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Full text of "Zeitschrift für experimentelle Pädagogik"

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ZEITSCHRIFT  FÜR 

PÄDAGOGISCHE 
PSYCHOLOGIE 

UND  EXPERIMENTELLE  PÄDAGOGIK 


HERAUSGEGEBEN  VON 
O.  SCHEIBNER  UND   W.  STERN 

UNTER  REDAKTIONELLER  MITWIRKUNG  VON 
A.  FISCHER  UND  H.  GAUDIG 


XX.  JAHRGANG 


1919 
VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 


Druck  yon  J,  B.  Hirschfeld  (August  Prieg)  in  Leipzig. 


Inhaltsverzeichnis. 


A.  Abhandlungen. 

Seite 

Verjüngung.     Von  Universitätsprof.  Dr.  W.  Stern  in  Hamburg 1 

Untersuchungen    über    Ideale    im    höheren    Jugendalter.      Von    Seminarlehrer 

M.  Kesselring  in  Kaiserslautern 12;  89 

Über  die  Beziehungen  zwischen  Intelligenz  und  Moralität  bei  jugendlichen  Ver- 
wahrlosten.   Von  Dr.  P.  Riebeseil  in  Hamburg 37 

Muster  eines  Tagebuches  über  Kinder.  Von  Dr.  St.  v.  Maday  inMiskolo  in  Ungarn  44 
Die  Unterricht  liehe  Behandlung  Kopfschußverletzter.    Von  Prof.  Dr.  A.  Stößner 

in  Dresden 48 

Statistische  Erhebungen  über  sprachgebrechliche  Kinder  in  den  Hamburger  Volks- 
schulen.    Von  Schulleiter  W.  Carrie  in  Hamburg 53 

Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule.  Von  Rektor  E.  Haase 

in  Halle 60;  108 

Zur  Sammlung  jugendkundlicher  Beobachtungen  in  der  Zeit  des  deutschen  Staats- 
umsturzes.    Von  Universitätsprof.  Dr.  A.  Fischer  in  München    .     .      81 
__^  Die  Erlernuns:  und  Beherrschung  fremder  Sprachen.    Von  Universitätsprof.  W. 

Stern  in  Hamburg 104 

Psychologie  und  Schule.  Von  Universitätsprof.  W.  Stern  in  Hamburg  .  .  .  145 
Das  Zusammenwirken  der  Schule  und  des  Psychologen  bei  der  Begabung«-  und 

Eignungsauslese.     Von  Dr.  O.  Lip mann  in  Klein-Glienike  bei  Berlin     153 
Höhere  Intelligenzprüfung  an  Jugendlichen  mit  Hilfe  des  Bindeworttests.    Von 

Marx  Lobsien  in  Iviel 157 

^Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache.    Von  A.  Huth  in  München 163 

Beiträge  zur  Untersuchung  der  sprachlichen  Entwicklung  des  Kindes.    Von  Prof. 

K,  Bergmann  in  Darmstadt 183;  238 

Schuloriranisatorisches  Denken.  Von  Oberschulrat  Prof.  Dr.  H.  Gau  d  ig  in  Leipzig  209 
Zur  Auswahl  und  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten.  Von  P.  Wischer  in  Berlin  219 
Ein  Test  zur  Prüfung  der  Kritikfähigkeit.  Von  M.  Lobsien  in  Kiel  ....  231 
Begabungsprüfungen  in  FachschuU'n.  Von  Universitätsprof.  W.  S  t  e  r  n  in  Hamburg  235 
Die  Untersuchung  der  Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallen- 

versuchs.     Von  Dr.  R.  Prantl  in  Würzburg 245 

Bildsamkeit  und  Persönlichkeit.  Von  Gymnasiallehrer  W.  Saupe  in  Chemnitz  289 
Beobachtungsbogen  und  Schülerauslese.    Von  M.  Muchow  und  W.  Höper  in 

Hamburg 301 

1.  Notwendigkeit  und  Möglichkeit  der  Heranziehung  des  Lehrerurteils  bei 

der  Begabtenauslese.     Von  Martha  Muchow 302 

2.  Erfahrungen  mit  dem  Hamburger  Beobachtungsbogen  1919.    Von  Dr. 
Wilhelm  Höper 308 

Fragebogen  zu  psychologischen  Ermittlungen  im  Kindergarten.    Von  J.  Lichten- 
stein in  Breslau 315 

Besinnliches  zur  Begabungsprüfung.    Von  Privatdozent  Dr.  M.  Brahn  in  Leipzig    328 
/     Sprachpsychologische   Untersuchungsmethoden    im    Dienste   von   Erziehung    und 
^^^  Unterricht.    Von  Universitätsprof.  Dr.  A.  Fischer  in  München      .     334 

Zur  Ethik  und  Psychologie  der  Pflicht,  besonders  der  Beamtenpflicht.    Von  Prof. 

P.  Sickel  in  Aachen 369 


IV  Inhaltsverzeichnis 


Seite 
Über  den  Einfluß  von  Krics^s-  und  Zeitkomplexcn  auf  die  Definitionsleistung  bei 

Kindern.     Von  Prof.  Dr.  A.  Gregor  in  Leipzig-Döaen 379 

Über  das  logisch-rechnerische  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  auf  Grund 

experimenteller  Untersuchungen.  Von  Seminaroberlehrer  Dr.  W.  Voigt 

in  Leipzig 386 

/  Zum  psychologischen  Problem  „Fremdsprachen  und  Muttersprache".    Von  Prof. 

Dr.  E.  Lentz  in  Zoppot       409 

Vom  Kulturwert  des  Kinders  piels.  Von  Verwaltungsdirektor  Dozent  Dr.  J.  P  r  ü  f  e  r 

in  Leipzig 415 

Die  psycholosische  Laborantin  als  Beruf.    Von  Institutsleiter  Dr.  Fr.  Giese  in 

Halle  a.  S 418 


Verzeichnis  der  Verfasser. 


Seite  Seite 


Bergmann,  K 238 

Brahn,  M 328 

Carrie,  W. 53 

Fischer,  A 81;  334 

Gaudig,  H .     .     .     .     209 

Giese,  F 418 

Gregor,  A 379 

Haase,  E 60;  108 

Höper,  W 308 


Lobsien,  M 231 

V,  Maday,  St 4* 

Muchow,  M 302 

PrantUjfV, 245 

Prüfer^^jJ. "' 415 

Riebeseil,  P 37 

Saupe,  W 289 

Sickel,  P 369 

Stern,  W 1;  104;  235 


Kesselring,  M 12;  89   j   Stößner,  A 48 

Lentz,  E 409   I   Wischer,  P 219 

Lichtenstein,  J 315   |   Voigt,  W. 386 

B.  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Seite 

Abteilung  für  Jugendkunde  in  Chemnitz 354 

Amtliche  Eintührong  des    pädagogisch-psychologischen   Aufnahmeverfahrens   in 

Deutsch-Österreich  .  ^ 352 

Arbeitsprogran  m  des  Deutschen  Ausschusses  für  Kleinkinderfürsorge 197 

Ausbildungsstätte  für  heilpädairogische  Lehrberufe 198 

Auskunftst  lle  für  Kleinkinderfürsorge 72;  359 

Ausstellung  für  neuzeitlichen  Anfangsunterricht      428 

Bej.'abtenauslese  in  Berün 423 

Begabtcnschulcn  in  Deutsch-Österreich 352 

Begabungsprüfung  am  Gymnasium 424 

Bremer  Institut  für  Jugendkunde 354 

Deutsche  Gesellschaft  für  soziale  Pädagogik 359 

Elterubund  „Neue  Schule" 138 

Förderung  und  Pflege  der  Erziehungswissenschaften 131 

Grundsätze  zur  Neugestaltung  dos  Schulwesens 361 

Heranbildung  von  Leitern  für  Stotterklassen  und  von  Lelirern  für  Absehunterricht 

\y                 bei  Schwerhörigen  und  Ertaubten 198 

Institut  für  Erziehung,  Unterricht  und  Jugendkunde  an  der  Universität  Leipzig  139 

Institut  für  experimentelle  Pädagogik  und  Psycholo^^ie  im  Leipziger  Lchrerverein  283 

Institut  für  Psychologie  und  Pädagogik  an  der  Hamlelshochschule  Mannheim     .  425 

Kölner  Arbeitsgemeinschaft  für  normale  und  pathologische  Psychologie  ....  358 

Krankhaftes  religiöses  Erleben 127 

Kriminalilät  der  Jugendlichen  während  des  Krieges 422 

Laboratoriimi  für  industrielle  Psychotechnik  an  der  Technischen  Hochschule  zu 

Charlottenburg 356 

Leipziger  Prüfamt 358 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

Leitsätze  zur  Arbeitsschule 195 

Materialsammlung  zur  Schülerbewegimg 359 

Mitteilungen  über  die  Schülerbewegung 132 

Nachrichten 72;  139;  199;  285;  360;  429. 

Neuordnung  der  niederösterreichischen  Landesiehrerakademie       352 

Pädagogische  Fortbildung  der  Oberlehrer 193 

Pädagogisch-psychologische  Fragebogen , 424 

Pädagogisch-psychologisches  Laboratorium  an  der  niederösterreichischen  Landes- 
iehrerakademie >Yien 199;  355 

Prorinzialiustitut  für  praktische  Psychologie  in  Halle 425 

Psychologische  Beobachtung  der  Fürsorgezöglinge 188 

Psychologisches  Laboratorium  in  Hamburg 278 

Psychologisch-pädagogisches  Preisausschreiben 285 

Schullorderungen  des  Deutschen  Lehreryereins 347 

Sonderschule  für  sehschwache  Kinder 428 

V^  Sprechlehrerseminar       360 

Tagung  des  Deutschen  Vereins  für  Schulgesundheitspflege  und  der  Vereinigung 

der  Schulärzte  Deutschlands 426 

Vertretung  der  Psychologie  und  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten  im 

Winterhalbj  ihr  1918/19 68 

Warnung  vor  dilettantischer  Anwendung  von  Testprüfungen 353 

Wiener  Hauptstelle  für  Erziehung  und  Unterricht 72 

Wirtschaftspsychologisches  Laboratorium 284 


Inhalt  der  Nachrichten. 


Seite 
Akademische  Ferienkurse  an  der 

Universität  Leipzig 361 

Ausbiidungskursus  f.  die  Eignungs- 
prüfung der  industriellen  Lehr- 
linge      361 

Auskunftstelle  für  Kleinkinderfür- 
sorge     139 

Ausschuß  zur  Erforschung  der  Ar- 
beit        429 

Erahn,  Dr.  Max       199 

Cohn,  Prof.  Dr.  Jonas 199 

Deutscher  Verein  zur  Fürsorge  für 
jugendliche  Psychopathen  .     .     .     140 

Fischer,  Dr.  Aloys 73;  199 

Handelshochschulkursus  der  Stadt 

Nürnberg 140 

Hönigswald,  R.,  Dr.  Prof 429 

Institut  für  Erziehung^Unterricht 
und  Jugendkunde  an  der  Uni- 
versität Leipzig 139 

Karamel,  Prof.  Dr.  WiUibald  ...     360 


Seite 

Katz,  Prof.  Dr.  David 360 

Lehmann,  Prof.  Dr.  Rudolf    ...  285 

Lietz,  Hermann  f 285 

Lehrgang    für    Studienreferendare  362 

Lehrstuhl  für  Pädagogik  in  Jena  .  360 

Moede,  Dr.  Walter 140 

Xohl,  Dr 360 

Pädagogische  Osterwoche  ....  73 

Peters,  Dr.  Wilhelm 199 

Poppelreuter,  Dr.  W 429 

Psychologischer  Ausbildungskursus 

für  Hilfsschullehrer 361 

Psychologisches  Institut  des  Leip- 
ziger Lehrervereins 139 

Schwartz,  Dr.  med.  et  phil.,     .     .     .  285 
Seminar  für  Heilpädagogik    .     .     .  429 
Spranger,  Prof.  Dr.  Eduard     ...  360 
Universitätsstudium      der     Volks- 
schullehrer    360 

Vorlesungen   des   Berliner  Lehrer- 
vereins       361 


C.  Literaturbericht. 

Seite 

Aster,  E.  v.,  Einführung  in  die  Psychologie 286 

Asmus,  Prof.  Dr.  W.,  Notstände  an  höheren  Schulen .  79 

Barth,  Dr.  P.,  Ethische  Jugendführung 363 

Bauch,  Dr.  Bruno,    Zeitfragen   der    Gegenwart   in   Fichtes  Reden  an  die 

deutsche  Nation 80 


VI  Inhaltsverzeichnis 

Seite 
Bericht  des  Deutschen  Kinderschutzverbandes.    Der  vorbeugende 

Kinderschutz  in  Stadt  und  Land 80 

Bergemann-Könitzer,  Erziehung  zur  Plastik       432 

Berufswahl  und  Berufsberatung 207 

Brahn,  M.,  Anweisungen  für  die  psychologische  Auswahl  der  jugendlichen 

Begabten 367 

Braunshausen,  Dr.  N.,  Einführung  in  die  experimentelle  Psychologie   .     .  287 

Buchenau,  Dr.  A.,  Die  deutsche  Schule  der  Zukunft 78 

Buchenau,  Dr.  A.,  Pestalozzis  Sozialphilosophie 362 

Buchenau,  Dr.  A.,  Die  Einheitsschule 432 

Bühler,  Charlotte,  Das  Märchen  und  die  Phantasie  des  Kindes  ....  202 

Bühler,  K.,  Die  geistige  Entwicklung  des  Kindes 365 

Bürgler,  K.,  Das  Tastlesen  der  Blindenpunktschrift 76 

Christian,  Dr.  M.,  Psycho-physiologische  Berufsberatung  der  Kriegsbeschä- 
digten            75 

Dessoir,  M.,  Vom  Jenseits  der  Seele 140;  429 

Ebbinghaus,  Prof.  H.,  Abriß  der  Psychologie 74 

Engel,  E.,  Der  Weg  der  deutschen  Schule 208 

Faßbinder,  N.,  Am  Wege  des  Kindes 79 

Frischeisen-Köhler,  M.,  Grenzen  der  experimentellen  Methode   ....  141 

Fuchs,A., Die  heilpädag.  Behandlung  der  durch  Kopfschuß  verletztenKrieger  79 

Gaupp,  Prof.  K.,  Psychologie  des  Kindes 75 

Goldstein,  Die  Behandlung,  Fürsorge  und  Begutachtung  der  Hirnverletzten  430 

Grau,  Dr.  K..  Grundriß  der  Logik 74 

Grunwald,  Dr.  G.,  Philosophische  Pädagogik 205 

Hegels  Philosophie 200 

Hessen,  Johannes,  Die  Begründung  der  Erkenntnis    nach  dem  hl.  Au- 
gustinus      200 

Hildebrandt,  Paul,  Vom  Seelenleben  unserer  Schüler 201 

Höfler,  Dr.  A.,  und  Witasek,  Dr.  St.,   Hundert  psychologische   Schulver- 

^                  suche  mit  Angabe  der  Apparate 142 

Hunzinger,  A.,  Das  Christen  tum  im  Weltanschauungskampfe  der  Gegenwart  362 

Jacob,  J.,  EinBeitrag  zur  Frage  nach  den  psychischen  Rasseunterschieden  75 

Jahnke,  Dr.  R,  Werden  und  Wirken 206 

Jäger,  Dr.  G.,  Schulgemeinde  und  Schülerausschuß 207 

Klumcker,  Prof.  Dr.  Chr.  J.,  Fürsorgewesen 144 

Kreuser,  Dr.  med.  H.,  Krankheit  und  Charakter 201 

Kruse,  Uve  Jens,  Lebenskunst 204 

Lay,  Dr.  W.  A.,  Experimentelle  Pädagogik  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die 

Erziehung  durch  die  Tat 77 

Lazarus,  Prof.  Dr.  M.,  Das  Leben  der  Seele  in  Monographien  über  seine 

Erscheinungen  und  Gesetze 140 

Lehmann,  Prof.  Dr.  R.,  Lehrbuch  der  philosophischen  Propädeutik     .     .     •  14l 

Lindemann,  F.,  Beiträge  zur  Geschmacksbildung 144 

Lorenz,  Prof.  Dr.  G.,  Drei  National-Schulentwürfe  aus  klassischer  Zeit    .    .  208 
May  dorn,  Dr.  B.,  Zeitfragen  der  Gegenwart  in  Fichtes  Retjpn  an  die  deutsche 

Nation 201 

Meinong,  A.,  Beiträge  zur  Pädagogik  und  Dispositionstheorie 36 

Messer,  Dr.  A.,  Ethik 73 

Meyer,  Dr.  E.,  Vom  pädagogischen  Lebenswege 78 

Meyer,  Johannes,  Erziehung  und  Leben 206 

Moede-Piorkowski-Wolff,    Die  Berliner  Begabtenschulen,   ihre  Organi- 
sation und  experimentellen  Methoden  der  Schülerauswahl  ....  288 
Queisser,F.,  Aus  meiner  Sammelmappe  psychologischer  Unterrichtsversuch e  203 

Pauli,  Dr.  R.,  Psychologisches  Praktikum 286 

Paulsen,  F.,    Geschichte    des    gelehrten    Unterrichtes    auf   den    deutschen 
Schulen  und  Universitäten  vom  Ausgang  des  Mittelalters  bis  zur 

Gegenwart 80 


Inhaltsverzeichnis  Vü 


Seite 

Peper,  W.,  Jugendpsychologie 287 

Prochnow,  Dr.  Oskar,  Wissen  oder  Können? 206 

Reinhardt,  K.,  Die  Neugestaltung  des  deutschen  Schulwesens 430 

Reuinuth,  K.,  Die  logische  Beschaffenheit  der  kindlichen  Sprachanfänge    .  365 

Roth,  Dr.  H.,  Das  sittliche  Urteil  der  Jugend 142 

Rupp,  Dr.  H.,  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  und 

Jugendpsychologie 286 

Ruscheweyh,  Dr.  H.,  Die  Entwicklung  des  deutschen  Jugendgerichtes.     .  80 

Rzehak,  A.,  Der  gegenwärtige  Stand  der  Wünschelrutenfrage 288 

Sallwürk,  E.  v.,  Die  Seele  des  Menschen 74 

Schneidemühl,  Dr.  G.,  Die  Handschriftenbeurteilung 77 

Schomburg,  H.  E.,  Der  Wandervogel,  seine  Freunde  und  Gegner  ....  204 

Schönhuber,  Fr.  X.,  Das  Kino  im  Lichte  von  Schülerantworten     ....  143 

Schulz,  Fr.,  Wollen  und  Vollbringen 204 

Schuster,  Dr.  P.,  Das  Nervensystem  und  die  Schädlichkeiten  des  täglichen 

Lebens 364 

Stadelmann,  Dr.  med..    Die  Bedeutung  des  Kindheitserlebnisses    für  die 

Ausgestaltung  der  Lebensführung 201 

Sternheim,  Dr.  K.,  Einführung  in  die  Philosophie  vom   Standpunkte  des 

Kritizismus 362 

Volkelt,  J.  Prof.,  Religion  und  Schule 363 

Wundt,  W.,  Logik 3&4 

Wyenbergh,  J.  van,  Dr.,  Die  Organisation  des  Volksschulwesens  auf  diffe- 

rentiell-psychologischer  Grundlage 143 

Zillig,  P.,  Die  innere  Einheit  aller  Lehrenden 144 

Der  vorbeugende  lünderschutz  in  Stadt  u.  Land.    Bericht  über  die  Kinder- 

schutztagung  des  deutschen  Kinderschutzverbandes     ......  80 


Verjüngung. 

Von  William  Stern. 

In  zwei  Schlagw^orten  sucht  man  das  zusammenzufassen,  was  die  große 
Umwälzung  dem  deutschen  Volke  bringen  soll:  Demokratisierung  und 
Sozialisierung.  Neben  diesen  beiden  aber  steht  noch  eine  dritte  Ziel- 
richtung, die  grundsätzlich  nicht  minder  wichtig,  aber  viel  weniger  be- 
achtet ist:  die  Verjüngung.  Unser  gesamtes  öffentliches  Dasein  in  Staats- 
leben und  Kultur  wird  in  Zukunft  eine  ganz  andere  Altersver- 
teilung der  wirksamen  Kräfte  zeigen  —  zugunsten  der  Jugend. 
Vergegenwärtigen  wir  uns,  was  das  bedeutet. 

Vorweggenommen  sei  ein  Tatbestand  scheinbar  äußerlicher  Art;  aber 
er  greift  doch  tief  in  unser  Innerstes  hinein.  Der  Krieg  hatte  vier  Jahre 
lang  unsere  männliche  Jugend,  insbesondere  die  beweglichsten  und 
strebsamsten  Jahrgänge  zwischen  20  und  30,  an  die  Front  gezogen  und 
aus  der  Mitarbeit  am  heimischen  Kulturleben  ausgeschaltet;  diesem  fehlte 
damit  der  frische  Antrieb  zum  geistigen  Fortschritt;  eine  Überalterung 
setzte  ein. 

Blicken  wir  auf  die  Schulen.  Hierwiarden  die  Lehrkörper  mehr  und  mehr 
zu  Senioren-Versammlungen;  zwischen  Schülerschaft  und  Lehrerschaft 
klaffte  meist  ein  Altersabstand  von  mehreren  Jahrzehnten.  Wohl  war 
es  in  jedem  Einzelfalle  der  höchsten  Anerkennung  wert,  daß  die  älteren 
Herren,  die  in  normalen  Zeiten  längst  die  behagliche  Ruhe  nach  getaner 
Arbeit  genossen  hätten,  die  Pflicht  zum  Durchhalten  so  ernst  nahmen, 
um  die  durch  den  Krieg  gerissenen  Lücken  auszufüllen;  aber  die  Ge- 
samtwirkung war  doch  eine  Verarmung  des  Schullebens.  Die  Schul- 
kinder —  und  gerade  die  feinfühlenderen  und  regsameren  —  haben 
schwer  darunter  gelitten;  es  stockte  jener  lebendige  Pulsschlag  gegen- 
seitigen Verständnisses,  jenes  Sichfinden  in  gemeinsamen  Interessen 
und  Idealen,  wie  es  das  Zusammenarbeiten  von  Schülern  und  jugend- 
frischen Pädagogen  verschönt.  Neben  den  Schäden,  welche  die  Schul- 
erziehung durch  die  Störung  des  Schulbesuches  und  durch  die  Ver- 
wahrlosung der  Jugend  erlitten  hat,  ist  die  ideelle  Schädigung  der  Kinder 
durch  die  Überalterung  der  Lehrerkollegien  nicht  zu  gering  einzuschätzen. 

Und  nun  wird  das  anders  werden.  Jetzt  kehren  die  jüngeren  Päda- 
gogen zurück,  die  wir  so  lange  entbehren  mußten;  nach  furchtbarer 
Zerstörungsarbeit  sind  sie  voller  Sehnsucht,  endlich  aufbauend  tätig  zu 
sein!  Sie  haben  im  Leben  draußen  viele  der  alten  Wertungen  und 
Bindungen  abgeschüttelt  und  schauen  nach  neuen  Zielen  aus.  Und  sie 
kommen  in  ein  umgewandeltes  Deutschland,  in  dem  der  Boden  für 
solche  Entdeckungsfahrten  in  geistiges   und  sitthches  Neuland  bereitet 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  1 


William  Stern 


ist,  in  dem  eine  empfängliche  und  seelisch  ausgehungerte  Schuljugend 
ihrer  wartet.  Welch  unermeßliches  Tätigkeitsfeld  liegt  vor  diesen 
Männern ! 

Was  hier  von  einem  Teilgebiet  der  Kultur  gesagt  ist,  gilt  nun  aber 
von  unserm  gesamten  heimischen  Leben:  die  Jüngeren  standen  im  Kämpft 
die  Älteren  gaben  allein  den  Ton  in  der  Heimat  an,  und  die  Folge  war 
eine  gewisse  geistige  Erstarrung.  Schauen  wir  jetzt  zurück  auf  die 
Jahre  des  Krieges,  so  müssen  wir  bekennen,  daß  sie  recht  arm  gewesen 
sind  an  wahrhaft  neuen,  lebenswirksamen  Ideen.  All  das  Große,  ja  Er- 
schütternde und  Erhebende,  das  der  Krieg  in  der  Heimat  auszulösen 
vermochte,  war  doch  vor  allem  eine  ungeheure  quantitative  Steigerung 
alter  Leistungsformen  und  Werthaltungen  gewesen.  Das  nationale 
Machtstreben,  das  in  bestimmten  führenden  Kreisen  alle  anderen 
Betrachtungsweisen  in  den  Hintergrund  drängte,  die  gewaltige  Fähigkeit 
zum  Organisieren,  die  umfassende  Indienststellung  von  Wissenschaft 
und  Technik  für  die  Aufgaben  der  Selbstbehauptung  —  das  waren 
Höchstmaße  bekannter  und  schon  in  früheren  Jahrzehnten  gepflegter 
Züge  deutschen  Lebens,  aber  nichts  Schöpferisch-Neues,  nichts  Gegen- 
wart-Überwindendes  und  Zukunft- Verkündendes.  Wir  waren  von  vorn- 
herein geistig  in  die  Defensive  gedrängt;  das  Volk  der  Dichter 
und  Denker  litt  an  Ideenarmut!  Diplomatisch,  politisch,  erzieherisch, 
kulturell  bedienten  wir  uns  überkommener  Formen,  während  die  Feinde 
begannen,  ein  neues  geistiges  Rüstzeug  zu  schmieden.  Nur  zögernd 
folgten  wir  und  übernahmen  jene  Ideen,  und  merkten  kaum,  daß  wir 
deutsches  Geistesgut  in  fremdem  Gewände  von  außen  wiedererhielten! 
So  mußte  es  geschehen,  daß  die  von  Kant  zuerst  verkündete  Idee  des 
ewigen,  auf  den  Völkerbund  gegründeten  Friedens  erst  von  dem  ameri- 
kanischen Präsidenten  in  praktische  Form  gegossen  wurde,  um  von 
uns  dann  widerstrebend  zu  eigen  gemacht  zu  werden.  So  mußte  es 
geschehen,  daß  die  ebenfalls  von  Kant  verkündete  Forderung  der  Auto- 
nomie (Selbstbestimmung)  der  sittlichen  Persönlichkeit  nicht  von  den 
Deutschen,  sondern  von  den  andern  auf  die  Völkerpersönlichkeiten  und 
deren  Autonomie  übertragen  wurde.  Und  schließlich  mußte  es  geschehen, 
daß  die  in  Deutschland  aus  Hegelischem  Geiste  geborene  und  von  Marx 
und  Lassalle  geprägte  Idee  des  Sozialismus  nicht  in  einer  bodenständig 
deutschen,  sondern  in  der  zunächst  von  Rußland  vorgemachten  Form 
einer  Räteverfassung  bei  uns  nach  Verwirklichung  strebte. 

Das  wird,  das  kann  nicht  so  bleiben.  Haben  die  Älteren  darin  ver- 
sagt, den  schöpferischen  Ideen  der  kommenden  Zeit  die  dem  deutschen 
Wesen  angemessene  Gestalt  zu  verleihen,  so  müssen  wir  auf  die  Jugend 
hoffen.  Aber  wir  müssen  dann  auch  zugleich  der  Jugend  den  Platz 
und  das  Recht  zubilligen,  um  ihren  tätigen  Anteil  am  Neuaufbau  zu 
nehmen.  Und  deshalb  sind  im  Politischen  die  Verleihung  der  Wahl- 
fähigkeit an  die  Altersstufe  20  —  25,  im  Pädagogischen  die  aktive  Be- 
teiligung der  Schüler  an  der  Gestallung  des  Schullebens  nur  die  ersten 
Erscheinungen,  in  denen  sich  die  allgemeine  und  grundlegende  Forderung 
der  Verjüngung  unseres  Lebens  verwirklicht. 

Um  das  ganz  zu  verstehen,  was  jetzt  unsere  Jugend  von  15  —  25  er- 
füllt, müssen  wir  zurückgreifen  auf  eine  Erscheinung  der  Vorkriegszeit, 


Verjünsrung  3 

die  Jugendbewegung.  Alle  jene  Strömungen,  die  sich  im  Wander- 
vogel und  in  der  Freideutschen  Jugend,  in  der  Freien  Schulgemeinde, 
im  „Anfang",  im  „Vortrupp*  usw.  geltend  machten,  waren  bereits  etwas 
durchaus  Neues  und  Beispielloses:  sie  erhoben  den  individuellen  Seelen- 
zustand  der  Pubertätszeit  ins  Sozial-Psychische,  sie  suchten  die  subjek- 
tive Verfassung  des  einzelnen  Jugendlichen  in  objektive  Kulturwirksam- 
keit zu  verwandeln.  Die  Pubertätszüge  sind  ja  der  psychologischen 
Jugendkunde  wohl  bekannt :  die  Wendung  des  Bhckes,  der  bisher  naiv 
und  empfangend  nach  außen  gerichtet  war,  ins  eigene  Innere,  und  die 
plötzliche  erschütternde  Entdeckung  des  eigenen  Ich  mit  seinen  Abgründen 
und  Höhen,  seinen  Rätseln  und  Forderungen ;  das  Schv/anken  zwischen 
einer  hemmungslosen  Hingabe  an  neu  erwachende  Triebe  und  Leiden- 
schaften und  der  scheuen  Verdrängung  dieser  Strebungen  ins  Unbewußte, 
wo  sie  seltsame  Umformungen  erfahren;  das  Ringen  um  ein  eigenes 
Recht  und  einen  eigenen  Wert,  der  niemals  nur  von  außen  her  —  auch 
nicht  von  den  wohlmeinendsten  Erziehern  —  aufgepfropft  werden  kann, 
sondern  selbst  erarbeitet  werden  muß;  das  dumpfe  Bewußtsein  neuer 
Ziele,  die  aber  immer  wieder  dem  Versuch  der  Aussprache  und  Gestal- 
tung entgleiten;  die  innere  Auflehnung  gegen  die  Gängelung  durch  Auto- 
ritäten und  überlieferte  Normen;  die  unhistorische  und  anti-historische 
Stimmung,  welche  alles  Gewordene,  schon  deshalb,  weil  es  aus  der  Ver- 
gangenheit stammt,  als  zukunftsfeindlich  empfindet;  die  Unstimmigkeit 
zwischen  Wollen  und  Können;  die  Unbedingtheit  und  selige  Unbesonnen- 
heit, welche  für  die  Durchführung  neuer  Ideale  keine  Kompromisse, 
keine  real-pohtische  Vorsicht  kennt,  sondern  geradewegs  in  die  Sonne 
zu  fliegen  sich  vennißt;  die  Feinfühligkeit  für  das  Maskenhafte,  inner- 
lich Unwahre  und  Unlebendige  an  Konventionen  und  gesellschaftlichen 
Sitten;  die  Empfindlichkeit  gegen  die  Unsittlichkeit  im  landläufigen 
politischen,  sozialen,  sexuellen  Treiben;  nüt  alledem  zusammenhängend 
aber  auch  die  maßlose  Ungerechtigkeit  in  der  Beurteilung  von  Menschen 
und  Einrichtungen;  eine  Überheblichkeit  und  Ehrfurchtslosigkeit,  die  oft 
genug  die  Hauptlinien  in  das  Bild  zu  bringen  scheint  und  die  positiven 
Züge  allzusehr  verblassen  läßt. 

All  das  hatte  man  schon  immer  gekannt;  aber  die  meisten  merkten  nicht, 
welch  fundamentaler  Wandel  es  war,  als  aus  den  individuellen  „Jugend- 
Eseleien"  eine  kulturelle  „Jugend-Bewegung"  wurde.  Zum  ersten  Male 
eine  große  Strömung  unseres  öffentlichen  Lebens,  die  nicht  von  den 
reifen  Erwachsenen  gemacht,  sondern  aus  der  Jugend  selbst  hervor- 
gegangen war!  Die  daher  etwas  völlig  Anderes  war  als  alle,  auch  die 
besten  und  idealsten  Bestrebungen  der  älteren  Generation,  von  sich  aus 
durch  Arbeit  an  der  Jugend  dieser  selbst  und  der  Zukunft  des  Volkes 
zu  helfen.  Gewiß  lag  in  diesen  Bestrebungen  der  Älteren  schon  ein 
gewaltiger  Fortschritt  gegen  frühere  Zeiten;  denn  Schul-  und  Erziehungs- 
Reform,  Jugend-Pflege,  -Fürsorge  und  -Gerichtsbarkeit  usw.  waren,  im 
Gegensatz  zu  vergangenen  Epochen,  von  der  bewußten  Absicht  geleitet, 
der  Jugend  und  ihrer  Eigenart  gerecht  zu  werden;  und  sie  haben  ja 
eben  deshalb  auch  die  Jugendkunde  zu  ihrer  Führerin  erkoren.  All 
diese  Arbeit  der  Älteren  wird  auch  in  Zukunft  weiter  gehen  und  sich 
hoffentlich  noch  reich  entwickeln,  auch  wohl  wandeln  in  Rücksicht  auf 


William  Stern 


das  Neue,  das  im  Werden  ist.  Aber  eine  Schranke  war  ihr  doch  durch 
ihr  Wesen  gesetzt:  die  Jugend  war  in  allen  diesen  Maßnahmen  in  erster 
Linie  Gegenstand,  nicht  Subjekt,  nicht  Träger  des  Geschehens  -  Gegen- 
stand der  Erkenntnis  in  der  Jugendkunde,  Gegenstand  der  Behandlung 
in  Jugenderziehung  und  Jugendpflege.  Die  Pädagogen  fühlten  sich 
als  die  Gebenden  und  die  Jugendhchen  als  die  Empfangenden;  auch 
dort,  wo  Entwicklung  der  jugendlichen  Selbsttätigkeit  als  Grundsatz 
aufgestellt  wurde,  war  es  eine  durch  die  Erzieher  angeregte  und  zu- 
gelassene, dosierte  und  geleitete  Selbsttätigkeit;  auch  dort,  wo  die  Frei- 
heit der  Jugend  ausdrücklich  anerkannt  wurde  (z.  B.  bei  der  freieren  Ge- 
staltung des  Unterrichts  auf  den  oberen  Stufen),  war  es  eine  von  oben 
und  außen  her  verliehene  Freiheit, 

Die  Jugendbewegung  aber  wollte  gänzlich  anderes:  Neugestaltung  des 
Jugendlebens  aus  sich  heraus  und  Umgestaltung  der  Volkszukunft  von 
der  Jugend  aus!  Diese  hohe  Zielsetzung  wurde  freihch  durch  manche 
unerfreuliche  Äußerlichkeiten,  persönliche  Unstimmigkeiten,  Unklarheiten, 
Anmaßlichkeiten  so  überdeckt,  daß  die  weitaus  meisten  Erwachsenen 
durch  diese  siebenfache  Haut  nicht  auf  den  Kern  der  Anschauungen 
hindurchzublicken  vermochten ;  daher  war  bei  der  großen  Mehrzahl  der 
berufsmäßigen  Erzieher  entweder  Empörung  über  die  Dreistigkeit  oder 
ein  herablassendes  Belächeln  der  Verstiegenheit  die  einzige  Gefühls- 
reaktion. Man  übersah,  daß  ja  die  erste  Phase  einer  solchen  neuen 
Lebensform  zunächst  in  Maßlosigkeit  geraten  mußte,  daß  sie  vor  allem 
auf  Opposition,  auf  lauten  Protest  angewiesen  war,  da  ihr  die  Macht 
zum  positiven  Tun  ja  eben  fehlte. 

Diese  vorwiegend  negative  Phase  der  Jugendbewegung  findet  nun 
ihr  Ende  durch  die  Umwälzung.  Die  Wahlberechtigung  ruft  die  Jugend 
zu  positiver  Arbeit  auf.  Jetzt  darf  sie  ihre  Forderungen,  ihre  Ideale 
vor  der  großen  Öffentlichkeit  vertreten  und  mit  den  neuen  Mitteln  des 
politischen  Kampfes  zu  verwirklichen  suchen  —  in  voller  Legitimität,  aber 
auch  in  voller  Verantwortlichkeit.  Eben  diese  Verantwortlichkeit 
ist  das  Neue  auch  für  die  Jugend  selbst.  Sie  fordert  für  sich,  gewiß; 
aber  sie  muß  auch  vieles  fordern  von  sich,  in  weit  höherem  Maße, 
in  weit  größerem  Umfang  als  bisher.  In  höherem  Maße :  denn  ihre  Taten 
sind  nicht  mehr  jene  seligen  Höhenflüge  zur  Sonne,  sondern  reale  Mit- 
bestimmungen der  harten  irdischen  Wirklichkeit  .  .  In  weit  größerem 
Umfange:  denn  es  kann  nicht  mehr  genügen,  daß  eine  kleine  Auslese 
Geistiger  und  Begeisterter  die  Jugendbewegung  ausmacht,  sondern  die 
ganze  Jugend  muß  mittun;  mit  dem  neuen  Recht  entsteht  ihre  neue 
Pflicht.  Soll  sich  die  politische  Welt  verjüngen,  dann  muß  sich 
die  junge  Welt  politisieren.  Aber  wohl  gemerkt:  sie  muß  sich  selbst 
politisieren,  nicht  etwa  politisiert  werden.  Die  frühere  Methode,  von 
den  Älteren  her  auf  die  Jugend  zu  wirken,  darf  in  Zukunft  keinesfalls 
das  allein  seligmachende  Verfahren  bleiben. 

Verjüngung  des  politische»  Lebens  kann  nicht  allein  heißen,  daß  sich 
in  den  bestehenden  oder  jetzt  neu  bildenden  großen  Parteien  die  untere 
Altersgrenze  für  die  Mitgliedschaft  bis  in  frühere  Jahrgänge  verschiebt 
und  daß  durch  Bildung  von  Jugendgruppen  die  Jugend  für  die  von  den 
Älteren  aufgestellten  Programme  gewonnen  werde;  es  muß  auch  heißen, 


Verjüngung  5 

daß  das  Eigenleben  und  Streben  der  Jugend  eine  eigene  mitwirkende 
Macht  innerhalb  der  Gesamtgestalt  unseres  Volksdaseins  \\ird,  daß  die 
Jugend  sich  selbst  über  ihre  neuen  Ideale  klar  zu  werden  versucht  und 
mit  ihnen   die  Programme  der  Älteren   durchsäuert  und  durchglutet.  0 

Wohl  ist  die  Jugend  noch  politisch  unerfahren;  sie  wird  daher 
vor  allem  die  Aufgabe  haben,  sich  zu  orientieren,  zu  belehren  und  ein- 
zuarbeiten; und  sie  wird  wegen  ihrer  Unerfahrenheit  so  manches  Lehr- 
geld zahlen  müssen,  das  keinem  Neuling  erspart  bleibt.  Sie  ist  aber 
zugleich  auch  politisch  unbelastet;  und  vielleicht  ist  es  ihr  beschieden, 
wenigstens  darin  auch  im  realen  Leben  ihren  idealen  Sinn  zu  wahren, 
daß  sie  den  politischen  Kampf  entgiftet  und  wieder  ethisiert.  Neue 
edlere  Formen  dieses  Kampfes  sind  von  den  alten  Parteien  kaum  zu 
erhoffen;  dagegen  regen  sich  schon  jetzt  in  den  politischen  Jugend- 
bestrebungen verheißungsvolle  Anfänge;  die  Jugend  verschiedenster 
Richtungen  sucht  miteinander  Fühlung  zu  gewinnen,  sich  in  großen, 
jenseits  der  Parteien  stehenden  Versammlungen  auszusprechen  und  sich 
gegenseitig  das  Vertrauen  zu  bekunden,  daß  jeder  von  seiner  Stelle  aus 
das  Beste  für  die  Allgemeinheit  erstrebt.  Wenn  es  doch  der  Jugend  ver- 
gönnt wäre,  zu  beweisen,  daß  das  Bismarckische  Wort  „Politik  verdirbt 
den  Charakter"  nur  für  die  Politik  des  alten  Regimes,  nicht  aber  für 
jede  Politik  überhaupt  gilt!  Und  noch  ein  anderes  Wort  der  alten  Zeit 
muß  übe/wunden  werden :  „Wer  die  Jugend  hat,  hat  die  Zukunft".  Es 
war  ein  frevlerisches  Wort,  sofern  es  bedeutete,  daß  die  Jugend  als 
Mittel  zur  Verewigung  gegenwärtiger  Machtverhältnisse  benutzt  werden 
sollte.  Heute  wollen  wir  den  Satz  umkehren:  „Wer  die  Zukunft  will, 
hat  die  Jugend!"  Es  ist  der  Ansporn  für  die  Älteren,  ihr  Tun  und 
Streben  nicht  nur  auf  die  Sicherung  des  Gegenwärtigen,  sondern  auf 
die  Formung  des  Zukünftigen  zu  richten  und  hierbei  für  die  Stimmen 
derjenigen  hellhöriger  zu  werden,  die  in  dieser  Zukunft  die  Träger  der 
Volksgemeinschaft  sein  werden. 

Diese  Verjüngung  wird  selbstverständlich  nicht  ohne  schwere  Er- 
schütterungen vor  sich  gehen,  da  sowohl  der  Inhalt  unseres  Kultur- 
bestandes wie  das  Kraft getriebe  des  Kulturgeschehens  plötzlich  grund- 
stürzend verändert  werden. 

Nicht  nur  vieles  von  dem,  was  uns  Älteren  aus  Gewöhnung  und  Pietät 
subjektiv  wertvoll  geworden  war,  sondern  auch  so  manche  objektiven 
Dauerwerte,  die  in  der  Vergangenheit  unseres  Geisteslebens  historisch 
verankert  sind  und  berufen  wären,  uns  auch  für  die  Zukunft  etwas  zu 
bedeuten  —  sie  sind  in  Gefahr,  bei  diesem  Neuerungsstreben  auf  den 
Scherbenhaufen  zu  geraten.  Dem  Einzelnen  von  uns  muß  es  je  nach  Tem- 
perament und  Neigung  überlassen  bleiben,  ob  er  sich  vor  allem  der 
neuen  Entfaltungsmöglichkeiten  zu  freuen  vermag  oder  den  bitter  emp- 
fundenen Verlusten  nachtrauert,  ob  er  in  erster  Linie  mitgestalten  will 


')  Verrnntlich  werden  sich  auch  hier  die  beiden  psychologischen  Typen  der  Jugendlichen 
scheiden,  die  auch  sonst  bemerkbar  sind:  der  Typ  des  vorwiegend  empfänglichen  und  anlehnungs- 
bedürftigen, und  der  des  selbständigkeitsdurstigen  imd  spontan  handelnden  Jugendlichen.  Im 
Unpolitischen  wurde  jener  vorwiegend  von  der  Jugendpflege,  dieser  von  der  Jugendbewegung 
erfaßt.  Im  Politischen  wird  jener  zu  den  Jugendgruppen  bestehender  Parteien,  dieser  zur  Bil- 
dung eigener  Jugendbünde  neigen. 


6  William  Stern 


an  dem,  was  werden  will,  oder  sich  an  der  Rettung  des  kostbaren  Geistes- 
gutes beteiligen  will,  welches  verdient  und  verlangt,  auch  in  Zukunft 
bewahrt  zu  werden.  Beide  Verhaltungsweisen  sind  gleich  berechtigt 
und  notwendig. 

Fast  noch  mehr  ist  die  veränderte  Dynamik  des  Geschehens  geeignet, 
das  Gleichgewicht  des  Daseins  zu  erschüttern.  Jenes  überstürmische 
Tempo  freihch,  in  welchem  jetzt  die  größten  Wandlungen  spielend  voll- 
zogen werden,  das  wirre  Hin  und  Her  von  Maßnahmen  und  Gegenmaß- 
nahmen, Plänen  und  Experimenten,  wird  ja  hoffentlich  nur  ein  Merkmal 
des  Übergangs  sein.  Mit  steigendem  Verantwortlichkeitsgefühl  (das  sich 
ja  nicht  von  heut  auf  morgen  entwickeln  kann)  wird  auch  die  Jugend 
ihr  wild  darauf  los  gehendes  Reformieren  und  Revolutionieren  etwas 
zügeln.  Aber  wir  dürfen  nicht  mehr  erwarten,  daß  der  gemächliche  — 
bald  bedächtige,  bald  geradezu  gehemmte  —  Fortschritt  früherer  Zeiten 
wiederkehren  wird.  Unser  öffentliches  Leben  wird  von  nun  an  durch 
eine  Beschleunigung  des  psychischen  Tempos  und  eine  Steigerung  des 
Temperaments  gekennzeichnet  sein ;  der  größere  Anteil  der  Jugendlich- 
keit wird  sich  in  erhöhtem  Radikalismus  und  abnehmendem  Verständnis 
für  historisch  Gewordenes,  in  stärkerem  Einfluß  stimmungsmäßiger 
Faktoren  und  in  geringerer  Planmäßigkeit  bekunden.  So  haben  auch 
diese  Kraftverschiebungen  ihr  Gutes  und  ihr  Böses;  es  ist  wünschens- 
wert, daß  man  diese  veränderte  Dynamik  bei  allem  in  Rechnung  stellt, 
was  der  Bestimmung  unserer  Zukunft  gilt. 

Welche  Rückwirkung  übt  nun  diese  allgemeine  Verjüngung  des  Lebens 
auf  das  eigentlich  pädagogische  Gebiet  aus?  Von  der  Bedeutung 
der  nun  heimkehrenden  jungen  Lehrer  sprachen  wir  schon;  weit  wich- 
tiger aber  ist  die  zu  erwartende  innere  Umgestaltung  der  Schülerschaft 
selbst. 

Es  geht  nicht  an,  daß  vom  20.  Jahre  an  der  junge  Mensch  plötzlich 
zum  vollberechtigten  Staatsbürger  wird,  daß  aber  in  den  Jahren  vorher 
alles  beim  Alten  bleibt.  Die  neuen  Rechte,  Pflichten  und  Forderungen 
verlangen  eine  gründliche  innere  Vorbereitung.  Schüler  und  Schülerinnen 
können  nicht  bis  zum  19.  Jahre  bloße  Erziehungs-  und  Unterrichtsobjekte 
sein,  um  dann  im  nächsten  Jahre  plötzlich  Selbstbestimmungs-  und  Selbst- 
verantwortungssubjekte zu  werden.  Wir  haben  es  schon  früher  an 
jungen  Studenten  erlebt,  wie  schädhch  es  sein  konnte,  wenn  sie  aus 
dem  Zwangskurs  der  gymnasialen  Arbeit  unvermittelt  in  die  Autonomie 
der  akademischen  Freiheit  versetzt  wurden;  ähnlich  war  es  bei  vielen 
jungen  Lehrern,  die  aus  der  klösterhchen  Zucht  des  Seminars  direkt 
in  die  selbständige  Verwaltung  einer  Dorfschule  kamen.  Die  entsprechende 
Gefahr  gilt  aber  in  weit  höherem  Maße  für  die  allgemeinen  staatsbürger- 
lichen Aufgaben.  Soll  das  engere  Gebiet  der  Schule  eine  wirkliche  Vor- 
bereitungsanstalt für  das  Leben,  und  zwar  auch  für  das  politische  Leben 
werden,  so  ist  selbst  mit  dem  besten  staatsbürgerlichen  Unterricht  wenig 
getan;  mit  dem  Prinzip  der  Selbsttätigkeit  muß  hier  mehr  als  auf 
irgendeinem  Gebiet  Ernst  gemacht  werden.  Darum  muß  die  Selbst- 
verwaltung der  Schüler  kommen,  nicht  als  spielerische  Atrappe,  als 
welche  sie  in  dem  autokratischen  Gefüge  der  bisherigen  Schule  hier  und 


Verjüngung  7 

da  bereits  ihr  Plätzchen  im  Winkel  hatte,  sondern  als  mitgestaltender 
Faktor  des  ganzen  Schullebens. 

Aber  nicht  nur  als  Vorschule  zur  Politik  muß  die  Selbstverwaltung 
kommen;  ja,  ihre  eigentliche  Begründung  liegt  in  der  Wandlungsbedürftig- 
keit des  Schullebens  und  in  den  inneren  Bedürfnissen  der  Schuljugend 
selbst.    Es  muß  endhch  einmal  mit  der  eingewurzelten  Auffassung  ge- 
brochen werden,  als  ob  Lehrerschaft  und  Schülerschaft  als  zwei  kompakte 
Massen  von  ganz  verschiedenartiger,  ja  gegensätzlicher  Struktur  sich 
gegenüberstehen,  von  denen  die  eine  zu  befehlen  und  zu  verbieten,  die 
andere  zu  folgen  und  zu  unterlassen  hat,  von  denen  die  eine  aufgibt, 
die  andere  ausführt,  von  denen  die  eine  der  andern  die  von  ihr  für  gut 
befundenen  Kulturwerte  und  Ideale,    Stoffe  und  Methoden  aufdrängt. 
Gewiß  hatte  diese  Auffassung,  ganz  ähnlich  wie  beim  Militarismus,  auch 
ihre  großen  Vorzüge;  und  sie  hat  um  die  Erziehung  zum  Pflichtbewußt- 
sein und  zum  Fleiß,  zur  Straffheit  der  Selbstzucht,  zum  Besitz  mannig- 
facher Kenntnisse,  zur  Einordnung  in  eine  Organisation  große  Verdienste. 
Aber  sie  kam  an  das  lebendige  Selbst  der  Schüler  nicht  heran,  und 
zw^ar  um  so  weniger,  je  älteren  Jahrgängen  die  Schüler  angehörten. 
Die  Altersstufen  bis  zum  12.,  13.  Jahre  haben  weniger  darunter  gelitten; 
denn  die  Kindheit  empfindet  es  als  natürlich,   daß   die  Älteren  ihr  als 
Richtung-  und  Inhaltgebende  gegenüberstehen;  sie  lehnt  sich  wohl  oft 
genug  gegen  einzelne  Handlungen  und  Urteile  des  Lehrers   auf,  weiß 
aber  noch   nichts  von  der  prinzipiellen  Oppositionsstellung  gegen  die 
schulmeistern  che  Bevormundimg.   Ganz  anders  bei  den  älteren  Schülern. 
Ich  glaube  nicht  zu  übertreiben,  wenn  ich  behaupte,  daß  80 ",o  unserer 
höheren   Schüler    in    den    schönsten    Jahren    ihrer    Jugend    von    aus- 
gesprochenem Schulüberdruß  erfüllt  waren,  daß  sie  lediglich  um  der  zu 
erlangenden  Berechtigung  willen  gleichgültige  Stoffe  nach  freudlosen 
Methoden  über  sich  ergehen  ließen  und  daß  sie  einen  ständigen  Geheim- 
krieg gegen  diejenigen   führten,   die   ihre  älteren  Freunde  und  Führer 
hätten  sein  sollen.    Dann  wieder  hatten  sich  in  vielen  Internaten   wie 
Waisenhäusern.Fürsorgeanstaltenusw.unerfreulicheZustände  entwickelt: 
die  Nummer,   die  Maschinerie,   die  schematische  Verordnung  regierte; 
Handlungen  und  Unterlassungen  der  Zöglinge  —  auch  solche,  die  sich 
auf  das  persönliche  Innenleben  (Religion!)  erstreckten  —  waren  bis  ins 
Einzelnste  vorgeschrieben;  die  Gelegenheit  zur  freien  Betätigung  indivi- 
dueller Interessen,  zur  Einsamkeit,  zum  Gedankenaustausch  mit  Gleich- 
gesinnten konnte  oft  genug  nur  auf  Schleichwegen  gesucht   werden. 
Jene  —  die  höheren  Schulen  —  brauchen  etwas  vom  Geiste  der  „Freien 
Schulgememde"  nach  dem  Beispiel  von  Wickersdorf;   diese  —  die  dis- 
ziplinaren Anstalten  —  etwas   vom  Geist  der  amerikanischen  Junior- 
RepubUk,  die  eine  Fürsorgeanstalt  mit  sehr  weitgehender  Selbstregierung 
der  Insassen  ist.    I^türlich  soll  die  obige  Schilderung  nicht  allgemein- 
gültig sein.   Ich  weiß  w^ohl,  daß  es  eine  Reihe  von  Schul-  und  Erziehungs- 
anstalten gibt,  in  die  durch  neuzeithch  gerichtete,  warmherzige  Pädagogen 
ein  anderer  Geist  und  durch  freiere  Organisation  unter  Beteihgung  der 
Zöglinge  eine  feinfühligere  Berücksichtigung  der  Jugend  eingeführt  worden 
ist.    Aber  diese  Vorzüge  dürfen  eben  in  Zukunft  nicht  mehr  vereinzelte, 
dem  Zufall  überlassene  Erscheinungen  bleiben;  sie  sollen  Allgemeingut 


8  William  Stern 

unseres  Schullebens  werden,  und  dies  kann  nur  geschehen,  wenn  die 
oben  geforderte  durchgängige  Umgestaltung  der  Schulgemeinschaft,  zu- 
gleich aber  auch  der  durchgreifende  Gesinnungswechsel  bei  Lehrerschaft 
und  Schülerschaft  zur  Wirklichkeit  wird.  Doch  auch  andere  Anstalten: 
die  Volksschulen  (zum  mindesten  in  ihren  Oberklassen),  die  Fachschulen, 
Fortbildungsschulen,  Lehrerseminare  müssen  von  diesem  Streben  nach 
Verjüngung  ergriffen  werden. 
Die  hier  aufzustellenden  Forderungen  sind  auf  zwei  Formeln  zu  bringen : 

1.  Um  Lehrerschaft  und  Schülerschaft  muß  sich  ein  wirkliches  Band  der 
Gemeinsamkeit  schlingen,  der  gemeinsamen  Interessen  am  Schulleben 
und  an  den  geistigen  Dingen  überhaupt,  des  gemeinsamen  Suchens  nach 
dem  besten  Weg,  auf  dem  jugendüches  Streben  und  Können  entwickelt 
zu  werden  vermag. 

2.  Die  Schülerschaft  muß  von  sich  aus  aktiv  teilnehmen  können 
an  der  Gestaltung  der  Schultätigkeit. 

Jene  Forderung  führt  zur  Idee  der  „ Schulgemeinde ",  diese  zu  der  des 
„Schülerrates",  der  „Schülervertretung",  des  „Schülerausschusses",  oder 
wie  man  es  nennen  mag.  Bisher  ist  in  der  Öffentlichkeit  und  wohl 
auch  bei  den  Schülern  selbst  zu  einseitig  von  der  zweiten  Idee  die  Rede, 
während  vor  allem  die  erste  anzustreben  ist.  Die  unglückliche  Anwen- 
dung des  Modeworts  „Rat"  auf  die  Schüler  führt  zu  dem  Gedanken, 
daß  es  sich  vor  allem  um  eine  Interessen- Vertretung  und  Kampfgemein- 
schaft der  Schülerschaft  handle  —  als  solle  jener  geheime  Guerilla-Krieg 
der  Schüler  gegen  die  Lehrer,  von  dem  oben  die  Rede  war,  nun  in  ein 
offenes  Sichmessen  anerkannter  und  gleichberechtigter  Parteien  verwandelt 
werden.  Das  wäre  freilich  für  keinen  Teil  eine  erfreuliche  Entwicklung; 
würde  durch  sie  doch  die  zu  überwindende  Anschauung,  als  ob  die 
Lehrer  die  gebornen  Feinde  der  Jugend  wären,  geradezu  legalisiert  und 
verewigt.  Ganz  anders,  wenn  man  die  Idee  der  Schulgemeinde  in 
den  Vordergrund  stellt,  die  innere  Zusammengehörigkeit,  den  freien  Ge- 
dankenaustausch, die  gemeinsame  Interessengestaltung  aller  an  der 
Schule  beteiligten  Menschen.  Im  Rahmen  dieser  Schulgemeinde  wird 
dann  natürlich  auch  die  Schülerschaft  eine  selbständige  Tätigkeit  aus- 
zuüben haben,  ihre  Vertretung  wählen,  ihre  Wünsche  formulieren,  eine 
offene  Aussprache  über  gemeinsame  Schulangelegenheiten  herbeiführen, 
die  Selbstverwaltung  vieler  einzelner  Veranstaltungen  in  die  Hand  nehmen; 
aber  dies  dürfen  doch  immer  nur  Teilaktionen  sein  in  dem  umfassenden 
Organismus  des  Schulstaates,  zu  dem  alle  Beteiligten  gehören. 

Die  Schaffung  der  Schulgemeinde  und  insbesondere  ihre  Durchdringung 
mit  wirklicher  Gemeinschaftsgesinnung  wird  natürlich  noch  auf  manche 
Schwierigkeiten  stoßen.  Aber  Schwierigkeiten  sind  da,  um  überwunden 
zu  werden ;  man  muß  ihnen  nur  klar  ins  Auge  sehen.  Da  ist  zunächst 
hervorzuheben,  daß  das  Vorbild  der  freien  Schulgemeinde  Wickersdorf 
nicht  einfach  auf  unser  gesamtes  Schuhvesen  übertragen  werden  kann. 
Denn  jene  Anstalt  ist  ein  Internat,  in  welchem  ein  ununterbrochenes 
und  durch  keine  anderen  Einflüsse  gekreuztes  Zusammen-  und  Ineinander- 
leben von  Lehrern  und  Schülern  möglich  ist.  In  der  gewöhnlichen 
Schule  aber  bringt  der  Schüler  nur  einen  Teil  seines  Tages  zu;  mit 
einem  andern,  großen  und  wichtigen  Teil  seines  Ich  gehört  er  anderen 


Verjüngung  9 

—  und  zwar  sehr  verschiedenen  —  Lebenskreisen  an;  dasselbe  gilt  von 
jedem  Lehrer.  Deshalb  wird  hier  nicht  jene  Restlosigkeit  des  Gemein- 
schaftsgeistes zu  erwarten  sein,  und  man  muß  sich  mit  Bescheidenerem 
zufrieden  geben  -  was  immerhin  noch  sehr  viel  mehr  sein  kann, 
als  was  heute  in  der  Schule  an  innerer  Zusammengehörigkeit  der  Be- 
teiligten zu  finden  ist.  Ja,  man  wird  jene  in  Internaten  möghche  Rest- 
losigkeit des  Lehrer-Schüler-Gemeirischaftsgeistes  gar  nicht  wünschen 
w^ollen;  denn  sie  setzt  die  Ausschaltung  der  Familie  voraus.  Und  es 
ist  hoffenthch  nicht  nur  ein  Zeichen  bereits  eingetretener  Überalterung, 
wenn  man  in  Familie  und  Familienleben  Werte  sieht,  die  erhalten,  ja 
wiederum  gesteigert  und  ebenfalls  einem  Verjüngungsprozeß  unter- 
zogen werden  sollten.  Somit  wird  die  künftige  Schulgemeinde  einer- 
seits den  Schülern  genug  Freiheit  lassen  müssen,  um  ihre  außerschuli- 
schen (Familien-  und  anderen)  Interessen  zu  pflegen;  und  sie  wird 
andererseits  die  Eltern  nicht  bei  Seite  stehen  lassen  dürfen,  sondern  als 
^größere  Schulgemeinde*  auch  ihnen  Sitz  und  Stimme,  das  Recht  des 
Einblicks  und  der  Mitwirkung  bei  gewissen  Schulangelegenheiten  von  all- 
gemeiner Wichtigkeit  gewähren. 

Zunächst   müssen    natürlich    organisatorische   Maßnahmen   getroffen 
werden,  um  dieser  Neubelebung  des  Schulorganismus  die  Wege  zu  ebnen; 
wir  dürfen  aber  nicht  vergessen,  daß  Schulgemeinde  und  Schülerver- 
ti'etung   an  sich  rein  äußerliche  Einrichtungen  sind,   die  alles  oder 
gar  nichts  bedeuten  können,  je  nach  dem  Geist  und  der  Gesinnung,  die 
darin  zum  Ausdruck  kommen.   Die  Eltern  müssen  lernen,  daß  die  Schule 
für  sie  nicht  länger  ein  mit  chinesischen  Mauern  umschlossenes  Sperr- 
gebiet sein   darf,   dem  sie  gleichgültig  oder  kritisch  gegenüberstehen, 
sondern  daß  diese  Schule  ihrer  Kinder  Jugendbegleitung  und  Lebens- 
vorbereitung unddamitihrer  (der  Eltern)  ureigenste  Herzenssache  sein  soll. 
Die  Schülerschaft  soll  Heimatsgefühl  in  der  Schule  gewinnen,  soll  zu 
dem  Bevvußtsein  kommen,  daß  dort  die  jugendlichen  Ki-äfte  nicht  gehemmt 
und  mißachtet,  sondern  belebt  und  gefördert  werden,  soll  in  den  Lehrern 
gereifte  und   erfahrene  Freunde   sehen,   die  nach  bestem  Wollen  und 
Können  an  dem  großen  gemeinschaftlichen  Werke  führend  mitarbeiten. 
Besonders  hohe  und  fieue  Anforderungen  stellt  die  verjüngte  Schul- 
gesinnung an  die  Lehrerschaft.    Viele  werden  meinen,  der  Lehrer  ver- 
here  nun  seinen  ganzen  Einfluß,  denn  er  habe  ja  in  der  Schule  nichts  mehr 
zu  sagen.  Gewiß,  er  hat  weniger  zu  „sagen''  im  Sinne  von  autokratischem 
Anordnen.    Aber  er  wird  viel,  ja  weit  mehr  als  früher  zu  „sagen"  haben 
im  Sinne  von  Beraten,  Anregen,  suggestivem  Beeinflussen  und  freund- 
schaftlichem Verkehren.    Die  Pädagogik  soll  nicht  etwa  aufhören;  aber 
sie  wird   aus  der  groben  Form  der  Stoff-  und  Vorschriftübermittlung 
mehr  und  mehr  in  die  feinere  intimere  Form  der  persönlichen  Einwirloing 
überführt,  die  der  Pädagoge  durch  sein  reicheres  Wissen  und  Können, 
sein  reiferes  (aber  nicht  diktatorisches)  Urteil,   seine  Einfühlungsfähig- 
keit in  die  Jugendseele,  seine  eindrucksvolle  und  liebenswerte  Wesen- 
heit ausübt.  Freilich :  eindrucksvolle  und  liebenswerte,  erziehungsfreudige 
und  innerlich  jugendfrische  Persönlichkeit  muß  der  Lehrer  sein,  um 
so  zu  wirken;   und   so  .wird  hier  das  Problem   der  erzieherischen 
Berufseignung  brennend.     Hoffentlich   wird    die    neue   Schule    auf 


10  William  Stern 


viele  zum  Lehrberuf  innerlich  „berufene"  Menschen  die  Anziehungs- 
kraft ausüben,  die  sie  früher  nicht  besaß,  und  alle  fern  halten,  die  keine 
Erziehungsmission  und  keinen  Herzenszug  zur  Jugend  in  sich  fühlen  — 
mögen  sie  auch  noch  so  gelehrt  oder  zum  drillmäßigen  Unterricht  be- 
fähigt sein. 

Zu  allen  bisher  genannten  Formen  der  Verjüngung  tritt  nun  noch 
eine  ganz  andersartige:  Die  soziale  Schichtenverjüngung.  Die 
führenden  Schichten  wurden  bisher  in  weitem  Ausmaß  gebildet  durch 
„alte"  oder  doch  „ältere"  Familien.  Das  gilt  zunächst  im  eigentlichen 
Sinne  vom  Adel,  dem  bürgerlichen  Patriziat,  dem  alteingesessenen 
Bauernstande.  War  auch  die  Blütezeit  dieser  genealogischen  Alters- 
wirkung seit  langem  vorüber,  so  waren  doch  genug  bedeutende  Reste 
übrig  geblieben ;  es  sei  an  das  bekannte  Überwiegen  des  Adels  in  Di- 
plomatie, höherer  Verwaltung  und  höherem  Offizierskorps  erinnert. 
Daneben  hatte  sich  im  letzten  Jahrhundert  die  soziale  Vorherrschaft 
derjenigen  Familien  mehr  und  mehr  durchgesetzt,  die  ein  gewisses 
kulturelles  Alter  besaßen.  Dies  brauchte  garnicht  sehr  hoch  zu  sein; 
entscheidend  war,  ob  Kulturniveau,  Bildungsstand  und  Finanzlage  es  der 
älteren  Generation  nahe  legte  und  ermöglichte,  ihren  Kindern  die  höhere 
Schulbildung  zu  gewähren,  die  vermittels  des  Berechtigungswesens  den 
Weg  zu  allen  führenden  Berufen  und  Stellungen  öffnete.  Solche  „ge- 
hobenen" Familien  stellten  schon  eine  Lockerung  der  rein  familiären 
Altersherrschaft  dar;  denn  sie  ergänzten  sich  fortwährend  durch  Auf- 
stieg Tüchtiger  aus  den  breiten  Schichten.  Nur  ging  dieser  Aufstieg 
langsam  und  ungeregelt  vor  sich;  Zufall  und  Gunstwesen,  Freistellen 
und  Stipendien  gaben  den  Ausschlag,  welche  Kinder  der  einfachen  Kreise 
in  die  höheren  Schulen  und  damit  in  die  oberen  Schichten  gerieten. 

Die  Umwälzung  will  nun  grundsätzlich  und  endgültig  die  Bevorzugung 
der  älteren  Familien  beseitigen.  Die  Einheitsschule  kommt  und  mit 
ihr  die  allgemeine  Zugänglichkeit  aller  Berufe  für  alle  Geeigneten. 
„Das  rechte  Kind  in  die  rechte  Schule,  und  der  rechte  Mann  an  die 
rechte  Stelle"  —  der  „Rechte"  bedeutet  aber  hier  nicht  der  durch  Ahnen- 
kette, Geldbeutel  oder  Bildungshöhe  Bevorzugte,»  sondern  der  durch  seine 
individuelle  Tüchtigkeit  und  Leistungsmöglichkeit  Berufene.  Das  führt 
zum  ungehinderten  Eintritt  „junger"  d.  h.  bisher  kulturärmerer  Familien 
in  diejenigen  Berufsgruppen,  die  an  der  Führung  der  Volks-  und  Staats- 
geschicke vorwiegend  beteiligt  sind. 

Diese  soziale  Verjüngungs Wirkung  wird  sehr  bedeutend  sein.  Die 
neue  Schulorganisation  wird  als  geistige  Schatzhebung  wirken ;  sie  wird 
Anlagen  pflegen  und  ausbilden,  die  früher  unbemerkt  geblieben  oder 
jedenfalls  nicht  zur  völligen  Entfaltung  gebracht  worden  waren ;  frische, 
unverbrauchte  Energien  werden  neu  dem  Volkskörper  und  Volksgeist' 
zugeführt  werden.  Und  vor  allem:  geistige  Fähigkeiten,  die  sich  bisher 
wegen  der  ihnen  gesetzten  Hemmungen  tiur  verneinend  und  auflösend 
betätigen  konnten,  werden  nun  der  positiven  Mitarbeit  an  Staat  und 
Gesellschaft  gewonnen.  Natürlich  wird  auch  dieser  soziale  Verschie- 
bungsprozeß die  uns  bekannten  Merkmale  der  „JugendHchkeit"  auf- 
weisen:   in  die  positive  Ausgestaltung  des  Lebens  wird  ein  gewisser 


Verjüngung  11 

Radikalismus  einziehen;  so  manclie  feineren,  unwägbaren  Kulturwerte, 
die  dem  geschichtlich  Gewordenen  und  organisch  Gewachsenen  an- 
hangen, werden  bei  den  aus  kulturärmeren  Schichten  stammenden 
führenden  Persönlichkeiten  nicht  auf  das  Verständnis  und  die  Einfüh- 
lung rechnen  können,  die  man  ihnen  wünschen  möchte. 

Was  aber  wird  aus  den  kulturälteren  Schichten?  Soll  ihr  Einfluß 
künftig  ganz  ausgeschaltet  werden?  Keineswegs.  Wie  im  Indivi- 
duellen, so  bedeutet  auch  im  Sozialen  die  Verjüngung  nicht 
einfache  Ausraerzung  der  Alterseinflüsse,  sondern  deren 
Umgestaltung. 

Das  genealogische  Alter  an  sich  freilich,  also  der  bloße  Umstand,  daß 
eine  Familie  bisher  schon  zu  den  oberen  Schichten  gehört  hatte,  gibt 
keine  Anrechte  mehr  auf  besondere  Beschulung  und  Berufszulassung. 
Für  die  öffentliche  Schulpolitik  dürfen  nur  noch  die  individuellen  Fähig- 
keiten des  Geistes  und  Charakters,  und  die,  auf  Grund  dieser  Fähig- 
keiten zu  erwartende,  künftige  Tüchtigkeit  zu  wertvollen  Leistungen 
bestimmend  sein.  Alte  Familienkultur  kann  hieran  Anteil  haben,  sofern 
sie  sich  als  Fähigkeit  und  Tüchtigkeit  in  einzelnen  Nachkommen  be- 
kundet. In  doppelter  Weise  kann  die  Zugehörigkeit  zu  einer  solchen 
Familie  die  Befähigung  des  Kindes  beeinflussen:  von  innen  her  durch 
Vererbung  wertvoller  geistiger  Eigenschaften  —  eben  jener  Eigen- 
schaften, die  früher  der  Familie  den  Aufstieg  zur  sozialen  Höhe  und 
das  Verbleiben  auf  ihr  ermöglicht  hatten  — ;  von  außen  her  durch  die 
besondere  geistige  Atmosphäre  des  Elternhauses,  die  das  Kind  vom 
ersten  Lebensaugenblick  an  umgibt.  Sind  diese  Bedingungen  im  Kinde 
lebendig,  so  wird  es  den  Wettbewerb  mit  den  begabten  Kindern  aus 
der  Masse  des  Volkes  gut  bestehen  und  mit  diesen  hinaufsteigen  zu 
den  Höhen  der  Bildung  und  der  Berufsstellung ;  und  ich  zweifle  keinen 
Augenblick  daran,  daß  bei  dieser  rechtmäßigen,  durch  und  durch  demo- 
kratischen Konkurrenz  der  verhältnismäßige  Anteil  der  Kinder  aus  bis- 
her kulturtragenden  Familien  ein  beträchtlicher  bleiben  wird.  Es  sind 
dann  eben  diejenigen  „alten"  Familien,  die  noch  ,jugendhch"  genug 
sind,  um  die  Altersschätze  geistigen  Erbgutes  in  junge  frische  Gegen- 
wartskraft umzusetzen.  Und  es  wird  ein  Glück  sein  für  den  Kultur- 
fortschritt, daß  dieses  lebenskräftige  Geisteserbgut,  welches  die  Kon- 
tinuität mit  der  Vergangenheit  wahrt,  das  unhistorische  Neuerungs- 
streben der  neu  in  die  Kultur  Eintretenden  durchsetzt  und  abmildert. 
Ja  noch  mehr;  auch  bereichert  wird  der  Kulturfortschritt  durch  dieses 
Nebeneinanderwirken  von  fähigen  Individuen  verschiedener  Schichten ; 
denn  die  Tüchtigkeit  der  Kinder  älterer  Famihen  wird  zum  Teil  auch 
ein  qualitativ  anderes  Gepräge  tragen  als  die  der  neu  Emporgestiegenen; 
Züge,  die  diesen  fehlen,  werden  dort  mehr  ausgeprägt  sein  und  um- 
gekehrt. Die  künftige  Auslese  der  Tüchtigen  wird  eine  Beweglichkeit, 
Feinfühligkeit  und  Vielseitigkeit  besitzen  müssen,  die  alle  Arten  der 
Fähigkeit  zu  ihrem  Rechte  kommen  läßt,  nicht  etwa  nur  die,  die  dieser 
oder  jener  sozialen  Schicht  besonders  eigen  sind.  Hier  wird  die  Psycho- 
logie der  Begabungsauslese  zugleich  zu  einer  sozialpolitischen  Ange- 
legenheit von  höchster  Wichtigkeit  werden. 

Jene  alten  Familien  freilich,  bei  denen  das  Alter  sich  nicht  mehr  in 


12  William  Stern,  Verjüngung 

gegenwärtige  Tüchtigkeit  umsetzt,  gehen  des  Anspruchs  verlustig,  eine 
besondere  Rolle  im  öffentlichen  Leben  zu  spielen;  sie  sind  überaltert 
und  müssen  der  genealogischen  Verjüngung  Platz  machen. 

Politik,  Schulwesen  und  Volksschichtung  sind  die  Gebiete,  auf 
denen  das  Prinzip  der  Verjüngung  schon  jetzt  seine  Wirksamkeit  zu 
entfalten  beginnt;  sie  sind  aber  nicht  die  einzigen  Lebenssphären,  die 
ihm  unterliegen.  Vielmehr  wird  die  Verjüngung  mit  der  Notwendigkeit 
eines  historischen  Grundgesetzes  alle  Daseinsformen  unseres  Volkes 
durchsetzen;  und  es  wäre  die  Aufgabe  nicht  eines  einzigen  Aufsatzes, 
sondern  einer  ganzen  Reihe  von  Betrachtungen,  dieser  Allseitigkeit  des 
Prinzips  gerecht  zu  werden.  Um  nur  noch  einige  besonders  wichtige 
Teilgebiete  herauszugreifen,  so  seien  genannt:  die  Verjüngung  des 
inneren  Familienlebens,  die  Verjüngung  des  Hochschulwesens 
und  —  was  wir  besonders  nötig  haben  —  eine  Verjüngung  und  geistige 
Wiedergeburt  des  nationalen  Gedankens! 

Und  so  darf  wohl  der  eingangs  aufgestellte  Satz  auf  Zustimmung 
rechnen,  daß  die  Verjüngung  für  die  kommende  neue  Lebensphase 
unseres  Volkes  von  gleicher  Bedeutung  ist,  wie  die  Demokratisierung 
und  Sozialisierung.  Sie  bildet  aber  zugleich  einen  besonders  starken 
Hoffnungsanker  in  der  Not  der  Zeit.  Bleibt  das  Auge  auf  die  Gegen- 
wart und  unmittelbare  Zukunft  geheftet,  so  blickt  es  in  ein  trostloses 
Grau;  und  man  könnte  verzagen  und  verzweifeln  —  wenn  nicht  zu- 
gleich das  Streben  nach  Verjüngung  uns  in  eine  neue  lichtere  Zukunft 
wiese.  Vertrauen  wir  dem  Instinkt  der  Jugend,  die  gerade  jetzt,  gerade 
in  der  furchtbarsten  Zeit  der  deutschen  Geschichte,  mit  neuem  Mut 
und  neuen  Idealen  einen  neuen  Weg  beginnt;  hoffen  wir  auf  sie,  und 
hoffen  wir  mit  ihr! 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter. 

Vorgenommen  in  einem  bayrischen  Lehrerseminar. 
Von  Michael  Kesselring. 

L  Über  die  Methode. 

Die  bisherige  Ausfragemethode  bei  der  Erforschung  von  Idealen  der 
Schüler  wurde  auch  in  dieser  Untersuchung  verwendet.  In  den  ersten  Unter- 
suchungen wurde  die  Frage  vorgelegt:  „Wem  möchtest  du  ähnlich  werden? 
Warum?"  Später  zeigte  sich  eine  erw^eiterte  Form,  indem  die  Schüler  kurz 
auf  die  möglichen  Quellen  ihrer  Ideale  hingewiesen  wurden  und  das  kurze  kalte 
Warum?  eine  sprachliche  Milderung  erfuhr.  So  fragte  Goddardl):  „Welcher 
Person  unter  denen,  die  du  gesehen  oder  von  denen  du  etwas  gehört  oder 
gelesen  hast,  möchtest  du  am  liebsten  ähnlich  sein?  —  Warum?"  Diese 
Formulierung    legte    auch    Richter  2)    seiner    Befragung    zugiunde,    während 


»)  Z.  f.  exper.  Pädagogik,  Bd.  V,  S.  156«.     Goddard,  Ideale  der  Kinder. 

*)  Z.  f.  pädag.  Psychologie,  Bd.  XIII,  S.  252  ff.     Richter,  Ideale  von  Volksschulkindem. 


Michael  Kesselring,  Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter     13 


Reymert  I*)  mit  geringer  Umstellung  dieselbe  Aufgabe  stellte  und  damit 
auch  für  Elias  -)  die  Frage  festlegte.  Für  die  norwegischen  Lehrerschulen 
wählte  Reymert  11 3)  die  kürzere  Aufgabe:  „Welcher  Person  möchtest  du  am 
liebsten  ähnUch  sein  und  warum?"  Meist  wurde  die  Frage  an  die  Tafel 
geschrieben,  welche  Maßnahme  sich  auch  dringend  empfiehlt,  wenn  verschie- 
dene Experimentatoren  die  Befragung  ausführen. 

In  der  vorliegenden  Untersuchung  nahm  nur  ein  Experimentator  an  bay- 
rischen Seminaristen  (Rheinpfalz)  die  Umfrage  vor,  entschloß  sich  für  die 
mündliche  Vorgabe  der  Frage  und  griff  zu  folgender  Form :  „Sie  haben  wohl 
schon  viele  Personen  gesehen  und  kennen  gelernt  oder  beobachtet.  Von 
anderen  Persönlichkeiten  haben  Sie  schon  gelesen  oder  gehört.  Welcher 
Person  unter  diesen  möchten  Sie  am  liebsten  ähnhch  sein  und  w^arum? 
Oder  anders  ausgedrückt:  Welchem  idealen  Vorbild  strebe  ich  nach  und 
warum  wählte  ich  dieses?"  Im  mündhchen  Verkehr  wirkt  diese  Frage- 
gestaltung erschöpfender  und  anregender.  Von  der  allgemeinen  Aufgabe 
wird  zu  einem  persönlichen  Bekenntnis  hinübergeführt.  Allerdings  liegt  ein 
Gedankensprung  von  der  „Einzelperson"  zum  „idealen  Vorbild"  vor,  der 
aber  durch  Voruntersuchungen  nahegelegt  wurde,  um  solchen  Schülern  ge- 
recht zu  werden,  die  sich  ein  freies  selbstgewähltes  Idealbild  geschaffen 
haben.  Im  Laufe  der  verschiedenen  Jahre  konnte  die  Erfahrung  gemacht 
werden,  daß  die  letzte  allgemeine  Fragestellung  in  der  Ich-Form  (besonders 
bei  schriftlicher  Vorgabe)  vollständig  genügen  dürfte.  Bei  Seminaristen  der 
letzten  Klasse  kann  der  Hinweis  ^uf  die  Quellen  der  Ideale  eine  kritische 
Stellungnahme  hervorrufen  und  von  der  Aufgabe  ablenken.  So  führte  einer 
kurz  aus: 

„Von  jeder  Person,  die  mir  entgegentritt  und  die  bewundernswerte 
Charaktereigenschaften  besitzt,  wird  mein  Idealbild  immer  in  irgendeiner 
Weise  ergänzt  und  vervollständigt.  Es  kommt  mir  vor,  daß  ich  immer  in 
der  Person,  die  mir  gerade  in  der  Gegenwart  Achtung  ihrer  Charaktereigen- 
schaften wegen  abnötigt,  mein  Ideal  sehe.  Aber  bald  tritt  diese  Person 
wieder  in  den  Hintergrund  und  zwar  stets  dann,  wenn  ich  unbewußt  ihre 
bes.  Charaktereigenschaften  auf  mein  Ideal  übertrage,  d.  h.  wenn  ich  von 
der  Erreichbarkeit  einer  derartigen  Ausbildung  überzeugt  bin.  Dieses  Ideal- 
bild hat  nicht  nm-  geistige  Seiten  von  Personen  meines  Umganges  und  der 
Geschichte,  sondern  bezieht  sich  auch  auf  die  körperliche  Ausbildung,  wie 
Gang,  Gesichtsausdruck  ..."  Ein  anderer  Seminarist  schrieb:  „Keine  Person 
ist  mir  bis  jetzt  entgegengetreten,  die  für  mich  hätte  Ideal  werden  können. 
Vielmehr  hat  meine  Phantasie  vollendet  ausgebildete  Charakterseiten  solcher 
Gestalten,  die  tiefere  Eindrücke  in  meiner  Seele  hinterließen,  zusammen- 
gefügt zu  einem  Idealbild.  Besonders  Gestalten  der  Literatur  lassen  oft 
einzelne  Seiten  des  Vorbildes  schärfer  hervortreten.  Doch  sind  bei  mir 
immer  noch  gewisse  Schwankungen  vorhanden  .  .  ." 

Die  Frage  nach  negativen  Idealen  scheint  uns  nicht  berechtigt  zu 
sein.    Die  positive  oder  negative  Stellungnahme  der  Schüler  zu  den  Unter- 

' )  Z.  f.  pädag.  Psychologie.  Bd.  XVII,  S.  226 ff.  Reymert,  Zur  Frage  nach  den  Idealen 
des  Kindes  (Rey.  I). 

^)  Z.  f.  pädag.  Psychologie,  Bd.  XVIII,  S.  464  ff.     Elias,  Ideale  jüdischer  Kinder. 

3)  Z.  f.  pädag.  Psychologie,  Bd.  XIX,  S.  10  ff.  Reymert,  Über  Persönlichkeitsideale  im 
höheren  Jugendalter  (Rey.  II). 


14  Michael  Kesselring 


richtsfächern  erkunden  zu  wollen,  ist  ein  zu  rechtfertigendes  Unternehmen. 
Anders  liegt  die  Sache  bei  der  Frage  nach  idealen  Vorbildern,  wo  entweder 
eine  positive  Stellung  oder  überhaupt  keine  in  Frage  kommen  kann,  wenigstens 
im  Jünglingsalter.  Auch  sträubt  sich  die  Überzeugung  von  dem  Werte  der 
raodestia  oder  humanitas  i.  S.  Spinozas  dagegen:  in  der  Erziehung  müsse 
man  sich  hüten,  von  den  Lastern  der  Menschen  zu  erzählen  und  solle  von 
der  menschlichen  Schwäche  nur  wenig  sprechen,  jedoch  ausführlich  von  der 
menschlichen  Tugend  oder  Stärke  und  dem  Wege  ihrer  Erreichung.  Leider 
sind  uns  die  Ergebnisse  Goddards^  nicht  zugänglich;  aber  es  ist  be- 
zeichnend, daß  Elias  2)  das  Ergebnis  seiner  Frage  nach  negativen  Idealen 
nicht  mitteilt. 

