigung der Schulärzte Deutschlands. Die Versammlung fand <am 24. u.
25. Oktober in Weimar statt. Zahlreiche Schulärzte, Kommunalärzte, Schul-
verwaltungsbeamte, Schulschwestern, Schulpflegerinnen, Seminar- und Schul-
direktoren, Lehrer und Lehrerinnen waren zusammengekommen. Zwei Ver-
handlungsthemen standen auf der Tagesordnung: „Die Einheitsschule vom
hygienischen Standpunkt" und die Frage: „Welche Aufgaben stellt
die während des Krieges herbeigeführte Erschütterung der Schul-
jugend an die Schule?" Für die Verhandlungen über die Einheitsschule
waren drei Redner bestellt worden, zwei Schulmänner: J. Tews für die
grundsätzlichen Fragen, Stadtschulrat Dr. Buchenau für die Fragen der
Oberstufen der Einheitsschule. Stadtarzt Dr. Oebbecke behandelte das Pro-
blem vom ärzthchen Standpunkt aus. Der Ertrag dieser drei Vorträge und
der Aussprache nach der schulgesundheitHchen Richtung hin war nicht be-
sonders ergiebig. Die Behandlung der Einheitsschulfrage gewann mehr den
Sinn einer allgemeinen Aussprache über die Probleme dieses Gegenstandes
und mündete aus in ein Bekenntnis der Versammlung zur Einheitsschule.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 427
Immerhin seien einige uns interessierende charakteristische Ergebnisse mit-
geteilt: Nur in der Einheitsschule kann der hygienische Gesichtspunkt voll
zur Geltung kommen. Die gesamte schulpflichtige Jugend ist schulärzthch
zu überwachen. Die bestehenden Einrichtungen zur Ergänzung und Ver-
besserung der Ernährung, Bekleidung, Unterbringung und Beschäftigung der
Kinder (Bewahranstalten, Horte u. dgl.) sind zu erweitern und zu vervoll-
kommnen. Die Elternbeiräte müssen sich insbesondere auch der Förderung
der Schulgesundheitspflege widmen. In der Einheitsschule kommt der eigene,
von allem äußeren Druck befreite Arbeitstrieb des Kindes am vollsten zur
Geltung. In ihr werden die auch die körperliche Gesundheit schwer schädigen-
den, der Eigenart des Lernenden nicht entsprechenden Schulforderungen und
damit die Unlust zur Arbeit, die „Überbürdung", das innere Widerstreben
gegen die Schule und ihre Ansprüche auf das geringste Maß zurückgeführt.
Die Schule muß mehr als bisher Gemeinschaft werden, wozu Einrichtungen
wie Schulgemeinden, Schülerausschüsse, Spiele, regelmäßige Spaziergänge
beizutragen vermögen. Nur eine körperlich und seeUsch-geistig gesunde
Jugend vermag all das zu leisten, was im nationalen und sozialen Interesse
zu fordern ist. Die Einheitsschule muß die individuellen Anlagen wecken
und deutlich zur Entfaltung bringen, um die hervorragend Begabten zu er-
kennen und einer höheren Schulform zuzuführen. Für Spätreife, deren Be-
gabung sich erst später offenbart, muß durch Nebenunterricht gesorgt werden,
daß sie noch bis zum Pubertätsalter, also bis zum beginnenden 9. Schul-
jahr, in die höhere Schule übertreten können. In diesem Schuljahr, also
nach erreichtem Pubertätsalter, muß nach physiologischen und psychologischen
Gesetzen angenommen werden, daß mit der geschlechtlichen Reife auch alle
geistigen Keimanlagen und besonderen Begabungsqualitäten deuthch hervor-
getreten sind. Jetzt ist es daher Zeit, die Trennung der Schüler nach geistigen
Begabungsqualitäten und Begabungsrichtungen eintreten zu lassen.