Als  Ort,  wo  unsere  Befragung  ausgeführt  wurde,  kam  nur  die  Schule  in 
Betracht.  Nachdem  kurz  auf  den  Ernst  der  Unternehmung  hingewiesen 
worden  war,  dadurch  daß  von  ähnlichen  Umfragen,  die  im  Dienste  päda- 
gogisch-psychologischer Forschung  stehen,  gesprochen  wurde,  begann  sofort 
die  Bearbeitung  der  Aufgabe.  Während  für  jüngere  Schüler  zur  Bewahrung 
der  Unbefangenheit  und  zur  Erzielung  einer  wirklich  inneren,  unreflektierten 
Stellungnahme  in  der  Form  eines  freien  Aufsatzes  die  beste  Einkleidung  zu 
erblicken  ist,  dürfte  bei  Sem.  unser  Verfahren  gerechtfertigt  sein,  weil  sie 
dadurch  zugleich  zur  Mitarbeit  an  der  Lösung  eines  pädagogischen  Problems 
herangezogen  werden,  wozu  sie  durch  den  Psychologieunterricht  des  1.  Seminar- 
Jahres  teilweise  befähigt  sein  können.  Für  die  Sem.  der  letzten  Klasse  im 
Alter  von  19 — 20  Jahren  kann  sogar  die  häusliche  Bearbeitung  versucht  werden. 
Daß  dieser  Weg  gangbar  sein  kann,  beweisen  die  Versuche  Kammeis 3) 
mit  Abiturienten  einer  Wiener  Staatsoberrealschule  über  die  Beliebtheit  der 
Unterrichtsfächer.  In  einer  Besprechung  mit  Sem.  der  2.  Kl.  im  4.  Kriegs- 
jahre  nach  Vornahme  des  Experiments  trat  der  Wunsch  nach  Bearbeitung 
zu  Hause  bei  der  Mehrheit  hervor. 

Nach  der  Stellung  der  Aufgabe  müssen  natürlich  Erläuterungen  oder 
Beeinflussungen  vollständig  vermieden  und  etwaige  Fragen  nur  mit  dem 
Hinweis  beantwortet  werden,  daß  jeder  sich  selbst  folgen  dürfe  und  müsse. 
Den  Versuchen  des  Besprechens  oder  gar  Abschreibens  brauchte  bei  den 
Sem.  kaum  begegnet  zu  werden.  Mit  Eifer  und  ernstlichem  Bemühen  machte 
sich  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Schüler  an  die  Beantwortung,  wenn 
auch  einige  wenige  erst  nach  zweifelndem  Lächeln  an  die  Niederschrift 
gingen  und  mancher  sich  auch  zweifellos  ernster  und  tiefer  gab  als  seinen 
wirklichen  seelischen  Neigungen  und  Charakteranlagen  entsprechen  mag. 
Im  ganzen  mußte  der  Ernst  der  Sem.  wohltuend  berühren,  und  der  Ver- 
fasser muß  gestehen,  daß  er  manche  abgegebene  Antwort  mit  innerer  Er- 
griffenheit gelesen  hat.  Auch  Reymert^)  verwirft  jecie  Erläuterung;  aber  es 
ist  doch  bedenklich,  wenn  er  nach  der  Fragestellung  sofort  beifügt,  daß 
Gott  und"  Jesus  außer  Betracht  zu  lassen  seien,  weil  damit  ein  besonders 
gearteter  Gedankenablauf  erzeugt  wird:  entweder  andere  Gestalten  aus  dem 
religiösen  Gebiet  zu  wählen  oder  sie  ganz  zu  übersehen.  Richter^)  will  die 
Befragung    auf   Jugendliche    von    14  —  17   Jahren    (Fortbildungsschüler) 


*)  Goddard,  Negation  Ideals  in  Studies  in  Education,  Vol.  II,  S.  392. 

')  a.  a.  O.  3)  pharus  IV,  S.  297  ff. 

*)  Rey.  II.  a.  a.  0.  S.  11.  '*)  a.  a.  0.  S.  252. 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  16 


nicht  ausdehnen,  weil  „von  Seiten  der  Lehrer  der  Ernst  dieser  Schüler  bei 
Beantwortung  der  Frage  stark  in  Zweifel  gezogen  wurde".  Dieser  Auf- 
fassung scheint  sich  auch  Rey.  11.  ^)  anzuschließen.  In  der  Form  eines  Auf- 
satzes als  Klassenarbeit  läßt  sich  aber  wohl  Material,  das  der  Verarbeitung 
entgegengeführt  werden  kann,  gewinnen.  So  machte  die  Beantwortung 
unserer  Frage  durch  Präparanden  (14 — 17  Jahre)  keine  Bedenken  gegen 
den  Ernst  ihrer  Auskünfte  geltend,  wie  auch  eine  Befragung  bei  Fortbildungs- 
schülern auf  dem  Lande  und  einer  Mädchenfortbildungsklasse  in  einer  Stadt 
sich  gut  durchführen  ließ. 

Bezüglich  des  Zeitpunktes  für  die  Vornahme  des  Experiments  ist  wohl 
der  Anfang  einer  Unterrichtsstunde  der  geeignetste.  Wenn  die  erste  Unter- 
richtsstunde vermieden  werden  kann,  so  ist  dies  wegen  der  Bewußtseinslage 
der  Schüler  am  Tages-  und  Unterrichtsbeginn  unbedingt  zu  tun.  Mehr  als 
20  Minuten  konnten  wir  für  die  Beantwortung  nicht  Zeit  geben,  was  sich 
auch  in  der  1.  Klasse  als  ausreichend  erwies;  während  in  der  2.  Klasse  diese 
Zeitspanne  wiederholt  zu  knapp  war,  da  manche  Schüler  erst  nach  reiflicher 
Überlegung  ihre  Gedanken  niederschrieben.  Einfluß  auf  die  Ergebnisse  ge- 
winnt natürlich  auch  das  Datum  des  Versuchstages  im  Laufe  des  Schuljahres; 
das  letzte  Drittel  eines  solchen  dürfte  ungefähr  den  richtigen  Zeitpunkt  um- 
grenzen, da  sich  dann  der  Erfolg  der  Neuarbeit  nach  den  Lehrplänen  der 
betr.  Klassen  geltend  machen  kann,  ein  Umstand,  der  besonders  für  die 
1.  Seminarklasse  größere  Bedeutung  hat.  (Bemerkt  sei  noch,  daß  zur  Zeit 
der  Durchführung  dieser  Untersuchung  das  bajTische  Lehrei-seminar  noch 
zwei  Jahresklassen  umfaßte  (jetzt  drei),  denen  drei  Jahre  Präparandenschule 
vorausgehen.  Das  Lebensalter  der  Schüler  bewegt  sich  zwischen  I6V2  bis 
20  Jahren.  In  anderem  Zusammenhange  —  Untersuchung  über  die  Beliebt- 
heit der  Schulfächer  —  ist  der  frühere  und  jetzige  Lehrplan  der  bayrischen 
Lehrerbildungsanstalten  mitgeteilt-). 

Alle  bisherigen  Untersuchungen  wie  auch  diese  erblicken  eine  wichtige 
Voraussetzung  zum  Gelingen  des  Experiments  in  der  unerwarteten,  unvor- 
bereiteten Befragung.  Man  glaubt  dadurch  um  so  echtere,  unverfälschtere, 
der  Wahrheit  entsprechende  Ant\s^orten  zu  erhalten.  Allerdings  können  da- 
bei manche  zeithch  und  örthch  bedingten  Umstände  die  Stellungnahme  der 
Schüler  beeinflussen,  denen  der  Bearbeiter  solcher  Umfragen  bei  der  Ver- 
öffentlichung immer  einige  Aufmerksamkeit  schenken  muß.     (Siehe  w.  unten !) 

In  Kürze  wollen  wir  die  innere  Berechtigung  und  Möglichkeit 
der  Idealforschungen  etwas  prüfen.  Viele  Sem.  erklärten  nach  dem 
Experiment,  die  Frage  sei  zu  plötzlich  an  sie  herangetreten,  sie  seien  über- 
rumpelt worden,  manche  zu  verblüfft  gewesen,  so  daß  die  Ergebnisse  recht 
zufälliger  Natur  sein  müßten.  Solche  Gründe  führen  auch  interessierte  Er- 
wachsene gegen  unsere  Versuche  ins  Feld,  und  selbst  die  betr.  Experimen- 
tatoren werden  sich  nicht  dagegen  verschließen  können.  Um  so  größer  ist 
die  Überraschung,  wenn  bei  Sichtung  des  Materials  sich  typische  Ergebnisse 
herausstellen,  welche  die  Vorwürfe  gegen  diese  Methode  nicht  nur  mildern, 
sondern  ganz  zum  Schweigen  bringen  müssen.  Wenn  äußere  ZufälMgkeiten, 
Unüberlegtheit,    Laune    und  Willkür   bei    der  Beantwortung    eine    so    große 


»)  a.  a.  0.  S.  11. 

*)  Deutsche  Psychologie  Bd.  I,  S.  319. 


16  Michael  Kesselring 

Rolle  spielten,  wie  wären  eindeutige  klare  Aufstellungen  in  den  Einzelunter- 
suchungen überhaupt  möglich,  und  wie  könnten  sich  weitgehende  Überein- 
stimmungen bei  verschiedenen  Schulen,  Klassen,  Beobachtern  ergeben? 

Bei  psychologischer  Vertiefung  und  Besinnung  in  den  vorliegenden  Frage- 
komplex stoßen  wir  auf  die  elementare  Gegebenheit  der  Wertgefühlsdis- 
positionen für  solche  Bekenntnisse  und  Erkenntnisse.  Die  Wahl  eines  Ideals 
im  Momente  des  Versuchs  geht  zurück  auf  frühere  Bekanntschaft  und  Be- 
rührung mit  einer  idealen  Person  (einer  konkreten  oder  abstrakten),  wobei 
das  Erlebnis  lebhaft  betonte  Gefühls-  und  Gemütsbewegungen  ausgelöst 
haben  dürfte  und  zugleich  eine  Wertung  in  bezug  auf  das  eigene  Subjekt 
und  eine  Festsetzung  im  Gedankenkreis  des  eigenen  Ich  erfolgte.  Für  eine 
spätere  Stellungnahme  zu  einem  Ideal,  zu  einem  Bekenntnis  über  ein  Vor- 
bild sind  also  immer  Dispositionen  vorhanden,  die  den  Inhalt  des  Urteils 
ergeben,  der  durch  die  Wertgefühle  und  das  gegenständliche  Interesse  bedingt 
ist.  Nach  einem  Unterrichtsgespräch  in  der  2.  Klasse  im  2.  Versuchsjahr 
ergab  sich  auch  etwa  folgendes:  Ideale  sind  oft  nicht  ganz  klar  im  Bewußt- 
sein, jedoch  liegen  der  gefühlsmäßige  Hintergrund  und  die  Eigenschaften 
derselben  schon  fest.  Gewöhnlich  sind  Idealbilder  von  selbst  in  uns  ge- 
wachsen und  brauchen  nur  klar  ins  Bewußtsein  gerückt  zu  werden.  Geradezu 
unmöghch  ist  es,  im  Moment  der  Fragestellung  und  bei  der  beschränkten 
Zeit  ein  Ideal  sich  plötzlich  zu  bilden  oder  zu  schaffen.  Wenn  viele  Züge 
nicht  in  uns  schon  gegeben  sind,  kann  auch  keine  Stellungnahme  erfolgen. 
Daß  Ideale  vom  18.  Lebensjahre  noch  wesentlich  wechseln  könnten,  wurde 
vielfach  bestritten.  Wir  waren  schließlich  überzeugt  von  der  Berechtigung 
unseres  Experiments,  ebenso  von  der  Gewinnung  objektiv  richtiger  Ergeb- 
nisse unter  Berücksichtigung  der  Ausschaltung  mancher  Fehlerquellen  wie 
besonderer  Zustände,  Anonymität.  —  Die  Schüler  betonten  auch,  daß  die 
Ideale  oft  besonders  solche  Züge  enthalten,  die  dem  betreffenden  Jugend- 
lichen mangeln  und  deren  Besitz  erstrebt  wird.  Einige  hoben  auch  hervor, 
daß  genannte  Persönlichkeiten  z.  B.  aus  Geschichte  und  Dichtung  mehr  als 
Beispiel  zu  dem  im  Innern  selbst  geformten  Ideal  zu  betrachten  seien.  Über- 
haupt mußte  uns  auffallen,  daß  die  Wahl  von  selbstgebildeten  Idealen  mit 
einigem  Stolz  genannt  wurde  und  die  Mehrzahl  es  als  höchste  Stufe  für  die 
möglichen  Arten  der  Stellungnahme  empfand,  ein  allgemeines,  freies  Menschen- 
ideal sich  gestaltet  zu  haben.  Solche  Vorbilder  shid  entweder  in  allgemeineren 
Umrissen  im  Sinne  eines  Humanitätsideals  gehalten  oder  ti'eten  geschlossener 
in  der  Form  des  Berufsideales  auf;  dabei  tragen  beide  Formen  den  Charakter 
eines  „Strebe-Ideals"  an  sich.  Unsere  Untersuchung  ist  den  Strebe-Idealen 
noch  nicht  eingehend  nachgegangen,  doch  sind  die  meisten  von  ihnen  unter 
der  Klasse  der  Berufs-  und  der  freien  Ideale  zu  finden.  Da  einige  der 
Sem.  innere  Unzufriedenheit  mit  dem  erwählten  Beruf  empfinden,  stellten 
sich  auch  ein  paar  reine  Wunschideale  ein,  die  sich  nicht  rubrizieren  ließen. 

Einige  Schülerzeugnisse: 

1.  Wie  Ideale  in  uns  entstehen:  „Ein  direkt  persönliches  Ideal  habe  ich 
nicht.  Das  Ideal,  das  mir  vorschwebt,  hat  sich  in  mir  unwillkürlich 
(vom  Sem.  mehrfach  unterstrichen)  gebildet,  d.  h.  aus  allem  bisher 
Gelesenen,  Gehörten  und  Geschehenen  hat  sich  in  mir  das  zum  Ideale 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  17 

festgesetzt,  was  mir  am  besten  gefiel,  mich  am  meisten  anzog,  so 
Hauptzüge  aus  konkreten  Persönlichkeiten  wie  Bismarck,  Jesus, 
Goethe."     19  J. 

2.  Belege  für  Strebe-Ideale: 

a)  „Ein  persönliches  Vorbild  habe  ich  nicht.  Aber  ein  Idealbild,  dem 
ich  nachstrebe,  schwebt  mir  deutlich  vor.  Ich  möchte  sittlich  frei 
werden,  weil  ich  darin  das  Hauptziel  des  Lebens  erbhcke.  Im  Ver- 
gleich zu  früheren  Jahren  kann  ich  wohl  auch  schon  einen  Fort- 
schritt bemerken."     18^2  J. 

b)  „Der  verstorbene  Lehrer  N.  N.,  weil  ein  gerechter  und  ehrlicher 
Mann,  wegen  seines  sittlichen  Ernstes,  wegen  seines  unermüdlichen 
Fleißes  und  seiner  Ausdauer,  wegen  seiner  unermüdüchen  Geduld, 
wegen  der  offenen  Geradheit  in  seinem  ganzen  Wesen.  Vielleicht  könnte 
ich  mir  ein  noch  besseres  Ideal  vor  Augen  stellen ;  aber  mir  genügt 
schon,  wenn  ich  auch  einmal  so  geehrt,  geachfet,  geliebt  und  ge- 
schätzt werden  könnte  von  Schülern,  Lehrern  und  Fremden,"    19  J. 

c)  (Aus  dem  vierten  Kriegsjahre) :  „Als  mein  Vorbild  gelte  die  Person 
Hindenburgs.  Wie  dieser  durch  seinen  starken  Willen  und  durch 
seine  Charakterstärke  alles  vollbringt,  was  er  beginnt,  so  will 
auch  ich  mich  bemühen,  meinen  Willen  zu  stählen,  um  mein  Ziel 
als  Lehrer  zu  erreichen.''     17 "2  J. 

d)  (Strebe-  und  Berufsideal  zugleich):  „Der  Lehrer  N.  N.,  weil  er  ein 
solider,  einfacher  Mensch  ist  und  daneben  ein  großes  Wissen  besaß. 
Danach  strebe  ich  auch  am  meisten :  möglichst  viel  zu  lernen.  Neben 
der  Bildung  eines  guten  Charakters  ist  mein  einziges  Trachten  in  den 
Spuren  dieses  Herrn  zu  wandeln,''     18  J. 

Die  Frage,  ob  der  Jugendliche  über  Ideale  verfügt,  braucht  wohl 
keine  längere  Erörterung  zu  finden.  Daß  sie  vorhanden  sind,  ist  nicht  nur 
eine  feste  Tatsache  für  Dichter  und  Künder  des  Menschenherzens,  sondern 
auch  für  Durchschnitts-Erwachsene,  die  wohl  über  frühere  phantastische 
Ideale  lächeln  können,  aber  dabei  doch  irgendeinem  innig  gehegten 
Ziele  nachstreben,  ja  nachstreben  müssen,  wie  es  Ibsens  „Wildente"  er- 
schütternd zeigt  —  ist  noch  mehr  eine  Selbstverständlichkeit  für  die  befragten 
Schüler,  von  denen  nur  einzelne  trägere  Naturen  in  sich  keine  Ideale  ent- 
decken können. 

Alle  bisherigen  Untersuchungen  gewannen  ihr  Material  in  den  betreffenden 
Orten,  Schulgattungen  und  Klassen  durch  eine  einmalige  Erhebung.  Des 
Verfassers  Bestreben  war  es  nun,  in  verschiedenen  Schuljahren  die  gleichen 
Klassen  zu  befragen.  In  derselben  Klassen-  und  Altersstufe  unterzogen  sich 
also  jeweils  andere  Vpn.  der  Untersuchung,  so  daß  zunächst  Einflüsse  zu- 
fälliger Art  sich  ausmerzen  können,  zugleich  aber  ein  objektiveres  Bild  der 
Stellungnahme  der  Schüler  sich  ergeben  muß.  Es  war  uns  möglich,  in  der 
1,  Klasse  das  Experiment  in  drei  aufeinanderfolgenden  Jahren,  in  der  2.  Klasse 
in  zwei  folgenden  Jahren  vorzunehmen.  Die  praktische  Erwägung,  daß  in 
höheren  Schulen  die  Klassenfrequenzen  geringer  sind  imd  die  Menge  der 
gleichzeitig  in  einer  Stadt  oder  Provinz  zu  erreichenden  Stimmzettel  gegen- 
über Volksschulenqueten  eine  kleine  bedeutet,  nötigt  zu  einer  mehrmaUgen 
Durchführung  des  Experiments  in  jährlichen    Abständen.     Die  Einbuße  an 

Zeitsclirill  f.  pädagog.  Psychologie.  2 


18  Michael  Kesselring 


Zuverlässigkeit  der  Ergebnisse  aus  dem  Material  von  weniger  Vpn.  wird 
durch  den  höheren  objektiven  Wert  der  Aussagen  Jugendlicher  aus  mehreren 
Jahren  dann  wieder  wettgemacht. 

Äußerst  wertvoll  wäre  natürlich  ein  Einblick  in  die  Entwickelung  der 
Vpn.  von  einer  Klasse  zur  andern  und  den  Wechsel  in  der  Wahl  der 
Ideale,  welchen  Einblick  wir  uns  leider  schwer  verschaffen  können,  da  wir 
an  der  Forderung  unbedingter  Anonymität  festhalten.  Nur  wenn  die 
Schüler  von  der  Wahrung  der  Anonymität  vollständig  überzeugt  sind,  geben 
sie  rückhaltlos  Auskunft,  obwohl  sie  auch  dann  noch  eine  gewisse  Scheu 
vor  der  Niederschrift  zu  überwinden  haben.  Manche  schrecken  zuerst  zurück, 
Bekenntnisse  aus  ihrem  persönlichsten  Innenleben  dem  Papier  anzuvertrauen, 
und  gehen  schließlich  doch  an  die  Beantwortung,  weil  sie  diese  ohne  Namens- 
nennung abgeben  können,  wozu  allerdings  noch  das  Vertrauen  zum  Experi- 
mentator, daß  kein  Mißbrauch  mit  ihren  Arbeiten  getrieben  werde,  und  die 
Überzeugtheit,  daß«  die  Bekenntnisse  mit  einer  gewissen  Achtung  behandelt 
werden,  zu  einer  wahrhaften  Antwort  ergänzend  hinzutreten  müssen.  Wenn 
Rey.  —  in  seiner  1.  und  wohl  auch  2.  Untersuchung  —  außer  dem  Alter 
der  Schüler  noch  den  Vornamen  und  die  Berufsstellung  des  Versorgers  auf 
die  Zettel  schreiben  ließ,  so  ist  damit  nur  eine  teilweise  Anonymität  ver- 
bürgt, und  die  Schüler  werden  nicht  mit  der  gleichen  Unbeengtheit  wie  im 
anderen  Falle  an  die  Beanhvortung  gehen. 

Die  Methode  der  Berechnung  der  Versuchsergebnisse  ist  immer  in 
gleicher  Weise  geübt  worden :  in  Prozenten  auf  die  Zahl  der  Vpn.  So  wurden 
dann  nach  einem  Schema  die  Werte  in  einer  Tabelle  über  die  gewählten 
Persönlichkeiten  und  einer  solchen  über  die  Eigenschaften  auf  Grund  der 
Motivierung  festgelegt  und  der  Behandlung  untergelegt.  Bezüglich  der  Ver- 
rechnung der  Eigenschaften  der  Idealbilder  kamen  uns  jedoch  Bedenken 
und  wir  stellten  neben  das  bisherige  Verfahren  der  Beziehung  auf  die  Zahl 
der  Vpn.  ein  solches,  bei  dem  die  Verteilung  der  Charaktereigenschaften  auf 
die  Gesamtzahl  der  Nennungen  von  Einzelzügen  prozentual  berechnet  wurde. 
Bei  den  Begründungen  wurde  nämlich  selten  nur  eine  Eigenschaft  genannt, 
welche  zur  Wahl  eines  Vorbildes  führte.  Besonders  die  freien  Menschen- 
ideale sowie  die  Berufsideale  waren  in  viele  Einzelzüge  zerlegt,  so  daß  die 
'Heraushebung  eines  Hauptzuges  nur  schwierig  und  mit  Willkür  zu  vollziehen 
gewesen  wäre.  Da  von  unseren  435  Vpn.  —  7,8  Proz.  gaben  keine  Aus- 
kunft —  775  Nennungen  von  Gründen  vorliegen,  stellten  wir  neben  die 
bisher  aufgestellten  Tabellen  eine  neue,  wobei  versucht  wurde,  beide  Be- 
rechnungsmethoden einander  gegenüber  zu  stellen  und  für  eine  Entscheidung 
über  ihre  Brauchbarkeit  den  Grund  zu  legen. 

n.  Die  gewählten  Vorbilder. 

Um  über  den  Inhalt  der  Ideale  eine  Übersicht  zu  gewinnen,  schlug 
Goddard  eine  Gruppierung  vor,  welche  die  späteren  deutschen  und 
nordischen  Untersuchungen  beibehielten,  vorzüglich  wohl  aus  dem  Grund, 
die  Ergebnisse  leichter  in  Vergleich  bringen  zu  können.  Doch  hat  jene 
Tabelle  auch  ihre  innere  Berechtigung,  indem  den  Persönlichkeitsidealen  aus 
dem  persönlichen  Bekannten-  und  Umgangskreis  solche  aus  dem  breiteren 
öffentlichen  Leben  gegenübergestellt  werden,  wozu  dann  noch  die  Gruppen 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  19 

von  Gestalten  aus  dem  Gebiete  der  Religion  und  aus  dem  Bereiche  der 
Dichtung  und  Sage  treten.  So  ergeben  sich  vier  Hauptgruppen  für  Persön- 
lichkeitsideale, welche  \e  nach  der  Schulart,  dem  Entwickelungsstandpunkt 
und  Lebensalter  der  Vpn.  verschiedene  Unterabteilungen  notwendig  machen. 
Nach  der  ersten  Sichtung  des  Materials  aus  unseren  Versuchen  stellte  sich 
die  Notwendigkeit  einer  fünften  Gruppe  heraus,  welche  neben  die  Persön- 
lichkeitsideale als  ein  allgemeingestaltetes  Idealbild,  als  allgemeines  Menschen- 
vorbild oder  als  „freies  Ideal"  tritt. 

Die  Gruppen  des  Bekanntenideals  und  der  öffentlichen  Persönlichkeiten 
verlangten  zunächst  wohl  die  Zweiteilung  in  Lebende  und  Tote,  welche 
Grenzen  jedoch  schwer  zu  ziehen  sind,  besonders  hinsichtlich  der  Bekannten- 
ideale.  Bei  dieser  Gruppe  mußten  wir  auf  Grund  unserer  Antworten  folgende 
Klassifikation  eintreten  lassen:  Eltern  —  Verv^^andte  —  Bekannte  —  Lehrer 
—  Freunde  (Mitschüler).  Bezüglich  der  öffentlichen  Personen  ließe  sich 
leichter  eine  Teilung  in  große,  ungekannte,  verstorbene  und  bedeutende,  un- 
gekannte,  lebende  Persönlichkeiten  durchführen.  Zur  ersten  Abteilung  ge- 
hörten dann  die  großen  Gestalten  der  Religionsgeschichte,  der  historisch- 
pohtischen  und  der  Kulturgeschichte  (Dichter,  Künstler,  Philosophen,  Päda- 
gogen), zur  zweiten  markante  Persönhchkeiten  unserer  Zeitepoche,  die  den 
Jugendlichen  im  Gemeindeverband  (Land  oder  Stadt),  in  Provinz  und  Kreis, 
im  engeren  und  weiteren  Vaterland,  aus  dem  internationalen  Leben  ent- 
gegentreten, aus  Gesprächen,  Berichten,  Zeitungen  und  Zeitschriften  bekannt 
werden,  wie  Fürsten,  Forscher,  Techniker,  Erfinder,  Dichter,  Musiker.  Aber 
auch  diese  Scheidung  Ueß  sich  vorerst  nicht  reinlich  genug  durchführen;  in 
unserm  Schema  sind  für  lebende  Persönlichkeiten  nur  die  Rubriken  ^Fürsten" 
und  „Techniker'*  vorgesehen.  In  unserer  Untersuchimg  zerlegte  sich  die 
Gruppe  der  „öffentHchen  Personen"  folgendermaßen:  Geschichte  (eigenes 
und  fremdes  Land)  —  Dichter  (eigene  und  fremde)  —  Fürsten  —  Philo- 
sophen —  Künstler  —  Wissenschaft  und  Forschung  —  Technik  —  Erziehung 
(Pädagogen),  Die  bei  uns  als  neu  notwendig  gewordene  Gruppe  der  „freien 
Ideale"  erfuhr  noch  keine  genauere  Klassifizierung,  da  noch  ähnhche  Experi- 
mente im  höheren  Jugendalter  erwartet  werden  sollen.  Bis  jetzt  schälten 
sich  heraus  als  Untergruppen:  allgemein-sitthches  Menschentum  —  Berufs- 
ideal —  Wunschideal.  Während  bei  den  Bekanntenidealen  subjektive  Ent- 
scheidungen die  Wahl  beeinflussen,  greift  bei  den  öffentHchen  Charakteren 
eine  objektiv-gültige  Wertung  ein;  bei  den  selbstgestalteten  Vorbildern 
vereinigen  sich  für  die  Stellungnahme  objektive  und  subjektive  Wert- 
schätzungen. 

Bevor  wir  die  Tabelle  der  idealen  Vorbilder  der  Seminaristen  bringen,  sei 
eine  Übersicht  über  den  Versuch  mit  Präparanden  gegeben,  ausgeführt 
an  45  Vpn.  einer  Präparandenschule  in  einem  fränkischen  Mainstädtchen.  Die 
Begründung  des  Urteils  war  leider  nicht  verlangt  worden. 

Besonders  auffallen  muß  die  hohe  Zahl  an  Idealen  aus  öffentlichen  Per- 
sonen, welche  diese  14— 16  jährigen  wählen.  Von  41  Nennungen  fallen  nur 
zwei  auf  Dichtung  und  Sage  (Zriny,  Teil),  gar  keine  auf  das  rehgiöse  Ge- 
biet und  auch  aus  dem  Bekanntenkreis  ergibt  sich  nur  ein  Vorbild.  Gegen- 
über den  Volksschulergebnissen  im  allgemeinen  ist  die  geringe  Wahl  von 
Bekanntenidealen  ganz  überraschend,  obwohl  eine  absteigende  Tendenz 
derselben  sich  schon  aussprach. 


20  Michael  Kesselring 


Von  den  37  öffentlichen  Persönlichkeiten  entfallen  7  Vorbilder  auf  den 
Künstlerkreis,  besonders  in  der  3.  Klasse,  die  wohl  mehr  nach  inneren  auf- 
tauchenden Neigungen  wählt.  Genannt  wurde  dabei  Mozart  3  mal,  Beethoven 
1  mal,  Dürer  1  mal,  je  1  Sänger  und  Violinkünstler.  Von  den  Dichtern 
finden  sich  Körner  5  mal,  Schiller  3  mal,  Goethe,  Lessing,  Hauff  je  1  mal. 
Pestalozzi  soll  2  mal  Idealbild  sein,  Zeppehn  3  mal,  France  1  mal.  Unter 
den  geschichtlichen  Persönhchkeiten  erfahren  Bismarck  und  Blücher  die 
häufigste  Nennung  (je  4  mal),  Schill  2  mal,  Armin,  Scharnhorst,  Jahn  je  1  mal. 
Frauen  sind  nie  als  Ideal  genannt.     (Vergl.  Tab.  S.  22.) 

Wenn  auch  unser  Versuchsmaterial  für  diese  Stufe  ein  ganz  geringes  ist, 
so  können  wir  einen  vergleichenden  Blick  auf  die  Ergebnisse  bei  14  jährigen 
Volksschülern  nicht  unterlassen.  Bei  Goddard  i)  haben  sich  64  Knaben  (Kn.) 
geäußert;  wenn  auch  keine  genauen  Zahlenangaben  zu  entnehmen  sind,  so 
läßt  sich  ersehen,  daß  öffenthche  Persönlichkeiten  die  Bekanntenideale  über- 
wiegen. Bei  den  254  befragten  Kn.  dieser  Altersstufe  in  Richters"^)  Unter- 
suchungen finden  sich  als  Prozentsätze  für  Bekannte  8,  für  öffentliche 
Personen  61,  aus  der  Dichtung  8,  aus  dem  religiösen  Gebiet  13.  Bei  Rey.  l.^) 
nannten  von  197  Kn.  37  Bekannte,  120  öffentliche  Personen,  8  dichterische 
Gestalten,  13  religiöse.  Bei  aller  Vorsicht,  keine  voreiligen  Folgerungen  zu 
ziehen,  scheint  es  uns  doch  der  Feststellung  wert,  daß  bei  den  Jugendlichen 
von  14 — 16  Jahren  Bekanntenideale  in   auffallend  geringer  Zahl  auftreten. 

Indem  wir  uns  nun  unserer  Untersuchung  der  Ideale  der  Seminaristen 
zuwenden,  fassen  wir  zuerst  Tab.  I  (S.  23)  über  die  gewählten  Vorbilder  ins  Auge. 

Für  die  Methodik  der  Idealforschungen  interessiert  wohl  in  erster  Linie, 
ob  die  Befragungen  in  den  verschiedenen  Jahren  wesentlich  andere  Ergeb- 
nisse zeitigten.  Bei  dem  geringen  Umfang  des  Materials  können  natürlich 
Folgerungen  nur  mit  allem  Vorbehalt  gezogen  werden.  Bei  der  1.  Klasse 
ergibt  sich,  daß  in  den  Hauptgruppen  ungefähr  dasselbe  Nennungsverhältnis 
sich  findet  und  sich  nirgends  ein  stärkerer  Ausfall  geltend  macht.  Wesent- 
lich dasselbe  Bild  in  den  drei  Versuchsjahren  zeigt  sich  hinsichtlich  der 
Vater-Ideale,  Dichter  des  eigenen  Landes,  Männer  aus  Wissenschaft  und 
Forschung,  religiösen  Gestalten.  Ein  mehr  wechselndes  Bild  tritt  uns  ent- 
gegen bei  der  Wahl  von  Lehreridealen,  da  in  den  einander  folgenden  Jahren 
stets  weniger  Vorbilder  dieser  Gruppe  genannt  werden,  was  auch  von  der 
Wahl  historisch-politischer  Persönlichkeiten  gilt.  Aus  der  Künstlergruppe 
bringt  besonders  das  dritte  Jahr  mehr  Vorbilder,  während  es  gegenüber  der 
Fürstengruppe  im  ersten  und  zweiten  Jahr  keine  Nennung  aufweist.  Ge- 
stalten aus  Dichtung  und  Sage  traten  besonders  im  ersten  Jahr  mehr  hervor. 
Freie  Ideale  sind  vom  ersten  zum  zweiten  Jahr  gewachsen  und  blieben 
letzteren  im  dritten  Jahr  an  Zahl  gleich. 

Bei  Betrachtung  des  verschiedenen  Jahresbildes  der  2.  Klasse  empfindet 
man  es  zunächst  als  Mangel,  daß  aus  einem  dritten  Jahre  keine  Ergebnisse 
vorliegen.  Die  Stellungnahme  innerhalb  der  Hauptgruppen  ist  jedoch  auch 
hier  im  wesentlichen  die  gleiche.  Übereinstimmend  ist  die  Wahl  bei  den 
Bekanntenidealen,  besonders  hinsichtUch  des  Lehrervorbildes.  Außerdem 
sind  Künstler,  historische  Persönlichkeiten,  Erzieher,  religiöse  Gestalten  in 
beiden  Jahren    in   gleicher   Weise   zu  Vorbildern    genommen.     Auffallende 


1)  a.  a.  0.  S.  160.  »)  a.  a.  O.  S.  255.  »)  a.  a.  O,  S.  231. 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  21 

Verschiebungen  als  idealspendender  Quellen  drängen  sich  bei  den  Gruppen 
der  Dichter  und  der  freien  Ideale  hervor. 

Es  läßt  sich  also  nicht  verkennen,  daß  zur  Gewinnung  typischer  Bilder 
über  die  Wahl  von  Idealen  innerhalb  von  Alters-  und  Klassenstufen  die  ein- 
malige Befragung  nicht  ausreicht.  Aus  manchen  Gruppen  können  manchmal 
keine  Vorbilder  entnommen  sein,  z.  B.  Verwandte,  Philosophen,  Fürsten, 
Erfinder,  während  in  einem  anderen  Jahre  um  die  Hälfte  und  mehr  Ideale 
aus  einer  Gruppe  gewählt  sein  können,  wie  in  der  1.  Klasse  bei  den  Rubriken 
Lehrer,  Dichtung  und  Sage,  freie  Ideale  und  in  der  2.  Klasse  bei  Dichtern, 
Dichtung  und  Sage,  freie  Ideale.  Die  Schülerindi viduaM täten ,  welche  die 
Klassen  jeweils  zusammensetzen,  können  andere  Gruppenverhältnisse  hervor- 
rufen, der  Unterrichtsstoff  kann  verschieden  weit  gefördert  und  von  Einfluß 
geworden  sein '),  im  Lehrkörper  ist  ein  beeinflussender  Wechsel  von  Lehrern 
möglich,  und  endlich  können  besondere  Zeitereignisse  nachdrücklich  auf  be- 
deutende Persönlichkeiten  hinlenken.  So  müssen  wir  in  letzterer  Beziehung 
darauf  hinweisen,  daß  die  neun  Nennungen  der  Abt.  „Fürsten"  in  der 
1.  Klasse  auf  den  damals  noch  lebenden  in  Bayern  hochverehrten,  allgemein 
geliebten,  ehrwürdigen  Prinzregenten  Luitpold  fielen,  dessen  90 jähriger  Ge- 
burtstag in  größerem  Rahmen  gefeiert  wurde.  In  die  Herzen  der  Mittelschüler 
grub  sich  sein  Andenken  damals  besonders  tief  durch  die  Schaffung  eines 
allgemeinen  Turn-  und  Spielfestes,  mit  dem  Wettkämpfe  unter  den  Mittel- 
und  höheren  Schulen  verbunden  waren.  Auch  das  Jahrhundertgedenken  der 
deutschen  Befreiungskriege  führt  auf  manches  ideale  Vorbild  hin. 

Allgemein  zeigt  sich  also,  daß  eine  einmalige  Befragung  nicht  genügt, 
um  die  charakteristische  Stellungnahme  von  Schülergruppen  zu  erkunden, 
daß  aber  schon  eine  einmalige  Erhebung  in  den  Hauptzügeu  typische  Er- 
gebnisse der  besonderen  Stufen  und  Gruppen  festzuhalten  vermag. 

Nun  wollen  wir  uns  eine  Gesamtübersicht  über  die  Wahl  der  Vorbilder 
in  den  Hauptgruppen  von  den  beiden  Seminarklassen  verschaffen,  wobei  die 
Werte  gleich  in  Prozenten  festgehalten  sind.     (S.  die  Tab.  auf  S.  22  u.  23.) 

(Im  4.  Kriegsjahr  wiu-den  von  27  Vpn.  der  1.  Klasse  11  Bekannten-Ideale, 
7  öffentHche  Personen,  9  freie  Ideale,  keine  aus  Religion  oder  Dichtung 
gewählt  —  von  21  Vpn.  der  2.  Klasse  4  Bekannten-Ideale,  4  öffentUche  Per- 
sonen, 13  freie  Ideale,  2  religiöse  Ideale,  keine  aus  Dichtung.) 

Bei  der  immerhin  kleinen  Zahl  unserer,  Vpn.  lassen  sich  nach  den  geringen 
Zahlendifferenzen  keine  auffallenden  Unterschiede  zwischen  den  gewählten 
Vorbildern  bei  der  1.  und  2  Klasse  feststellen,  und  es  erweckt  fast  den  An- 
schein, daß  für  die  17 — 19  jährigen  die  Altersdifferenzen  sich  nicht  besonders 
geltend  machen,  was  sich  fast  auch  auf  die  Klassendifferenzen  ausdehnen 
ließe.  Doch  dürfte  dies  Ergebnis  nur  hinsichtlich  der  Hauptgruppen  gelten ; 
denn  nach  Tab.  I  zeigen  sich  beim  Aufstieg  zur  2.  Klasse  Vorbilder  aus  den 
historisch-politischen  Persönlichkeiten  (18,4 — 9,4)  in  viel  geringerem  Grade, 
während  Ideale  nach  großen  Erziehern  (0,4—6,1)  und  freie  Ideale  (22,0—24,4) 
mehr  gewählt  wurden.  (Im  4.  Kriegsjahre  ergab  sich  bei  der  2.  Kl.  die 
doppelte  Zahl  von  freien  Idealen.)  Das  allgemeine  Berufs-  und  Menschen- 
ideal ist  aber  bei  der  2.  Klasse  deutlich  mehr  vertreten  als  bei  der  1.  lOasse: 


*)  Der  Versuch  des  1.  Jahres  wurde  im  Januar,  der  des  2.  und  3.  im  Mai  ausgeführt. 


22 


Michael  Kesselring 


nehmen  wir  die  Gruppen:   Lehrer,    Erzieher,   freie  Ideale  zusammen,   so  er- 
gibt sich  ein  Verhältnis  von  33  :  38  O/o. 

Vorbilder  der  Präparanden. 


Klassen 

I 

II 

III 

Zu- 
sammen 

Zahl  der  Vpn 

Keine  Antwort 

11 

15    . 

1 

19 
3 

45 
4 

I.  Bekanntenkreis: 

Eltern 

Verwandte 

Bekannte 

Lehrer  

~ 

1 

— 

—          1      ^ 
1 

n.  Öffentliche  Personen: 
Geschichtliche  Personen  . 

Dichter 

Künstler 

Wissenschaftler    .... 

Erfinder 

Erzieher 

5 
4 

1 

1 

5 
3 
2 

1 

3 
4 

4 
1 
1 
2 

13 
11 

7 
1 
3 
2 

[    37 

III.  Religiöse  Gestalten  .     .     . 

— 

— 

~ 

— 

-- 

IV.  Dichtung  und  Sage     .     . 

— 

1 

1 

2 

2 

V.  Freie  Ideale 

— 

—    1 

1 

■    i 

1 

Wenden  wir  uns  nun  den  Ergebnissen  über  den  Inhalt  der  Ideale  unserer 
Seminaristen  zu,  indem  wir  die  Gruppe  ins  Auge  fassen 

1.  Bekannte  als  Vorbilder. 

Solche  zeigen  sich  in  der  1.  Klasse  mit  17,3  O/o,  in  der  2.  Klasse  mit  20,0  o/o, 
insgesamt  mit  18,4  O/'o  vertreten.  Gegenüber  Rey.  II  (Vergleiche  mit  dieser 
Untersuchung  werden,  wie  auch  mit  allen  übrigen,  nur  mit  dem  Zahlen- 
material der  männlichen  Vpn.  angestellt),  bei  dem  im  höheren  Jugend- 
alter nur  Werte  zwischen  4 — 8^/0,  insgesamt  50/o  Bekannten-Ideale  sich  er- 
geben, zeigt  sich  bei  unseren  Sem.  eine  wesentlich  höhere  Zahl  dieser 
Ideale.  Für  die  Kurve  des  Bekannten-Ideals  in  den  verschiedenen  Lebens- 
jahren, das  bei  Rey.  11^)  aufgestellt  ist,  bedeutet  unser  Ergebnis  für  die 
männliche  Jugend  eine  wertvolle  Ergänzung.  Bis  zum  14.  Lebensjahre  zeigt 
sich  nämlich  bei  allen  Experimenten  eine  starke  Abnahme  dieser  Ideale,  so 
bei  Rey.  (für  männliche  und  weibliche  Vpn.)  von  76  o/o  bis  18  o/o  (20  jährige) 
und  240/0  (25  jährige),  beiGodd.  2)  sowohl  in  Preußen,   New-Yersey,  London, 


»)  a.  a.  0.  S.  17. 


-)  a.  a.  0.  S.  161 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter 


23 


Tab.  1. 


Tabelle  der  gewählten  Vorbilder. 


Klassen 

IL  Sem.- 
Klasse 

L  u.  IL 
Klasse 

Versuchsjahre 

1. 

2. 

3. 

£^ 

«3  CS 

•/o 

1. 

1 

2. 

^  ü 
l| 

"/o 

G 

c 

< 

«/o 

•/o 

I.  Bekanntenkreis: 

Vater 

Mutter 

Verwandte 

Bekannte 

Lehrer  

Mitschüler 

2 

1 

2 

14 
2 

2 
1 
9 

2 

1 
1 
5 
2 

6 
1 
2 
3 

28 
4 

2,3 
0,4 
0,8 
1^ 
11,0 
1.6 

1 

2 

1 

13 

1 

2 

2 
13 

1 

3 

2 

3 

26 

2 

1,7 

1,1 

1.7 

14,4 

1,1 

9 
1 

4 

6 

54 

6 

2,1 
0.2 
0,9 
1.4 
12,4 
1,4 

18,4 

IL  Öffentliche  Personen: 
Geschichte,  eigenes  Land 

„            fremdes 
Dichter,  eigenes  Land 
„        fremdes    „ 

Fürsten 

Philosophen 

Künstler 

Wissenschaft  u.  Forschung 

Technik 

Erziehung 

20 
2 
8 

4 
3 

2 

1 

15 

1 
12 

5 

1 
1 

1 

12 
12 

6 
2 

47 

3 

32 

9 
3 

5 

1 
1 

18,4 

12,5 

3,5 
1^ 
2,7 
2,0 
0,4 
0,4 

9 

2 

16 

1 

2 

7 

8 

7 
1 
2 
2 
3 
4 

4 

17 
2 

23 
2 
2 
2 
5 
4 

11 

9.4 
1,1 
12,7 
1,1 
1,1 
1,1 
2,8 
2,2 

6,1 

64 
5 

55 
2 

11 
5 

12 
9 
1 

12 

14.7 
1,1 
12,7 
0.4 
2,6 
1,1 
2,7 
2,1 
0.2 
2,7 

40.3 

in.  Religiöse  Gestalten: 

Jesus ' 

Biblische  Personen .     .    . 

1 
1 

1 

2 

1 

0,8 
0,4 

1 

i 
1 

2 

1,1 

4 

1 

0,8 
0,2 

}.,o 

IV.  Dichtung  und  Sage 

12 

5 

5 

22     8,6 

11 

7 

18 

10,0 

40 

9,2 

9,2 

V^.  Freie  Ideale 

12 

22 

22 

56  22,0 

15 

1 
29 

44 

24,4 

100 

23,0 

23,0 

Keine  Antwort 

7 

5 

10 

221  8,6     7 

' 

12 

6,7 

34 

7,8 

7.8 

Gesamtzahl  der  Schüler 

92 

82 

81 

255 

— 

89 

91 

180 

— 

t35 

1 

— 

Kleissifizierung 

KlEissen 

Gesamt- 

1     !      2 

werte 

I.  Bekannte 

17,3«  j  20,0 

18,4 

IL  Öffentliche  Personen    .     . 

42,3 

37,6 

40,3 

III.  Aus  der  Dichtung   .     .     . 

8,6 

10,0 

9,2 

IV.  Religion 

1.2 

1,1 

1.0 

V.  Freie  Ideale 

22,0 

24,4 

23,0 

VI.  Keine  Antwort    .... 

8,6 

6,7 

7,8 

24  Michael  Kesselring 


Minnesota,  New  Castle  abnehmend  von  66^/0  bis  zu  36  O/o  bzw.  6  0/0  als 
niedrigstem,  beiRi. i)  von  50  0/0  (9 — löjährige)  sinkend  bis  13  0/0  (14jährige). 
Für  das  14. — 16.  Lebensjahr  liegt  noch  keine  ausreichende  Untersuchung 
vor  außer  unserem  geringwertigen  Anhaltspunkt  der  Befragung  der  Präp., 
wobei  von  45  Vpn.  nur  1  Bekannten-Ideal  genannt  wurde,  und  zwei  kleinere 
Umfragen  vom  Verf.  in  einer  Mädchenfortbildungsklasse,  wo  23  Vpn.  kein 
Bekannten-Ideal  brachten,  und  einer  ländlichen  Fortbildungsschule,  w^o  bei 
beiden  Geschlechtern  (zusammen  34  Vpn.)  auch  kein  Bekannten-Ideal  her- 
vortrat. Dies  legt  uns  die  Vermutung  nahe,  daß  die  Kurve  des  Bekannten- 
ideals vom  11.  Lebensjahre  fallende  Tendenz  zeigt,  zwischen  dem  14.  bis 
16.  Jahre  ihren  Tiefstand  erreicht  und  dann  wieder  schv/ach  aufsteigende 
Richtung  gewinnt. 

a)  Eltern -Ideale.  Als  Vorbild  erfolgt  die  Wahl  der  Eltern  anderen  Gruppen 
gegenüber  seltener.  Von  den  10  Fällen,  wo  von  435  Vpn.  direkt  Eltern  als  Vorbild 
genannt  sind,  wird  der  Vater  9  mal,  die  Mutter  1  mal  genannt.  Bei  den 
selbstgeschaffenen  Idealen  spielt  allerdings  das  Vatervorbild  in  bestimmten 
Einzelzügen  mit  herein,  welcher  Einfluß  jedoch  in  der  Personentabelle  zahlen- 
mäßig nicht  weiter  zum  Ausdruck  kommt.  Bei  Rey.  II  finden  wir  Eltern- 
ideale nur  in  2  O/o  der  Fälle  bei  den  männlichen  Vpn.  (bei  weiblichen  da- 
gegen 140/0),  so  daß  die  nordische  und  unsere  deutsche  Untersuchung  bezüglich 
des  idealbildenden  Einflusses  der  Eltern  übereinstimmende  Ergebnisse  zeigen : 
dort  20/0  und  hier  2,3  O/o.  Für  Rey.s  II  Vermutung  2),  daß  der  Einfluß 
früherer  Generationen,  wie  Großvater  und  Großmutter  für  die  Wahl  besonders 
auffallen,  bieten  sich  bei  uns  keine  Belege;  denn  auch  die  Verwandtenvor- 
bilder beziehen  sich  auf  Vetter  und  Onkel.  Schülerzeugnisse,  die  das  Vater- 
vorbild begründen,  muß  man  wiederholt  mit  wärmerer  Anteilnahme  lesen, 
wenn  die  Liebe  und  die  Achtung  des  Sohnes  hervorleuchten.  So  deutet  ein 
Schüler  an: 

„Durch  Fleiß  schuf  er  sich  eine  gute  Existenz;  innige  Liebe  und 
Fürsorge  für  uns  alle";  und  ein  anderer  berichtet:  „.  .  .  durch  unermüdliches 
Schaffen  zu  etwas  gebracht.  Gegen  die  Seinen  zeigt  er  Liebe;  noch  nie 
vernahm  ich  ein  böses  Wort  aus  seinem  Munde.  Seine  Kinder  macht  er, 
obwohl  ich  ihm  selbst  schon  manchen  Kummer  bereitet  habe,  wenig  Vor- 
würfe; er  verzeiht.  Mit  echt  väterlicher  Sorge  überwachte  er  unsere  Jugend, 
ist  besorgt  für  unser  Wohlergehen.  Er  tut  alles  für  andere,  für  sich  nichts! 
Man  schätzt  ihn  in  der  Gesellschaft  und  oft  kommen  Leute  zu  ihm  und  ver- 
trauen ihm  ihr  Leid  und  erbitten  Rat." 

b)  Mitschüler  und  Freunde  als  Vorbilder.  Als  Quelle  für  Ideale 
kommen  solche  Bekannte  wenig  in  Betracht,  in  der  1.  Klasse  1,6  O/o,  in  der 
2.  nur  1,1  0/0.  Auch  bei  Rey.  II  finden  sich  nur  2  0/0  Bekanntenideale, 
worunter  also  die  Mitschüler  sich  befinden  müßten.  Mit  echten  Busen- 
freundschaften, die  zur  Nachahmung  des  Freundes  führen,  ist  also  bei  den 
männlichen  Jugendlichen  kaum  zu  rechnen.  Für  weibliche  Vpn.  ergab  sich 
bei  Rey.  11^)  die  hohe  Zahl  von  15  0/0  für  den  idealbildenden  Wert  dieser 
Gruppe,  welcher  Umstand  für  die  Mädchenerziehung  Beachtung  verlangt  und 
auf  Kultivieren  solcher  Beziehungen  hindeuten  mag. 

In  den  Begründungen  für  solche  Ideale  finden  sich  folgende  Eigenschaften 


a.  a.  O.  S,  257.  *)  a.  a.  0.  S.  18.  ^)  a.  a.  0.  S.  18. 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  25 

herausgehoben:  An  Wollen  und  Körper  ein  starker  Mensch;  wenn  er  spricht, 
hat  es  Gehalt;  nicht  eitel,  immer  einfach  und  sauber;  viel  Freude  an  der 
Natur  —  sein  Eifer  überträgt  sich  auf  mich;  wird  erst  beruhigt,  wenn  ich 
den  gleichen  Standpunkt  habe  und  auf  der  Höhe  bin  —  Mensch,  der  nach 
einer  idealen  Anschauung  lebt  und  in  der  Erinnerung  der  meisten  Schüler 
gerne  behalten  wird  —  keine  Gebundenheit  an  den  Stoff  und  viele  Freiheit; 
aber  doch  geht  ihm  PfhchterfüUung  vor  und  ein  fester  Charakter  lebt 
in  ihm. 

c)  Lehrer  als  Vorbilder.  Gegenüber  Rey.  II,  wo  nur  1  o/o  Knaben  und 
2,5  o/o  Mädchen  Lehrerideale  auftraten,  zeigt  sich  bei  uns  ein  wesentlich  höherer 
Prozentsatz,  für  die  1.  Klasse  11,0  o  o,  für  die  2.  14,4  O'o.  Verf.  hätte  den  ideal- 
bildenden Einfluß  der  Lehrerpersönlichkeiten  nicht  so  hoch  zu  veransclilagen 
gewagt.  Doch  schon  bei  seinen  Untersuchungen  über  die  Beliebtheit  der  Unter- 
richtsfächer 1)  fiel  es  auf,  daß  besonders  für  die  Unbeliebtheit  die  Lehrerper- 
sönlichkeit von  ziemlichem  Rückschlag  sein  kann.  Diesmal  zeigt  sich  nun 
der  Einfluß  in  positivem  Sinne  als  ein  erfreulicher,  zumal  die  letzte  Klasse 
mehr  Lehrervorbilder  als  die  1.  Klasse  aufweist.  Bei  dem  Kontrollversuch 
in  einem  Kriegs] ahr  ergaben  sich  in  der  1.  Klasse  bei  27  Vpn.  6  Lehrer- 
ideale, in  der  2.  lüasse  von  21  Vpn.  3.  Eine  kleine  Steigerung  hätte 
unsere  Gesamtzahl  noch  erfahren,  wenn  auch  die  verschiedenen  Lehrer,  die 
neben  anderen  Persönlichkeiten  Züge  zum  freien  Ideal  liehen,  hierzu  rubri- 
ziert wärer..  Jedenfalls  bilden  die  Lehrer  oft  den  Typus  für  das  eigene 
Berufsideal,  das  sich  die  Sem.  schaffen,  öder  bilden  den  konkreten  Ausgangs- 
punkt für  das  im  Gemüt  verankerte  Lehrerideal.  Sachlich  gerichtete  Lehrer- 
gestalten mit  überragender  intellektueller  oder  künstlerischer  Autorität  ge- 
winnen meist  den  stärksten  Einfluß  auf  die  Schülerseele,  am  meisten  eine 
geschlossene  Persönlichkeit  mit  „körperlich-geistig-sitthcher  Harmonie".  In 
dem  geschlossenen  Anstaltscharakter  unserer  Lehrerbildungsanstalten  mit 
teilweisem  In'ernatsbetrieb  scheint  uns  ein  Hauptfaktor  vorzuliegen  für  die 
häufigere  Wahl  von  den  gegenwärtigen  Lehrern,  weil  hier  zwischen  Lehrern 
und  Schülern  mehr  persönhche  Berührungspunkte  gegeben  sind  und  ein 
Geist  der  Arbeitsgemeinschaft  leichter  herrschend  wird  und  erziehhche  Be- 
deutung gewinnen  kann. 

Von  den  54  Nennungen  der  Lehrerideale  entfallen  23  auf  frühere  und 
31  auf  Anstaltslehrer.  Unter  den  früheren  Leiu-ern  gewannen  bleibenden 
Einfluß  in  2  Fällen  der  1.  Lehrer  der  Knabenzeit,  20  mal  sonstige  VoUcs- 
schullehrer,  1  mal  ein  Rektor  einer  höheren  Schule;  von  den  damaligen 
Anstaltslehrern  wurden  7  ohne  Namen  angegeben,  24  namentlich  aufge- 
zeichnet, darunter  eine  Lehrkraft  allein  13  mal.  Hinsichtlich  früherer  Lehrer- 
persönlichkeiten möge  in  StlchworLen  folgendes  aus  den  Charakterisierungen 
herausgehoben  sein: 

Strafe  und  Lob  so,  daß  jeder  wußte  warum;  gleichmäßige  gerechte  Behand- 
lung —  Lebensfreude  und  Humor  —  Gerechtigkeit  und  Liebe,  verabscheute 
Anzeigerei  —  sicheres  Auftreten,  unnachsichtige  Strenge,  gerechtes  Wesen, 
pädagogische  Fertigkeit  —  lebhafter  Unterricht;  man  mußte  Freude  am  Lernen 
gewinnen  —  Willenskraft,  Abstinenzler  —  freundlicher,  offener  Charakter; 
fesselt  durch  seinen  Umgang:  weiß  über  alles  Auskunft  zu  geben;  bewandert 

•)  Deutsche  Psychologie  Bd.  I  und  D. 


26  Michael  Kesselring 


in  Musik  und  Kunstgeschichte ;  betrachtet  alles  tief  von  der  religiösen  Seite  — 
alter  Lehrer,  schon  60  Jahre  im  Dienst;  alle  seine  Schüler  hängen  mit  Liebe 
an  ihm  —  tüchtiger  strebensvoller  Mann  und  auf  das  Wohl  der  Schule  bedacht  — 
Klarheit  der  Unterrichtsweise,  Pfhcht-  und  Rechtsgefühl  —  erfahren,  freund- 
lich, gerecht,  beliebt  —  tüchtig  im  Beruf,  unabhängig,  politisch  tätig  —  tiefer 
Eindruck  aller  seiner  Worte  und  auch  schon  seiner  Erscheinung;  denn  sein 
Grundsatz:  Je  weniger  man  genießt,  desto  unabhängiger  wird  man.  — 

Warum  Ideale  aus  dem  Lehrkörper  der  Schule  gewählt  werden,  mögen 
folgende  Zeugnisse  kundtun: 

FreundHchkeit,  umfangreiches  Wissen,  Selbständigkeit  —  gerecht,  beliebt, 
zu  Scherz  aufgelegt;  gewandt  im  Unterricht  —  harmonischer  Mensch  — 
höflich  und  fleißig;  große  Wahrheits-  und  Gerechtigkeitsliebe  —  gibt  klaren, 
leichtverständlichen  Unterricht;  hält  zu  gründlichem  Studium  an;  Benehmen 
gegeu  die  Schüler  —  musikalische  Begabung  und  großes  Wissen;  Liebe  und 
Güte  zu  Schülern  —  (Religionslehrer):  riesige  Geschichtskenntnis,  nicht  nur 
in  Religion;  sein  Wissen  auf  allen  Gebieten  muß  man  anstaunen;  prahlt  nicht 
mit  seinem  Wissen;  bei  den  Schülern  großer  Respekt  und  keiner  wagt  un- 
vorbereitet zu  kommen  (!). 

Die  Begründungen,  warum  die  eine  Lehrerpersönlichkeit  so  oft  genannt 
wurde,  lesen  sich  zusammen  wie  ein  ehrender,  unbewußt  gegebener  Nachruf 
auf  den  leider  durch  Kriegsstrapazen  viel  zu  früh  Vollendeten:  anziehendes 
Wesen,  praktische  Gelehrsamkeit  —  feiner  Unterricht,  der  vom  früheren 
so  gut  absticht  —  gute  Methode,  ausgezeichnete  Schülerkenntnis  — 
Theorie  und  Praxis  stimmen  überein;  schlägt  nicht  den  Schulton  an  —  be- 
handelt alles  vernünftig;  gewährt  Freiheit  in  Denken  und  Vortrag  —  Kinder- 
freund,  richtige  Schülerbehandlung,  gute  Lehrmethode  —  kann  etwas  aus 
einem  machen  —  unser  Freund  und  Führer;  gerechter  Lehrer;  große  Auto- 
rität —  kennt  seine  Schüler,  ist  offen  und  ehrhch  gegen  alle;  großes  Wissen; 
treibt  Sport;  kann  sich  auch  mit  dem  Geringsten  unterhalten  —  intensive 
Beschäftigung  mit  seiner  Wissenschaft;  Körperpflege,  humanes  Wesen  —  ist 
eben  das  Ideal  eines  Erziehers  und  Lehrers. 

Interessieren  wird  schließlich  noch  der  Hinweis,  daß  besonders  Lehrer, 
welche  in  künstlerischen  Fertigkeiten  (hier  besonders  Musik)  unterrichten, 
mehr  persönlichen  Einfluß  besitzen  können   als  Lehrkräfte  anderer  Sparten. 

2.  öffentUche  Persönlichkeiten. 

Aus  dieser  Gruppe  wählen  unsere  Sem.  40  o/o  ihrer  Vorbilder,  gegenüber 
18  0/0  Bekannten-Idealen.  Der  idealbildende  Einfluß  öffentlicher  Persönlich- 
keiten dürfte  danach  bei  den  Jugendlichen  ein  weit  größerer  sein  als  der 
von  Personen  des  direkten  Bekanntenkreises. 

Es  reizt  natüriich  wieder,  die  Ergebnisse  von  Rey.  II  mit  den  unsrlgen 
in  Parallele  zu  setzen.  Doch  ist  dabei  nicht  ohne  weiteres  das  Zahlen- 
material zu  vergleichen,  da  Rey.  II  in  der  Personentabelle  bei  der  prozentualen 
Berechnung  nur  die  Anzahl  der  Beantwortungen  in  Betracht  zog  und  die 
Gruppe  der  Nichtbeantwortungen  wegfallen  ließ,  ein  Verfahren,  das  sich 
rechtfertigen  läßt.  Für  unsere;;Untersuchung  stellen  sich  dann  für  Vergleiche 
folgende  Prozentwerte  heraus-"  I.  Bekannte  =  20 O/o,  II.  öffentliche  Persön- 
lichkeiten =  440/0,  m.  Religiöse  Gestalten  =  iV^^^/o,  IV.  Dichtung  =  10  0/0, 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  27 

V.  Freie  Ideale  =  25  o/o.  Nun  ergibt  sich  bei  Rey.  II  ein  Verhältnis  von 
95  o/o  öffentlichen  Personen  gegenüber  5  ^  o  Bekannten,  wogegen  sich  bei 
uns  nur  ein  Verhältnis  von  44  0;o  zu  200,0  erblicken  läßt.  Rey.  11  hat  jedoch 
unter  der  Gruppe  „Öffentliche  Personen  sonstiger  Art"  auch  die  Ideale  nach 
rehgiösen  Gestalten  und  aus  der  Dichtung  hinzugenommen,  so  daß  sich  für 
uns  ein  Wert  von  55  O'o  für  die  „öffentlichen  Persönlichkeiten"  herausstellt, 
der  sich  noch  vergrößert  bei  Einbeziehung  unserer  freien  Ideale  auf  80  0/c. 
Da  sich  die  freien  Ideale  im  Anschluß  an  Persönlichkeiten  aus  der  Geschichte, 
der  Dichtung,  der  Religion  und  großen  Männer  der  verschiedensten  Kultur- 
gebiete (allerdings  auch  Bekannten)  zusammensetzen,  können  wir  sie  auch 
in  die  Hauptgruppe  der  öffentMchen  Personen  mit  einigem  Rechte  einstellen. 
Sonach  wäre  das  Verhältnis  der  idealbildenden  Wirkung  von  Bekannten  zu 
öffenthchen  Personen  wie  1  :  4  (bei  unseren  Vpn.  in  jenen  Jahren  unter 
den  damaligen  Umständen),  während  sich  bei  Rey.  das  von  1  :  19  gegen- 
überstellt. Bei  Betrachtung  der  Bekannten-Ideale  wurde  der  das  Verhältnis 
verschiebende  Faktor  der  Lehrerideale  schon  erkannt. 

Bei  den  Volksschulknaben,  welche  Goddard  untersuchte,  stehen  sich 
hinsichtUch  der  Ideale  von  Bekannten  und  öffentlichen  Personen  47  O/o  und 
350/0  gegenüber,  bei  Hinzunahme  der  Gruppen  Religion,  lebende  Deutsche, 
Dichtung  die  Werte  47  und  67,  also  ein  Verhältnis  wie  2  :  3  etwa.  Nach 
den  Ergebnissen  Richters  in  Sachsen  stehen  sich  für  Bekanntenkreis  und 
öffentliche  Personen  25 0/0  und  41  0,0  gegenüber;  wenn  Ideale  aus  Rehgion 
und  Dichtung  dazukommen:  25 Oo  und  57 0,0,  also  etwa  das  Verhältnis 
5  :  11.  Für  Rey.  I  zeigt  sich  ein  Verhältnis  von  48  0/0  zu  47  0/0,  also  1  :  1, 
wonach  also  bei  den  deutschen  Volksschülem  die  öffentlichen  Persönlich- 
keiten von  weit  größerem  Einfluß  auf  ihre  Ideale  sind  als  bei  den  nor- 
wegischen. Mit  dem  zunehmenden  Alter  tritt  in  allen  Untersuchungen  eine 
Zunahme  der  idealbildenden  Kraft  der  öffentlichen  Persönlichkeiten  hervor, 
so  daß  also  ein  Fortschreiten  von  engeren  zu  weiteren  Idealen,  von  persön- 
lichen zu  abstrakten  Autoritäten,  von  alltäglichen  zu  historisch  allgemein 
anerkannten  Vorbildern  festzustellen  ist.  Im  höheren  Jugendalter  tritt  end- 
lich zu  den  enger  umgrenzten  Persönlichkeiten  das  selbstgeschaute  und 
selbstgestaltete  freie  Ideal  als  ein  allgemeines  Humanitätsideal.  Für  das 
Jugendalter  von  14 — 16  Jahren  liegen  noch  keine  Erkundungen  über  unser 
Gebiet  vor,  doch  scheint  es  nicht  ausgeschlossen,  daß  in  diesen  Jahren  der 
Einfluß  der  öffentlichen  Persönhchkeiten  als  Quelle  für  die  Ideale  seinen 
Höhepunkt  erreicht,  um  im  höheren  Jugendalter  wieder  etwas  zurückzugehen. 
Die  Kurve  dieser  Entwicklung  dürfte  sonach  ansteigen  bis  zum  14. — 16.  Lebens- 
jahre und  dann  etwas  fallende  Tendenz  zeigen.  Freilich  sprechen  die  Er- 
gebnisse Rey.  lU)  bezüglich  der  Seminaristen  gar  nicht  dafür,  während  die 
unsrigen  wenigstens  drängen,  auf  diese  vermutliche  Entwicklungskurve  hin- 
zuweisen. Die  Volksschüler  im  14.  Lebensjahre  wählen  öffentliche  Personen 
zu  Vorbildern  bei  Goddard  -)  in  Preußen  53  0/0,  in  den  Vereinigten  Staaten  ^) 
bis  84  0/0,  bei  Richter^)  61  0/0  (13jährige  93  o/o),  bei  Rey.  P)  54  0/0  (15jährige 
=  66  0/0)  mit  Einrechnung  von  Dichtung,  Religion,  anderer  Art  jedoch  76  0/0 
(15  jährige  =  88  0/0),  und  beim  Material  unserer  Präparanden  ist  es  immer- 

')  a.  a.  O.  S.   15,  Tabelle.  =*)  a.  a.  O.  S.  160,  TabeUe  I,  ^  a.  a.  O.  S.  162,  Fig.  2. 

*)  a.  a.  0.  S.  255,  Tabelle  I.  »)  a.  a.  O.  S.  231. 


28  Michael  Kesselring 


hin  auffallend,    daß  von    41   Beantwortungen    39  Ideale    nach    öffentlichen 
Persönlichkeiten  gewählt  sind. 

a)  Geschichte  des  eigenen  Landes.  Von  den  Vorbildern  nach 
öffentlichen  Persönlichkeiten  entfallen  die  meisten  Nennungen  auf  diese 
Gruppe,  nämlich  20^/0  in  der  1.  Klasse  und  10  o/o  in  der  2.,  IG^/o  also  für 
all  unsere  Vpn.  Bei  Key.  II  treffen  auf  diese  Gruppe  9  o/o,  so  daß  bei  ihm 
die  geschichtlichen  Größen  weit  hinter  die  Vorbilder  nach  Dichtern  des 
norwegischen  Landes  zurücktreten  müssen.  Unsere  Sem.  wählten  die 
Deutschen  der  Vergangenheit,  darunter  weniger  die  kriegerisch  Gewaltigen 
als  mehr  die  Männer,  welche  politisch-soziale  Höhepunkte  bedeuten  und  in 
deren  Lebensführung  und  Lebensarbeit  gewaltige  Persönlichkeits-  und  Charakter- 
werte enthalten  sind.  Bismarck  und  Friedrich  der  Große  stehen  in  der 
nachahmenden  Würdigung  obenan,  dann  folgen  Luther,  Moltke,  Blücher, 
Karl  der  Große.  Die  1.  Klasse  erwählt  sich  Bismarck  17  mal,  die  2.  3  mal 
zum  Vorbild.  Friedrich  der  Große  wird  von  der  1.  Klasse  13  mal,  von  der 
2.  5  mal  genannt,  Luther  dort  4 mal,  hier  2  mal,  Moltke  dort  3  mal,  hier 
1  mal,  Blücher  wird  im  ganzen  2  mal  genannt.  Je  1  Stimme  erhalten 
Karl  der  Große,  Ludwig  I.  von  Bayern,  York,  Körner,  Ziethen.  Auffallen  muß 
dabei,  daß  geschichtliche  Persönlichkeiten  idealbildend  wirken,  die  besonders 
in  der  1.  Klasse  im  Geschichtsunterricht  gar  nicht  zur  Behandlung  standen, 
ein  Beweis  dafür,  wie  nachhaltig  früherer  Unterricht  gewirkt  haben  kann 
oder  wie  sehr  durch  eigene  Lektüre  das  Vorbild  großer  Männer  sich  in 
die  jugendlichen  Seelen  eingräbt,  ganz  abgesehen  vom  Fortwirken  ihrer  Ge- 
stalten im  nationalen  Bewußtsein  des  Volkes  überhaupt. 

Während  bei  uns  nur  historisch  gewordene  Persönlichkeiten  als  Vorbilder 
auftreten,  muß  Key.  II  ausdrücklich  betonen,  daß  häufig  große  lebende  Nor- 
weger, darunter  Minister  und  radikale  Politiker,  als  Idealbilder  vorschweben. 
Da  seine  Vpn.  in  der  Hauptsache  mehrere  Jahre  älter  als  die  unsrigen  sind, 
läßt  sich  diese  Erscheinung  einigermaßen  begreifen.  Als  wichtigstes  er- 
klärendes Moment  tritt  allerdings  die  Eigenart  der  norwegischen  Verfassung 
hinzu,  die  den  engsten  Zusammenhang  innerhalb  des  Familien-,  Gemeinde-, 
öffentlichen  Lebens  mit  der  Verwaltung  des  Königreiches  hergestellt  hat. 
Die  Altersstufen,  welche  Key.  11.  untersucht  hat,  stehen  schon  in  näherer 
Beziehung  mit  dem  politischen  Leben  des  Landes,  wobei  noch  der  junge 
Bestand  des  Reiches  interessefördernd  wirken  kann  und  endlich  die  Neu- 
einführung des  allgemeinen  staatsbürgerlichen  und  kommunalen  Stimmrechts 
der  Frauen  eine  stärker  betonte  Fühlungnahme  bedingt.  Wie  fern  stehen 
nach  unserem  Experiment  die  deutschen  Besucher  höherer  Schulen  dem 
politischen  Getriebe,  worin  vielleicht  nach  wie  vor  kein  Nachteil  unseres 
Bildungsganges  zu  erblicken  sein  dürfte! 

b)  Persönlichkeiten  fremder  Geschichte.  Solche  sind  unter  den 
Vorbildern  mit  1^/4  ^/o  vertreten.  In  der  1.  Klasse  tritt  Karl  XII.  1  mal  auf 
(begründet :  Mut,  Entschlossenheit,  eiserner  Wille,  ungeheuere  Ausdauer),  Na- 
poleon I.  2  mal ;  letzterer  ebenso  oft  in  der  2.  Klasse.  Aus  diesen  wenigen 
Anleihen  in  fremder  Landesgeschichte  ersehen  wir  den  großen  Reichtum 
der  deutschen  Geschichte  an  vorbildlichen  Stoffen,  besonders  im  Hinblick 
auch  auf  Rey.s  Untersuchung,  bei  welcher  20^/0  der  norwegischen  Schüler 
ihre  Idealpersonen  in  ausländischer  Geschichte  suchen.  Dazu  stehen  die 
genannten  »Ausländer"  in  engster  Verknüpfung  mit  den  Geschicken  unseres 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  29 

Vaterlandes  und  sind  besonders  durch  ihre  formalen  Willenseigenschaften 
von  beeinflussender  Wirkung.  Allerdings  ersehen  wir  beim  Vergleich  mit 
Rey.,  wo  z.  B.  Sokrates,  Washington,  Cäsar,  Gladstone,  Lincoln,  Demosthenes 
aufgeführt  sind,  daß  bei  uns  manche  Charakterköpfe  fremder  Geschichte 
kaum  nähere  Beleuchtung  finden. 

c)  Dichter  eigenen  Landes.  In  unseren  beiden  Seminarklassen  ist  der 
Prozentsatz  für  die  Wahl  von  deutschen  Dichtern  der  gleiche:  13,70/o,  womit 
von  den  öffenthchen  Personen  die  Dichter  an  idealbildender  Kraft  unmittel- 
bar hinter  den  historisch-politischen  Persönlichkeiten  stehen.  Goethe  erfährt 
in  der  1.  Klasse  15,  in  der  2.  6  Nennungen,  Schiller  tritt  in  der  1.  Klasse 
8  mal,  in  der  2.  5  mal  auf,  Körner  in  der  1.  Klasse  und  2.  Klasse  je  5  mal. 
Die  1.  Klasse  erwähnte  noch  F.  Dahn  2mal,  0.  Ernst  Imal,  und  Imal  klingt 
die  Sehnsucht  durch,  ein  Schriftsteller  für  die  Heimat  werden  zu  können 
wie  etwa  Rosegger  und  der  Pfälzer  A.  Becker.  Welchen  Einfluß  behandelter 
Unterrichtsstoff  aus  der  Literaturgeschichte  gewinnen  kann,  beweist  der  Um- 
stand, daß  in  der  2.  Klasse  folgende  Dichter  neu  genannt  werden:  Lessing  4mal, 
Freiheitsdichter  Imal,  Hebbel  Imal.  Goethe  und  Schiller  sehen  wir  in  der 
1.  Klasse  öfter  zu  Vorbildern  erw'ählt,  obwohl  sie  im  Literaturunterricht  noch 
nicht  aufgetreten  waren,  nur  bei  der  Klassenlektüre  von  Werken  dieser 
Dichter.  Gegenwärtig  lebende  Dichter  scheinen  unseren  Vpn.  noch  ziemlich 
fremd  zu  sein  und  können  ihnen  wohl  auch  ganz  ferne  gehalten  werden 
durch  die  intensive  Beschäftigung  mit  den  Schulstoffen.  Zugleich  aber  zeigt 
sich  damit,  in  welch  hohem  Grade  unsere  großen  Klassiker  die  Jugend  immer 
wieder  in  ihren  Bannkreis  schlagen  und  die  Wahrheit  eines  Ausspruches 
C.  Flaischlens  damit  bestätigen:  „Alte  Fragen  aus  alten  Tagen  —  und  längst 
erledigt  wie  sie  sagen;  jede  neue  Jugend  aber  wird  sich  immer  wieder  durch 
sie  durchzukämpfen  haben." 

Die  norwegischen  Seminaristen  wählen  mehr  als  die  2fache  Zahl  unserer 
Vpn.  heimische  Dichter  zu  Vorbildern;  gegenüber  den  31  o/o  bei  Rey.  II  treten 
unsere  13,7  o/o  ziemlich  zurück.  Dabei  gelten  bei  Rey.  II  lebende,  z.  Z.  noch 
umsh-ittene  Schriftsteller  als  Ideale,  was  nach  Rey.  mit  den  nationalen  und 
sozialen  Verdiensten  eines  Wergeland,  Björnson  aufs  engste  zusammenhängt. 
Es  muß  also  bei  Rey.  II  manchmal  zweifelhaft  sein,  ob  große  heimische 
Dichter  wegen  ihrer  national-politischen  Bedeutung  oder  ihrem  Künstlertume 
zuliebe  als  Vorbilder  genommen  wurden. 

d)  Fremde  Dichter.  Die  Zahl  derselben  ist  bei  uns  kaum  nennenswert; 
denn  die  in  dieser  Gruppe  verzeichneten  Lenau  2mal,  Stifter  und  Grillparzer 
sind  kerndeutsche  Dichter,  und  auch  der  Imal  genannte  Shakespeare  kann 
nicht  als  Ausländer  gelten.  Fast  möchte  es  scheinen,  daß  unsere  Seminaristen 
wenig  läsen,  besonders  Werke  fremder  Dichter;  eine  ergänzende  Umfrage 
in  dieser  Richtung  über  behebte  Lektüre  und  Schriftsteller  förderte  aber  die 
Kenntnis  anderer  Literatur  in  vielfacher  Richtung  zutage.  (Z.  B.  G.  Keller, 
Storm,  Mörike,  Freytag,  R.  Wagner,  Sudermann,  Herzog,  Frenssen,  P.  Keller, 
E.  Strauß,  Ganghofer,  Ibsen,  Shakespeare.) 

Bei  Rey.  11  finden  sich  4  O/o  Dichtervorbilder  nach  ausländischen  Mustern, 
darunter  z.  B.  Homer,  Tolstoi,  Goethe.  Die  älteren  Vpn.  Rey.s  werden  über- 
haupt über  eine  größere  Belesenheit  verfügen  als  unsere  18 — 20jährigen. 

e)  Fürsten.  Solche  wm-den  bei  uns  in  3 O/o  der  Fälle  als  Ideale  hingestellt, 
in  der  1.  Klasse  mit  9,  in  der  2.  Klasse  mit  2  Nennungen.  Prinzregent  Luitpold 


30  Michael  Kesaelring 


von  Bayern  vereinigte  10  Stimmen  auf  sich  (sieh.  Bem.  S.  18!),  der  deutsche 
Kronprinz  Wilhelm  tritt  1  mal  auf  wegen  „Sportsliebe  und  Volkstümlichkeit". 
Bei  Rey.  II  finden  wir  Ideale  nach  lebenden  Fürsten  überhaupt  nicht  vor. 

f)  Philosophen.  Sie  finden  sich  nur  mit  II/4O/0  vor:  Nietzsche  und  Schopen- 
hauer zusammen  genannt  2  mal,  Schopenhauer  allein  Imal,  Kant  Imal.  Rey.  IT 
brauchte  diese  Gruppe  nicht  aufzustellen. 

g)  Künstler.  Bei  3 0/0  unserer  Vpn.  treten  uns  Künstlervorbilder  entgegen, 
nämlich  7  Nennungen  in  der  1.,  5  in  der  2.  Klasse.  Beethoven  wurde  3mal 
zum  Ideal  erwählt;  alle  übrigen  fanden  nur  1  Nennung:  Bach,  Reger,  Rieh. 
Wagner,  Dürer,  Kainz,  ein  Musiklehrer,  ein  Violin-,  ein  Klavier-,  ein  „Musik"- 
Künstler.     Rey.  II  hat  ungefähr  den  gleichen  Zahlenwert  für  diese  Gruppe. 

h)  Wissenschaft  und  Forschung,  Technik.  Rey.s  und  unsere  Seminaristen 
wählen  aus  dieser  Gruppe  in  gleich  geringer  Zahl  ihre  Musterbilder,  2^/0  und 
2^/40/0.  Als  Personen  finden  sich  Kolumbus,  Liebig,  Hedin;  einige  Male  heißt 
es  allgemein  „ein  Naturforscher".  Als  Vertreter  der  Technik  wäre  Zeppelin 
mit  1  mal.  Nennung  hierherzustellen. 

i)  Große  Erzieher.  Beide  Klassen  griffen  dabei  nach  Pestalozzi  8 mal, 
Comenius  2 mal,  Rousseau  Imal,  so  daß  zusammen  3^/0  unserer  Vpn.  großen 
Pädagogen  nacheifern  wollen.  Rey.  II  hat  den  Wert  von  6^/0  für  diese 
Gruppe,  wobei  auch  2  lebende  norwegische  Schulmänner  zu  Idealen  dienen. 
Von  deutlichem  Einfluß  zeigt  sich  bei  unserer  2.  Klasse  der  Wert  des  Unter- 
richts in  Geschichte  der  Pädagogik  und  pädagogischer  Lektüre;  denn  den 
11  Nennungen  großer  Erzieher  steht  bei  der  1.  Klasse  nur  eine  gegenüber. 

3.  Ideale  aus  Dichtung  und  Sage. 

Bei  Rey.  11  sind  Personen  der  Dichtung,  welche  idealbildend  gewirkt  haben, 
leider  nicht  festgehalten  oder  es  müßte  der  Wert  von  l^/o  sowohl  bei  M, 
als  Fr.i)  der  dafür  genügende  sein.  Dann  wäre  bei  unserer  Untersuchung  die 
Dichtung  eine  weitaus  wichtigere  Quelle  für  Ideale;  stammen  doch  10 0/0  der 
Ideale  aus  derselben!  Der  Einfluß  der  freien  Lektüre  ist  dabei  bedeutend 
und  es  zeigt  sich,  welche  Sorgfalt  den  SchülerbibUotheken  angedeihen  muß. 
Die  Gestalt  des  Helmut  Harringa  aus  dem  gleichnamigen  Romane  Poperts  im 
Dürerbundverlag  wird  am  meisten  als  ideales  Vorbild  gewählt  (7  mal),  dann 
folgen  die  Freunde  aus  „Ernst  von  Schwaben"  (4mal),  Tellheim  (3 mal),  Hermann 
^aus  „Hermann  und  Dorothea"  (2  mal),  Siegfried  (2  mal),  Markus  Paltram  aus 
Heers  „König  der  Bernina"  (2  mal).  Von  übrigen  Gestalten  seien  noch  hervor- 
gehoben: Gotenfürsten,  Attinghausen,  Max  Piccolomini,  Moros,  Teil,  Anton 
aus  „Soll  und  Haben",  Jürg  Jenatsch,  Fehx  Notvest,  Nettenmeier,  Gottfried 
Kämpfer,  Hauslehrer  in  „Oberhn",  Einsiedler  in  Herzogs  „Burgkinder"  usw. 

4.  Religiöse  Gestalten. 

Religiöse  Charaktere  zeigen  sich  mit  dem  Werte  von  1^/4  Oo  bei  unseren 
Vpn.  von  geringem  Einfluß  als  idealbildender  Quelle.  Allerdings  rechneten 
wir  Luther  unter  die  geschichtUchen  Persönlichkeiten,  wozu  uns  die  Begrün- 
dungen drängten.  Nehmen  wir  seine  Gestalt  in  diese  Gruppe  herein,  so 
kommen  wir  doch  über  30/0  nicht  hinaus.     Jesus  ist  4 mal  zum  Vorbild  er- 

»)  A.  a.  0.  s.  21. 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  31 

koren,  Jonathan  1  mal.  Von  den  Motivierungen  für  die  Wahl  Jesu  seien  an- 
geführt: Er  war  der  Gewaltigste  und  Größte  inbezug  auf  Selbstbeherrschung; 
hervorstechend  sind  noch  seine  Bescheidenheit,  Friedfertigkeit,  VerzeihUchkeit  — 
Jesus  ist  ein  vollkommenes  Wesen;  da  ich  ihm  nachfolgen  will,  werde  ich 
von  meinen  Mitschülern  immer  mehr  angegriffen.  Mir  ist  es  dann  eine  Freude, 
ihn  zu  verteidigen:  „Das  tat  ich  für  dich;  was  tust  du  für  mich?"  —  Nicht 
weil  Jesus  ein  religiöser  Mann  war,  sondern  ein  sittenreiner  Charakter;  ein 
Mann,  der  alle  Menschen  gleichstellte.  An  ihm  sehe  ich  meine  Grundsätze 
verkörpert:  „Tue  recht  und  scheue  niemand!"  und  „So  hoch  gestellt  ist  keiner 
in  der  Welt,  daß  ich  mich  neben  ihm  verachte." 

Bei  Rey.  n  haben  8^0  der  Vpn.  religiöse  Charaktere  als  Ideale  angegeben. 
Da  auf  seinen  Wunsch  Jesus  nicht  genannt  werden  sollte,  fielen  sicher  einige 
Nennungen  von  Jesus  als  Idealbild  weg.  Von  unseren  Vpn.  scheinen  keine 
von  Paulus,  Johannes,  Joseph,  Abraham,  Moses  so  tief  gepackt  worden  zu 
sein,  um  ihr  Vorbild  nach  ihnen  zu  orientieren. 

5.  Freie  Ideale. 

Diese  Gruppe  mußte  bei  imserer  Untersuchung  ganz  neu  aufgestellt  werden 
und  beanspruchte  25  ^o  der  Antu'orten,  bei  der  1.  Klasse  24^0,  bei  der  2.  Klasse 
270/0.  Auch  bei  Rey.  II  dürften  einige  freie  Ideale  aufgetreten  sein,  denen 
er  wohl  nicht  näher  nachzuforschen  brauchte,  weil  sie  vereinzelt  blieben. 
Oder  sollte  seine  Fragestellung  nach  Persönlichkeitsidealen  die  Vpn.  be- 
stimmt haben  nur  solche  zu  nennen?  Dies  ist  aber  nach  unseren  Vorunter- 
suchungen schwer  anzunehmen.  Auch  deuten  die  Proben  von  Schülerantworten 
bei  Rey.  U  S.  12 — 14  auf  das  Vorkommen  allgemeiner  Musterbilder  hin,  z.  B. 
bei  dem  24jährigen  und  der  ersten  von  den  25jährigen. 

Abgesehen  von  ausgesprochenen  Möchte-  oder  Wunschidealen  mit  2,7 O/o, 
reinen  Genuß  Vorbildern  mit  0,8  Oo  und  mehreren  Nennungen,  die  sich  nicht 
rubrizieren  lassen,  stellen  sich  aus  dieser  Gruppe  2  Arten  von  freien  Idealen 
klar  heraus:  ein  allgemeines  Menschenideal  von  10,00/0  der  Vpn.  gewählt  und 
ein  allgemeines  Lehrer-  (Beruf s)ideal  von  7,0  0  0  genannt. 

a)  Allgemeine  Menschenideale.  Zwei  charakteristische  Schülerzeugnisse 
mögen  zunächst  die  Notwendigkeit  der  Aufstellung  unserer  neuen  Gruppe 
darlegen : 

1.  „Ich  habe  keine  bestimmte  Persönlichkeit  zum  Vorbild.  Überall  mußte 
ich  Eigenschaften  finden,  die  mir  nicht  zusagten.  Wo  aber  eine  edle  Tat 
vollbracht  wurde,  wo  die  Menschenrechte  und  Menschenpfhchten  vollkommen 
geachtet  und  erfüllt  \^-urden,  dorthin  fand  ich  mich  mit  dem  innersten  Wesen 
meiner  Seele  gezogen.  Die  edle,  reine  Menschlichkeit  war  es,  die  mich  an- 
sprach und  mein  höchstes  Ideal,  das  mir  immer  vor  der  Seele  steht,  ist  ein 
edler  Mensch  zu  werden."  —  2.  „Ein  einziges  Ideal  habe  ich  nicht;  denn 
ich  strebe  verschiedenen  nach.  Was  mir  an  dem  einen  gefällt,  suche  ich 
mir  anzueignen;  was  mir  nicht  gefällt,  schalte  ich  aus.  Ehrlich,  wahr  und 
fromm  zu  sein,  entnehme  ich  dem  Charakter  Jesu.  Dem  Charakter  meines 
Vaters  entnehme  ich  die  Strebsamkeit;  denn  er  hat  sich  aus  kleinen  Anfängen 
zu  einer  ganz  annehmbaren  Stellung  emporgearbeitet,  ohne  eine  Mittelschule 
besucht  zu  haben.  So  habe  ich  noch  verschiedene  Persönhchkeiten,  von  deren 
Charakter  ich  mir  verschiedenes  anzueignen  suche." 


32  Michael  Kesselring 

Unter  den  allgemeinen  Menschenidealen  fallen  solche  auf,  welche  die  Einzel- 
züge verschiedenen  Persönlichkeiten  entnehmen  und  das  Gesamtbild 
nicht  fest  umrissen  zusammenfügen.  Einige  Beispiele  mögen  solche  Ideal- 
bilder erläutern: 

Wie  Bismarck,  Goethe  und  Rousseau;  ersterer  entschlossen,  mutig;  man 
konnte  Felsen  auf  ihn  bauen;  letztere  Gefühlsmenschen,  die  alles  offen  be- 
kannten —  Teja  und  Pestalozzi  —  Goethe  und  Rheinberger  (Musiker)  — 
Kombination  von  Männern  aus  der  Geschichte  der  Pädagogik  und  aus  der 
Musik  —  Luther,  W.  Teil  und  der  Wirt  aus  Roseggers  „Wirt  an  der  Mahr"  — 
Siegfried,  Napoleon,  York, 

Dazu  treten  dann  kurz  gezeichnete  Charakterbilder,  für  deren  Einzel- 
züge auf  große  Personen  als  Träger  derselben  verwiesen  ist.  Von  den  häufig 
interessanten  Schilderungen  geben  wir  wieder  nur  einige  Andeutungen  in 
Stichworten : 

Willenskraft  und  feste  Grundsätze,  wie  Napoleon,  Markus  Paltram  u.  a.  — 
Schaffensfreude  und  Ausdauer,  wie  Zeppelin,  Bach,  Schiller,  Beethoven  — 
das  Große  und  Heldische,  wie  bei  Bismarck,  Gestalten  aus  den  „Ahnen", 
Ivanhoe,  Ludwig  I.  von  Bayern  —  nach  dem  Vorbild  vieler  Männer;  im 
Lehrerberufe  Tüchtiges  leisten;  liebevoller  Familienvater;  im  öffentlichen  Leben 
eintreten  für  soziale  Hebung  aller  Stände  —  wie  in  Wilh.  Meister  —  Streben 
nach  Weisheit  und  Vervollkommnung,  wie  bei  meinem  Vater,  bei  Schiller  und 
Bismarck  —  ein  ganzer  Mensch  mit  höchster  körperlicher  und  geistiger  Wohl- 
geratenheit wie  etw'a  Nietzsches  Übermensch.  (Die  Beispiele  für  diese  Gruppe 
freier  Ideale  finden  sich  fast  ausschließlich  im  Material  der  1.  Klasse.) 

EineS.Abteilungfreierldealeweist  nur  Allgemeinbilder  charaktervoller 
Menschlichkeit  auf  ohne  Beispiele  oder  sonstige  Beziehungen.  Aus  der 
1.  Klasse  folgende  Belege: 

Mann  von  Pflichttreue  —  naturliebender,  sportliebender,  offener  und  treuer 
Mensch  —  nach  jeder  Hinsicht  ein  gebildeter  Mensch  —  nachzustreben  dem 
Wahren,  Schönen  und  Guten  und  überall  dem  Fortschritt  zu  huldigen;  auch 
Freimaurer  möchte  ich  sein  —  ehrlich  und  recht  handeln,  wenig  um  andere 
kümmern  —  ein  freier  Mann;  Herr  über  mich  selbst  mit  starkem  Charakter  — 
ein  Mann  voll  Kraft  und  Energie,  edlem  Sinn  und  stolzem  Charakter,  klarer, 
unverdorbener  Geist,  besonders  nicht  entstellt  durch  eingepflanzte  Bücher- 
weisheit. 

Aus  dem  Material  der  2.  Klasse  seien  hervorgehoben: 
Konsequentes  Wollen  und  Handeln;  große  Willensstärke;  Wahrheit;  auch 
Freude  an  Sport  —  Verträglich,  gutherzig,  mildtätig,  vorwärts  streben,  auch 
wenn  die  Arbeit  nicht  immer  von  Erfolg  gekrönt  —  Entfaltung  des  eigenen 
Menschentums  —  eine  Originalität  möchte  ich  sein  —  Idealfamilie :  alle  gesund 
und  arbeiten;  vertrauensvolles  Verhältnis  zwischen  Eltern  und  Kindern;  Offen- 
heit und  Wahrheit.  Ein  18 jähriger  möge  noch  ganz  zu  Worte  kommen:  „Mein 
Ideal  ist  ein  Mensch,  der  niemals  heuchelt,  stets  graden  Sinnes  ist,  nur  das 
ausführt,  was  er  vor  sich  verantworten  kann.  Der  ein  tiefes  Gemüt  besitzt. 
Der  sich  unterordnet,  aber  nur  dann,  wenn  er  es  selbst  für  richtig  hält;  der 
aber  auch  seinen  Willen  durchsetzt,  wenn  er  weiß,  daß  er  im  Recht  ist;  er  muß 
aber  auch  sofort  ablassen,  wenn  er  im  Unrecht  ist.  Endlich  muß  er  eine 
tiefe  Liebe  besitzen  für  alles  was  lebt.  Energie,  Liebe. und  Gemüt  müßte 
der  Grundzug  seines  Wesens  sein."  —  Schließlich  haben  wir  noch  freie  Ideale 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  33 


in  solchen  Äußerungen  zu  erkennen,  welche  durch  Grundsätze  ihr  Vorbild 
kennzeichnen,  z.  B.  Edel  sei  der  Mensch,  hilfreich  und  gut  —  Rastlos  vor- 
wärts mußt  du  streben  usw.  —  Ich  habe  keine  Zeit  müde  zu  sein;  Lebe,  wie 
du  es  vor  jedermann  verantworten  kannst!  —  mens  sana  in  corpore  sano; 
auch:  prüfe,  bevor  du  handelst! 

b)  Allgemeines   Berufs-(Lehrer)ideal.     Dieses  Ideal    zeigt  auch   ver- 
schiedene Ausgangspunkte   und  gewinnt  darnach  verschiedene  Gestalt.     Zu- 
nächst kann  es  sich  anlehnen  an  ein  besonderes  Vorbild,  wie  lebende 
Lehrer  der  früheren  oder  jetzigen  Schulzeit,  große  Pädagogen  (wie  Pestalozzi) 
und  Gestalten  der  Dichtung  (wieHauslehi-er  inLienhards„Oberlin"  undFlemming 
in  O.  Ernst's  „Flachsmann  als  Erzieher").    Sodann  wird  ein  Musterbild  nach 
verschiedenen  Personen  aufgestellt,  zu  welchem  noch  selbstgeformte 
Musterbilder  (freie)  treten,  teilweise  mit  einem  Hinweis  auf  Beispiele  zur 
Verdeutlichung,  teilweise  ohne  jede  Beziehung  in  ganz  freier  Gestaltung.  Einige 
Zeugnisse  seien  herausgehoben:    Ein  tüchtiger  Lehrer  —  ganze  Kraft  dem 
Beruf  zuwenden  und  mit  Liebe  arbeiten  —  Volksschullehrer  in  des  Wortes 
eigenster  Bedeutung;  alle  Schichten  heraufziehen  ans  Licht  —  möchte  nach 
allen  Kräften  als  Lehrer  meinen  PfUchten  nachkommen  —  ein  recht  guter 
Schulmann  zu  werden :  pädagogische  Lektüre  und  Pädagogikunterricht  haben 
mein  ganzes  Interesse  —  beliebter,  gerechter  Lehrer,  wie  es  von  Bruns  hieß: 
„Er  war  ein  Lehrer"  —  ein  tüchtiger,  liebevoller  Lehrer;  mit  Freude  an  den 
Kinderherzen  arbeiten.     Gibt  es  eine  schönere,  heiligere  Arbeit  als  die,  das 
Kind  emporzuheben;  eine  feinere  Freude,  sich  mit  ihm  zu  freuen,  durch  es 
nochmals  Kind  zu  werden? 

Jugendpsychologisches  Material. 

Das  Studium  der  freien  Ideale  ist  für  den  Versuchsleiter  wohl  ein  sehr 
fesselndes,  weil  es  tiefere  Einblicke  in  das  Gewebe  des  jugendlichen  Seelen- 
iebens gewährt.  Während  mancher  geschickt  einem  Bekenntnis  auszuweichen 
versteht,  schreiben  andere  mit  größter  Offenheit  und  Ehrlichkeit,  ja,  manche 
Zeugnisse  über  ideale  Musterbilder  muß  man  geradezu  mit  einem  Gefühl  der 
Dankbarkeit  lesen,  weil  sie  oft  geheimste  Regungen  und  Strebungen  des 
Jünglingsherzens  enthüUen.  Neben  Begeisterungsfähigkeit  und  idealem  Schwung 
finden  wir  Oberflächlichkeit  und  sinnliche  Begierden,  neben  großen  produk- 
tiven Arbeitsplänen  erschreckende  Nüchternheit,  neben  phantastischen  Hoff- 
nungen und  Wünschen  eine  pessimistische  Weltanschauung  und  skeptische 
Stellung  zum  Leben.  Wenn  Rey.  von  dem  häufigeren  Auftreten  des  Peer- 
Gynt-Typus,  des  Träumers  und  Chancenmenschen  bei  seinen  Vpn.  spricht, 
so  zeigt  sich  bei  den  unsrigen  ein  mehr  realer  Blick  für  Leben  und  Menschen- 
tum, für  die  Notwendigkeit  zäher  und  zielbev^nißter  Arbeitsamkeit,  so  daß  wir 
wohl  behaupten  können,  daß  ein  frischer  gesunder  Geist  durch  unsere  Jugend 
hindurchweht  (und  wie  herrlich  sich  dessen  Früchte  zeigten,  hat  uns  der 
gewaltige  Krieg  in  bewunderungswürdigen  Taten  genugsam  offenbart). 

Zunächst  einige  Belege  für  ausweichende  Antworten:  Kann  kein  Ideal 
sagen,  dem  ich  direkt  zustrebte  —  schwebt  mir  immer  vor;  doch  es  zu  nennen, 
ist  mir  unmöglich  —  ein  Ideal  existiert  nur  in  meinem  Geiste  —  ein  eigen- 
tümliches Gefühl  hat  mich  noch  nicht  zur  Entscheidung  kommen  lassen  — 
bilde  erst  ein  Ideal  —  wenn  ich  den  Schulstaub  von  meinen  Füßen  geschüttelt 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  3 


34  Michael  Kesselring 


habe  —  ich   habe  mehrere  Vorbilder,    aus   denen  ich  mir  ein  Phantasiebild 
gebildet  habe  —  mir  ist  bis  jetzt  noch  kein  vollkommenes  Ideal  aufgetaucht. 

Manche  pochen  auf  ihre  Selbständigkeit  und  rühmen  ihren  nüchternen 
Blick,  wobei  etwa  zu  lesen  ist:  IdeaHsten  mag  ich  nicht;  möchte  mehr  Reahst 
sein,  ungefähr  nach  den  Anschauungen  Nietzsches  —  ich  brauche  keines;  mir 
sind  ja  auch,  -wie  sog.  „Idealmenschen",  Einsicht,  Vernunft  und  freier  Wille 
gegeben  —  bin  noch  zu  jung,  mich  für  eines  zu  entscheiden;  nur  die  Er- 
fahrung soll  mich  leiten  —  habe  kein  Ideal;  bin  ein  viel  zu  nüchterner  Mensch 
und  sehe  die  Welt  an,  wie  sie  ist,  strebe  dem  zu,  was  mein  besseres  Innere 
mir  vorschreibt.     Auch  die  Zeitverhältnisse  sind  nicht  ideal. 

Der  pessimistische  Zug,  der  manchmal  durch  die  Jugend  geht,  leuchtet 
aus  folgenden  Belegen  heraus:  Menschen  können  nie  ideal  sein,  weil  sie  nie 
vollkommen  werden  —  ich  strebe  nach  einem  unbestimmten  Etwas,  das  ich 
nie  erreichen  kann.  Wie  kann  man  Menschen,  unter  denen  es  vielleicht  nur 
zwei  oder  drei  wahrhaft  Gute  gibt,  überhaupt  ideal  nennen?  —  kein  Ideal 
deckt  sich  mit  meinen  Vorstellungen;  am  liebsten  Pessimismus  —  ich  habe 
leider  kein  Ideal  —  wie  Lenau  tiefernst,  pessimistisch,  weltflüchtig,  zurück- 
gezogen, sich  selbst  lebend ;  auch  bei  mir  Hang  zur  Einsamkeit  —  vollkommen 
Pessimist  wie  Schopenhauer  —  philosophierend  und  eingesponnen  lebend, 
„aber  vor  einem  jeden  solcher  Bekenntnisse  schäme  ich  mich  und  bereue  oft 
jedes  Wort,  das  mein  Innerstes  offenbart". 

Von  den  Wunsch-  und  „Möchte"-Idealen  verraten  manche  kühne  Pläne, 
andere  zeichnen  sich  durch  einen  Zug  ins  Phantastische  aus,  und  manche 
überraschen  durch  ihre  Naivität.  So  berichtet  uns  einer  in  warmen  Worten 
von  seiner  Trilogie  „Gudrun",  die  ihn  beschäftigt;  ein  anderer  ist  an  der 
Vollendung  seines  Jugendwerkes  „Der  Punier"  gerade  tätig;  ein  dritter  hofft, 
in  der  Malerei  etwas  zu  erreichen,  da  bei  ihm  kleine  Erfolge  nicht  ausge- 
blieben seien,  und  verschiedene  setzen  ihr  ganzes  Streben  ein,  um  einst  als 
Violin-  oder  Klaviervirtuosen  wirken  zu  können.  Ein  Begeisterter  will  Kämpfer 
sein  im  Heere  des  Lichts,  während  ein  zweiter  ein  Ideal  in  sich  werden  fühlt, 
das  ein  großes  Durcheinander  von  Merkmalen  darstellt,  das  erst  gären  muß 
und:  „in  voller  Majestät  wird  ihm  mein  Ideal  entsteigen!"  Versichertunsein 
Jüngling,  daß  er  ein  Geistesheld  wie  Rousseau  sein  will,  um  die  verschrobenen 
Gedanken  aus  den  Köpfen  der  Menschen  zu  verjagen,  so  bescheidet  sich 
sein  Freund  damit,  daß  er  „eine  Originalität"  geben  will;  ein  Dritter 
möchte  uns  folgende  Überzeugung  beibringen:  „Das  christliche  Ideal  der 
Liebe,  die  sich  bis  zur  Feindesliebe  ausdehnen  soll,  ist  nicht  das  höchste. 
Dieses  Ideal  bezieht  sich  nur  auf  den  Umgang;  aber  der  Mensch  hat  eine 
höhere  Auf  gäbe :  für  sein  eigenes  Selbst  zu  wirken".  Bei  den  Beispielen,  die 
wir  noch  hierher  stellen,  dürfte  die  Neigung  unserer  Jugend  zum  Naturalis- 
mus etwas  auffallen:  Naturmensch  sein  —  Koloniallehrer  —  Gutsverwalter 
oder  Forstmann  im  Ausland  —  große  Reisen  mit  Büchse  und  Kamera;  nie- 
mand Untertan  und  jedermanns  Freund  —  Entdecker  und  Forscher  wie  Filchner, 
Stanley  —  Soldat  bei  der  Marine  —  schneidiger  Reiteroffizier  wie  Körner 
und  Ziethen  —  Naturmensch,  ohne  gesellschaftHchen  Zwang,  in  die  Urwälder 
versetzt.  Ohne  jede  objektive  Religion.  Verkehr  mit  der  sinnlichen  Natur, 
ihrer  Sprache  lauschen,  die  mächtiger  und  reiner  ist  als  die  jedes  Menschen  — 
Freude  an  der  Natur,  fühle  mich  heimisch  in  der  Stille  des  Waldes;  das  tolle 
Treiben  der  festlichen  Gelegenheiten  ist  mir  ebenso  verhaßt  wie  übermäßiges 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  36 

Trinken  und  Rauchen;  von  weiblichen  Personen  fühle  ich  mich  nicht  ange- 
zogen, eher  abgestoßen  —  Wandern,  Turnen,  Fußball,  Kegeln. 

Ausgesprochene  Genußideale  traten  0,8  0,0  auf  und  beziehen  sich  auf 
Selbständigkeit,  Naturfreude  und  Geselligkeit.  Es  waren  folgende:  Ich  lebe 
in  den  Tag  hinein,  das  andere  ist  mir  gleich;  nur  Behaglichkeit,  Liebe  und 
Freundschaft  sind  nötig  zu  meinem  Glück  —  Sportsmann  und  Kavalier  — 
Junggeselle  in  der  Stadt:  abwechslungsreiches  Leben,  ohne  darüber  Vorwürfe 
zu  bekommen;  kann  große  Reisen  unternehmen;  unabhängig  von  jedermann 
und  viele  Vergnügen  —  Lehrer  in  stillem  schönem  Dorfe  in  aller  Gemütlichkeit 

Frauenideale  wurden  von  unseren  Vpn.  viermal  genannt.  Große  Ge- 
stalten aus  der  Geschichte  oder  Dichtung  finden  sich  nicht  darunter.  Die  bei 
unserer  Untersuchung  erwähnten  scheinen  zugleich  Ideale  der  Liebe  der  Sem. 
zu  sein.  Einmal  ist  ausgeführt:  „  . . .  nach  Seite  des  Gefühlslebens  ein  be- 
stimmtes weibliches  Wesen,  in  meinen  Augen  das  edelste  Wesen  überhaupt", 
ein  anderes  Mal:  „Mein  Ideal  ist  ein  durch  und  durch  edles  Wesen,  mit  dem 
ich  zum  Wohle  der  anderen  leben  kann,  ein  Leben  nach  dem  Grundsatze: 
Willst  du  die  Welt  genießen,  so  entsage  ihr!..."  Ein  Sem.  schrieb:  „Kein 
Mann!"  und  hüllte  sich  dann  in  Schweigen.  Ein  Schüler  der  1.  Kl.  bringt 
ein  Frauen-  und  Berufsideal  zugleich:  „Die  Lehrerin  N.  N.  Sie  ist  wohl  ein 
Weib(!),  und  es  könnte  scheinen,  als  ob  ein  Mensch,  der  einmal  ein  Mann 
werden  will,  sich  kein  Weib  zum  Vorbild  nehmen  sollte.  Sie  ist  aber  als 
Mensch  so  vornehm  und  edel  und  als  Lehrerin  im  Umgang  mit  den  Kindern 
erst  recht,  daß  ich  ihr  immer  nachstreben  und  so  zu  werden  suche  wie  sie.**  — 

An  dieser  Stelle  wollen  wir  zunächst  noch  eine  kurze  Betrachtung  über 
die  Alters-  und  Klassendifferenzen  bei  den  Lehrerseminaristen  ein- 
schalten. Für  endgültige  Schlüsse  ist  freilich  das  Material  bei  Rey.  und  noch 
mehr  bei  uns,  wo  nur  eine  Lehrerbildungsanstalt  in  Betracht  kommt,  ein  ziem- 
lich geringes.  Für  Rey.s  männliche  Vpn.  (398)  zwischen  dem  18.  und  25.  Lebens- 
jahr nimmt  die  Klassenfrequenz  von  60  über  90  (im  20.  Lebensjahr)  ab  bis 
84,  bzw.  44.  Besonders  auffallende  Schwankungen  für  die  Stellungnahme 
seiner  Vpn.  ergaben  sich  eigentlich  bei  keiner  Gruppe  der  möglichen  Persön- 
lichkeitsideale; nur  treten  Bekanntenideale  vom  23.  bis  25.  Jahre  überhaupt 
nicht  mehr  auf,  während  in  der  Abteilung  für  fremde  Dichter  die  Nennungen 
etv^-as  zunehmen.  In  unserer  Untersuchung,  bei  der  nur  zwei  Klassen  und 
das  16. — 20.  Lebensjahr  in  Betracht  zu  ziehen  sind,  tritt  weniger  eine  Alters- 
ais eine  Differenz  nach  den  Klassen  heraus.  Diese  Unterschiede  sind  durch 
die  Klassenstoffe  und  -ziele  mit  beeinflußt  und  äußern  sich  in  einem  Hervor- 
treten ethischer  Ansichten  und  lebhafterem  Berufsinteresse.  Bei  Beleuchtung 
der  Gründe  müssen  wir  die  Frage  nach  spezifischen  Klassen-  und  Altersunter- 
schieden nochmals  berühren. 

Bei  einer  Gesamtgegenüberstellung  der  Versuchsergebnisse  zwischen  den 
norwegischen  und  den  deutschen  Lehrerseminaristen  können  wir  uns  dem 
Eindruck  nicht  verschließen,  daß  letztere  in  der  geistigen  Entwicklung  weiter 
seien.  Zum  Teil  läßt  sich  diese  Erscheinung  aus  der  geringen  Vorbildung 
der  norwegischen  Lehrerseminaristen  erklären,  worauf  Rey.  II  S.  23  hinweist; 
doch  könnte  auch  eine  allgemeine  Entwicklungserscheinung  der  nordischen 
Jugend  gegenüb^  der  von  südlicheren  Breiten  vorliegen,  zu  welch  geographischer 
Begründung  auch  Gründe  des  Volkscharakters  und  der  kulturellen  Eigenart 
und  Weltlage   erklärend  treten  müßten.     Auch  Rey.  I  wies  auf  die  typische 


36      Michael  Kesselring,  Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter 

langsamere  Entwicklung  norwegischer  Volksschulkinder  gegenüber  den  eng- 
lischen, sächsischen,  amerikanischen  Schulkindern  hin  bei  seiner  Zusammen- 
fassung in  den  Punkten  4  und  5,  a.  a.  0.  S.  247/248. 

Schließlich  gilt  es  noch,  den  Einfluß  besonderer  Zeitumstände  zu 
prüfen.  Es  ist  klar,  daß  die  Nichtbeachtung  solcher  Umstände  zu  einer  wich- 
tigen Fehlerquelle  werden  kann.  An  der  Hand  der  Schülerbeantwortungen 
lassen  sich  manche  Zeiteinflüsse  herausfinden.  So  wiesen  wir  schon  auf  den 
Beweggrund  für  die  häufigere  Wahl  des  verblichenen  Prinzregenten  Luitpold 
von  Bayern  hin,  dessen  Geburtstag  sowie  die  Stiftung  eines  Schulturn-  und 
Spielfestes  möglicherweise  zur  öfteren  Nennung  führte.  Die  jeweilige  Zu- 
sammensetzung des  Lehrkörpers  zur  Zeit  der  Versuche,  insbes.  der  Fachvertreter 
im  Pädagogikunterricht,  in  Religion,  deutscher  Sprache  und  Literatur,  in  Musik 
und  Turnen  spielt  in  bezug  auf  Lehrerideale  eine  bedeutende  Rolle.  Auch 
zeigt  jede  Klasse  in  jedem  Jahre  einen  anderen  Mischtypus  von  Schülerindi- 
vidualitäten, örtliche  Umstände  mögen  auch  hereinspielen,  also  woher  ein 
Schüler  stammt,  wo  er  aufwuchs,  in  welchen  Kreisen  er  sich  jetzt  aufhält 
(Land  und  Stadt,  Wald  und  Gebirge  oder  Ebene  und  Ackerbau).  Einmal  wurde 
Siegfried  als  Ideal  angegeben,  da  einige  Tage  vorher  Hebbels  „Nibelungen" 
aufgeführt  waren.  Ein  Vikar  mit  gutem  Organ  und  Rednerpathos  regte  in 
zwei  Fällen  zur  Ergänzung  freier  Ideale  an.  Vor  dem  Kriege  hatte  der  Roman 
„Helmut  Harringa"  einiges  Aufsehen  erregt,  wurde  von  den  Sem.  gelesen  und 
der  Titelheld  wiederholt  zum  Musterbild  des  eigenen  Strebens  erhoben.  Wie 
die  Bereicherung  des  Gedankenkreises  zu  neuen  Idealgestalten  führt,  beweisen 
uns  die  nur  von  der  2.  Kl.  genannten  Vorbilder  Lessing  und  Hebbel,  sowie 
der  Name  Pestalozzis,  welcher  gegenüber  der  1.  Kl.  mit  einer  Nennung  in 
der  2.  Kl.  7  mal  vorkommt.  Auch  innere  Erlebnisse  besonderer  Art  können 
sich  geltend  machen;  so  sind  zwei  Zeugnisse  von  Mißtrauen  gegen  Freundes- 
ideale erfüllt,  weil  einer  sich  verleumdet  fühlte,  und  einem  anderen  Treue  und 
Freundschaft  gebrochen  worden  waren.  Bei  Rey.  I  ist  hingewiesen  auf  den 
Einfluß  des  Wintersports  für  die  Bekanntenideale ;  trafen  doch  von  94  abge- 
gebenen Stimmen  für  lebende  norwegische  öffentliche  Personen  57  auf  Ver- 
treter des  Sportlebens,  da  jener  Versuch  im  Winter  ausgeführt  worden  war. 

Im  vierten  Kriegsjahr  war  es  uns  möglich,  eine  Befragung  nach  Idealen 
vorzunehmen,  wozu  uns  besonders  das  Interesse  bewog,  den  Kriegseinfluß 
festzustellen.  Allerdings  ist  die  Zahl  der  Vpn.  eine  verschwindend  geringe 
gewesen,  da  manche  zu  landwirtschaftlicher  Hilfeleistung  beurlaubt  waren, 
nämlich  in  der  1.  Kl.  27  Vpn.,  in  der  2.  Kl.  21  Vpn.  Eine  realistischere 
Lebensauffassung  und  ein  größerer  Ernst  scheinen  sich  in  den  Schülerantworten 
auszuprägen.  Ein  direkter  Einfluß  der  Kriegszustände  läßt  sich  jedoch  nur 
bei  vier  Vpn.  nachweisen.  In  der  1.  Kl.  schwebt  Hindenburg  in  einem  Falle 
als  Strebeideal  wegen  seiner  W^illenskraft  und  Charakterstärke  vor,  und  in 
einem  anderen  Falle  besteht  nur  ein  loser  Zusammenhang:  ein  pfUchttreuer 
Lehrer  gilt  als  Ideal,  wenn  er  sich  in  der  Kriegszeit  mit  Aufopferung  in  den  Dienst 
der  Schule  und  der  Gemeinde  stelle.  In  der  2.  Kl.  (5  davon  waren  im  Heeres- 
dienst) zeigen  sich  2  mal  Zusammenhänge  in  freien  Idealen  mit  dem  Kriege: 
Soldat,  der  für  die  Heimat  sein  Leben  gewagt  hat,  und  ein  früherer  Volks- 
schullehrer sollen  zusammen  das  vorbildhche  Menschenbild  Ägeben  —  ein  all- 
gemeines Musterbild  nach  den  Männern  Bismarck,  Hindenburg  und  Luden- 
dorf f;  „die  Willensstärke  Bismarcks,  der  zugleich  mit  weitschauendem  Bhck 


Beziehungen  zwischen  Intelligenz  u.  Moralität  bei  jugendl.  Verwahrlosten.     37 


das  Gute  seines  Handelns  voraussah  und  sich  davon  nicht  abbringen  Ueß, 
vereinigt  sich  mit  der  Klarheit  Ludendorffs  und  der  Tatkraft  Hindenburgs  zu 
einem  Ideal." 

Daß  besondere  zeitliche  und  örtliche  Umstände  bei  der  Vornahme  unserer 
Experimente  die  Stellungnahme  und  Wahl  der  Vpn.  beeinflussen  können,  läßt 
sich  wohl  nicht  verkennen.  Zahlenmäßig  jedoch  nahmen  solche  Zeiteinflüsse 
nur  geringen  Raum  ein;  an  dem  allgemeinen  Gesamtbild  der  Versuchsergeb- 
nisse vermögen  sie  kaum  bedeutende  Änderungen  herbeizuführen.  Solche 
Einflüsse  machen  sich  als  Fehlerquelle  nur  in  geringem  Grade  geltend,  sodaß 
wir  in  dem  jeweils  mit  methodischer  Gründlichkeit  gesammelten  und  gesich- 
teten Material  von  Schülerantworten  tj'pische  jugendkundliche  Äußerungen 
zu  erblicken  haben.  Selbst  ein  voreingenommener  Kritiker  solcher  Ideal- 
forschungen muß  zugeben,  daß  die  zufälligen  Umstände  bei  der  großen  Zahl 
von  Vpn.  und  bei  wiederholter  Befragung  derselben  Klassen  in  verschiedenen 
Jahren  nur  mit  den  geringsten  Werten  anzusetzen  sind,  ja  sich  ganz  aus- 
gleichen können.  (Schluß  folgt.) 


Über  die  Beziehungen  zwischen  Intelligenz  und  Moralität 
bei  jugendlichen  Verwahrlosten. 

Von  Paul  Riebeseil. 

1.  Ergebnisse  früherer  Arbeiten. 

In  den  „experimentellen  Beiträgen  zur  Psychologie  der  moralisch 
verkommenen  Kinder'*  von  Margit  Dosai-Revesz  sind  im  Jahre  1911 
zum  ersten  Male  Untersuchungen  über  die  Beziehungen  zwischen  den 
verschiedenen  Seelenfunktionen  unternommen  1).  Die  früheren  Arbeiten 
können,  da  ihnen  nur  geringe  experimenteile  Erfahrungen  zugrunde 
liegen,  nur  als  Meinungsäußerungen  einzelner  Autoren  gewertet  werden. 
So  wurden  denn  auch  die  Ansichten,  daß  völlige  Abhängigkeit  von 
Moral  und  Intelligenz  oder  völlige  Unabhängigkeit  beider  Funktionen 
bestehe,  je  nach  dem  Standpunkt  der  Verfasser  in  etwa  gleicher  Zahl 
vertreten.  Die  erwähnte  ungarische  Arbeit  bezieht  sich  auf  40  Knaben 
im  Alter  von  9 — 16  Jahren.  Geprüft  wurden  Rechenfähigkeit,  Ge- 
dächtnis, Auffassungs-  und  Aussagefähigkeit.  Der  Vergleich  wurde  an 
einer  etwas  größeren  Zahl  von  Nichtverwahrlosten  geführt.  Bei  beiden 
Gruppen,  den  Verw^ahrlosten  und  den  Nichtverwahrlosten,  wurden  bei 
einzelnen  Teilversuchen  die  intellektuell  Schwachbefähigten  abgetrennt 
und  besonders  gewertet.  Leider  ist  aber  diese  Trennung  nicht  überall 
durchgeführt,  so  daß  das  Ergebnis,  daß  die  moralisch  Schwachen  durch- 
weg ein  viel  schlechteres  Resultat  ergeben  als  die  Normalen,  nicht 
einwandfrei  erscheint.  Schon  das  Ergebnis,  daß  im  Gegensatz  zu  dieser 
Feststellung  nach  den  Tabellen  die  moralisch  und  intellektuell  Schwachen 
durchweg  besser  abschneiden  als  die  nur  intellektuell  Schwachen,  dürfte 
zu  denken  geben.  Der  geringe  Umfang  des  Materials,  der  Vergleich 
mit  teilweise  von  andern  Forschern  stammenden  Untersuchungen  nor- 

')  Vgl.  Ztschr.  f.  ang.  Psychologie,  Bd.  5,  1911. 


38  Paul  Riebeseil 


maier  Kinder,  die  1911  noch  keineswegs  einwandfreie  Eichung  der 
Tests  geben  zu  weiteren  Bedenken  Anlaß.  Ähnliches  gilt  von  einer 
ebenfalls  ungarischen  Arbeit  des  Jahres  1918.  Bela  Tabajdi-Kun  kommt 
in  seiner  „Intelligenz-Prüfung  der  kriminellen  Jugend"  i)  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  die  Intelligenz  der  kriminellen  Jugendlichen  weit  unter  der 
der  Hilfsschüler  liegt.  Auch  hier  sind  zur  Kontrolle  der  Ergebnisse 
andere  Autoren  benutzt,  außerdem  hielt  sich  der  Verfasser  streng  an 
die  Binet-Simonschen  Vorschriften,  die  bekanntlich  für  die  Lebensalter 
über  10  unbrauchbar  sind.  Eine  Differenzierung  des  Materials  der 
Verwahrlosten  fand  nicht  statt.  Zu  einem  ganz  andern  Ergebnis  ist 
1918  Gregor  gekommen,  der  auf  Grund  ausgezeichneter  Einzelcharakter- 
analysen den  Satz  aufstellte ,  „daß  die  Funktion  des  Wollens  eine 
selbständige  Anlage  und  Entfaltung  hat,  die  in  keiner  direkten  Be- 
ziehung zur  Anlage  und  Entwicklung  des  Intellekts  steht."  2)  Es  er- 
schien daher  erwünscht,  durch  Anstellung  von  Massenexperimenten 
eine  Klärung  dieser  Meinungsverschiedenheiten  herbeizuführen,  zumal 
die  bereits  1913  von  F.  Kramer  3),  allerdings  an  einem  kleinen  Beob- 
achtungsmaterial, vorgenommenen  Untersuchungen  die  Gregorsche 
Ansicht  zu  bestätigen  schienen. 

2.  Methodik  der  eigenen  Untersuchungen. 

Für  die  Verwahrlosten  stand  folgendes  Material  zurVerfügung:  46  Schüler 
der  ersten  Klasse  der  damals  6  stufigen  Waisenhausschule,  24  Schüle- 
rinnen der  ersten  Klasse  der  6  stufigen  Waisenhausschule,  29  schul- 
entlassene Zöglinge  der  Erziehungsanstalt  für  Knaben,  26  schulent- 
lassene Zöglinge  der  Erziehungsanstalt  für  Mädchen.  Als  normales 
Vergleichsobjekt  wurde  die  zweite  Klasse  einer  8 stufigen  Volksschule 
mit  24  Knaben  benutzt.  Mit  der  einzigen  Ausnahme  der  Erziehungs- 
anstalt für  Mädchen  wai'en  auf  beiden  Seiten  die  Hilfsschüler  aus- 
geschlossen. Als  Tests  wurden  mit  geringen  Änderungen  die  für  die 
betreffende  Altersstufe  bereits  bei  der  Begabtenauslese  in  Berlin  <)  be- 
währten Aufgaben  benutzt &).  Geprüft  wurden:  1.  Aufmerksamkeit. 
Es  handelte  sich  um  einen  Ausstreichversuch.  Auf  einem  gedruckten 
Formular  waren  in  20  Minuten  alle  a,  e  und  n  auszustreichen.  Im 
ganzen  waren  es  etwa  600  zu  streichende  Buchstaben.  2.  Die  Kon- 
zentrationsfähigkeit. In  10  Minuten  sollten  möglichst  viele  Dingworte 
hingeschrieben  werden,  die  sich  auf  Gegenstände  der  Straße  beziehen 
und  in  denen  kein  e  vorkommt.  3.  Das  Gedächtnis.  In  5  Minuten 
sollte  in  einzelnen  Worten  alles  das  hingeschrieben  werden,  was  dem 
Prüfling  bei  dem  Worte  „Baum"  einfällt.  Eine  Einübung  mit  dem 
Beispiel  „Vogel"  ging  voraus.  4.  Die  gebundene  Kombination.  Ge- 
wählt wurde  der  Textlückenversuch  nach  Ebbinghaus  in  der  in  Berlin 


»)  Vgl.  Ztschr.  f.  Kinderforschung,  Bd.  23,  1918. 

")  Vgl.  A.  Gregor  und  E.  Voigtländer,  Die  Verwahrlosung.     Berlin  1918,  S.  160. 
3)  Vgl.  Monatsschr.  f.  Psychol.  und  Neurologie,  Bd.  33,  S.  500,  1913. 
*)  Vgl.  Moede-Piorkowski-WolH,  Die  Berliner  Begabtenschulen,  Langensalza  1918. 
')  Die  Hamburger  Tests  (vgl.  Ztschr.   f.   päd.  Psychologie,   Bd.  19,  1918)   waren  zu  der  Zeit, 
als  die  Versuche  angestellt  wurden,  noch  nicht  erschienen. 


Beziehungen  zwischen  Intelligenz  u.  Moralität  bei  jugendl.  Verwahrlosten      39 

verwandten  Form.  Als  Zeit  wurde  eine  halbe  Stunde  gewährt  5.  Die 
freie  Kombination.  Die  drei  Worte  Spiegel -Mörder -Rettung  sollten  zu 
einer,  oder  wenn  möglich  mehreren  Geschichten  zusammengesetzt 
werden.  Zeit:  20  Minuten.  Die  Methode  wurde  an  dem  Beispiel  Spiel- 
Tränen-Freude  geübt.  6.  Die  Urteilsfähigkeit.  Es  wurde  eine  Geschichte 
vorgelesen,  deren  Abschluß  von  den  Prüflingen  zu  erraten  w-ar.  Zeit: 
15  Minuten.  7.  Die  Anschauung.  Es  wurde  ein  Foliobogen  genommen, 
vor  der  Klasse  einmal  in  der  Mittellinie  vertikal  geknickt,  alsdann  noch 
einmal  horizontal  geknickt,  dann  an  der  gefalteten  Ecke  ein  recht- 
winklig-gleichschenkliges Dreieck  abgeschnitten.  Frage:  Zeichnet  die 
Figur  oder  die  Figuren  hin,  welche  entstehen,  wenn  ich  das  doppelt 
gefaltete  Blatt  wieder  auseinandernehme.    Zeit:  3  Minuten. 

Von  den  Waisenhauszöglingen  w^aren  etwa  50  Prozent  Fürsorgezög- 
linge, die  übrigen  50  Prozent  moralisch  normal.  Irgendein  Unterschied 
in  der  Intelligenz  der  Normalen  und  Verwahrlosten  innerhalb  derselben 
Klasse  war  weder  nach  den  Schulleistungen  noch  nach  den  Ergebnissen 
der  Prüfung  zu  erkennen.  In  den  Erziehungsanstalten  waren  ledig- 
lich schwerer  Verwahrloste,  von  denen  die  Mehrzahl  bereits  kriminell 
oder  sexuell  verwahrlost  war. 

3.  Die  Ergebnisse. 

Um  die  Auswertung  und  einen  Vergleich  zu  ermöglichen,  wurden  für 
die  Einzelleistungen  Zensuren  gegeben,  bei  einigen  Tests  von  1 — 7,  bei 
andern  von  1 — 5.  Da  es  sich  um  Vergleiche  handelt,  wird  gegen 
dieses  Verfahren  kaum  etw^as  einzuwenden  sein.  Die  Variationsbreite 
war  bei  allen  Tests  eine  genügend  breite,  so  daß  sie,  obwohl  ursprüng- 
lich für  die  Begabtenauslese  aufgestellt,  auch  für  unsern  Zweck,  bei 
dem  es  sich  um  die  Aufstellung  eines  Mittelwertes  für  eine  Gesamtheit 
handelt,  sehr  gut  zu  brauchen  sind.  Die  Ergebnisse  sind  in  den  Ab- 
bildungen graphisch  veranschaulicht,  w^obei  die  normale  Volksschule  mit 
einem  Strich,  die  Waisenhausknabenklasse  gestrichelt,  die  Waisen- 
hausmädchenklasse punktiert,  die  Erziehungsanstalt  für  Knaben  durch 
kleine  Kreise  und  die  Erziehungsanstalt  für  Mädchen  durch  kleine 
Kreuze  dargestellt  ist.  Auf  den  Abszissenachsen  sind  die  Zensuren, 
auf  den  Ordinatenachsen  die  Zahl  der  zu  den  Zensuren  gehörigen 
Prüflinge  in  Prozent  gegeben.  Wegen  der  Raumnot  sind  nur  einige 
Ergebnisse  vollständig  graphisch  wiedergegeben. 

1.  Die  Aufmerksamkeit.  Bei  der  Bewertung  wurde  nur  die  Zahl  der 
richtig  ausgestrichenen  Buchstaben  berücksichtigt.  Falsche  Streichungen 
waren  selten.  Wenn  auch  bei  der  Beurteilung  die  Schnelligkeit  der 
Arbeitsleistung  eine  Rolle  spielt,  so  ist  diese  doch  von  untergeordneter 
Bedeutung,  da  die  Zeit  so  lang  gewählt  war,  daß  nur  wenige  Aus- 
nahmen nicht  bis  zum  Ende  des  Textes  gekommen  sind.  Das  Ergebnis 
zeigt  Abb.  1  S.  40.  Wir  sehen  aus  der  Zw^eigipfligkeit  der  Kurven  sowohl 
bei  dem  normalen  als  auch  bei  dem  anormalen  Material  eine  deutliche 
Inhomogenität.  Wesentliche  Unterschiede  sind  bei  den  SchulpfHchtigen 
der  beiden  Gruppen  nicht  zu  entdecken.  Die  Erziehungsanstalt  für 
Knaben  weist  ein  bedeutend  besseres  Ergebnis  auf,  entsprechend  dem 


40 


Paul  Riebesell 


höheren  Alter  und  der  Art  der  Verwahrlosung,  die  durchweg  in 
kriminellen  Handlungen  besteht.  Die  Erziehungsanstalt  für  Mädchen,  bei 
der  die  in  den  Gruppen  befindlichen  Hilfsschülerinnen  mit  geprüft  wurden, 
schneidet  am  schlechtesten  ab,  was  durch  die  Art  der  Verwahrlosung, 
die  hauptsächlich  in  Herumtreiben  und  Männerverkehr  besteht,  ihre 
Erklärung  findet. 

2.  Die  Konzentrationsfähigkeit.    Wie  die  Kurve  für  das  normale 
Material  zeigt,  ist  die  Zensierung  diesem  angepaßt.    Es  wurde  die  Zahl 


Zeichen -Erklärung  für  Abb.  1—4  : 


normale  Volksschule 

ooooeooo      Erziehungsanstalt  für  Knaben 

Waisenhausknabenklasse 

Erziehungsanstalt  für  Mädchen 
Waisenhausmädchenklasse 


2  J  <►  5 

Abb.  1. 


i:  3  it 

2.  Konzen^psfionsßhigkeit. 

Abb.  2. 


der  niedergeschriebenen  Worte  gewertet.  Wesentliche  Unterschiede  in 
den  Kurven  sind  nicht  zu  entdecken,  nur  daß  das  anormale  Material  lange 
nicht  so  einheithch  zusammengesetzt  ist  wie  das  normale,  was  dadurch 
erklärlich  ist,  daß  die  in  einer  Klasse  vereinigten  Zöglinge  aus  den 
verschiedensten  Klassen  der  Volksschulen  gekommen  sind.    (Abb.  2.) 

3.  Das  Gedächtnis.  Die  verschiedenen  Gebiete,  aus  denen  die  Be- 
griffe gewählt  waren  (Arten,  Teile,  Eigenschaften,  Verwendung  usw.), 
wurden  gewertet.    Nennenswerte  Unterschiede  zeigten   sich  nicht.    Es 

fiel  nur  das  schlechte  Ergebnis 
bei  den  Mädchen  des  Waisen- 
hauses und  in  der  Erziehungs- 
anstalt für  Knaben  auf.  (Abb.  3.) 
4.  Die  gebundene  Kombi- 
nation. Die  Zahl  der  richtig 
ausgefüllten  Lücken  im  Text 
wurde  gewertet.  Während  hier 
die  anormalen  Schulpflichtigen 
und  die  schulentlassenen  Mäd- 
chen, letztere  infolge  der  mitge- 
rechneten Hilfsschüler,  wesent- 
lich hinter  den  Normalen  zurück- 
^  s  e  T  bleiben,  zeigt  der  Durchschnitt 
*  ßebunlrre  iiomL3twn  der  schulentlasseueu  Knaben  ein 

^^Ij  3  weit  besseres  Resultat.  (Abb.  4.) 


Beziehungen  zwischen  Intelligenz  u.  Morahtät  bei  jugendl.  Verwahrlosten      41 


5.  Die  freie  Kombination.  Zahl  und  Güte  der  Erzählungen  w-urde 
gewertet.    Nennenswerte  Unterschiede  sind  nicht  zu  entdecken. 

6.  Die  Urteils! ähigkeit.  Die  Zensierung  richtete  sich  nach  der  Art 
der  Einfühlung.  Das  anormale  Material  zeigt  auf  der  ganzen  Linie 
bessere  Werte  als  das  normale.  Ob  dies  daher  kommt,  daß  die  meisten 
bereits  durch  verschiedene  Schicksalsschläge  enger  mit  dem  praktischen 
Leben  in  Berührung  gekommen  sind,  mag  dahingestellt  bleiben. 

7.  Die  Anschauung.  Es  zeigte  sich  in  dem  Ergebnis  das  erwartete 
schlechte  Resultat  bei  den  Mädchen,  aber  auch  die  Knaben  des  Waisen- 
hauses schneiden  auffallend  schlecht  ab. 

8.  Das  Gesamtergebnis.  Um  sämtliche  Resultate  miteinander  ver- 
gleichen zu  können,  wurden  für  jeden  Prüfling  die  Einzelzeugnisse 
addiert.     Daß    bei 

diesem  Verfahren 
einzelne  Leistun- 
gen andern  gegen- 
über zu  hoch  ge- 
schätzt werden,  na- 
mentlich diejeni- 
gen ,  bei  denen 
7  Zensuren  zur 
Verfügung  stan- 
den, ist  selbstver- 
ständlich. Da  es 
sich  aber  nur  um 
einen  Vergleich 
handelt  und  bei 
allen  Gruppen  in 
gleicher  Weise  ver- 
fahren w^urde,  dürf- 
ten kaum  Einwendungen  gegen  dieses  Vorgehen  zu  erheben  sein. 
Abb.  4  zeigt  das  Ergebnis.  Auf  der  Abszissenachse  sind  die  Zahlen, 
die  sich  als  Summe  der  Zensuren  ergaben,  aufgetragen.  Das  Bild  zeigt 
außer  dem  schlechten  Ergebnis  bei  den  Mädchen  nur  die  Inhomogenität 
des  anormalen  Materials.  Größere  Unterschiede,  die  bei  der  Größe  der 
Variationsbreite  von  10—36  sicher  erkennbar  gewesen  wären,  lassen 
sich  nicht  nachweisen. 
In  folgender  Tab.  sind  für  jeden  Test  die  Durchschnittswerte  berechnet: 


73-i1  2Z-2't         23-27 

Gesimtergetnis 

Abb.  4. 


Ze-30        37-33 


V(24) 

W.  H.  K.  (46)  j  W.  H.  M.  (24)  |   E.  A.  K.  (29)   |   E.  A.  M.  (26) 

12,3—13,2—14,0 

11,8—13,4—14,3  11,4— 13,4— 14,1 1 14,3     16,7     19,0}l5,3    17,5    19,10 

1. 

•       4,7 

4,5 

4,2             '              3,1 

5,1 

2. 

2,8 

2,3 

3,3            1             2,8 

2,8 

3. 

2,6 

2,2 

3,3             ;             3,2 

2,5 

4, 

4,1 

4.8 

5,2                         3,9 

4,8 

5. 

3,3 

3,1 

3,5 

.3,2 

3,0 

6. 

3,6 

3,1 

3,1 

3,2 

3,0 

7. 

2,3 

3,2 

33 

2,2 

2,5 

1            23,4 

23,2 

25,9             1            21,6 

23,7 

!        m. 

I             IL 

V. 

i              I. 

IV. 

42  Paul  Riebesell 


Außer  der  Zahl  der  Prüflinge  für  die  Volksschule  (V),  die  Knaben- 
klasse des  Waisenhauses  (W.  H.  K.),  die  Mädchenklasse  des  Waisen- 
hauses (W.  H.  M.),  die  Erziehungsanstalt  für  Knaben  (E.  A.  K.),  die 
Erziehungsanstalt  füi-  Mädchen  (E.  A.  M.)  enthält  die  Tabelle  das  Alter 
der  Prüflinge  in  Jahren  und  Monaten,  und  zwar  jedes  Mal  zuerst  das 
geringste,  dann  das  Durchschnitts-  und  zuletzt  das  höchste  Alter.  Zum 
Schluß  sind  die  Durchschnittswerte  der  Zensuren  addiert  und  danach 
eine  Rangordnung  der  Gruppen  aufgestellt.  Sie  lautet:  1.  E.  A.  K., 
2.  W.  H.  K,  3.  V.,  4.  E.  A.  M.,  5.  W.  H.  M.  Nebenher  wurde  für  jede 
Klasse  eine  Rangordnung  der  Prüflinge  berechnet  und  zwar  ebenfalls 
einfach  durch  Addition  der  Einzelzensuren.  Ich  bin  mir  wohl  bewußt, 
daß  dieses  Verfahren  nicht  einwandfrei  ist,  sondern  daß  die  endgültige 
Ranglinie  aus  den  Rangordnungen  für  die  Einzelteste  hätte  berechnet 
werden  müssen.  Da  aber  diese  Untersuchung  nur  beiläufig  zur  Prüfung 
der  Brauchbarkeit  der  Teste  gemacht  wurde,  mag  dieses  Verfahren 
ausreichen.  Gleichzeitig  mit  der  Übersendung  der  Aufgaben  waren 
die  Klassenlehrer  gebeten,  eine  Intelligenzreihe  für  die  Prüflinge  nach 
ihren  Schätzungen  aufzustellen  und  anzugeben,  ob  es  sich  um  einen 
guten  oder  schlechten  Jahrgang  handle.  Ein  Vergleich  mit  den  von 
mir  berechneten  Ranglisten  ergaben  folgende  Abweichungen:  Der 
durchschnittliche  Unterschied  der  von  mir  berechneten  und  der  vom 
Lehrer  geschätzten  Klassenplätze  betrug  in  der  Volksschule  5,1;  in 
der  W.  H.  K.  6,1;  in  der  W.  H.  M.  3,2;  in  der  E.  A.  K.  2,7  und  in 
der  E.  A.  M.  ebenfalls  2,7.  Bei  der  geringen  Anzahl  der  Teste  dürfte 
das  Ergebnis  als  durchaus  befriedigend  bezeichnet  werden  können. 
Bemerkenswert  ist  noch,  daß  der  Jahrgang  der  Volksschule  als  normal, 
der  der  Knabenklasse  des  Waisenhauses  als  (in  bezug  auf  die  Schul- 
leistungen) schlecht  bezeichnet  wurde.  Werden  in  der  E.  A.  M.  die 
Hilfsschülerinnen  weggelassen,  so  wird  das  Ergebnis  auch  dort  be- 
deutend besser. 

4.  Schlußfolgerungen. 

Aus  den  Ergebnissen  sieht  man,  daß  von  einem  allgemeinen  Zurück- 
bleiben der  Intelligenz  bei  Verwahrlosten  keine  Rede  sein  kann.  Auch 
ein  Stehenbleiben  der  Intelligenz  auf  der  Stufe  etwa  des' 10.  Lebens- 
jahres, wie  es  vielfach,  in  Analogie  mit  den  Schwachsinnigen,  be- 
hauptet wird,  ist  durch  die  Tatsachen  widerlegt.  Scheidet  man  die 
geistig  Defekten  aus,  so  lassen  sich  die  moralisch  Defekten  von  den 
moralisch  Normalen  in  ihrer  Intelligenz  nicht  unterscheiden.  Eine 
andere  Frage  ist  die,  ob  der  Prozentsatz  der  moralisch  Defekten  unter 
den  geistig  Intakten  derselbe  ist  wie  unter  den  geistig  Defekten.  Von 
vornherein  ist  nicht  einzusehen,  warum  dies  nicht  der  Fall  sein  sollte. 
Eine  Untersuchung  darüber  ist  noch  nicht  gemacht.  Es  scheint  aber 
so,  als  wenn  Psychopathen  mit  Gefühls-  und  Willensdefekten  unter  den 
intellektuell  Normalen  ebenso  häufig  sind  wie  unter  den  intellektuell 
Defekten.  Die  Frage  'könnte  auch  umgekehrt  dadurch  geprüft  werden, 
daß  die  Zahl  der  geistig  Defekten  und  Normalen  einerseits  bei  den 
Verwahrlosten,  andererseits  bei  den  moralisch  Normalen  untersucht 
würde.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  die  Zahl  der  Hilfsschüler  unter  samt- 


Beziehungen  zwischen  Intelligenz  u.  Moralität  bei  jugendl.  Verwahrlosten     43 


liehen  Hamburger  Volksschülern  festgestellt.  Sie  betrug  nach  dem 
letzten  von  der  Oberschulbehörde  veröffentlichten  Jahresbericht  von 
1914  rund  1,4  Prozent.  Andererseits  war  die  Zahl  der  Hilfsschüler 
unter  den  im  Jahre  1917  von  der  Behörde  für  öffentliche  Jugendfür- 
sorge in  Zwangs-  oder  Fürsorgeerziehung  genommenen  Minderjährigen 
etwa  7  Prozent.  Im  Waisenhause  waren  im  August  1918  etwa  10  Prozent 
Hilfsschüler,  in  der  E.  A.  K.  etwa  5  Prozent,  in  der  E.  A.  M.  etwa 
6  Prozent.  Das  scheint  nun  zunächst  den  bisherigen  Ergebnissen  zu 
widersprechen  und  ein  Zeichen  dafür  zu  sein,  daß  Intelhgenz  und 
Moralität  in  der  Weise  miteinander  verknüpft  sind,  daß  ein  moraUscher 
Defekt  in  der  Regel  mit  einem  intellektuellen  verbunden  ist.  Bei  ge- 
nauerem Zusehen  erkennt  man  aber,  daß  dieser  Schluß  falsch  ist  und  daß 
er  auch  die  Ursache  für  die  Fehlschlüsse  früherer  Autoren  abgibt. 
Eine  einwandfreie  Prüfung  für  morahsche  Quahfikation  gibt  es  nicht. 
Daher  darf  das  Material  der  Volksschule  dem  der  Fürsorgezöglinge  nicht 
als  moralisch  normal  gegenüber  gestellt  werden.  Es  werden  zweifellos 
in  der  normalen  Volksschule  sich  Individuen  befinden,  die  morahsch 
weit  unter  manchen  Fürsorgezöglingen  stehen.  Sie  werden  aber  durch 
ihre  Intelligenz  davor  bewahrt,  daß  der  moralische  Defekt  offenkundig 
wird  und  zur  staatlichen  Erziehung  führt.  Praktisch  nachweisbar  ist 
eben  allein  die  moralische  oder  amoralische  Handlung,  die  ein  Ausfluß 
des  Charakters,  des  Zusammenwirkens  von  Intelligenz,  Gefühl  und 
Wille,  ist.  Wenn  ich  also  Normalschüler  mit  Fürsorgezöglingen  ver- 
gleiche, so  stelle  ich  nur  Charakternormale  den  Charakterdefekten 
gegenüber.  Daß  dann  unter  den  letzteren  die  Zahl  der  intellektuell 
Schwachen  überwiegt,  ist  selbstverständlich.  Als  ein  Beweis  dafür, 
daß  Intelhgenz-  und  Moraldefekte  miteinander  verbunden  sind,  dürfen 
aber  diese  Ergebnisse  nicht  angesehen  werden.  Zusammenfassend  läßt 
sich  also  Folgendes  sagen:  Reine  Moralprüfungen,  wie  sie  von  mir  in 
der  Ztschr.  f.  päd.  Psychologie  i)  beschrieben  und  inzwischen  gesondert 
auf  Voll-  und  Hilfsschüler  angewendet  sind,  geben  bei  gleichem  Lebens- 
alter und  verschiedenem  Intelligenzalter  keine  Unterschiede  in  der 
Moralität.  Reine  Intelligenzprüfungen,  wie  sie  hier  beschrieben  v^oirden, 
geben  bei  gleichem  Lebensalter  und  verschiedenen  Moralitätsstufen 
keinen  Unterschied  in  der  Intelligenz.  Nur  wenn  verschiedene  Charakter- 
stufen gewählt  werden,  die  eine  Hälfte  also  von  vornherein  mit  Intelli- 
genz- und  Willensdefekten  behaftet  ist,  ergeben  sich  sowohl  Unter- 
schiede in  der  Intelligenz  wie  in  der  Moralität. 

Daß  die  Fürsorgezöglinge  bei  allen  Intelligenzprüfungen  schlechter 
abschneiden  als  die  normalen  Schüler,  hat  auch  seinen  Grund  darin, 
daß  ihre  Schulbildung  außerordentlich  lückenhaft  ist.  Ganz  ausschalten 
lassen  sich  die  Schulkenntnisse  bei  den  Testen  nicht,  ganz  abgesehen 
davon,  daß  die  Ausbildung  der  Intelhgenz  zweifellos  durch  den  Schul- 
unterricht beeinflußt  wird.  Wie  stark  das  anormale  Material  in  bezug 
auf  die  Schulbildung  von  der  Norm  abweicht,  zeigt  die  Abb.  5  S.  44.  In 
ihr  ist  zusammengestellt,  aus  w^elchen  Klassen  die  Volksschüler  nach 
dem  Jahresbericht  der  Hamburger  Oberschulbehörde  von  1914  die  Schule 

')  Vgl.  ztschr.  f.  päd.  Psychologie  und  experimentelle  Pädagogik,  Bd.  18,  1917. 


44 


Paul  Riebeseil,  Intelligenz  u.  Moralität  bei  jugendl.  Verwahrlosten 


3i  - 


25- 


10  - 


verlassen  haben  (Kurve  V).  Auf  der  Abszissenachse  sind  die  Klassen 
aufgetragen:  Selekta,  1,  2,  3,  4,  t  (tiefere  Klassen).  Auf  der  Ordinaten- 
achse    finden    sich    die   zugehörigen    Prozentzahlen.     Die    gestrichelte 

Kurve  F.  Z.  gibt  die  Verhältnisse  bei  den 
im  Jahre  1917  aufgenommenen  schul- 
entlassenen Fürsorge-  und  Zwangs- 
erziehungszöglingen wieder.  Ob  das 
auffallende  Zurückbleiben  in  den  Schul - 
leistungen  eine  Ursache  oder  eine  Folge 
der  Verwahrlosung  ist,  soll  hier  nicht 
weiter  untersucht  werden,  zumal  das 
Fortkommen  in  der  Schule  nicht  allein 
von  der  Intelligenz  abhängt. 

Daß    aus    der    Unabhängigkeit    von 
Wille    und    Intellekt    wichtige    Folge- 
rungen in  bezug  auf  die   Auslese   in 
den  Schulen,  die  Tätigkeit  der  Lehrer, 
die  Methoden  der  Fürsorgeerziehung,  die  Anforderungen  an  die  Reform 
des  Jugendstrafrechts  zu  ziehen  sind,  sei  hier  nur  angedeutet. 

Der  hamburgischen  Oberschulbehörde,  die  die  Prüfung  der  Teste  an 
ihren  Anstalten  gestattete,  sowie  den  Leitern  und  Lehrkräften  der 
Volksschule  und  der  Anstalten  der  Behörde  für  öffentliche  Jugendfür- 
sorge, die  mich  bei  den  Arbeiten  unterstützten,  sei  auch  an  dieser 
Stelle  bestens  gedankt. 


Abb.  5. 


Muster  eines  Tagebuches  über  Kinder. 

Von  Stefan  von  Mäday. 

Eine  der  wichtigsten  Methoden  der  Kinderforschung  ist  und  bleibt  die  freie 
Beobachtung  des  Kindes.  Mögen  die  experimentellen  Methoden  noch  so  ver- 
feinert und  vermehrt  werden,  mit  diesen  allein  kann  das  Wesen  des  Kindes 
niemals  erschöpfend  erforscht  werden.  Die  meisten  Entdeckungen  verdanken 
wir  der  freien  Beobachtung,  während  die  Versuche  nur  dem  Zwecke  dienen, 
die  durch  Beobachtung  gewonnenen  Erkenntnisse  zu  kontrollieren,  zu  sichern 
und  anzuwenden. 

Die  Beobachtung  ist  entweder  eine  unsystematische  oder  eine  systematische. 
Gebildete,  denkende  Eltern  und  Lehrer  werden  selbst  dann  wertvolle  Be- 
obachtungen sammeln  können,  wenn  ihnen  gesagt  wird:  sie  mögen  alles  auf- 
schreiben, was  ihnen  am  Kinde  auffällt.  Es  ist  jedoch  ein  großer  Nachteil 
solcher  unsystematischen  Beobachtungen,  daß  oft  gerade  Dinge,  auf  die  der 
Bearbeiter  Wert  legen  würde,  nicht  notiert  werden;  andererseits  beanspruchen 
die  unsystematischen,  tagebuchartig  z.  B.  in  ein  Buch  eingetragenen  Beobach- 
tungen eine  mühsame  Sichtungsarbeit. 

Wertvoller  für  die  Forschung  sind  die  systematischen  Aufzeichnungen.  Die 
vom  Bearbeiter  im  vorhinein  gestellten  Fragen  werden  vom  Beobachter  täg- 
lich beantwortet.  Außerdem  können  auch  unsystematische  Beobachtungen  ge- 
sammelt  werden;   diese  werden  in  die  Rubrik  „Anmerkungen"  eingetragen. 


Stefan  von  Maday,  Muster  eines  Tagebuches  über  Kinder  45 

Da  ich  in  der  Absicht,  gewisse  physiologische  und  psychologische  Zusammen- 
hänge zu  studieren,  seit  1909  ein  tabellarisches  Tagebuch  über  mich  selbst 
führe,  habe  ich  zur  Zeit  der  Geburt  meines  älteren  Sohnes  (1912)  ein  ähn- 
liches Tagebuchscheina  zur  Beobachtung  von  kleinen  Kindern  entworfen 
(I.  Muster;.  Als  mein  Sohn  sein  3.  Lebensjahr  vollendete,  entwarf  ich  ein 
neues  Schema  (11.  Muster),  und  in  schulpfhchtigem  Alter  werden  vielleicht 
wieder  neue  Rubriken  nötig  sein.  Die  Tagebücher  werden  von  meiner  Frau 
geführt.  (Das  ei-ste  Muster  war  bereits  in  der  pädagogischen  Abteilung  der 
Ausstellung  für  Buchgewerbe  und  Graphik  in  Leipzig  1914  ausgestellt.)     "'" 

Auf  Grund  der  nach  diesen  Mustern  geführten  Tagebücher  gelang  es  mir, 
manchen  wertvollen  Vergleich  zwischen  dem  Entwicklungsgange  der  in  der 
Literatur  geschilderten  Kinder  mit  dem  meiner  Kinder  zu  ziehen.  Es  wiu-den 
jedoch  bis  heute  nur  über  ganz  wenige  Kinder  systematische  Aufzeichnungen 
geführt,  so  daß  der  durchschnittliche  Rhythmus  der  seelischen  Entwicklung 
hieraus  nicht  festgestellt  werden  kann.  Zur  Erforschung  desselben  ist  es 
wünschenswert,  mindestens  einige  hundert  Fälle  systematisch  zu  beobachten. 
Ich  veröffentliche  meine  Tagebuch-Muster  in  der  Erwartung,  daß  sich  meine 
Leser  in  Würdigung  des  hohen  wissenschaftlichen  Wertes  einer  solchen  Sammel- 
forschung mein  Ziel  zu  eigen  machen,  und  daß  auf  diese  Weise  die  erw'ünschten 
400 — 500  Kindertagebücher,  als  eine  reiche  Fundgrube  der  Kinderforschung, 
in  einigen  Jahren  einlangen  werden. 

Anleitung  zur  Führung  eines  Tagebuches  über  Kinder. 

Zur  Herstellung  des  Tagebuches  wird  monatlich  je  ein  Bogen  Icm-Quadrat- 
liniertes  Schreibpapier  (Größe  34x42  cm)  benötigt.  Ein  solcher  Bogen  dient 
als  Umschlag;  in  dessen  oberste  drei  Zeilen  werden  die  Überschriften  der 
Rubriken  eingetragen,  während  die  übrigen  Zeilen  frei  bleiben.  Von  den 
übrigen  Bogen  werden  die  obersten  drei  Zeilen  weggeschnitten,  damit  sie  die 
Überschriften  des  Umschlagbogens  sichtbar  werden  lassen.  So  bleiben  auf 
jedem  Bogen  gerade  31  Zeilen  übrig,  und  jede  Zeile  ist  für  einen  Tag  bestimmt. 
Man  .braucht  demnach  monatlich  einen  Einlagebogen ;  die  Bogen  werden  nicht 
geheftet.  (Benutzt  man  an  Stelle  des  1  cm -Quadrat -Papiers  das  überall  er- 
hältliche 1  2  cm-Quadrat-Papier,  so  dienen  je  zwei  Zeilen  dieses  Papiers  fü 
je  einen  Tag.) 

Die  Nacht  wird  zum  nachfolgenden  Tag  gerechnet,  so  daß  je  eine  Zeile  des 
Tagebuches  die  Zeit  von  einem  Abend  bis  zum  nächsten  Abend  in  sich  faßt. 

Im  Stabe  ,,Befinden"  wird  der  Zustand  des  Kindes  klassifiziert.  Die  Schätzungs- 
skala ist  von  mir  nach  langjähriger  Erfahrung  in  der  Weise  aufgestellt  worden, 
daß  es  fünf  Haupt-  und  vier  Zwischenstufen  (bezw.  Klassifikationsnoten)  gibt : 
das  Beste  wird  mit  der  höchsten  Zahl,  das  Schlechteste  mit  der  niedrigsten 
Zahl  bezeichnet: 

5  =  vorzüghch  (z.  B.  „nur  selten  fühlte  es  sich  so  wohl")  0.4  =  sehr  gut 
4  =  gut  (z.  B.  „fühlt  sich  wohl")  4/3  =  gut  mittel 

3  =  mittel  3/2  =  schwach  mittel 

2  =  schwach  (z.  B.  krank)  2/i  =  sehr  schwach 

1  =  schlecht  (z.  B.  sterbenskrank). 

Bis  man  in  der  Anwendung  der  Skala  genügende  Übung  erlangt,  benutze 
man  bloß  die  (durch  ganze  Zahlen  ausgedrückten)  Hauptstufen. 


46 

Stefan  von  Mäday 

I.  Muster.                                                                                 1.  Beispiel,  aus  dem  ! 

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3.  Beispiel,  aus  dem 


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1917. 
XII.  1. 


12 


Bad 


Wo  Zeitangaben  verlangt  werden  (z.  B.  in  dem  Stabe  „ Schlaf zeiten"),  da 
rechne  man  die  Stunden  fortlaufend  von  Mitternacht  bis  Mitternacht,  damit 
die  Wörter  „Vormittag",  „Nachmittag"  usw.  weggelassen  werden  können.  Man 
schreibe  also  1300  für  1  Uhr  nachm.,  19^5  für  73/4  abends. 

Im  Stabe  „Schlafzeiten"  kann  man  sich  mit  der  Eintragung  der  nächtlichen 
Schlafzeiten  begnügen,  insbesondere,  wenn  die  Tages-Schlafzeiten  kurz  und 
unregelmäßig  sind;  es  kann  sogar  diese  Rubrik  unausgefüUt  bleiben;  sie  bildet 
hauptsächlich  nur  eine  Hilfe  zur  Ausfüllung  des  folgenden,  „Schlaf menge" 
überschriebenen  Stabes,  auf  dessen  annähernd  richtige  Ausfüllung  mehr  Ge- 
\\ächt  gelegt  werden  soll.  In  diesem  Stabe  werden  ganze  und  Viertel-Stunden 
verzeichnet;  um  —  zur  Berechnung  des  Monatsmittels  —  bequemer  addieren 
zu  können,  wird  die  1^2  Stunde  als  2  4  geschrieben. 


Muster  eines  Tagebuches  über  Kinder 


47 


Tagebuche  über  Bela  v.  M.  (geb.  1912,  XI.  3.) 


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Anmerkungen 


Streu- 
pulver 
1  Tee 


Schüttelt  das  Kollerl. 
Hält  in  Bauchlage  den 
Kopf  minutenlang  hoch 


Tagebuche  über  Laslo  v.  M.  (geb.  1917,  V.  7.). 


9     1  2  j  geformt 


61  cm 


Sehr  brav ,  spielt  lange  mit 
der  Puppe.  Zieht  Mutter  und 
das  Kindermädcben  beim  Haar. 
Beobachtet  fremde  Leute  scharf. 
Schläft  leicht  ein. 


Tagebuche  über  Bela  v.  M.  (geb.  1912,  XI.  3.). 


Spiele 


Träume 


Geistige  Fort- 
schritte 


Anmerkungen 


Krieg,  Baukasten, 
Kochen. 


Bin  sehr  schnell  mit  der  Eisen- 
bahn gefahren  und  suchte  den 
Papa  und  fand  ihn. 


Beginnt  seinen 

Vornamen  allein  zu 

8chreit)en. 


j      Sehr  lebhaft,  spricht  viel  vom 
I  Weihnachtsmann,  und  wünscht  sich 
ein  Ariston.  Fragt,  wie  man  Ochs, 
'  Kuh  und  Stier  voneinander  kennt. 


Die  Untergruppen  des  Stabes  „Nahrung"  werden  nach  Verlassen  der  Milch- 
diät nicht  mehr  besonders  ausgefüllt;  auch  können  die  Überschriften  nach 
Bedarf  abgeändert  werden. 

„Körpermaße"  werden  monatlich  einmal  (am  Geburtstage)  aufgenommen. 
Das  Körpergewicht  wird  in  den  ersten  Wochen  täglich  bestimmt.  Körper- 
temperatur wird  niu*  bei  Krankheit  gemessen ;  es  \^ird  Stunde  und  Minute  des 
Messens,  sowie  die  gemessene  Körperstelle  (z.  B.  „im  Mastdarm")  angegeben. 

Der  Stab  „Anmerkungen"  enthält  die  unsystematischen  Beobachtungen. 
Wird  uns  hier  der  Raum  zu  eng,  so  schreiben  wir  auf  eine  Beilage  (auf  einen 
Zettel  oder  in  ein  Buch)  und  ver^^eisen  darauf  im  Stab  „Anmerkungen". 

Die  wichtigste  Regel  des  Tagebuches  über  Kinder  ist  aber  diese:  die  Au f- 
zeichnung  her  übe  auf  Beobachtung,  nicht  ab  er  auf  Befragung  des 


48  Stefan  von  Maday,  Muster  eines  Tagebuches  über  Kinder 


Kindes.  Würde  eine  Mutter  die  Tagebuchtabelle  in  der  Weise  ausfüllen  wollen, 
daß  sie  etwa  ihr  5  jähriges  Kind  Jeden  Abend  —  oder  auch  nur  ein  einziges 
Mal  —  zu  ihrem  Schreibtisch  ruft  und  fragt:  „Wie  hast  du  dich  heute  ge- 
fühlt? Hast  du  Appetit  gehabt?  Wie  hast  du  geschlafen?  Was  hast  du 
geträumt?  usw."  —  so  würde  sie  nicht  bloß  un verläßliche,  für  eine  wissen- 
schaftliche Bearbeitung  wertlose  Angaben  anhäufen,  sondern  sie  würde  gegen 
die  Grundsätze  der  Kindererziehung  verstoßen.  Niemals  darf  ein  Kind 
bemerken,  daß  es  beobachtet  wird,  daß  man  sich  in  besonderer  Art 
mit  ihm  beschäftigt,  daß  es  der  Mittelpunkt  des  Interesses  der  Erwachsenen 
ist.  Denn  dadurch  würde  das  Kind  zur  Anmaßung,  zum  Egoismus,  zum  Eigen- 
dünkel verleitet  und  zur  Hysterie  erzogen.  Ein  viel  kleinerer  Fehler  ist  es, 
wenn  die  Rubriken  des  Tagebuches  unausgefüUt  bleiben.  Man  notiere  daher 
nur,  was  man  sieht,  oder  was  das  Kind  unaufgefordert  erzählt  (z.  B.  Träume) ; 
die  Unterabteilungen  des  Stabes  „Befinden"  fülle  man  aber  mit  lauter  Sern  aus, 
wenn  nichts  besonderes  beobachtet  werden  konnte. 

Schließlich  bitte- ich  alle  diejenigen,  die  meine  Tagebuchmuster  benutzen 
werden,  mir  ihre  damit  gemachten  Erfahrungen  mitzuteilen  und  mir  die  fertigen 
Tagebücher  mindestens  leihweise  zur  Verfügung  zu  stellen. 


Die  unterrichtliche  Behandlung  Kopfschußverletzter. 

Von  Artur  Stößner. 

Die  besondere  Fürsorge  für  Kopfschußverletzte  ist  Neuland  der  Kriegs- 
beschädigtenfürsorge. Aber  die  große  Zahl  der  Kopfschuß  verletzten  dieses 
Krieges,  die  die  Zahl  der  Amputierten  noch  übersteigt,  machte  einen  möglichst 
raschen  Ausbau  dieses  Teiles  der  Kriegsfürsorge  zur  gebieterischen  Pflicht, 
und  gegenwärtig  bestehen  wohl  in  allen  Korpsbezirken  besondere  Einrichtungen 
für  Kopfschußverletzte:  Schulen,  Werkstätten,  Beratungsstellen.  Es  ist  selbst- 
verständlich, daß  bei  Verletzungen  des  Gehirns  Störungen  des  Seelenlebens 
in  langer  Kette  und  in  allen  möglichen  Stärkegraden  auftreten,  von  der  vielleicht 
ganz  eng  umgrenzten  Ausfallserscheinung  an,  die  sich  nur  eingehender  ex- 
perimenteller Prüfung  erschließt,  bis  zu  den  schwersten  Intelligenzmängeln, 
durch  die  die  Verwundeten  auf  die  Stufe  von  Schwachsinnigen  herabgedrückt 
werden.  Deshalb  muß  in  der  Heilbehandlung  dem  Unterrichte  eine  besonders 
bedeutsame  Rolle  zufallen.  Wenn  es  nun  schon  bei  normalen  Schülern  not- 
wendig ist,  daß  der  Lehrer  zunächst  deren  Anlagen  und  Fähigkeiten  genau 
kennen  lernen  muß,  ehe  er  den  Hebelarm  seines  Unterrichts  ansetzen  kann, 
so  wird  diese  Forderung  eines  möglichst  tiefen  Einblickes  in  das  Gesamt- 
gefüge der  geistigen  Persönlichkeit  bei  den  Kopfschußverletzten  eine  ganz 
unerläßliche  Vorbedingung.  Wir  wenden  uns  deshalb  in  den  folgenden,  dem 
Unterricht  an  Hirnverletzten  gewidmeten  Ausführungen,  die  auf  die  an  sich 
außerordentlich  wichtige  Werkstättenbehandlung  nicht  eingehen  wollen,  zu- 
nächst der  Frage  zu: 

I.  Welcher  Art   sind  die  Störungen  des  Seelenlebens? 

Darüber  wird  neben  manchen  anderen  Hilfsmitteln  vor  allem  auch  eine 
mit  dem  Rüstzeuge  der  experimentellen  Psychologie  arbeitende  Prüfung  die 


Artur  Stößner,  Die  iinterrichtliche  Behandlung  Kopfschußverletzter        49 

wünschenswerte  Aufklärung  bringen.  Es  sei  auf  die  Methodik  solcher  Ver- 
suche nicht  eingegangen.  Sie  werden  natürhch  in  jedem  einzelnen  Falle 
besondere  Ergebnisse  zeitigen;  gröbere  und  feinere  Abweichungen  vom  Durch- 
schnitt, Berg  und  Tal  in  der  Wellenlinie  der  Variationsmöglichkeiten  werden 
in  unendlicher  Mannigfaltigkeit  am  geistigen  Auge  des  Beobachters  vorüber- 
ziehen. Aber  andererseits  lassen  sich  doch  auch  in  dem  Geflecht  gewisse 
Grundlinien  als  ziemlich  regelmäßig  wiederkehrend  erkennen.  Von  diesen 
Störungen  sind  für  den  Unterricht  besonders  wichtig:  Seh-,  Hör-,  Sprech-, 
Lese-,  Schreib-  und  Rechenstörungen,  Gedächtnisschwäche,  große  Ermüdbar- 
keit, herabgesetzte  und  sehr  wechselnde  allgemeine  Widerstandsfähigkeit, 
Leistungspessimismus,  Aufmerksamkeitsmängel,  Reizbarkeit,  Affektanfälligkeit. 
Unter  diesen  Störungen  tritt  die  Herabsetzung  der  Merkfähigkeit  be- 
sonders häufig  auf,  und  wie  schon  beim  Altersgedächtnisschwund  der  Satz 
gilt:  „Das  Neue  stirbt  vor  dem  Alten",  so  findet  man  auch  bei  Kopfschuß- 
verletzten den  tief  eingegrabenen  alten  Gedächtnisbesitz  verhältnismäßig  wenig 
angegriffen,  während  die  Neuaufnahme  von  Vorstellungen  in  auffallendster 
Weise  erschwert  ist.  Auch  geistig  sehr  gebildete  Kopfschußverletzte  tragen 
deshalb  häufig  ein  Notizbuch  bei  sich  zum  Eintrag  einfachster  Alltagserlebnisse. 
So  ist  z.  B.  schon  das  Nachsprechen  einstelliger  Zahlen  oder  einsilbiger  Wörter 
eng  begrenzt;  während  der  gesunde  Erwachsene  von  10  etwa  im  Abstand  von 
2  Sekunden  vorgesprochenen  Wörtern  mittleren  Umfangs  und  geringer  Auf- 
fassungsschvderigkeit  6 — 7  sofort  zu  reproduzieren  vermag,  sinkt  beim  Kopf- 
schußverletzten die  Gedächtnisspanne  oft  auf  2 — 3  herab.  Dazu  hat  eine 
leichte  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  geradezu  verheerende  Wirkungen  für 
die  eben  aufgenommenen  Vorstellungen;  die  Gedächtnisspuren  werden  voll- 
ständig ausgelöscht,  so  daß  die  Ziehensche  Prüfungsmethode  der  disparaten 
Aufgabe  und  der  3.  Teil  des  Viereggeschen  Versuches,  bei  deren  Dui'chführung 
solche  Ablenkungen  der  Aufmerksamkeit  absichtlich  eingeschoben  werden, 
nicht  gelingen. 

Einen  nachteiligen  Einfluß  übt  die  Hirnverletzung  auch  auf  den  Vorstellungs- 
ablauf aus;  es  treten  auffallende  Verlängerungen  der  Assoziationszeiten  ein ; 
die  inhaltliche  Beschaffenheit  der  Reaktionswörter  deutet  entv^-eder  auf  einen 
sehr  sprunghaften  Vorstellungsablauf,  der  mehr  oder  weniger  schon  an  die 
Auflösung  aller  Vorstellungsverbände,  an  Be\\aißtseinszerfall,  erinnert,  oder 
auf  ebenso  unnormales  Festhalten  der  Ausgangsvorstellungen.  Ebenso  ist 
das  Streuungsmaß  der  Reproduktionszeiten  sehr  groß;  es  folgen  die  Wörter 
in  ganz  verschiedener  Schnelligkeit,  ohne  daß  etwa  in  der  Gesamtbewußt- 
seinslage oder  in  der  Geläufigkeit  der  Verbindungen  oder  in  der  inhaltlichen 
Wertigkeit  der  Wörter  eine  hinreichende  Erklärung  für  solche  Schwankungen 
gegeben,  ist. 

Eine  Schädigung,  die  etwa  in  derselben  Regelmäßigkeit  auftritt  wie  die 
Minderung  der  Merkfähigkeit,  ist  die  leichte  Ermüdbarkeit.  Prüft  man 
mit  einer  der  KraepeUnschen  fortlaufenden  Arbeitsmethoden,  so  überdeckt  in 
sehr  vielen  Fällen  die  Ermüdung  fast  von  Anfang  an  alle  Übungseinflüsse, 
obwohl  diese  wegen  mangehider  Vorübung  als  ziemlich  hoch  einzuschätzen  sind. 