Die Aufgaben, die die Schule infolge der Erschütterung der Gesundheit
der Schuljugend durch den Krieg erfahren hat, behandelte Prof. Dr. Schle-
singer. Er entwarf ein ungemein ernstes Bild von dem gegenwärtigen Ge-
sundheitszustand unserer Jugend, und in der Aussprache wurde auch dieses
Bild als noch zu optimistisch gesehen bezeichnet. Es ist ja vielfach auf-
gefallen, wie günstig die Schulärzte während des Krieges urteilten. Ich zitiere
einige Sätze aus früheren Berichten: „Die Erhebungen der Schulärzte lauten
durchaus günstig für den Ernährungszustand der Volksschüler im Jahre 1916."
„Alle Beobachtungen zusammengenommen ergeben keinerlei Anhaltspunkte . . .,
daß unsere Schulkinder erheblich in der Gesundheit gefährdet seien." (1917.)
jDie heranwachsende Schuljugend ist frisch und blühend geblieben" (1917).
Dann heißt es aber 1918: „Nach den amtUchen Feststellungen des Reichs-
gesundheitsamtes sind die Folgen der langjährigen Unterernährung bei den
Kindern sehr erhebliche. Im Alter von 1 — 15 Jahren ist die Sterblichkeits-
ziffer um das Doppelte gestiegen." Prof. v. Drygalski fügt hinzu, daß die
Verdoppelung der Tuberkulosesterblichkeit nicht etwa eine Teilerscheinung
stärkerer Infektionsverbreitung, sondern „ein deutlicher Ausdruck für die Zu-
nahme dei allgemeinen Hinfälligkeit" sei. Vortrag und Aussprache in Weimar
führten als Kennzeichen der Verwüstung an: die Hemmung des Längen-
wachstums, starke Gewichtseinbußen, Hinausschiebung der Geschlechtsreife,
Verspätung des Wachstumsantriebes während der Pubertät, Zunahme der Zahl
428 Kleine Beiträge und Mitteilungen
der Kinder mit mangelhafter oder untermittelmäßiger Konstitution, Zunahme
der Rachitis und Neuropathie, der Tuberkulosefälle, vor allem aber starkes
Ansteigen der Kindersterblichkeit, namentlich durch Grippe und Lungen-
schwindsucht. Festgestellt wurde eine Abnahme der Frische und geistigen
Beweglichkeit der Kinder, eine Zunahme der Stumpfheit, Schwäche und Über-
empfindlichkeit, Verlust der Übungsfähigkeit und Zurückgang der Wider-
standsfähigkeit der Kinder gegen Ansteckung. Während sich die große Masse
der Schulkinder bereits wieder von den Entbehrungen der letzten Kriegsjahre
erholt und auch wieder erhöhten Anforderungen der Schule gewachsen er-
scheint, trifft dies nicht zu auf die erwähnten schwach entwickelten und
stärker zurückgebliebenen Kinder. Sie bedürfen auch weiterhin in erhöhtem
Maße sozialhygienischer Fürsorge. Sobald es möglich ist, über die Versorgung
der Kleinkinder mit Milch hinauszugehen, sind zunächst die Schulkinder zu
bedenken. Ferienheime und Ferienkolonien sind einzurichten, monatliche
Luftkuren, Luft-, Sonnen- und Solbäder wurden warm empfohlen. In der
Aussprache machte die vorbildliche Fürsorgetätigkeit der Stadt Hannover
starken Eindruck, die nicht nur in ihrer nächsten Umgebung für Erholungs-
gelegenheiten gesorgt hat, sondern Heime gepachtet bzw. käuflich erworben
hat in Wald und Gebirge, in Sol- und Stahlbädern und auf einer Nordsee-
insel. — Der Schlußvortrag empfahl eine engere Verbindung von Schul- und
Volksgesundheitspflege.