Häufig  wird  man  auch  eine  Herabsetzung  der  Intelligenz  feststellen 
können;  das  denkende  Durchdringen  der  Wirkhchkeit  ist  erschwert  und  ver- 
langsamt, die  Klarheit  des  Urteils  getrübt:  die  Verbindung  von  Stichwörtern 
zu  Sätzen,  die  Ausfüllung  eines  lückenhaften  Textes,  die  Einfügung  fehlender 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  4 


50  Artur  Stößner 


Bindewörter,  die  Erkennung  von  logischen  Widersprüchen,  die  Aufstellung 
von  Begriffsleitern  gelingen  nicht  oder  nur  ganz  ungenügend,  so  daß  man 
einen  Intelligenzrückstand  annehmen  muß.  Immerhin  dürfte  gerade  bei  der 
Messung  und  Eichung  der  Intelligenz  einige  Vorsicht  am  Platze  sein,  da  viele 
der  gebräuchlichen  Formen  der  Intelligenzprüfung  an  dem  Fehler  leiden,  daß 
sie  zu  viel  rein  schulmäßiges  oder  verwandtes  Wissen  prüfen  und  damit  eine 
unerläßliche  Voraussetzung  aller  experimentellen  Untersuchungen,  nämlich  die 
Gleichheit  der  Versuchsbedingungen,  nicht  erfüllen,  da  natürlich  die  Schul- 
bahnen der  zu  Untersuchenden  ganz  verschiedene  Richtungen  aufweisen. 

Zu  diesen  allgemeinen  Störungen  gesellen  sich  noch  besondere.  Unter 
diesen  ist  das  weitverzweigte  Gebiet  der  Aphasie  oder  Stummheit  zu  nennen. 
Die  Grundformen  sind  mro torische  und  sensorische  Aphasie.  Die  erstere 
zeigt  sich  in  der  Aufhebung  des  Sprechvermögens.  Die  Ursache  ist  die 
Verletzung  der  dritten  linken  Stirnwindung,  wodurch  die  Wortbewegungs- 
vorstellungen, d.  h.  die  Erinnerungsbilder  der  beim  Aussprechen  eines  Wortes 
zu  vollziehenden  Bewegungen  der  Sprechmuskulatur,  verloren  gehen.  Die 
sensorische  Aphasie  zeigt  sich  in  der  Aufhebung  des  W^ortverständnisses  in- 
folge des  Verlustes  der  Wortklangbilder.  Das  Hörvermögen  ist  vorhanden, 
aber  die  Wörter  erscheinen  wie  Wörter  einer  fremden  Sprache.  Oft  handelt 
es  sich  auch  nur  um  leichtere  Erscheinungen,  z.  B.  um  Erschwerung  der 
Wortfindung.  Dazu  kommen  mancherlei  andere  Störungen  verwandter  Ai't, 
so  im  Lesen,  Schreiben,  wobei  etwa  das  Schreiben  nach  Diktat,  das  Spontan- 
schreiben oder  das  Abschreiben  gesondert  gestört  sein  können.  Wegen  der 
verhältnismäßig  großen  Ausdehnung  der  im  Dienste  des  Sprechens  stehenden 
Rindenteile  sind  bei  Kopfschüssen  Sprachstörungen  sehr  häufig,  weshalb  stets 
auch  Sprechen,  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  zu  prüfen  sind. 

Sehr  häufig  sind  auch  Sehstörungen;  wir  finden  sie  nicht  nur  bei  Ver- 
letzung des  Hinterhauptlappens,  in  dem  die  Sehsphäre  liegt,  sondern  auch  bei 
Beschädigung  anderer  Hirnteile,  weil  die  Sehbahn  ein  außerordentUch  weit- 
verzweigtes Nervenleitungssystem  darstellt.  Das  Hauptkennzeichen  ist  die 
Halbseitenblindheit,  der  halbseitige  Gesichtsfeldausfall.  Mit  der  RindenbUnd- 
heit  darf  die  Seelenblindheit  nicht  verwechselt  werden.  In  diesem  Fall  ist 
das  Verständnis  für  Gesehenes  erloschen;  Farbe,  Form,  Größe,  räumhche 
Beziehungen  werden  wahrgenommen,  aber  die  Gegenstände  werden  nicht 
erkannt.  Aus  dieser  kurzen  Übersicht  über  die  am  häufigsten  vorkommen- 
den Störungen  ergibt  sich  schon,  wie  vielseitig  der  den  Hirnverletzten  zu 
erteilende  Unterricht  sein  muß. 

II.  Wie  ist  der  Unterrieht  zu  gestalten? 

Ohne  weiteres  ergeben  sich  drei  Klassen,  nämlich  für  Sprachgeschädigte, 
für  Sehgeschädigte  und  die  allgemeine  Abteilung.  Auch  die  vor  Ostern  1918 
im  Reserve -Lazarett  Arnsdorf  bei  Dresden  durch  die  Stiftung  Heimatdank 
ins  Leben  gerufene  Hirnverletztenschule  weist  diese  drei  Klassen  auf;  zu  ihnen 
haben  sich  dann  später  noch  drei  Fachklassen  gesellt,  nämhch  für  kaufmännische 
und  Büroberufe,  für  Zeichner  und  Arbeiter  in  technischen  Büros  und  für  Land- 
wirte. Ein  verhältnismäßig  dankbares  Gebiet  der  Übungsbehandlung 
stellen  die  motorischen  Sprachstörungen  dar;  durch  Stimmbildungs-, 
Artikulations-  und  Sprechübungen,  Lesen  und  Wiedererzählen  wird  man  ver- 


Die  unterrichtliche  Behandlung  Kopfschußverletzter  51 


suchen,  dem  Geschädigten  die  Lautsprache  als  das  ideale  Verständigungsmittel, 
das  in  der  Menschheitsentwicklung  den  Sieg  über  alle  anderen  dem  Mitteilungs- 
bedih'fnisse  dienenden  Hilfsmittel  davongetragen  hat,  wieder  zu  erobern. 
Besonders  gute  Dienste  leistet  dafür  das  linkshändige  Schreiben;  es  trägt  zur 
Ausbildung  eines  neuen  Sprachzentrums  in  der  rechten  Hirnhälfte  bei.  Da 
unser  Denken  in  der  Hauptsache  mit  Wortvorstellungen  arbeitet,  die  die  Stützen, 
Hilfen,  Träger,  Fixierungs-  und  Angelpunkte  des  Denkvorganges  sind,  da  die 
Wörter  gewissermaßen  die  sinnlichen  Symbole  der  Begriffe  sind,  so  bewahren 
wir  den  Sprachgeschädigten  zugleich  auch  vor  der  ihm  sonst  drohenden  Ge- 
fahr der  allmählichen  Verblödung.  Die  Rückbildungsaussichten  der  motorischen 
Aphasie  sind  günstig;  in  sehr  vielen  Fällen  verbleiben  bei  genügend  langer 
Behandlung  wenigstens  für  den  Nichtkopfarbeiter  keine  die  Erw^erbsfähigkeit 
wesentlich  beeinträchtigenden  Rückstände.  Auch  die  Spätstörungen,  die  nach 
Beseitigung  der  eigentlichen  Aphasie  in  der  Form  des  Stotterns  auftreten,  sind 
erfolgreich  zu  bekämpfen. 

Nicht  so  günstige  Aussichten  bieten  die  sensorische  Aphasie  und  die  Seelen- 
blindheit; am  zweckmäßigsten  weist  man  diese  Fälle  der  Abteilung  für  Seh- 
geschädigte mit  zu.  Bei  dem  halbseitigen  Gesichtsfeldausfall  ist  die 
Lokalisierung  der  Gegenstände  im  Räume  und  die  Bewegung  im  Räume  er- 
schwert; so  wird  z.B.  bei  Halbiei"ungsaufgaben  stets  der  Teilungspunkt  nach 
der  Ausfallsseite  hin  verschoben,  so  daß  dieser  Teil  der  Linie  zu  klein  wird. 
Wenn  irgendwo,  so  gilt  in  der  Sehklasse  der  alte  pädagogische  Satz:  „An- 
schauung ist  das  absolute  Fundament  aller  Erkenntnis."  Daneben  müssen 
Lesen  und  Schreiben  geübt  werden;  bei  rechtsseitigem  Ausfall  sind  die  dem 
fixierten  Worte  nachfolgenden  Wörter  der  Zeile  unsichtbar ;  diese  Verküizung 
des  Lesefeldes,  also  des  durch  einen  einzigen  Bewußtsein  Vorgang  aufgefaßten 
Teiles  der  Lesezeile,  macht  sich  bei  der  Zusammenschheßung  der  Wörter 
zu  größeren  sinngemäßen  Einheiten  sehr  störend  geltend.  Bei  der  Über- 
windung dieser  Schwierigkeiten  leistet  ein  Lesestäbchen  gute  Dienste;  beson- 
ders empfehlenswert  ist  es  für  die  Erweiterung  des  Restgesichtsfeldes,  wenn 
das  Stäbchen  bei  linksseitigem  Ausfall  mehr  an  den  Wortanfang,  bei  rechts- 
seitigem mehr  an  das  Wortende  gesetzt  mrd.  Da  Halbseitenblindheit  den 
Lesevorgang  erheblich  erschwert,  so  bleibt  für  das  Eindringen  in  den  Sinn 
des  Gelesenen  wenig  Kraft  zur  Verfügung,  woraus  sich  die  allgemeine  Klage 
dieser  Geschädigten  erklärt,  daß  sie  nicht  verstehen,  was  sie  lesen.  Deshalb 
muß  das  Durchsprechen  von  Lesestücken  und  im  Anschluß  daran  die  inhalt- 
liche Wiedergabe  derselben  fleißig  gepflegt  werden.  Aufsuchen  einzelner 
Gegenstände  und  Figuren  in  einer  großen  Anzahl  gleichzeitig  dem  Auge  sich 
darbietender  Eindrücke,  sowie  Laubsägearbeiten  und  Ausschneideübungen 
sind  weitere  wichtige  Hilfsmittel  der  Übungsbehandlung. 

Der  allgemeinen  Abteilung,  die  man  gegebenenfalls  in  eine  Unter-  und 
Oberklasse  gliedern  wird,  werden  diejenigen  zugewiesen,  die  keine  der  bis- 
her erwähnten  besonderen  Störungen,  sondern  nur  eine  Herabsetzung  der 
formalen  geistigen  Leistungsfähigkeit  aufweisen.  Man  wird  hier  schulmäßiges 
und  verwandtes  Wissen  und  Können  durch  den  Unterricht  zu  beleben  suchen; 
man  wird  etwa  Rechnen,  Lesen,  Schreiben,  beschreibenden,  erzählenden  und 
stiUstischen  Anschauungsunterricht,  Bürgerkunde,  Buchführung  erteilen.  In 
erster  Linie  aber  muß  die  Bekämpfung  der  durch  möglichst  genaue  psycho- 
logische Analyse  festgestellten  Mängel  der  geistigen  Leistungsfähigkeit  stehen. 


52        Artur  Stößner,  Die  unterrichtliche  Behandlung  Kopfschußverletzter 

Die  Merkfähigkeit  ist  durch  Gedächtnisübungen  zu  bessern;  die  Fehler  der 
Aufmerksamkeitsspannung  werden  durch  Übungen  am  Tachistoskop  beseitigt; 
der  Vorstellungsablauf  wird  durch  künstliche  Erweckung  von  Assoziationen 
beeinflußt;  die  Messungsmethoden  der  Intelligenz  können  zugleich  auch  als 
Übungsmittel  dienen ;  die  Ermüdbarkeit  wird  durch  allmählich  sich  steigernde 
Aufgaben  nach  den  fortlaufenden  Arbeitsmethoden  bekämpft.  Solche  zweck- 
mäßig aufgebaute  Übungen  bewirken  eine  vielseitige  Inanspruchnahme  der 
assoziativen  Nervenleitungsbahnen,  ihre  rechte  Abstimmung  und  Ausschleifung, 
die  Zuleitung  von  Erregungswellen  nach  den  gewünschten  Richtungen,  die 
Umbiegung  und  Erneuerung  von  Dispositionsrichtungen  und  die  Beseitigung 
von  Hemmungswiderständen  aller  Art.  Solche  rein  formale  Übungen  sind 
ganz  besonders  zu  empfehlen,  obwohl  sie  das  unmittelbare  Interesse  der 
Hirnverletzten  naturgemäß  nicht  leicht  zu  gewinnen  vermögen;  sie  schaffen 
und  verbessern  aber  das  Handwerkszeug  für  spätere  Anforderungen  und 
machen  sich  deshalb  reichlich  bezahlt. 

Selbstverständlich  muß  jeder  Unterricht  in  allen  seinen  Teilen  und  Maß- 
nahmen auf  die  eigenartige  Geistesverfassung  der  Kopfschußverletzten  genau 
eingestellt  werden.  Die  Klassen  sind  nur  schwach  zu  besetzen ;  häufig  wird 
Einzelunterricht  nötig  sein.  Vor  allen  Dingen  sind  sie  vor  zu  hohen  Anforderun- 
gen zu  bewahren;  die  Gefahr  der  Überanstrengung  liegt  nahe,  weil  sie  nach 
Abschluß  der  chirurgischen  Behandlung  auf  den  ersten  Blick  keinen  ungün- 
stigen Eindruck  machen.  Der  leichten  Ermüdbarkeit  ist  durch  häufige  Ein- 
schiebung  von  Pausen  Rechnung  zu  tragen,  damit  nicht  verbleibende  Ermüdungs- 
reste sich  allmählich  in  bedrohlicher  Weise  anhäufen  und  zu  einer  Ermüdungs- 
narkose mit  allen  ihren  gefährlichen  Begleiterscheinungen  führen.  Weiter 
empfiehlt  es  sich,  bei  der  Aneignung  irgendwelcher  Wissensstoffe  die  dazu 
nötigen  Wiederholungen  auf  einen  längeren  Zeitraum  gleichmäßig  zu  verteilen. 
Nach  Erledigung  einer  Arbeit  darf  nicht  sofort  wieder  die  geistige  Kraft  in 
anderer  Weise  in  Anspruch  genommen  werden,  weil  sonst  eine  bedrohliche 
Lockerung  der  eben  geschaffenen  Vorstellungsverbände  eintritt.  Zu  berück- 
sichtigen ist  ferner  die  außerordentliche  Empfindlichkeit  der  Kopfschußver- 
letzten gegenüber  äußeren  Einflüssen,  die  den  Gesunden  in  seiner  Arbeits- 
fähigkeit gar  nicht  berühren;  im  besonderen  wirken  schnelle  Veränderungen 
des  Barometerstandes  stark  herabsetzend  auf  die  Leistungsfähigkeit  ein,  weil 
sie  eine  Änderung  der  Druckverhältnisse  innerhalb  der  Schädelkapsel  hervor- 
rufen. Vollständige  Enthaltsamkeit  vom  Alkohol  ist  ein  wichtiges  Mittel  zur 
Sicherstellung  der  Unterrichtserfolge.  Bei  der  Erneuerung  und  Ergänzung 
des  schulmäßigen  Wissens  ist  immer  mit  den  untersten  Stufen  zu  beginnen; 
man  wird  dabei  oft  ganz  unvermutet  auf  engumschriebene  Ausfallserscheinungen 
stoßen,  die  erst  beseitigt  werden  müssen,  bevor  der  Unterricht  nutzbringend 
weitergeführt  werden  kann. 

in.  Welche  ünteiTichtserfolge  dürfen  wir  erhoffen? 

Für  viele  Gebiete  des  normalen  Seelenlebens  gilt  der  Satz,  daß  ein  Aufstieg 
irgendwelcher  Art  zunächst  ziemlich  schnell  erfolgt,  dann  ein  langsameres 
Zeitmaß  einschlägt  und  endlich  einen  Punkt  erreicht,  über  den  hinaus  er 
trotz  aller  Anstrengungen  nicht  weitergeführt  werden  kann.  Die  Form  einer 
solchen  Kurve  scheinen  im  allgemeinen  auch  die  Unterrichtserfolge  bei  Hirn- 


W.  Carrie,  Statist.  Erheb,  über  sprachgebrechl.  Kinder  in  d.  Hamburger  Volkssch.    53 

verletzten  anzunehmen.  Im  Anfang  sind  gewöhnlich  recht  befriedigende 
Ergebnisse  zu  verzeichnen.  Das  hat  verschiedene  Gründe.  Das  nichtzerstörte 
Gewebe  erholt  sich  und  wird  wieder  arbeitstüchtig;  die  Reste  des  zerstörten 
Herdes  werden  in  ihrer  Leistungsfähigkeit  über  das  bisherige  Maß  heraus- 
gehoben; ki-aft  des  im  Bereiche  der  Nerventätigkeit  geltenden  Gesetzes  der 
stellvertretenden  Arbeitsleistung  ti-eten  auch  benachbarte  Rindengebiete  ein, 
und  auch  die  entsprechenden  Felder  der  anderen  Hirnhälfte  übernehmen 
einen  Teil  der  Aufgaben.  Es  folgt  danach  eine  Zeit  langsamen  Fort- 
schreitens, während  der  es  ganz  besonders  auf  unermüdhche  Arbeit  ankommt, 
weil  Lehrer  wie  Schüler  durch  die  immer  deutMcher  in  die  Erscheinung 
tretende  Verlangsamung  des  Heilungsvorganges  in  ilu-er  Arbeitsfreudigkeit 
herabgestimmt  werden;  wird  aber  aus  solcher  Unluststimmung  heraus  der 
Unterricht  vorzeitig  abgebrochen,  so  findet  sich  der  Hirnverletzte  mit  seinem 
Schicksal  ab  und  richtet  weiterhin  seine  Kraft  mehr  auf  das  Verbergen  als 
auf  das  Ausgleichen  der  Schädigung.  So  ist  Geduld  auf  beiden  Seiten  von 
nöten.  Im  allgemeinen  sind  engbegrenzte  Ausfallserscheinungen,  sogenannte 
Herdsymptome,  leichter  zu  beeinflussen  als  die  gewissermaßen  das  gesamte 
geistige  Leben  überschattenden  Erscheinungen  der  Ermüdbarkeit,  des  Gedächt- 
nisverlustes und  der  Dickflüssigkeit  der  Vorstellungsbewegungen.  Doch 
sind  auch  diese  letzteren  Schädigungen  zum  mindesten  in  demselben  Maße 
beeinflußbar  als  die  leichten  und  mittelschweren  Lähmungen.  Der  Unter- 
schied zwischen  dem  Ergebnis  einer  Selbstlieilung  und  dem  eines  methodischen 
Unterrichts  ist  ganz  beh'ächthch.  Allerdings  darf  man  sich  über  das  Höchst- 
maß des  Erreichbaren  keiner  Täuschung  hingeben;  nur  in  Ausnahme- 
fällen dürfte  es  gelingen,  einen  Kopfschußverletzten  wieder  zu  einem  ganz 
vollwertigen  Menschen  zu  machen;  aber  auch  in  den  schwersten  FäUen  ver- 
mögen die  Verletzten  so  weit  gebracht  zu  werden,  daß  sie  sich  verständlich 
unterhalten,  einen  Brief  schreiben,  die  Zeitung  lesen  und  die  notwendigen 
Rechenaufgaben  des  läghchen  Lebens  lösen  können. 

Groß  ist  leider  die  Zahl  der  Arbeitslosen  unter  den  Hirnverletzten,  doppelt 
so  groß  als  die  der  Armamputierten;  mehr  als  ^,3  war  nach  einer  statistischen 
Erhebung  ohne  Beschäftigung.  So  wird  es  immer  die  vornehmste  Aufgabe 
des  Unterrichtes  sein  müssen,  an  seinem  Teile  zur  Besserung  dieser  ungün- 
stigen Sachlage  mit  allen  Kräften  beizuh-agen. 


Statistische  Erhebungen  über  sprachgebrechliehe  Kinder  in  den 
Hamburger  Volksschulen. 

Von  W.  Carrie. 

Im  Januar  1917  veranlaßte  die  Hamburgische  Oberschulbehörde  die  Auf- 
nahme einer  Statistik  über  sprachgebrechliche  Kinder  in  den  Hamburger 
Volksschulen,  die  das  auf  S.  54  tabellarisch  bearbeitete  Ergebnis  brachte. 

Die  bis  jetzt  über  die  Verbreitung  von  Sprachdefekten  aufgenommenen 
Statistiken  zeigen  fast  ausnahmslos  den  Übelstand,  daß  sie  sich  lediglich 
auf  die  Feststellung  der  Zahl  der  sprachgebrechlichen  Schüler  beschränken. 
Über  Heil  versuche  und  Heilerfolge,  Hemmungen  in  unterrichtlicher  und  beruf- 


64 


W.  Carrie 


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Statist.  Erheb,  über  sprachgebrechl.  Kinder  in  den  Hamburger  Volksschulen    55 


Scheidung  nach  dem  Alter: 


Es  standen  im  voll- 
endeten 

Stotterer 

Stammler 

Mit  anderen 
Sprachgebrechen 

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M. 

Sa. 

Kn.   j     M. 

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Kn.   1    M. 

Sa. 

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206 

965 

257 

148 

405 

192    1    102 

294 

ficlier  Hinsicht,  die  für  die  Beurteilung  der  Notwendigkeit  und  des  Wertes 
therapeutischer  Maßnahmen  unerläßlich  sind,  geben  sie  meist  keine  bestimmte 
Auskunft.  Über  Heilerfolge  findet  man  höchstens  hin  und  wieder  mehr 
oder  weniger  verschleierte  Angaben. 

Allgemein  verbreitet  ist  wohl  die  durchaus  irrige  Annahme,  daß  Sprach- 
gebrechen, welche  geeignet  sind,  das  Lebensglück  eines  Menschen  stark  zu 
beeinträchtigen,  seine  Bildungsfähigkeit  zu  hemmen,  seine  Erwerbsfähigkeit 
herabzusetzen  und  ihn  von  der  Verwendung  in  bestimmten  Berufen  gerade- 
zu auszuschließen,  verhältnismäßig  selten  sind.  Wie  irrig  diese  Annahme 
ist,  zeigt  die  vorstehende  Statistik;  sie  ergibt,  daß  rund  1,45 <>/o  der  ham- 
burgischen Volksschüler  mit  Sprachgebrechen  behaftet  sind,  darunter  befinden 
sich  0,840/0  Stotterer.  Das  Material  zu  dieser  Statistik  ist  nicht  von  Schul- 
ärzten, sondern  von  den  Lehrkräften  der  einzelnen  Schulen  zusammengetragen 
worden.  Die  Zahl  der  Stotterer  beträgt  965,  der  Stammler  405,  mit  an- 
deren Sprachgebrechen  waren  294  Schüler  behaftet,  so  daß  die  Gesamtsumme 
1664  beträgt. 

Nach  den  Erhebungen,  die  bereits  in  früheren  Jahren  in  Braunschweig, 
Potsdam,  Elberfeld,  Stettin,  Königsberg,  Zürich  und  anderen  Orten  auf- 
gestellt wurden,  sollen  dort  mindestens  l^/o  der  Schulkinder  stottern,  in 
Dresden  sollen  es  sogar  2  0/0  sein.  Die  im  Jahre  1886  an  den  Berliner 
Gemeindeschulen  aufgenommene  Statistik  ergab,  daß  unter  155000  Kindern 
1550  Stotterer  waren,  also  genau  lo/o.  Dort  befanden  sich  an  Stotterern 
unter  den  Kindern 


von  6  bis  7  Jahren  =  0,5  0/0 

„     7  „     8       „        =  1,170/0 

„     8  „     9       „        =  1,110/0 

„     9  „  10       „        =  1,350/0 


von  10  bis  11  Jahren  =  1,43  0/0 

„     11    „    12       „  =  1,370/0 

„     12    „    13       ,,  =  1,440/0 

„     13    „    14       „  =  1,610/0 


Diese  Statistik  ergibt  außerdem,  daß  das  Stottern  während  der  Schulzeit 
noch  zunimmt;  während  sich  unter  den  Lernanfängern  nur  0,5  0/0  Stotterer 
befanden,  stotterten  beim  Verlassen  der  Schule  nach  erfüllter  Schulpflicht 
bereits  1,61  0/0.  Die  Zahl  der  Stotterer  hat  sich  also  im  Laufe  der  8  Schul- 
jahre reichlich  verdreifacht. 


56  W.  Carrie 

Im  Jahre  1910  wurden  seitens  des  städtischen  Medizinalamtes  in  Amster- 
dam Zählungen  sprachgebrechlicher  Kinder  vorgenommen,  die  ergaben,  daß 
1,19  o/o  der  beobachteten  Schulkinder  an  Stottern  litten,  davon  waren  80,5  o/o 
Knaben  und  19,5  o/o  Mädchen.  Während  sich  die  Zahl  der  Stotterer  im 
Laufe  der  Schulzeit  auch  hier  vermehrt  und  erst  gegen  das  Ende  hin  fällt, 
geht  die  Zahl  der  Stammler  zusehends  zurück.  Zum  Belege  dafür  diene 
nachstehende  Tabelle: 


Stotterer: 

Stammler 

6  Jahre 

alt 

==     6,36  o/o 

(nicht  gezäh! 

7       „ 

=     6,140/0 

»            » 

8       „ 

=  11,550/0 

=     23,87  0/0 

9       „ 

)j 

=  14,15  0/0 

=-     20,69  0/0 

10       „ 

J3 

=  16,51  0/0 

=      22,55  0/0 

11       „ 

}> 

=  17,220/0 

=      15,38  0/0 

12       „ 

!> 

\ 

=   16,750/0 

=      11,410/0  , 

13       „ 

„    und 

älter 

=  11,320/0 

=       6,10  "/o 

Wie  in  fast  allen  Städten,  so  bestehen  auch  in  Amsterdam  sogenannte 
Heilkurse  für  stotternde  Schüler,  die  aber,  wie  die  Statistik  zeigt,  nicht  ein- 
mal vermocht  haben,  das  Übel  auf  seinen  ursprünglichen  Umfang  zu  be- 
schränken, denn  es  zeigt  sich,  daß  sich  bereits  unter  den  elfjährigen  Schülern 
dreimal  soviel  Stotterer  befinden  als  unter  den  Lernanfängern.  Die  jetzt 
vorliegende  Hamburger  Statistik  zeigt  die  gleiche  Erscheinung.  Auch  hier 
befinden  sich  nach  Zusammenstellung  I  unter  den  sieben  Jahre  alten  Schülern 
nur  49,  unter  den  zwölfjährigen  aber  bereits  156  Stotterer,  also  ebenfalls 
reichlich  dreimal  soviel.  Die  Zahl  der  in  den  Hamburger  Schulen  ermittel- 
ten Stotterer  beträgt  nur  0,84  0/0,  bleibt  also  hinter  den  anderwärts  ermittel- 
ten Zahlen  etwas  zurück,  jedoch  ist  anzunehmen,  daß  hier  mehrfach  Fälle 
beginnenden  Stotterns,  also  Fälle,  die  sich  von  Laien  nicht  immer  leicht 
und  sicher  diagnostizieren  lassen,  in  der  Rubrik  4c  als  „andere  Sprachgebrechen" 
registriert  wurden.  Man  muß  dabei  bedenken,  daß  den  meisten  Lehrern  die 
Sprachheilkunde  leider  noch  ein  unbekanntes  Gebiet  ist,  eine  Lücke,  die  die 
Lehrerbildungsanstalten  möglichst  bald  ausfüllen  müssen.  Ich  habe  mehr- 
fach feststellen  können,  daß  Lehrer  nicht  imstande  waren,  anzugeben,  ob  ein 
Schüler  an  Stottern  oder  an  Stammeln  litt.  Man  darf  sich  daher  nicht 
wundern,  wenn  die  Schule  bis  jetzt  in  der  Bekämpfung  von  Sprachgebrechen 
wenig  oder  gar  nichts  leisten  konnte.  Und  dabei  ist  die  Pflege  des  münd- 
lichen Gedankenausdrucks  eine  der  Hauptaufgaben  der  Schule. 

Die  geringe  Zahl  der  Stotterer  im  6.  Lebensjahre  in  der  Hamburger 
Statistik  ist  darauf  zurückzuführen,  daß  die  Erhebungen  im  Januar,  also  am 
Schlüsse  des  Schuljahres,  vorgenommen  wurden,  mithin  die  meisten  Kinder 
der  untersten  Klasse  das  7.  Lebensjahr  bereits  überschritten  hatten.  Eben- 
so wie  in  Amsterdam  wird  auch  durch  die  Hamburger  Statistik  festgestellt, 
daß  die  Zahl  der  Stammler  (Zusammenstellung  II)  zusehends  zurückgeht. 
Die  Zahl  der  Stotterer  erreicht  auch  nach  den  Hamburger  Erhebungen  im 
12.  Lebensjahre  ihren  Höhepunkt,  im  13.  und  14.  Jahre  nimmt  ihre  Zahl, 
ebenso  wie  in  Amsterdam,  ein  wenig  ab.  Es  scheint  demnach,  als  wenn 
mit  dem  allmählichen  Übergang  ins  Pubertätsalter  einzelne  leichte  Fälle  von 


Statist.  Erheb,  über  sprachgebrechl.  Kinder  in  den  Hamburger  Volksschulen   57 


selber  zur  Heilung  gelangten,  während  C4utzmann  behauptet,  daß  das  vor- 
handene Stottern  zur  Zeit  des  Eintritts  der  Pubertät  sich  steigern  soll. 
Nach  Kußmauls  Beobachtungen  soll  der  Eintritt  der  Pubertät  sogar  Stottern 
hervorrufen. 

Wie  sehr  die  unterrichtliche  Förderung  unter  dem  Sprachgebrechen  leidet, 
zeigt  Rubrik  5.  Wer  jemals  Stotterer  behandelt,  unterrichtet  und  aufmerk- 
sam beobachtet  hat,  den  wird  diese  Tatsache  nicht  überraschen.  Stotterer 
fürchten  in  der  Regel,  wegen  ihres  Gebrechens  aufzufallen.  Ein  Angstgefühl 
befällt  sie,  sobald  sie  sich  zum  Sprechen  gezwungen  sehen.  W^erden  sie  im 
Unterricht  gefragt,  so  kommt  es  häufig  vor,  daß  sie  es  vorziehen,  sich  un- 
wissend zu  stellen,  lediglich  aus  dem  Grunde,  weil  sie  fürchten,  wegen  ihres 
Gebrechens  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  lenken  und  dadurch  die  Spott- 
lust ihrer  Mitschüler  herauszufordern.  Der  auf  sprachheilkundlichem  Gebiete 
nicht  bewanderte  Lehrer  glaubt  wohl  gar,  daß  die  mangelhafte  Sprachfertig- 
keit auf  Nachlässigkeit  zurückzuführen  sei,  und  fühlt  sich  veranlaßt.  Strenge 
anzuwenden,  wodurch  das  Leiden  nur  verschlimmert  werden  kann.  Gar  zu 
oft  wird  noch  verkannt,  daß  es  sich  beim  Stottern  um  eine  Krankheit 
durchaus  ernsthafter  Natur  handelt,  die  durch  unverständige  Behandlung 
nur  gesteigert  werden  kann.  Kein  Wunder,  wenn  solche  bedauernswerte 
Kinder  sich  schließlich  immer  weniger  am  Unterricht  beteiligen,  daß  sie,  ab- 
gesehen von  der  unterrichtlichen  »Schädigung,  durch  eine  derartige  Behand- 
lung auch  noch  schweren  Schädigungen  in  der  Charakterbildung  ausgesetzt 
sind.  Allgemein  sind  daher  auch  die  Klagen  der  Eltern,  daß  die  Kinder  in 
der  Schule  grundfalsch  behandelt  würden,  daß  sie  infolge  ihres  Gebrechens 
zurückblieben,  daß  die  Zeugnisse  von  Halbjahr  zu  Halbjahr  schlechter  und 
die  Kinder  schließlich  nicht  versetzt  würden.  Ein  Schüler  aus  den  Ober- 
klassen, der  stark  stotterte,  berichtete  mir  noch  vor  kurzem  in  meiner 
„Sprechstunde  für  sprachgebrechliche  Kinder",  daß  sein  Lehrer  Rücksicht 
auf  sein  Gebrechen  nehme;  zur  Beantwortung  einer  Frage  würde  er  nicht 
he^rangezogen,  er  brauche  in  der  Schule  nicht  zu  sprechen.  Der  Knabe  sitzt 
also  während  des  Unterrichts  schweigend  und  infolgedessen  wohl  auch  teilnahms- 
los da.  Ja,  es  wird  nicht  selten  vorkommen,  daß  Stotterer,  wenn  sie  zum 
Antworten  gezwungen  werden,  oft  mit  Absicht  etwas  Unrichtiges  sagen,  ledig- 
lich aus  dem  Grunde,  um  möglichst  schnell  mit  der  Antwort  fertig  zu  werden. 
So  berichtete  mir  die  stotternde  Mutter  eines  stotternden  Knaben,  daß  sie 
früher  als  Dienstmädchen  ihrer  Herrschaft  auf  Befragen  oft  die  Unwahrheit 
gesagt  habe,  wenn  sie  annehmen  konnte,  auf  diese  Weise  vor  längeren,  münd- 
lichen Auseinandersetzungen  bewahrt  zu  bleiben.  An  ähnlichen  Vorkomnmissen 
fehlt  es  im  Schulleben  nicht,  das  habe  ich  oft  genug  als  Lehrer  sprach- 
kranker Kinder  erfahren,  namentlich  dann,  wenn  es  sich  um  ehrgeizige  und 
empfindliche  Kinder  handelt.  Das  Zurückbleiben  stotternder  Kinder  im 
Unterricht  ist  daher  eine  allgemeine  Erscheinung,  die  vielfach  zu  der  irrigen 
Annahme  führte,  daß  die  mangelhaften  geistigen  Fähigkeiten  zu  den  prädis- 
ponierenden Ursachen  des  Stotterns  gehören.  Auf  Grund  der  langjährigen 
Erfahrungen,  die  ich  im  Unterricht  sowohl  Sprachkranker  als  auch  Schwach- 
befähigter und  Schwachsinniger  gesammelt  habe,  muß  ich  entschieden  in 
Abrede  stellen,  daß  sich  unter  den  schwachbefähigt^n  Schülern  mehr  Stotterer 


58  W.  Carrie 

befinden  als  unter  den  Norraalveranlagten.  Unter  den  wirklich  Schwach- 
sinnigen und  Halbidioten  sind  mir  Stotterer  nie  begegnet,  obgleich  ich 
zehn  Jahre  lang  an  einer  Hilfsschule  für  Schwachbefähigte  amtiert  habe. 
Die  wenigen  Stotterer,  die  ich  dort  vorgefunden  habe,  standen  ausnahmslos 
hart  an  der  Grenze  der  Normalität.  Ich  neige  auf  Grund  des  recht  um- 
fangreichen Schülermaterials,  das  ich  im  Laufe  der  Jahre  zu  beobachten 
Gelegenheit  hatte,  zu  der  Annahme,  daß  sich  unter  den  Schwachsinnigen 
prozentual  weniger  Stotterer  befinden  als  unter  den  Normalbegabten.  Stammeln, 
Poltern,  Agrammatismus  kommen  dagegen  unter  Hilfsschülern  sehr  häufig 
vor.  Wenn  nun  trotzdem  die  Hamburger  Statistik  nachweist,  daß  der  weitaus 
überwiegende  Teil  der  sprachgebrechlichen  Kinder  nicht  regelmäßig  versetzt 
werden  konnte,  also  unterrichtlich  zurückblieb,  so  ist  diese  bedauerliche 
Erscheinung  hauptsächlich  auf  ihr  Gebrechen,  nicht  auf  ihre  geistige  Ver- 
anlagung zurückzuführen.  Noch  mehr  als  in  der  Schule  wird  der  Sprach- 
defekt im  Berufsleben  hemmend  wirken;  leider  läßt  sich  hierüber  keine 
Statistik  aufstellen.  Tatsache  ist  aber,  daß  der  Stotterer  in  zahlreichen 
Berufen  überhaupt  nicht  oder  nur  in  höchst  untergeordneter  Stellung  zu 
gebrauchen  ist. 

Was  nun  die  Heilerfolge  in  den  sogenannten  Kursen  für  stotternde  Volks- 
schüler (Rubrik  6)  betrifft,  so  zeigt  sich,  daß  die  Rückfälligkeit  ungefähr  eine 
Regel  ohne  Ausnahme  bildet.  Die  Zahl  der  bis  zu  dreimal  und  noch  öfter  in  den 
Heilkursen  ohne  dauernden  Erfolg  behandelten  Kinder  (244+  116-1-56  =  416) 
deckt  sich  fast  genau  mit  der  Zahl  der  sprachkranken  Schüler,  die  im  vorher- 
gehenden Jahre  in  den  Heilkursen  behandelt  wurden.  Dabei  erstreckt  sich 
die  Behandlung  in  den  Hamburger  Heilkursen  über  den  Zeitraum  eines 
Jahres.  Im  ersten  Halbjahre  (Hauptkursus)  erhalten  die  Kinder  wöchent- 
lich vier  Stunden,  im  letzten  Halbjahre  (Nachkursus)  wöchentlich  eine  Stunde 
Unterricht  außerhalb  der  Schulzeit.  In  den  Abschlußprüfungen  vermögen 
■dann  auch  die  meisten  dieser  Kinder  unter  Anwendung  der  erlernten  Sprech- 
regeln, einfache,  an  sie  gerichtete  Fragen  ohne  Anstoßen  zu  beantworten, 
aber  bald  nachher  stottern  sie  wieder,  wie  die  Statistik  zeigt,  genau  so  wie 
früher.  Der  Erfolg  ist  in  der  Regel  nur  ein  vorübergehender,  ein  Schein- 
erfolg. Es  ist  offenbar  ein  großer  Unterschied,  ob  jemand  nur  Vorgesprochenes 
oder  Auswendiggelerntes  wiederholt,  oder  ob  er  auf  einfachste,  rein  gedächtnis- 
mäßig zu  beantwortende  Fragen  Antwort  gibt,  oder  ob  er,  wie  es  der  strenge 
Schulunterricht  erfordert,  nicht  nur  Wörter  zu  bilden  und  aneinanderzureihen, 
sondern  zuvor  und  zugleich  deren  geistigen  Inhalt  zu  suchen  und  kritisch 
zu  prüfen  hat.  In  den  Heilkursen  steht  die  rein  physiologische  Seite  des 
Sprechens  naturgemäß  im  Vordergrunde.  Und  doch  braucht  der  Stotterer 
seinen  Sprachheillehrer  nie  nötiger,  als  wenn  er  auch  schwierigeren  Denk- 
prozessen gerecht  werden  soll.  Das  rein  mechanische  Sprechen  läßt  sich 
in  den  Kursen  in  den  meisten  Fällen  bald  fließend  gestalten,  wenn  auch 
nur  vorübergehend,  da  die  Schüler  unter  Anwendung  von  Einsicht  und 
Energie  gelernt  haben,  das  Übel  zu  unterdrücken.  Von  einer  Heilung  kann 
aber  dann  noch  lange  nicht  die  Rede  sein.  Der  Fehler  liegt  eben  auf  dem 
Gebiete  der  inneren  Sprache  und  tritt  nur  an  den  peripheren  Stellen  in  die 
Erscheinung.   Atmungs-,  Stimm-  und  Artikulationsübungen,  rein  mechanisch 


Statist.  Erheb,  über  sprachgebrechl.  Kinder  in  den  Hamburger  Volksschulen    59 

angewandt,  wie  es  in  den  Kursen  notgedrungen  geschehen  muß,  können  da- 
her das  Übel  allein  nicht  beseitigen;  dazu  gehört  vor  allen  Dingen  auch 
noch  die  psychische  Behandlung,  die  in  Kursen  nicht  konsequent  und  stän- 
dig angewandt  werden  kann.  Einen  Stotterer  heilen  heißt,  ihn  auch  psychisch 
gesunden  zu  lassen.    Wie  die  Statistik  beweist,  vermögen  das  die  Kurse  nicht. 

Aus  dieser  Erkenntnis  heraus  begami  man  in  Hamburg  vor  fünf  Jahren  damit, 
für  schwer  stotternde  Kinder  unter  vorläufiger  Beibehaltung  der  Kurse  für  die 
leichteren  Fälle  eine  Sonderschule  für  Sprachleidende  einzurichten,  in  der 
Unterricht  nach  dem  allgemeinen  Lehrplan  der  Volksschule  erteilt  wird,  der  aber 
zugleich  in  individualisierender  heilpädagogischer  Behandlung  auf  systematische 
Bekämpfung  des  Leidens  gerichtet  ist.  Die  Therapie  geht  in  dieser  Schule 
mit  dem  lehrplanmäßigen  Unterricht  Hand  in  Hand.  Der  Unterricht  ist 
Therapie,  und  die  Therapie  in  der  Hauptsache  Unterricht.  Die  unterricht- 
liche Förderung  der  Kinder  erleidet  hier  durch  ihr  Gebrechen  keinerlei  Be- 
einträchtigung; sie  werden  ebenso  schnell  und  gut  gefördert  wie  die  Schüler 
der  Normalschule.  Ihr  Leiden  kann  hier  nicht  durch  psychische  Ansteckung 
auf  gut  sprechende  Mitschüler  übertragen  werden,  für  die  der  Stotterer 
stets  ein  gefährlicher  Nachbar  ist.  Sämtliche  der  vorerwähnten  Statistiken 
stellen  die  bedauernswerte  Tatsache  fest,  daß  die  Zahl  der  Stotterer  sich 
während  des  schulpflichtigen  Alters  trotz  aller  Heilkurse  verdreifacht;  zweifels- 
ohne ist  diese  Erscheinung  in  zahlreichen  Fällen  auf  psychische  Ansteckung 
zurückzuführen. 

Sobald  Grund  zu  der  Annahme  vorhanden  ist,  daß  die  Schüler  dieser 
Sonderschule  für  Sprachkranke  von  ihrem  Gebrechen  restlos  befreit  sind, 
werden  sie  wieder  den  Normalschulklassen  überwiesen.  Bis  jetzt  sind  ins- 
gesamt 76  Schüler  nach  durchschnittlich  1 — 2  jährigem  Besuch  der  Sonder- 
schule zur  Normalschule  zurückgeschult  worden;  die  Statistik  meldet  16 
Rückfällige  (einer  schied  vorzeitig  aus).  Hier  liegen  also  wirkliche  und 
dauernde  Erfolge  vor  (Rubrik  7).  Die  Tatsache  aber,  daß  16  Rückfällige 
gemeldet  werden,  zeigt,  wie  schwierig  und  wie  langwierig  die  Heilbehand- 
lung ist.  Sie  muß  vor  allen  Dingen  möglichst  früh  einsetzen;  wer  nur  ein- 
mal Gelegenheit  gehabt  hat,  ein  beginnendes  Stottern  mit  einem  veralteten 
zu  vergleichen,  wird  mir  darin  beipflichten.  Auch  darf  die  Heilbehandlung 
nicht  zeitlich  begrenzt  werden.  Die  Zurückschulung  nach  der  Normalschule 
darf,  wie  ich  in  meiner  Arbeit  über  „Sonderklassen  für  sprachkranke  Schul- 
kinder" (Verlag  von  Hermann  Beyer  und  Söhne,  Langensalza,  1916)  mit 
besonderem  Nachdruck  empfohlen  habe,  zunächst  nur  versuchsweise  vor- 
genommen werden.  Erst  dann,  wenn  nach  Ablauf  einiger  Zeit  von  der 
Normalschule  die  Nachricht  eintrifft,  daß  der  Schüler  sich  auch  dort  am 
Unterricht  in  fließender  Sprache  beteiligt,  darf  die  Zurückschulung  als  end- 
gültig betrachtet  werden.  Wenn  diesen  Forderungen  Rechnung  getragen 
wird,  wird  diese  Sonderschule  ihre  Erfolge  noch  günstiger  gestalten  können. 
Die  Fehler  lassen  sich  durch  organisatorische  Maßnahmen  beseitigen.  Jeden- 
falls zeigt  die  Statistik,  daß  die  Einrichtung  von  Sonderklassen,  die  hin- 
reichend ausgebaut  werden  müssen,  damit  sie  ihrer  Aufgabe  in  vollstem 
Maße  gerecht  werden  können,  der  einzige  Weg  ist,  der  volle  Aussicht  auf 
Erfolg  verspricht. 


60   W.  Carrie,  Statist.  Erheb,  über  sprachgebrechl.  Kinder  in  d.  Hamburger  Volkssch. 

Mit  Recht  hat  der  Staat  für  Taubstumme,  Blinde,  Schwerhörige  und 
Schwachsinnige  gesonderte  Schuleinrichtungen  getroffen,  die  sehr  segensreich 
wirken,  obgleich  die  heilpädagogische  Behandlung  bei  diesen  Individuen  die 
vorhandenen  Defekte  nur  mildern,  aber  nicht  beseitigen  kann.  Bei  Stotterern 
handelt  es  sich  aber  um  vollsinnige,  in  geistiger  Hinsicht  durchaus  normal 
bildungsfähige  Schüler,  die  durch  Spezialbehandlung  ohne  nennenswerte 
Kosten  vollwertige  Glieder  der  Gesellschaft  werden  können.  Sie  gehören 
mit  zum  Kapital  der  Nation,  daher  ist  die  Arbeit  gerade  auf  diesem  Gebiete 
nicht  nur  doppelt  lohnend,  sondern  auch  doppelte  Pflicht. 

Wertvoll  würde  es  sicherlich  sein,  wenn  auch  in  andern  Städten  gleiche 
oder  ähnliche  Erhebungen  vorgenommen  würden.  Neben  dem  Experiment 
gehört  ja  die  Statistik  zu  den  Hauptwaffen  der  Wissenschaft.  Auch  die 
Sprachheilkunde  wird,  wenn  sie  sich  zu  einer  exakten  Wissenschaft  erheben 
will,  deren  Forschungsergebnisse  nicht  mehr  anzuzw^eifeln  sind,  derartige 
Statistiken  nicht  entbehren  können. 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule. 

Von  Ernst  Haase. 

Durch  die  Menschenverluste,  die  der  Weltkrieg  unserm  Volke  zugefügt  hat, 
ist  eine  Frage  brennend  geworden,  die  schon  immer  zu  den  wichtigsten,  aber 
auch  zu  den  schwersten  im  Schulwesen  gehört  hat,  die  Frage:  Wie  steuern 
wir  dem  Sitzenbleiben? 

Ganz  besonders  bedeutsam  ist  diese  Frage  in  ihrer  Anwendung  auf  die 
Volksschule.  Denn  für  den  Schüler  einer  höheren  Schule  bedeutet  das 
Sitzenbleiben  nur,  daß  er  ein  Jahr  oder  mehrere  Jahre  später  «um  Abschluß 
seiner  Bildung  gelangt,  daß  er  einen  Beruf,  den  er  in  Aussicht  genommen 
hatte,  gegen  einen  andern  vertauschen  muß  usw.  Das  ist  für  den,  den  es 
trifft,  persönhch  sehr  schmerzlich.  Aber  die  Gesamtheit  wird  dadurch  wenig 
berührt.  Im  schlimmsten  Falle  tritt  der  Mensch,  der  sich  für  einen  Beruf 
als  ungeeignet  erwiesen  hat,  in  einen  andern  als  vollwertige  Kraft  ein.  So 
bedeutet  das  Sitzenbleiben  letztlich  fast  immer  nur  einen  Zeitverlust. 

Anders  in  der  Volksschule.  Sie  ist  für  den  weitaus  größten  Teil  des 
Volkes  die  einzige  Bildungsstätte.  Ein  Bildungsmangel,  den  sie  hinter- 
läßt, ist  für  die  meisten  nicht  wieder  gut  zu  machen.  In  ihr  bedeutet  selbst  ein 
mehrmaliges  Sitzenbleiben  keinen  Zeitverlust;  denn  es  kann  nicht  ausgeglichen 
werden.  Es  wird  vielleicht  von  dem  Beteiligten  auch  nicht  besonders  schmerz- 
lich empfunden.  Aber  es  hat  zur  Folge,  daß  in  unser  Volk  ein  un- 
fertiges, geistig  nicht  vollwertiges  Glied  eintritt,  das  geeignet  ist,  den  Wert 
des  Volksganzen  herabzusetzen.  Denn  das  Schhmmste  ist,  daß  es  sich  bei  der 
Volksschule  immer  um  Massenerscheinungen  handelt,  die  in  der  Gesamtheit 
eine  spürbare  Wirkung  hervorbringen.  Das  Sitzenbleiben  in  der  Volks- 
schule als  Massenerscheinung  bedeutet  einen  merklichen  Quali- 
tätsverlust für  unser  Volk.  Nun  bedarf  es  keines  Beweises,  daß 
unser  Volk  in  dem  wirtschaftlichen  Kampfe,  der  seiner  in  der  Zukunft 
harrt,  nur  dann  Aussicht   auf  Erfolg  hat,   w^enn  es  in  allen  seinen  GUedern 


Ernst  Haase,  Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule      ßl 

seine  Mitbewerber  auf  dem  Weltmarkte  an  innerem  Werte  übertrifft.    Es  darf 
also  kein  Menschenwert  verloren  gehen  oder  verkümmern. 

Dadurch  hat  die  Frage  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  aufgehört, 
eine  bloße  Schulangelegenheit  zu  sein;  ihre  Lösimg  wird  zu  einer  Sache,  die 
in  sehr  bedeutsamer  Weise  unser  ganzes  Volk  angeht:  die  Frage,  wie  dem 
Sitzenbleiben  in  der  Volksschule  beizukommen  ist,  ist  also  tatsächlich  brennend 
geworden. 

Das  Sitzenbleiben  ist  der  Ausdruck  einer  Unstimmigkeit  zwischen  der 
Leistungsfähigkeit  des  kindlichen  Geistes  und  den  Anforderungen 
der  Schule.  Sie  kann  also  zwei  Ursachen  haben:  entweder  die  Anforderungen 
der  Schule  sind  zu  hoch,  oder  in  der  Entwicklung  des  kindlichen  Geistes 
liegen  Hemmungen  vor.  Diese  wiederum  können  von  verschiedener  Art  sein. 
Gewisse  Hemmungen,  die  durchaus  indi\idueller  Natm-  sind  und  demgemäß 
nur  einen  kleinen  Bruchteil  der  Schüler  betreffen,  werden  nie  ganz  bekämpft 
werden  können.  Das  Zurückbleiben  Einzelner  hinter  der  Gesamtheit 
läßt  sich  nicht  aus  der  Welt  schaffen.  Aber  es  gibt  eine  breite  Masse 
von  Grenzfällen,  die  der  Einwirkung  durchaus  zugänglich  sind.  Wenn  es 
auch  nur  gelänge,  aus  diesen  heraus  10'^  o  der  Gesamtmasse  besser  vorwärts 
zu  bringen,  so  würde  das  in  zehn  Jahren  einen  vollen  Schülerjahrgang  be- 
deuten; d.  h.  z.  B.  für  unsere  Stadt  Halle:  2000  bis  2500  Menschen  würden 
in  dieser  Zeit  vor  dem  geistigen  Zurückbleiben  bewahrt  bleiben.  Das  wäre 
ein  schöner  Gewinn,  und  seine  Erzielung  liegt  durchaus  im  Bereiche  der 
MögUchkeit. 

Aus  Laienkreisen  hört  man  heute  oft  den  Ruf:  Versetzt  milder!  Damit  wäre 
aber  das  Übel  durchaus  nicht  behoben,  sondern  nur  verschleiert.  Ein  Kind,  das  für 
die  nächste  Stufe  nicht  reif  ist,  erleidet  durch  eine  unzeitige  Versetzung  viel 
mehr  Schaden,  als  ihm  oder  der  Gesamtheit  durch  das  Vorwärtsschieben  ge- 
nützt wird.  Bei  dieser  Forderung  wird  Ursache  und  Wirkung  verwechselt. 
Das  Versetzen  oder  Nichtversetzen  hängt  ja  nicht  von  der  Willkür  des  Lehrers 
ab,  sondern  ist  durch  den  Zwang  der  Verhältnisse  geboten.  Ich  setze  als 
selbstverständüch  voraus,  daß  bei  jeder  Versetzung  streng  nach  den  Erforder- 
nissen des  Unterrichts  verfahren  wird,  ohne  Einmischung  persönlicher  Zu- 
neigung oder  Abneigung.  Ein  „milderes"  Versetzen  würde  ein  Akt  der  Will- 
kür sein,  der  in  keiner  Weise  dem  Übel  abzuhelfen  geeignet  wäre:  die  zu 
Unrecht  bevorzugten  Kinder  würden  doch  bald  auf  der  Strecke  bleiben. 

Wenn  Abhilfe  geschafft  werden  soll,  dann  kann  es  in  sachlich  einwand- 
freier Weise  nur  dadurch  geschehen,  daß  die  Unstimmigkeiten  zwischen 
der  kindlichen  Leistungsfähigkeit  und  den  Anforderungen  der 
Schule  nach  Möglichkeit  ausgeglichen  werden,  d.  h.:  die  Anforderungen 
der  Schule  müssen  überall  da,  wo  sie  zu  hoch  erscheinen,  herabgesetzt  werden, 
und  alles,  was  die  Entwicklung  der  Leistungsfähigkeit  unserer  Kinder  hemmt, 
muß  nach  Möglichkeit  beseitigt  werden. 

Dazu  aber  ist  es  erforderlich,  daß  man  die  Ursachen  jener  Unstimmig- 
keiten und  ihre  Größenverhältnisse  genau  kennen  lernt.  Dieser 
Aufgabe  sind  die  folgenden  Untersuchungen  gewidmet. 

Bei  der  Untersuchung  über  die  Ursachen  des  Sitzenbleibens  habe  ich  zwei 
verschiedene  Wege  eingeschlagen:  den  der  Einzeluntersuchung  und  den 
der  Statistik. 


62  Ernst  Haase 


Die  Einzeluntersuchungen  sollen  in  erster  Linie  über  die  Art  der  inneren 
Hemmungen  aufklären.  Sie  sind  noch  nicht  abgeschlossen;  ihre  Veröffent- 
lichung muß  ich  mir  daher  für  später  vorbehalten. 

Die  statistischen  Erhebungen  sollten  vor  allem  über  die  äußeren  Ursachen 
Auskunft  geben,  besonders  auch  darüber,  in  welchem  Maße  äußere  Faktoren 
mitwirken.  Durch  die  Statistik  lassen  sich  auch  solche  Beziehungen  zahlen- 
mäßig nachweisen,  die  der  Einzeluntersuchung  gar  nicht  zugänglich  sind, 
die  höchstens  ganz  ungenau  abgeschätzt  werden  können.  Im  Ganzen  des 
statistischen  Zahlenmaterials  werden  nämlich  gewisse  kleine  Einflüsse,  die 
im  Einzelfalle  überhaupt  nicht  nachweisbar  sind,  durch  die  vervielfachende 
Wirkung  der  großen  Zahlenmassen  vergiößert  und  dadurch  deutlich  erkenn- 
bar gemacht. 

Anfangs  habe  ich  bei  meinen  statistischen  Erhebungen  immer  nur  mit 
geringem  Zahlenmaterial  gearbeitet,  bis  ich  im  November  1917  Gelegenheit 
erhielt,  einen  ganzen  Schülerjahrgang  der  hallischen  Volksschulen  sta- 
tistisch zu  erfassen  und  dadurch  ein  abgerundetes  Bild  seiner  Versetzungsverhält- 
nisse zu  erhalten.  Ich  verdanke  diese  Möglichkeit  dem  Kgl.  Kreisschulinspektor 
Herrn  Schulrat  Brendel,  dem  ich  auch  an  dieser  Stelle  für  seine  gütige  Mit- 
wirkung meinen  besten  Dank  ausspreche. 

Das  Material  wurde  in  der  Weise  gewonnen,  daß  in  jeder  Klasse,  in  der 
Schüler  saßen,  die  Ostern  1918  entlassen  werden  sollten,  ein  Fragebogen 
über  diese  Schüler  ausgefüllt  wurde.    Die  Fragen  hatten  folgenden  Wortlaut: 

Fragebogen 
über  die  Konfirmanden  in  den  deutschen  Volksschulen  in  Halle. 

1.  Zahl  der  Konfirmanden: 

2.  a)  Wieviel  von  ihnen  sind  s.  Z.  als  Schulneulinge  auswärts  eingeschult  und  erst  im 
Laufe  der  Schulzeit  nach  Halle  übergesiedelt?  b)  Wieviel  von  denen,  die  in  Halle  eingeschult 
sind,  haben  ein  Jahr  lang  und  darüber  eine  auswärtige  Schule  besucht?  c)  Wieviel  von  den 
unter  2  a  und  b  genannten  Kindern  haben  auswärtige  Schulen  besucht:  aa)  in  Großstädten, 
bb)  in  Mittel-  und  Kleinstädten,   cc)  in  Dörfern? 

3.  Wieriel  von  den  übrigen  Konfirmanden  sind  in  Halle:  a)  nie  umgeschult  worden,  b)  ein- 
mal umgeschult  worden,  c)  zweimal  umgeschult  worden,  d)  dreimal  umgeschult  worden,  e)  vier- 
mal umgeschult  worden,  f)  öfter  als  viermal  umgeschult  worden? 

4.  Wieviel  von  sämtlichen  Konfirmanden  sind  in  Halle:  a)  nie  sitzen  geblieben,  b)  einmal 
sitzen  geblieben,  c)  zweimal  sitzen  geblieben,  d)  dreimal  sitzen  geblieben,  e)  viermal  und  öfter 
sitzen  geblieben? 

5.  Wieviel  Konfirmanden  sind  sitzen  geblieben  in  Klasse  8,  7,  6,  5,  4,  3,  2? 

6.  Wieviel  Konfirmanden  haben:  a)  keine  Geschwister,  b)  1  Geschwister,  c)  2  Geschwister,^ 
d)  3  Geschwister,  e)  4  Geschwister,  f)  5  Geschwister,  g)  6  Geschwister,  h)  7  Geschwister, 
i)  8  Geschwister,     k)  9  Geschwister,     1)  10  Geschwister,     m)  mehr  als  10  Geschwister? 

7.  Wieviel  Konfirmanden  sind  erwerbstätig  (gewerblich,  im  Haushalte  usw.)? 

8.  Von  wieviel  Konfirmanden  sind  die  Eltern:  a)  ungelernte  Arbeiter,  b)  Fabrikhandwerker 
(Former,  Dreher,  Modelltischler,  Fabrikschlosser  usw.),  c)  sonstige  Handwerker,  d)  Kaufleute 
oder  Gewerbetreibende  aller  Art,  e)  Beamte,  f)  einzelstehende  Frauen  (Witwen,  uneheUche 
Mütter  usw.)?    g)  Wieviel  Konfirmanden  sind  Vollwaisen? 

Der  Erhebung  lag  folgender  Gedanke  zugrunde:  Zunächst  sollte  überhaupt 
eine  Übersicht  über  die  Versetzungsverhältnisse  gewonnen  werden. 
Sodann  aber  sollte  ein  Vergleich  vorgenommen  werden  zwischen  den 
Verhältnissen  der  Kinder,  die  die  erste  Klasse  erreichen,  und  derer, 
die  aus  niedrigeren  Klassen  entlassen  werden.     Da,  wo  sich  unver- 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  fiS 

kennbare  Zahlenbeziehungen  zwischen  den  äußeren  Verhältnissen  der 
Kinder  und  dem  Maße  des  Zurückbleibens  zeigten,  mußten  ursächliche 
Beziehungen  zwischen  beiden  vorliegen.  Dabei  war  es  von  vornherein  klar, 
daß  die  Einflüsse  der  verschiedenen  Faktoren  in  den  Zahlenreihen  in  geringerem 
Maße  zum  Ausdruck  kommen  mußten,  als  ihrer  wahren  Wirkung  entspricht. 
Denn  die  Statistik  stellt  den  einzelnen  Faktor  nicht  für  sich  allein  dar, 
sondern  immer  im  Zusammenhange  mit  allen  andern,  so  daß  seine  Wirkung 
zum  Teil  durch  andere  Einflüsse  ausgeglichen  wird:  dadurch  erscheint  sein 
Einfluß  abgeschwächt.  Trotzdem  war  es  von  vornherein  klar,  daß  diese 
Abschwächung  bei  der  Fülle  des  Materials  nicht  bis  zur  völligen  Vernichtung 
gehen  konnte  und  daß  die  Verhältnisse  der  Zahlenreihen  untereinander  da- 
durch nicht  erheblich  gestört  werden  konnten. 

Die  Erhebung  erstreckte  sich  auf  2205  Kinder  der  (achtstufigen)  Volks- 
schule und  71  Kinder  der  Hilfsschule,  also  zusammen  auf  2276  Kinder. 

1. 

Die  erste  und  wichtigste  Frage  war  die,  wieviele  von  den  Konfirman- 
den die  erste  Klasse  und  damit  das  Ziel*der  Volksschule  erreichen 
und  in  welchem  Maße  die  übrigen  dahinter  zurückbleiben.  Die 
hierbei  sich  ergebenden  Zahlen  mußten  als  Durchschnittszahlen  bei  allen 
weiteren  Aufrechnungen  als  Maßstabdienen.  Hierbei  ergab  sich  folgendes : 

Es  erreichen:  Kl.  I  Kl.  U  Kl.  IH  Kl.  IV  Kl.  V 

560/0  230/0  150/0  50  0  10  ö 

Dabei  zeigte  es  sich,  daß  die  Mädchen  über  dem  Durchschnitt  standen, 
die  Knaben  darunter. 
Es  erreichten  nämlich    Kl.  I  Kl.  II 

Mädchen:     59  0/0  22,5  0/0 

Knaben:     53  0/0  23  0/0 

Für  diese  Tatsache  lassen  sich  wohl  mancherlei  Gründe  anführen.  Der 
wichtigste  und  letztlich  ausschlaggebende  dürfte  der  sein,  daß  die  Mädchen 
z.  T.  aus  „besseren"  Familien  stammen  als  die  Knaben.  Es  schicken  in  Halle 
viele  Leute  die  Mädchen  in  die  Volksschule,  die  ihre  Knaben  zur  Mittelschule 
gehen  lassen.  In  dem  Unterschiede  zwischen  den  Zahlen  der  Knaben  und 
der  Mädchen  kommt  also  in  erster  Linie  der  Einfluß  der  Lebenskreise 
zum  Ausdruck. 

Ein  eigenartiger  Unterschied  zeigte  sich  ferner  zwischen  den  Schulen  der 
Randbezirke  und  der  Innenbezirke.  Als  Randschulen  sind  alle  die 
Schulen  aufgefaßt  worden,  deren  Bezirke  am  Rande  der  Stadt  liegen,  als 
Innenschulen  die,  deren  Bezirke  allseitig  oder  fast  allseitig  von  anderen 
Schulbezirken  begrenzt  werden. 

Es  erreichten  in  den  Randbezirken: 


Kl.  in 

m.  IV 

KLV 

13,50/0 

-    40/0 

lO'o 

16o'o 

6,50/0 

1,50/0. 

Kl.  I 

Kl.  II 

Kl.  m 

Kl.  IV 

Kl.  V 

620/0 

18  0/0 

130/0 

5,50/0 

0,500; 

in  den  Innenbezirken: 

KLI 

Kl.  H 

Kl.  m 

Kl.  IV 

Kl.  V 

510/0 

260/0 

150/0 

50/0 

20/0. 

Die  Unterschiede  zwischen  diesen  beiden  Gruppen  sind  noch  stärker  als  die 
zwischen  Knaben  und  Mädchen.  Sie  sind  unzweifelhaft  darauf  zurückzuführen,^ 


64  Ernst  Haase 


daß  in  den  Innenschulen  mehr  Kinder  vorhanden  sind,  die  häufiger  die 
Schule  gewechselt  haben.  Der  Schulwechsel  hat  alles  in  allem  einen  er- 
heblicheren Einfluß  auf  das  Sitzenbleiben  als  der  Lebenskreis,  dem  das  Kind 
entstammt,  und  dieser  stärkere  Einfluß  des  Schulwechsels  findet  seinen  Aus- 
druck in  der  größeren  Verschiedenheit  der  beiden  Zahlenreihen. 

Aus  der  Hilfsschule  wurden  71  Kinder  entlassen,  also  3,1  o/o  der  Gesamt- 
heit. Unter  Einrechnung  dieser  71  Schüler  gestalten  sich  die  Prozentzahlen  fol- 
gendermaßen: 

Kl.  I      Kl.  II      Kl.  III      Kl.  IV      Kl.  V      Hilfsschule 

540/0       220/0        140/0  50/0  10/0  30/0 

In  den  folgenden  Darlegungen  sind  in  der  Regel  die  Konfirmanden  der 
Hilfsschule  nicht  eingerechnet,  und  die  Schüler  der  V.  Klassen  sind  in  den 
meisten  Reihen  mit  denen  der  IV.  zu  einer  Einheit  zusammengezogen.  Diese 
Zusammenfassung  ist  deswegen  vorgenommen,  weil  die  Zahl  der  Konfirman- 
den in  den  V.  Klassen  nur  24  beträgt.  Das  hat  einerseits  zur  Folge,  daß  manche 
Gruppen  von  Kindern  gar  nicht,  andere  nur  lückenhaft  darunter  vertreten  sind 
und  andernfalls,  daß  jeder  einzelne  Schüler  mehr  als  4^/0  der  Gesamtzahl 
ausmacht.  Infolgedessen  können  kleine  Zufälle  in  der  Zusammensetzung  der 
einzelnen  Gruppen  so  aufgebauscht  erscheinen,  daß  sie  das  Gesamtbild  stören 
und  unklar  gestalten,  ja,  es  geradezu  als  falsch  erscheinen  lassen.  Wo  die 
Klassen  IV  und  V  auseinander  gehalten  sind,  ist  dies  besonders  bemerkt. 
Desgleichen  sind  die  Zahlen  der  Hilfsschule  immer  besonders  angeführt. 


Bevor  wir  uns  der  Frage  nach  den  Ursachen  des  Sitzenbleibens  zuwenden, 
sei  noch  eine  Einschaltung  gestattet:  Zu  dem  Fragebogen  wurde  in  den  2.— 5. 
Klassen  ein  Ergänzungsbogen  ausgegeben,  auf  dem  die  Klassenlehrer  fest- 
stellen sollten,  welche  Gründe  nach  ihrer  Meinung  bewirkt  hätten, 
daß  die  Kinder  das  Ziel  der  Volksschule  nicht  erreicht  hätten. 
Nun  ist  es  am  Ende  der  Schulzeit  für  einen  Lehrer  nicht  möglich,  mit  voller 
Sicherheit  anzugeben,  warum  ein  Kind  im  Laufe  der  acht  Schuljahre  sitzen 
geblieben  ist.  Die  Mehrzahl  seiner  Kinder  kennt  er  erst  seit  einem  Jahre, 
und  die  Entgleisungen  liegen  oft  um  viele  Jahre  zurück.  Es  handelt  sich 
hierbei  also  um  Meinungen,  nicht  um  Tatsachenangaben.  Und  ferner 
konnten  nur  die  ins  Auge  fallenden  Erscheinungen  angegeben  werden. 
Der  Einfluß  der  versteckter  mitwirkenden  Faktoren  entzieht  sich  der  Beobach- 
tung in  den  meisten  Fällen,  sofern  sie  nicht  in  Form  einer  gründlichen  Einzel- 
untersuchung ausgeführt  wird,  was  bei  Massenfeststellungen  nicht  möglich  ist. 
Deswegen  sind  die  auf  diesem  Wege  gewonnenen  Zahlen  in  dieser  Arbeit  nicht 
mit  den  übrigen  verwertet.  Die  Angaben  waren  aber  wichtig  für  die  Beantwortung 
der  Frage,  welchen  Anteil  die  äußeren  und  welchen  die  inneren 
Faktoren  am  Sitzenbleiben  haben.  Das  Zahlenmaterial  des  Ergänzungs- 
bogens  soll  erst  später  einmal  eingehender  verarbeitet  werden,  da  es  in  engster 
Beziehung  zu  den  Einzeluntersuchungen  steht.  Einige  dieser  Angaben  aber 
haben  auch  im  Rahmen  der  vorliegenden  Arbeit  Bedeutung  und  sollen  darum 
hier  mit  aufgeführt  werden. 

Von  den  44  0/0  der  Kinder,  die  die  1.  VolksschuUdasse  und  damit  das  Ziel 
der  Volksschule  nicht  erreicht  haben,  sind  13,5 0/0,  also  ein  knappes  Drittel 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  65 

durch  äußere,  30,5 "/o,  also  weit  über  2/3,  durch  innere  Gründe  verhindert 
worden,  ihren  Weg  glatt  zu  durchlaufen.  Unter  inneren  Gründen  verstehe 
ich  ausschließlich  die  in  der  seelischen  Veranlagung  des  Kindes  liegenden 
Hemmungen,  also  jene  Erscheinungen,  die  man  unter  die  Sammelnamen 
„Dummheit"  und  „Faulheit**  zusammenzufassen  pflegt.  Genauer  liegen  die 
Verhältnisse  so,  daß  bei  ll^o  nur  äußere' Hemmungen,  bei  28^0  nur  innere 
Hemmungen,  bei  5  0/0  äußere  und  innere  Hemmungen  zugleich  wirken. 
Rechnet  man  die  5  0/0  nach  ihren  prozentualen  Anteilen  auseinander  und 
zählt  diese  zu  den  beiden  anderen  Zahlen  hinzu,  so  ergeben  sich  die  an- 
geführten Zahlen:  13,5  und  31,5,  da  nach  den  vorliegenden  Angaben  bei 
dem  Zusammentreffen  mehrerer  Faktoren  die  äußeren  und  die  inneren  Gründe 
nahezu  gleichwertig  wirksam  sind. 

Uns  interessieren  an  dieser  Stelle  nur  die  13,5  ^  0  der  Fälle,  in  denen  äußere 
Gründe  allein  (11''  u)  oder  zusammen  mit  inneren  Gründen  (50/o)  als  Ursache 
des  Sitzenbleibens  angegeben  worden  sind. 

Es  haben  die  erste  Klasse  nicht  erreicht: 

a)  1,5*^/0  w-egen  verspäteter  Einschulung  (hierzu   ist   der  einzige  Fall  vor- 

zeitiger Entlassung  gerechnet); 

b)  60/0    wegen  Schulwechsels; 

c)  3,5 ''ü  wegen  längerer  Versäumnis  infolge  von  Krankheit; 

d)  1,50,0  wegen  unregelmäßigen  Schulbesuchs  (Schwäazerei); 

e)  1 0/0    aus  sonstigen  Gründen,  insbesondere  wegen  körperücher  Mängel. 

a)  Die  verspätete  Einschulung  wird  fast  ausschließlich  durch  körperüche 
Mängel  bedingt.  Sie  wird  in  der  Regel  nur  dann  genehmigt,  w^enn  der  Arzt 
festgestellt  hat,  daß  das  Kind  noch  nicht  schulfähig  ist. 

Bei  vorzeitiger  Entlassung  sprechen  in  der  Regel  häusUche  Verhältnisse 
mit;  doch  können  auch  körperliche  und  sonstige  Gründe  ausschlaggebend 
sein.  Sie  wird  nur  in  ganz  besonderen  Ausnahmefällen  genehmigt,  kann  bei 
unseren  Erw^ägungen  also  völlig  außer  Betracht  bleiben. 

Die  verspätete  Einschulung  läßt  sich  dadurch  wettmachen,  daß  das  Kind 
noch  bis  zum  Durchlaufen  der  ersten  Klasse  in  der  Volksschule  behalten 
wird.  Das  ist  nur  dann  mögUch,  wenn  die  Eltern  einverstanden  sind.  Sitzen- 
bleiber im  eigentlichen  Sinne  sind  diese  Kinder  nicht;  sie  kommen  also  für 
uns  im  Rahmen  dieser  Arbeit  nicht  in  Frage.  Immerhin  mußten  sie  mit  er- 
wähnt werden,  da  sie  einen  wenn  auch  kleinen  Teil  der  44  "o,  die  uns  hier 
beschäftigen,  ausmachen. 

b)  Von  der  Bedeutung  des  Schulwechsels  wird  später  noch  die  Rede 
sein.  Wenn  w'ir  erfahren,  daß  volle  6*^  0  der  Kinder  (das  sind  14  ^o  aller 
Sitzenbleiber  oder  etwa  40"  0  der  durch  äußere  Gründe  am  Aufstieg  verhinder- 
ten Kinder,  ihm  zum  Opfer  fallen,  dann  dürfte  seine  Bedeutung  als  Hemmnis 
für  den  Aufstieg  schon  von  vornherein  hinreichend  gekennzeichnet  sein.  Die 
späterhin  noch  anzuführenden  Zahlen  geben  ein  genaueres  Bild  von  seiner 
schädlichen  Wirkung.  Diese  greift  sehr  weit  über  die  6^\o  hinaus.  In  dieser 
Zahl  sind  ja  nur  die  Fälle  wiedergegeben,  in  denen  er  ausschließlich  das 
Sitzenbleiben  bewirkt  oder  in  denen  seine  Mitwirkung  noch  nachträg- 
lich deutlich  erkennbar  ist.  In  den  meisten  Fällen  wird  sich  diese  Mit- 
wirkung später  nicht  mehr  durch  bloße  Beobachtung  nachw-eisen  lassen,  so 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  5 


QQ  Ernst  Haase 


daß  die  am  Ende  der  Schulzeit  auf  6  o/o  festgestellte  Wirkung  nur  die  alier- 
schlimmsten  Fälle  umfaßt.    Dieser  kurze  Hinweis  mag  an  dieser  Stelle  genügen. 

c)  Längere  Versäumnisse  infolge  von  Krankheiten  rufen  einerseits 
Stofflücken  hervor  und  bewirken  andererseits,  daß  die  Kinder  sich  schwer 
wieder  an  die  geistige  Arbeit  gewöhnen  und  dadurch  den  Anschluß  verlieren. 
Sehr  oft  bleibt  auch  eine  der  eigentlichen  Krankheit  folgende  körperliche 
Schwäche  zurück,  die  die  Fortschritte  des  Kindes  hemmt.  Es  handelt  sich 
der  Hauptsache  nach  um  folgende  Krankheiten  i): 

1.  Lungentuberkulose:  Diese  Krankheit  macht  längere  Heilstättenkuren 
erforderlich,  die  ein  Vierteljahr  und  darüber  dauern.  Außerdem  hat  besonders 
diese  Krankheit  die  Wirkung,  daß  sie  den  kindlichen  Körper  sehr  schwächt 
und  daß  sie  dadurch  monate-  bis  jahrelang  die  geistigen  Leistungen  des  Kindes 
stark  beeinflußt.  Bei  tuberkulösen  Kindern  ist  mir  noch  eine  andere  Er- 
scheinung aufgefallen,  die  in  erziehlicher  Hinsicht  bedeutsam  ist:  solche 
Kinder  entstammen  häufig  Familien,  in  denen  die  Tuberkulose  erblich  ist. 
Das  Hinsterben  der  Kinder  in  solchen  Familien  und  das  eigene  Leiden  der 
Eltern  führen  zu  einer  gewissen  Gleichgültigkeit  und  Nachlässigkeit  gegen 
alle  Erziehungsfragen.  Für  die  Klasse  bilden  deshalb  die  Kinder  aus  solchen 
Familien  eine  schwere  Gefahr,  nicht  nur  in  gesundheitlicher,  sondern  in  er- 
ziehlicher Hinsicht.  Wo  die  Zahl  tuberkulosekranker  Kinder  groß  genug  ist, 
wäre  aus  diesen  Gründen  die  Einrichtung  besonderer  Schulen  (Waldschulen) 
für  solche  Kinder  in  Erwägung  zu  ziehen. 

2.  Scharlach:  Er  erfordert  eine  Versäumnis  von  etwa  sechs  Wochen. 

3.  Diphtherie:  Die  Versäumnis  beträgt  bei  Erkrankten  vier  Wochen  und 
mehr.  Hierbei  ist  zu  berücksichtigen,  daß  auch  die  Bazillenträger  oft  wochen- 
lang vom  Unterricht  ferngehalten  werden  müssen. 

4.  Bei  Keuchhusten  beträgt  die  Versäumnis  bis  acht  Wochen. 

5.  Bei  Masern  (sofern  sie  ohne  Komplikationen  verlaufen),  Windpocken 
und  Ziegenpeter  ist  nur  eine  Versäumnis  von  2 — 3  Wochen  erforderlich; 
diese  Krankheiten  werden  die  Versetzung  wenig  beeinflussen. 

Außer  diesen  Krankheiten  gibt  es  noch  solche,  die  weniger  durch  die  Ver- 
säumnisse, die  sie  verursachen,  als  durch  die  Schwächung  des  Körpers 
und  die  damit  verbundene  Herabminderung  der  geistigen  Leistungen  auf 
die  Versetzung  einwirken;  es  sind  vor  allem  Rachitis,  Mittelohrkatarrh, 
Wucherungen  im  Nasen-Rachenraum  und  Skrophulose.  Diese  gehören  eigent- 
lich nicht  an  diese  Stelle,  weil  sie  meist  keine  längeren  Versäumnisse  ver- 
anlassen. Sie  mußten  aber  hier  mit  angeführt  werden,  weil  sie  als  äußere 
Faktoren  des  Sitzenbleibens  mit  in  Frage  kommen  und  weil  sich  später  keine 
Gelegenheit  mehr  bietet,  sie  zu  erwähnen. 

d)  Das  Schwänzen  steht  auf  der  Grenze  der  inneren  und  äußeren  Hemmungen 
des  Aufstiegs;  denn  es  kann  einerseits  durch  die  häuslichen  Verhältnisse 
bedingt  sein,  und  andererseits  kann  es  der  Ausdruck  einer  degenerativen  Ver- 
anlagung sein.  Als  einziger  Grund  kommt  es  nur  bei  etwa  0,4  o/q  aller  Fälle 
in  Frage.  Hingegen  spielt  es  eine  verhängnisvolle  Rolle  als  mitwirkende 
Ursache.  Besonders  häufig  ist  es  mit  Faulheit  vereint,  in  geringerem  Maße 
mit  mangelhafter  Begabung.  Auf  einen  Fall,  in  dem  das  Schwänzen  mit 
mangelhafter  Begabung  verknüpft  ist,   kommen  mehr  als  drei,   in  denen  es 


')  Nach  freundlicher  Mitteiking  des  Herrn  Stadtschularztes  Dr.  Strauch. 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  67 


mit  Faulheit  zusammentrifft.  Dieser  Umstand  deutet  darauf  hin,  wie  stark 
hierbei  innere  Gründe  mitspielen;  denn  die  degenerative  Veranlagung,  auf 
die  das  Schwänzen  zurückzuführen  ist,  wirkt  sich  in  der  Regel  anderv^ärts 
im  Unterricht  als  Faulheit  aus. 

An  dieser  Stelle  interessieren  uns  nur  die  äußeren  Gründe,  also  die  häus- 
lichen Verhältnisse,  in  denen  das  Schwänzen  begründet  ist. 

Viele  Eltern  unterstützen  ihre  Kinder  bei  unrechtmäßigen  Schul  Versäum- 
nissen, indem  sie  ihnen  unbedenklich  Entschuldigungszettel  schreiben,  die  den 
Tatsachen  nicht  entsprechen.  Es  ist  erstaunhch,  wie  leicht  es  viele  Eltern 
in  solchen  Fällen  mit  der  Wahrheit  nehmen.  Meist  sind  es  schwache  Mütter, 
die  es  tun,  um  ihr  Kind,  das  die  Schule  versäumt  hat,  vor  einer  wohlverdienten 
Strafe  zu  bewahren.  Die  Wirkung  solcher  Schwäche  greift  weit  über  den  Fall 
selbst  hinaus :  Das  Kind  erfährt,  daß  es  die  Mutter  mit  der  Wahrheit  nicht  genau 
nimmt  und  daß  man  überhaupt  der  Schule  gegenüber  die  Wahrheit  nicht  immerzu 
sagen  braucht,  ferner  daß  es  auch  im  Falle  eines  offenbaren  Unrechts  bei  der 
Mutter  Schutz  und  Hilfe  findet  usw.  Das  alles  lockt  zur  Wiederholung,  und  die 
Mutter  muß  weiter  helfen,  nachdem  sie  einmal  angefangen  hat.  Die  Väter 
geben  sich  seltener  zu  solcher  Hilfe  her.  Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  sich 
Männer  im  allgemeinen  der  öffentlichen  Ordnung  A\illiger  und  mit  größerer 
Selbstverständlichkeit  einfügen  als  Frauen.  Den  Müttern  erscheint  eine 
Umgehung  der  Schulordnung  geringfügiger  als  den  Vätern,  und  die  Mutter- 
liebe, die  das  Kind  vor  jedem  Übel,  auch  vor  dem  heilsamen,  bewahren 
möchte,  tut  das  Ihrige.  Die  verheerenden  Folgen  dieser  Schwäche  für  die 
sitthche  Entwicklung  des  Kindes  kommen  der  Mutter  nicht  zum  Bewußtsein, 
oder  sie  werden  von  ihr  unterschätzt.  Was  in  solchem  Falle  noch  erschwerend 
wirkt,  das  ist  der  Umstand,  daß  derartige  Versäumnisse  meist  straflos  aus- 
gehen, weil  sich  das  Unrecht  in  der  Regel  nicht  nachweisen  läßt.  Dadurch 
ladet  das  Verfahren  geradezu  zur  Wiederholung  ein. 

Wenn  Eltern  ihre  Kinder  bei  unrechtmäßigen  Versäumnissen  nicht  nur 
unterstützen,  sondern  sie  geradezu  dazu  anhalten,  so  schützen  sie  in  der 
Regel  eine  wirtschaftliche  Notlage  vor.  Wer  eine  reichere  Erfahrung  auf 
diesem  Gebiete  hat,  der  läßt  sich  dadurch  nicht  täuschen.  In  ordentlichen 
Familien  kommt  auch  bei  schwerster  Not  ein  Schwänzen  der  Kinder  nur 
dann  vor,  wenn  eine  seelische  Anlage  dazu  beim  Kinde  vorhanden  ist.  Wo 
es  anders  ist,  da  ist  die  Notlage  genau  wie  das  Schwänzen  die  Folge  einer 
schlechten  Wirtschaftsführung,  die  ihrerseits  in  mangelndem  Ordnungssinn 
oder  in  der  Arbeitsscheu  und  Liederhchkeit  der  Eltern  ihren  Grund  hat. 
Das  Schwänzen  ist  in  dieeen  Fällen  nicht  die  Folge  der  Notlage,  sondern 
beide  sind  die  Folgen  dieser  tieferen  Gründe  und  stehen  untereinander  nicht 
im  Verhältnis  von  Grund  und  Folge.  Die  Not  wird  aber  gern  als  Aushänge- 
schild benutzt,  das  die  Schuld  verdecken  soll.  Für  das  Kind  wird  auch  in 
solchem  Falle  die  schlechte  Erziehung  verhängnisvoll:  Die  Umwelt,  in  der  es 
aufwächst,  erschwert  oder  verhindert  die  Entwicklung  der  Wahrheitshebe,  des 
Fleißes,  des  Ordnungssinnes.  Die  gegen  die  Schule  gerichtete  Erziehungsarbeit 
des  Hauses  vernichtet  die  erziehhchen  Wirkungen  der  Schularbeit.  Das  alles 
wirkt  noch  schUmmer  auf  das  Kind  ein  als  die  Stofflücken,  die  durch  die 
Versäumnisse  hervorgerufen  werden. 