Die wichtige Tagung war nicht bloß für den Schularzt, sondern auch für den
Pädagogen und Psychologen lehrreich. Sie schärfte den Blick für die
gegenwärtigen körperlichen und geistigen Nöte unserer Jugend — so wurde
z. B. auch der kriminalpsychologische Gesichtspunkt berührt — und gab
zahlreiche Hinweise für ihre Beseitigung. Auch didaktische Fragen — Ge-
sundheitsunterricht, die hygienische Bedeutung des arbeitsschulmäßigen Lehr-
verfahrens — wurden beachtet. Es zeigte sich von neuem, wie groß das
Gebiet des Schulackers ist, das Schulgesundheitspflege, Pädagogik und Psy-
chologie gemeinsam zu bestellen haben zum Wohle unserer Jugend.
Eine Sonderschule für sehschwache Kinder wurde Ostern 1919 in Berlin
eröffnet. Sie ist dreiklassig und hauptsächlich für Kinder bestimmt, die an
den Folgen schwerer Hornhauterkrankungen, an hochgradiger Kurz- oder
Weitsichtigkeit, die selbst durch die schärfsten Gläser nicht genügend korri-
giert w^erden kann, ferner an Erkrankungen der Sehnerven oder angeborenen
Entwicklungshemmungen des Auges leiden. Ähnliche Schulen bestanden
bisher in Straßburg und Müh 1 hausen i. E., und die dort gesammelten
Erfahrungen ermutigten zur Nachahmung.
Eine Ausstellung für neuzeitlichen Anfangsunterricht hat ein Ausschuß
des Berliner Lehrervereins im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht,
Potsdamer Str. 120, veranstaltet. Besonders reichhaltig ist ihre Fibel ab-
t eilung. Sie zeigt die in Berhn noch geltenden alten sowie die noch nicht
eingeführten neuen Berhner Fibeln; außerdem liegt eine große Zahl anderer
neuer Fibeln aus. Die übrigen Abteilungen zeigen Lesekästen, Werkzeuge
und Stoff zum Stäbchenlegen, malenden Zeichen, Ausschneiden, Formen und
zur Heimatkunde. Kinderarbeiten und gute Literatur wollen Anregung und
Anleitung zu eigenem Tun bieten.
Literaturbericht 429
Nachrichten. 1. Dr. W. Poppelreuter hat sich für „pathologische
Arbeitspsychologie" habihtiert. Das von ihm geleitete Institut wird in
einen bei der Psychiatrischen Klinik in Bonn errichteten Neubau verlegt
werden und besonders dem Studium der Erscheinungen und Folgen der
Kriegsverletzungen des Gehirns dienen,
2. Der a. o. Professor für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der
Breslauer Universität Dr. phil. et med. Richard Hönigswald ist zum
ordentlichen Professor daselbst ernannt worden.
3. Ein Ausschuß, der sich mit der wissenschaftlichen Erfor-
schung der Arbeit beschäftigen soll, ist im Arbeitsministerium ein-
gesetzt worden. Seine Aufgabe soll sein, die vorhandenen Bestrebungen
auf diesem Gebiete zu sammeln, zwischen ihnen zu vermitteln und neue
Forschungen anzuregen. Ihm gehören an außer Mitghedern des Arbeits-
ministeriums und den Vertretern der einzelnen Landesregierungen je ein
Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ferner von Vertretern der Wissen-
schaft Geheimrat Goth ein- Heidelberg für Nationalökonomie, Geheimrat
Wallichs- Aachen für Technik, Dr. Brahn- Leipzig für Psychologie, Dr.
Poppelreuter-Bonn für Medizin und Prof. Niklisch-Mannheim für Be-
triebslehre.
4. Das Seminar für Heilpädagogik, das im Rahmen der niederöster-
reichischen Landeslehrerakademie begründet wurde, hat Mitte Oktober seine
Vorlesungen aufgenommen. Im ersten Halbjahre werden u. a. folgende Vor-
lesungen gehalten: Dr. Z. Hovorka: Anatomie und Psychologie des Menschen
mit Hervorhebung wichtiger, bei abnormen Kindern vorkommender Ab-
weichungen; Direktor J. Schinner: Erziehung und Unterricht schwach-
begabter Kinder; Akademiedirektor Dr. W. Kammel: Begabungsprobleme,
Einführung in die experimentelle Pädagogik; Prof. L. Battista: Kinder-
psychologie, Psychologie der Berufsberatung; Direktor K. Bürklen: Psycho-
logie des BUnden und des blinden Kindes.
Literaturbericht.
Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrach-
tung. 3. Auflage. Stuttgart 1919. Eoke. 354 S. 15 M.
Es kann nicht verwundern, daß durch das aufwühlende und zermürbende Erleben der Kriegs-
und Umsturzzeit in weiten Kreisen eine abergläubische Sucht und bedenkliche Hinwendung zum
Dunkel des Geheimnisvollen erregt wurde. Empörend aber ist es, wie gewissenloser Geschäfts-
sinn auch diese Erscheinung auszubeuten weiß. Sogenannte „Psychologen" — wohl vielfach mit
fragwürdigster Bildung — veranstalten heute „ Demonstrationsabende " über Gedankenlesen,
Suggestion, Hypnose, Somnambulismus usw., und es läuft ihnen auf ihre marktschreierischen
Anpreisungen im Stil der Kinoanzeigen ein zahlreiches, auf Sensationen eingestelltes Publi-
kum zu. Vielfach maskieren sich diese Vorträge imd Vorführungen mit der Ankündigung,
wissenschaftlich aufzuklären. In Wirklichkeit sind sie nur auf erregende Unterhaltung angelegt
und stiften durch ihre verwirrenden Gaukeleien und angeblichen Deutungen und Enthüllungen
in den unklaren, getrübten und befangenen Köpfen der Menge sehr bedenklichen Schaden.
Die Fachvertreter der Psychologie sollten es nicht unter ihrer Würde halten, hier eine
volkspädagogische Aufgabe zu erblicken. Vielleicht, daß die neuen Volkshochschulen an ihrem
Teil in diesen Gebieten aufklärend ins Volk hinein wirken können. Es ist bisher unter den
psychologischen Gelehrten wohl Max Dessoir der einzige, der schon lange den Mut hatte,
sich nicht bloß mit der „Parapsychologie" in wissenschaftlicher Haltung zu beschäftigen,
sondern auch in der Presse und in öffentlichen Vorträgen und während des Krieges auch in
430 Literaturbericht
der vorliegenden Schrift „in jenem Dunstkreis, in dem Gaukler und Fälscher, balbtolle Frauen-
zimmer und anspruchsvolle Wirrköpfe ihr Wesen treiben", um Aufkläruntf sich zu bemühen.
Sein Buch ist beim ersten Erscheinen von Max Brahn in unserer Zeitschrift ausführlich gewür-
digt worden. Da die zweite und dritte Auflage fast unveränderte Abdrucke darstellen, bleibt
uns ihnen gegenüber nur die Pflicht der kurzen Anzeige.
Leipzig. Otto Scheibner.
Goldstein, Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten.
Leipzig 1919. Vogel. 240 S. 20 M.
Das Buch gibt einen erfreulichen Einblick in die fruchtbare Tätigkeit der von Goldstein
geleiteten Hirnverletztenstation in Frankfurt a. M. Es ist für Praktiker bestimmt und in An-
betracht der Tatsache, daß die psychologische Berufsberatung noch auf Jahre hinaus sich mit
Kopfschußverletzten zu beschäftigen haben wird, von Bedeutung. Vor allem versteht es G., den
Umkreis psychologischer Fragen angemessen einzuordnen in das Gesamtgebiet der sozialwirt-
schaftlichen Fragen und Gegebenheiten, sowie der ärztlichen Gutachtertätigkeit. Entsprechend
erörtert die Schrift erstens die ärztliche, zweitens die psychpädagogische, drittens die Arbeits-
behandlung und schließt mit einer Statistik der Erfolge und mit näheren Angaben über die Dienst-
fähigkeit und Rentenfestsetzung. Die ärztliche Seite berücksichtigt die konservative und chirurgische
Behandlung. Das letzte Kapitel behandelt den Umkreis der Hirnverletztenfürsorge im Ganzen.