Es  ist  also  in  jedem  dieser  Fälle  nicht  die  Versäiunnis  an  sich,  die  für  das 
Kind  verhängnisvoll  wird,  sondern  einerseits  kann  eine  unglückliche  Veran- 


68     Ernst  Haase,  Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule 


lagung  vorliegen,   und  andererseits  wirken  sich  die  Folgen  einer  schlechten 
Hauserziehung  aus. 

Das  Schwänzen  hat  also  der  Hauptsache  nach  innere  Gründe  auch  dann, 
wenn  äußere  Faktoren  es  veranlassen.  Die  Gegenmaßnahmen  müssen  also 
möglichst  die  Wurzel  des  Übels  treffen.  Vor  allem  müssen  die  Eltern  beeinflußt 
werden,  sei  es  auf  dem  Wege  der  Belehrung  und  Ermahnung,  sei  es  mit 
allen  Mitteln  des  gesetzlichen  Zwanges. 

e)  Der  Rest  der  Zurückbleibenden,  es  ist  noch  1  o/o,  wird  größtenteils  durch 
körperliche  Mängel  am  Fortkommen  gehindert.  Unter  ihnen  sind  am 
stärksten  die  schwerhörigen  Kinder  vertreten.  Der  Schwerhörigkeit 
muß  also  besondere  Beachtung  geschenkt  werden.  Mit  allen  Hilfsmitteln 
sollte  man  ihre  Wirkungen  auszugleichen  suchen.  Hörrohre,  Megaphone  usw. 
sollten  zu  Gebote  stehen.  Im  Notfalle  sollte  auch  Ableseunterricht  erteilt 
werden.  Ob  Schwerhörigenklassen  einzurichten  sind,  das  wird  von  der  Zahl 
der  schwerhörigen  Kinder  abhängen. 

Die  nächste  Gruppe  sind  die  Kurzsichtigen.  Hier  handelt  es  sich  darum, 
daß  das  Übel  rechtzeitig  erkannt  wird  und  daß  den  kurzsichtigen  Kindern 
aus  öffentlichen  Mitteln  Brillen  zur  Verfügung  gestellt  werden,  wenn  die  Eltern 
nicht  in  der  Lage  oder  nicht  gewillt  sind,  solche  zu  beschaffen. 

Besondere  Beachtung  verdienen  auch  Sprachgebrechen.  Sprachgebrech- 
liche Kinder  lernen  meist  schwer  lesen  und  bleiben  in  der  Rechtschreibung 
Stümper.  In  Halle  hat  sich  die  Einrichtung  von  Sprachheilklassen  für  die 
beiden  ersten  Schuljahre  ausgezeichnet  bewährt,  so  daß  die  Sprachfehler  als 
Hemmnisse  für  den  Aufstieg  bei  uns  nur  wenig  in  Betracht  kommen.  Doch 
sei  auf  eine  eigenartige  Beziehung  verwiesen,  die  wir  in  diesen  Klassen  und 
an  anderen  Stellen  in  der  Schule  beobachtet  haben:  Mit  Sprachfehlern  ist 
nicht  selten  ein  Intelligenzmangel  verknüpft;  sprachgebrechliche  Kinder  müssen 
also  nach  dieser  Richtung  sorgfältig  beobachtet  werden. 

Allgemeine  Körper  schwäche,  Kränklichkeit,  chronische  Leiden  haben 
gleichfalls  in  einzelnen  Fällen  Anlaß  zum  Sitzenbleiben  gegeben.  Erfreulicher- 
weise ist  die  Zahl  solcher  Kinder,  die  hierdurch  im  Aufstieg  gehemmt  werden, 
außerordentlich  klein. 

Zu   dieser  Gruppe  von   l^/o    sind  dann  noch  einige  Fälle  gerechnet,    bei 

denen  die  Gründe   des  Zurückbleibens  nicht  mehr  nachweisbar  sind.    Es 

mag  sich  dabei  um  Störungen  in  der  geistigen  Entwicklung  der  Kinder 

handeln,    die    vor  Jahren   aufgetreten  sind  und  zum   Sitzenbleiben  geführt 

haben,  die  aber  später  völlig  überwunden  sind. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Vertretung  der  Psychologie  und  Pädagogik  au  den  deutschen  Uni- 
versitäten im  Winterhalbjahr  1918/19 ')•  Berlin.  Mahling:  Religionsunterr., 
Seelsorge  christl.  Liebestätigkeit  (4).  Katechet.  Semin.  (2).  Prakt.  Sozietät: 
Besprechung  pädagogischer  Probleme  und   Strömungen  (2).   —    Jacobsohn 


•)  Erklärung  der  Abkürzungen:   med.  F.  =  medizinische  Fakultät,  theol.  F.  =  theolo- 
gische Fakultät,    naturw.  F.  =  naturwissenschaftl.  Fakultät,  jur.  F.  =  juristische  Fakultät. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  69 

(med.  F.):  Das  geistesschwache  und  das  nervöse  Kind  (1).  —  Forster  (med.  F.): 
Psychiatrie  des  Kindesaiters  (3).  —  Stier  (med.  F.):  Psychol.  und  ner\-Ö8e 
Störungen  des  Kindesalters  (1).  —  Schaefer  (med.  F.):  Mediz.  Psychol.  (2). 

—  Korff-Pe  tersen  (med.  F.):  Schulhygiene  (1).  —  Grotjahn  (med.  F.): 
Schulhygien.  Übungen,  n,  Verabr.  —  Stumpf:  Psychol.  mit  Demonstrationen 
(4).  Theoret.  Übungen  im  psychol.  Inst.  (1).  —  Wertheimer:  Rechtspsycho- 
logie (2).  Experiment.-psychol.  Übungen  für  Anfänger  (2).  —  Vierkandt: 
Übimgen  zur  ethnolog.  Soziologie  und  Psychol.  (2).  —  F.  J.  Schmidt:  Gesch. 
der  Päd.  (4).  Übungenü.  J.  P.  Richters  „Levana"  (1^  2).  -  Wulff:  Die  Kunst 
des  Kindes  (1).  —  Sa.  =  33' 2,  außerdem  Übungen  b.  Grotjahn.  Bonn. 
Pfennigsdorf  (ev.-theol.  F.):  Katech.  Seminar  (1).  —  Lauscher  (kath.- 
theol.  F.):  Katech.  Seminar  (1).  —  Hübner  (med.  F.):  Geistig  abnorme 
Kinder  (1).  -  Dyroff :  Psychologie  (4).  —  Störring:  Experiment.  Pädagog. 
(1).  —  Wentscher:  Pädagogik  (2).   -    Selz:  Psychol.  im  prakt.  Leben  (1). 

—  Erismann:  Einführung  in  die  experiment.  Psychol.  (2).  —  Kutzner: 
Psychologie  der  Sprache  (1).  Psychologie  in  Anwendung  a.  d.  prakt.  Leben 
(1).     Bedeutung  der  Pädag.  (1).     Einführung  in  die  experiment.  Psychol.  (2). 

—  Sa.=  18  Std.     Breslau.     Steinbeck  (ev.-theol.  F.):  Katech.  Semin.   (2). 

—  Hönigswald:  Aligemeine  Psychol.  (4).  Im  psychol.  Semin.:  Übungen 
über  die  philos.  Grundlagen  der  Pädagogik  (1' 2).  —  Provinzialschulrat  Dr. 
Otto  Miller:  Das  Lehramt  an  höheren  Schulen  (Hodegetik)  (2).  Übungen 
im  Anschluß  an  das  Kolleg  (1).  —  Sa.  =  10'  2  Std.  Erlangen.  Gas  pari 
(theol.  F.):  Allgem.  Pädag.,  mit  besond.  Berücksichtigung  d.  Volkssch.  (4). 
Katech.  Semin.  (2).  Pädag.  Praktikum  (2).  -  Weichardt  (med.  F.):  Schul- 
hygiene (1).  —  Sa.  =  9.  Frankfurt  a.  M.*  Hahn  (med.  F.):  PsychopathoL 
des  Kindes  (1).  —  Ziehen:  Grundfr.  d.  staatsbürgerl.  Erziehung  (2).  Gesch. 
u.  System  d.  Volksbildungsw.  (1).  Lesen  u.  Erklären  ausgew.  Quellenstücke 
im  Päd.  Sem.  (1).  -  Schultze:  .Indi\'idualpsychol.,  Teil  I,  Charakterologie 
(1).  Besprechung  pädag.  Tagesliteratur  (1).  —  Schumann:  Psychol.  m. 
Demonstrationen  (3).  Einführungskursus  i.  d.  exp.  Psychol.  mit  Gelb  (2). 
Im  philos.  Sem.:  Psychol.  Übungen  f.  Anf.  (1).  —  Henning:  Tierpsychologie 
(2).  —  Pape  (\\drtsch.-  u,  sozialw.  F.):  Methodik  d.  kaufm.  Unterrichtsfächer 
(1).  Semin.  f.  Handelsschulpäd. :  Lehrübungen  u.  Bespr.  päd.  Fragen  (3j.  — 
Lühr  (wirtsch.-  u.  sozialw.  F.):  Einf.  i.  d.  Handelsschulpr. :  Hospitierübungen 
und  Bespr.  (2).  —  Klumker  (wiitsch.-  u.  sozialw.  F.):  Gesch.  d.  Kinder- 
fürsorge (1).  —  Sa.  =  22.  Fi'eiburg  i.  B.  Kehrer  (med.  F.):  Kriminal- 
psychol.  und  Psychol.  d.  Aussage  (1).  —  Geyser:  Psychol.  (4).  —  Cohn: 
Das  jugendl.  Seelenleben  und  seine  Beeinfl.  (psychol.  Päd.)  (2).  Psychol. 
Arbeiten  n.  Verabr.  —  Sa.  =  7,  außerdem  Arb.  b.  Cohn.  Gießen.  Schian 
(theol.  F.):  Gesch.  d.  Pädagog.  (3).  -  Sommer  (med.  F.):  Experiment.  Psy- 
chologie und  Psychopathologie  (1).  —  Messer:  Psychologie  (4).  —  Koffka: 
Einführung  i.  d.  Psychologie  (2).  Psychol.  Übungen  (1).  —  Strecker:  Gesch. 
d.  Pädagog.  im  Altertum  (2).  —  Sa.  =  13.  Göttingen.  Meyer  (theoL  F.): 
Luthers  kl.  Katechism.  (2).  Katechet.  Übungen  (1).  —  Rosenthal  (med.  F.): 
Schulhygiene  (1).  —  G.  E.  Müller:  Psychologie  (4).  Methodik  d.  Unter- 
suchung d.  Gedächtn.  u.  d.  Vorstellungsverl.  nebst  Demonstr,  (1).  Experimt. 
psychol.  Arbeiten.  —  Sa.  ==  9,  außerdem  Arb.  b.  Müller.  Greifswald. 
V.  d.  Goltz  (theoL  F.):  Katechet.  (1).  Katechet.  Semin.  (2).  —  Rehmke: 
Konversatorium  ü.  d.  Seele  des  Menschen  (2).  —  Schmekel:  Einf.  in  die 


70  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

experiment.  Psycholog.  (2).  —  Sa.  =  7.  Halle.  Eger  (theol.  F.):  Katechet, 
(d.  Lehre  v.  d.  christl.  Erziehung)  (2).  Katechet.  Abteilung  (2).  —  Kauff- 
mann  (med.  F.):  Psychol.  des  Verbrechens  (1).  —  Frischeisen-Köhler: 
Angewandte  Psychol.  (2).  Pädagog.  Semin.:  Fichtes  Pädagog.,  i.  noch  z. 
best.  Std.  Weltanschauung  und  Bildungsideal  (1).  —  Menzer:  AUgem. 
Pädagog.  (2).  —  Ziehen:  Experimentell-psychol.  Übungen  z.  Ästhetik  (2).  — * 
Walther:  Ziele  und  Wege  des  geolog.  Unterrichts  (1).  —  Sa.  =  13,  außer- 
dem Übung,  über  Fichtes  Päd.  bei  Frischeisen-Köhler.  Hamburg.  Boden: 
Kriminalpsychol.  Kolloquium.  —  Stern:  Psychol.  und  Leben  (1).  Übungen  zur 
Jugendpsychol.  —  Werner:  Einführung  i.  d.  exper.  Psychol.  (2).  —  Bi- 
schoff: Psychol.  des  Wirtschaftslebens  (1).  Kriminalpsychol.  Kolloquium.  — 
C 1  a  ß  e  n :  Prakt.  Jugendpflege  (2),  vor  Weihnachten.  Staatsbürgerl.  Erziehung  (2), 
nach  Weihnachten.  —  Sa.  =  8.  Außerdem  Kolloquia  u.  Übungen.  Heidelberg. 
Dibelius  (theoL  F.):  Geschichte,  Sage  und  Mythus  im  Lebensbilde  Jesu  (1). 
—  Bauer  (theoL  F.):  Gesch.  der  neueren  Pädag.  (3).  Übungen  für  den 
Unterrichtsstoff  in  der  Oberst.  (2).  —  Niebergall  (theol.  F.):  Katechetik 
(3).  —  Stadtschulrat  Rohr  hurst:  Katechet.  Übungen  über  den  Unterrichtsstoff 
in  der  Mittelst.  (1^2)-  Geschichte  d.  badischen  Volksschule  (1).  —  Grüble 
(med.  F.):  Pädag.  Psychol.  (2),  —  Jaspers:  Psychol.  der  Weltanschauungen  (2). 
Psycholog.  Übungen  über  Kierkegaard  (2).  —  Curtius  (nw.-mathem.  F.):  Che- 
misches Praktikum  für  Lehramtskanditaten  (5  Tage  halbtägig).  Sa.  =171/2.  Jena. 
Thümmel  (theol.  F.):  Katechet.  Semin.  (2).  —  Schultz  (med.  F.):  Psycho- 
therapie (2).  —  Linke:  Beobachten  und  Schauen  (1^2)-  —  Nohl:  Ein- 
führung in  die  Pädag.  (1).  — Eucken:  Übersicht  d.  Gesch.  d.  neuern  Pädag. 
(1).  —  Weiß:  Allgem.  Unterrichtsl.  unter  Berücksicht.  neuerer  Strömungen 
(1).  Pädag.  Strömungen  der  Gegenwart  (2).  Schulorganisationsf ragen  der 
Gegenwart  (1).  —  Rein:  Job,  Fr.  Herbarts  Leben  und  Lehre  (2).  Spezielle 
Didaktik  I:  Die  humanist.  Lehrfächer  (2).  Mit  Weiß:  Prakt.  Übungen  im  päd. 
Semin.  —  Sa.  ==  I51/2,  außerdem  Übungen  bei  Rein  und  Weiß.  KieL  Baum- 
garten (theol.  F.):  Katechet.  Übungen  (2).  —  Deußen:  Psychol.  und  System 
der  Philos.  (4).  —  Martius:  Psychol.  Semin.  (2).  —  v.  Brockdorff:  Gesch. 
der  neueren  Pädag.  (2).  Comenius,  näher  zu  bespr.  —  Sa.  =  10,  außerdem 
über  Comenius  bei  v.  Brockdorff.  Königsberg.  Uckeley  (theol.  F.):  Ka- 
techet. Seminar  (1).  —  Ach:  Psychologie  (4).  Experiment.-psychol.  Übungen 
(12).  —  Kowalewski:  Russische  Pädagogen  (1).  —  Sa.  =  8.  Leipzig. 
Frenz el  (theol.  F.):  Pädagog.  auf  gesch.  Grundl.  (5).  —  Katechet.  Abteilung 
d.  Semin.  f.  prakt.  Theologie  (2).  Semin.  f.  Pädagog. :  Prakt.-pädag.  Übungen 
und  Besuche  von  Lehr-  und  Erziehungsanst.  (2).  —  Gregor  (med.  F.):  All- 
gem. PsychopathoL  (1).  —  Döllken  (med.  F.):  Kriminalpsychol.  (1).  — 
Lange  (med.  F.):  Schulkrankheiten  und  Schulhygiene  (1).  —  Brahn:  PsychoL 
(3).  Übungen  zur  experiment.  Pädag.:  Didaktik  des  Elementarunterr.  (IV2). 
Wissenschaf tl.  Arbeiten  zur  experiment.  Pädag.  (25).  Wirth:  Psychophysik 
der  höheren  seelischen  Funktionen  (Aufm.,  Ged.,  Willensh.)  (2).  Psychoph. 
Semin.:  Zur  Einführung  (1).  Leitung  selbst.  Arb.  (10).  —  Krueger:  Übungen 
zur  Entwicklungspsych.  (IV2).  Inst,  für  exper.  Psych.:  Leitung  selbst.  Arb. 
mit  Kirschmann  (21).  —  Spranger:  Pädag.  IIL  Teil  (Kinderpsychol.  und 
systeraat.  Pädag.)  (4).  —  Bergmann:  Das  klassisch-deutsche  Bildungsideal 
(1).  —Jungmann:  Gesch.  d.  gelehrt.  Unterr.  von  der  Reformation  bis  zur 
Gegenwart    (2).     Prakt.    pädag.    Semin.   mit  Hartmann    und   Hünlich  (4).  — 


Ideine  Beiträge  und  Mitteilungen  71 

Kirschmann:  Einführungsk.  zur  experim.  Psychol.  (2).  —  Lipsius:  Übungen 
über  die  Fragen  der  mod.  Schulreform  (IV2).  —  John:  Untemchtslehre  für 
Landwirtschaftslehrer  (2).  Theoret.  Seminarübungen  (2).  Experiment.  Vor- 
bereitung für  den  Unterr.  (2).     Unterrichtserteilung  in  der  Übungsschule  (20). 

—  Wagner:  Chem.  Übungen  für  Lehrer  (44).  Didakt.  Besprechungen  zu 
den  ehem.  Übungen  für  Lehrer  (1).  —  Sa.  =  41' 2,  außerdem  20  Std. 
Übungssch.,  90  Std.  wissensch.  Arbeiten.  Marburg.  Bornhausen  (theol.  F.): 
Religionspsychol.  (2).  —  Bornhäuser  (theol.  F.  :  Prakt.  Theol.:  Katechet., 
Seelsorge,  Kirchenverf.  (4).  Katechet.  Semin,  (2).  —  Natorp:  Allgem.  Päd. 
(3).  Übungen  über  Herbarts  Philos.  und  Pädag.  (2).  —  Jaensch:  Psychol. 
Abt.  des  philos.  Semin.,  in  noch  zu  verabr.  Std.  Leitung  psychol  Vers.  n. 
Verabr.  —  Sa.  =  13,  außerdem  Arb.  und  Vers,  bei  Jaensch.  München. 
Göttler  (theol.  F.):  Gesch.  der  Päd.  mit  besonderer  Berücksicht.  des  bayi-. 
Schulwesens  (4).  Didakt.  Praktik.  (2).  Katech.  Praktik,  mit  Mayer  (1).  Päd. 
Semin.  (1).  —  Mayer  (theol.  F.):  Grundr.  der  Heilpäd.  iPädag.  Psychopath.) 
(1).  —  Hecker  (med.  F.):  Grundlagen  der  körperl.  EIrziehung  (1).  —  Uffen- 
heimer  (med.  F.):  Soz.  Jugendfürsorge  (1).  —  Schneider  (med.  F.):  Schul- 
hygiene (2).  —  Iss erlin  (med.  F.):  Klin.  Experimentalpsych.  (1).  Psych. 
Störungen  nach  Hirnverletzungen  (1).  Psychotherapeut.  Kursus  (2).  —  Goett 
(med.  F.):  Nervenkrankheiten  und  Psychopathol.  des  Kindesalt.  (2).  Die 
körperliche  und  geistige  Entwicklung  des  Kindes  (1).  —  Becher:  Psychol. 
(4).  Seminarübungen  über  psychol.  Fragen  (1).  Experiment.-psychol.  Arbeiten 
mit  Bühler  tägl.  —  Foerster:  Grundfragen  der  Charakterbildung  (4).  Päd. 
Semin:  Die  Arbeitssch.  (2).  —  Joachimsen:  Übungen  zur  Didaktik  der 
Reformationsgesch.  (l'/i)  —  Aster:  Philosophisches  und  Psychologisches  in 
der  modernen  Liter.  (1).  —  Fischer:  Grundzüge  der  Didaktik  (2).  Erziehungs- 
und Schulfragen  der  Gegenwart  (1).  —  Matthias  Meier:  Übungen  zur  tho- 
mist.  Psychol.  (1).  —  Sa.  =  37 > '2,  außerdem  täglich  Arb.  bei  Becher  und 
Bühler.  Münster:  Smend  (ev.-theol.  F.):  Einf.  in  den  evangel.  Rehgions- 
unterr.  an  höheren  Schulen  (3).  Katechet.  Semin.  (1).  —  Rosenfeld  (jur. 
F.):  Jugendstrafrecht,  einschließlich  Fürsorgewesen  (2).  Kriminalpsychol.  (1). 

—  Goldschmidt:  Grundbegriffe  der  Völkerpsychol.  (1).  Psychol.  Übungen 
und  Arb.,  nach  Vereinb.  —  Cauer:  Pädagog.  auf  prakt.  Grundl.  (2).  — 
Braun:  Allgem.  Grundlegung  und  Gesch.  der  Päd.  vom  Altertum  bis  zum 
18.  Jahrh.  (4).  Pädag.  Hauptströmungen  der  Gegenwart  (2).  —  Plaßmann: 
Methodik  des  Unterr.  in  mathem.  Geographie  und  elementarer  Astronomie 
(1).  —  Sa.  =  17,  außerdem  Übungen  und  Arbeiten  bei  Goldschmidt.  Rostock. 
Hashagen  (theol.  F.):  Evangel.  Pädagog.  (2).  —  Hilbert  (theol.  F.):  Ka- 
techet. Semin.  (2).  —  Walter  (med.  F.)  u.  Utitz:  Einführung  in  die  allge- 
meine und  patholog.  Psychol.  (2).  Psychol.  Übungen  (1).  —  Sa.  =  7  Std. 
Straßburg.  Naumann  (ev.-theol.  F.):  Katechet.  Semin.  (1).  —  Pfersdorff 
(med.  F.):  Die  Psychose  des  Kindes  (1).  —  Baensch:  Vorfragen  d.  Psychol. 
(1).  —  Schneider:*Gesch.  der  Pädag.  im  Umriß  (l).  —  Goetsch  (mathem. - 
naturw.  F.):  Psychol.  der  Tiere,  II.  Teil  (Insekt,  und  Wirbelt.)  (1).  —  Sa.  =  5. 
Tübingen,  v.  Wurster  (ev.-theol.  F.):  Katechet,  und  Kirchenverf.  (4).  Luthers 
kleiner  Katechismus  und  seine  unterr.  Behandl.  (2).  Katechet.  Semin.  mit 
Übungen  in  der  Volkssch.  (2).  —  Schilling  (kath.-theol.  F.):  Homilet,  imd 
Katechet.  (1).  —  Mezger  (jur.  F.):  Psychol.  Fragen  aus  der  gerichtl.  Praxis 
(1).  —  Busch  (med.  F.):  Die  psychisch,  und  nervös   Folgen  der  Gehimver- 


72  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


letzungen  (1).  —  Wolf  (med.  F.):  öffentl.  Gesundheitspflege  besonders  für 
die  Kandidaten  des  höheren  Lehramts  (1).  —  Adickes:  Psychologie  (4).  — 
Spitta:  Ausgew.  Abschnitte  a.  d.  vergl.  Psychologie  (2).  —  Ritter:  Gesch. 
und  System  des  Unterrichts  an  den  höheren  Schulen  Deutschlands  (3).  — 
Deuchler:  Bildungswerte  und  Bildungsideale  (3).  Pädag.  Semin.:  Über  das 
Wesen  der  Erziehungswissenschaft  (1).  —  Sa.  =  25.  Würzburg,  Stölzle: 
Übungen  zur  Pliilos.  und  Pädag.  (1).  Anleit.  zu  wissensch.  Arbeiten  in 
Philos.  und  Pädag.,  nach  Bedarf.  —  Marbe:  m.  Peters:  Experiment.  Übungen 
zur  Einf.  in  die  Psychol.,  Pädag.  und  Ästhet.  (3).  Im  psychol.  Inst.:  An- 
leitung z.  wissensch.,  auch  pädag.  und  ästhet.  Arb.  (48).  —  Peters:  Die 
geist.  Entwicklung  des  Menschen  (2).  Psychol.  und  pädag.  Besprechungen 
(1).  —  Sa.  =  7,  außerdem  Arb.  bei  Marbe  (4S)  und  bei  Stölzle  n.  Bedarf. 
Leipzig.  Hermann  Götz. 

Eine  Wiener  Hauptstelle  für  Unterricht  und  Erziehung  ist  im  Entstehen 
begriffen.  Im  Anschluß  an  die  vor  20  Jahren  begründete  Lehrmittelzentrale 
wird  sie  an  erster  Stelle  eine  Mustersammlung  von  Lehrmitteln  für  alle  Schul- 
arten ausbauen.  Sie  soll  dann  ferner  eine  ständige  Ausstellung  von  kindlichen 
Beschäftigungsmitteln  erhalten,  wobei  insbesondere  die  Spiele  für  alle  Alters- 
stufen zu  sammeln  und  auszustellen  sind.  Auch  die  Musterschulbüchereien 
der  Lehrmittelzentrale  gehen  in  die  Hauptstelle  über  und  werden  dort  eine 
Ergänzung  durch  Musterlehrerbüchereien  erfahren.  Weiter  soll  in  der  Haupt- 
stelle auch  der  Wunsch  nach  einer  pädagogischen  Zentralbibliothek,  für  die 
ein  Grundstock  schon  vorhanden  ist,  Erfüllung  finden.  Geplant  ist  schließhch 
auch,  das  „Österreichische  Schulmuseum"  mit  der  neuen  Gründung  zu  verbinden 
und  so  einen  geschichtlichen  Überblick  über  das  Gebiet  des  Lehrmittelwesens 
zu  bieten. 

Die  Auskunftsstelle  für  Kleinkinderfürsorge,  die  der  pädagogischen  Abtei- 
lung des  Zentrahnstituts  für  Erziehung  und  Unterricht  angegliedert  ist,  bückt 
jetzt  auf  ein  dreijähriges  Bestehen  zurück;  sie  wird  fortschreitend  immer 
stärker  in  Anspruch  genommen.  Besonderer  Nachfrage  erfreuen  sich  die 
Leihmappen,  die  das  Wichtigste  über  Gesundheitspflege  und  Beschäftigung  des 
Kleinkindes,  über  Einrichtung  und  Betrieb  von  Kindergärten  und  Kleinkinder- 
schulen, Buchführung,  Kinderspeisung,  Mütterabende  u.  a.  m.  enthalten  und 
kostenlos  zur  Einsicht  gesandt  werden.  Auch  die  Lichtbilder-Reihen  „Körper- 
liche Entwicklung  und  Pflege"  und  „Der  Volkskindergarten"  sind  ständig 
ausgeliehen.  Auf  Wunsch  werden  —  gegen  geringe  Leihgebühr  —  Lehr- 
pläne von  Kinderpflegerinnen-Schulen,  Kindergärtnerinnen-  und  Jugend- 
leiterinnen-Seminaren vermittelt  und  Bildermappen  sowie  Baupläne  zur  Ver- 
fügung gestellt.  Näheres  ist  durch  das  Zentrahnstitut  für  Erziehung  und  Unter- 
richt, Berlin  W  35,  Potsdamer  Straße  120,  zu  erfragen. 

Nachrichten.  1.  Von  der  Dörpfeldstiftung  sind  zwei  Preisaufgaben  zur 
Wahl  gestellt:  „Dörpfelds  Schulverfassung  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Gegen- 
wart" und  „Dörpfelds  Erziehungsgedanken  und  die  moderne  Jugendbewegung 
und  Jugendfürsorge".  Arbeiten  im  Umfange  von  3 — 4  Quartbogen  sind  bis 
zum  1.  Juli  1919  an  den  Vorsitzenden  der  Stiftung,  Rektor  W.  Vogelsang  in 
Barmen-Wichlinghausen,  unter  Kennwort  einzusenden. 


Literaturbericht  73 

2.  Prof.  Dr.  Aloys  Fischer  woirde  zum  Professor  der  Pädagogik  an  der 

Universität  München  ernannt. 

3.  Dr.  Georg  Weiß,  Privatdozent  an  der  Universität  Jena,  hat  die  Be- 
rufung zum  obersten  Leiter  des  Volksschulwesens  in  S.-Weimar  erhalten, 
wird  jedoch  seine  akademische  Tätigkeit  zunächst  noch  weiterführen. 

4.  In  der  pädagogischen  Osterwoche,  die  das  Zentral-Institut  für  Er- 
ziehung und  Unterricht  in  der  Zeit  vom  10.  bis  16.  April  1919  veranstaltet,  ist  für 
Pädagogik  in  Aussicht  genommen:  Spranger  (Leipzig),  „Die  Ansicht  über 
den  Bildungswert  des  Altertums  von  Winckelmann  bis  zu  Wiiamowitz"  und 
Fischer  (München),  .Organisation  und  Technik  der  Berufsberatung  an  höheren 
Schulen". 


Literaturbericht. 

Dr.  August  Messer,  o.  Prof.  der  Phil.  u.  Päd.  a.  d.  Univ.  Gießen,  Ethik.  Eine  philosophische 
Erörterung  der  sittlichen  Grundfragen.    Leipzig  1918.    Quelle  &  Meyer.    132  S.   geb.     4,20  M. 

Messer  fügt  mit  dieser  Schrift  einen  bedeutsamen  Baustein  in  sein  umfängliches  literarisches 
Werk.  Er  gibt  in  ihr,  nachdem  er  sich  wiederholt  schon  ethischen  Einzelfragen  zugewendet  hatte, 
einen  gut  geschlossenen  Abriß  der  Lehre  von  der  Sittlichkeit.  Die  Vorzüge,  die  seinen  Darstellungen 
der  Psychologie  und  der  Geschichte  der  Philosophie  (Sammlung  „Wissenschaft  und  Bildung")  die 
so  l)eifälhge  Aufnahme  gebracht  haben,  zeichnen  auch  dieses  Buch  aus.  Vor  allem  eignet  ihm 
eine  durchsichtige  Klarheit,  ein  meisterlicher  didaktischer  Zug  (auf  den  ersten  Seiten  vielleicht  etwas 
za  stark  hervortretend),  eine  schön  aufsteigende  Linie  der  Gedankenführung  und  ein  architektonischer 
Aulbau.  Den  Inhalt  ausführlich  zu  kennzeichnen,  verbieten  die  psychologischen  Aufgaben  dieser 
Zeitschrift.  Es  sei  nur  unter  den  Hinweisen,  daß  Messer  sich  auch  von  den  jüngsten  Anschauungen 
(Scheler,  Stern  u.  s,  f.)  l>efruchten  läßt,  daß  er  vielfach  auf  Erscheinungen  der  Gegenwart  die  Blicke 
lenkt  und  daß  er  in  den  sachlichen  Erörtenmgen  die  persönliche  Note  nicht  unterdrückt,  in  aller 
Kürze  die  Gliederung  angegeben. 

Nach  einleitenden  (leider  nur  etwas  knappen)  Darlegungen  ül>er  die  Aufgaben  der  Ethik  han- 
delt ein  ausgedehnter  Hauptteil  über  das  Wesen  und  die  Geltung  der  Sittlichkeil.  Daß  in 
ihm  mit  aller  Sorgfalt  und  in  gutem  didaktischen  Sinn  von  der  Klärung  der  wichtigsten  Begriffe 
ausgegangen  wird,  fördert  ersichtlich  die  angeschlossenen  Betrachtungen  über  das  Verhältnis  der 
Sittlichkeit  zu  Religion,  Sitte  und  Recht  imd  über  die  Gegenstände  und  Bedeutung  des  sittlichen 
Bemteilens.  Dankenswert  ist  den  folgenden  Abschnitten  über  Gesinnung,  Wille  und  Neigung  und 
über  den  Sinn  der  sittlichen  Wertung  der  hervortretende  psychologische  Einschlag.  Gründlicher 
wird  dem  Freiheitsproblem,  dem  Messer  schon  früher  eine  selbständige  Darstellung  gewidmet  hat, 
nachgegangen.  In  dem  Kapitel  über  die  Prinzipien  der  Sittlichkeit  kommt  die  bekannte  Reihe 
der  ethischen  Theorien  zu  kritischer  Betrachtung,  wot)ei  schließlich  das  Gewissen  als  entscheidende 
Instanz  erkannt  wird.  Ein  neuer  Hauptteil  tritt  imter  der  Überschrift  „Individual-  und  Sozial- 
ethik" auf.  Wieder  eröffnet  hier  eine  begriffliche  Darlegung  die  Auseinandersetzungen.  Es  wird 
nach  Erörterungen  über  den  Einzelnen  und  die  Gemeinschaft  das  Sittliche  in  seinem  Verhältnis 
zu  den  Lebensgebieteu  untersucht :  zu  Recht  und  Staat,  zu  Religion,  Kunst  und  Wissenschaft  und 
zum  Wirtschaftsleben.  Der  Schlußteü  ist  alsdann  der  Verwirklichung  der  Sittlichkeit  ge- 
widmet. Er  hat  eine  pädagogische  Einstellung  und  erörtert  u.  a.  das  Verhältnis  der  Ethik  zu 
Pädagogik  und  Psychologie  (wobei  auch  ein  paar  richtige  Bemerkungen  über  die  Grenze  der 
experimentellen  Richtung  einfließen),  zeigt  die  Wege  zur  sittlichen  Einsicht  und  zum  sittlichen 
Handeln,  betrachtet  die  Erziehung  unter  dem  Freiheitsproblem  und  gipfelt  in  dem  Versuch 
einer  Verbindung  des  individual-  und  sozialethischen  Wirkens.  Angefügt  ist  ein  trefflich  zu- 
sammengestelltes Schriftenverzeichnis. 

Die  Messersche  Ethik  ist  dem  Handbuch  für  höhere  Schulen,  herausgegel)en  von 
Provinzialschulrat  Dr.  R.  Jahnke,  eingereiht.  Diese  bedeutsame  Sammlung  will  der  planmäßigen 
Einführung  der  künftigen  Oberlehrer  in  das  Wesen  und  die  Aufgaben  ihres  Berufes  dienen  —  einer  Ein- 
führung, die  nach  der  Ordnung  der  praktischen  Ausbildung  für  Lehrer  an  den  höheren  Schulen 
in  Preußen  (vom  2S.  Juli  191T)  nun  endlich  wohl  ernster  als  bisher  betrieben  werden  wird.  Die 
Wert-  und  Ziellehre  der  Pädagogik  erfordert  dabei  eine  gründliche  Vertiefung  in  die  ethischen 


74  Literaturbericht 


Grundfragen.  Wir  wüßten  für  diesen  Zweck  kaum  eine  bessere  Schrift  als  die  von  Messer  za 
nennen.  Sie  hat  übrigens  neben  ihrem  Platz  in  dem  Handbuche  von  Jahnke  auch  durchaus 
selbständigen  Wert  und^sei  darum  außer  den  Anwärtern  für  das  höhere  Schulamt  auch  weiteren 
Kreisen  sehr  empfohlen.  Vor  allem  kann  sie  der  schulmäßigen  Pflege  der  philosophischen  Propä- 
deutik, die  wohl  in  der  heraufkommenden  neudeutschen  Schule  eine  bedeutendere  Stellung  ge- 
winnen wird,  treffliche  Dienste  leisten. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  Kurt  Grau,  Grundriß  der  Logik.  (Natur  und  Geisteswelt.  637.  Bd.).  Leipzig  19t8 
Teubner.     140  S.     2  M. 

Als  wissenschaftlicher  Leitfaden  genommen  stellt  das  Buch  eine  sehr  tüchtige  Leistung 
dar.  Es  ist  in  ihm  gelungen,  das  Lehrgebiet  der  Logik  nach  dem  herkömmlichen  Aufbau  über- 
sichtlich auszubreiten,  die  verschiedenen  Lösungsversuche  der  Probleme  aufzuzeigen  und  zu 
erörtern  und  dal>ei  immer  an  den  Stand  der  Forschung  heranzuführen.  Wo  der  logische  Stoff 
zur  Hinwendung  nach  Psychologischem  drängte,  wie  z.  B,  bei  den  Betrachtungen  zur  Denk- 
psychologie (S.  7  und  S.  16—20),  geschieht  dies  mit  der  reinlichen  Trennung,  die  erforderlich 
ist,  wenn  die  logische  Betrachtung  nicht  durch  die  Vermengung  mit  Psychologie  offenbaren 
Schaden  leiden  soll.  Ebenso  ist  die  Einbeziehung  erkenntnistheoretischer  und  grammatischer 
Fragen  mit  aller  Vorsicht  betrieben.  Auch  Grau's  Grundriß  wagt  nicht  mit  der  Überlieferung 
zu  brechen,  die  Elementarlehre  gegenüber  der  Methodenlehre  unverhältnismäßig  ausführlich 
abzuhaadeln.  Das  angefügte  inhaltlich  geordnete  Literaturverzeichnis,  das  unter  seinen  reich- 
lichen Anführungen  die  bedeutsameren  Schriften  besonders  heraushebt,  wäre  für  die  Zwecke 
des  Buches  dienstbarer,  wenn  es  sich  Beschränkung  auferlegte  und  dafür  die  einzelnen  Werke 
nach  ihrer  Eigenart  kurz  kennzeichnete. 

Der  Verfasser  dachte  sich  seine  Arbeit  als  Einführung  für  Schüler  (!),  Studenten,  ja  für 
philosophisch  Interessierte  überhaupt  und  wollte  bei  der  Abfassung  didaktische  Gesichtspunkte 
vor  die  theoretisch -wissenschaftlichen  stellen.  Ein  solches  Buch  wäre  in  der  Tat  höchst 
wünschenswert.  Wir  habea  es  aus  Bedürfnissen  des  Seminarunterrichtes  wiederholt  gefordert. 
Aber  Grau  mag  sich  nicht  täuschen,  daß  für  solche  löbliche  Absicht  sein  Grundriß  denn  doch  zu 
sehr  mit  Einzelnem  überlastet  ist  und  eine  Anlage  und  Formung  gewonnen  hat,  die  schon  ein 
beträchtliches  Maß  von  Vorkenntnissen  im  Gebiete  und  von  wissenschaftlicher  Kraft  beim 
Studierenden  voraussetzt.  (Vergl,  z.  B.  den  Abschnitt  „Die  geschichtlichen  Voraussetzungen 
der  neueren  Logik*.)  Jedenfalls  zählt  er  kaum  zu  den  wissenschaftlich  gemeinverständ- 
lichen Darstellungen,  die  sonst  die  Sammlung  „Natur  und  Geisteswelt"  vereinigt.  So  bleibt 
auch  nach  Grau's  Logik  der  Wunsch  nach  einem  deutschen  Seitenstück  zum  Leitfaden  von 
Stanley  Jevons  noch  offen.  Offenbar  ist  das  logische  Lehrgebiet,  wenn  man  seiner  stofflichen 
Natur  durchaus  gerecht  bleiben  will,  ganz  besonders  schwierig  didaktisch  zu  meistern.  Viel- 
leicht, daß  der  Versuch  eines  mehr  untersuchend  gehaltenen  und  nicht  rein  darstellenden  Ver- 
fahrens leichter  zum  Ziele  führte.  Die  Durchsetzung  mit  noch  so  vielen  und  guten  Beispielen, 
die  Grau  übrigens  in  reizvoller  Auswahl  sehr  geschickt  einfügt,  erfüllt  allein  noch  nicht  die 
didaktische  Aufgabe,  die  sich  der  Verfasser  nach  den  Erklärungen  im  Vorwort  gestellt  hat. 
Doch  sei  wiederholt,  daß  wir  seinen  Grundriß  als  eine  wissenschaftliche  Darstellung  hoch  ein- 
zuschätzen wissen  und  allen  denen  empfehlen,  die  nicht  gerade  eine  bequeme  Einführung  suchen. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Hermann  Ebbinghaus,  weiland  Prof.  der  Philosophie  an  der  Universität  Halle,  Abriß  der 
Psychologie.  6.  Auflage,  durchgesehen  von  Prof.  Karl  Bühler  in  Dresden.  Leipzig  1919. 
Veit  u.  Co.    206  S.     7,00  M. 

Wir  haben  wiederholt  den  fest  in  sich  geschlossenen  und  wohlgeformten  Abriß  von  Ebbinghaus 
im  schnellen  Erscheinen  seiner  Neuauflagen  —  es  sind  nun  ihrer  sechs  in  einem  Jahrzehnt  — 
gewürdigt.  Wie  vorher  Ernst  Dürr,  so  hat  auch  der  neue  Herausgeber  das  Werk  nicht  umge- 
staltet, sondern  nur  dort  ganz  sparsam  und  vorsichtig  Eingriffe  vorgenommen,  wo  es  der  Fort- 
schritt der  Einzelerforschung  nunmehr  erforderte.  Seh. 

D.  Dr.  h.  c.  E.  v.  Sallwürk,  Die  Seele  des  Menschen.  Psychologische  und  pädagogische 
Grundbegriffe.     Karlsruhe  1918.     G.  Braun.    134  S.    4,50  M. 

Die  Vorzüge,  die  den  zahlreichen  Schriften  Ernst  v.  Sallwürks  eignen:  Schöpfen  aus  der 
Fülle  des  in  einer  langen  Lebensarbeit  erworbenen  Stoffes,  Geschicklichkeit  in  neuen  eigen- 
artigen Gruppierungen,  klare  Flüssigkeit  in  der  Darstellung  —  diese  Vorzüge  sind  auch  dem 
jüngsten  Buche    des    nunmehr    bald    Achtzigjährigen    erhalten.      Es    bietet    einen    Aufriß    des 


Literaturbericht  75 


seelischen  Lebens,  gegliedert  in  die  Hauptteile:  Wesen  der  Seele,  Vorstellung  und  Anschauung, 
Gefühle  und  Handlung.  Zwischendurch  sind  in  die  psychologischen  Darlegungen  ausgedehntere 
pädagogische  Betrachtungen  eingegliedert.  So  widmet  sich  ein  Abschnitt  der  erzieherischen 
Forderung,  das  Seelenleben  zur  Erkenntnis  zu  bringen;  so  wird  der  Begriff  Anschauung  in 
seiner  schillernden  Auffassung  von  Pestalozzi  bis  Herbart  behandelt;  so  klingt  das  Buch  aus 
in  erziehliche  Folgerungen  aus  Einsichten  in  die  psychologische  Natur  des  Fühlens  und 
Wollens.  Zahkeiche  Anführungen  aus  führenden  Werken  der  älteren  und  neueren  pädagogischen 
und  psychologischen  Wissenschaft  leiten  an  die  Quellen  hin,  aus  denen  Sallwürk  die  Tatsachen 
schöpft,  die  er  zu  schöner  Gedankeneiaheit  verbindet. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

R.  Gaupp,  Prof.  a.  d.  Univ.  Tübingen,  Psychologie  des  Kindes.  4.,  vielfach  veränderte  AolL 
Natur  und  Geisteswelt  Bd.  213/14.     Leipzig  1918.     Teubner.     172  S.     2  M. 

Gaupps  gut  eingeführte  Kinderpsychologie  verrät  nicht  so  auffällig,  als  man  in  der  Richtxmg 
physiologischer  Auffassungen  und  Betrachtungen  erwarten  könnte,  die  Hand  des  Arztes.  Immerhin 
wird  sie  durch  die  Bevorzugung  bestimmter  Teilgebiete  noch  deutlich  spürbar.  Vor  allem  ist  ihr 
ein  schätzensw^erter  Anhang  über  die  seelisch  abnormen  Kinder  zu  danken.  Der  Verfasser  aber 
weist  selbst  darauf  hin,  daß  er  sich  in  Stoffkreisen,  die  ihm  fern  liegen,  der  fachmännischen  Führung 
von  Forschern  wie  Meumann,  Stern  und  Groos  anvertraut  hat. 

Das  Buch  ist  erstmals  vor  einem  Jahrzehnt  erschienen.  Es  war  in  seiner  ersten  Gestalt  aus 
einem  Kursus  für  Lehrer  erwachsen.  Diese  Herkunft  macht  es  verständlich,  daß  der  Schwerpunkt 
auf  die  Psychologie  des  Schulkindes  verlegt  ist  und  daß  besonders  auch  psychologische  Fragen, 
denen  eine  hervorragende  pädagogische  Bedeutung  innewohnt  (Schulneuling,  Typen  der  Auf- 
merksamkeit, Lernen  und  Behalten,  Aussage,  Leistungsfähigkeit  und  Ermüdung,  Intelligenzprüfung), 
betont  worden  sind.  Leider  wird  die  reifende  Jugend,  die  gerade  bei  der  besonderen  Einstellung 
des  Buches  zu  gründlicherer  Behandlung  drängte,  nur  auf  knapp  drei  Seiten  abgetan  —  bedauerlich 
um  so  mehr,  als  gerade  hier  die  neuere  Forschung  wichtige  Ergebnisse  erzielt  hat  und  diese  zur 
Lösung  vieler  wichtigen  Erziehungsfragen  dringend  gebraucht  werden.  Im  übrigen  aber  ist  das 
Buch  auf  dem  Wege  zu  einer  vierten  Auflage  den  Fortschritten  der  wissenschaftlichen  Jugend- 
kunde, so  weit  als  es  der  Rahmen  gestattete,  anerkennenswert  gefolgt. 

Stollberg.       '  Paul  Ficker. 

J.  Jacob,  Ein  Beitrag  zur  Frage  nach  der  psychischen  Rasseunterschieden.  Leip- 
ziger medizinische  Doktordissertation.    21  S. 

Die  Frage ,  ob  sich  in  den  Schulleistungen  jüdischer  Schüler  Abweichungen  von  denen 
ihrer  nichtjüdischen  Mitschüler  zeigen,  die  auf  einen  typischen  Unterschied  der  Rassen  hin- 
weisen, ist  in  dieser  Zeitschritt  schon  mehrfach  behandelt  worden  (vgl.  die  Zusammenstellung 
der  Literatur  in  Bd.  17  Seite  332 — 335).  Die  vorliegende  kleine  Abhandlung,  die  merkwürdiger- 
weise als  medizinische  Doktorarbeit  erscheint,  beschäftigt  sich  mit  dem  gleichen  Thema,  freilich 
nur  bei  Knaben  einer  einzigen  Altersstufe  (4.  Schuljahr),  so  daß  Verallgemeinerungen  nicht  er- 
laubt scheinen.  Es  handelt  sich  um  327  nichtjüdische  und  81  jüdische  Schüler  von  Bürger- 
und Bezirksschulen  einer  mitteldeutschen  Großstadt,  für  welche  J.  eine  Zensurenstatistik  an- 
stellte. Es  ergab  sich,  daß  das  durchschnittliche  Zeugnisprädikat  in  Rechtschreibung  imd 
Rechnen  bei  beiden  Gruppen  gleich,  in  den  anderen  Fächern,  sowie  in  Fleiß  und  Aufmerksam- 
keit bei  der  jüdischen  Gruppe  ein  wenig  geringer  war.  Die  Häuf igkeits Statistik  zeigte,  daß 
bei  den  Juden  die  guten,  aber  auch  die  schlechten  Leistungen  prozentual  etwas  stärker  ver- 
treten waren  als  bei  den  NichtJuden,  während  bei  diesen  sich  wiederum  mehr  mittlere 
Leistungen  fanden. 

Hamburg.  William  Stern. 

• 
Stabsat zt  a.  D.  Dr.  Max  Christian,   Abteilungsvorsteher  an   der  Zentralstelle  für  Volkswohl- 
fahrt,   Psycho-physiologische  Berufsberatung  der  Kriegsbeschädigten.     Leipzig 
1918.     Leopold  Voß.     80  S.     3,50  M. 

Die  auf  breiter  Grundlage  ruhende  Schrift  faßt  ihren  Gegenstand  an  den  verschiedensten 
Seiten  an.  Sie  erörtert  einleitend  seine  Stellung  innerhalb  des  weiten  Gebietes  der  Kriegs- 
beschädigtenfürsorge, legt  dann  Sinn  und  Begriff  der  beruflichen  Eignung  dar,  gibt  einiges 
zur  Methodik  der  Berufsberatung  an,  beschreibt  die  Tätigkeit  sowie  die  Ausbildung  der 
Berul3t)erater  und  beschäftigt  sich  schließlich  mit  organisatorischen  Fragen.  Wo  es  möglich 
war,  schließt  sie  an  Erfahrungen  an.  Durchweg  geht  sie  den  reichen  Beziehungen  zu  der 
allgemeinen  Berufsberatimg  nach.    In  anregender  Art,  aber  mitunter  zu  ausgedehnt,  2Üeht  sie 


76  Literaturbericht 


auch  Sozialwissenschaftliches,  Volkswirtschaftliches  und  Biologisches,  das  sich  mit  den  Fragen 
der  Berufsberatung  berührt,  zur  Erörterung  heran.  Überzeugend  wird  insbesondere  heraus- 
gearbeitet, wie  den  behandelten  Aufgaben  nicht  nur  für  das  Wohl  der  Kriegsbeschädigten, 
sondern  auch  für  die  Förderung  unseres  Volksganzen  eine  vielfach  noch  nicht  genügend  ge- 
würdigte Bedeutung  innewohnt.  Die  hervorragenden  Verdienste,  die  die  Berufsberatung  durch 
die  psychologische  Forschung  erfahren  hat  und  vor  allem  noch  erwarten  darf,  sind  hinreichend 
betont. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Karl  Bürklen,  Das  Tastlesen  der  Blindenpunktschrift.  Nebst  kleinen  Beiträgen  zur 
Blindenpsychologie  von  P.  Grasemann,  L.  Cohn,  W.  Steinberg.  Mit  16  Abbildungen  im  Text 
und  6  Tafeln,  16.  Beilieft  zur  Zeitschrift  f.  angew.  Psych.  Herausgegeben  von  W.  Stern  u. 
O.  Lipmann.     Leipzig  1917.     Barth.     94  S.     6  M. 

Es  ist  ein  schätzenswertes  Unternehmen,  aus  den  jüngeren  Jahrgängen  einer  Zeitschrift  die 
Arbeiten  des  gleichen  Problemgebietes  in  Sammelschriften  zu  vereinigen  und  sie  auf  solche  Art 
bestimmten  Fachkreisen  bequemer  zugänglich  zu  machen.  So  wird  das  vorliegende  Beiheft  zur 
Zeitschrift  für  angew.  Psych.,  das  eine  Reihe  von  Beiträgen  zur  Blindenkunde  bringt,  sicherlich 
von  den  Blindenlehrern  und  wohl  auch  den  Augenärzten,  von  den  psychologischen  Forschem 
und  den  Vertretern  des  Psychologieunterrichtes  willkommen  geheißen  werden.  In  den  Büchereien 
der  Berufsberatungsstellen  wird  es  nicht  fehlen  dürfen. 

Den  Körper  des  Heftes  bildet  eine  experimentelle  Untersuchung  über  die  technischen, 
physiologischen  und  psychischen  Vorgänge  beim  Tasllesen  der  Punktschrift,  die  zumeist  schon 
früher  Bekanntes  erneut  imd  endgültig  bestätigen,  manches  Strittige  entscheiden  und  auch  einiges 
Neue  bringen.  Der  Verfasser  ist  Karl  Bürklen,  Direktor  der  Blindenanstalt  in  Purkersdorf  bei 
Wien.  Nach  einleitenden  Ausführungen  über  die  Punktschrift  in  ihrer  Kennzeichnung  und  ge- 
schichtlichen Entwicklung,  über  das  Leseorgan  und  den  Lesevorgang,  über  frühere  Unter- 
suchungen zur  Lesbarkeit  und  zum  Lesetempo  stellt  er  eigene  Versuche  dar,  in  denen  einer 
Reihe  scharf  herausgestellter  Fragen  nachgegangen  wird.  Aus  den  Ergebnissen  sei  hier  nur 
einiges  wiedergegeben.  Nach  wie  vor  ist  im  allgemeinen  die  besondere  Eigiiung  der  Punkte  als 
Elemente  der  Blindenschrift  und  im  besonderen . die  Anordnung  im  aufrechten  Sechspunktefeld 
erwiesen.  Dabei  zeigt  sich  die  Lesbarkeit  der  Schriftzeichen  nicht  abhängig'  von  der  Zahl  der 
auftretenden  Punkte,  sondern  es  ist  die  Lesbarkeit  bedingt  durch  die  Eigenart  der  Buchstaben- 
gestalt. Zur  Feststellung  des  günstigsten  Abstandes  der  Punkte,  der  sicher  zwischen  2  und 
und  3  mm  liegt,  bedarf  es  noch  eingehenderer  Versuche.  Die  gebräuchliche  Größe  der  Zeichen 
(bis  zu  7  mm  Höhe  und  4,5  mm  Breite)  wird  wohl  die  obere,  nicht  aber  die  untere  Grenze 
bezeichnen.  Eine  Verringerung  der  üblichen  Maße  erscheint  möglich  und  wäre  im  zutreffenden 
Falle  vorteilhaft.  Nicht  immer  übersteigt  die  Größe  der  Lesetastfläche  die  Höhe  der  Schrift- 
zeichen. Die  Möglichkeit  zum  Tastlesen  ist  bei  allen  Fingern  gegeben ;  ihre  be%'orzugte  Stellung 
macht  aber  Mittel-  und  Zeigefinger  besonders  geeignet.  Von  besonderer  Wichtigkeit  für  den 
Lesevorgang  sind  Hand-,  Arm-  und  Körperhaltung.  Das  Lesen  von  Wörtern  und  Sätzen  erfolgt 
durch  Erfassung  von  Wortbildern,  also  synthetisch,  nicht  analytisch.  Allerdings  führen  Lese- 
schwierigkeiten zur  Zerlegung  des  Wortbildes.  Am  schnellsten  wird  mit  beiden  Händen  ge- 
lesen. Arbeitet  nur  eine  Hand,  so  verdoppelt  sich  ungefähr  die  Lesezeit.  Die  linke  Hand  liest 
allein  besser  als  die  rechte.  Der  äußere  Vorgang  besteht  in  artverschiedenen  Tastbewegungen 
der  Finger  und  Hände,  teils  dienen  sie  dem  Aufsuchen,  teils  dem  Erkennen.  Die  Linie  der 
Tastbewegungen,  aufgezeichnet  mittels  eines  von,  Bürklen  hergestellten  ,, Tastschreibers",  nähert 
sich  bei  guten  ruhigen  Lesern  der  wagerechten  Geraden,  nimmt  bei  weniger  guten  Lesern  die 
Form  des  Sägeblattes  an  und  führt  schließlich  bei  schlechten  Lesern  zu  einem  völlig  unregel- 
mäßigen, verworrenen  Zuge.  Lesen  zwei  Finger,  so  weisen  sie  mehr  oder  minder  gleich- 
laufende Bewegungsba^nen  auf,  doch  tritt  stets  die  größere  Beweglichkeit  des  einen,  der  unter 
gehäufteren  Bewegungen  die  Hauptarbeit  leistet,  deutlich  hervor.  Der  Fingerdruck,  der  mit  den 
Tastbewegungen  verbunden  ist,  steht  in  Verbindung  mit  der  Lesefertigkeit:  er  ist  gleichmäßig 
und  gering  bei  guten  Lesern,  stark  und  schwankend  bei  den  schlechteren  Lesern,  bei  denen  die 
Leseschwieiigkeiten  zu  vermehrten  Tastbewegungen  und  erhöhten  Anstrengungen  führen.  Eine 
Abnahme  der  Tastempfindlichkeit  ist  selbst  nach  stundenlangem  Lesen  kaum  nachweisbar.  Auch 
die  aligememe  Ermüdung  wird  durch  das  Tastlesen,  das  demnach  wenig  anstrengend  ist,  nur 
gering  beeinflußt. 

Eine  Ergänzung  zu  den  Untersuchimgen  bildet  die  kleinere  Arbeit  von  P.  Grasemann, 
gegenwärtig  Leiter  der  Blindenanstalt  in  Frankfurt.  Sie  prüft  vorwiegend  die  Frage,  welche 
Aufgabe   im   Lesen   der  Blinden   dem  linken   und  dem  rechten  Zeigefinger   zufällt  und  kommt 


Literaturbericht  77 


durch  einen  Versuch,  in  dem  von  beidhändigen,  links-  und  rechtshändigen  Lesern  bei  jeder  der 
drei  Möglichkeiten  des  Lesens  die  Lesezeit,  die  Verlesungen  und  Wiederholungen  zahlenmäßig 
ermittelt  wurdeu,  zu  der  Entscheidung,  „daß  der  rechte  Zeigefinger  durchaus  nicht  als  der 
eigentliche  Lesefinger  bezeichnet  werden  kann,  vielmehr  mit  größerem  Rechte  der  linke". 

In  anderer  Richtung  bewegen  sich  die  beiden  Aufsätze,  die  Dr.  Ludwig  Cohn  in  Breslau 
imd  stud.  Wilhelm  Steinberg  in  Hamburg  beisteuern.  Beide  sind  Blinde  mit  akademischer 
Bildung  und  geben,  während  bisher  die  Psychologie  der  Blinden  vorwiegend  von  Sehenden  be- 
arbeitet wurde,  nach  ihren  Selbstbeobachtungen  und  nach  den  Erfahrungen  an  Schicksalsgenossen 
ein  Gesamtbild  über  die  psychische  Eigenart  des  Blinden.  Neue  Darstellungen,  die  erwünschte 
Beiträge  zur  Psychologie  der  Persönlichkeit  abgeben,  sind  besonders  in  unserer  Zeit  von  be- 
sonderem Wert,  muß  doch  den  zahlreichen  Kriegsblinden  mit  letzter  Sorge  alles  geboten  werden, 
was  nur  irgend  an  Hilfe  erreichbar  erscheint.  Freilich  streben  die  beiden  Verfasser  in  dem 
Ziele  der  Blindenpädagogik  auseinander.  Während  Cohn  das  Trennende  zwischen  dem  Blinden 
und  den  Sehenden  möglichst  überbrücken  möchte ,  vertritt  Steinberg  die  Anschauung ,  daß  der 
Blinde  nun  einmal  „ein  besonderer  Typus"  sei  und  demgemäß  die  Entwicklung  auf  eine  ganz 
eigenartige,  seinem  besonderen  Erleben  entsprechende  Persönlichkeitsform  erforderlich  sei  — 
ein  Gegensatz,  in  dem  der  Herausgeber  William  Stern  eine-  psychologische  Scheidung  zweier 
Blindentypen  vermutet.  Von  Sternbergs  'recht  schön  verfaßter  Abhandlung  sei  der  Schluß 
wiedergegeben.  Es  „kann  nicht  genug  betont  werden,  daß  der  Blinde  ebensowenig  ein  Sehender 
ist,  der  nicht  sieht,  wie  der  Sehende  ein  Blinder  ist,  der  sieht.  Der  Ausfall  des  wichtigsten 
Sinnes  schafft  nun  einmal  so  besondere  Bedingungen,  daß  sich  das  gesamte  Seelenleben  eigen- 
artig gestalten  muß.  Sein  Anderssein  macht  es  dem  Blinden  unmöglich,  sich  zu  einer  wert- 
vollen Persönlichkeit  heranzubilden,  solange  er  ihm  nicht  in  seiner  Stellung  zum  Leben  Rech- 
nung trägt.  Entschließt  er  sich  aber  zu  innerer  Umkehr,  die  um  lehrt,  sein  Dasein  nach  seinen 
besonderen  Bedürfnissen  und  Glücksmöglichkeiten  einzurichten,  dann  findet  er  für  die  mannig- 
fachen kleinen  Mißgeschicke,  die  ihm  unvermeidlich  begegnen,  ein  Lächeln,  das  ihn  über  sie 
erhebt,  dann  gewinnt  er  die  Seelenstärke,  ernste  Schwierigkeiten  zu  überwinden  und  dort  zu 
entsagen,  wo  er  seine  Grenzen  erkennen  muß;  dann  kann  sein  Leben  für  ihn  und  andere  ein 
Segen  werden.  Er  soll  sich  nicht  vor  der  Welt  der  Sehenden  verschließen,  sondern  dankbar 
empfangen ,  was  sie  ihm  zu  bieten  hat ,  und  so  manche  Bereicherung  vermag  er  aus  ihr  zu 
schöpfen.  Er  lebt  mitten  unter  normalen  Menschen  und  muß  sich  in  vielem  nach  ihnen 
richten.  Nicht  nur  äußeres  Benehmen  kann  und  soU  er  von  ihnen  lernen,  auch  wahre  Güter 
haben  sie  ihm  zu  geben.  Sein  Dasein  ist  viel  zu  innig  mit  dem  ihren  verflochten,  als  daß  er 
jede  Grenzüberschreitung  vermeiden  könnte.  Ohne  Schaden  mag  er  sich  auch  gelegentlich  tröst- 
lichen Illusionen  hingeben;  frei  von  Schwächen  —  und  Illusionen  sind  Schwächen  —  ist  ja 
keiner.  Dann  aber  werden  sie  zu  einer  Gefahr  für  die  Echtheit  seiner  Persönlichkeit,  wenn  er 
den  Wert  seines  Lebens  von  ihnen  abhängig  macht.  Denn  in  die  Mauer,  die  ihn  von  den 
Sehenden  trennt,  legt  wohl  Liebe  und  Treue  manche  Bresche,  gänzlich  fallen  aber  kann  sie  nie. 
Es  hilft  ihm  nichts,  sich  über  diese  Tatsache  hinwegzutäuschen;  er  muß  sich  seiner  Besonder- 
heit und  ihres  Eigenwertes  bewußt  werden  und  so  die  Schranken,  die  ihm  ein  unerbittliches 
Schicksal  setzte,  in  freier  Tat  der  Persönlichkeit  als  Grenzen  achten  lernen.'- 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  Georg  Schneidemühl,  Prof.  der  vergL  Pathologie  a.  d.  Universität  Kiel,  Die  Hand- 
schriftenbeurteilung. Eine  Einführung  in  die  Psychologie  der  Handschrift.  2.,  durchges. 
und  verb.  Aufl.     Leipzig  1919.     Teubner.     83  S.     2  M, 

Wir  haben  die  1.  Aufl.  dieses  von  ernstem  wissenschaftlichen  Sinn  getragenen  Buches,  das 
uns  nur  die  praktische  Verwertbarkeit  der  Handschriftenbeurteilung,  so  z.  B.  im  Schul- 
betrieb, zu  überschätzen  scheint,  im  XVU.  Jahrg.  dieser  Zeitschrift  ausführlich  angezeigt.  Daß 
es  nach  kurzer  Frist  zum  zweitenmale  ausgeschickt  werden  kann,  wird  nftht  bloß  zum  Beweis 
für  die  Güte  der  Schrift,  sondern  auch  für  das  während  des  Krieges  gesteigerte  Interesse  an 
der  angewandten  Psychologie.  Aus  der  Not  der  Zeit  ist  der  psychologischen  Wissenschaft  und 
ihrer  Verwertung  im  Leben  ein  Ansehen  erwachsen,  das  sie  nicht  wieder  verlieren  wird.      Seh. 

Dr.  W.  A.  Lay,  Experimentelle  Pädagogik  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die 
Erziehung  durch  die  Tat.     3.  verb.  Aufl.     Leipzig  1918.     Teubner.     124  S.     2  M. 

Für  einen  ersten  Einblick  in  die  zukunftssichere  experimentelle  Pädagogik,  weniger  in 
ihre  Arbeitsweise  als  in  die  Breite  ihrer  Arbeitsgebiete,  bietet  Lays  Darstellung  einen  zuver- 
lässigen Führer,  der  geschickt  den  Weg  bahnt  zu  den  Hauptwerken  der  jungen  Wissenschaft: 
zu  Meumanns    »Vorlesungen"   (Leipzig,    Engelmann)    und  zu  Lays   „Experimenteller  Didaktik* 


78  Literaturbericht 


(Leipzig,  Quelle  &  Meyer).  In  der  einleitenden  geschichtlichen  Entwicklung  erhalten  Meumann, 
Stern,  Fischer  und  Lobsien  vor  anderen  Forschern,  besonders  ausländischen,  nicht  die  volle 
Würdigung,  die  ihnen  zukommt.  Inmitten  der  kurzen,  aber  für  die  Zwecke  der  Bandes  ge- 
nügenden Beschreibung  der  Forschungsmethoden,  findet  sich  eine  zureichende  Widerlegung  der 
Einwände  gegen  die  experimentelle  Pädagogik,  bei  der  nur  Lays  bekannte  Meinung,  daß  die 
neue  Richtung  einst  zur  Pädagogik  überhaupt  —  zur  Gesamtpädagogik  —  sich  erheben  werde 
(S.  17),  wohl  schwerlich  Zustimmung  finden  wird.  Jedenfalls  bietet  unter  diesen  Ansprüchen 
der  Aufr.ß  des  „Arbeitsfeldes  und  Arbeitsplanes  der  experimentellen  Pädagogik  als  Gesamt- 
pädagogik",  vrie  ihn  Lay  S.  25  und  26  entwirft,  zwar  ein  ungewöhnliches,  aber  für  ein  ge- 
schultes erziehungswissenschaftliches  Denken  unbefriedigendes  Bild.  Was  Lay  aus  den  Ergeb- 
nissen der  experimentell-pädagogischen  Forschungsarbeit  hinstellt,  zeugt  von  guter  Belesenheit 
in  den  wissenschaftlichen  Abhandlungen  des  Gebietes,  sollte  an  manchen  Stellen  aber  mit  der 
Warnung  vor  Verallgemeinerungen  und  mit  dem  Hinweis  der  doch  manchmal  durchaus  erforder 
liehen  Nachprüfung  versehen  sein.  Gegliedert  ist  dieser  Hauptteil  des  Buches  in  die  Abschnitte 
Forschungen  zur  allgemeinen  Erziehungslehre  und  zur  Unterrichtslehre.  Es  ist  verständlich 
daß  Lay  in  diesen  Darstellungen  seine  eigenen  Untersuchungen  nicht  hinter  andere  zurück- 
treten läßt. 

Leipzig.  Rieh,  Tränkmann. 

Dr,  Ernst  M,eyeV,  Vom  pädagogischen  Lebenswege.  Erfahrungen  und  Ergebnisse. 
Leipzig    1918.     Quelle  &  Meyer.     110  S.     1,50  M. 

Der  Zweck  dieser  kleinen  Schrift  ist  nach  den  Worten  des  Autors  „Zeugnis  abzulegen  für 
den  Sinn  und  Geist,  in  dem  ich  auf  die  meiner  Aufsicht  unterstellten  höheren  Schulen  zu 
wirken  gesucht  habe".  Es  ist  unmöglich,  diesen  Geist  in  den  Rahmen  eines  kurzen  Referats 
zu  bannen;  aber  jeder  Pädagoge  wird  das  Buch  nicht  ohne  Anregung  aus  der  Hand  legen,  ein 
Buch,  das  uns  zeigt,  daß  M.  bis  zu  seinem  Tode  sich  die  jugendliche  Frische  erhallen  hat,  die 
zu  einem  vollen  Verständnis  der  pädag.  Probleme  der  Gegenwart  nötig  ist.  Das  kommt  auch 
zum  Ausdruck  in  seiner  Stellung  zur  Psychologie,  von  der  er  S.  33  sagt:  „Psychologie  ist  die 
oberste  und  vornehmste  Fachwissenschaft  des  Lehrers,  mit  deren  lebendiger  Entwicklung  gerade 
in  der  Gegenwart  dauernd  Fühlung  halten,  deren  Ergebnis  er  durch  eigene  Beobachtung  für 
sich  von  neuem  feststellen  muß." 

Bonn.  Oskar  Kutzner. 

Dr.  Artur  Buchenau,  Die  deutsche  Schule  der  Zukunft.  Berlin  1917.  Otto  ReichL 
58  Seiten.     1   M. 

Ausgehend  von  dem  allseitig  sich  geltend  machenden  Bedürfnis,  neue,  bessere  Zeiten  vor- 
zubereiten, weist  B.  zunächst  darauf  hin,  daß  im  Gebiete  der  Bildung  dieses  Neue  nicht  durch 
„Revolutionen"  zu  erreichen  sei,  also  auch  die  Schule  der  Zukunft  „an  die  Vergangenheit,  an 
Traditionswerte  gebunden  sei  (5).  Entfaltung  des  geistigen  Wesens  des  Menschen,  den  Menschen 
auf  die  Höhe  des  Menschentums  zu  bringen,  ist  Ziel  der  Erziehung,  und  zwar  darf  dieses  Ziel 
nicht  für  einen  bestimmten  Stand  gelten,  sondern  für  die  ganze  Nation.  Das  ist  nur  möglich, 
wenn  die  Schule  der  Zukunft  die  Merkmale  der  Vereinheitlichung,  Differenzierung  und  des 
stetigen  Überganges  an  sich  trägt.  Fern  von  aller  Gleichmacherei  begrüßt  B.  freudig  die  An- 
sätze zu  solchem  stetigen  Übergang,  wie  sie  in  Mannheim,  München,  Straßburg,  Berlin  vorliegen. 
Um  aus  den  höheren  Schulen  den  umiötigen  Ballast  unbegabter  Schüler  zu  entfernen,  empfiehlt 
er  „wenigstens  in  den  giößeren  Städten  neben  die  Goten  mit  vollen  Anforderungen  solche 
mit  Mittelschulanforderungen  zu  stellen,  etwa  in  Michaelisklassen,  die  aber  mit  Rücksicht  auf 
die  Eitelkeit  und  den  Ehrgeiz  der  Eltern  als  organische  Bestandteile  der  höheren  Schule  gelten 
und  mehr  Berechtigungen  erhalten  müßten,  als  die  bestehenden  Mittelschulen"  (16).  Höhe  und 
Qualität  der  Begabung  soll  scharf  unterschieden  werden,  namentlich  auch  in  der  Wertung  der 
Begabung.  „Ein  Kapitän,  ein  Kaufmann,  ein  Ingenieur  kann  eine  ebenso  hohe  Bildung  haben 
wie  der  Pastor,  Oberlehrer,  Hochschulprofessor"  (19).  Daher  sollte  jede  Schule  mit  Einrichtungen 
für  Berufsberatung  verbunden  sein.  Von  einer  gemeinsamen  Grundstufe  fürchtet  B.  nicht  eine 
Verschärfung,  sondern  erhofft  eine  Versöhnung  der  sozialen  Gegensätze;  das  Zusammensein 
mit  „Armenkindern"  sollte  Staat  und  Gemeinde  veranlassen,  dafür  zu  sorgen,  daß  alle  Kinder 
so  gekleidet  und  genährt  sind,  daß  es  an  nichts  fehlt.  Die  öffentliche  Wohltätigkeit  müsse  sich 
vor  allem  denjenigen  zuwenden,  die  die  Gaben  des  Geisfes,  des  Gemüts  und  des  Willens  haben, 
denen  aber  sonst  die  Mittel  fehlen,  aus  den  kleinen  Verhältnissen  herauszukommen.  Diese 
„Auffrischung  des  Blutes"  sollte  geradezu  organisiert  werden.  Auch  die  Fragen  der  sozialen 
Stellung,  der  Vorbildung  und    des  Studiums   der  Volksschullehrer  werden  berührt.     Überhaupt 


Literatürbericht  7  9 

ist  die  kleine  Schrift  so  reich  an  Problemen,  daß  sie  im  Auszuge  nicht  alle  genannt  werden 
können:  von  Pestalozzischem  und  Flchteschem  Geiste  durchweht,  ist  sie  wegen  ihrer  Kürze. 
aber  Tiefe  sehr  zu  empfehlen. 

Bonn.  Oskar  Kutzner. 

Prof.  Dr.  Wilh.  Asmus,  Gymnasialdirektor,  Notstände  au  höheren  Schulen.  Leipzig 
1918.     Quelle  &  Meyer.     145  S.     3,20  M. 

Es  sind  vorwiegend  äußere,  aber  darum  für  eine  gedeihliche  Wirksamkeit  doch  nicht 
minder  bedeutsame  Angelegenheiten  des  Schulwesens,  die  hier  ein  erfahrener  Schulmann  be- 
spricht und  für  deren  Regelung  er  erprobte  Ratschläge  gibt.  Beispiele  sind:  Die  Schüler- 
bücherei; Das  Schauen  in  der  Schule  und  Schaugerät;  Der  Dienst  älterer  Oberlehrer;  Der 
Stundenplan.  Bei  der  Neuordnung  unseres  Bildungswesens,  bei  der  mit  dem  Geiste  auch  so  vieles 
Geschäftliche  des  Schulbetriebes  sich  wandeln  muß,  wird  das  Buch  in  manchen  Stücken  er- 
wünschte Hilfe  bieten  können  —  und  nicht  bloß  in  der  Beschränkung  aiif  höhere  Schulen.  Für 
eine  Neubearbeitimg  seines  Schlußkapitels  se'  dem  Verfasser  eine  gründliche  Beschäftigung  mit 
der  Psychologie  des  Stundenplanes  empfohlen. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Arno  Fuchs,  Die  heilpädagogische  Behandlung  der  durch  Kopfschuß  verletzten 
Krieger.  Abhandlungen  aus  dem  Lehrkörper  der  Berliner  Schule  für  Kopfschußverletzte. 
Halle  a.  d.  S.    1918.     Karl  Marhold.     143  S.,  geh.  5  M.,  geb.  6  M. 

Wer  die  großen  Schwierigkeiten  bei  der  heilpädagogischen  Behandlung  Kopfschußverletzter 
aus  eigener  Anschauung  kennen  gelernt  hat,  wird  für  jede  Bereicherung  der  zur  Zeit  noch 
wenig  umfangreichen  Literatur  dankbar  sein.  Die  in  dem  vorliegenden  Buche  zusammengefaßten 
Abhandlungen  sind  aus  der  Praxis  hervorgegangen  und  wollen  in  erster  Linie  auch  der  Praxis 
dienen.  Dieses  Ziel  können  sie  auch  voll  und  ganz  erreichen.  Während  in  der  1.  Abhandlung 
der  Herausgeber  der  verdienstvollen  Arbeit  einen  sehr  lehrreichen  Überblick  über  die  Gesamt- 
heit der  Ausfallserscheinungen  gibt,  wird  in  der  2.  Abteilung  die  Feststellung  der  seelischen 
Schädigungen  durch  E.xperiment  und  Allgemeinbeobachtung  besprochen.  Die  experimentelle 
Prüfung  kann  meiner  Meinung  nach  noch  etwas  reicher  ausgestattet  werden;  die  Methoden  der 
ortlaufenden  Arbeit  nach  Kraepelin  (Übungsfähigkeit  und  Ermüdbarkeit),  Assoziationsversuche, 
tachistoskopische  Versuche  (Aufmerksamkeitstypus),  der  Bourdonsche  Versuch,  Trefferversuche, 
Präzisionsarbeiten  (Ordnen  von  Kästchen  nach  dem  Gewicht)  gewähren  nach  meiner  Erfahiiing 
sehr  schätzenswerte  Einblicke  in  den  psychischen  status  praesens  der  Kopfschußverletzten.  Die 
weiteren  12  Beiträge  behandeln  die  Bekämpfung  der  wichtigsten  Störungen  (Sprach-,  Denk-. 
Rechen-  und  Bewegungsstörungen).  Sie  geben  ein  anschauliches  Bild  von  der  Unsumme  wohl- 
durchdachter Kleinarbeit,  wie  sie  in  den  Räumen  einer  Kopfschußverletztenschule  zur  Erzielung 
auch  der  bescheidensten  Erfolge  geleistet  werden  muß.  Mit  dem  Charakter  des  Buches  als 
eines  aus  der  Feder  verschiedener  Verfasser  hervorgegangenen  Sammelwerkes  hängt  es 
zusammen,  daß  sich  manche  Gedanken  wiederholen.  Auf  Seüe  10  wird  von  Gefühlsstörungen 
gesprochen,  während  Störungen  der  Druck-  und  Bewegungsempfindungen  gemeint  sind.  Das 
Verzeichnis  der  einschlägigen  Literatur  kann  noch  durch  Bayerhaus,  Die  Rückleitung  Him- 
verletzter  zur  Arbeit  (Münchn.  med.  Wochenschr.  1917  Nr.  31)  und  vor  allen  Dingen  durch  die 
außerordentlich  wertvolle  und  besonders  auch  prinzipielle  Fragen  eingehend  erörternde  Schrift 
von  Aschaffenburg:  Lokalisierte  und  allgemeine  Ausfallserscheinungen  nach  Hirnverletzungen 
und  ihre  Bedeutung  für  die  soziale  Brauchbarkeit  der  Geschädigten  (HaUe,  1916)  ergänzt  werden. 
Dresden.  Artur  Stößner. 

N.Faßbinder,  Am  Wege  des  Kindes.  Ein  Buch  für  unsere  Mütter.  Freiberg  L  Breisgau  1916 
Herdersche  Verlagsbuchhandlung.   396  S.    3,00  M. 

Auf  diese  schönsinnig  gehaltene  Schrift  sei  aufmerksam  gemacht,  weil  sie  sich  in  den 
Dienst  der  seit  Comenius  und  Pestalozzi  und  Fröbel  immer  wieder  versuchten,  aber  ohne  nach- 
haltigen Erfolg  gebliebenen  .Mutterbildung"  stellt,  einer  pädagogischen  ForJerung,  die  während 
d^  Krieges  mit  immer  stärkerer  Dringlichkeit  nach  Verwirklichung  drängte.  Faßbinder  versucht 
in  stimmungsvoller,  gewinnender  Weise  wichtige  Erscheinungen  und  Angelegenheiten,  Veran- 
staltungen und  Schicksale  des  Mutterberufes  und  des  Kinderlebens  darzustellen  imd  dabei  —  mehr 
oder  minder  merkbar  —  pädagogische  Belehrungen  zu  geben.  Fast  durchgehend  verwendet  er 
als  literarische  Form  die  novellistische  Gestaltung  oder  auch  die  vor  einem  Jahrhundert  bei  päda- 
gogischen Darlegungen  besonders  beliebten  Gespräche.  Beispiele  sind:  Die  sprachlose  Zeit;  die 
erzählende  Mutter;  Nachbarskinder;  Kinderfujcht;  Jugendlektüre;  Aufklärung.     Bei  der  Behand- 


80  .Literaturbericht 


hing  bezeugt  der  Verfasser  eine  nicht  gewöhnliche  schriftstellerische  Gabe  —  wenn  gleichwohl 
der  bekannte  ästhetisierende  Ton  der  Jungmädchenbücher  Zuweilen  vorklingt  —  und  eine  feine 
Erzieherweisheit  und  Erzieherg -^sinnung.  Mag  auch  dem,  der  sich  wissenschaftlich  um  die 
Pädagogik  bemüht,  die  novellistische  Behandlung  der  pädagogischen  Fragen  wenig  genug  ge- 
fallen, so  haben  doch  Bücher  solcher  Art  ihre  Berechtigung,  weil  das  erziehliche  Tun,  das  sich 
so  schwer  auf  Formeln  und  Vorschritten  bringen  lassen  will,  solche  Darstellung  in  gewissen 
Gebieten  verträgt  und  weil  viele  Frauen,  denen  es  um  ihre  „Mutterbildung"  ernst  ist,  darnach 
verlangen.  —  Für  die  Auseinandersetzung  über  Anschauungen  im  einzelnen,  die  wir  mit  Faß- 
binder nicht  teilen,  ist  hier  nicht  der  Ort. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Der  vorbeugende  Kinderschutz  in  Stadt  und  Land.  Bericht  über  die  Kinderschutz- 
tagung  des  Deutschen  Kinderschutzverbandes  am  21.  und  22.  Juni  1918  in  Magdeburg. 
Berlin  1918.     Heymanns  Verlag.     116  S.     4  M. 

Große  Tagungen,  wie  sie  für  die  Geschichte  pädagogischer  Richtungen,  Gebiete  und  Gedanken 
in  den  letzten  Jahrzehnten  kennzeichnend  geworden  sind,  bringen  sich  um  ein  gut  Teil  ihrer 
Wirkung,  wenn  sie  nicht  ausführliche  Verhandlungsberichte  in  der  Art  des  vorliegenden  der 
Öffentlichkeit  darreichen.  Das  gilt  insbesondere  für  die  Versammlungen,  die  inmitten  der  Kriegs- 
zeit nicht  die  Beteiligung  erfahren  konnten,  deren  sie  in  günstigerer  Zeit  sicher  gewesen  wären. 
Die  Gegenstände,  über  die  in  Magdeburg  verhandelt  wurde  und  für  die  der  Bericht  neben  den 
Vorträgen  auch  die  teilweise  ausgebreiteten  Aussprachen  vorlegt,  waren:  Die  Stellung  des  Kinder- 
schutzes innerhalb  der  Jugendfürsorge  (PoUigkeit) ;  Kinderschutz  in  städtischen  und  in  ländlichen 
Bezirken  (Bahnson,  Kißling);  die  Kreisfürsorgerin  im  Dienste  des  Kinderschutzes  (Nollau);  Mög- 
lichkeiten vorbeugenden  Kinderschutzes  (Rupprecht) ;  Kinderschulz  und  Schulpflegschaft  (Achilles, 
Haselhuhn).  —  Die  neue  Zeit  wird  die  Frage  des  Kinderschutzes  mit  mehr  Eifer  noch,  als  ea 
bislang  geschah,  durchdenken  müssen  und  manchen  Forderungen  des  Gebietes  schnellere  Er- 
füllung bringen,  als  man  noch  vor  kurzem  zu  hoffen  wagte.  Der  Versaramlungsbericht  der 
Magdeburger  Tagung  mit  seiner  Fülle  der  hingestellten  Tatsachen  und  vorgebrachten  Vorschläge 
ist  für  die  Weiterentwicklung  der  wichtigen  Sache  ein  Quellenwerk.  Seh. 