Was die Arbeitsbehandlung betrifft, so ist das Material leider etwas kurz gehalten und gibt trotz
des außerordentlich wichtigen Problems der günstigen Arbeitseinwirkung auf die seelische Ge-
samtheit der Persönlichkeit des Hirnverletzten, wie ich sie auch an meinem Institute beobachtete,
nur allgemeine Auskunft, erreicht vor allem nicht die Gewichtigkeit des 2. Bandes des bekannten
Poppelreuterschen Buches,
Das Hauptstück der Veröffentlichung ist das 2. Kapitel. Die experimentell psycho-
logischen Untersuchungen beschäftigen sich in erster Linie mit tachistoskopischen Prüfungen,
Arbeit am Reaktionsbrett, dem Ergographen und dem Rechenbogen. Den Praktiker, der täglich den
Zu- und Abstrom der Fälle kennt und daher weiß, daß umfänglichere Untersuchungen der Patienten
etwa im Sinne eines psychologischen Profils nach Rossolimo oder dem Schema der Eignungs-
prüfung nach Moede nur bei längerem Lazarettaufenthalt möglich wäre, wird diese verhältnis-
mäßige Dürftigkeit nicht wundernehmen. Immerhin wäre es interessant gewesen, wenn G.
auch seine Erfahrungen mit anderen Untersuchungsmethoden mitgeteilt hätte. Von Intelligenz-
und Gedächtnisprüfungen ganz zu schweigen, lassen sich auch noch andere Versuche durch-
führen, die den praktisch so wichtigen Arbeitstypus des Kranken schnell und vielseitig, wohl
auch besser z. T. noch als durch das übliche Addieren, verraten. Die psychologisch-pädagogische
Übungsbehandlung als 2. Unterabschnitt ist für die Praxis wiederum sehr wichtig. Neben all-
gemeineren Bemerkungen zur Behandlung psychischer Defekte werden Beispiele geboten zur
Übungsbehandlung bei motorischen Sprachstörungen, amnestischen, sensorischen, agrammatischen
Erscheinungen, der verschiedenen Formen der Aphasie, Rechenstörungen und anderem mehr.
Dem geschulten Hilfsschullehrer (dessen Tätigkeit ich bei Hirnverletzten für überaus wertvoll
und unersätzlich halte) bieten die G. sehen Darstellungen nicht uabedingt Neues hierüber. Wohl
aber erfreuen sie durch die reichen Beispiele, eingehenden Protokolle und Proben, Bild-r, Beilagen
und Kurven. In diesem Einblick in die volle Wirklichkeit der Fälle und der Anregun^r, die
auch für weitere Kreise aus dem Überschauen eines wirklich lebensnahen psychologischen Be-
triebes folgert, sehe ich das Hauptverdienst und auch den bleibenden Wert des G. sehen Buches.
Halle a. S. Fritz Giese.
Karl Reinhardt, Die Neugestaltung des deutschen Schulwesens. Leipzig 1919. Quelle
& Meyer. 2,50 M.
Die Schrift von Reinhardt, dem Schöpfer des „Frankfurter Systems", ist deshalb für alle,
die sich für die praktische Neugestaltung des Schulwesens interessieren, so wichtig, weil in ihr
diejenigen Reformgedanken verdichtet sind, die zur Zeit in den Unterrichtsministerien am ernst-
haftesten erwogen werben. Es wird zwar das ganze Schulwesen berührt — das freie Volks-
bildungswesen bleibt links liegen — , die genaueren und treffsichereren Ausführungen erstrecken
sich jedoch nur auf die allgemeinbildenden Schulen und hierin wieder auf den Ausbau der
höheren Schulen. Die Umrisse und Andeutungen zu dem Aufbau des Berufsschulwesens und
seine Eingliederung in das einheitliche Ganze werden ebenso wie die Behandlung der Lehrer-
bildungsanstalten, von süddeutschen Verhältnissen aus gesehen, weniger befriedigen. Aber
Reinhardt richtet keine Schranken auf; er deutet manches bloß an, w-as sich vielleicht durchsetzt.
Literaturbericht 431
vielleicht auch nicht; er ist sich bewußt, daß da vieles noch im Fluß ist und behandelt es
dementsprechend. Seine Schrift ist zwar eine rein „private Angelegenheit" ; aber sie bringt doch
im ganzen kein persönliches Programm, sondern sucht die Bestrebungen darzustellen, die nach
seiner Überzeugung Aussicht auf Verwirklichung haben. Persönliches tritt nur beim Mittelpunkt
des Ganzen, beim Reformsystem hervor.
Reinhardt ist Anhänger des einheitlichen Aufbaues und berührt sich da am meisten mit
W. Rein. Die wichtigsten Mängel des bisherigen Schulwesens sieht er in der Zusammenhangs-
losigkeit der einzelnen Schularten, im Berechtigungswesen, der Nichtanpassung der Schulzweige
an die Befähigungsarten, insbesondere in der Vernachlässigung der praktischen und künstlerischen
Befähigungen, der allzufrühen Entscheidung für eine bestimmte Schule, der abstoßenden, stark
aufbauenden Auslese und im Standescharakter der höheren Schulen. Er schlägt nun eine
4jährige gemeinsame Grundschule vor. Darauf erhebt sich eine 4jährige Oberstufe der
Volksschule und eine 4— 6jährige Mittelschule mit einer bzw. zwei Fremdsprachen (der
preußischen Mittelschule entsprechend). Während die Volksschvde ihre Fortsetzung hauptsächlich
in der Fortbildungsschule und niederen Fachschule erhält, leitet die Mittelschule in die höheren
Fachschulen (Handelsschule, Kunst- und Gewerbeschule, Maschinenbauschule usw.) über; beide
können dann zu den Hochschulen führen. In den höheren Fachschulen sieht R. auch, und wohl
mit Recht, das Problem des „technischen Gymnasiums" gelöst. Die höheren Schulen (Studien-
anstalten) schließen sich dann an das 2. Mittelschuljahr an und sind 6jährig. Die 3 höheren
Schulen läßt er innerhalb des Frankfurter Systems im wesentlichen bestehen. Für die Oberreal-
schule und nur für sie schlägt er auf der Oberstufe eine Gabelung in einen sprachlich-geschichtlichen
und mathematisch-naturwissenschaftlichen Zw%ig vor (ersterer mit fakultativem Latein). Gymnasium
und Realgymnasium erhalten noch einen 2 jährigen gemeinsamen Unterbau. Hier wird man
fragen, warum die Gabelung, die ja doch aus der Natur der Befähigungen heraus vorgeschlagen
wird, nicht auch für die beiden andern Schularten Geltung haben soll; denn für sie liegen die
Verhältnisse nicht anders. Mit dem 12 Lebensjahr ist die Begabungsrichtung im allgemeinen
noch nicht so deutlich ausgeprägt, daß min schon endgültig .scheiden könnte. Ferner wird man
über die innere und äußere Berechtigung der so entste lenden Bildungstypen mancherlei Bedenken
vorbringen können, auch wenn man mit den Grundsätzen des Reformsystems einverstanden ist.
Warum neben dem doch vorwiegend neusprachlichen B Idungstypus des Realgymnasiums noch
einen neusprachlichen aus der Oberrealschule? — Der .\ufb:iu R s zeigt seine großen Vorzüge nicht
nur der Auslese der Schüler, sondern vor allem auch dem Lande gegenüber. Denn durch Zusatz-
unterricht wird es möglich sein, daß die Kinder bis zum 14. I^ebensjahr zu Hause vorbereitet werden.