Dr.  Herbert  Ruscheweyh,  Die  Entwicklung  des  Deutschen  Jugendgerichts.  2.  Heft 
d.  Schrift,  d.  Ausschusses  f.  Jugendgerichte  u.  Jugendgerichtshilfen.  Weimar  1918.  190  S.  3  M. 
Nach  einer  Einleitung  über  Strafrechtsreform  überschaut  der  Verfasser  in  geschichtlicher 
Darlegung  den  Rechtszustand  vor  Errichtung  der  Jugendgerichte,  ferner  die  amerikanische  Be- 
wegung und  die  Forderungen  in  Deutschland.  Er  behandelt  dann  die  Verwaltungsvorschriften 
in  den  verschiedenen  Bundesstaaten,  erörtert  die  reichsgesetzlichen  Reformarbeiten  und  die 
wechselnden  Formen  der  Jugendgerichtshilfen.  Ein  ausführliches  Schriftenverzeichnis  schließt 
dies  aus  bester  Kennerschaft  des  Gebietes  verfaßte  Buch  ab.  Tr. 

Friedrich  Paulsen,  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  auf  den  deutschen 
Schulen  und  Universitäten  vom  Ausgang  des  Mittelalters  bis  zur  Gegenwart. 
3.  erweiterte  Aufl.  Herausgegeben  und  in  einem  Anhang  fortgesetzt  von  Dr.  Rud.  Lehmann. 
L  Bd.     Leipzig  1919.    Veit  &  Co.    636  S.    24,75  M. 

Wir  erfüllen  die  Verpflichtung,  die  neue  Auflage  von  Paulsens  Hauptwerk  anzuzeigen,  mit 
den  Hinweisen,  daß  in  Rud.  Lehmann  ein  pädagogischer  Forscher,  der  dem  Verfasser  persönlich 
nahestand,  das  bedeutsame  Werk  betreut  und  weiterführt,  daß  Paulsen  selbst  die  Förderung  des 
Buches  durch  zahlreiche  Einlagen  und  Einträge  in  sein  Handexemplar  eifrig  betrieben  hatte  und 
daß  es  der  Herausgeber  aus  wohlbegründeten  Erwägungen  für  richtig  fand,  sich  aller  Eingriffe 
in  Sache  und  Darstellung  zu  enthalten.  Paulsens  „Geschichte  des  gelehrten  Unterrichtes"  hat 
—  so  die  eigenen  Worte  —  „Stürme  des  Unwillens"  erregt.  Nun  ist  an  Einzelnem  in  der  Tat 
nicht  weniges  unhaltbar  geworden;  in  der  leitenden  Grundanschauuug  aber  hat  Paulsen  die 
Genugtuung  erleben  dürfen,  daß  die  geschichtliche  Bewegung  —  besonders  durch  die  große 
Schulreform  vom  Jahre  1901  —  den  Gang  genommen  hat,  den  er  voraussah.  Rudolf  Lehmann 
aber  blieb  die  Aufgabe,  in  dem  noch  nicht  ausgegebenen  IL  Bd.  nach  Paulsens  eigener  Absicht 
die  jüngste  Entwicklung  jenseits  der  Schwelle  des  XX.  Jahrhunderts  darzustellen.  Wir  werden 
über  diesen  Abschnitt,  wenn  er  vorliegt,  ausführlicher  berichten  müssen,  weil  er  als  wichtiges 
Stück  aus  dem  besonderen  Arbeitsgebiete  dieser  Zeitschrift  auch  die  Fortschritte  in  der  „Aka- 
demisierung"  der  Pädagogik  zu  behandeln  hat. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (A.  Pries)  in  Leipzig. 


Zur  Sammlung  jugendkundlicher  Beobachtmigen  in  der  Zeit 
des  deutschen  Staatsumsturzes. 

Von  Aloys  Fischer. 

Als  im  Sommer  1914  der  Krieg  ausbrach,  die  Jugend  unseres  Volkes  zu 
den  Fahnen  strömte  und  ihre  vielen  Tadler  aus  der  älteren  Generation  Lügen 
strafte,  hatten  nicht  wenige  Patrioten  einen  frohen  Zukunftsglauben  wieder- 
gewonnen. Es  ist  damals  ein  jetzt  abgeschlossenes  Kapitel  der  psycholo- 
gischen Jugendkunde  begonnen  worden,  das  in  William  Sterns  Sammelschrift 
„Jugendliches  Seelenleben  und  der  Krieg**  seine  Überschrift  fand.  Wir 
überblicken  heute  vollständig  und  teilweise  auch  in  ihrer  ursächüchen  Zu- 
sammenhängigkeit  die  Einwirkungen  der  Zeitereignisse,  der  Vorbilder,  des 
Geistes  der  Erwachsenen  auf  die  verschiedenen  Altersstufen  und  Klassen  der 
Jugend ;  wir  ahnen  das  selbständige  Leben  der  Jugend  unter  aller  Abhängig- 
keit von  dem  allgemeinen  Geiste  und  die  Rückwirkungen  dieses  Jugend- 
geistes, der  im  Krieg  nachgewachsenen  Generationen  auf  den  Gang  der  Dinge 
selbst.  Aber  noch  ehe  wir  zu  wissenschaftlicher  Festlegung  der  gemachten 
Erfahrungen  Abstand  und  Muße  finden,  fordern  die  neuen,  grundstürzenden 
Ereignisse  zu  weiteren  jugendkundhchen  Beobachtungen  und  Studien  heraus, 
die,  wenn  ich  recht  sehe,  nur  teilweise  in  der  Linie  der  gehegten  und  geweck- 
ten Erwartungen  liegen,  teilweise  vor  allem  das  auch  in  der  Kriegsbeobachtung 
nur  ausnahmsweise  richtig  gewürdigte  Eigenleben  der  Jugend  und  ihre 
Bedeutung  im  Gang  der  Gesellschaftsentwicklung  betreffen. 

Wenn  ich  mit  den  folgenden  Zeilen  zur  Sammlung  jugendkundücher  Be- 
obachtungen aus  den  Revolutionstagen,  die  hinter  uns  liegen,  und  zu  jugend- 
kundlicher Beobachtung  in  den  noch  möglichen  Umstürzen  einlade,  so  darf 
ich  das  mit  dem  gleichen  Recht  tun,  mit  dem  ich  seinerzeit  für  das  Studium 
der  Kriegswirkungen  auf  Schule  und  Jugend  eingetreten  bin.  Ich  habe  aller- 
dings den  Eindruck,  als  ob  die  Mehrzahl  unserer  Volks-  und  Zeitgenossen 
zu  unbefangener  und  nachdenklicher  Betrachtung  der  Dinge  ungeeignet  und 
ungewillt  wäre  und  sich  Heber  handelnd  in  den  Gang  der  Ereignisse  ein- 
schalten wollte,  als  betrachtend  abseits  stehen.  Die  Einladung  darf  auch 
nicht  dahin  mißverstanden  werden,  als  mutete  ich  dem  Einzelnen  zu,  die 
Urasturzzeit  wie  ein  Schauspiel  und  seltene  Studiengelegenheit  für  die  Ex- 
zentrizitäten der  menschlichen  Natur  zu  betrachten.  Ich  bin  der  letzte,  der 
es  mißbiUigen  wird,  wenn  man  in  einer  tumultuarischen  Zeit,  in  der  Hand- 
granaten an  Stelle  von  Argumenten  treten  und  die  leidenschaftliche  Selbst- 
sucht —  einerlei  welcher  Klassen  und  Kreise  —  das  Ziel  des  politischen 
Denkens,  die  Idee  der  Gemeinschaft  und  des  Gemeinwohls  verdrängen,  auch 
der  Wissenschaft  eine  Generalpause  diktiert,  oder  wenn  man  persönlich  in 
den  Kampf  eingreifen,  statt  erkennend  abseits  stehen  will.  Aber  wir  sind 
doch  nicht  unaufhörlich  und  in  jedem  AugenbUck  Partei;  Zeiten  der  per- 
sönlichen Erregtheit  und  der  handelnden  Stellungnahme  wechseln  mit  besinn- 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  6 


b2  Aloys  Fischer 


lieber  Betrachtung  der  Anderen  und  hoffentlich  auch  unseres  eigenen  Selbst; 
die  gläubige  Überzeugtheit  vom  Recht  und  der  Güte  des  eigenen  Wollens  und 
Zieles  wird  uns  nicht  immer  blind  und  gehässig  machen  gegen  die  Über- 
legungen und  Einstellungen  des  Anderen,  des  Gegners  und  Feindes.  Soweit 
der  Einzelne  die  durch  lange  Jahre  der  wissenschaftlichen  Schulung  erwor- 
bene Gewohnheit  des  Denkens  noch  nicht  abgestreift  hat,  wie  man  einen 
Anzug  oder  eine  Mode  wechselt,  wird  er  auch  inmitten  aller  Versuchungen 
der  Gewalt  und  des  Egoismus,  den  Verführungen  zu  Übereilung  und  schiefer 
Deutung  widerstehen  und  brauchbare  Beobachtungen  sammeln  können.  Solche 
Beobachtungen  vor  allem  über  das  Jugendleben  und  seine  Äußerungen  zu 
sichern,  ist  von  großem  Werte.  Wenn  ich  hier  ein  persönliches  Bekenntnis 
ablegen  darf,  so  gestehe  ich,  daß  nicht  wenige  Eindrücke  der  beiden  letzten 
Monate  ^)  meine  Wertung  des  Menschen  und  meine  oft  ausgesprochene  Hoch- 
wertung der  Jugend  in  einem  Maße  beeinflußt  haben,  das  ich  nicht  voraussah. 
Wenn  ich  noch  eines  Beweises  bedurft  hätte,  daß  die  sittliche  und  politische 
Erziehung  nicht  nur  auf  Stetigkeit  der  Tradition,  sondern  auch  auf  die  in  der  Jugend 
sich  ankündigenden  Erneuerungstendenzen  der  Nation  gegründet  werden  müsse, 
so  hätte  die  Revolution  mir  diesen  Beweis  geben  können.  Ich  bekenne  auch, 
daß  erst  der  Umsturzzeit  geglückt  ist,  was  der  Krieg  vergeblich  gesucht  hat: 
mich  vorübergehend  in  Versuchung  zu  führen,  die  allem  pädagogischen 
Optimismus  zuwiderlaufende  grundsätzliche  Menschen  Verachtung  der  großen 
politischen  Denker  für  die  angemessene  Wertung  des  Durchschnitts  zu  halten 
und  damit  zu  Grundlagen  der  Menschenordnung  mich  zu  bekennen,  wie  sie 
die  antike  Kultur  für  sinnvoll  und  berechtigt  hielt.  Ich  glaube  keineswegs 
mit  diesen  Erfahrungen  allein  zu  stehen.  Aber  auch  wenn  das  Studium  der 
Jugend  keine  Bedeutung  für  unser  Erziehungsdenken  hätte,  dürften  die 
psychologischen  Tatsachen,  zu  denen  die  Beobachtungen  in  der  Umsturzzeit 
hinführen,  als  Bestätigung  und  Bereicherung  unserer  Erkenntnis  Wert  genug 
besitzen,  um  ihre  Sammlung  zu  rechtfertigen. 

Ich  sehe  von  einem  Fragebogen,  einem  Schema,  nach  dem  Erhebungen 
zu  machen  oder  Einzelerfahrungen  zu  buchen  wären,  mit  voller  Bewußtheit 
ab;  ein  Fragebogen  geht  notwendig  von  bestimmten  theoretischen  Grund- 
begriffen aus,  schUeßt  Erwartungen  entweder  ein  oder  aus  und  verleitet  zu 
einer  Angleichung  des  Neuen  an  das  Bekannte,  Anerkannte.  Mir  scheint, 
daß  Fragebogen  deshalb  nur  dort  sinnvoll  werden,  wo  seelisches  Leben  unter 
relativ  gleichartigen  und  konstanten  Voraussetzungen  auf  seine  gleichartigen 
Züge  hin  untersucht  werden  soll.  Ich  gestehe  aber  offen,  daß  ich  —  ohne 
eine  künstliche  Typisierung  von  vornherein  festzulegen  —  mich  außerstande 
fühle,  auch  nur  Beobachlungsrichtungen  anzugeben.  Es  kommt  vor  allem 
darauf  an,  nicht  das  wieder  zu  bestätigen,  was  wir  in  der  Jugendpsychologie 
schon  wissen  (und  wofür  selbstverständlich  das  jugendliche  Seelenleben 
in  der  Revolutionszeit  auch  bestätigende  Belege  bietet),  sondern  das  festzu- 
halten und  zu  formulieren,  was  dem  jugendkundlichen  Beobachter  an  Neuem, 
Überraschendem,  Auffälligem  begegnete,  was  ihm  sein  mehr  oder  minder  fest- 
stehendes Bild  von  der  Jugend  verwirrte,  zweifelhaft  machte.  Es  erscheint 
mir  zu  diesem  Behuf  zweckmäßig,  ohne  eine  künstliche  Einheit  der  Begriffs- 
sprache  festzulegen,  jeden  Einzelnen,   der  über  solche  Beobachtungen  ver- 

M  Ich  erlaube  mir  zu  bemerken,  daß  der  Aufsatz  in  den  letzten  Tagen  des  Monats  Dezember 
1918  verfaßt  worden  ist. 


Sammlung  jugendkundL  Beobacht.  in  der  Zeit  des  deutschen  Staatfiumsturzes     83 

fügt,  zu  genauem  unzweideutigen  Bericht  einzuladen.  Ob  das  Material  dann 
später  in  einer  übersichtlich  ordnenden  Bearbeitung  zusammengefaßt  werden 
oder  in  der  Urgestalt  erhalten  bleiben  soll,  mag  billig  füi-  den  Augenblick 
zurücktreten. 

Nach  meinen  eigenen  Beobachtungen  kommen  vor  allem  drei  Gruppen 
von  Erfahrungen  in  Betracht:  1.  solche,  aus  denen  erhellt,  wie  weit  Kinder 
imd  JugendUche  an  den  Umstiu-zvorgängen  erlebend  teilgenommen  haben, 
wieviel  von  den  Ursachen  und  Folgen  der  Ereignisse  ihnen  be\^Tißt,  gar  ver- 
ständlich geworden  ist,  bzw.  wie  unvollkommen,  schief  und  bruchstückhaft 
ihre  Auffassung  der  Ereignisse,  deren  Zeitgenossen  sie  sind,  blieb;  wie  sie 
mit  ihrer  fühlenden  und  wertenden  Teilnahme  Stellung  suchten  zu  den  Ein- 
zelheiten, wie  die  Eieignisse  auf  ihr  Stimmungsleben,  ihre  Schulfähigkeit,  ihre 
Erziehbarkeit  zmückwirkten.  2.  Häufiger  werden  Beobachtungen  und  Er- 
fahrungen darüber  zu  machen  gewesen  sein  und  künftig  zu  machen  sein,  wie 
Kinder  und  Jugendliche  von  den  Gewalten  behandelt,  absichthch  beeinflußt 
werden,  die  im  Umsturz  in  die  Höhe  kamen.  Ich  erinnere  nur  daran,  daß  bald 
die  neuen  provisorischen  Herren  allerlei  Einrichtungen  trafen,  um  der  angeb- 
lichen oder  wirkhchen  Schultyrannei  ein  Ende  zu  bereiten  und  insbesondere 
die  älteren  Jugendhchen  für  sich  und  ihre  pohtischen  Zwecke  einzufangen. 
Schülerräte  wurden  eingerichtet,  in  Bayern  durch  ministerielle  Anordnung  — 
den  Eltern  dagegen  bewilligte  man  keinen  derartigen  Rat.  Sprechstunden 
und  Beratimgsstellen  außerhalb  der  Anstalten  tauchten  auf.  In  eigenen  Vor- 
trägen und  Revolutionsfeiern  für  die  Jugend  suchte  man  ihr  nicht  nm*  Auf- 
klärung zu  vermitteln,  sondern  ich  möchte  auch  sagen:  Begeisterung  und 
Zustimmung  zu  suggerieren.  Aus  den  Bibliotheken  wurden  geschichtüche 
und  oft  auch  belletristische  Werke  entfernt,  die  eine  Glorifizierung  des  ge- 
stürzten Regimes  zu  enthalten  schienen.  Es  ist  äußerst  wichtig,  diese  Maß- 
regeln, in  denen  man  der  geistigen  Vergewaltigung  der  besetzenden  Feind- 
mächte noch  zuvorgekommen  ist,  zu  sammeln  und  vor  allem  auch  die  Stellung 
der  Jugend  zu  diesen  recht  einschneidenden  Beeinflussungsversuchen  zu  ver- 
folgen. 3.  Versteckter  und  schwerer  zu  beobachten  dürfte  endlich  das  Eigen- 
leben der  Jugend  selbst  sein,  besonders  ihr  Anteil  an  den  Umsturzvor- 
gängen. Natürlich  liegen  diese  Dinge  örtMch  sehr  verschieden;  es  ist  auch 
gewiß,  daß  nicht  aus  den  Reihen  der  Jugendlichen  selbst  die  Initiative  stammte, 
sondern  daß  sie  wesentlich  als  Gefolgsmannen  und  hörige  Massen  von  Führern 
und  Verführern  zur  Mittäterschaft  kamen,  aber  es  darf  auf  der  anderen 
Seite  nicht  gering  angeschlagen  werden,  daß  unter  den  Demonstranten  und 
ersten  Stützen  der  A.  und  S.-Räte  Jugendhche  beiderlei  Geschlechts  eine 
Hauptmasse  gebildet  haben,  daß  die  neuen  Ideen  bei  der  Jugend  ein  ganz 
anderes  Echo  fanden  als  —  sagen  wir  militärisch  bei  den  Menschen  im  Land- 
wehralter. Die  hier  gemachten  und  noch  zu  machenden  Erfahrungen  möchte 
ich  für  die  wichtigsten  halten;  sie  legen  den  Gedanken  nahe,  daß  die  jungen 
Generationen  nicht  nur  reöht  betrauern,  was  im  Umsturz  zusammenbricht  — 
das  ist  keineswegs  bloß  der  Militarismus  — ,  sondern  auch  nicht  begreifen, 
welche  migeheuerste  Wende  er  einleitet,  und  jedenfalls  im  weitem  Umkreis 
gar  nicht  mehr  gewillt  waren,  in  der  Linie  der  Entwicklung  von  1813 — 1913 
fortzuschaffen. 

Zur  Illustration  der  Beobachtungsrichtungen  möchte  ich  bsispielsmäßig 
Einzelzüge  aus    der   eigenen  Erfahrung  anführen.     Ich  wähle  so  aus,    daß 


84  Aloys  Fischer 


dabei  auch  die  verschiedenen  Altersstufen  und  die  sozialen  Schichten  inner- 
.halb  der  Jugendlichen  noch  einigermaßen  berücksichtigt  werden. 

Für  die  Kinder  (der  Großstadt  wenigstens)  ist  der  Umsturz  ebenso  Anlaß 
zum  Spiel,  wie  es  der  Krieg  war.  Das  „Revolutionsspiel"  der  Gassen- 
und  kleinen  Schuljugend  ist  harmlos.  Als  einen  Beleg  möchte  ich  das  Er- 
lebnis eines  elfjährigen  Gymnasiasten  mitteilen.  In  seiner  Familie  wurden 
ihm  die  schmerzlichen  Ereignisse,  der  Rückzug  des  deutschen  Heeres,  das 
Friedensangebot,  die  gefährUche  Stimmung  im  Volk  mehr  oder  minder  ver- 
borgen; das  Kind  sollte  den  großen  Eindruck  der  Zeit  im  Gedächtnis  be- 
halten. Ebenso  wurden  Gespräche  über  den  Umsturz  in  seiner  Gegenwart 
vermieden.  Nach  einigen  Tagen  überraschte  er  seine  Eltern  mit  folgender 
Erklärung:  ,,Ihr  sagt  mir  ja  nichts,  ihr  meint  auch,  ich  weiß  nichts,  aber  wir 
haben  in  unserer  Klasse  auch  einen  Klassenrat,  eine  rote  und  weiße  Garde, 
und  heute  war  Schülerversammlung  am  .  .  .  denkmal"  (einem  dicht  bei  der 
Lehranstalt  gelegenen  Monument).  Er  fügte  dann,  mit  der  ganzen  frommen 
Einfalt  guter  Artung  und  Gleichgültigkeit  bei:  „Dann  ist  leider  der  Professor 
gekommen,  und  wir  mußten  auseinander  laufen".  In  einem  der  engsten 
Gäßchen  Münchens  (in  der  Altstadt,  Hottergasse)  habe  ich  lange  den  Kampf 
der  roten  Garde  gegen  die  „andere"  (diese  hatte  bezeichnenderweise  keinen 
Namen)  zugesehen,  den  4 — 8  jährige  beiderlei  Geschlechts  lieferten.  Es  war 
das  typische  Soldatenspiel,  nur  mit  dem  Unterschied,  daß  ein  Teil  der  Kinder 
rote  Fähnchen,  rote  Schleifen  oder  Papierrosetten  als  Abzeichen  trug. 

Als  einen  Beitrag  zur  Psychologie  der  älteren  Jugendlichen  (zugleich  als 
Beleg  für  die  Ergiebigkeit  aller  Bemühungen  um  staatsbürgerlichen  Unterricht) 
möchte  ich  einiges  aus  der  Nacht  vom  7. — 8.  November  notieren.  Durch  die 
Straßen  zogen  in  den  Abendstunden  größere  und  kleinere  Trupps  von  Demon- 
stranten ;  manchmal  unter  Vortrag  einer  Papptafel  mit  Sprüchen,  immer  ohne 
richtige  Ordnung.  Wie  bei  den  katholischen  Prozessionen  schrie  ein  „Vor- 
beter**: „Hoch  die  Republik"  und  der  Chor  wiederholte  „Hoch  die  Republik! 
Nieder  mit  dem  König  —  Nieder  mit  dem  König!"  usw.  Die  Teilnehmer 
waren  zum  allergrößten  Teil  jugendliche  Arbeiter  und  Arbeiterinnen;  die 
Stimmen  teilweise  noch  im  Bruch  der  Mutation  begriffen.  Ein  Bekannter, 
sehr  unbefangener  Beobachtung,  erlebte  den  Einbruch  eines  solchen  Trupps 
in  ein  Kaffeehaus.  Der  Führer,  ein  knapp  17  jähriger  Bursche,  schrie:  „Nieder 
mit  den  Dynastien!"  Der  Bekannte  fragte  ihn:  „Was  sind  denn  die  Dynastien?** 
und  erhielt  die  Antwort:  „Die  Hamsterer." 

Durch  die  Presse  ging  Anfang  Dezember  die  Meldung  von  einer  Demon- 
stration der  Jugendlichen  in  Berlin,  die  selbst  mit  der  Waffe  den  Mehrheits- 
sozialisten gedroht  haben.  Ähnliche  Vorkommnisse,  wenn  auch  nicht  in  gleichem 
Umfang  und  gleicher  Exzentrizität  wurden  von  Stuttgart  und  anderen  Städten 
berichtet.  Leider  sind  die  Pressenachrichten  ohne  Wert  für  die  Jugendkunde, 
denn  sie  enthalten  nur  das  Faktum,  nicht  Anlaß,  Vorbereitung,  Helfershelfer, 
Teilnehmer.  Wer  deshalb  als  Augenzeuge  oder  Teilnehmer  über  diese  Vor- 
gänge noch  berichten  kann,  wird  erst  das  Wesentliche  aufzudecken  in  der 
Lage  sein. 

Ein  besonders  wichtiges  Gebiet  sind  Beobachtungen  über  die  militärische 
Jugend,  die  akademische  Jugend  und  die  Mädchen.  Nach  meinen  Erfahrungen 
haben  an  den  Tumultszenen  vor  allem  die  weiblichen  Jugendüchen  hervor- 
ragenden Anteil  gehabt;  die  eigentümhche  Frechheit  dessen,  der  sich  im  Not- 


Sammlung  jugendkundl.  Beobacht.  in  der  Zeit  des  deutschen  Staatsumsturzes     86 

fall  durch  sein  Geschlecht  geschützt  weiß,  gab  ihnen  die  größere  Freiheit 
der  aufreizenden  und  hetzerischen  Reden  und  Zurufe,  und  der  von  dunklen  se- 
xuellen Instinkten  genährte  Wunsch  sich  auszuzeichnen,  sich  hervorzutun,  riß 
die  männliche  Jugend  zu  Gewalttätigkelten,  Plünderungen  und  (meist  nur  als 
Abreaktion  gegenstandslosen  und  grundlos  geschwellten  Selbstgefühls  oder 
als  Zeichen  der  Angst  aufzufassenden)  Schießereien  hin,  die  ohne  die  An- 
wesenheit der  instinktiv  umworbenen  Mädchen  kaum  vorgekommen  wären. 

In  den  Kreisen  der  reiferen  Jugend  spielte  bald  die  Auseinandersetzung 
mit  den  neuen  Ideologien  eine  Rolle;  namentlich  das  Verhalten  der  aka- 
demischen Jugend  bietet  hierfür  Belege.  In  den  ersten  erregten  Tagen  waren 
auch  die  Studenten  in  großer  Erregung  —  umworben  und  verdächtigt  zugleich, 
unentschieden  und  uneinheitlich  in  ihrer  Stellungnahme,  und  seltsamerweise 
vielfach  gewillt,  die  Konsequenzen  für  ihr  eigenes  studentisches  Leben  zu 
ziehen  und  die  Demokratisierung  der  Hochschulen  gründlich  in  die  Hand  zu 
nehmen.  Nach  und  nach  setzte  dann  die  Diskussion,  die  Klärung  und  Scheidung 
der  Geister  und  damit  die  Bildung  fester  studentischer  Parteien  ein.  Im 
Gegensatz  zur  bürgerlichen  Freiheitsbewegung  im  älteren  Deutschland,  die 
nach  einem  sarkastischen  Urteil  von  „Studenten,  Professoren  und  Literaten" 
getragen  war,  ist  im  gegenwärtigen  Umsturz  der  Student  bisher  weder  führend 
noch  in  großer  Masse  beteiligt  gewesen.  Auch  Zeichen,  daß  es  anders  werden 
könnte,  vermisse  ich.  Allerdings  darf  man  über  der  geringen  äußeren  Teil- 
nahme die  tiefe  Bereitschaft  der  Jugend  für  einen  neuen  Geist  des  öffent- 
lichen Lebens  nicht  übersehen,  der  vor  dem  Umsturz  schon  im  Entstehen 
begriffen  war.  Und  ebensowenig  darf  die  Existenz  von  großen  Gegensätzen 
innerhalb  der  akademischen  Jugend  verkannt  werden.  Auch  zu  diesem  Punkt 
sind  Beobachtungen  von  Augenzeugen  aus  den  verschiedenen  Teilen  Deutsch- 
lands notwendig,  wenn  sich  auch  aus  den  gedruckten  Kundgebungen  der 
reiferen  Jugend  manches  erschheßen  läßt. 

Die  Nachahmung  der  von  den  Erwachsenen  gegebeneu  Beispiele  hat  selt- 
same Erscheinungen  gezeitigt,  bedenklich  fast  mehr  für  Lehrer  und  Erzieher 
als  für  die  Jugendlichen  selbst.  Ich  erinnere  an  die  Beschlüsse  von  Schüler- 
räten, denen  zufolge  der  Lehrer  weder  innerhalb  noch  außerhalb  der  Anstalt 
gegrüßt  wird  —  man  weiß  nicht  und  zwetfelt:  ist's  Ernst?  ist's  spielerische 
Nachahmung  der  Pöbelmanieren  gegen  die  Offiziere?  —  oder  an  einen  anderen 
Beschluß,  der,  wemi  ich  nicht  irre,  von  Regensburg  berichtet  wird,  daß  der 
Lehrer  vor  dem  Eintritt  ins  Klassenzimmer  anzuklopfen  habe.  Noch  ein- 
schneidender, aber  auch  noch  lächerlicher  ist  der  Beschluß,  daß  ein  Lehrer, 
gegen  den  sich  zwei  Drittel  des  Schülerrats  ausgesprochen  haben,  von  der 
Anstalt  entfernt  werden  müsse.  (Übrigens  ist  der  von  den  Studenten  er- 
hobene Anspruch,  durch  ihre  Vertreter  künftig  bei  der  Berufung  von  aka- 
demischen Lehrern  entscheidend  mitzuwirken,  eine  Fortsetzung  der  gleichen 
Tendenz.)  In  einzelnen  Anstalten  ist  es  zu  Ausschreitungen  gegen  mißUebige 
oder  in  ihrer  Pflichtauffassung  strenge  Lehrer  gekommen;  sie  woirden  mit 
Pfuirufen  aus  dem  Schulzimmer  genötigt.  An  anderen  wurde  die  Auslegung 
der  Schulpflicht  in  das  Beheben  der  Schüler  gestellt;  sie  „streikten"  oder 
verabredeten,  in  welcher  Reihenfolge  die  Einzelnen  dem  Unterricht  fern- 
bleiben konnten,  ohne  daß  ihre  Abwesenheit  allzu  auffälhg  wurde. 

Genug  der  Einzelheiten ;  ich  bin  gewiß,  daß  ruhige  Beobachter  ohne  weitere 
Mühe  sie  vermehren  können.     Ich  möchte  insbesondere  auch  solche  Lehrer 


86  Aloys  Fischer 


aller  Schulgattungen  zur  Mitteilung  ihrer  Erfahrungen  einladen,  die  die  „an- 
geordnete Selbstregierung"  der  Schüler  durch  ihre  Räte  inszenieren  helfen. 
Ich  weiß  aus  einigen  Fällen,  daß  die  Verlegenheiten  der  Schüler  durch  ihre 
neue  Freiheit  größer  waren  als  die  der  Lehrer. 

Schwer  zu  belegen  wird  jetzt  noch  die  aktive  Teilnahme  der  Jugend  an 
der  Vorbereitung  und  Durchführung  des  Umsturzes  sein.  Alle  Nachrichten 
über  den  Anteil  der  Heimat-Garnisonen  an  dem  Umsturz  und  ebenso  auch 
die  Meldungen  über  die  allmähliche  Auflösung  der  Frontarmee  lassen  er- 
kennen, daß  die  ungefestigte,* unfertige  Natur  der  Jungmannen  der  Bundes- 
genosse der  Sozialrevolutionären  Propaganda  der  Matrosen  gewesen  ist.  Die 
älteren  Männer  haben  zum  größten  Teil  nicht  „mitgemacht",  sind  stillschweigend 
nach  Hause  gegangen  oder  haben,  namentlich  bei  den  Fronttruppen,  sich 
widersetzt;  die  18-  und  19 jährigen  Mannschaften,  die  ihrer  ganzen  Unfertig- 
keit  und  Halbbildung  nach  heute  blau  und  morgen  rot  gesinnt  sind,  je  nach- 
dem sie  „gestimmt"  werden,  in  denen  zugleich  die  moralischen  Folgen  von 
vier  Kriegsjahren  am  ausgesprochensten  in  Erscheinung  treten,  konnten  durch 
die  Lügen  (Foch  ist  tot,  die  englische  Flotte  liegt  unter  roten  Wimpeln  vor  Kiel 
und  Wilhelmshaven,  die  französischen  Truppen  verbinden  sich  mit  uns),  durch 
die  Schlagworte  und  Gefühlsparolen  am  leichtesten  verwirrt  und  eingefangen 
werden  —  sie  haben  in  ihrer  Ahnungslosigkeit  wohl  nie  begriffen,  daß  Meuterei 
der  Anfang  vom  Ende  ist  und  unaufhaltsam  die  Auslieferung  Deutschlands 
an  den  —  guten  oder  bösen  —  Willen  der  Feinde  nach  sich  ziehen  muß. 
Sie  haben  auch  keine  Vorstellungen  und  Erfahrungen  besessen,  die  als  Hem- 
mungen wirken  konnten.  Im  Taumel  der  Freiheit  von  Dienst  und  Disziplin, 
berauscht  von  den  Verheißungen  der  schürenden  Männer  (deren  innere  Un- 
glaubwürdigkeit  reife  Männer  sofort  einsehen,  aber  Jünglinge  unmöglich  durch- 
schauen konnten)  haben  sie  die  letzten  eisernen  Klammern,  die  unser  Volk 
noch  zusammenhielten,  zerschlagen  —  denn  nicht  der  Militarismus,  dieses 
Prinzip  der  Überordnung  der  militärischen  Gewalt  und  des  Machtstandpunkts 
über  alle  Erwägungen  politischer  Klugheit  und  sittlicher  Rücksicht,  wohl  aber 
das  Heer  haben  die  Einheit  des  Vaterlandes  bis  zuletzt  aufrecht  erhalten, 
und  Deutschland  zerfiel,  als  die  Auflösung  in  das  Heer  getragen  wurde.  Wie 
weit  die  „Reife"  für  diese  Auflösung  in  der  Unerzogenheit,  Selbstsucht  und 
Gedankenkürze  der  jungen  Generation  lag,  in  ihrer  Sehnsucht  nach  friedlichem 
Leben  um  jeden  Preis,  in  ihrer  größeren  Gleichgültigkeit  gegen  rein  nationale 
Werte,  das  vermag  augenblicklich  niemand  endgültig  zu  sehen  und  zu  sagen. 

Gewiß  ist  jedenfalls,  daß  Jugendliche  in  den  Garnisonen  und  Fabriken  vom 
ersten  Anfang  an  bei  den  Umsturzbewegungen  beteiligt  waren  —  aber  wahr- 
scheinlich dabei  ebenso  geführt,  wie  sie  in  ihrer  Kriegsbegeisterung  wenigstens 
teilweise  geführt  waren.  Andererseits  kann  ich  mich  des  Eindrucks  nicht 
erwehren,  daß  die  Jugend  vielfach  schon  geistig  ganz  anders  gestimmt,  ver- 
faßt und  gerichtet  war,  als  wir  älteren  uns  einredeten.  Die  Jugend  war  schon 
vor  dem  Krieg  vielfach  ganz  anders  gesinnt  und  auf  das  Leben  eingestellt 
als  frühere  Jugendgeschlechter.  Bekannter  geworden  sind  vor  allem  die  in 
der  bürgerlichen  wie  in  der  proletarischen  Jugendbewegung  zu  Tage  getretenen 
Anzeichen  einer  neuen  Zeit  und  Forderungen  eines  gerade  auf  den  Unterschied 
von  den  Vätern  bewußt  bauenden  neuen  Geschlechtes  von  Söhnen;  ich  erinnere 
daran,  daß  die  freideutsche  Jugend  Freiheit  für  ihr  eigenes  Leben  erstrebte, 
daß  die  Jugendbünde  pädagogische  Reformforderungen  stellten  oder  über- 


Sammlung  jugendkundl.  Beobacht.  in  der  Zeit  des  deutschen  Staatsumsturzes     87 

nahmen,  die  darauf  hinauslaufen,  die  Jugend  nicht  einseitig  nur  als  Objekt 
der  Erziehung  zu  behandeln,  sondern  ihr  Mitarbeit  und  Mitwirkung  an  ihrer 
Bildung  einzuräumen,  Mitverantwortung  für  ihr  Schicksal,  Mitbestimmungs- 
recht für  ihr  Leben.  Aber  auf  dem  Boden  all  dieser  Bestrebungen  lag  eine 
gegen  frühere  Zeiten  schärfer  ausgeprägte  Selbsteinschätzung  der  Jugend.  Sie 
begnügte  sich  nicht  bloß  damit,  bessere  Behandlung  und  giößere  Freiheit  zu 
fordern,  die  neue  Jugend  wollte  und  will  bewußt  ein  Faktor  im 
öffentlichen  Leben  sein.  Aus  diesem  Grundwillen  werden  die  oft  un- 
zusammenhängend erscheinenden  Einzelheiten  der  Jugendbewegung  einheit- 
hch  verständlich. 

Man  wird  gewiß  nicht  in  Abrede  stellen  können,  daß  in  unserer  europäischen 
Gesellschaft  eine  gewisse  Verjüngung  Bedürfnis  war,  vor  allem  aus  bevölkerungs- 
politischen Gründen.  Viele  unserer  Einrichtungen  trugen  dazu  bei,  das  Alter 
der  Selbständigkeit  in  Beruf  und  Erwerb,  der  Gründung  eines  eigenen  Haus- 
standes, der  Erlangung  eines  befriedigenden  Wirkungskreises  immer  höher 
hinaufzurücken;  durch  diese  soziologischen  Tatsachen  wurde  unserem  poli- 
tischen, wirtschafthchen  und  gesellschaftlichen  Leben  viel  Initiative  und  Schwung- 
kraft entzogen.  Dieser  Fehler  und  seine  Gefahren  w-aren  bereits  erkannt,  wurden 
bekämpft  und  hätten  sich  durch  eine  organische  Reform  überwinden  lassen. 
Allein  die  Jugend  wartete  das  langsame  Reifen  und  Bessern  nicht  ab ;  mit  der 
Revolution  vollzog  sich  die  von  ^ielen  —  freilich  in  ganz  anderem  Sinn  — 
befikwortete  Verjüngung  sozusagen  über  Nacht.  Die  Jugend  brach  in  das 
öffentliche  Leben  ein,  und  man  wird  kaum  bestreiten  können,  daß  es  mehr 
die  Jugend  unter  20  Jahren  als  die  eigentliche  iuventus  w^ar,  auf  deren  Wert 
und  gesellschaftliche  Bedeutung  es  tatsächüch  ankommt.  Man  wird  auch  kaum 
bestreiten  können,  daß  d  i  e  Jugend,  die  im  Krieg  erst  volljährig  geworden  ist. 
für  eine  Verantwortlichkeit  weder  Vorbildung  und  Erziehung  noch  Tragkraft 
genug  besaß.  Bedingung  für  soziale  Verantwortlichkeit  ist  seine  Zucht  und 
Selbstzucht,  die  den  naiven  Egoismus,  der  aller  Jugend  natürlich  ist,  in  sich 
überwunden  hat. 

Wie  das  kam  und  kommen  konnte,  wird  einer  späteren  Auswertung  des  Kiieges 
als  geistigen  Wendepunktes  Europas  durchsichtig  werden.  Die  Kriegszeit  hatte 
von  Anfang  an  eine  unheimhche  Doppeldeutigkeit  an  sich :  wie  sie  einerseits 
die  höchste  Zusammenraffung  und  Anspannung  aller  Kräfte  w^ar,  so  auf  der 
anderen  Seite  auch  die  Verkehrung  aller  geltenden  Ordnungen.  Bricht  aber  die 
objektive  d.  h.  in  den  Einrichtungen  der  Gesellschaft  enthaltene,  vom  Urteil  der 
Mitmenschen  getragene  Moral  und  Rechtlichkeit  zusammen,  so  besteht  bei  dem 
einzelnen  Menschen  eine  doppelte  Möglichkeit:  entweder  zergeht  in  dem  all- 
gemeinen Zusammenbruch  auch  seine  persönliche  Moralität,  oder  aber  er  hat 
eigenes  Gewissen  genug,  mn  seine  morahsche  Existenz  zu  behaupten,  dann 
ist  eine  solche  Situation  des  allgemeinen  Zusammenbruches  eine  der  besten 
Gelegenheiten  des  moraüschen  Fortschrittes  selbst.  Es  kann  ein  neuer  Geist, 
eine  neue  Gesinnung  um  so  leichter  entstehen,  je  weniger  ein  alter  als  ob- 
jektive Norm  und  gesellschaftüche  Tatsache  ihn  einengt  und  hindert.  So  sind 
Verfallszeiten,  Zeiten  der  Lockerung  imd  Auflösung  aus  inneren  Gründen 
eine  Vorbedingung  für  die  geistige  und  sitthche  Erneuerung  und  blüht  das 
Leben,  wenn  auch  nicht  aus  Ruinen,  so  doch  inmitten  von  Trümmern  einer 
üt)erlebten  Weltordnung.  Das  Verhalten  der  Jugend  im  Umstm-z  imd  zum 
Umsturz   scheint    mir  großenteils   darauf  zurückzuführen,   daß   in  den  halb- 


88  Aloys  Fischer,  Sammlung  jugendkundl.  Beobachtungen  usw. 

wtichsigen  Generationen  schon  eine  geistige  Wendung  vorbereitet  war,  die 
folgerichtig  zur  Abkehr  von  unserer  und  unserer  Väter  Lebens-,  Wirtschafts- 
und Arbeitsgesinnung  führen  und  im  Zusammenhang  damit  auch  zum  Über- 
druß und  zur  Unzufriedenheit  mit  den  gesellschaftlichen  und  politischen 
Formen,  in  denen  sich  das  Leben  und  Arbeiten  seit  der  Gründung  des 
Deutschen  Reiches  bewegt  hatte.  Jedenfalls  ist  in  dem  Gesinnungswandel,  der 
sich  in  der  Jugend  schon  länger  ankündigte,  eine  gewisse  Gewähr  gegeben, 
dafi  wir  —  wenn  auch  zunächst  entrechtet  und  v^ergewaltigt,  durch  unsere 
politische  Dummheit  der  Weltklugheit  unterlegen  und  durch  den  mächtig  um 
sich  greifenden  Genußhunger  auch  im  innersten  Kern  bedroht  —  doch  noch 
eine  Zukunft  haben  können.  Die  Weltgeschichte  endigt  Gott  sei  Dank  auch 
mit  diesem  Weltkrieg  nicht,  und  ich  zweifle  nicht  daran,  daß  wir  für  alle 
Vergewaltigungen,  denen  wir  jetzt  wehrlos  preisgegeben  sind,  ein  ebenso 
gutes  Gedächtnis  besitzen,  wie  es  Frankreich  oder  Polen  besaß. 

Als  die  größte  Gefahr  eines  längeren  Krieges  habe  ich  im  Frühjahr  1915 
die  mangelnde  Erziehungsfürsorge  für  die  Jugend  bezeichnet.  Ich  dachte 
dabei  weniger  an  die  Bildungslücken,  an  den  notwendigen  Rückstand  der 
Kenntnisse  und  Fertigkeiten,  an  die  verringerte  Übung  der  geistigen  Funk- 
tionen, so  gewiß  auch  diese  Mängel  der  Schulbildung  .beklagenswert  und 
gefährlich  sind.  Vor  allem  schwebte  mir  der  Einfluß  einer  Ausnahme-  und 
Notzeit  mit  ihrer  Verschiebung  aller  Wertmaßstäbe  auf  die  sittlichen  Ge- 
wöhnungen der  Jugend  vor.  Die  bei  Ausbruch  des  Krieges  ältere  Jugend 
war  gegen  diese  Schädigungen  einigermaßen  sicher.  Sie  hatte  noch  in  einer 
Friedenszeit  gelebt  und  maßgebende  Richtungen  empfangen.  Wer  18-  oder 
20  jährig  vom  Ausbruch  des  Krieges  überrascht  wurde,  mußte  wenigstens  noch 
soviel  Unterscheidungsfähigkeit  besitzen,  den  Krieg  und  alles,  was  er  mit  sich 
brachte,  für  die  Ausnahme,  nicht  für  die  Regel  zu  halten,  für  ein  Mittel, 
nicht  für  einen  Selbstzweck,  für  einen  Übergang,  nicht  einen  Endzusland. 
Wessen  Bildung  und  Erziehung  noch  in  die  Friedensjahre  gefallen  war,  der 
wußte,  daß  es  letzten  Endes  in  der  Menschheit  auf  den  Aufbau,  nicht  auf 
die  Zerstörung,  auf  die  Arbeit,  nicht  auf  den  Kampf,  auf  die  Verträglichkeit 
und  den  Austausch  der  Völker,  nicht  auf  ihren  Haß  und  ihren  Abschluß  an- 
komme. Und  vor  allem  hatte  die  ältere  Jugend  noch  Gelegenheit  gehabt, 
die  durchschnittliche  Höhenlage  der  geistigen  Kultur  wenigstens  zu  ahnen; 
sie  war  von  einer  großen  und  intensiven  Kultur  der  geistigen  und  wirt- 
schaftlichen Arbeit  umgeben  und  fühlte  die  Leistungen  der  Erwachsenen  als 
anspornende  Vorbilder.  Gewiß  enthielt  die  Welt  vor  dem  Krieg  auch  alles 
Falsche,  Böse  und  Verkehrte;  gewiß  gab  es  in  ihr  Selbstsucht,  Neid,  Haß, 
Heuchelei,  Schein  —  aber  doch  als  mißbilligte  Gegebenheiten,  nicht  als  durch 
das  Gebot  der  Notwehr  entschuldigte  Übel,  wenn  nicht  gar  geheiligte  Tugenden. 
Gerade  darin  schuf  der  Krieg  im  öffentlichen  Bewußtsein  tiefstgehende  Wand- 
lungen. Was  vorher  sittlich  gebrandmarkt  war,  wurde  nicht  nur  geduldet,  sondern 
geradezu  empfohlen.  Ich  erinnere  nur  an  den  alle  kriegführenden  Völker  be- 
herrschenden Utilitarismus  der  Moral,  der  jedes  Kriegsmittel  billigte,  wenn  es 
gegen  den  Feind  Erfolg  versprach,  den  Utilitarismus  in  England,  der  durch  seine 
Hungerblockade  uns  auf  die  Knie  zu  zwingen  hoffte  und  alle  Rücksicht  gegen 
Nichtkombattanten  selbstverständhch  außer  Acht  und  Ansatz  ließ,  wie  den  Utili- 
tarismus bei  uns,  der  gegen  diese  Maßnahme  und  zur  Entscheidung  des  Krieges 
den  rücksichtslosen  Untei-seebootkrieg  glorifizierte;  ich  erinnere  an  die  absieht- 


Michael  Kesselring,  Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter     89 

liehen  wie  die  unwillkürlichen  Gehässigkeiten  der  Völker  gegeneinander,  an  den 
Feldzug  der  Lügen,  Verleumdungen,  unberechtigten  Verallgemeinerungen,  den 
ebenfalls  alle  Nationen  ohne  Ausnahme  gegeneinander  geführt  haben,  jede 
mit  dem  besten  Gewissen  bei  ihren  eigenen,  mit  dem  x\bscheu  des  Phaiisäers 
über  den  Splitter  im  Auge  des  Nächsten  bei  den  feindlichen  Kundgebungen. 
Denken  wir  uns  Kinder  und  unfertige  Jugendliche  in  diese  Wertverkehrung 
lüneinversetzt,  jahrelang  in  ihr  festgehalten,  denken  wir  noch  an  die  vielen, 
oft  gewiß  unabsichthchen  Bestärkungen  durch  die  Träger  der  Erziehung  in 
Haus  und  Schule  —  was  mußte  die  Folge  sein?  Die  Jugend  in  der  Periode 
der  größten  Bildsamkeit  entbehrte  der  unerschütterlichen  Maßstäbe  und  un- 
bezweifelten  Gewißheiten.  Das  Rechtsbewnißtsein  schwand  dahin  unter  dem 
Einfluß  der  Vielregiererei  und  der  damit  notwendig  verbundenen  Laxheit  des 
Publikums;  namentlich  alle  mit  der  Rationierung  der  Lebensmittel  verbun- 
denen Gesetze  wurden,  man  kann  sagen,  allgemein  übertreten.  Der  Jugend 
entschwand  überall  die  Höhenlage  des  geistigen  Lebens  und  kulturellen  Schaffens 
aus  dem  Auge,  auf  der  einst  das  deutsche  Leben  stand.  So  ließ  sie  ruhig 
die  revolutionären  Kräfte  unsere  Ordnung  zerbrechen,  ohne  Bedauern,  ja  mii 
dem  BeA^iißtsein,  daß  der  Geist  der  letzten  50  Jahre  deutscher  Geschichte 
voll  von  Irrtümern  und  Verderbtheiten  gewesen,  Schuld  am  Krieg,  unser  Fluch, 
ja  mit  dem  Bewußtsein,  daß  ein  neuer  Geist  mit  seinen  sozialen  und  poMtischen 
Ordnungen  uns  erlösen  müsse,  ehe  wir  würdig  wären,  in  die  sogenannte  Gemein- 
schaft der  Völker  wieder  aufgenommen  zu  werden.  Die  Jugend  leistete  dem  Um- 
sturz keinen  Widerstand  —  so  gelang  er.  Man  kann  sich  des  Eindi'ucks  nicht 
erwehren,  daß  auch  hier  eine  verborgene  Logik  waltet:  statt  des  mit  Worten  ver- 
kündeten und  versprochenen  Rechtsfriedens  bringt  er  die  Vergewaltigung,  stall 
der  Freiheit  die  Knechtung,  statt  der  Ordnung  das  Chaos.  Damit  legt  die  Welt- 
geschichte auf  die  Schultern  der  Jugend,  die  nicht  wußte,  was  sie  tat,  als  sie 
die  alte  Ordnung  zerbrach,  die  Pflicht,  aus  Not  und  Chaos  die  neue  Ordnune 
mühsam  aufzubauen  und  für  den  Frevel,  den  sie  im  vorschnellen  Glauben 
an  ein  unmittelbar  nahes  Glück  beging,  mit  dem  Opfer  eines  leidensreichen 
Sklaventums  Sühne  zu  tun,  W^ohl  ihr  und  unserem  Vaterland,  wenn  sie 
diese  Sühne  willig  leistet. 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter. 

Vorgenommen  in  einem  bayrischen  Lehrerseminar. 

Von  Michael  Kesselring. 

(Schluß.) 

m.  Die  Begründungen. 

Besonders  die  Begründungen  zu  den  gewählten  Vorbildern  gewälu-en  uns 
wertvolle  Einblicke  in  die  Psyche  unserer  Jugendlichen  und  können  ims  Beiträge 
liefern  zum  besseren  Verständnis  des  Gefühls-  und  Willenslebens  der- 
selben. In  vielen  Fällen  enthalten  die  Schülerantworten  aufrichtige  Bekennt- 
nisse  einer  ringenden  Jünglingsseele.     Sie  geben  nicht  nur  Aufschluß  über 


90  Michael  Kesselring 


den  individuellen  Entwicklungsstandpunkt  der  Vpn.,  über  die  Beeinflussung 
des  Gedankenkreises  durch  die  Unterrichtsfächer,  sondern  auch  in  gewissem 
Sinne  über  den  Bildungsgrad  der  Einzelnen.  Auch  einen  Maßstab  für  die 
sittliche  Entwicklung  der  JugendUchen  können  wir  aus  ihnen  entnehmen. 
Die  schon  mehrfach  eingestreuten,  ausführlichen  oder  angedeuteten  Schüler- 
beantwortungen legten  manches  Zeugnis  ab  für  den  Wert  einer  solchen  Er- 
kundung für  das  Kennenlernen  der  Verfassung  der  Schülerseele  im  höheren 
Jugendalter.  Tatsächlich  sind  die  idealen  Musterbilder,  welche  ureigenstes 
Gut  jedes  individuellen  Geistes-  und  Willenslebens  bilden,  in  mehr  oder  minder 
weitgehender  Weise  ein  Willensimpuls  für  das  persönliche  Wachstum  der 
Charakterkräfte  im  Sinne  des  Rückertschen  Wortes :  „Vor  jedem  steht  ein  Bild 
des,  was  er  werden  soll;  solang  er  das  nicht  ist,  ist  nicht  sein  Friede  voll." 
Bei  der  eigenartigen  Beschaffenheit  der  meisten  Ideale  als  Strebe-Ideale  sind 
sie  für  die  Selbstprüfung  der  einzelnen  Menschen  gewissermaßen  Spiegel,  in 
denen  sie  sich  betrachten  können,  und  bilden  zugleich  einen  nicht  zu  unter- 
schätzenden Ansporn  zur  Besserung  und  Emporläuterung  der  eigenen  Per- 
sönlichkeit. Sie  dürfen  wohl  als  Mittel  der  Autosuggestion  anzusprechen  sein, 
welche  oft  in  unbewußter  Weise  jedes  Menschenkindes  Arbeit  an  sich  im  Sinne 
der  eigenen  Vervollkommnung  fördernd  beeinflussen  und  regeln,  in  bes.  Grade 
im  höheren  Jünglingsalter. 

Meumannl)  betrachtet  unsere  Idealforschungen  unter  dem  Gesichtspunkte 
der  sittlichen  Entwicklung,  wie  etwa  auch  experimentelle  Forschungen  über 
die  Stellungnahme  der  Schüler  zu  Lüge  und  Diebstahl  oder  zur  Freundschaft. 
Den  Wert  solcher  Erhebungen  sieht  er  zunächst  mehr  in  der  Anregung  zu 
kritischer  Beleuchtung  bestehender  Zustände  im  Erziehungs-  und  Schulwesen; 
führt  er  doch  S.  621  aus,  daß  wir  durch  solche  Erhebungen  nicht  nur  die 
Entwicklung  einer  der  wichtigsten  Seiten  des  jugendlichen  Seelenlebens  kennen- 
lernen, sondern  zugleich  auch  „wertvolle  Maßstäbe  zur  Beurteilung  unseres 
ganzen  Erziehungssystems  und  der  idealbildenden  Kraft  unserer  einzelnen 
Schüler"  gewinnen.  So  weit  wie  Meumann,  welcher  auf  Grund  einiger  weniger 
Untersuchungen  ein  ungünstiges  Urteil  über  die  deutsche  Volksschule  bezüg- 
lich ihrer  idealbildenden  Kraft  fällte,  darf  man  aber  jetzt  unmöglich  schon 
gehen,  w^eil  die  Zahl  der  Vpn.  viel  zu  gering  ist,  weit  mehr  Orte  der  ver- 
schiedensten deutschen  Landschaften  zu  Erhebungen  benutzt  werden  müssen 
und  eine  großangelegte  Erhebung  in  unseren  verschiedenen  Schulgattungen 
niederer,  mittlerer  und  höherer  Art  von  einem  psychologischen  Institut  oder 
einer  pädagogisch -psychologischen  Arbeitsgemeinschaft  zur  Durchführung 
kommen  müßte.  Erst  dann  könnte  auch  der  Gedanke  Meumanns,  die  Aus- 
wahl großer  Persönlichkeitsvorbilder  nicht  dem  Zufall  zu  überlassen,  sondern 
—  wenn  wir  ihn  recht  verstehen  —  einen  lehrplanmäßigen  Kanon  von  Ideal- 
persönlichkeiten aufzustellen,  in  nähere  Erwägung  gezogen  werden. 

Wenn  wir  nun  die  Begründungen  unserer  Sem.  näher  beleuchten,  liegt  es 
klar,  daß  wir  bei  dem  für  Volksschuluntersuchungen  beachteten  Schema  der 
Motive  nicht  bleiben  konnten  und  uns  mehr  den  von  Key.  11  gewählten 
Gruppen  anschlössen,  welcher  aUerdings  keine  zusammenfassende  Tabelle  für 
die  Begründungen  aufstellt,  wie  für  die  gewählten  Persönlichkeiten.  Da  wir  dies 
als  einen  Mangel  empfanden  und  die  Beziehungen  der  möglichen  Gruppen 


')  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik,  Bd.  I^,  S.  820—629. 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  91 

untereinander  klar  erkennen  wollten,  gestalteten  wir  im  engsten  Anschluß 
an  unser  Material  eine  genauere  Tabelle,  wie   sie  auf  S.  94  einzusehen  ist. 

Besonders  auffallend  war  bei  der  ersten  Durchsicht  der  Begründungen,  wie 
oft  die  Größe  des  Willens,  die  Vollkommenheit  an  Kraft,  die  Ausdauer  und 
Beharrhchkeit,  die  Geschlossenheit,  Konsequenz  und  Selbständigkeit,  der  zähe 
Wille,  der  Wagemut  und  die  Unbeirrbarkeit  durch  Hindernisse  als  vorbildlich 
angeführt  \s'urden,  also  formale  W^illenseigenschaften  als  stark  beein- 
flussendes Moment  bei  der  Wahl  der  Ideale  mitspielen.  Diesen  stellten  sich 
naturgemäß  materielle  W^illens-  und  Charakterzüge  an  die  Seite,  von 
denen  sich  eine  merkwürdige  iVuslese  in  der  Tabelle  vorfindet.  Zu  diesen 
rein  ethisch  betonten  Einzelzügen  mußten  noch  Sammelabteilungen  kommen. 
Zunächst  eine  Abteilung  formaler  Willenseigenschaften  im  allgemeinen,  wenn 
in  den  Motivierungen  etwa  «,fester  Charakter",  „geschlossene,  starke  Persön- 
lichkeit", „rücksichtsloses  Durchsetzen  begonnener  Arbeiten"  u.  ä.  angegeben 
war,  wozu  materielle  ethische  Züge  im  allgemeinen  treten  mußten,  wenn  es 
etwa  hieß:  „gute  Eigenschaften",  „pflichtbewußter,  edler  Mensch",  „zeigte  treue 
Pflichterfüllung".  Schließlich  machte  sich  noch  eine  allgemeingehaltene  Ab- 
füllung notwendig  für  Äußerungen,  daß  z.  B.  das  ganze  Verhalten  eines  Vor- 
bildes sich  durch  Harmonie  in  Denken,  Fühlen  und  Wollen  auszeichne  oder 
daß  das  gemeinte  Vorbild  in  seinem  Handeln  das  W^ahre,  Schöne  und  Gute 
als  höchste  Maßstäbe  genommen  habe.  Durch  die  schärfere  Auseinander- 
haltung von  ethisch-formal  und  ethisch-material  betonten  Gründen  wollten  wir 
zugleich  einen  orientierenden  Einblick  in  das  Verhältnis  der  Bewunderung 
und  Nacheiferung  der  Willens-  und  Charakerstärke  nach  der  Seite  des  guten 
oder  des  großen,  starken  Willens  gewinnen. 

Hin  und  wieder  leuchteten  in  den  Schülerzeugnissen  auch  andere  ethische 
Wertschätzungen  durch,  die  teilweise  tieferen  Blick  für  das  Getriebe  des 
Menschenlebens  mit  seinen  tragischen  Konflikten  bekundeten.  So  wurde  hin- 
gewiesen auf  die  nötige  Urteilsklarheit  und  Einsicht  bei  großen  Taten,  z.  B. 
bei  Bismarck  oder  Moltke ;  Bewunderung  erregte  das  unentwegte  Weiterstreben 
auch  bei  VerkanntAverden  und  sonstigen  Hemmnissen.  Daß  die  Tugend  der 
Gesundsinnigkeit,  also  die  Tugend  des  Trieblebens  als  Mäßigkeit,  Besonnen- 
heit keine  besondere  Rubrik  erforderte,  ist  nur  ein  Beweis  für  die  gesunde, 
geradlinige  Entwicklung  unserer  16 — 20 jährigen.  Doch  klingt  auch  die  vor- 
bildliche Kraft  dieser  Tugend  manchmal  durch,  wenn  genannt  werden:  Rein- 
heit und  Gesundheit;  Reinheit  und  Überlegenheit;  hatte  sich  in  der  Gewalt. 
Jedoch  stellten  wir  beim  vereinzelten  Auftreten  solcher  Begründungen  dafür 
keine  besondere  Rubrik  auf. 

Neben  die  ethischen  Gründe  ließe  sich  als  weitere  große  Hauptgruppe  die 
der  kulturell-geistigen  Eigenschaften  stellen,  wozu  auch  bei  unserer 
Erhebung  die  religiösen  Ideale  zu  rechnen  wären.  Bei  letzterer  Gruppe 
machte  sich  eine  vorgesehene  Trennung  für  Ideale  in  rein  religiöser  Hin- 
sicht oder  nach  der  religionsgeschichtlichen  Seite  hin  überflüssig,  weil 
nur  im  letzten  Sinne  Entscheidungen  vorUegen.  Bei  den  intellektuellen 
Gründen  wird  besonders  die  Geisteskraft  als  Vorbild  hervorgehoben.  Diesem 
freigeistigen,  formal-intellektuellen  Streben  im  Sinne  geistiger  Selbständigkeit 
stellt  sich  der'  vorbildliche  Einfluß  des  großen,  umfangreichen  Wissens,  der 
Gesichtspunkt  der  materiellen  Bildung  und  die  Bewunderung  der  Geistes- 
größe an   die  Seite,   wozu  noch  als  Sonderabteilung  die  erhaltene  bildende 


92  Michael  Kesselring 


Förderung  der  geistigen  Kräfte  und  des  Wissensschatzes  durch  den  guten 
Unterricht  des  Lehrers  tritt.  Als  künstlerisch  vorbildliche  Züge  traten 
auf :  Dichtkunst,  Musizieren, Malerei,  Beredsamkeit,  Für  die  nationalen  Gründe 
ließ  sich  die  Teilung  in  rein  kriegerische,  politische,  soziale,  vaterländische 
Motivierung  durchführen  durch  fast  zu  strenge  Beachtung  der  Schülerausdrücke 
selbst,  welche  es  damit  ermöglichte,  gegenüber  der  Abteilung:  Wohlwollen, 
Opferwilligkeit, "  Fürsorge  die  vaterländischen  und  sozialen  Gründe  hervor- 
zuheben. 

Eine  schwankende  Stellung  zwischen  den  beiden  Hauptgi-uppen  der  kulturell- 
geistigen  und  der  ethisch  betonten  Gründe  nehmen  unsere  lebenspraktischen 
Gründe  ein.  Bei  Rey.  II  scheinen  solche  gar  nicht  aufgetreten  zu  sein  oder 
sind  vielleicht  in  die  Gruppe  „Ehre  und  Ruhm"  einbezogen.  Wenn  Natur- 
und  Heimatliebe,  eine  richtige  Schätzung  der  .Gesundheit  und  körperlichen 
Betätigung  bei  diesen  Begründungen  hervortreten,  sind  damit  wertvolle  sekun- 
däre Bedingungen  einer  idealen  Lebensführung  erkannt.  Ziemlich  rege  scheint 
der  Sinn  für  gesellschaftliche  Vorzüge  zu  sein;  denn  wir  finden  oft  erwähnt: 
feines  Benehmen,  feiner  Takt,  Liebenswürdigkeit,  Freundlichkeit  und  Gewandt- 
heit, gewinnendes  Benehmen,  ritterliche  Gesinnung  u.  a.,  wobei  einesteils  einige 
Besprechungen  mit  den  Vpn.  über  den  guten  Ton  nachgewirkt  haben  können, 
andernteils  mancher  Oberklässer,  der  in  einem  Vierteljahr  als  Schulamtsbewerber 
aus  der  Anstalt  entlassen  wurde,  den  Besitz  solcher  Vorzüge  als  besonders 
erstrebenswert  halten  mag.  Auch  Anerkennung  und  Erfolg  bei  tätiger  Berufs- 
erfüllung möchten  manche  nicht  missen;  Ruhm-  und  Ehrsucht  als  solche  fiel 
in  keiner  Beantwortung  auf. 

Schließlich  finden  sich  noch  besondere  Wunschideale  aufgeführt.  Zu  den 
auf  S.  34  erwähnten  wären  noch  folgende  zu  rechnen:  Ich  möchte  über- 
haupt dichten  können  —  mein  einziger  und  höchster  Wunsch  ist  der,  nach 
Afrika  gehen  zu  können  —  weltflüchtig,  einsam,  zurückgezogen  und  ein  solcher 
Pessimist  wie  Lenau  —  mein  größter  Wunsch  aber  wäre  der,  ein  Leben  wie 
Goethe  führen  zu  können:  reich  an  irdischem  Gut,  philosophieren,  berühmt 
werden,  die  Menschheit  für  das  Schöne  und  Edle  zu  begeistern. 

Als  Bewunderungsideale  wurden  z.  B.  folgende  Äußerungen  be- 
wertet: Ich  muß  emporschauen  zu  einem  Schauspieler  wie  Kainz;  denn  er 
muß  doch  viel  tiefer  alles  erleben  als  andere  —  so  oft  ich  den  Namen  Schiller 
höre,  durchfährt  mich  ein  heiliger  Schauer  —  ein  Geist  zu  sein  wie  Goethe 
oder  Schiller,  wer  das  doch  könnte!  An  Personen,  die  ausgesprochene  Be- 
wunderung erregen,  seien  noch  genannt :  Könier,  Nietzsche  und  Schopenhauer, 
einmal  auch  Otto  Ernst. 

Bezüglich  der  Berechnung  sahen  wir  uns  gedrängt,  auf  zweifache  Weise 
ein  Bild  der  Motivierung  der  gewählten  Ideale  zu  gewinnen.  In  Tabelle  11 
sind  die  Begründungen  auf  die  Zahl  der  Vpn.  bezogen,  wobei  jeweils  das 
am  stärksten  hervortretende  Motiv  für  die  Wahl  eines  Vorbildes  die  Eintragung 
in  die  betreffende  Abteilung  bewirkte.  Da  diese  Berechnungsweise  auch  bei 
Rey.  II  vorliegt,  gingen  wir  den  Ergebnissen  dieser  Art  im  einzelnen  nach  und 
stellten  auch  manche  Vergleiche  her,  obwohl  uns  die  Schwierigkeiten  für 
solche  Gegenüberstellungen  bei  experimentellen  Forschungen  in  verschiedenen 
Ländern  nicht  verborgen  sind.  In  Tabelle  III  liegt  dann  eine  Berechnung  der 
angegebenen  Einzeleigenschaften  auf  die  Zahl  dieser  Nennungen  überhaupt 
vor.    Nachdem  wir  uns  in  deren  Ergebnisse  vertieft  hatten,  war  natürlich  eine 


Untersuchungen  über  Ideede  im  höheren  Jugendalter  93 


-Gegenüberstellung  der  Untersuchungsergebnisse  nach  den  beiden  Berechnungs- 
weisen  geboten,  die  sich  aus  Tab.  2  und  3  leicht  gewinnen  läßt. 

In  einer  Veröffentlichung  über  die  Ideale  schwedischer  Schulkinder  von 
Dr.  G.  Brandelli)  wird  auch  die  Erscheinung  betont,  daß  bei  der  Begründung 
oft  mehrere  Eigenschaften  als  wahlbestimmend  angeführt  werden,  so  daß  Brandeil 
die  Aufstellung  einer  „Gesichtspunktfrequenz"  für  notwendig  erachtete  nach 

der  Formel: 

'Anzahl  der  Gesichtspunkte  (G)  ^-- 

Gesichtspunktfrequenz  =  -^solute  Zahl  der  Begründungen  (B)  "^  ^^' 
Für  unsere  1.  Klasse  wäre  nach  Abzug  der  Zahl  der  Nichtbeantwortungen 
und  der  Nichtbegründungen  G  =  „22  ^  ^^  ^  ^^^'  ^^  die  2.  Kl.:  ^^ 
X  100  =  232.  Die  2.  Klasse  weiß  also  \iel  mehr  Gesichtspunkte  aufzustellen 
als  die  1.,  was  dem  Bildungsstandpunkt  auch  entsprechend  wäre.  Gegenüber 
den  Schülern  Brandells,  bei  denen  sich  für  die  Knaben  die  Gesichtspunkt- 
frequenz 118,  für  die  Mädchen  130  herausstellte,  weisen  unsere  Jugendlichen 
■6\e  doppelte  Frequenz  auf. 

Betrachtung  der  Haupterscheinungen  dieser  Tabelle 

a)  Innerhalb  der  1.  Klasse:  Für  die  Versuche  in  den  verschiedenen 
Jahren  ergibt  sich  ein  auffallend  anderes  Bild  bei  den  ethisch  formalen  Be- 
gründungen, da  das  erste  Jahr  die  doppelte  Nennungszahl  gegenüber  den 
beiden  folgenden  Jahren  bringt.  Auch  der  Sinn  für  gesellschaftliche  Vorzüge 
zeigt  sich  im  1.  Jahre  stärker,  wogegen  die  Bevorzugung  künstlerischer  Züge 
im  2.  Jahre  besonders  stark  hervortritt.  Im  übrigen  lassen  sich  keine  wesent- 
lichen Verschiedenheiten  nachweisen. 

b)  Innerhalb  der  2.  Klasse:  Besondere  Schwankungen  sind  nicht  fest- 
zustellen. Jedoch  ergaben  sich  in  einem  Jahre  Angaben  für  Eigenschaften, 
die  im  anderen  gar  nicht  genannt  sind,  so  fehlen  im  2.  Jahre  „Wohlwollen", 
„Liebe  und  Treue",  die  im  1.  Jahre  4mal,  bzw.  3mal  aufgeführt  sind.  Im 
1.  Jahre  fehlen  religiöse  Begründungen,  werden  aber  im  2.  Jahre  3  mal  an- 
gegeben, Imal  in  positivem  Sinne  der  Nachfolge  Christi,  2  mal  mehr  in  frei- 
geistigem Sinne. 

Eine  einmalige  Erhebung  reicht  also  nicht  aus,  um  vollen  Einblick  in  die 
Gesinnungen  und  die  sittliche  Ent\^icklung  der  Jugendlichen  zu  erhalten. 
Doch  zeigt  sich  im  Hinblick  auf  die  Übereinstimmung  in  den  wesentlichen 
Zügen  dieser  Schülerbekenntnisse,  daß  selbst  eine  einmalige  Befragung  den 
Charakter  einer  verläßlichen  Stichprobe  für  die  gleichen  Altersstufen  inner- 
halb der  gleichen  Schulgattungen  trägt,  da  die  Jahresschwankungen  nicht  so 
hoch  zu  sein  scheinen,  daß  sie  das  Allgeraeinbild  der  Ergebnisse  wesentlich 
verändern  könnten. 

c)  Vergleich  der  1.  und  2.  Klasse:  Bei  unserem  Versuch  in  jenen  Jahren 
gab  die  2.  Klasse  viel  weniger  Begründungen  als  die  1.,  nämlich  12,80/o  gegen 
4,30/0.  Diese  Erscheinung  liegt  wohl  begründet  in  der  größeren  Zahl  ausführ- 
licher, kritischer  und  ausweichender  Antworten,  sowie  in  der  vielleicht  größeren 
Zurückhaltung  der  ältesten  Seminaristen,  Gesellschaftliche  Vorzüge  werden 
in  der  2.  Klasse  gar  nicht  mehr  aufgeführt,  wogegen  das  allgemeine  Humanitäts- 

*)  MitgeteUt  bei  Rey.  I,  S.  243  und  S.  250. 


94 


Michael  Kesselring 


Tab.  2.          Tafel  der 

BegTÜndungen  (berechnet  auf  Vpn). 

Keine  Antwort 

1      1 
7  i  5     10 

22 

8,6 

7 

5 

12 

6,6 

34 

7,8 

J      1 

1 

Ohne  Begründung 3  !  5     3 

11 

4,3 

12 

11 

23 

12,8 

34 

7,8 

Allgemein  edles  Menschentum 

17    13 

21 

51 

20,0 

23 

24 

47 

26,1 

98 

22,5 

22.5 

Ethische  Gründe 
Allgem.  formal 

17 
3 
2 

1 
4 

3 

9 

8 

1 

34 
4 
2 
1 

10 
2 

3 
4 

25 
6 

13,3 
1,5 
0,8 
0,4 
3,9 
0,8 

1,1 
1,5 

9,8 
2,3 

8 
6 

7 

3 
4 

8 

1 

11 
2 

4 
13 

19 

8 

11 

3 

4 

12 

10,5 
4,4 

6,1 

1,6 

2,2 
11,6 

53 

12 

2 

1 

21 

2 

6 

8 
46 

7 

12,2 
2,7 
0,4 
0,2 
4.8 
0,4 

1,3 

1,8 

10,6 

1,7 

Kraft  u.  Konsequenz  . 
Beharrlichkeit 

.20,3 
1 20,5 

Mut  u.  Tapferkeit   .     . 
allgem.  material  .     .     . 

i 
2  1    4 

Wahrheit,  Offenheit    . 
Gerechtigkeit  .... 
Gemütstiefe     .... 
Liebe  u.  Treue     .     .     , 

2 



1 
9 
2 

>2- 

Wohlwollen  u.  Fürsorge 
Berufserfüllung    .     . 

2      1 
5    11 

sittl.  Grundsätze.     .     . 

4 

Äuß.  lebenspraktische  Gründe 
Gesellschaftl.  Vorzüge     .     . 
Anerkennung  u.  Erfolg  .     . 
Naturliebe  u.  Heimat.     .     . 
Gesundheit,  Reisen,  Sport  . 
Lebensgenuß 

10 

1 

2 

2 

1 
1 

?, 

1 

2 

1 

13 

1 
3 
4 
2 

5,0 
0,4 
1,1 
1,5 
0,8 

1 

1 
1 

1 
2 

0,5 
1,1 

13 
1 
3 

5 
4 

3,0 
0,2 
0,6 

1,1 

0,8 

'  5,7 

, 

Nationale  Gründe 

Kriegerisch 

politisch 

sozial .     .     . 

vaterländisch 

1 

2 

5 
4 

2 
6 

4 

2 

1 

3 

10 

0.8 
2,3 
0,4 
3,9 

1 

3 

5 

1 

8 

1,1 

4,4 

2      0,4 

7      1,6 

1      0,2 

18      4,1 

,    6,3 

Intellektuell 

Selbständigkeit,  Freiheit     . 
Geistesgröße,  großes  Wissen 
guter  Unterricht  der  Lehrer 

3 
3 

2      1 

21  — 

3 
6 
2 

1,1 
2,3 

0,8 

— 

2 

2 

1,1 

13 

3,'^ 

.     3,0 

Künstlerisch 

Dichtung 

Alusik            

3 

10 

3 

16 

6,3 

2 

5 

7 

3,8 

23 

5,3 

l     5,3 

bildende  Künste 

— 

— 

1 

1 

0,4 

— 

3 

3 

1,6 

4 

0,8 

0,8 

1 

3 

1 

4 

8 

3,1 

2 

2 

4 

2,2 

12      2,7 

Wünsche 

— 

2 

— 

2 

0,8 

1 

2 

3 

1,6 

5 

1.1 

' 

I.  Klasse 

12 
«  =9 

0)N( 

O 

"/o 

II.  Kl. 

ll 

o; 

,0 

!"•  -/ol' 

l.J. 

2.J. 

3.J. 

l.J. 

2.J. 

o    .             1 

o«         1 

Untersuchungen   über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  95 

ideal  in  dieser  Klasse  mit  höherem  Prozentsatz  als  in  der  1.  auftritt,  26  o/o — 
200/0,  Nach  den  sonstigen  Zahlen  Verhältnissen  mit  Schwankungen  bei  den 
Einzelzügen  zwischen  2 — 3^0  kann  von  stärker  auffallender  verschiedenartiger 
Stellungnahme  kaum  gesprochen  werden;  dies  gilt  für  Gründe  ethisch-formaler 
und  ethisch-materialer  Art,  hinsichtlich  derBerufserfi'illung  und  der  künstlerischen 
Eigenschaften.  Intellektuelle  Eigenschaften  erfahren  von  der  1.  Klasse  eine 
höhere  Wertschätzung  als  von  der  2.  Klasse. 

Eine  Gesamtübersicht  mag  folgende  Tabelle  geben: 


Gründe  ;     1.  Kl.     i     2.  Kl.     •'   Vereinigt    j  :,  Rey  H 


Ethische 

formal 18,3  18.6  18,-,            1  ,o      1           '^  •      ^-, 

material 22,5  26,9  24,-,           ff            ' 

allgem.  edles  Menschentum  '       23,o  32,4  26,7                      J  69,: 

Lebenspraktisch     ....  10,o  2,o  7.o                                  " 

Religiös 0,5  2,o  '            l,o            1                               10 


Intellektuell 5,o  1.*  3.5  Kg  13 

Künstlerisch 7,,  4,s  6.3  (       '  6 

National 8,5  6,2  7.^  I  20 

Um  mit  Rey.  II  Beziehungen  herstellen  zu  können,  mußten  wir  von  seinen 
Prozentangaben  in  den  Einzeltabellen  die  Hälfte  der  Werte  einsetzen,  da  seine 
Angaben  die  Summe  von  198  ergaben  und  zugleich  unsere  Prozentzahlen 
wie  S.  26  angegeben,  umrechnen.  Rein  ethisch  betonte  Gründe  scheinen 
zunächst  von  unseren  Vpn.  mit  43^0  weit  mehr  gewählt  zu  sein,  als  bei  R. 
mit  27;  noch  mehr  verschiebt  sich  dies  Verhältnis  bei  Hinzunahme  des 
Wertes  für  das  allgemeine  Humanitätsideal,  wonach  wir  69  0  0  ethischer  Gründe 
überhaupt  festzustellen  hätten.  Bei  R.  folgt  bei  Zusammenstellung  der  „rein 
ethisch  betonten  Gründe",  mit  seinen  Gruppen  „Mut"  und  „Opferwilligkeit" 
der  Gesamtwert  48.  Nach  der  formalen  Seite  überwiegen  bei  uns  die  ethischen 
Begründungen  (18,5  gegen  13  bei  R.),  während  sich  nach  der  materialen 
Seite  bei  R.  ungleich  mehr  Nennungen  finden;  stehen  sich  doch  die  Werte 
35  gegen  24,5  bei  uns  gegenüber!  Die  Gruppe  „Opferwilligkeit  und  Ver- 
langen, andern  zu  helfen''  führt  bei  R.  dieses  Überwiegen  herbei.  Wenn  wir 
allerdings  zu  unserer  Gruppe  „Wohlwollen"  die  sozial-vaterländischen  Gründe 
nehmen,  dann  stellt  sich  dem  R.  Werte  8  ein  solcher  von  7,3^  0  gegenüber. 

Lebenspraktische  Gründe  drängen  sich  bei  uns  wesentlich  mehr  hervor 
mit  7,00/0,  denen  sich  bei  R.  nur  der  Wert  3  für  „Ehre  und  Ruhm"  entgegen- 
stellen läßt. 

Bei  den  religiösen  Begründungen  zeigt  sich  der  gi'ößte  Gegensatz  in  den 
beiden  Untersuchungen,  wobei  sich  die  Werte  von  10  bei  R.  dem  von  1,0 
gegenüberstehen.  Intellektuelle  Gründe  nehmen  bei  R.  mit  dem  Werte  13 
einen  breiteren  Raum  ein  als  bei  uns  mit  3,5.  Bezüglich  der  künstlerischen 
Eigenschaften  weisen  die  Untersuchungen  die  gleichen  Werte  auf:  R.  6,  bei 
uns  6,3.  Die  Gründe  verteilen  sich  dabei  in  folgender  Weise:  Musik  (1.  Kl. 
11  mal,  2.  Kl.  7  mal),  Dichhmg  (1.  Kl.  5  mal,  2.  Kl.  7  mal),  Malerei  (2.  Kl.  3  mal), 
Beredsamkeit  im  ganzen  3  mal. 


96  Michael  Kesselring 


Nationale  Gesinnung  und  Betätigung  werden  von  den  norwegischen  Se- 
minaristen in  ungleich  höherer  Zahl  als  bei  uns  geschätzt,  20  :  7,6!  Dazu 
mitgewirkt  haben  wohl  die  starken  Einflüsse  des  Weltkrieges  auch  auf  neu- 
trale Länder  und  die  Jugend  des  norwegischen  Königreiches  als  Staatswesen 
überhaupt.  Da  auch  internationale  Gründe  mit  3,5  bei  R.  sich  zeigen,  so 
scheint  das  völkische  und  nationale  Interesse  bei  den  norwegischen  Jugend- 
lichen reger  als  bei  den  unsrigen  zu  sein.  Doch  läßt  sich  ein  solches  Urteil 
nur  bedingt  aussprechen,  da  unsere  Vpn.  jünger  als  die  norwegischen  waren 
und  in  diesem  Alter  vom  öffentlichen  Leben  oft  in  übertriebener  Weise  fern- 
gehalten werden.  Die  Werte,  welche  bei  unseren  Seminaristen  für  diese  Gruppe 
gleichsam  ausgefallen  sind,  treten  besonders  stark  auf  in  der  uns  so  charak- 
teristisch erscheinenden  Begründung  durch  das  allgemeine  edle,  charaktervolle 
Menschentum,  einer  Art  der  Idealbegründung,  welche  die  R.schen  Vpn.  gar 
nicht  zu  kennen  scheinen. 

Bei  einem  abschweifenden  Blick  in  das  angewandte  Gebiet  der  Erziehung, 
des  Unterrichts  und  der  Schulen  können  wir  feststellen,  daß  das  Gesamtbild, 
welches  die  beiden  Erhebungen  über  die  Ideale  ergeben,  hinsichtlich  der 
Gemüts-,  Willens-  und  Charakterentwicklung  unserer  Jugendlichen  kein  uner- 
freuhches  ist:  das  höhere  Jugendalter  ist  durch  ein  ernstlich  sittlich  gerichtetes 
Streben  ausgezeichnet.  Die  Pflichtvorstellung  ist  als  ein  für  alle  Menschen 
gültiges  Gebot  erkannt.  Die  Tugend  der  Sachlichkeit  hat  sich  festgesetzt  und 
der  Gedanke  von  der  Heiligkeit  der  Arbeit  und  des  Strebens  hat  seine  Grund- 
legung erfahren.  Begeisterungsfähigkeit,  Sinn  für  Großes  und  Edles  pulsieren 
im  jugendlichen  Geistesleben,  das  nach  objektiven  Werten  die  Lebensführung 
zu  gestalten  sucht.  Grundsätze  der  Moralität  sind  bei  den  Jugendlichen 
herrschend  geworden,  und  selbst  der  Standpunkt  der  sittlichen  Autonomie  ist 
von  manchen  erreicht,  wenn  sie  in  ihren  freien  Idealen  aus  innerer  Über- 
zeugung und  eigenem  Gewissensentscheid  in  freiem  Gehorsam  sich  objektiven 
Werten  unterordnen  wollen,  also  sich  zum  Standpunkt  der  inneren  Freiheit 
durchgerungen  haben,  welcher  für  das  jugendliche  Gemüt  als  eine  Versöhnung 
zwischen  der  Macht  der  Autorität  und  dem  Verlangen  nach  Freiheit  angesehe 
werden  muß.  Auch  drückt  sich  wiederholt  in  den  Bekenntnissen  die  Er- 
kenntnis aus,  daß  in  der  eigenen  Brust  des  Schicksals  Sterne  schimmern,  daß 
das  Sittliche  immer  und  zuerst  den  einzelnen  Menschen  organisiert.  Daher 
auch  die  vorwiegenden  Zeugnisse  für  charaktervolle  Persönlichkeiten  als  Vor- 
bilder unter  Hervorhebung  der  formal-ethischen  Züge,  wie  Beharrlichkeit, 
Geradheit,  innere  Widerspruchslosigkeit,  Stärke,  Kraft  und  Freiheit.  Dazu 
treten  dann  erst  die  Tugenden  für  die  Gemeinschaft,  die  ethischen  Eigen- 
schaften der  Gerechtigkeit,  des  Wohlwollens  und  der  Nächstenliebe,  der  Berufs- 
erfüllung und  nationalen  Tätigkeit.  Es  bahnt  sich  also  in  den  jugendlichen 
Seelen  das  Persönlichkeitsstreben  an,  der  individuellen  und  sozialethischen 
Kulturaufgabe  gerecht  zu  werden. 