Für die Zulassung zu den einzelnen Schulen ist nur die Eignung entscheidend; sie wird
von den Lehrern der abgehenden und aufnehmenden Schule festgestellt durch Beobachtung,
Prüfung und Probezeit. Den Schulpsychologen lehnt er wohl im Hinblick auf die neueren
, Leistungen" ab. Das Schulgeld für die Mittel- und Oberschule wird nach der Steuerkraft ab-
zustufen sein. Die höheren Schulen werden geschlossene Anstalten, die nur Hochschulreife
vermitteln; alle übrigen Berechtigungen sind durch die Mittelschule zu erwerben. Die einzelne
Schule wird wieder eine größere Freiheit erhalten; die behördlichen Stundenpläne werden nur
Höchst- und Mindestzahlen angeben. All dem werden viele lebhaft zustimmen; ganz besonders
aber den Vorschlägen zur Reform der Reifeprüfung : Zeitpunkt ist der Übergang von der zweit-
obersten zur obersten Klasse; Beschränkung auf wenig (3) Hauptfächer; das letzte Jahr ganz
besonderes zur Erziehung zur zusammenhängenden wissenschaftlichen Arbeit und zur Vertiefung
in allgemeine Fragen; den Abschluß bildet eine größere wissenschaftliche Arbeit aus dem
besonderen Arbeitsgebiet des Schülers an Stelle des Klassenaufsatzes der Reifeprüfung. Es ist
der beste der mir bekannten Vorschläge in dieser Frage und sollte sofort in allen Schulen, die
sich dazu bereit erklären, durchgeführt werden.
Die Vorbereitungsanstalten für die Lehrerseminare bleiben bestehen im Interesse des flachen
Landes. Den Erfahrungen, die man in Süddeutschland mit Abiturienten bei 1 — 2 jähriger Aus-
bildung gemacht hat, steht er anerkennend gegenüber, ohne jedoch die Forderung zu wagen,
daß man die heutigen Lehrerbildungsanstalten in „höhere deutsche Schulen" verwandle und
die Lehrerbildung einer höheren Fachschule »pädag. Akademie, pädag. Fakultät i zuweise. Die
Lehrer sollen sich als einheitliches Gt zes fühlen aus ihrer hohen allgemeinen Aufgabe heraus;
eine gleiche Vorbildung aber sei unmöglich.
Daß die Schulen für die weib iche Jugend als Folge der politischen Gleichberechtigungen
denen der männlichen Jugend möglichst anzugleichen seien, wird nicht überall Zustimmung finden;
umsomehr die Forderung einer einheitlichen Schulbehörde für das gesamte Schulwesen einschl.
der Fachschulen sowie der gesetzlichen Festlegung der Organisation. Die Ausführungen über
den Religionsunterricht zeigen große Wärme für diesen Gegenstand und lebhaften Sinn für eine
432 Literaturbericht
freiheitliche Regelung dieser Frage. Privat- und Sonderschulen läßt Reinhardt nur gelten, wenn
sie einem besonderen pädag. Zweck dienen, also neue Wege, neue Lehrpläne, neue Erziehungs-
methoden ausprobieren. Sie sind unter staatliche Aufsicht zu stellen und mit den gleichen
Rechten wie die staatlichen Schulen auszustatten.
Nur in großen Zügen konnte der reiche Inhalt der Schrift angedeutet werden; die meisten
Reformvorschläge in bezug auf das Schulwesen der Gegenwart sind irgendwie einbezogen; daß
sie, im einzelnen dann auf das Grundsätzliche zurückgehend, nicht eingehender erörtert werden
konnten, ist bei dem geringen Umfang der Schrift selbstverständlich.
Tübingen. Gustav Deuchler.
A. Buchenau, Die Einheitsschule. 2. Auflage. Die neue Zeit, Schriften zur Neugestaltung
Deutschlands. Leipzig 1919. Teubner. 58 S. 1,50 M.
Das Heftchen zeugt von reicher Belesenheit und Beherrschung des weitschichtigen Stoffes.
Es gibt daher über die Einheitsschule sachkundigen Aufschluß. Aus biologischen Gesetzen wird
ihre Notwendigkeit als eine gegliederte Einheit in vielgestaltigen Formen nachgewiesen. Ihr
Wesen ist, alle Kinder nach ihrer Begabung zu höchster Leistungsfähigkeit zu entwickeln.
Dazu ist die Psychologie eine wichtige Helferin, doch scheint mir ihre Bedeutung für die
Erziehung nicht scharf genug betont zu sein. Schon auf dem 4 jährigen gemeinsamen Unterbau,
wozu der Verfasser sich bekennt, soll den Begabungen entsprechend nebeneinander Arbeits-
unterricht und mehr geistiger Unterricht erteUt werden. Daran schließt sich die Oberstufe
der Volksschule, die auf 5 Jahre erweitert werden sollte, damit ein eigenes Urteil und Verständnis
für das Volkstum geweckt werden kann. Dies ließe sich tiefer begründen; leider werden diesii
Gedanken um ihre Wirkung gebracht, indem auf S. 27 dem Deutschunterricht nicht der unbedingt
erforderliche Raum eingeräumt werden soll. Auf diese Oberstufe bauen sich die Berufsschulen
und für die Besten die Fach- und Fachhochschulen auf. Vom vierten Schuljahr führt der Weg
sodann zur sechsklassigen Realschule mit einer Fremdsprache und verstärktem Sachunterricht
für die praktisch gerichteten Kinder. Ein anderer Aufbau sind die achtklassigen höheren Schulen,
deren Zweck wissenschaftliche Bildung, nicht Fachbildung ist und die zur Menschenkenntnis
führen sollen. Sie zerfallen in mathematisch-naturwissenschaftliche Anstalten, als mathematisches
und technisches Gjnmnasium, und in sprachliche Anstalten, als neusprachliches und altsprachliches
Gymnasium (der Name ist wenig glücklich). So wird das heutige Vierlerlei überwunden und
die Einzelleistung gesteigert. Von einer Schulgattung zur andern soU ein beständiger Übergang
möglich sein, die Wege hierzu sind freilich nur gestreift. Auch die Hochschule wird ganz kurz
abgetan, ohne dem Überlebten dieser Schulart ins Gesicht zu leuchten. Viel zu kurz ist der
Abschnitt über die LehrerbQdung, denn gerade hier ist zu ; Uererst der Hebel anzusetzen, damit
wir Männer bekommen, die die Einheitsschule mit deutschem Leben erfüllen. Das Schriftchen
stellt in geschickter Weise Gedanken über die Einheitsschule, allerdings ohne Berücksichtigung
der Mädchenerziehung, zusammen; eine geistesgewaltige Neuschöpfung aus einer führenden
Seele darf man freilich nicht darin suchen.
Leipzig. G. Reinhard.
Marta Bergemann-Könitzer, Erziehung zur Plastik. Ein Beitrag zur Methodik des
plastischen Unterrichts. Die Plastik. (Callwey's Verlag). Jahrgang 1919, Heft 3, S. 17—21.
Mit 10 Tafeln.
Die Kunsterziehung unserer Tage ist viele neue Wege gegangen ; der Weg zur Plastik aber
blieb ungebahnt, denn was in Kindergarten und Unterstufen der Schule als Formen in Plastulin
getrieben wurde, hatte mit Kunst noch wenig zu tun. Die Verfasserin beschreibt nun in knapper,
aber eindringlicher Weise ihre Versuche mit Kindern verschiedenen Alters, die sie in einem
Unterricht von zwei Wochenstunden in plastischem Sehen und Gestalten erzieht. Vorbilder sind
ihr hierfür die kleinen unscheinbaren Tanagra-Figürchen. Sie beginnt sofort mit der Darstellung
des Menschen, etwa des Schneemanns, und läßt nun die Kinder allmählich die richtigen Körper-
proportionen finden. Auf die Raumbewältigung, die Gliederung der Masse kommt ihr alles an:
wie so ganz anders sich die Glieder fügen beim stehenden und beim sitzenden, beim knieenden
und beim kauernden Menschen! Die vorzüglichen Abbj^^ungen von Proben zeigen in der Tat
eine überraschende Vielgestaltigkeit, Lebendigkeit und Proportioniertheit der dargestellten Ton-
figuren. Es wäre zu wünschen, daß diese auf jahrelangen Erfahrungen beruhende Kunst-
erziehungsmethode in pädagogischen Kreisen Beachtung und Nachahmung finde.
Hamburg. William Stern.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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