Freilich  fließen  subjektive  und  objektive  Wertschätzungen  und  -maßstäbe. 
Verlangen  nach  Befriedigung  individueller  Neigungen  und  Streben  nach  ge- 
schlossener beruflicher  Lebenstätigkeit  noch  vielfach  ineinander  über;  aber 
die  höheren  Werte  sind  klar  erkannt  und  geben  die  Richtpunkte  des  idealen 
Strebens.  Unsere  experimentelle  Erhebung  verlangt  zunächst  eine  intellektuelle 
Entscheidung  und  wendet  sich  in  erster  Linie  an  die  Vernunft.  Aus  den 
Ergebnissen    kann    so  viel  gefolgert  werden,   daß  die  jugendliche  Einsicht 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  97 

richtig  geschult  und  auf  das  Gute,  Wahre  und  Schöne  gelenkt  wurde.  Wenn 
Kerschensteiner  für  die  Aufgabe  der  öffentlichen  Schule  die  Pflege  der  Ideale 
der  BerufserfüUung,  der  Ideale  der  Versittlichung  der  Berufsbildung  und  der 
Ideale  der  Versittlichung  des  Gemeinwesens  erklärt  hat,  so  scheinen  uns 
die  Lehrerbildungsanstalten  als  höhere  Fachschulen  ihre  Aufgabe  richtig  an- 
gepackt zu  haben  und  der  Vorwm^  vereinseitigender  Gelehrtenbildung  kann 
ihnen  nicht  in  dem  Grade  wie  den  höheren  Schulen  gemacht  werden. 

In  den  Tabellen  der  Begründungen  aus  den  Volksschuluntersuchungen  liegt 
wertvolles  Material  zur  Feststellung  der  geistigen  und  sitthchen  Entwicklung 
unserer  Jugendlichen  vor.  In  der  folgenden  Übersicht  sind  die  Ergebnisse 
von  Goddard,  Rey.  I  und  Richter  angeführt,  wobei  nur  die  auf  die  männhchen 
Vpn.  sich  beziehenden  Zahlen  ausgewählt  wurden. 


Gründe  i     Goddard  Rey.  I      i      Richter 


Gut,  gütig [i  20  i          31  8 

Charaktereigenschaften h  30  |          32  |  27 

Macht  haben,  Dinge  zu  tun j  6  15  16 

Intellektuelle  und  künstlerische    .     .     .     .  '  2  6  •  12 

Materieller  Besitz |  14  4  |  19 

Äußere  Bedingung  der  Erscheinung  .    .     .  \  7  6  i  C 

Die  norwegischen  Volksschulkinder  zeichnen  sich  danach  besonders  aus 
durch  das  geringe  Verlangen  nach  materiellem  Besitz  und  den  hervorstechen- 
den Zug  der  Güte  und  des  Wohlwollens.  In  zwei  Motivgruppen  lassen  sich 
die  Volksschülerbegründungen  \ielleicht  zusammenfassen:  äußere,  materielle 
und  innere,  sittlich-ideelle  Gründe.    Danach  zeigt  sich: 


Gründe 

!    Goddard 

Rey.  I 

Richter 

Materielle    .... 
Sittlich-ideelle     .     . 

.     .    ll          27 
.     .    II          52 

25 
69 

41 

47 

Daß  die  Volksschüler  die  Hälfte  ihrer  Begiündungen  aus  dem  sittlich-idealen 
Gebiet  entnehmen,  mag  ein  Beweis  für  die  idealbildende  Wirkung  des  Unter- 
richts sein.  Immerhin  fällt  der  hohe  Prozentsatz  der  ethischen  Begründungen 
auf,  und  künftige  Untersuchungen  müssen  uns  genauer  nachweisen,  welche 
Einzeizüge  in  der  Sammelgruppe  „Charaktereigenschaften"  untergebracht 
wurden.  Auch  die  „Macht,  Dinge  zu  tun"  verlangt  eine  Scheidung  nach 
den  Richtungen,  ob  diese  Macht  materiell  oder  ideell  ausgenützt  werden  soll. 

Gegenüber  den  Volksschülern  fällt  bei  unseren  Jugendlichen  in  erster  Linie 
das  starke  Zurückweichen  äußerer,  lebenspraktischer  Gründe,  welche  bei  Rey.  II 
unter  „Ehre  und  Ruhm"  mit  dem  Werte  3  und  bei  uns  mit  70/0  auftreten. 
Die  intellektuell-künstlerischen  Gründe  weisen  bei  den  Seminaristen  gegen- 
über den  schwankenden  Werten  der  Volksschüler  eine  Mehrung  auf,  obwohl 
sich  für  erstere  auch  recht  verschiedene  Werte  (19  bei  Rey.  gegen  8  bei  uns) 
ergaben.  Die  sitthchen  Gründe  scheinen  auf  beiden  auseinanderUegenden 
Stufen  der  Jugendentwicklung  in  ungefähr  gleicher  Stärke  für  die  Wahl  der 
Ideale  bestimmend  zu  sein,  wobei  die  der  Jugendlichen  mehr  Mannigfaltigkeit 
der  Eigenschaften,   mehr  Tiefe   und  Geschlossenheit  aufzeigen.     Stellen  wir 

Zeitaciirift  f.  pädagog.  Psychologie.  7 


98 


Michael  Kesselring 


Tab.  3.     Tafel  der  Begründungen  (berechnet  auf  Nennungen). 


Ethische  Gründe  .  .  . 
allgemein  formal     .     .     . 

Kraft  und  Konsequenz 

Beharrlichkeit      .     .     . 

Mut  und  Tapferkeit  . 
allgemein  material      .    . 

Wahrheit,  Offenheit    . 

Gerechtigkeit  .... 

Gemüt 

Liebe  und  Treue     .     . 

Wohlwollen  und  Fürsorge 

Berufserfüllung    .... 


4,5 


7,9 
2,9 
4,4 
5,0 
2,5 
2,5 
2,3 
6,4 
5,0 


1,2 
4,4 
6,2 
5,3 
2,9 
5,6 
5,3 
2,6 
1,8 
4,4 
6,5 
5,6 


24 

3,1 

15 

2,0 

64 

8,2 

23,1 

53 

6,8 

1 

23 

3,0 

38 

5,0 

40 

5,1 

20 

2,6 

17 
25 

2,2 
3,3 

29,7 

50 

6,4 

41 

5.1 

>52,J 


Lebenspraktische  Gründe 
Gesellschaftliche  Vorzüge 
Anerkennung  und  Erfolg 
Natur  und  Heimat  .     .     . 
Gesundheit,  Reisen,  Sport 
Lebensgenuß 


58  j7,5 
15  1,9 
20  2,6 
27  3,6 
6  0,7 


\  16,2 


Nationale  Gründe 
Kriegerisch  .     . 
politisch  .     .     . 
sozial   .... 
vaterländisch  . 


10 


16    13 


39 


8,9 


16 


23 


6,8 


62 


8,0 


8,0 


Intellektuell 

Selbständigkeit  und  Freiheit 
Geistesgröße,  umfangreiches 

Wissen 

guter  Unterricht  der  Lehrer 


10 


Künstlerisch 

Dichtung.     .    .     . 

Musik 

bildende  Künste. 


14 


12 


35 


7,9 


18 


5,3 


53 


11,3 


6,8 


Religiös 


10 


2,3 


2,0 


17 


2,2 


2,2 


Bewunderung. 


1,6 


Wünsche 


0,2 


1,2 


12 


1,4 


2,0 


0,9 


L  Klasse 


164134140 


438 


II.  Kl 

1691168 


33" 


% 


o 


aber  bei  den  Jugendlichen  alle  ideellen  Gründe  zusammen,  so  zeigt  sich  klar 
der  bedeutende  Entwicklungsaufstieg  vom  Knaben-  zum  höheren  Jugendalter; 
stellen  sich  dann  doch   neben  den  durchschnittlichen  Volksschulwert  56  bei 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  99 


Rey.  n  ein  solcher  von  97  und  bei  uns  ein  solcher  von  78,  der  sich  bei 
Berechnung  ohne  Rücksicht  auf  die  Nichtbeantw-ortungen  und  unbegründeten 
Antworten  auf  93  0  o  erhöht.  So  zeigt  sich  also  ein  klarer  Entwicklungsgang 
von  der  Schätzung  äußerer  materieller  Güter  hin  zu  den  objektiven  Werten 
nationaler,  intellektueller,  künstlerischer,  religiöser  und  ethischer  Art. 

Vergleich  der  beiden  Berechnungsarten. 

Die  geringe  Anführung  materieller  Gründe  gegenüber  den  Volksschulknaben 
mußte  bei  den  Jugendlichen  stark  auffallen.  Bei  Berechnung  auf  die  Gesamt- 
zahl der  Einzelgründe  fällt  eine  viel  größere  Nennungszahl  lebenspraktischer 
Gründe  auf;  natürlich  treten  dieselben  gegenüber  den  Volksschülerbegrün- 
dungen in  verfeinerter  Weise  auf,  so  durch  den  Hinweis  auf  Gesundheit, 
Körperpflege,  leibliche  Schönheit,  Gewandtheit  oder  durch  das  Hervorbrechen 
der  Natur-  und  Heimatliebe  und  Behaglichkeit,  der  Neigimg  zu  Reisen,  durch 
das  Verlangen  nach  Anerkennung  und  Erfolg  und  nach  gesellschaftlicher 
Gewandtheit.  Nach  der  Berechnung  auf  Vpn.  fanden  sich  7^0  Stimmen  für 
diese  Gruppe,  nach  der  Nennungsmethode  dagegen  16,20'o.  Als  Idealpersonen 
werden  solche  mit  nur  gesellschaftlicher  Sicherheit  und  gutem  Benehmen,  mit 
Berufserfolg  und  -glück,  werden  Lebensgenießer  kaum  genannt;  in  den  Be- 
gründungen bei  Aufführung  der  Einzelzüge  aber  bricht  der  Sinn  für  solche 
äußeren  Güter  durch;  damit  \vird  wohl  die  Moti\ierung  zugleich  echter  und 
der  Jünglingsent«'icklung  entsprechend.  Nach  unserer  1.  Berechnung  könnte 
man  glauben,  daß  die  Schüler  der  2.  Klasse  gar  kein  Interesse  z.  B.  an  ge- 
sellschaftlichen Vorzügen  besitzen,  wogegen  sich  aber  nach  der  2.  Berechnung 
eine  Vorliebe  dafür  mit  8^  o  ergibt. 

Die  ethischen  Gründe  insgesamt  sind  wenig  zurückgegangen  mit  53  ^  0  gegen 
58^  0  bei  der  1.  Berechnung.  Jedoch  das  Verhältnis  der  ethischen  zu  den 
lebenspraktischen  Begründungen,  nach  der  Vpn.-Berechnung  9:1,  hat  sich 
sich  jetzt  wesentlich  verschoben,  etwa  7  :  2.  Beim  Vergleich  mit  Rey,  II  fiel 
besonders  die  geringere  Anführung  von  intellektuellen  Motivierungen  in  die 
Augen,  welche  Erscheinung  sich  jetzt  ziemlich  ausgleicht,  da  den  norwegischen 
130  0  nun  11 0/0  sich  an  die  Seite  stellen.  Auch  die  religiösen  Begründungen 
zeigen  eine  schwache  Zunahme  von  1,0^  0  auf  2,2°  0,  Gründe  mehr  künstlerischer 
Natur  stellen  sich  nach  beiden  Methoden  in  ungefähr  gleiche  Höhe,  wobei 
auf  Musik  die  doppelte  Zahl    der  Nennungen   fällt    wie    bei    der    Dichtung. 

Beim  Blick  auf  Untergruppen  unserer  Begründungstafel  ist  festzustellen,  daß 
die  Tugend  des  Wohlwollens  und  der  Fürsorge  nach  der  Nennungsmethode 
auch  bei  den  deutschen  Jugendlichen  etwas  höher  in  der  Schätzung  steht, 
so  daß  wir  unter  Einbeziehung  der  Gruppe  „Liebe  und  Treue"  dem  Rey.schen 
Werte  8  jetzt  9^  0  gegenüberstellen  können.  Das  Verhältnis  der  material- 
ethischen zur  formal- ethischen  Motivierung  blieb  sich  v.ohl  gleich  (auf  Vpn. 
240'o  —  180  0,  auf  Ang.  29 0/0 —  20ö  0);  aber  bemerkenswert  mag  es  immerhin 
erscheinen,  daß  kein  einzelner  der  ethischen  Züge  einen  solchen  Prozentsatz 
von  8,2  aufweist  wie  die  Kraft  und  Konsequenz ;  auch  überwiegt  die  Zahl  der 
Gruppe  „Beharrlichkeit"  um  ein  geringes  noch  die  des  Wohlwollens.  Die 
Forderung  nach  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  stellt  sich  nach  der  2.  Berech- 
nung mit  mehr  Entschiedenheit  heraus ;  finden  wir  doch  vorher  nur  den  Wert 
0,4,  jetzt  aber  5,1  und  2,6.  Dies  mag  den  Erziehern  der  Jugendlichen  zeigen, 
welch  großer  Sinn  und  feines  Empfinden  für  Gerechtigkeit  und  Wahrheit  bei 


100  Michael  Kesselring 


diesen  vorhanden  ist  (vgl.  auch  einige  Begründungen  für  die  Wahl  von  Lehrer- 
idealen !).  Das  Streben  nach  Berufserfüllung  hat  unter  den  ethischen  Gründen 
immer  noch  hohen  Kurswert,  ist  aber  gegenüber  der  1.  Berechnung  nicht 
mehr  so  hervorstechend. 

Nach  den  beiden  eingeschlagenen  Berechnungsraethoden  der  Begründungen 
ergibt  sich  also  ein  etwas  verschiedenes  Bild  der  Ergebnisse.  Bezüglich  der 
Gründe  künstlerischer,  nationaler,  auch  ethischer  Art  erblicken  wir  ungefähr  die 
gleichen  Verhältnisse ;  dagegen  ergibt  sich  für  die  Begründungen  lebensprak- 
tischer und  intellektueller  Art  eine  merkbare  Verschiebung.  Nach  der  Berechnung 
auf  Nennungen  gewinnt  die  geschlossene  fast  ernste  Lebensauffassung,  welche 
nach  der  Berechnung  auf  Vpn.  für  unsere  Jugendlichen  auffiel,  einige  mildere 
Züge,  indem  sich  damit  einige  Schwächen  des  Wertmaßstabes  im  Jünglings- 
alter deutlicher  herausheben.  Das  Gesamtbild  der  jugendlichen  Seelenver- 
fassung nähert  sich  nach  unserer  2.  Berechnung  dem  von  der  allgemeinen 
Seelenkunde  für  das  Jünglingsalter  entworfenen. 

Nach  unserem  bisher  alleinstehenden  Versuch  soll  keine  Entscheidung 
für  oder  gegen  die  eine  Berechnungsmethode  getroffen  werden.  Die  Ergebnis- 
reihen beider  Methoden  werden  zusammenzuhalten  sein  und  die  mittleren 
Werte  aus  ihnen  dürften  das  treueste,  objektivste  Bild  solcher  Untersuchungen 
für  die  Jugendkunde  ergeben.  Wenn  hohe  Gesichtspunktfrequenzen  für  die 
Begründungen  vorliegen,  muß  aber  unbedingt  deren  Berechnung  auf  die 
Gesamtzahl  der  Einzelangaben  erfolgen. 

Unterschiede  innerhalb  der  beiden  Klassen  (vgl.  hierzu  Tabelle  3!). 

Schon  bei  der  Tabelle  der  Berechnung  auf  Vpn.  zeigte  sich  bei  Erkundung 
in  nur  einem  Versuchsjahr  die  Möglichkeit  des  Ausfallens  der  einen  oder 
anderen  Gruppe,  z.  B.  2.  Klasse  2.  Jahr,  Wohlwollen  und  Füreorge  oder  in- 
tellektuelle und  religiöse  Ideale.  Bei  der  neuen  Rechnungsweise  scheint  diese 
Gefahr  kleiner,  wenn  die  Zahl  der  Vpn.  nicht  gai-  zu  gering  ist;  doch  fehlen 
hier  z.  B.  im  3.  Jahre  für  die  1.  Klasse  religiöse  Begründungen  und  bei  der 
2.  Klasse  ethisch-formale  Züge,  allgemein  ausgedrückt.  Aus  der  1.  Klasse 
sind  merkliche  Schwankungen  kaum  hervorzuheben,  höchstens  im  1.  Jahre 
die  häufigere  Nennung  der  gesellschafthchen  Vorzüge  und  im  2.  Jahre  eine 
solche  der  Berufserfüllung.  Auch  die  Nennungstabelle  für  die  2.  Klasse  zeigt 
wenig  wesentliche  Veränderungen;  doch  ergeben  sich  im  1.  Jahr  mehr  An- 
gaben für  das  Wohlwollen,  im  2.  Jahr  mehr  für  Berufserfüllung.  Lebens- 
praktische Gründe  führten  die  Vpn.  des  2.  Jahres  viel  mehr  als  die  des  1.  auf, 
während  nationale  Eigenschaften  bei  den  Vpn.  des  1.  Jahres  mehr  zur  Nach- 
eiferung als  im  2.  anregten. 

Vergleich  der  1.  und  2.  Klasse. 

Keine  nennenswerten  Unterschiede  finden  sich  bezüglich  der  ethischen 
Begründungen,  wie  wir  aus  gegenübergestellten  Zahlen  erkennen:  formal 
20,6  —  18,8,  material  28,1  —  31,8,  überhaupt  53,2  —  51,8.  Auch  hinsichtiich 
der  Wahl  religiöser  und  intellektueller  Gründe,  der  künstlerischen  und  Be- 
wunderungsmotive ergibt  sich  das  gleiche  Bild.  Bei  den  intellektuellen  Be- 
gründungen schätzen  beide  Klassen  die  Größe  und  den  Umfang  des  Wissens, 
die  Gelehrsamkeit  höher  ein  als  die  formale  geistige  Bildung.     Hinsichtlich 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  101 


der  äußeren  lebenspraktischen  Begründungen  fällt  die  stärkere  Nennung  durch 
die  2.  Klasse  auf  (190/o  gegen  130  o),  wobei  die  stärker  hervortretende  Natur- 
und  Heimatliebe  mitwirkt,  sich  zugleich  aber  auch  der  Blick  für  den  baldigen 
Schritt  ins  Leben  und  die  Berufsaufgabe  mit  geltend  macht,  so  daß  ein  Ver- 
langen nach  gesellschaftlichen  Vorzügen,  nach  Erfolg  und  Anerkennung  rege 
geworden  sein  kann.  —  National  betonte  Gründe  weist  die  1.  Klasse  etwas 
mehr  als  die  2.  Klasse  auf.  Der  Ertrag  der  nationalen  Beeinflussung  unseres 
Unterrichts  stellt  sich  damit  gar  nicht  als  so  umfangreich  heraus  als  gemein- 
hin angenommen  wird.  Bei  den  norwegischen  jungen  Männern  zeigten  sich 
200/0  nationaler  Motivierungen,  bei  uns  nur  7,6  und  früher  sahen  wir  schon, 
daß  hinsichtlich  der  historischen  Persönlichkeiten  in  Norwegen  30  ^o  als  Ideale 
vorschweben  (90/o  des  eigenen  Landes  und  21^/0  fremder  Länder)  und  bei 
uns  sich  niu*  15,80/0  ergaben  (14,7 o/o  des  eigenen  Landes,  lO;o  fremder  Länder). 
Damit  sind  wir  weit  entfernt  von  einem  „Kultus  vaterländischer  Erinnerungen" 
und  es  darf  wohl  hervorgehoben  werden,  daß  gerade  der  Geschichtsunterricht 
im  höheren  Jugendalter  sich  eines  vornehmen  Erziehungsmittels  der  Per- 
sönlichkeits- und  Charakterbildung  begibt,  wenn  er  nicht  lebensvolle  Bilder 
der  großen  historischen  Persönlichkeiten  in  fruchtbringender  Weise  zu  ge- 
stalten versteht.  Der  pragmatischen  Geschichtsauffassung  und  anderen  Forde- 
rungen der  Geschichtswissenschaft  und  -methodik  geschieht  dabei  sicherlich 
kein  Abbruch ;  dazu  aber  sollte  berücksichtigt  werden,  daß  das  Jünglingsalter 
die  Zeit  der  hohen  Gedanken  und  Begeisterungsfähigkeit  für  Ehre  und  Frei- 
heit, Volk  und  Vaterland,  Menschheit  und  Gottheit  ist! 

In  kurzer  Übersicht  wollen  wir  noch  das  Verhältnis  der  ethischen  zu  den 
kulturell-geistigen  und  lebenspraktischen  Begründungen  nach  den  beiden  Metho- 
den aufzeigen :  -  ,-        __ 

^  auf  Vpn.  58  :  15  :     6 

auf  Ang.  53  :  28  :  16 

Endlich  sei  noch  der  Altersdifferenz  unserer  beiden  Klassen  eine  kurze 
Erörterung  gewidmet.  Nach  der  Tabelle  II  finden  sich  in  der  höheren  Klasse 
mehr  ethische  Begründungen,  auch  solche  auf  Berufserfüllung  gerichtete,  während 
eine  geringere  Zahl  lebenspraktischer  Motive  und  die  Nichtnennung  gesell- 
schafthcher  Vorzüge  auffiel.  Nach  Tabelle  III  ergeben  sich  kaum  bemerkbare 
Unterschiede  zwischen  den  Klassenergebnissen,  und  auch  die  in  Tabelle  HI 
hervorgetretenen  Sonderzüge  der  Vpn.  der  2.  Klasse  sind  zurückgetreten  und 
im  einzelnen  sogar  stärker  vertreten  als  bei  der  1.  Klasse,  so  daß  die  Nennungs- 
methode hier  ausgleichende  Wirkung  zeigt.  Für  unsere  Vpn.  ergibt  sich  somit 
kein  Moment  bei  der  Stellungnahme  zu  den  Idealen,  welches  charakteristische 
Alters-  und  Klassendifferenzen  aufzeigt,  und  wir  dürfen  für  das  Jugendalter  vom 
17.—  20.  Lebensjahre  ein  ziemlich  gleichbleibendes  Verhalten  ohne  besondere 
Entwicklungsunterschiede  annehmen,  urasomehr  als  sich  auch  Unterschiede,  die 
durch  die  verschiedenen  Klassenziele  bedingt  sind,  ausgleichen. 

Zusammenfassung. 

a)  allgemein-methodische  Ergebnisse. 

1.  An  der  Möglichkeit  der  Durchführung  von  Idealforschungen 
nach  der  Ausfragemethode  ist  nicht  mehr  zu  zweifeln,  da  immer  wieder  solche 
Erhebungen  in  größerem  Maßstabe  mit  Erfolg  durchgeführt  werden  und  sich 


102  Michael  Kesselring 


dabei  typische  Ergebnisse  herausstellen.  Diese  zeigen  bezüglich  der  Volks- 
schülerbefragungen verschiedener  Länder  große  Übereinstimmung  in  den  Haupt- 
linien, und  selbst  die  wenig  umfangreichen  Untersuchungen  über  die  Ideale 
Jugendhcher  liefern  ein  in  den  Hauptzügen  ähnliches  Bild.  Auch  theoretische 
Überlegungen  über  den  zugrunde  liegenden  seelischen  Tatbestand  für  die 
Stellungnahme  und  Bekenntnisse  der  Vpn.  ergeben  die  Berechtigung  solcher 
Experimente,  sodaß  also  die  experimentelle  pädagogisch-psychologische  For- 
schung Vertrauen  zu  solchen  Untersuchungen  und  ihren  Ergebnissen  haben 
kann  und  eine  brauchbare  Methode  für  ihren  jugendkundlichen  Forschungs- 
kreis darin  zu  erblicken  hat. 

2.  Zur  Verbesserung  und  Verfeinerung  der  Methode  wird  es  bei- 
tragen, wenn  zunächst  zur  Ausschaltung  von  zufälligen  Einflüssen,  insbesondere 
solchen  zeitlich  bedingter  Art  wiederholte  Befragungen  in  jährlichen 
Abständen  vorgenommen  werden.  Dazu  hat  bezüglich  der  Begründungen 
eine  doppelte  Berechnung  einzutreten  a)  auf  die  Zahl  der  Vpn.,  b)  auf  die 
Zahl  der  Begründungsangaben  überhaupt,  da  erst  ein  Zusammenschauen  der 
Ergebnisse  beider  Reihen  ein  objektives  Bild  ermöglicht. 

3.  Da  im  höheren  Jugendalter  stets  eine  geringere  Zahl  von  Vpn.  aus 
den  einzelnen  Schulgattungen  zur  Verfügung  stehen  wird,  sind  unbedingt 
mehrere  Befragungen  der  einzelnen  Alters-  und  Klassenstufen  in  mehreren 
aufeinanderfolgenden  Jahren  erforderlich.  Die  ohnehin  größere  Zuverlässig- 
keit der  Aussagen  im  höheren  Jugendalter  läßt  sich  vielleicht  noch  dadurch 
steigern,  daß  solchen  Vpn,  kurz  Einsicht  in  die  Bedeutung  solcher  Unter- 
suchungen gegeben  wird. 

b)  Jugendkundlich-pädagogische  Ergebnisse. 

1.  Der  Anteil  der  Gedankenwelt  des  Unterrichts  als  Quelle  der  Ideale 
ist  ein  ganz  bedeutender.  Sowohl  nach  der  Pers9nen-  als  nach  der  Begrün- 
dungstabelle sind  zirka  80 O/o  der  Vorbider  dem  Bildungsgut  der  Schule  ent- 
nommen (bei  Key.  II  sogar  950/o),  so  daß  der  in  Frage  stehenden  Schulart 
idealbildende  Kraft  nicht  abgesprochen  werden  kann.  Von  den  Fächern  haben 
als  Quelle  der  Ideale  besonders  zu  gelten:  Weltgeschichte,  Muttersprache  und 
Literaturgeschichte,  Erziehungslehre  und  Geschichte  der  Pädagogik,  wozu  noch 
die  im  Unterricht  angeregte  Lektüre  überhaupt  tritt. 

2.  Die  Bekanntenideale  sind  bei  uns  mit  180/0  (Key.  II  nur  5 o/o)  vertreten. 
Unter  diesen  Vorbildern  zeigt  sich  gegenüber  allen  bisherigen  Untersuchungen 
besonders  auffallend  der  idealbildende  Einfluß  von  Lehrerpersönlichkeiten 
mit  12,40/0.  Darin  bekundet  sich  die  hohe  Bedeutung  und  der  tiefgehende 
Einfluß  der  LehrerpersönUchkeit  in  Erziehung  und  Unterricht  besonders  in 
den  höheren  Schulen. 

Ob  sich  in  der  Entwicklung  unserer  Jugend  der  Einfluß  der  Bekannten- 
ideale im  früheren  Jugendalter  (14  — lejährige)  gegenüber  dem  Knabenalter 
am  geringsten  zeigt  und  im  höheren  Jugendalter  wieder  zunehmenden  Wert 
gewinnt,  muß  noch  entschieden  werden. 

3.  Nach  unserer  Untersuchung  wurde  für  die  Jugendlichen  (16  —20jährige) 
die  Neuaufstellung  von  freien,  selbstgebildeten  Idealbildern  und  von 
Berufsidealen  notwendig.  Erstere  machen  230/o  aller  Nennungen,  also  1/5 
aus;  letztere  treten  mit  7 0/0  in  die  Erscheinung.    Die  Gruppe  der  freien  Ideale 


Untersuchungen  über  Ideale  im  höheren  Jugendalter  103 


scheint  uns  einen  wichtigeren  ergänzenden  Beitrag  zur  Psychologie  des  Jugend- 
lichen zu  hefem,  wobei  nur  die  Strebe-Ideale  nach  Berufserfüllung  mit  10,6^0 
erwähnt  seien.  Gegenüber  den  norw^egisehen  Jugendlichen  ist  damit  zugleich 
eine  frühere  Reife  unserer  Vpn.  festgestellt.  Hinsichtlich  der  Entwicklung 
des  Jugendalters  zeigt  sich  ein  natürlicher  Aufstieg  von  persönhchen  Vor- 
bildern aus  zu  unpersönlichen,  objektiven  Werten  hin  und  der  häufige  An- 
schluß allgemeiner  Musterbilder  an  lebende  oder  geschichthche  Persönlichkeiten 
läßt  zugleich  auf  eine  gesunde  Entwicklung  der  Gedanken-  und  Ideenwelt 
der  befragten  Jünglinge  schließen. 

4.  Große  Dichter  und  Schriftsteller  tragen  ungefähr  in  gleicher  Weise 
wie  hervorragende  geschichtliche  Persönlichkeiten  zur  Idealbil- 
dung bei. 

5.  Die  beeinflussende  Wirkung  der  Lektüre  ist  noch  nicht  eindeutig 
festgestellt;  unseren  Gestalten  aus  Dichtung  und  Sage  mit  9^0  entsprechen 
bei  Rey.  II  nur  lO/o. 

6.  Für  die  Erziehung  ergibt  sich  somit,  daß  als  Hauptquellen  für  die 
Wahl  von  Idealen  Personen  des  realen  Umganges  auch  im  höheren  Jugend- 
alter noch  von  Bedeutung  sind,  jedoch  in  weitaus  größerem  Maße  Personen 
des  ideellen  Umganges.  Letztere  Erscheinung  mag  die  Lehrer  in  Religion, 
Weltgeschichte,  Literaturgeschichte,  im  Pädagogik-  und  muttersprachüchen 
Unterricht,  sowie  die  Leiter  von  Schülerbibliotheken  darauf  hinweisen,  welch 
hohe  Mission  sie  im  Dienst  der  werdenden  PersönUchkeit  zu  erfüllen  haben. 

7.  Aus  der  Betrachtung  der  Begründungen  folgt,  daß  rein  ethische 
Vorzüge  am  höchsten  geschätzt  und  gestellt  werden.  Bei  Berechnung  auf 
Vpn.  und  auf  Angaben  zeigten  sich  bei  uns  die  Werte  630/0  bzw.  50^,  o,  worin 
wir  mit  der  norwegischen  Untersuchung  eine  ziemlich  genaue  Übereinstimmung 
erblicken  können.  Die  material-ethischen  Hinweise  überwiegen  dabei  die 
ethisch-formalen;  doch  treten  Gründe  letzterer  Art  im  Verhältnis  zu  den  in- 
haltlichen Charaktereigenschaften  in  verhältnismäßig  hoher  Zahl  auf. 

8.  Begründungen  religiöser  Art  finden  sich  bei  uns  nur  mit  2^0  aufgeführt, 
während  sie  bei  Rey.  II  mit  19  ^jo  hervortreten.  Damit  bestätigt  sich  wieder 
die  gleiche  Erscheinung  wie  bei  den  Volksschulkindem,  daß  menschliches  Bei- 
spiel \iel  unmittelbarer  und  nachhaltiger  auf  das  sittliche  Hoffen  und  Wünschen 
der  Jugend  wirken  dürfte  als  religiöse  Belehrung.  (Das  religiöse  Interesse  unserer 
JugendUchen  ist  jedoch  ein  sehr  tiefgehendes  und  reges,  wie  uns  Material 
über  die  Probleme,  welche  Geist  und  Gemüt  unserer  Vpn.  bewegen,  beweisen 
konnte ;  der  idealbildende  Einfluß  selbst  scheint  ein  ganz  auffallend  geringer 
zu  sein.) 

9.  Von  den  künstlerischen  Eigenschaften  erfährt  musikalisches  Können 
höhere  Schätzung  als  Schriftstellern  und  Dichten,  was  sich  z.  T.  aus  der  stark 
betonten  Pflege  der  Musik  in  den  Lehrerbildungsanstalten  erklärt. 

10.  Der  Sinn  für  das  Nationale  scheint  nicht  besonders  stark  entwickelt, 
da  er  mit  einem  Werte  von  S^/o  nicht  weiter  auffallen  kann. 

11.  Reine  Geisteseigenschaften  werden  mit  lli/20'o  höher  gewertet 
als  künstlerische  Eigenschaften  mit  7  O/o.  Die  Schätzung  materialer  Bildung 
steht  höher  als  die  der  formalen,  obwohl  in  Einzelzeugnissen  die  geistige 
Selbständigkeit  und  Freiheit  oft  sehr  impulsiv  gerühmt  wird. 


104  William  Stern 


Die  Erlernung  und  Beherrschung  fremder  Sprachen. 

Eine  Besprechung  von  William  Stern. 

Bei  der  großen  Rolle,  die  der  fremdsprachliche  Unterricht  in  unserem 
Schulwesen  spielt,  erscheint  es  fast  unbegreiflich,  daß  die  pädagogische 
Psychologie  unserer  Zeit  diesen  Gegenstand  so  sehr  vernachlässigt  hat.  Woh 
arbeiten  die  Schulreformbestrebungen  auf  sprachdidaktischem  Gebiet  fast 
alle  mit  psychologischen  Gesichtspunkten  und  Ausdrücken;  aber  an  einer 
wissenschaftlichen  Analyse  mit  Hilfe  psychologischer  Methoden  fehlt  es  so 
gut  wie  ganzi),  und  die  Psychologen  selbst  haben  dieses  Problem  —  von 
unbedeutenden  Ausnahmen  abgesehen  —  leider  noch  unbeachtet  gelassen. 
So  ist  es  bezeichnend,  daß  von  den  2400  Seiten  der  Meumannschen  „Vor- 
lesungen" nur  9  den  Methoden  des  Sprachunterrichts  gewidmet  sind.  Die 
ausführlichste  psychologische  Abhandlung  des  Gegenstandes  in  deutscher 
Sprache  ist  das  1915  erschienene  Buch  von  Rektor  H.  Kappert:  „Psycho- 
logische Grundlagen  des  neusprachlichen  Unterrichts"  2) ;  aber  auch  hier 
handelt  es  sich  mehr  um  eine  theoretische  Konstruktion  der  beim  Sprach- 
unterricht mitspielenden  seehschen  Faktoren,  als  um  eine  wirklich  empirische 
Erforschung  des  Tatbestandes  und  seiner  einzelnen  Bedingungen.  Was  an 
experimentell-psychologischen  Untersuchungen  vorliegt,  bezieht  sich  fast  aus- 
scMießlich  auf  das  Erlernen  von  Vokabeln  (Peterson,  Schuyten,  Netschajeff, 
Luise  Schlüter)  und  ist,  wie  Kapper  mit  Recht  bemerkt,  noch  nicht  geeignet, 
eine  wirkliche  Grundlage  für  die  wichtigen  didaktischen  Fragen  zu  liefern. 

Nun  liegt  ein  aus  der  französischen  Schweiz  stammendes  Buch  von  I.  Epstein 
über  „das  Denken  und  die  Vielsprachigkeit"  vor,  auf  das  ich  die  Aufmerk- 
samkeit der  deutschen  Psychologen  und  Pädagogen  lenken  möchte.  3)  Es 
stützt  sich  zwar  auch  nicht  in  erster  Linie  auf  die  psychologische  Erforschung 
des  Fremdsprachen  lernenden  Schülers,  zieht  aber  sehr  bemerkenswerte  und 
auch  für  die  Didaktik  wichtige  Folgerungen  aus  einem  empirischen  Material 
anderer  Art,  nämlich  aus  dem  sprachlichen  Verhalten  vielsprachiger  Er- 
wachsener. Der  Verfasser  hatte  in  Lausanne  Gelegenheit,  mit  zahlreichen 
Persönlichkeiten  zu  verkehren,  die  außer  ihrer  Muttersprache  eine  oder 
mehrere  Fremdsprachen  gut  beherrschten :  es  waren  dies  größtenteils  jüdische 
Studierende,  welche  neben  ihrer  Muttersprache  den  jüdisch-deutschen  Jargon, 
Hebräisch,  Französisch,  Deutsch,  Russisch  konnten,  femer  schweizerische 
Gelehrte,  wie  Forel  und  andere.  An  diesen  machte  er  Beobachtungen  und 
erzielte  von  ihnen  Beantwortungen  eines  Fragebogens.  (Daneben  hat  E.  auch 
einige  experimentelle  Untersuchungen  an  Schulkindern  über  das  Erlernen 
von  Vokabeln  angestellt.) 

Der  Verfasser  beginnt  mit  der  Feststellung  der  Tatsache,  daß  bei  einem 
Vielsprachigen  die  einzelne  fremde  Sprache  (F  Sp.)  eine  gewisse  Autonomie 

')  Der  Hauptgrund  für  diese  Vernachlässigung  ist  wohl  darin  zu  sehen,  daß  die  höhere 
Lehrerschaft  (die  ja  in  erster  Linie  am  fremdsprachlichen  Unterricht  interessiert  ist)  so  wenig 
Teilnahme  für  die  moderne  Jugendpsychologie  bekundet  hat. 

2)  Pädagogische  Monographien,  herausgegeben  von  Meumann,  Bd.  15,  Lpzg.  Nemnich  1915. 
Mit  Literaturverzeichnis. 

^  Izhac  Epstein.  La  Pensee  et  la  Polyglossie.  Essai  psychol.  et  didactique.  Lausanne, 
Librairie  Payot  et  Cie.  216  S.  1918. 


Die  Erlernung  und  Beherrschung  fremder  Sprachen  105 


besitzen  kann,  d.  h.  nicht  erst  auf  dem  Wege  der  Übersetzung  in  die  Mutter- 
sprache (M  Sp.)  verstanden  und  angewandt  wird.  Der  Sprecher  assoziiert 
unmittelbar  das  FSp.-Wort  mit  dem  Gedanken,  er  „denkt"  in  der  FSp.  Dies 
gilt  in  höherem  Maße  von  der  sprachlichen  Rezeption  (dem  Hören,  Lesen, 
Verstehen),  als  von  der  sprachlichen  Aktion  (dem  Seibst-Sprechen  oder 
Schreiben),  weil  hier  bei  dem  Suchen  nach  dem  zum  Gedanken  passenden 
Ausdruck  das  geläufigere  Wort  der  MSp.  sich  vordrängt  und  dann  erst  das 
FSp.-Wort  auf  dem  Wege  der  Übersetzung  herbeiführt.  Die  Scheidung  dieser 
beiden  Sprachphasen,  der  „impressiven"  (Eindrucks-)  Phase  und  der  „ex- 
pressiven" (Ausdrucks-)  Phase  spielt  bei  E.  überhaupt  eine  große  Rolle. 

Diese  Autonomie  einer  Fremdsprache  kann  sich  auch  in  der  „inneren 
Sprachform",  also  dem  stummen  Sprechdenken,  bekunden.  Der  Vielsprachige 
überrascht  sich  selbst  dabei,  daß  sich  ohne  Absicht  und  Willkür  sein  Vor- 
stellen und  Denken,  sein  Träumen  und  Phantasieren  in  einer  FSp.  vollzieht, 
ohne  daß  irgendwelche  sonst  so  geläufige  Sprachgebilde  der  MSp.  auch  nur 
von  fern  auftauchten.  Folgende  Bedingungen  begünstigen  dies  spontane 
Denken  in  der  FSp.:  1.  Die  Vorstellung  einer  Umgebung,  in  der  jene  Sprache 
gesprochen  wird,  oder  von  Menschen,  welche  sie  sprechen.  2.  Das  gedank- 
liche Verweilen  bei  einem  Spezialgebiet,  welches  man  in  der  FSp.  aufge- 
nommen hat  (wer  als  Fremder  auf  einer  deutschen  Universität  eine  bestimmte 
Wissenschaft  studiert  hat,  wird  leicht  bei  der  Beschäftigung  mit  dieser  Wissen- 
schaft in  deutscher  Sprache  denken).  3.  Die  Nachwirkung  einer  länger 
fortgesetzten  Lektüre  oder  Unterhaltung  in  der  FSp. 

Diese  Bedingungen,  welche  das  Verweilen  in  einer  FSp.  begünstigen,  wirken 
zugleich  ungünstig  auf  die  Verwendung  einer  anderen  Sprache  (zuweilen 
sogar  der  Muttersprache);  und  so  begegnen  wir  hier  zum  ersten  Male  dem 
sehr  wichtigen  Begriff  der  gegenseitigen  Interferenz  oder  Hemmung 
verschiedener  Sprachen.  Beim  plötzlichen  Übergang  aus  einer  Sprache  in 
die  andere  machen  sich  diese  Hemmungen  deutlich  bemerkbar,  ebenso,  wenn 
man  mit  jemandem  in  einer  anderen  Sprache  spricht,  als  in  der  man  sonst 
mit  ihm  verkehrt. 

Dieser  Antagonismus  der  verschiedenen  von  einer  Person  gesprochenen 
Sprachen  wird  nun  nach  verschiedenster  Richtung  analysiert.  Stets  übt  die 
Sprache,  die  im  Vordergrund  des  Bewußtseins  steht,  eine  interferierende 
Wirkung  auf  die  andere  aus,  mindestens  mit  dem  Ergebnis  einer  Verlang- 
samung des  Sprechaktes,  oft  auch  mit  dem  Ergebnis  einer  Fälschung.  Die 
Hemmungswirkungen  erstrecken  sieb:  1.  Auf  die  Aussprache.  Nicht  deswegen, 
weil  die  Muskulatur  mit  steigendem  Alter  starrer  wird,  findet  eine  steigende 
Erschwerung  in  der  Aneignung  von  Aussprachenuancen  statt,  sondern  des- 
wegen, weil  die  von  der  Muttersprache  bedingte  Einstellung  der  Sprech- 
muskulatur sich  überall  hineindrängt.  Auch  schon  die  akustische  Auffassung 
bewegt  sich  in  der  Linie  der  von  der  Muttersprache  her  geläufigen  Klang- 
weisen, man  überhört  Abweichungen  und  kann  sie  daher  auch  nicht  wieder- 
geben. 2.  Auf  EinSchiebungen  von  Wörtern  der  einen  Sprache  in  das 
Gefüge  der  anderen  (man  denke  an  das  Elsässer  Deutsch  oder  an  den  mit 
hebräischen  Worten  durchsetzten  deutsch-jüdischen  Jargon).  3.  Auf  die  ver- 
schiedenen Begriffsformulierungen:  der  Deutsche  sagt:  „Heller  Tag",  und 
ist  geneigt,  deshalb  beim  Gebrauch  des  Französischen  „clair  jour"  zu  sagen, 
w^ährend   es  „grand  jour"  heißt.     E.  bringt  gerade  hierfür  eine  große  Reihe 


106  William  Stern 


von  Beispielen,  so  z.  B.,  daß  die  Bedeutungen  von  „bouton"  und  „Knopf*  sich 
nur  zum  geringsten  Teil  decken,  in  den  weitaus  meisten  Anwendungen  aus- 
einander gehen  usw.  4.  Auf  die  verschiedenen  grammatischen  Formen 
(Beispiel:  „Kommen  Sie,  wann  sie  wollen",  aber  „venez  quand  vous 
voudrez").     5.  Auf  Gedankenverkettungen  und  Wortstellungen. 

Auf  dieser  Tatsache  der  sprachlichen  Interferenz  baut  nun  E.  seine  weiteren, 
insbesondere  auch  didaktischen  Betrachtungen  auf.  Warum  lernt  das  kleine 
Kind  so  viel  leichter  eine  fremde  Sprache  als  das  ältere  Kind  und  der  Er- 
wachsene? Nicht  weil  das  kleine  Kind,  wie  oft  behauptet  wird,  das  bessere 
Gedächtnis  habe  —  dies  ist  vielmehr  schwächer  als  in  höherem  Alter  — , 
sondern  weil  die  Verbindung  von  MSp.  und  Gedankeninhalt  noch  nicht  fest 
ist  und  daher  keine  so  stark  hemmende  Wirkung  auf  das  Sprechen  der  FSp. 
auszuüben  vermag.  Die  größere  Leichtigkeit  im  Erwerb  der  FSp.  ist  also 
eine  Funktion  der  geringeren  Beherrschung  der  MSp !  Die  Folge  ist,  daß  die 
FSp.,  wenn  sie  stark  gepflegt  wird,  in  kürzester  Zeit  die  MSp.  bis  zum  Ver- 
schwinden unterdrücken  kann  —  was  häufig  bei  Kindern,  die  in  ein  fremd- 
i  sprachiges  Land  kommen,  beobachtet  worden  ist. 

Das  Nebeneinanderbestehen  verschiedener  Sprachen  in  einem  Individuum 
ist  demnach  für  E.  im  Wesentlichen  eine  Störungserscheinung:  die  feste, 
eindeutige  und  klare  Verbindung  von  Gedanken  und  Ausdruck  in  der  MSp. 
wird  durch  die  FSp.  gehemmt,  verwirrt  und  gelockert;  andererseits  wird  die 
wirkliche  Beherrschung  der  FSp.  durch  die  andersartige  Sprachkonstellation 
der  interferierenden  MSp.  unmöglich  gemacht.  Demnach  ist  das  Erlernen 
von  Fremdsprachen  nach  E.  ein  soziales  Übel,  das  freilich  zum  Verständnis 
fremder  Kulturen  und  zum  Verkehr  mit  fremdsprachigen  Menschen  unver- 
meidUch    ist,    aber  in  seinen  Einwirkungen  möglichst  auf  ein  Mindestmaß 

(beschränkt  werden  sollte.  Daraus  ergeben  sich  für  E.  zwei  hauptsächliche 
didaktische  Folgerungen. 

Die  erste  lautet:  „polyglossie  impressive  et  monoglossie  expressive"  (Viel- 
sprachigkeit im  Aufnehmen,  Einsprachigkeit  im  Anwenden  der 
Sprache).  Da  sich  die  schädlichen  Wirkungen  der  Hemmungen  vor  allem 
auf  der  Ausdrucksseite,  beim  Selbstsprechen  und  -schreiben,  bekunden,  so 
isoll  diese  Seite  möglichst  eingeschränkt,  alles  Gewicht  dagegen  auf  die  Ein- 
/drucksseite,  das  Hören,  Lesen  und  Verstehen  gelegt  werden.  Nur  so  viel  soll 
an  expressiver  Betätigung  gelehrt  werden,  als  zur  elementarsten  praktischen 
Verständigung  nötig  ist  (wovon  auch  noch  das  Wesentlichste  dem  Aufent- 
halt im  fremden  Land  selbst  überlassen  werden  kann).  Aller  sonstige  Selbst- 
gebrauch der  FSp.:  in  Aufsätzen,  Extemporahen,  Übersetzungen  usw.  ist  zu 
unterlassen,  da  hierdurch  das  fortwährende  Dazwischenkommen  mutter- 
sprachUcher  Einstellungen  nur  eine  Fälschung  beider  Sprachen  zur  Folge 
hat.  (Auch  die  ganz  freie  unsystematische  Konversation  wird  verworfen.) 
Dagegen  soll  sehr  viel  Lektüre  und  Vortrag  des  Lehrers  getrieben  werden. 
(Charakteristisch  ist,  daß  der  Verfasser  hier  selbst  auf  die  Methode  des  alten 
Ratichius  hinweist,  der  ja  auch  das  silentium  pythagoricum  des  Schülers 
empfiehlt.  Das  von  E.  geforderte  Prinzip  steht  im  starken  Gegensatz  zu  dem 
modernen  Gi-undsatz  der  Selbsttätigkeit  des  Schülers.) 

Das  zweite  Prinzip  lautet:  der  Sprachunterricht  muß  möglichst  günstige 
Bedingungen  schaffen,  um  die  fremde  Sprache  zur  Autonomie  zu 
führen,  d.  h.,  um  die  Interferenz  zwischen  MSp.  und  FSp.  auf  das  geringste 


Die  Erlernung  und  Beherrschung  fremder  Sprachen  107 

JMaß  zu  bringen.  Deshalb  bekämpft  er  vor  allen  Dingen  die  Übersetzungs- 
imethode;  und  hier  legt  E.  den  Finger  in  der  Tat  auf  eine  Wunde  unseres 
TSp.-Unterrichts.  Wenn  der  Schüler  in  seinem  Übungsbuch  oder  seinem 
Schriftsteller  jeden  Satz  übersetzt,  so  bedeutet  dies,  daß  er  während  einer 
Stunde  vielleicht  hundertmal  zwischen  der  FSp.  und  MSp.  hin-  und  herpendelt, 
daß  fortwährend  die  Assoziationen,  Begriffsgruppieningen,  Wortstellungen, 
Aussprechweisen  der  einen  die  andere  durchkreuzen,  daß  dadurch  viele  Fehler 
im  Gebrauch  der  Fremdsprache  erst  hervorgerufen  und  befestigt  werden,  daß 
ferner  an  die  Aufmerksamkeit  die  aufreibende  Zumutung  gestellt  wird,  fort- 
während zwei  Einstellungsgebiete  zu  wechseln.  Will  man  dagegen  die  Auto- 
nomie der  FSp.  pflegen,  so  treibe  man  viel  Lektüre,  erst  an  einfacheren 
Stücken,  dann  an  Schriftstellern,  aber  immer  so,  daß  man  in  der  FSp.  selbst 
darüber  reden  kann;  man  sorge,  daß  das  Verständnis  aus  dem  Zusammen- 
hang des  Textes  selbst  mit  Hilfe  von  Deutungen  und  gefühlsmäßigen  Ver- 
mutungen und  unterstützt  durch  Bilder  und  Realien  erwachse.  Man  benutze 
die  früher  erwähnten  Bedingungen,  welche  die  Autonomie  und  das  spontane 
Denken  in  der  FSp.  unterstützen:  daß  sich  die  Stoffe  der  FSp.  auf  das  fremde 
Land,  seine  Geschichte"  und  Kultur  beziehen,  daß  die  Person  des  Lehrers  selbst 
/  sofort  die  Einstellung  auf  die  FSp.  herbeiführe  (derselbe  Lehrer  sollte  also 
/    nicht  in  mehreren  FSp.  unterrichten)  usw. 

i  ^"Kuf  weitere  Einzelheiten  der  didaktischen  Vorschläge  braucht  hier  nicht 
eingegangen  zu  werden,  zumal  sie  zum  großen  Teil  den  rein  theoretischen 
Ursprung  nicht  verleugnen.  Hier  galt  es,  nur  in  großen  Zügen  die  Gedanken- 
gänge des  Verfassers  zu  zeichnen.  Sie  sind  stark  einseitig;  aber  sie  bieten 
doch  wertvolle  Anregungen  für  eine  weitere  Bearbeitung  des  wichtigen  Problems. 
Ihre  Einseitigkeit  beruht  darauf,  daß  E.  erstens  fast  nur  Beobachtungen  an 
Erwachsenen  benutzt,  um  von  da  aus  auf  den  Schulbetrieb  der  FSp.  zu- 
rückzuschheßen,  und  daß  zweitens  seine  Psychologie  eine  reine  Assozia- 
Itionspsychologie  ist.  Deshalb  arbeitet  er  nur  mit  den  Assoziationen,  die 
♦  sich  zwischen  Gegenstand  und  Wort,  zwischen  Eindruck  und  Ausdruck 
zwischen  FSp.-Wort  und  MSp.-Wort  bilden;  Festigung  der  Assoziationen  be- 
trachtet er  als  einzige  Aufgabe  der  Spracherlernung,  die  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Sprachstruktur  bewirkte  assoziative  Hemmung  sieht  er  als 
,  ein  •  Übel  schlechthin  an.  Was  ihm  fehlt,  ist  der  Einschlag  von  Denk- 
\psychologie,  durch  die  wir  den  assoziationspsychologischen  Standpunkt 
überwunden  haben.  Die  Abweichungen  verschiedener  Sprachen  voneinander 
in  Wortbedeutung,  Syntax,  Phraseologie,  Grammatik  führen  nicht  nur  zu  der 
assoziativen  Erscheinung  der  Interferenz,  sondern  sind  außerdem  ein  mäch- 
tiger Anstoß  zu  eigenen  Denkakten,  zu  Tätigkeiten  des  Vergleichens  und 
Unterscheidens ,  des  Sich-Rechenschaftgebens  über  Umfang  und  Begrenzung 
der  Begriffe,  des  Verstehens  feiner  Schattierungen  der  Wortbedeutung.  Aus 
diesem  Grunde  haben  viele  Sprachpädagogen,  in  genauem  Gegensatz  zu  E., 
behauptet,  daß  die  Abweichungen  der  Sprachen  voneinander  nicht  zu  einer 
seehschen  Hemmung,  sondern  zu  einer  seelischen  Förderung  führen,  und 
daß  das  wahre  Verständnis  der  MSp.  erst  gerade  durch  die  FSp.  und  die 
Verschiedenheit  beider  hei  beigeführt  werde. 

Mir  scheint,  daß  in  beiden  Standpunkten  Wahres  steckt.  Zweifellos  ist  es 
aber  ein  Verdienst  von  E.,  daß  er  den  bisher  vernachlässigten  Gesichtspunkt 
der  gegenseitigen  Hemmungswirkung  der  Sprachen  nun  mit  Nachdruck  betont 


108       William  Stern,  Die  Erlernung  und  Beherrschung  fremder  Sprachen 


hat,  während  bisher  von  den  Sprachpädagogen  fast  immer  nur  der  Gesichts- 
punkt der  gegenseitigen  Förderung  hervorgehoben  worden  war.     Besonders 
wichtig  erscheint  mir  sein  Nachweis,  daß  diese  Hemmung  nicht  nur  von  der 
MSp.   auf   die  FSp.  ausgeübt  wird   (was  er  an   den   Schwächen  der  Über- 
setzungsmethode überzeugend  nachweist),  sondern  daß  auch  umgekehrt  die 
Muttersprache  durch  die  Fremdsprachen  geschädigt  werden  kann. 
Es   ist  noch  gar  nicht  so  lange  her,   daß   der  lateinische  Aufsatz  und  die 
übermäßige  Cicerolektüre  unserer  Gymnasiasten  den  deutschen  Ausdruck  in 
Sprache   und  Schrift  ganz  erheblich  in  ungünstigem  Sinne   beeinflußt  hat; 
und  daß  ein  übermäßiger  oder  verfrüht  einsetzender  FSp.-Betrieb  auch  jetzt 
noch   entsprechende  Folgen  haben  kann,   erscheint  mir  zweifellos.     Gerade 
der  Hinweis  E.'s,  daß   bei   kleinen  Kindern   das  Erlernen   einer  FSp.   die 
Sicherung  und  Beherrschung  der  MSp.  gefährdet,  verdient  Beachtung.    Leider 
findet  sich  das  verfrühte  Parlierenlassen  ganz  kleiner  Kinder  nicht  nur  in 
1  der  allmähHch  absterbenden  Bonnen-  und  Gouvernantenerziehung;  auch  der 
I  auf  modernsten  pädagogischen  Grundsätzen  aufgebaute  Münchner  Versuchs- 
I  kindergarten    läßt    die    3  —  6  jährigen    Kinder    abwechselnd    von    deutschen 
I  Kindergärtnerinnen  in  deutscher  und  von  enghschen  Kindergärtnerinnen  in 
^  englischer  Sprache  erziehen! 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule. 

Von  Ernst  Haase. 

(Schluß.) 

3. 

Wir  wenden  uns  nun  den  Angaben  des  Fragebogens  wieder  zu. 

Die  erste  Frage  nach  den  Umständen,  die  Einfluß  auf  die  Versetzung&- 
ergebnisse  haben,  war  die:  In  welchem  Maße  wirkt  der  Wechsel  der  Schule 
auf  die  Versetzung  ein?  Es  mußte  dabei  auseinandergehalten  werden,  ob 
der  Schulwechsel  gleichzeitig  ein  Wechsel  des  Schulsystems  war  oder  ob 
er  sich  innerhalb  unseres  hallischen,  also  eines  und  desselben 
Systems  abspielte.  Daß  ein  Kind,  das  aus  einer  wenig  ausgebauten  Dorf- 
schule kommt,  hinter  den  gleichaltrigen  Genossen  der  Großstadt  zurückbleibt, 
ist  eine  bekannte  Erscheinung.  Schwieriger  ist  schon  die  Frage,  ob  und  in- 
wieweit die  aus  einem  fremden  Orte  mit  sieben-  oder  achtstufigen,  also  gleich- 
wertigen Systemen  kommenden  Kinder  im  allgemeinen  mit  den  Altersgenossen 
Schritt  halten,  und  noch  schwieriger  die,  ob  innerhalb  der  Stadt  der  Schul- 
wechsel, der  also  nur  ein  Wechsel  des  Schulhauses  ist,  Einfluß  auf  die  Ver- 
setzung hat. 

Bei  den  von  auswärts  kommenden  Kindern  ist  im  Fragebogen  auseinander- 
gehalten, ob  das  Kind  auswärts  eingeschult  und  erst  nachträgUch  nach 
Halle  gezogen  ist  oder  ob  es  in  Halle  eingeschult,  aber  mindestens  ein 
Jahr  in  einer  auswärtigen  Schule  gewesen  ist.  Beide  Gruppen  zeigten 
bei  der  Aufrechnung  wesentliche  Übereinstimmung  in  den  Versetzungs- 
zahlen, so  daß  es  sich  nicht  lohnte,  sie  auseinanderzuhalten.  Die  Abweichungen 
waren  ganz  geringfügig  und  glichen  sich  überdies  teilweise  aus.  Die  Abtrennung 
der  nur  15  o/o  aller  Auswärtigen  umfassenden  Gruppe  derer,  die  nur  vorüber- 


Ernst  Haase,  Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule     109 


gehend  auswärts  gewesen  sind,  unterbleibt  daher  aus  Gründen  der  Übersicht- 
lichkeit bei  den  folgenden  Darlegungen. 

Insgesamt  machen  die  „Auswärtigen",  wie  wir  diese  Gruppe  kurz  bezeichnen 
wollen,  fast  21  o/o  der  Gesamtmasse  aus;  davon  kommen  fast  ISo/o  auf  aus- 
wärts Eingeschulte. 

Von  diesen  21^0  sind  etwa  2  o/o  aus  Großstädten,  etwa  6  o/o  aus  Mittel- 
und  Kleinstädten,  etwa  13  "/o  aus  Dörfern  zugezogen. 

Dabei  haben  die  Innenbezirke  einen  stärkeren  Zuzug  zu  verzeichnen 
als  die  Randbezirke,  nämlich: 

Innenbezirke:     267  Kinder    (=  22 o/o) 
Randbezirke:     193  Kinder    (=  19 o/o) 

Die  überschießenden  3  o/o  der  Innenbezirke  entfallen  ausschließUch  auf 
Zuzug  aus  Städten,  während  der  Zuzug  aus  Dörfern  sich  gleichmäßig  auf 
Rand-  und  Innenbezirke  verteilt  (13  o/o). 

Von  den  Auswärtigen  erreichen: 

(Die  in  Klammern  beigefügten  Zahlen  sind 
die  Durchschnittszahlen  der  Gesamtmasse). 


Kl.  I 

350/0 

(56) 

II 

28o'o 

(23) 

m 

200/0 

(15) 

IV 

130/0 

(5) 

V 

40/0 

(1) 

Sie  bleiben  also  ganz  erheblich  hinter  dem  Durchschnitt  zurück.  Natürlich 
sind  an  diesem  schlechten  Ergebnis  vorwiegend  die  aus  Dörfern  kommenden 
Kinder  beteiUgt.  Die  Zahlen  der  aus  Städten  kommenden  sind  nicht  so  un- 
günstig, aber  auch  sie  stehen  weit  unter  dem  Durchschnitt,     Es  erreichen 

Kl.  I      Kl.  n      Kl.  m      Kl.  IV       Kl.  V 
von  den  Städtern:     49  0/0       26  0/0         16  0/0  70/0  2"/o; 

von  den  Dörflern:    27 -/o       30 0/0         22 Oo         I60/0        5 0/0. 

Der  Schulwechsel  wirkt  also  auf  alle  Fälle  ungünstig  auf  die  Versetzung 
ein,  auch  wenn  die  Schulsysteme  einander  sehr  nahe  stehen.  Ganz  gewiß 
überstehen  manche  Kinder  den  Wechsel  spielend.  Aber  wo  bereits  irgend- 
welche Schwäche  vorhanden  ist,  da  tritt  er  als  mitwirkender  Faktor  hinzu 
und  steigert  die  Wirkung  der  Schwäche  dermaßen,  daß  sie  zum  Sitzenbleiben 
führt.  Das  zeigen  uns  schon  die  Zahlen  der  aus  Städten  zugezogenen  Kinder 
deuthch  genug. 

Die  Versetzungsverhätnisse  der  ehemaligen  Dörfler  sind  überaus  traurig; 
die  Kinder,  die  den  schweren  Übergang  aus  der  einfachen  Dorfschule  in  die 
Großstadtschule  ohne  jede  Zwischenstufe  durchmachen  müssen,  sind  zu  beklagen. 
Das  Heraustreten  aus  einfachen  Verhältnissen  in  das  ausgebaute  System  der 
Großstadtschule  wird  für  viele  von  ihnen  verhängnisvoll.  Und  zwar  dürften 
es  im  allgemeinen  weniger  die  Stofflücken  sein,  die  das  Kind  mitbringt,  als 
das  Ungewohnte  der  größeren  Leistungen,  die  die  mehr  ins  Einzelne  gehende 
Behandlung  in  der  reicher  gegliederten  Schule  erfordert,  und  das  schnellere 
Tempo,  in  dem  das  Fortschreiten  erfolgt. 

Dabei  darf  eins  nicht  übersehen  werden :  Von  der  im  allgemeinen  seßhafteren 
Bevölkerung  des  Landes  sind  es  nur  die  beweglichsten  Elemente,  die  in  die 
Großstadt  ziehen,  und  das  sind  nicht  immer  die  besten.  Hier  spiegelt  sich 
also  bis  zu  einem  gewissen  Grade  der  Einfluß  des  Lebenskreises  in  den 
Zahlen  wieder.    Statistisch  ist  diese  Nebenwirkung  nicht  erfaßbar.    Sie  kann 


110  Ernst  Haase 


auch   ohne    Schaden  vernachlässigt  werden,   da  das  Verhältnis  beider  Ein- 
wirkungen aus  anderen  Zahlenreihen  klar  und  sicher  zu  ersehen  ist. 

Unsere   Schule    würde    ohne    die  belastenden  Elemente   der  Auswärtigen 
günstigere  Versetzungszahlen  aufweisen,  wie  sich  aus  folgender  Übersicht  ergibt. 
Von  den  Ostern  1918  entlassenen  Kindern  machen  in 
Kl.  I       m.  II       Kl.  III      Kl.  IV/V 
die  Auswärtigen:         I30/0       26 0/0       28 0/0  55 0/0     aus,  und  zwar 

Städter:  70/0         90/0         9  0/0  11 0/0 

Dörfler:  6  0/0       17  0/0       18  0/0  44  0/0. 

Die  Versetzungszahlen  der  stets  in  Halle  verbUebenen  Kinder  sind: 
Kl.  I       Kl.  II       Kl.  m      Kl.  IV/V 
620/0       220/0       130/0  30/0. 

Sie  sind  also  wesentlich  günstiger  als  die  Durchschnittszahlen.  Die  Zahl 
unserer  Konfirmanden  wih-de  in  den  untersten  Klassen  noch  nicht  halb 
so  groß,  die  in  den  2.  und  3.  noch  nicht  2/4  mal  so  groß  sein,  als  sie  jetzt 
tatsächlich  ist,  wenn  der  Zuzug  von  außen  fortfiele. 

Das  legt  fast  den  Gedanken  nahe,  für  die  aus  sehr  einfachen  Schulverhält- 
nissen zuziehenden  Kinder  einige  einfache  Schulsysteme  in  der  Stadt  ein- 
zurichten, in  denen  sie  nach  einem  vereinfachten  Lehrplane  unterrichtet 
würden.  Die  hohe  Zahl  dieser  Kinder  würde  eine  solche  Einrichtung  durchaus 
ermöglichen.  Für  uns  erübrigen  sich  indessen  vorläufig  besondere  Maßnahmen, 
da  bereits  vor  dem  Kriege  die  Einrichtung  von  Förderklassen  nach  dem 
Mannheimer  System  geplant  und  beschlossen  war.  Die  Ausführung  des 
Planes  ist  lediglich  des  Krieges  wegen  aufgeschoben.  Die  Schüler,  von  denen 
hier  die  Rede  ist,  würden  wohl  in  erster  Linie  den  Förderklassen  zug  bevölkern, 
und  es  muß  nun  erst  abgewartet  werden,  wie  weit  diese  Maßnahme  für  solche 
Kinder  genügt. 

Die  nächste  Frage  ist  die,  welchen  Einfluß  die  Umschulungen  inner- 
halb der  Stadt  haben. 

Die  Statistik  hat  ergeben,  daß  die  Kinder,  die  die  Schule  nie  gewechselt 
haben,  am  günstigsten  versetzt  werden;  die  Kinder,  die  die  Schule  häufig 
gewechselt  haben,  am  ungünstigsten.  Von  den  Bodenständigen  bis  zu  denen, 
die  am  häufigsten  umgeschult  sind,  führt  eine  fast  gleichmäßig  ansteigende 
Stufenleiter  der  Verschlechterung  über  die  einmal,  zweimal,  dreimal  usw. 
Umgeschulten.  Der  Übersicht  halber  fasse  ich  die  Kinder  in  drei  Gruppen 
zusammen.  Die  erste  umfaßt  die  nie  Umgeschulten,  die  zweite  die  ein-  bis 
zweimal,  die  dritte  die  dreimal  und  öfter  Umgeschulten. 

Es  erreichen        Kl.  I        Kl.  H        Kl.  III        Kl.  IV/V 
aus  Gruppe     I:        71 0/0        140/0         I2O/0  3o/o 

aus  Gruppe    II:       57o/o        26o/o         14 0/0  30/0 

aus  Gruppe  III:        48 0/0        27 0/0         17 0/0  8 0/0. 

Gruppe  II,  also  die  Gruppe  der  ein-  bis  zweimal  Umgeschulten,  entspricht 
annähernd  dem  Durchschnitt.  Das  kann  nicht  wundernehmen,  da  diese 
Gruppe  von  den  Kindern,  die  nicht  von  auswärts  gekommen  sind,  über  47  0/0, 
also  beinahe  die  Hälfte  ausmacht  und  daher  die  Durchschnittszahl  am  stärksten 
beeinflußt. 

Im  übrigen  ist  der  Einfluß  der  Umschulungen  ganz  unverkennbar:  Gruppe  I 
hat  sehr  günstige  Versetzungszahlen,  Gruppe  III  bleibt  erhebUch  hinter  dem 
Durchschnitt  zurück. 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  IJl 

Ich  habe  oben  darauf  hingewiesen,  daß  die  günstigeren  Versetzungszahlen 
in  den  Schulen  der  Randbezirke  im  Zusammenhange  damit  stehen,  daß  die 
Kinder  der  Randbezirke  weniger  häufig  die  Schule  wechsehi  als  die  der  Innen- 
bezirke. Es  muß  an  dieser  Stelle  der  Beweis  dafür  erbracht  werden,  daß 
dieser  Unterschied  tatsächlich  vorliegt. 

Unter  den  Kindern,  die  Ostern  entlassen  wurden,  sind 

in  den  Randschulen :  in  den  Innenschulen : 

nie  umgeschult    42  «/o  24®/o" 

ein- bis  zweimal    „  31®/o  44®/o 

dreunal  u.  öfter    „  8«/o  10  o/o 

(von  auswärts  sind  19^ ja  gekommen)  (22 o/o  von  auswärts). 

Daß  tatsächlich  die  Umschulungen  es  sind,  die  die  Versetzungszahlen  an 
dieser  Stelle  beeinflussen,  geht  noch  daraus  hervor,  daß  die  Kinder  der  Rand- 
schulen in  stärkerem  Maße  aus  Lebenskreisen  stammen,  deren  Versetzungszahlen 
nicht  günstig  sind,  als  es  bei  den  Innenschulen  der  Fall  ist.  Der  ungünstige 
Einfluß  der  Lebenskreise  wird  also  nicht  nur  wettgemacht,  sondern  be- 
deutend überholt  durch  den  Einfluß  des  Schulwechsels. 

Der  ungünstige  Einfluß  des  Schulwechsels  \^drkt  sich  natürhch  in  der 
Zusammensetzung  der  Konfirmandengruppe  in  den  einzelnen 
Klassenstufen  aus.     Es  werden  entlassen  aus 


Kl.  I 

KI.  n 

Kl.  ffl 

Kl.  IV/V 

nie  Umgeschulte: 

41o'o 

230  0 

250  0 

170/0 

ein-  bis   zweimal  Umgeschulte: 

390/0 

420/0 

36  0/0 

170/0 

dreimal   und   öfter   Umgeschulte: 

8  0/0 

100/0 

110/0 

110/0 

(Auswärtige: 

130/0 

260'o 

28o'o 

550/0). 

Geht  man  den  Ursachen  dieser  Einwirkungen  nach,  so  muß  man  zweierlei 
auseinanderhalten:  Ein  Teil  dieser  Umschulungen  ist  die  Folge  von  Woh- 
nungswechsel, bei  einem  andern  Teile  handelt  es  sich  um  Zwangsum- 
schulungen,  die  von  der  Schule  zum  Ausgleich  der  Schülerzahlen  der 
Klassen  angeordnet  werden. 

Was  den  häufigen  Wohnungswechsel  angeht,  so  könnte  man  etwa 
folgende  Vermutungen  aussprechen :  Leute,  die  häufig  umziehen,  sind  zumeist 
solche,  die  wenig  Ruhe  an  einer  Stelle  haben,  oder  die  leicht  mit  Nachbarn 
in  Unfrieden  kommen,  oder  endlich,  die  wegen  Unsauberkeit  oder  Liederlichkeit 
von  den  Hauswirten  nicht  lange  geduldet  werden  usw.  Die  häuslichen  Ver- 
hältnisse sind  also  der  Erziehung  nicht  sehr  günstig,  und  das  wird  sich 
naturgemäß  in  dürftigen  Schulleistungen  auswirken,  die  schließlich  zum  Sitzen- 
bleiben führen.  Die  Umschulung  wäre  dann  nicht  die  Ursache  der  schlechten 
Leistungen,  sondern  sie  wäre  nur  der  Ausdruck  für  ungünstige  häusliche 
Verhältnisse,  und  die  Ursache  des  Sitzenbleibens  wäre  letztlich  in  diesen  zu 
suchen. 

Das  trifft  zweifellos  in  den  meisten  Fällen  nicht  zu.  Der  Gedankengang 
ist  an  sich  ganz  richtig,  aber  er  erklärt  nur  einen  Teil  des  Einflusses.  Von 
den  Zugvögeln  ziehen  nicht  alle  in  andere  Schulbezirke;  ein  Teil  der  Umzüge 
verläuft  also  ohne  Schulwechsel.  Die  aber  wirklich  keine  bleibende  Stätte 
haben,  sind  nicht  in  sehr  großer  Anzahl  vorhanden.  Auf  die  äußersten  Fälle 
des  häufigen  Schulwechsels  mögen  diese  Erklärungen  zutreffen. 

Aber  der  Einfluß  macht  sich  ja  auf  der  ganzen  Linie  bemerkhch,  nicht 
nur  in  einigen  äußersten  Fällen.     Und  der  Vorsprung  der  nie  Umgeschulten 


112  Ernst  Haase 


vor  den  wenig  Umgeschulten  ist  größer  als  der  der  wenig  Umgeschulten  vor 
den  oft  Umgeschulten.  Also  auch  bei  einem  weniger  häufigen  Schulwechsel 
macht  sich  der  Einfuß  bemerklich.  Die  Voraussetzung  ungünstiger  häushcher 
Verhältnisse  trifft  auch  auf  eine  sehr  große  Anzahl,  wahrscheinlich  auf  die 
überwiegende  Mehrzahl  der  Schulwechsler  nicht  zu.  Sie  fällt  ganz  fort  bei  den 
Zwangsumschulungen. 

Die  Zwangsumschulungen  sind  ein  notwendiges  Übel  der  Groß- 
stadtschulen. Infolge  des  Sitzenbleibens  verringert  sich  bei  ihnen  die 
Zahl  der  Schüler  nach  den  oberen  Klassen  hin.  Das  ganze  Schulsystem 
verengt  sich  nach  oben.  Dadurch  kommt  es  an  einzelnen  Stellen,  die 
nicht  für  alle  Schulen  der  Stadt  gleich  sind,  zu  Anhäufungen  von  Kindern, 
während  an  andern  Lücken  entstehen.  In  Schulen,  die  auf  der  Unterstufe 
und  Mittelstufe  mehr  als  zwei  Parallelklassen  auf  einer  Klassenstufe  haben, 
ist  es  wohl  oft  möglich,  diese  Verschiedenheiten  auszugleichen.  Bei  andern 
muß  der  Ausgleich  von  Schule  zu  Schule  erfolgen,  d.  h.  die  Schule,  bei  der 
auf  irgendeiner  Klassenstufe  bei  der  Versetzung  eine  Anhäufung  von  Kindern 
entsteht,  muß  ihren  Überschuß  abgeben  an  eine  Nachbarschule,  die  an  dieser 
Stelle  Lücken  aufweist.  Es  müssen  also  Umschulungen  vorgenommen  werden, 
die  nicht  im  Anschluß  an  einen  Umzug  und  ohne  den  Willen  der  Beteiligten 
erfolgen.  Das  sind  die  Zwangsumschulungen.  Unter  ihnen  leiden  am  stärksten 
die  Schulen,  die  im  Innern  der  Stadt  liegen,  weil  sie  nach  allen  Seiten  hin 
die  Möglichkeit  des  Schüleraustausches  haben,  während  die  Randschulen 
immer  nur  nach  wenigen  Seiten  hin  austauschen  können.  Der  Überschuß 
an  Schulwechslern,  den  die  Innenschulen  gegenüber  den  Randschulen  auf- 
weisen, dürfe  ausschließlich  oder  fast  ausschließlich  auf  die  Zwangsumschulungen 
zurückzuführen  sein. 

Und  hier  zeigt  sich  genau  dieselbe  Wirkung  auf  das  Sitzenbleiben  wie  bei 
den  Randschulen,  d.  h.  der  größeren  Zahl  der  Umschulungen  entsprechen 
schlechtere  Versetzungsverhältnisse.  Es  ist  also  hinsichtlich  der  Wirkung 
kein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  Zwangsumschulungen  und 
anderen  Umschulungen  zu  erkennen;  beide  wirken  in  gleicher  Weise 
schädlich. 

Worin  ist  die  Ursache  dieser  Wirkung  zu  erblicken?  Da  die  zwangs- 
umgeschulten Kinder  überall  nach  demselben  Lehrplane  unterrichtet  werden, 
dieselben  Bücher  benutzen  und  auch  sonst  unter  äußerlich  ganz  gleichen 
Bedingungen  ihren  Unterricht  empfangen,  so  kann  der  Grund  nicht  in  mangel- 
haftem Wissen  oder  Können  an  sich  zu  suchen  sein.  Auch  die  Stofflücken, 
die  für  Schüler,  die  von  auswärts  kommen,  immerhin  verhängnisvoll  werden 
können,  kommen  hier  nicht  in  Frage.  Es  kann  sich  nur  um  innere  Gründe 
handeln. 

Diese  liegen  zum  Teil  in  der  geringen  Anpassungsfähigkeit 
vieler  Kinder.  Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  viele  Kinder  erst  lange 
Zeit  brauchen,  ehe  sie  sich  in  neue  Verhältnisse  schicken  können.  Die  Ein- 
stellung nimmt  ungewöhnhch  lange  Zeit  in  Anspruch,  auch  ohne  daß  tiefere 
Gemütserschütterungen  mitsprechen.  Ist  nun  der  Rhythmus  des  geistigen 
Lebens  überhaupt  langsam,  dann  kann  es  kommen,  daß  ein  solches  Kind  den 
Anschluß  nicht  rechtzeitig  findet,  und  der  geringste  Mangel  im  Gebiete  der 
Begabung  bewirkt  dann,  daß  es  im  Laufe  des  .Jahres  das  Klassenziel  nicht 
erreicht. 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  113 

Nicht  unterschätzen  darf  man  auch  folgendes:  Es  gibt  Kinder,  die  zur 
Unachtsamkeit  oder  zur  Nichtbeteiligung  neigen,  und  auch  solche,  die 
infolge  von  mangelhafter  Begabung  einer  ständigen  Nachhilfe  bedürfen. 
Kommen  diese  häufig  in  andere  Hände,  so  vergeht  immer  eine  gewisse  Zeit, 
bis  der  neue  Lehrer  die  Eigenart  des  Kindes  richtig  erkannt  hat  und  dem 
Kinde  so  viel  Stütze  gewähren  kann,  als  es  braucht.  Dieser  Umstand  macht 
sich  schon  beim  Klassenwechsel  innerhalb  einer  Schule  bemerklich;  aber  da 
ist  ein  Austausch  der  Meinungen  und  Erfahrungen  unter  den  Lehrern  leicht 
möglich,  und  der  Schaden  bleibt  im  ganzen  gering.  Beim  Wechseln  der 
Schule  wird  die  notvv'endige  Beobachtungsieit  zu  lang,  und  das  wird  für  viele 
verhängnisvoll. 

Bei  vielen  aber  kommt  hinzu,  daß  die  neue,  fremde  Umgebung  ihr  Gemüt 
bedrückt  und  dadurch  nicht  nur  verzögernd,  sondern  geradezu  umgestaltend 
auf  das  Seelenleben  einwirkt.  Die  „Impressionabilität  des  Kindes  unter  dem 
Einfluß  des  Milieu"  (Baginsky)  ist  es,  die  bei  vielen  so  stark  einwirkt,  daß 
sie  sich  erst  spät,  oft  genug  zu  spät,  in  die  neuen  Verhältnisse  einfühlen 
können.  Dazu  kommt  das  Zerreißen  persönMcher  Bande :  Liebe  zu  dem  Lehrer, 
zu  Freunden,  zum  Schulzimmer.  Stark  gemütvoll  veranlagte  Kinder  stehen 
lange  unter  dem  Drucke  eines  Wechsels  und  leiden  unter  der  Sehnsucht  nach 
den  seitherigen  Verhältnissen,  unter  einem  Heimweh  nach  der  alten  Schule. 
Solche  Kinder  empfinden  etwas  wie  Groll  gegen  die  neuen  Verhältnisse,  ver- 
halten sich  ablehnend,  zuweilen  sogar  widersetzlich.  Das  alles  wirkt  auf  ihre 
Leistungen  in  der  Schule  ungünstig  ein.  Diese  Einwirkung  ist  bei  gewissen 
Kindern,  besonders  bei  hysterisch  veranlagten  Mädchen  von  12  — 14  Jahren 
oft  außerordentUch  nachhaltig  und  kann  dann  selbst  einem  normed  begabten 
Kinde  schädlich  werden. 

Es  handelt  sich  bei  dem  ungünstigen  Einfluß  der  Umschulungen  also  in 
erster  Linie  mn  Gefühlswirkungen.  Damit  stimmt  die  Tatsache  völlig  über- 
ein, daß  bei  den  Mädchen,  die  ja  ganz  allgemein  mehr  gefühlsmäßig  ver- 
anlagt sind,  die  ungünstige  Einwirkung  der  Umschulungen  sehr  viel  stärker 
hervorh-itt  als  bei  den  Knaben. 

Man  vergegenwärtige  sich  noch  einmal  die  Vereetzungszahlen  der  stets  in 
Halle  verbliebenen  Kinder: 

Kl.  I         Kl.  n         Kl.  m         Kl.  IV/V 
620/0        220/0  130/0  30/0 

und  messe  daran  die  folgenden  Zahlenreihen: 

Gruppe  I:  Gruppe  II:  Gruppe  III: 

(nie  Umgeschulte)     (1 — 2mal  Umgeschulte)     (3 mal  u.  öfter  Umgeschulte) 

Md. 

56o/o 

290/0 

120'o 

30/0 

nicht  allzu  viel  vom  Durchschnitt  ab. 
Die  der  Gruppe  I  entspricht  dem  Durchschnitt  ziemlich  genau,  die  von  Gruppe  II 
und  III  verschlechtern  sich  stufenweise  um  einige  Prozent.  Gruppe  III  hat 
wesentlich  dieselben  Zahlen  wie  die  Gesamtheit  der  Kinder  einschließlich  der 
Auswärtigen.     Ganz    anders    die   Zahlen    der    Mädchen.    Die  Versetzungs- 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  g 


Kn. 

Md. 

Kn. 

K1.I    620/0 

800,0 

580/0 

n  200/0 

8  0/0 

220/0 

m  130/0 

100/0 

170/0 

IV/V     50/0 

20/0 

30/0 

Die  Reihen 

der  Kna 

iben 

weiche 

Kn. 

Md. 

56o/o 

400/0 

230/0 

320/0 

140/0 

200/0 

70/0 

8«/o. 

114  Ernst  Haase 


zahlen  der  Gruppe  I  sind  geradezu  glänzend.  Es  ist  bei  weitem  die  beste 
Zahlenreihe  in  der  ganzen  Statistik.  Aber  schon  die  Gruppe  II  bleibt  erheblich 
hinter  dem  Durchschnitt  zurück;  sie  steht  nur  wenig  über  Gruppe  III  der 
Knaben.  Die  Gruppe  lU  aber  weist  ganz  ungünstige  Versetzungszahlen  auf.  Sie 
kommt  dem  Durchschnitt  der  Auswärtigen  bedenklich  nahe  und  bleibt  hinter 
dem  der  aus  anderen  Städten  kommenden  Kinder  zurück. 

Der  Einfluß  der  Umschulungen  ist  also  unverkennbar  ungünstig. 
Es  wird  Sache  der  Schule  sein  müssen,  die  Umschulungen  nach  Möglich- 
keit einzuschränken.  Sie  kann  das  nur,  indem  sie  die  Umschulung  bei 
Umzügen  erschwert  und  indem  sie  die  Zwangsumschulungen  einschränkt. 
Welche  Maßnahmen  hierzu  im  einzelnen  zu  ergreifen  sind,  das  sind  rein 
örtliche  Fragen,  die  hier  nicht  zu  behandeln  sind.  Nur  zwei  Gesichtspunkte 
will  ich  an  dieser  Stelle  geben,  die  auch  über  den  Rahmen  unserer  Stadt 
hinaus  Bedeutung  haben  könnten:  1.  Jede  Schule  muß  so  viel  Klassen  haben, 
daß  ohne  Zustrom  von  außen  das  Vorhandensein  aller  IClassenstufen  in  gleich- 
mäßiger Abnahme  von  unten  nach  oben  gewährleistet  ist.  Das  dürfte  beim 
achtstufigen  System  etwa  bei  16 — 18  Klassen  der  Fall  sein.  Jede  Knaben- 
und  jede  Mädchenschule  im  achtstufigen  System  müßte  also  mindestens  16 
Klassen  umfassen.  2.  Das  Schulhaus  solle  möglichst  mitten  in  seinem  Schul- 
bezirk liegen  und  dieser  soll  möglichst  kreisförmig  sein.  Dann  werden  bei 
Umzügen  die  Schulwege  nicht  leicht  so  stark  wachsen,  daß  jedesmal  ein  Schul- 
wechsel erfolgen  muß.  Liegt  das  SchuUiaus  am  Ende  eines  langgestreckten 
Bezirkes,  so  kann  schon  der  Umzug  in  einen  Nachbarbezirk  den  Schulweg 
so  ungebührhch  verlängern,  daß  der  Wunsch  der  Eltern  nach  Umschulung 
berechtigt  erscheint.  Diese  zweite  Forderung  wird  sich  nirgends  restlos 
durchführen  lassen,  weil  man  selbstverständlich  überall  mit  den  gegebenen 
Verhältnissen  zu  rechnen  hat.  Aber  anzustreben  ist  ihre  Erfüllung  überall, 
und  Annäherungen  werden  sich  überall  ermöglichen  lassen. 

4. 

Die  nächste  Frage  lautete:  Hat  etwa  der  Lehrplan  eine  Stelle,  ander 
sich  Schwierigkeiten  häufen? 

Es  ist  klar,  daß  jede  sprunghafte  Steigerung  der  Anforderungen  von 
den  Schülern,  deren  Versetzungsfähigkeit  fraglich  ist,  einen  Teil  zum  Sitzen- 
bleiben verdammt,  der  bei  gleichmäßiger  Steigerung  das  Klassenziel  wohl  er- 
reicht haben  würde.  In  solchen  Klassen,  in  denen  die  Anforderungen  sprung- 
haft aufsteigen,  muß  natürlich  die  Zahl  der  Sitzenbleiber  größer  sein  als  in 
den  andern. 

In  der  einzelnen  Schule  ist  die  Frage,  ob  auf  einer  Klassenstufe  die  An- 
zahl der  Sitzenbleiber  infolge  von  Lehrplanschwierigkeiten  abnorm  hoch  ist, 
gar  nicht  entscheidbar.  Die  verschiedene  Zusammensetzung  der  einzelnen 
Klassen  und  die  persönliche  Eigenart  des  Lehrers  schaffen  in  ihrem  Zusammen- 
treffen eine  solche  Fülle  von  Zufallsmöglichkeiten,  daß  oft  gerade  die  Klasse, 
in  der  die  Planschwierigkeiten  am  größten  sind,  bei  der  Versetzung  besser 
abschneidet,  als  eine  andere,  im  Lehrplan  wesentlich  günstiger  dastehende 
Klasse.  Es  bedarf  einer  großen  Menge  von  Einzelfällen,  wenn  diese  Zu- 
fälligkeiten ganz  ausgeglichen  werden  sollen.  Ob  der  Ausgleich  erfolgt  ist, 
ob  also  die  Zahlen  als  einwandfrei  betrachtet  werden  können,  das  zeigt  sich 
darin,  daß  verschieden  gelegte  Durchschnitte  durch  die  Zahlenmasse  im  wesent- 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschiile  115 


liehen  dieselben  Verhältnisse  aufw'eisen.  Gerade  an  dieser  Stelle,  wo  der 
Zufall  so  mannigfach  mitspielen  kann,  war  doppelte  Vorsicht  geboten.  Das 
Ergebnis  kann  ich  nach  sorgfältiger  Nachprüfung  als  einwandfrei  bezeichnen. 

Es  sind  sitzen  geblieben: 

in  m.  8       Kl.  7       Kl.  6       Kl.  5       KL  4       Kl.  3       Kl.  2 

7,50/0     10,20/0    8,80  0    11,50/0    8,70/0     6,70/0     2,6 0/0  der  Gesamtheit. 

Der  Durchschnitt  für  jede  Klasse  beträgt  7,97,  also  rund  80  0.  Für  Knaben 
ist  er  etw'as  höher,  nämlich  8,6,  für  die  Mädchen  niedriger,  nämUch  7,2.  In 
der  vorstehenden  Übersicht  stehen  erheblich  über  dem  Durchschnitt  die  Klassen 

7  und  5;  weniger  hoch,  aber  immer  noch  über  dem  Durchschnitt  Klasse  6 
und  4.    Die  Klassen  8,  3  und  2  stehen  unter  dem  Durchschnitt.    (Für  Klasse 

8  ist  diese  günstige  Stellung  aber  nur  scheinbar  vorhanden,  wie  sich  später 
zeigen  wird.)    Das  gleiche  Ergebnis  erhalten  wir,  wenn  wir  die  verschiedenen 


Durchschnitte 

nebeneir 

lan 

der  stellen: 

in  Kl. 

Knaben : 

Mädchen : 

Randschulen : 

Innenschulen: 

8 

8,10/0 

6,9  Oo 

6,60  0 

8,3  Oo 

7 

10,3  Oo 

10,0  0« 

9,8^/0 

10,5  ^0 

6 

10,50/0 

(!) 

7,20/0 

8,70/0 

8,9  Oo 

5 

13,40/0 

9,70/0 

12,20/0 

10,90/0 

4 

9,50/0 

8,00/0 

8,00/0 

9,20/0 

3 

6,90/0 

6,50/0 

4,70/0 

8,30/0 

2 

2,80/o 

2,40/0 

1,6  0/0 

3,50/0 

Es    k 

ann 

keinem 

Zweifel     unterlieg 

en:     An     allen 

Stellen    haben     die 

Klassen  7  und  5  die  höchsten  Zahlen.  Eine  einzige  Ausnahme  tritt  bei  den 
Knaben  hervor,  insofern,  als  Klasse  6  um  0,2  0  0  ungünstiger  dasteht  als  Klasse  7. 
Eine  andere  Abweichung,  die  aber  keine  Ausnahme  von  der  obigen  Regel 
darstellt,  zeigt  sich  darin,  daß  bei  den  Mädchen  Klasse  7  ungünstiger  dasteht 
als  Klasse  5,  während  sonst  das  Verhältnis  umgekehrt  ist. 

Indessen  bedürfen  die  Zahlen  einer  Berichtigung,  ehe  man  Schlüsse  aus 
ihnen  ziehen  kann.  Es  sind  nämlich  erstens  die  Kinder  nicht  mit  ein- 
gerechnet, die  aus  Klasse  8 — 6  zur  Hilfsschule  gekommen  sind,  und  zweitens 
ist  dem  Umstände  nicht  Rechnung  getragen,  daß  die  Kinder,  die  aus 
Klasse  5  —  3  entlassen  werden,  keine  Möglichkeit  mehr  haben, 
in  einer  der  höheren  Klassen  sitzen  zu  bleiben.  Zieht  man  die  Hilfs- 
schüler hinzu  (bis  Klasse  6)  und  vermindert  man  die  Gesamtzahl  der  Schüler 
von  Klasse  zu  Klasse  um  die  Zahl  der  Konfirmanden,  die  aus  der  betr.  Klassen- 
stufe entlassen  werden,  so  ergeben  sich  folgende  Zahlen: 

Kl.  8         Kl.  7         m.  6         Kl.  5         Kl.  4         Kl.  3         Kl.  2 
12,10/0     12,OOo      8,90/0      11,50/0      8,8o/o       7,10/0       3,30/„ 

Der  Durchschnitt  beträgt  dann  9,1  "/o.  Hier  zeigt  sich  wieder  das  Hervor- 
treten der  Klassen  7  und  5  und  zwar  überwiegt  diesmal  Klasse  7  über  5. 
Zugleich  aber  tritt  Klasse  8  sehr  stark  hervor.  Bei  diesen  Zahlen  kann  man 
wiederum  Bedenken  hegen,  ob  man  sie  so,  wie  sie  sind,  zu  weiteren  Schluß- 
folgerungen verwenden  soll;  obgleich  sie  zweifellos  die  Verhältnisse  am  ge- 
nauesten wiedergeben.  Man  kann  nämlich  darüber  im  Zweifel  sein,  ob  man 
die  Hilfsschüler  mit  berücksichtigen  soll  oder  nicht.  Es  kann  das  Bedenken 
geltend  gemacht  werden,  daß  die  meisten  von  ihnen  abnorm  seien  und  da- 
her bei  Feststellung  des  Planes  für  normale  Kinder  nicht  berücksichtigt  werden 


116  Ernst  Haase 


dürften.  Aber  selbst  unter  voller  Würdigung  dieses  Einwandes  erscheint  mir 
die  Zahl  der  Sitzenbleiber  in  Klasse  8  so  hoch,  daß  ich  Bedenken  trage, 
sie  mit  diesem  Hinweis  abzutun.  Die  Hilfsschüler  sind  ja  nicht  alle 
abnorm.  Manche  von  ihnen  werden  sicher  nur  Kinder  mit  langsamer  Ent- 
wicklung sein;  von  diesen  wären  die  Grenzfälle  zweifellos  noch  zu  gewinnen, 
wenn  die  Anforderungen  im  1.  Schuljahr  herabgesetzt  würden.  Unter  dieser 
Voraussetzung  bleiben  also  drei  „scharfe  Ecken"  im  Lehrplane  zu  berück- 
sichtigen: Klasse  8,  7  und  5. 

Die  Statistik  hat  also  ergeben,  daß  tatsächlich  ein  Teil  des  Sitzenbleibens 
auf  schwierige  Stellen  des  Lehrplans  zurückzuführen  ist 

Bei  einer  Neubearbeitung  des  Lehrplans  wird  auf  diese  Stellen  ein  beson- 
deres Augenmerk  gerichtet  werden  müssen.  Diese  Klassen  bedürfen  einer 
Entlastung.  Die  eingehende  Untersuchung  darüber,  worin  diese  Entlastung 
bestehen  muß,  würde  zu  weit  in  eine  rein  örtliche  Angelegenheit  hineinführen. 
Doch  kann  ich  so  \äel  andeuten,  daß  in  Klasse  8  und  7  sowohl  das  Lesen  als  auch 
das  Rechnen  reichlich  besetzt  sind.  Im  Lesen  ist  in  8  und  im  1.  Halbjahr  von 
7,  also  in  1  '2  Jahren  die  gesamte  Druckschrift  deutsch  und  lateinisch,  ein- 
schheßlich  der  für  die  Kleinen  m.  E.  ganz  entbehrlichen  Lautzeichen  qu,  chs, 
ch,  ph,  y,  ti  (=  zi)  und  x  zu  erledigen.  Infolgedessen  bleibt  bei  vielen  Kindern 
die  Lesefertigkeit  mangelhaft.  Im  Rechnen  hat  die  8,  Klasse  die  Zahlenkreise 
1  — 10  und  1  — 20  zu  erledigen,  so  daß  die  für  Anfänger  so  überaus  schwierigen 
Überschreitungen  des  Zehners  beim  Zusammmenzählen  und  Abziehen  in  das 
Stoffgebiet  des  1,  Schuljahres  fallen;  die  7.  Klasse,  die  den  Zahlenramn  1 — 100 
durchzurechnen  hat,  krankt  dann  an  der  Unsicherheit  der  grundlegenden 
Übungen,  da  die  Überschreitung  der  10  in  der  8.  Klasse  für  einen  Teil  der 
Schüler  zu  schwer  gewesen  ist.  In  Klasse  5  dürfte  die  Schwierigkeit  aus- 
schließlich im  Rechenplane  liegen,  der  den  ganzen  unbegrenzten  Zahlenraum 
mit  den  schwierigen  Formen  des  schriftlichen  Rechnens  und  das  gesamte 
Rechnen  mit  mehrfach  benannten  Zahlen  vorschreibt.  Die  Einführung  aller 
Währungszahlen,  auch  der  über  Raumgrößen,  zu  einer  Zeit,  wo  die  Raumvor- 
stellungen nur  sehr  dürftig  entwickelt  sind,  wie  dies  im  vierten  Schuljahre 
noch  der  Fall  ist,  ist  zum  größten  Teile  vergebliche  Mühe,  wie  die  ewigen 
Verwechslungen  der  Flächen-  und  Körpermaße  in  den  oberen  Klassen  zeigen. 
Für  viele  Kinder  aber  wird  der  Rechenstoff  dadurch  so  überlastet,  daß  sie 
das  Klassenziel  nicht  erreichen. 

5. 

Die  nächste  Frage:  Hat  die  Geschwisterzahl  Einfluß  auf  das  Sitzenbleiben? 
könnte  befremden.  Und  mancher  Lehrer  wird  geneigt  sein,  diese  Frage  aus 
seiner  Erfahrung  heraus  dahin  zu  beantworten,  sie  beeinflusse  die  Versetzung 
günstig.  Es  ist  eine  bekannte  Erfahrungstatsache,  daß  in  manchen  kinder- 
reichen Familien  ein  Kind  vom  andern  lernt. 

Dennoch  ist  im  allgemeinen  das  Gegenteil  richtig.  Die  große  Geschwister- 
zahl scheint  hemmend  zu  wirken.  Das  war  mir  schon  bei  früheren  Erhebungen 
über  das  Sitzenbleiben  aufgefallen,  und  die  Statistik  bestätigt  es.  Allerdings 
ist  der  Einfluß  gering  und  die  Wirkung  zweifellos  indirekt.  Vorhanden 
ist  die  Beziehung  aber  sicher. 

Bevor  wir  der  Frage  selbst  nachgehen,  müssen  wir  erst  im  allgemeinen 
die  Kinderzahl  in  den  Familien  unserer  Schüler  kennen  lernen.  Nach  der 
vorliegenden  Erhebung  gestaltet  sie  sich  an  den  Volksschulen  so : 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in' der  Volksschule  117 

Es  stammen  aus  Familien  mit 

einem  Kinde:         101  Konfirmanden     ==     b^io 

2  Kindern:    '313  ^  =  14 »/o 

3  „  423  „  =  19  »/o 

4  „  455  „  =-~-  21  o/o 

5  ..  332  .,  =  150/0 

6  .  245  .  =  110/0 

7  „  142  „  =  6O/0 

8  „  115  .  =  5»/o 

9  .  52  ,  =»  20/0 

10         „  19  „  =     fast  lo'ö 

mehr  als  10         „  8  „  =     ^3^/o. 

Hiemach  sind  FamiUen  mit  vier  Kindern  am  reichsten  vertreten.  Die 
FamiUen  mit  3 — 5  Kindern  machen  fast  genau  55  0  0  der  Gesamtmasse  aus, 
also  über  die  Hälfte.  Die  durchschnittliche  Kinderzahl  des  Jahrganges 
ist  4,36.  Das  ist  eine  erfreuUche  Höhe  in  einer  Zeit,  in  der  der  Geburten- 
rückgang in  Deutschland  anfängt  bedrückend  zu  werden.  Auch  das  ist  ein 
erfreuliches  Zeichen,  daß  die  Zahl  der  FamiUen  mit  einem  Kinde  so  gering 
ist,  daß  erst  die  Familien  mit  8  Kindern  eine  ähnlich  niedrige,  aber  immer 
noch  höhere  Zahl  erreichen. 

Interessant  ist,  daß  die  Randschulen  mit  4,6  eine  höhere  durchschnitt- 
liche Kinderzahl  aufweisen,  als  die  Innenschulen  mit  4,2,  und  die  Knaben- 
schulen mit  4,38,  eine  etv^'as  höhere  als  die  Mädchenschulen  mit  4,34.  Das 
dürfte  damit  zusammenhängen,  daß  die  kinderreicheren  Arbeiterfamihen  in 
den  Randschulen  und  in  den  Knabenschulen  verhältnismäßig  stärker  vertreten 
sind.  Auch  sprechen  vielleicht  für  die  Randschulen  die  gesünderen  Wohnverhält- 
nisse und  die  damit  zusammenhängende  weniger  große  Kindereterblichkeit  mit. 

Nach  dieser  Übersicht,  die,  wie  schon  bemerkt,  noch  kein  unerfreuliches 
Bild  bietet,  wenden  wir  uns  nun  den  Versetzungsverhältnissen  zu.  Zur  Ver- 
einfachung fassen  wir  die  Schüler  in  drei  Gruppen  zusammen.  Ursprünglich 
hatte  ich  vier  Gruppen  vorgesehen:  solche  aus  kinderarmen  Familien  mit 
1 — 2  Kindern  (Gruppe  A),  solche  aus  normalen  Familien  mit  3 — 5  Kindern 
(Gruppe  B),  solche  aus  kinderreichen  Famihen  mit  6 — 8  Kindern  (Gruppe  C), 
und  solche  aus  kinderreichsten  Famihen  mit  mehr  als  8  Kindern  (Gruppe  D). 
Da  aber  in  Gruppe  D  keine  wesenÜiche  Abweichung  von  C,  besonders  keine 
merkhche  Verschlechterung  festzustellen  ist,  so  können  beide  als  Gruppe  C 
zusammengefaßt  werden.    Es  erreichen  von 

Gruppe  A:  Gruppe  B:  Gruppe  C: 

(Kinderarme  Famihen).  (Normale  Famihen).  (Kinderreiche  Famihen). 

Kl.  I:  620/0  58 0/0  48 «Vo 

200/0  21  "/o  26  0/0 

I30/0  140/0  18  0/0 

40/0  60/0  70/0. 

Aus  diesen  Reihen  geht  unzweideutig  hervor,  daß  zwischen  der  Kinder- 
zahl der  Familie  und  der  Versetzungsfähigkeit  des  Kindes  eine 
ganz  bestimmte  Beziehung  besteht  in  der  Weise,  daß  Kinder  aus  kinder- 
armen Familien  bessere  Versetzungszahlen  aufv^'eisen  als  solche  aus  kinder- 
reichen Famihen. 


II 

ffl 

IV/V 


118  Ernst  Haase 


Demgemäß    setzen   sich   die  Konfirmandengruppen  der  einzelnen  Klassen 
folgendermaßen  zusammen : 


Kl.  I: 

Kl.  H: 

Kl.  ni: 

Kl.  IV: 

Kl.  V: 

Gruppe  A 

21  «/o 

17  "'/o 

170/0 

150/0 

40/0 

«       B 

56  "/o 

530/0 

510/„ 

570/0 

500/0 

.     c 

230/0 

30<'/o 

320/0 

28  0/0 

46  "/o. 

Diese  Zahlenreihen 

würden 

ganz 

gleichmäßige 

Steigerungen   aufweisen. 

enn  nicht  eine 

Zahl  störte. 

Es  sind 

die  570/0 

der  Gruppe 

B   in  Kl.  IV. 

Diese  Zahl  ist  zu  hoch,  schätzungsweise  6 — 7"/o.  Würde  man  diese 
noch  auf  Gruppe  C  verrechnen,  so  wäre  die  Steigerung  völlig  gleich- 
mäßig. Es  handelt  sich  hier  offenbar  um  eine  zufällige  Erscheinung:  In 
Kl.  IV  bedeuten  6 — 70/„  7—8  Kinder.  Diese  Zahl  würde  beispielsweise  in 
Kl.  I  oder  11  nur  ein  Mehr  oder  Minder  von  höchstens  1  Vä'Vo  bedeuten,  also 
die  Zahlenverhältnisse  kaum  beeinflussen.  Bei  der  geringen  Zahl  der  Kon- 
firmanden in  Kl.  IV  erscheint  dagegen  durch  diesen  Zufall  das  Verhältnis 
erheblich  gestört. 

Worin  mag  der  Grund  für  die  Beziehungen  zwischen  der  Kinder- 
zahl der  Familien  und  den  Versetzungszahlen  zu  suchen  sein?  Sicher 
ist  wohl  anzunehmen,  daß  unter  den  kinderreichen  Familien  vorwie- 
gend die  Familien  der  ungelernten  Arbeiter  sind.  Wenn  das  auch 
nicht  im  einzelnen  aus  der  Statistik  nachgewiesen  werden  kann,  so  geben 
doch  die  oben  mitgeteilten  Zahlen  Aufschluß  darüber,  daß  diese  Vermutung 
zutrifft;  denn  es  sind  hinsichtlich  der  hohen  Kinderzahlen  im  Übergewicht: 

1.  die  Randschulen  (4,6 0/0)  gegenüber  den  Innenschulen  (4,2  "/o), 

2.  die  Knabenschulen  (4,38  "/<))  gegenüber  den  Mädchenschulen  (4,34  0/0). 
Das  Übergewicht  bei  den  Randschulen  gegenüber  den  Innenschulen  ist  er- 
heblicher als  das  der  Knabenschulen  gegenüber  den  Mädchenschulen. 

Das  entspricht  ganz  dem  Zahlenverhältnis  der  Kinder  der  ungelernten  Ar- 
beiter, die 

in  den  Randschulen  28  ."^/o,  in  den  Innenschulen  nur  21 0/0, 
ferner 

in  den  Knabenschulen  27  0/0,  in  den  Mädchenschulen  22  0/0 
betragen. 

Hier  ergibt  sich  also  ein  ParalleUsmuB  der  Zahlen,  der  sicher  nicht  zu- 
fällig ist,  da  er  bei  keiner  anderen  Gruppe  von  Kindern  wiederkehrt. 

Wir  entnehmen  daraus,  daß  die  größten  Kinderzahlen  im  allgemeinen  in 
der  Gruppe  der  ungelernten  Arbeiter  auftreten.  Diese  Gruppe  aber  ist  zugleich 
die,  deren  Kinder  (nächst  den  wenigen  Vollwaisen)  die  ungünstigsten 
Versetzungszahlen  aufweisen.  Hätten  andere  Lebenskreise  höhere  Kinder- 
zahlen, dann  würde  unsere  Übersicht  sicher  anders  aussehen. 

Die  größere  Kinderzahl  in  der  Familie  ist  also  sicher  nicht  unmittelbar 
der  Grund  für  das  häufigere  Sitzenbleiben,  sondern  sie  ist  nur  das  Symptom 
für  das  reichlichere  Auffa-eten  einer  Gruppe  von  Kindern,  die  aus  anderen 
Gründen  zum  Sitzenbleiben  neigen. 

Daneben  mögen  allerdings  zwei  Gründe  auch  unmittelbar  mitwirken: 

a)  Die  große  Kinderzahl  ist  in  manchen  Familien  nur  der  Ausdruck  eines 
ungebändigten  Trieblebens  der  Eltern.  Hier  mag  Vererbung  dieser 
ungünstigen  Naturanlage  die  Leistungen  des  Kindes  unmittelbar  beeinflussen. 
Auch  wird  in  solchen  Familien  die  Erziehung  leicht  im  argen  liegen. 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  119 

b)  Die  Eltern  können  bei  einer  großen  Kinderzahl  sich  um  das  einzelne 
Kind  nicht  so  kümmern,  wie  es  wünschenswert  wäre.  Dieser  Grund 
erscheint  so  einleuchtend  und  so  naheliegend,  daß  er  wohl  stark  überschätzt 
werden  dürfte.  Ich  messe  ihm  keine  allzu  hohe  Bedeutung  bei.  In  einer  Familie, 
in  der  Ordnung  herrscht  und  in  der  sich  die  Eltern  um  die  Erziehung  der 
Kinderkümmern,  pflegt  die  große  Reihe  der  Kinder  eher  bildungfördernd 
als  bildunghemmend  zu  \^^rken.  Das  einzelne  Kind  wächst  in  eine  straffere 
Ordnung  hinein,  wird,  da  es  den  anderen  helfen  muß,  früher  selbständig, 
ist  weniger  verwöhnt,  wächst,  weil  es  auch  zu  Hause  ein  Glied  einer  Masse 
ist,  leichter  in  das  Schulleben  hinein,  empfängt  von  den  andern  mancherlei 
Hilfe  usw.  Das  alles  ist  nicht  zu  unterschätzen,  und  jeder  Lehrer  kennt 
kinderreiche  Familien,  deren  Kinder  stets  zu  seinen  besten  Schülern  gezählt 
haben.  Wo  die  Kinderzahl  ganz  besonders  hoch  ist,  da  mag  allerdings  der 
Umstand  mitsprechen,  daß  die  Mutter  so  überarbeitet  ist  und  von  häusüchen 
Sorgen  so  in  Anspruch  genommen  wird,  daß  sie  die  Ordnung  nicht  so 
straff  zu  halten  vermag,  wie  sie  möchte.  Sonst  aber  dürfte  in  ordentlichen 
Familien  eine  hohe  Kinderzahl  eher  günstig  als  ungünstig  wirken.  In  solchen 
Familien  hingegen,  wo  der  Erziehung  wenig  Wert  beigelegt  wird  und  wo  die 
häusUche  Ordnung  gering  ist,  wird  auch  die  kleinste  Kinderschar  vernach- 
lässigt. Es  ist  wahrscheinlich,  daß  in  diesem  Falle  eine  große  Reihe  von 
Kindern  noch  stärker  leidet  als  wenige  Kinder;  aber  die  Kinderzahl  selbst 
wirkt  dann  höchstens  steigernd  oder  herabsetzend:  den  eigentlichen  Aus- 
schlag geben  die  häusUchen  Verhältnisse. 

Es  ist  hiernach  dreierlei  zu  beachten : 

1.  Die  Kinderzahl  der  Famihe  wirkt  unmittelbar  wohl  nicht  auf  die  Ver- 
setzungsfähigkeit der  Kinder  ein.  Wenn  also  eine  Beziehung  zwischen  beiden 
vorhanden  ist,  wie  es  nach  unserer  Statistik  tatsächlich  der  Fall  ist,  so  ist 
diese  nur  mittelbar. 

2.  Die  Unterschiede  zwischen  den  Versetzungszahlen  der  Kinder  aus  kinder- 
armen und  kinderreichen  Familien  sind  nicht  groß.  Das  spricht  dafür,  daß 
die  Beziehungen  zwischen  Kinderzahl  und  Versetzungsfähigkeit  nur  lose  sind, 
daß  sie  also  überhaupt  nur  mittelbar  sind,  oder  sofern  sie  doch  unmittelbar 
sein  sollten,  auf  eine  nur  schwache  Einwirkung  hinweisen. 

3.  Nicht  unbeachtet  darf  bleiben,  daß  die  Kinder  aus  Familien  der  Gruppe 
B,  also  bis  zu  5  Köpfen  günstiger  abschneiden  als  der  Durchschnitt. 

6. 

Die  Frage,  ob  es  ungünstig  auf  die  Versetzung  der  Kinder  einwirkt,  wenn 
sie  erwerbstätig  sind,  müßte  auf  Grund  unserer  Statistik  eigentlich  glatt  ver- 
neint werden.  Wir  wollen  uns  vorsichtigerweise  so  ausdrücken :  Ein  ungün- 
stiger Einfluß  der  Erbwerbstätigkeit  der  Kinder  läßt  sich  zahlemnäßig  nicht 
nachweisen. 

Es  sind  erwerbstätig: 

von  der  Gesamtheit:  von  den  Knaben:  von  den  Mädchen: 
Kl.  I:                 18,50/0                          210/0  160/o 

170/0  21  »/o  14»/o 

130/0  150/0  11  «/o 


n 
m 

IV 
V 


":;:  |  -»/»    ii:;:  j  >«»/»   ^:{:  j »»/. 


120  Ernst  Haase 


Hier  ist  nach  den  unteren  Klassen  hin  keine  Steigerung,  sondern  eher 
eine  Abnahme  zu  bemerken. 

Aber  gerade  diese  Zahlen  führen  leicht  irre;  denn  sie  beziehen  sich  auf 
die  Erwerbstätigkeit  zur  Zeit  der  statistischen  Erhebung,  also  im  letzten 
Schuljahre  der  Kinder,  Bei  den  Fällen  früheren  Sitzenbleibens  hat  diese 
Beschäftigung  überhaupt  nicht  mitgewirkt.  Hinsichtlich  der  Erwerbstätigkeit 
der  früheren  Jahre  aber  geben  diese  Zahlen  keinen  Anhalt.  Es  ist  bei  uns  in 
vielen  Familien  üblich,  daß  die  Kinder  im  letzten  Schuljahre  mit  verdienen 
helfen,  während  sie  bis  dahin  keine  Nebenarbeit  zu  verrichten  hatten.  Ja, 
manche  Familien  verschieben  dieses  Mitverdienen  auf  das  letzte  Halbjahr  vor 
der  Entlassung  mit  dem  ausgesprochenen  Zwecke,  das  Kind  solle  sich  seine 
„Konfirmationskleidung "  (gemeint  ist  ganz  allgemein  die  Ausrüstung  für  den 
Eintritt  ins  Leben),  selbst  verdienen  oder  mitverdienen  helfen. 

Das  eine  läßt  sich  mit  voller  Bestimmtheit  sagen:  Die  hier  angeführten 
Zahlen  sind  wesentlich  höher  als  die,  die  sich  ergeben  würden,  wenn  die  Er- 
werbstätigkeit in  früheren  Jahren,  die  also  Einfluß  auf  die  Versetzung  gehabt 
haben  könnte,  zahlenmäßig  erfaßt  würde.  Und  da  diese  viel  zu  hohen  Zahlen 
durchweg  nicht  über  21  o/o  (im  Durchschnitt  17,3  o/o)  betragen,  so  wird  der 
Einfluß  der  Erwerbstätigkeit  im  allgemeinen  nur  gering  zu  veranschlagen  sein. 

Das  widerspricht  der  landläufigen  Meinung.  Aber  es  ist  dabei  folgendes 
zu  bedenken :  Die  Kinder,  die  zu  geregelter  Arbeit  herangezogen  werden,  ent- 
stammen nicht  den  allerschlechtesten  Verhältnissen,  und  die  Erwerbstätigkeit, 
die  sich  überhaupt  zahlenmäßig  erfassen  läßt,  ist  meist  nicht 
derartig,  daß  sie  das  Kind  übermäßig  in  Anspruch  nimmt.  Kinder,  die  sich 
den  ganzen  Tag  auf  der  Straße  umhertreiben,  ohne  daß  sich  die  Eltern  um 
sie  kümmern,  sind  in  Hinsicht  der  geistigen  Entwicklung  viel  schlechter  ge- 
stellt als  solche  mit  mäßiger  und  vor  allem  geordneter  Erwerbsarbeit. 

Meist  werden  die  Kinder  der  Famihen,  in  denen  übermäßige  Heimarbeit 
herrscht,  Opfer  der  Nebenarbeit.  Bei  uns  wurde  im  Frieden  viel  leichte  Papier- 
arbeit betrieben,  die  von  Kindern  ausgeführt  werden  konnte,  aber  im  allge- 
meinen wenig    lohnte    und   daher   zu  übermäßiger  Ausdehnung  veranlaßte. 

Das  Kinderschutzgesetz  gewährt  den  Eltern  in  solchen  Fällen  verhältnis- 
mäßig viel  Freiheit,  und  noch  mehr  nehmen  sich  manche  von  ihnen  eigen- 
mächtig heraus,  ohne  daß  ihnen  beizukommen  wäre.  Oft  ist  es  wirklich 
wirtschaftliche  Not,  die  zu  solcher  Ausbeutung  der  Kinderkraft  zwingt.  Nicht 
selten  aber  ist  Arbeitsscheu  der  Eltern  die  Ursache.  Nach  meinen  Erfahrungen 
sind  arbeitsscheue  Eltern  die  allerschlimmsten  und  rücksichtslosesten  Ausbeuter 
der  Kinderkräfte. 

Ganz  schlimm  sind  die  Kinder  daran,  die  systematisch  zum  Betteln  an- 
gehalten werden.  Auch  das  kommt  fast  nur  in  Familien  vor,  in  denen  der 
Vater  oder  die  Mutter  oder  beide  Eltern  arbeitsscheu  sind. 

Diese  beiden  Fälle,  Anhalten  zu  übermäßiger  Heimarbeit  und  ziu-  Bettelei, 
sind  aber  diwchaus  als  Ausnahmen  zu  betrachten.  In  unserer  Statistik  sind 
sie  nicht  besonders  erfaßt  worden,  sie  würden  nur  einen  ganz  geringen 
Prozentsatz  ausmachen. 

Die  Heranziehung  der  Kinder  zur  Erwerbstätigkeit  ist  bei  uns  alles  in 
allem  nicht  so  groß  und,  wie  noch  einmal  betont  sei,  ihr  Einfluß  auf  das 
Sitzenbleiben  ist  zahlenmäßig  nicht  nachweisbar.  Abgesehen  von  einer  kleinen 


Die  äoßeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  121 

Gruppe    trauriger   Ausnahmefälle   dürfte  ihr  Einfluß    nur   gering    zu  veran- 
schlagen sein. 

7. 
Eine  sehr  wichtige  Frage  war  die,  welchen  Einfluß  der  Lebenskreis 
auf  die  Versetzungsfähigkeit   des  Kindes   hat.    Zu  diesem  Zwecke 
waren  die  Konfirmanden  gruppiert  in  Kinder  von: 

a)  ^Arbeitern  (ungelernt), 

b)  Fabrikhandwerkern  (und  angelernten  Fabrikarbeitern), 

c)  sonstigen  Handwerkern. 

d)  Kaufleuten  und  Gewerbetreibenden  aller  Art, 

e)  Beamten, 

f)  alleinstehenden  Frauen  (Wit\\-en,  ledigen  Müttern,  eheverlassenen  Frauen). 

g)  Die  Vollwaisen  bildeten  eine  besondere  Gruppe. 

Gruppe  d  ist  als  Sammelgruppe  für  die  Berufe  gedacht,  die  sich  ander- 
weitig schwer  unterbringen  lassen.  Von  dem  handeltreibenden  Element 
schicken  im  allgemeinen  höchstens  Kleinhändler  (Inhaber  von  Gemüseläden, 
Viktualienkellern  usw.)  ihre  Kinder,  wenigstens  ihre  Mädchen,  zur  Volksschule. 
Deren  Zahl  aber  ist  gering.  Deshalb  ist  ihnen  keine  Sondergruppe  eingeräumt; 
selbst  mit  allen  sonstigen  Berufen  zusammen  ist  die  Gruppe  d  noch  immer 
nicht  groß. 

Die  Gesamtmasse  der  Schüler  setzt  sich  folgendermaßen  zusammen: 


a 

b 

c 

d 

e 

f 

g 

(Ar- 

(Fabrik- 

(Hand- 

(Gewerbe- 

(Be- 

(alleinst. 

(Voll- 

beiter) 

handw.) 

werk.) 

treibende) 

amte) 

Frauen) 

waisen) 

Gesamtheit   . 

240  0 

I900 

24O0 

70/0 

130/0 

120/0 

10/0 

Knaben  .  .    . 

270,0 

190  0 

240,0 

50/0 

110/0 

130/0 

lO/o 

Mädchen    .    . 

220/0 

190  0 

250/0 

8O/0 

140/0 

110/0 

10/0 

Randschulen 

280;0 

210  0 

200  0 

60/0 

130/0 

100/0 

10/0 

Innenschulen 

21o'o 

I6O.0 

280/0 

70/0 

120/0 

I4O0 

lO/o 

Hilfsschule    . 

540/0 

70 '0 

40/0 

30/0 

30/0 

220/0 

70/0 

Geringe  Unterschiede,  die  aber  sehr  bezeichnend  sind,  bestehen  zwischen 
den  Lebenskreisen,  aus  denen  die  Knaben,  und  denen,  aus  denen  die  Mäd- 
chen stammen:  die  kleinen  Handwerker,  mehr  aber  noch  die  Gewerbetreiben- 
den aller  Art  und  die  Beamten  schicken  verhältnismäßig  mehr  Mädchen  als 
Knaben  zur  Volksschule.  In  diesen  Kreisen,  die  die  Schulbildung  zu  schätzen 
^vissen,  werden  bei  uns  in  der  Regel  die  Knaben  zur  Mittelschule  geschickt, 
während  man  die  Mädchen,  bei  denen  man  eine  geringere  Bildung  für  aus- 
reichend hält,  mit  Rücksicht  auf  die  Kosten  zur  Volksschule  gehen  läßt.  Teil- 
weise hieraus  erklärt  sich  der  niedrigere  Prozentsatz  der  Arbeiterkinder  unter 
den  Mädchen.  Doch  ist  bei  diesen  auch  die  absolute  Zahl  kleiner  als  bei 
den  Knaben.  Die  Mädchen  entstammen  also  im  allgemeinen  „besseren" 
Lebenskreisen  als  die  Knaben. 

Der  Unterschied  der  Randschulen  gegenüber  den  Innenschulen  ist  in 
erster  Linie  charakterisiert  durch  ein  starkes  Übergewicht  der  Kinder  von 
Arbeitern  und  Fabrikhandwerkem  in  den  Randschulen.  Das  hängt  natürlich 
damit  zusammen,  daß  die  Arbeiter  und  Fabrikhandwerker  meist  in  den  Außen- 
teilen der  Stadt  wohnen. 

Sehr  bemerkenswert  ist  das  mächtige  Vorherrschen  der  Kinder  ungelernter 


122  Ernst  Haase 


Arbeiter  in  der  Hilfsschule:  Mehr  als  doppelt  so  groß  als  in  der  Volksschule 
ist  ihr  Prozentsatz,  während  die  Gruppen  b  —  e  stark  zurücktreten. 

Arbeiter:  Gruppe  b — e: 

Volksschule:  24  o/o  630/o 

Hilfsschule:  54  o/o  10  o/o 

Ferner  fällt  das  starke  Übergewicht  der  Kinder  alleinstehender  Frauen  und 
der  Vollwaisen  in  der  Hilfsschule  auf: 

Kinder  alleinst.  Frauen:         Vollwaisen: 
Volksschule:  12  o/o  lO/o 

Hilfsschule:  220/o  70/0 

Über  die  Gründe  dieser  Zahlenverschiebungen  vergleiche  man  die  folgen- 
den Abschnitte. 

Wie  verhält  es  sich  nun  mit  der  Versetzungsfähigkeit  der  einzelnen 
Gruppen?     Es  erreichen: 


a 

b 

c 

d 

e 

f 

g 

(Ar- 

(Fabrik- 

(Hand- 

(Gewerbe- 

(Be- 

(alleinst. 

(Voll- 

beiter) 

handw.) 

werker) 

treibende) 

amte) 

Frauen) 

waisen) 

I 

490/0 

600/0 

600/0 

600/0 

61 0/0 

490/0 

480/0 

II 

190/0 

220/0 

230/0 

200/0 

280/0 

260/0 

140/0 

ni 

210/0 

130/0 

130/0 

150/0 

100/0 

150/0 

240/0 

IV/V 

100/0 

50/0 

40/0 

50/0 

10/0 

90/0 

140/0 

Kl. 


Diese  Übersicht  zeigt,  daß  die  sieben  Gruppen  sich  in  zwei  scharf  vonein- 
ander getrennte  Hauptgruppen  scheiden  lassen:  eine  Gruppe  besserer 
Kinder,  umfassend  die  Gruppen  b  —  e,  und  eine  Gruppe  weniger  guter,  um- 
fassend die  Gruppen  a,  f  und  g. 

Die  bessere  Gruppe,  sie  möge  als  I  bezeichnet  werden,  umfaßt  die  Kinder 
der  Fabrikhandwerker,  Handwerker,  Gewerbetreibenden  aller  Art  und  Beamten, 
also  alle  die,  deren  Väter  einen  Beruf  ausüben,  für  den  sie  irgendwie  vor- 
gebildet sind,  sei  es  durch  regelrechte  Lehre,  sei  es  durch  Anlernen  usw. 
Diese  Kinder  erreichen  zu  60— 61 0/0  die  I.  Kl.,  und  in  der  IV/V  bleiben 
höchstens  50/0  hängen. 

Die  schlechtere  Gruppe  (II)  umfaßt  die  Kinder  ungelernter  Arbeiter,  also 
die  Kinder  von  Leuten,  die  keinen  Beruf  erlernt  haben,  und  die  vielfach 
nicht  einmal  geregelte  Arbeitsverhältnisse  haben  (Gelegenheitsarbeiter),  ferner 
die  Kinder  alleinstehender  Frauen  und  die  Vollwaisen.  Diese  Kinder  erreichen 
nur  zu  48 — 49  0/0  die  I.  Klasse,  und  in  der  IV/V,  bleiben  über  9  0/0  hängen. 

Bemerkenswert  ist  hier  wieder  die  Tatsache,  daß  die  Mädchen  etwas 
stärker  durch  die  Lebensverhältnisse  beeinflußt  werden  als  die  Knaben. 

Es  erreichen  nämüch: 

Aus  Gruppe  I:  Aus  Gruppe  II: 


Kn. 

Md. 

Kl.  I: 

560/0 

630/0 

n: 

240/0 

230/0 

ni: 

140/0 

110/0 

IV/V: 

50/0 

30/0 

In  beiden  Gruppen  ist  für  die  Mädchen 
etwas  größer  als  die  bei  den  Knaben. 


Kn. 

Md. 

480/0 
220/0 
190/0 
110/0 

500/0 

210/0 

190/0 

90/0 

Jtreubreii 

te   der  Zahlenreihen 

Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  1 23 


Sehr  bezeichnend  ist 

natürUch   wieder 

die 

Z 

usam  m  ensetzung    der 

Klassen : 

Gruppe  I: 

Gliippe  11: 

KL  I 

670  0 

330,0 

n 

640/0 

860/0 

m 

:                    510,0 

490/0     . 

IV/V 

390/0 

610/0 

Hilfsschule 

170/0 

830/0 

Das  ständige  Abnehmen  der  Gruppe  I  und  das  entsprechende  Zunehmen 
der  Gruppe  II,  von  Klasse  1  bis  zur  Hilfsschule  hin,  vollzieht  sich  anfangs 
in  kleinen,  dann  in  größeren  Schritten,  zuletzt  sprunghaft,  ganz  entsprechend 
den  übrigen  Zahlenreihen,  die  sich  auf  die  Lebenskreise  beziehen. 

Die  Gruppen  bedürfen  nun  noch  einer  kurzen  Charakteristik,  wenn  die 
Sprache  der  Zahlen  verständlich  werden  soll. 

1.  Die  I.  Hauptgruppe  umfaßt  die  Lebenskreise,  die  die  Hauptmasse 
der  Eltern  von  Volksschulkindern  ausmachen.  Es  sind  630tt  der 
Gesamtheit.  Diese  Leute  haben  einen  Beruf  gelernt  und  wissen  daher  meist  die 
Schulbildung  zu  schätzen.  Sie  haben  erfahren,  was  sie  ihnen  und  anderen 
im  Leben  bedeutet  hat.  Und  wenn  zuweilen  gerade  aus  diesen  Kreisen  die 
bittersten  Urteile  über  den  geringen  Wert  der  Volksschulleistungen  kommen, 
so  spricht  das  durchaus  dafür,  daß  sie  die  Bildung  an  sich  hochschätzen. 
Solche  Urteile  kommen  meist  aus  dem  Munde  einzelner  verbitterter  Männer, 
deren  geistige  Veranlagung  hoch  genug  gewesen  wäre,  um  eine  höhere  als 
Volksschulbildung  empfangen  zu  können  und  die  nun  den  Widerspruch 
zwischen  ihrer  Fähigkeit  und  ihrer  Bildung  als  fortwährendes  Hemmnis 
empfinden.  Es  handelt  sich  um  Begabte,  denen  der  Aufstieg  versperrt 
geblieben  ist.  Aus  ihrer  Geringschätzung  gegen  die  Schule  spricht  aber  Hoch- 
schätzung der  Bildung  selbst;  denn  ihr  Vorwurf  geht  dahin,  daß  die  Schule 
ihren  Beruf  als  Bildungsstätte  nicht  erfüllt.  Daß  sie  die  Schule  als  solche 
verantwortlich  machen,  ist  unverständig;  sie  messen  die  Bildung,  die  die 
Schule  nach  ihrer  Meinung  vermitteln  sollte,  an  ihrer  Sonderbefähigung  und 
vergessen  ferner,  daß  sie  das,  was  sie  aus  eigenen  Kräften  hinzugelernt  haben, 
in  reiferem  Alter  und  in  unbeschränkter  Zeit  geleistet  haben. 

Sehen  wir  von  solchen  Einzelnen,  die  durchaus  Ausnahmen  sind,  ab,  so 
pflegen  die  Eltern  aus  dieser  Gruppe  am  besten  mit  der  Schule  Hand  in  Hand 
zu  arbeiten.  Mindestens  sind  aus  dieser  Gruppe  offene  Auflehnungen  gegen 
die  erziehhchen  und  unterrichtlichen  Anordnungen  der  Schule  ebenso  selten 
wie  grobe  Fälle  von  geistiger  Vernachlässigung  der  Kinder.  Wo  diese  vor- 
kommen, da  handelt  es  sich  meist  um  Angehörige  von  solchen  Berufen,  die 
wenig  Vorbildung  erfordern  und  deren  Leistungen  nicht  wesentUch  höher 
stehen  als  die  Handarbeit  des  ungelernten  Arbeiters. 

Für  jene  bessere  Gruppe  ist  zweierlei  bezeichnend: 

a)  Die  Leute  schicken,  wenn  es  irgend  möglich  ist,  die  Knaben  in  die  Mittel- 
schule, um  ihnen  eine  weitergehende  Ausbildung  zu  geben.  Daher  umfaßt 
diese  Gruppe 

bei    den  Knaben    nur  59  0/0, 
bei  den  Mädchen  aber  660/q, 
also  volle  70/q  mehr. 


124  Ernst  Haase 


b)  Unter  den  Kindern  der  Hilfsschule  tritt  diese  Gruppe  ganz  auffallend 
zurück.    Den 

630/q  in  der  Volksschule  stehen  nur 
170/q  in    der  Hilfsschule  gegenüber. 

Wie  mir  der  Leiter  der  hiesigen  Hilfsschule  mitteilt,  sind  diese  1 7  o/o  durch- 
weg psychopathisch  veranlagt.  Der  Fall,  daß  ein  normal  veranlagtes,  aber 
schwach  befähigtes  Kind  dermaßen  geistig  vernachlässigt  wird,  daß  es  in 
seinem  Können  unter  die  Stufe  des  normalen  Kindes  herabsinkt,  kommt  bei 
dieser  Gruppe  nicht  vor. 

2.  Die  II.  Hauptgruppe  läßt  sich  nicht  als  eine  Gesamtheit  behandeln. 

a)  Was  die  ungelernten  Arbeiter  anlangt,  so  ist  diese  Gruppe  nicht 
einheitlich  zu  bewerten.  Es  muß  unterschieden  werden  zwischen  solchen, 
die  aus  wirtschaftlicher  Notlage  keinen  Beruf  haben  erlernen  können, 
und  solchen,  die  wegen  ihrer  mangelhaften  Befähigung  für  einen 
Beruf  ungeeignet  sind. 

Unter  den  letzteren  sind  die,  die  aus  den  niederen  Klassen  der  Volksschule 
oder  aus  der  Hilfsschule  entlassen  worden  sind  und  von  denen  man  daher 
weder  eine  Wertschätzung  der  Schulbildung,  noch  so  viel  Verständnis  erwarten 
kann,  daß  sie  das,  was  für  die  Zukunft  ihrer  Kinder  wichtig  und  bedeutsam 
ist,  richtig  zu  bewerten  verständen.  Sie  sind  daher  weder  in  der  Lage  noch 
gewillt,  die  Schule  in  ihrer  Erziehungsarbeit  zu  unterstützen  und  legen  keinen 
Wert  auf  regelmäßigen  Schulbesuch  oder  gar  auf  pünktliche  Erledigung  häus- 
licher Arbeiten.  Zumeist  handelt  es  sich  um  stumpfe  Gleichgültigkeit,  die 
aber  oft  genug,  besonders  wenn  die  Schule  notgedrungen  von  Zwangsmitteln 
Gebrauch  macht,  in  offene  oder  versteckte  Widersetzlichkeit  umschlägt.  Da  die 
Kinder  infolge  von  Vererbung  zumeist  sehr  schwach  beanlagt  sind,  so  wäre  bei 
ihnen  in  besonderem  Maße  Hilfe  erforderlich ;  da  sie  nun  aber  eher  vom  Lernen 
abgehalten  als  dabei  gefördert  werden,  so  sinken  diese  armen  Geschöpfe  in- 
folge geistiger  Verwahrlosung  oft  genug  bis  unter  die  Stufe  des  normalen  Kindes 
hinab,  bleiben  in  den  unteren  Klassen  hängen  und  landen  vielfach  in  der 
Hilfsschule.  Daraus  erklärt  sich  der  außerordentlich  hohe  Prozentsatz  der 
Kinder  ungelernter  Arbeiter  in  der  Hilfsschule  (540/o),  der  mehr  als  doppelt 
so  hoch  ist  als  der  Prozentsatz  dieser  Kindergruppe  in  der  Volksschule.  In  der 
Hilfsschule  werden  sie  oft  die  besten  Schüler,  da  sie  ja  nicht  psychopathisch 
veranlagt,  sondern  nur  geistig  vernachlässigt  und  verwahrlost  sind.  In  günsti- 
geren häuslichen  Verhältnisse  würden  diese  Kinder  ganz  zweifellos  eine  höhere 
Stufe  der  geistigen  Entwicklung  erreichen,  wenn  sie  auch  hinter  dem  Durch- 
schnitt der  übrigen  Kinder  zurückbleiben  würden. 

Für  geistigeV  er  w  ah  rlosung  infolge  vonNachlässigkeitder  Eltern 
sieht  übrigens  das  Gesetz  über  die  Fürsorgeerziehung  Minderjähriger  vom 
2.  Juli  1900  die  Unterbringung  des  Kindes  in  Fürsorge -Erziehung  vor  (§  1 
Abs.  1  —  §  1666  BGB.).  Fälle,  in  denen  dieser  Paragraph  in  der  Praxis  an- 
gewandt worden  wäre,  sind  mir  allerdings  bis  jetzt  nicht  bekannt  geworden. 

Eine  noch  enger  begrenzte  Sondergruppe  bilden  die  Kinder  der  Leute,  die 
infolge  von  Leichtsinn  und  Haltlosigkeit  aus  wirtschaftlich 
b  esserer  Stellung  in  die  des  ungelernten  Arbeiters  hinabgesunken 
sind.  Diese  Kinder  sind  meist  ausgesprochene  Faulpelze  und  Schulschwänzer. 
Infolge  von  Vererbung  ist  ihre  Konzentrationsfähigkeit  stark  herabgemindert. 


Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzenbleibens  in  der  Volksschule  125 


und  sie  siud  völlig  unfähig,  sich  in  eine  feste  Ordnung  einzufügen,  weil  ihnen 
dazu  jede  Anleitung  und  Gewöhnung  in  der  Familie  gefehlt  hat. 

Die  Arbeiter,  die  lediglich  infolge  von  wirtschaftlicher  Notlage 
ihrer  Eltern  keinen  Beruf  haben  erlernen  können,  bilden  die 
Oberschicht  der  ungelernten  Arbei  ter.  Ohne  sie  würden  die  Versetzungs- 
zahlen der  Arbeiterkinder  wohl  ganz  erheblich  schlechter  stehen,  als  sie  ohne- 
hin sind.  Wie  umfangreich  diese  Oberschicht  ist,  ist  aus  der  Statistik  nicht 
zu  ersehen.  Nach  der  Übersicht  auf  Seite  125  darf  man  sie  wohl  auf  60 — 70^,0 
schätzen. 

b)  Bei  den  einzelstehenden  Frauen  handelt  es  sich  um  Witwen,  ehe- 
verlassene Frauen  und  ledige  Mütter.  Die  Witwen  und  eheverlassenen 
Frauen  gehören  zuweilen  Lebenskreisen  an,  die  sonst  über  denen  stehen, 
die  ihre  Kinder  zur  Volksschule  zu  schicken  pflegen.  Oft  genug  sind  es 
tapfere  Frauen,  die  ihre  Familie  besser  diu*chbringen,  als  es  der  Vater  getan 
hätte.  Vielfach  aber  sind  sie,  da  sie  sich  mühsam  durchs  Leben  schlagen, 
genötigt,  die  Wohnung  oft  zu  wechseln;  ihren  Lebensverhältnissen  fehlt  die 
Stetigkeit,  und  darunter  leidet  die  Erziehung  der  Kinder.  Bei  eheverlassenen 
Frauen  hegen  meist  zerrüttete  Familienverhältnisse  vor,  die  natürlich  gleich- 
falls auf  die  Erziehung  ungünstig  einwirken.  Die  unehelichen  Kinder 
sind  häufig  städtische  Pfleglinge,  die  oft  die  Pfleger  wechseln,  umhergeworfen 
werden  und  daher  ohne  festen  Halt  aufwachsen.  Auch  die,  die  in  den 
eigenen  Familien  aufwachsen,  erfahren  häufig  genug  wenig  Liebe.  Ihre 
Geburt  hat  Schande  und  Ärger  in  die  Familie  gebracht,  und  das  beeinflußt 
das  Verhältnis  der  Angehörigen  zu  ihnen  sehr  stark.  Die  eigene  Mutter 
empfindet  sie  oft  genug  als  lästiges  Ehehindernis,  und  darunder  leidet  ihre 
Liebe  zu  dem  Kinde,  und  ihre  Sorgfalt  in  der  Erziehung  wird  dadurch  stark 
beeinträchtigt.  Noch  schlimmer  steht  es  um  die  Familien,  in  denen  man  über 
die  Geburt  eines  unehelichen  Kindes  keine  Scham  und  keinen  Groll  empfindet, 
sondern  sie  in  stumpfer  Gleichgültigkeit  als  eine  natürliche  und  selbstverständ- 
hche  Sache  hinnimmt.  In  solcher  Umgebung  werden  meist  psychopathisch 
veranlagte,  stumpfsinnige  Kinder  geboren.  Und  wenn  sie  schon  an  sich 
nicht  erblich  belastet  wären,  so  würden  doch  in  der  Stick-  und  Sumpfluft 
ihrer  Umgebung  ihre  Anlagen  rettungslos  verkümmern.  Die  Gruppe  f  um- 
faßt also  Kinder  der  besten  und  der  schlechtesten  Lebenskreise, 
die  für  die  Volksschule  in  Frage  kommen.  Daher  nimmt  diese  Gruppe  auch 
eine  gewisse  Mittelstellung  ein,  was  sich  aus  den  verhältnismäßig  günstigen 
Zahlen  der  niederen  Klassen  ergibt:  es  erreichen  zwar  nur  490,0  die  I.  Klasse, 
aber  volle  25«  o  die  IL,  so  daß  für  IIL  nur  15 ^0,  für  IV.  nur  9 o/o  bleiben. 

c)  Die  Vollwaisen  werden  bei  uns  in  Familien  als  Pfleghnge  gegeben;  denn 
die  Stadt  Halle  besitzt  nur  ein  kleines  Mädchen-Waisenhaus,  das  etwa  vier- 
zehn verwaiste  Mädchen  aufnehmen  kann  (die  Geschwister  Röser- Stiftung). 
Die  Unterbringung  der  Waisenkinder  in  Familen  ist  theoretisch  ganz  gewiß 
der  Anstaltserziehung  vorzuziehen.  In  der  Praxis  aber  steht  und  fällt  ihr  Wert 
mit  dem  Werte  der  Familie,  in  der  das  Kind  aufwächst.  Dabei  macht  es 
keinen  wesentlichen  Unterschied,  ob  das  Kind  bei  Verwandten  oder  bei 
fremden  Leuten  untergebracht  ist.  Nicht  selten  wird  das  Pflegekind  lediglich 
als  Erwerbsquelle  betrachtet  und  als  Arbeitskraft  ausgenutzt.  Genügt  es  in 
dieser  Hinsicht  den  Ansprüchen  der  Plegeeltern  nicht,  so  versuchen  sie,  es 
wieder  los  zu  werden.     Eine  sorgsame  Erziehung  genießt  auf  diese  Weise 


126     Ernst  Haase,  Die  äußeren  Ursachen  des  Sitzonbleibens  in  der  Volksschule 

offenbar  nur  ein  kleiner  Teil  der  Waisenkinder;  sonst  wäre  der  geistige  Tiefstand, 
der  aus  der  Zahlenreihe  der  Vollwaisen  spricht,  nicht  zu  erklären.  Daß 
diese  Kinder  ausschließhch  ein  Opfer  dieser  Pflegeverhältniase  werden,  unter- 
liegt für  mich  keinem  Zweifel. 

8. 
Fassen  wir  rückblickend  die  Ergebnisse  zusammen,  so  zeigt  sich  folgendes: 

1.  Der  Schulwechsel  hat  einen  sehr  ungünstigen  Einfluß  auf  die  Versetzung, 
Besonders  stark  ist  sein  Einfluß  auf  die  Mädchen.  Er  kann,  besonders  wenn 
er  nicht  innerhalb  des  Schulortes  geschieht  und  daher  mit  einem  Wechsel 
des  Schulsystems  verknüpft  ist,  für  sich  allein  schon  die  Versetzung  stark 
beeinflussen,  ohne  daß  innere  Gründe  in  Frage  kommen.  Er  ist  daher  als 
der  bedeutendste  und  schwerstwiegende  äußere  Faktor  für  das 
Sitzenbleiben  zu  betrachten. 

2.  Die  Verhältnisse  der  Lebenskreise,  denen  die  Kinder  entstammen, 
üben  gleichfalls  einen  ganz  erheblichen  Einfluß  aus.  Dieser  steht  hinter 
dem  des  Schulwechsels  etwas  zurück.  Die  Mädchen  leiden  auch  unter 
diesem  Einfluß  stärker  als  die  Knaben;  doch  sind  die  Unterschiede  weniger 
beträchtlich. 

Die  Verhältnisse  der  Lebenskreise  (Stand  des  Vaters,  Kinderzahl  der  Familie) 
wirken  indirekt  ein,  indem  sie  auf  die  Entwicklung  der  Intelligenz,  der 
Konzentrationsfähigkeit  usw.  hemmend  oder  fördernd  einwirken.  In  dem 
Maße,  in  dem  das  Kind  äußeren  Einflüssen  zugänglich  ist,  ist  diese  Einwir- 
kung stärker  oder  schwächer,  günstiger  oder  ungünstiger. 

3.  Wenn  der  Lehrplan  Stellen  hat,  an  denen  sich  die  Schwierigkeiten 
sprunghaft  steigern,  so  wird  dadm'ch  die  Versetzung  der  Kinder  aus  diesen 
Klassen  ungünstig  beeinflußt. 

4.  Keinen  merklichen  ungünstigen  Einfluß  übt  eine  mäßige,  geregelte 
Erwerbstätigkeit  der  Schüler  aus. 

Über  die  Maßnahmen,  durch  die  die  Versetzungszahlen  günstiger 
gestaltet  werden  können,  mögen  hier  einige  Andeutungen  folgen. 

1.  Hinsichtlich  des  Schulwechsels  empfiehlt  es  sich, 

a)  nicht  bei  jedem  W^ohnungswechsel  ohne  weiteres  auch  einen  Wechsel 
der  Schule  vorzunehmen  und  lieber  den  Kindern  einen  etwas  weiteren  Schul- 
weg zuzumuten. 

b)  den  Klassenausgleich  und  damit  die  Zwangsumschulungen  auf  ein 
Mindestmaß  zu  beschränken.  Wie  das  im  einzelnen  geschehen  kann,  das 
ist  eine  rein  örtliche  Frage, 

c)  alle  Bestrebungen  zu  unterstützen,  die  der  Wohnungsnot  entgegen- 
arbeiten. Diese  Maßnahme  wirkt  zwar  nicht  unmittelbar  bessernd  ein;  aber 
ihre  Wirkung  ist  gegebenenfalls  um  so  gründlicher  und  nachhaltiger.  Je 
seßhafter  die  Bevölkerung  gemacht  wird,  je  mehr  insbesondere  die  ungesunde 
Abwanderung  der  Dorfbevölkerung  nach  den  Großstädten  hintangehalten 
wird,  desto  besser  wird  die  Wirkung  der  Volksschule  auf  die  Volksbildung 
und  Volkserziehung  sein  können. 

2,  a)  Die  Hebung  der  Lebensverhältnisse  ist  unmittelbar  nur  bei 
zwei  Gruppen  möglich:  bei  den  Halbwaisen  (und  den  ihnen  gleichzuachtenden 
unehelichen  Kindern)  und  bei  den  Vollwaisen,  sofern  deren  Verpflegung 
Obliegenheit  der  Gemeinde   ist.     Daß   für  die  Erziehung  dieser  Kinder   alles 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  127 


geschehen  muß,  was  geschehen  kann,  daß  sie  als  vollwertige  Glieder  des 
Volkes  anerkannt  und  behandelt  werden  müssen  und  nicht  als  unbequeme 
Gemeindelast  nebensächUch  behandelt  werden  dürfen,  ist  schon  eine  For- 
derung rein  menschhcher  und  auch  praktisch  vaterländischer  Erwägungen. 
Durch  die  Versetzungszahlen  erhält  sie  von  der  Seite  der  Schulerziehung  her 
besonderen  Nachdruck. 

b)  Mittelbare  Einwirkung  auf  die  Hebung  der  Lebensverhältnisse 
würde  wiederum  wie  bei  der  Wohnungsfrage  gründlicher,  aber  in  absehbarer 
Zeit  nicht  spürbar  helfen  und  bessern. 

Was  seitens  der  Schule  nach  dieser  Richtung  schon  jetzt  geschehen  kann, 
das  ist  die  Bemühung,  möglichst  alle  dazu  befähigten  Kinder  zu  veranlassen, 
einen  Beruf  zu  erlernen.  Es  ist  bedauerlich,  wenn  aus  den  I.  und  IL  Klassen 
der  Volksschule  Kinder  ins  Leben  treten,  die  von  vornherein  beruflos  bleiben. 
Hier  gilt  es,  die  Eltern  zu  beeinflussen,  daß  sie  nicht  aus  Nachlässigkeit  oder 
Verständnislosigkeit  es  versäumen  ^  ihre  Kinder  Berufe  erlernen  zu  lassen. 
Scharf  muß  dabei  dem  Gedanken  entgegengetieten  werden,  der  Knabe  solle 
„vorläufig"  Laufbursche  werden  und  nachträglich  noch  einen  Beruf  erlernen. 
Erfahrungsgemäß  verbleibt  es  in  solchen  Fällen  bei  der  vorläufigen  Ent- 
scheidung, und  der  Knabe  lernt  nichts. 

Daneben  sollte  die  Gemeinde  solche  Eltern,  die  ihre  Kinder  ohne  Berufs- 
bildung lassen  müssen,  weil  sie  infolge  wirtschaftlicher  Not  auf  deren  Arbeits- 
verdienst angewiesen  sind,  ein  Fall,  der  besonders  bei  kinderreichen  Familien 
oft  vorkommt,  mit  Geldmitteln  unterstützen,  damit  dem  Kinde  der  Weg 
in  die  Zukunft  geebnet  wird, 

3.  Die  Lehrplanfrage  ist  natürhch  eine  reine  Schulfrage,  die  leicht  in 
befriedigender  Weise  zu  lösen  ist. 

Die  Statistik  zeigt  also,  daß  manche  der  äußeren  Hemmnisse  für  die  Fort- 
schritte unserer  Kinder  durch  rein  schultechnische  Maßnahmen  zu  beheben 
sind,  während  andere  tiefere  Wurzeln  haben,  indem  sie  teils  in  der  wirt- 
schaftlichen Notlage,  teils  in  dem  geistigen  Tiefstande  der  Eltern  unserer 
Kinder  begiündet  sind. 

In  dem  Maße,  wie  die  wirtschaftliche  und  geistige  Not  des  Volkes 
beseitigt  wird,  werden  auch  diese  Hemmungen  schwinden.  Nicht  nur 
pädagogisch  -  organisatorische,  sondern  auch  soziale  Aufgaben  ergeben  sich 
also  hieraus  für  die  Schule. 

Wenn  alle  Kräfte  zusammen  wirken,  die  hier  helfen  und  fördern  können, 
dann  wird  es  gelingen,  das  Sitzenbleiben  auf  die  Fälle  zu  beschränken, 
die  rein  seelisch  begründet  sind  und  die  im  engeren  Sinne  der  päda- 
gogischen, vielleicht  der  heilpädagogischen  Behandlung  vorbehalten  bleiben 
müssen. 


Kleine  Beiträge  und  Mtteilungen. 

über  krankhaftes  religiöses  Erleben  führt  eine  Untersuchung,  die  Dr.  S.  Loeb 
in  der  Psychiatrisch-Neurologischen  Wochenschrift  über  „Dienstverweigerung 
aus  religiösen  Gründen  und  ihi'e  gerichtsärzthche  Beurteilung"  (Nr.  31/32 
1918/19)  veröffentlicht,  zu  folgenden  auch  für  die  Pädagogik  bedeutsamen 
Ergebnissen:    „Wir  sollten  nach  Möglichkeit  den  Ausdnick  „religiöse  Wahn- 


128  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


idee",  der  zwar  sehr  volkstümlich  geworden,  venneiden  und  an  seine  Stelle 
„Wahnglaube"  setzen.  In  dem  Ausdruck  „religiöse  Idee"  bezw.  „religiöse 
Wahnidee"  liegt,  da  Idee  im  psychiatrischen  Sprachgebrauch  nicht  die  pla- 
tonische Idee,  die  letzte  begriffliche  Grundgestalt,  auf  die  jedes  Erscheinende 
zurückzubeziehen  ist,  sondern  die  spätere  Gleichsetzung  mit  Vorstellung  be- 
deutet, eine  zu  starke  Betonung  des  sinnlich  Wahrnehmbaren  und  gedank- 
lich Verarbeiteten,  was  dem  reUgiösen  Erleben  widerspricht.  Hingegen  liegt 
in  den  Worten  „Glaube"  und  „Wahnglaube",  daß  das  zu  bezeichnende  Er- 
leben nicht  auf  dem  Wege  wissenschaftlichen  Erkennens  oder  gedanklicher 
Verarbeitung  von  sinnlich  Wahrnehmbarem,  sondern  durch  unmittelbare, 
innere  Erfahrung  geschieht,  die  sieh  auf  des  Menschen  persönliches  Verhält- 
nis zu  Über-  oder  Außersinnlichem  bezieht. 

In  seiner  allgemeinen  Psychiatrie ')  spricht  sich  Kraepelin  über  Glauben 
und  Wissen  ti*effend  aus  und  legt  hier  dar,  wie  die  beiden  entgegengesetzten 
Quellen  unserer  Erkenntnis  sich  im  einzelnen  Erleben  bald  berühren,  bald 
verquicken,  bald  verdrängen,  innere  Vorgänge,  für  die  auch  die  Sprache 
nach  Ausdrücken  ringt,  etwa  in  den  Worten:  vermuten,  für  wahr  halten, 
überzeugt  sein,  wissen.  Halten  wir  uns  diese  Gegensätze  Wissen  und  Glaube 
in  ihrer  reinen  Form  einmal  klar  vor  Augen,  so  kennzeichnet  das  erstere 
das  getreue  Abbilden  der  Welt  durch  unmittelbare,  nüchterne  Angliederung 
der  Erfahrung,  während  letzterer  das  große  Gebiet  unserer  Erkenntnis,  auf 
dem  sinnliche  Erfahrung  uns  keine  Ergebnisse  zu  liefern  vermag,  auf  Grund 
tiefgreifender  Gefühlsbeziehungen  zu  unserer  gesamten  Persönlichkeit  durch 
freie  Erfindung  ausfüllt,  beziehungsweise  derart  Erfundenes  übernimmt.  In 
dieser  Unterscheidung  und  in  der  Übernahme  des  präziseren  Ausdrucks 
,, Wahnglaube"  liegt  es  also  schon  begründet,  daß  die  wesenthchen  Charak- 
t3ristika  einer  Wahnidee  gegenüber  einer  Vorstellung,  also  mangelhafte 
Übereinstimmung  mit  dem  Erfahrungsmaterial,  Unkorrigierbarkeit  durch 
Gründe  der  Vernunft,  nicht  passen  zur  Abgrenzung  von  Wahnglaube  und 
Glaube. 

Wenn  es  ein  Vorrecht  des  Gläubigen  ist,  daß  er,  zwar  gebunden  durch 
den  heihgen  Drang  nach  Wahrheit,  jedoch  sicher  vor  der  Kontrolle  des  sinn- 
lich Wahrnehmbaren,  seinen  Inhalt  suchen  und  finden  darf,  so  liegt  in  diesem 
Vorrecht  auch  die  Schwäche,  daß  er  von  der  Wissenschaft  eine  scharfe 
Scheidung  seiner  Ergebnisse,  der  Glaubenssätze  von  dem  Wahnglauben  nicht 
verlangen  darf. 

Glaubenssätze,  Dogmen,  religiös-geschichtliche  Überlieferungen  sind  für 
verschiedene  Völker  und  verschiedene  Zeiten  verschieden.  Wesentliche  Ab- 
weichungen, sogar  GegensätzHchkeit  von  Lehrmeinungen  reichen  keineswegs 
aus,  den  Andersgläubigen  wegen  dieser  Gegensätzlichkeit  für  geistig  krank 
zu  halten.  Sofern  wir  wissen,  daß  der  Gläubige  sich  mit  dem  von  ihm 
vertretenen  Dogma  in  einer  anerkannten  religiösen  Gemeinschaft  befindet, 
pflegen  wir  keinen  Anstoß  an  der  geistigen  Gesundheit  des  Betreffenden  zu 
nehmen.  Daß  etwa  ein  Katholik  den  Papst  für  den  Stellvertreter  Gottes 
auf  Erden  hält,  würde  man  ihm  ebensowenig  als  krankhaft  auslegen  wie 
etwa  einem  Chinesen  den  Glauben  der  Seelenwanderung  in  Tieren.  Ebenso 
können  wir  den  Römer  nicht  für  wahngläubig  halten,  wenn  er  aus  den  Ein- 


»)  Kraepelin,  Psychiatrie,  8.  Aufl.,  1.  Bd.,  S.  307 ff. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  129 

geweiden  seiner  Opfertiere  oder  aus  dem  Flug  der  Vögel  Auskunft  über  sein 
Geschick  zu  erfahren  hofft.  Selbst  bei  einem  und  demselben  Volk  wechseln, 
wenn  auch  selten,  religiöse  Anschauungen  und  Lehren:  das  Austreiben  der 
Teufel  oder  der  bösen  Geister  aus  einem  von  ihnen  besessenen  Menschen 
unter  Anrufung  des  Namens  Gottes  oder  Christi  war  in  früheren  Jahren  so 
üblich,  daß  es  für  diesen  Beruf  eine  eigene  Klasse  von  Kirchenbeamten, 
„die  Exorzisten",  gab.  Groß  ist  auch  die  Wandlung  im  Hexenglauben. 
Während  vor  fünf-  bis  sechshundert  Jahren  die  Hexenprozesse  an  der  Tages- 
ordnung waren  (Papst  Innocenz  VUI.  bestätigte  durch  seine  Bulle  „Summls 
desiderantes"  vom  3.  Dezember  1484  die  Lehren  vom  Zauber^'esen  und  den 
dafür  erf orderhchen ,  durchgreifenden  Inquisitionsprozessen),  würde  heute 
jeder,  der  etwa  einen  Hexenprozeß  anstrengen  wollte,  zunächst  vor  das 
Fonun  eines  Psychiaters  geführt  und  hier  als  geistig  krank  bezeichnet 
werden.  Ebenso  würde  keiner  von  uns  anstehen,  das  Streuen  von  Papier- 
pfennigen bei  Beerdigungen  oder  das  Drehen  von  Gebetmühlen,  Gebräuche, 
wie  sie  im  fernen  Osten  heute  noch  gang  und  gäbe  sind,  für  Wahnglauben 
zu  halten,  würde  er  einen  Europäer  bei  solchem  Brauch  beobachten.  Um- 
gekehrt müssen  wir  uns  vorstellen,  daß  ein  Buddhist  fiu"  geistig  abnorm 
gehalten  würde,  wenn  er  etwa  das  Abendmahl  nehmen  würde. 

Aus  dieser  kurzen  Betrachtung  ergibt  sich  also,  daß  religiöse  Ideen  ihrem 
Inhalt  nach  kaum  in  gesund  und  krank  geschieden  werden  können  oder  mit 
anderen  Worten :  nicht  das  religiös  Gewordene,  das  Ergebnis,  der  Glaubens- 
satz oder  Wahnglaube  kann  losgelöst  vom  Träger  wissenschafthch  als  ge- 
sund oder  krank  begutachtet  werden,  sondern  wir  müssen  das  seelische  Er- 
leben, das  psychische  Geschehen  zu  beurteilen  versuchen.  Hier  sei  noch 
einmal  Selbstverständliches  kurz  erwähnt:  daß  es  im  Gesunden  eine  ganz 
erhebhche  Breite  religiösen  Erlebens-  gibt.  Vom  Aufgeklärten,  der  sich  be- 
wußt gegen  alles  abschließen  will,  was  ihm  Sinne  und  Intellekt  nicht  geben 
können,  über  den  Durchschnittskirchgänger,  der  sich  des  Sonntags  morgens, 
vor  jeder  Mahlzeit  und  vor  dem  Schlafengehen  einmal  andächtig  in  sich  ver- 
senkt, bis  zum  eifrigen  Gläubigen,  der  andächtig,  tief  in  sich  versunken  die 
Umwelt  vergißt  und  in  dem  Aufgehen  im  Übersinnlichen  Wonneschauer 
empfindet,  ist  eine  weite  Strecke  seelischen  Erlebens,  das  wir  alles  als  gesund 
bezeichnen.  Das  zuletzt  erwähnte  religiöse  Einzelerleben  können  wir  uns  nun 
extensiv  und  intensiv  noch  gesteigert  vorstellen.  Dauerte  etwa  eine  solche 
gemütliche  Erregung  stunden-  oder  gar  tage-  und  wochenlang  in  gleicher 
Weise  an,  so  würden  wir  in  dieser  ungewöhnlich  langen  Dauer  doch  etwas 
Abnormes  sehen.  Auch  die  Intensität  religiösen  Erlebens  kann  sich  so  weit 
steigern,  daß  v,ir  nicht  mehr  von  normalen  Vorgängen  sprechen  können. 
Gefühlsausbrüche  wie  Seufzen,  Weinen,  Stöhnen,  jubelndes  Singen  pflegen 
wir  in  gewissem  Umfang  noch  in  die  Grenzen  des  religiös  Gesunden  ein- 
zubegreifen;  auch  eine  gewisse  Einengung  des  Bewußtseins,  wie  sie  jedes 
starke,  gefühlsreiche  Erleben  mit  sich  bringt,  halte  ich  für  regelrecht.  Da- 
gegen sind  eine  deutliche  Trübung  des  Bewußtseins,  stärkere  echte  Gefühls- 
ausbrüche, wie  Tanzen,  sich  Geißeln,  als  anormal  anzusehen. 

Wir  sagten  oben,  daß  jedes,  auch  das  gesunde  religiöse  Erleben  auf  Grund 
tiefgreifender  Gefühlsbeziehungen  der  gesamten  Persönlichkeit  zum  Über- 
sinnlichen geschieht.  Diese  Definition  ist  der  beste  Wegw'eiser  zum  Auf- 
finden weiterer  Merkmale,  die  religiöses  Erleben   zu  krankhaftem  stempeln. 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  9 


130  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

Die  allgemeine  Psychologie  lehrt,  daß  auch  beim  gefühlsmäßigen  Erleben 
Begriffe,  mit  denen  wir  notwendig  operieren,  aus  dem  Erfahrungsschatz  des 
Intellekts  genommen  werden,  und  daß  wir  auch  unsere  Gefühlserlebnisse 
dem  Streben  nach  Vereinheitlichung  unserer  Gesamtpersönlichkeit,  wenn  oft 
auch  nur  lose  unterordnen,  daß  wir  also  genau  genommen  nur  von  vor- 
wiegend gefühlsmäßigem  Erleben  sprechen  können.  Je  mehr  das  Gefühl  im 
Einzelerlebnis  vorherrscht,  desto  unklarer  und  verschwommener  werden  die 
aus  dem  Intellekt  entliehenen  Begriffe,  desto  mangelhafter  arbeitet  die  ein- 
ordnende und  verbindende  Verstandestätigkeit.  Gefühl  und  Kritik  stehen  in 
reziprokem  Verhältnis  zueinander.  So  nimmt  es  uns  nicht  wunder,  wenn 
wir  schon  im  normalen  religiösen  Erleben  allzu  oft  logische  Schlußfolge- 
rungen und  Kritik  vermissen.  Stärker  tritt  Kritiklosigkeit  in  die  Erscheinung, 
wenn  das  Glaubensgefühl  sich  steigert  zu  jenem  persönlichen  Heils-  und 
Glücksgefühl,  da  für  den  Gläubigen  alle  zu  innerst  gefundenen  und  die 
übernommenen  Glaubenswahrheiten  mehr  bedeuten  als  alles  Wissen  zu- 
sammen. ^  Ein  solch  erhebendes  Glücksgefühl  öffnet  dem  Autoritätsglauben 
Tür  und  Tor,  man  schwört  in  die  Worte  des  Meisters:  leitet  die  jüdische 
Lehre  eine  scharfe  Trennung  der  mit  Milch  bereiteten  Speisen  von  denen 
mit  Fleisch  bereiteten  aus  einer  Bibelstelle:  „Du  sollst  das  Zicklein  nicht  in 
der  Milch  seiner  Mutter  kochen"  ab,  so  folgen  hierin  die  Strenggläubigen 
mit  einem  seligsicheren  Gefühl,  das  einzig  Rechte  zu  tun,  selbst  wenn  in 
einer  solchen  Schlußfolgerung  keine  oder  nur  eine  ganz  lose  gedankliche 
Verkettung  aufgefunden  werden  kann.  Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  je 
unklarer  die  religiösen  Begriffe,  je  weniger  logisch  religiöse  Gedanken  unter- 
einander verknüpft  sind  und  je  sicherer  und  überzeugter  trotzdem  das  Er- 
lebnis hingenommen  wird,  desto  krankhafter  ist  es.  Wenn  z.  B.  jemand 
aus  Kor.  3,  16:  „Wisset  ihr  nicht,  daß  ihr  Tempel  Gottes  seid?"  mit  über- 
legenem Lächeln  und  heilssicherem  Auge  ableitet,  daß  er  nicht  rauchen  darf, 
so  dürfte  diese  Verknüpfung  trotz*  der  unangreifbaren  Überzeugung  ihres 
Trägers  wohl  als  zu  lose  geschürzt  von  uns  als  krankhaft  bewertet  werden. 
Das  Vorwiegen  des  Gefühlsmäßigen  im  religiösen  Erleben  erklärt  uns  auch 
seinen  ungeheuren  Einfluß  auf  das  menschliche  Handeln.  Ich  brauche  nur 
an  den  Märtyrertod,  die  Verfolgungen  der  ersten  Christen,  die  Juden- 
verfolgungen und  die  Religionskriege  zu  erinnern,  um  den  Einfluß  des 
Glaubens  auf  Handlungen  gebührend  zu  würdigen.  Gewiß,  die  ebengenannten 
sind  keine  alltäglichen  Erscheinungen,  aber  krankhaft?  Es  würde  zu  weit 
führen,  alle  jene  geschichtlichen  Erscheinungen  aus  ihrer  Zeit  zu  analysieren 
und  dann  psychiatrisch  zu  bewerten;  uns  kann  es  heute  nur  darauf  an- 
kommen, aufzuzeigen,  wann  der  Einfluß  religiösen  Erlebens  auf  mensch- 
liches Handeln  in  der  Jetztzeit  wohl  als  krankhaft  zu  bezeichnen  wäre. 
Auch  da  gibt  es  keine  absolute  Antwort,  vielmehr :  je  erheblicher  der  Wider- 
spruch mit  unseren  geltenden  Rechts-,  sozialen  und  ethischen  Pflichten  ist, 
in  den  uns  religiöses  Erleben  bringt,  desto  eher  darf  an  krankhaftes  religiöses 
Erleben  gedacht  werden.  Wenn  etwa  jemand,  wie  einst  Abraham,  seinen 
Sohn  Gott  zum  Opfer  darbringen  wollte  mit  der  Begründung,  er  wisse,  dies 


')  Mir  kommt  es  in  diesem  Augenblick  nicht  darauf  an,  mit  dem  Ausdruck  „Kritiklosigkeit* 
persönlich  Stellung  zu  dieser  Bewertung  zu  nehmen,  sondern  nur  darauf,  das  seelische  Erleben 
mit  seinen  Nebenerscheinungen  zu  zeichnen. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  131 

sei  Gottes  Wunsch,  oder  wenn  jemand,  um  seinen  Beglücker  zu  entschä- 
digen, sein  ganzes  Vermögen  einem  sektiererischen  Prediger  vermachte  und 
hierdurch  seine  Familie  an  den  Bettelstab  brächte,  würden  wir  einen  krank- 
haften Einfluß  feststellen  müssen. 

In  dem  bisher  besprochenen  kranken  religiösen  Erleben  trat  ein  Faktor 
in  den  Hintergrund :  der  Ichkomplex.  Schon  unsere  Definition  weist  darauf 
hin,  daß  er  leise  selbst  in  dem  neutralsten  Glaubenssatze  mitsibriert:  wenn 
jemand  den  religiös-geschichtlichen  Satz  gläubig  ausspricht,  „die  Israeliten 
zogen  mit  Hilfe  Gottes  trockenen  Fußes  durchs  Rote  Meer",  so  verknüpft  er 
hiermit,  daß  sie,  ein  Werkzeug  in  Gottes  Hand,  aus  der  Knechtschaft  befreit 
werden  mußten,  um  bald  am  Sinai  die  Lehre  zu  empfangen,  der  er  sich 
selber  unmittelbar  oder  mittelbar  als  der  götthchen  Offenbarung  teilhaftig 
fühlt.  In  den  meisten  religiösen  Erlebnissen  tritt  das  persönliche  Element 
stärker  hervor.  Auch  diesmal  können  wir  sagen:  je  stärker  der  lehkomplex 
im  reUgiösen  Erlebnis  betont  wird,  um  so  eher  dürfen  \snr  an  krankhaftes 
Erleben  denken.  Schildert  einer,  daß  Gott  sich  seine  Werkzeuge " aussuche, 
daß  die  Menge  mit  Blindheit  geschlagen,  wenige  —  unter  ihnen  auch  er  — 
erleuchtet  seien,  so  darf  uns  das  stets  krankheitsverdächtig  vorkommen. 
Manche  Kranken  gehen  noch  weiter,  indem  sie  etw-^a  sagen :  „In  mir  personi- 
fiziert sich  der  heihge  Geist",  oder  „Ich  bin  Gottes  Sohn.'' 

Zusammenfassend  können  wir  also  sagen: 

1.  Religiöse  Ideen  können  ihrem  Inhalt  nach  kaum  in  gesunde  und  kranke 
geschieden  werden. 

2.  Auch  eine  scharfe  Scheidung  des  religiös-gesunden  und  -kranken  Er- 
lebens ist  nicht  möghch. 

3.  Rehgiöses  Erleben  darf  als  krankhaft  bezeichnet  werden: 

a)  bei  ungewöhnlicher  Dauer  und  Intensität  des  Einzelerlebnisses; 

b)  je  unklarer  religiöse  Begriffe,  je  unlogischer  die  Gedankenverknüpfung, 
je  sicherer  trotzdem  der  Gläubige; 

c)  je  erheblicher  der  Widerspruch  zwischen  Handlungen,  die  durch  den 
Glauben  beeinflußt  sind  einerseits  und  den  geltenden  Rechts-,  sozialen 
und  ethischen  Pflichten  andererseits; 

d)  je  stärker  der  Ichkomplex  im  Erleben  betont  ist. 

Manchen  wird  diese  Abgrenzung  wenig  befriedigen,  weil  er  kräftige  Unter- 
scheidungsmerkmale erwartete  und  nun  mit  feinen  Abstufungen  abgespeist 
wird.  Dem  ist  entgegenzuhalten,  daß  Wahnglaube  bei  ausgesprochenen 
Psychosen  aus  dem  Gesamtbild  leicht  als  solcher  erkannt  werden  kann,  daß 
aber  bei  psychischen  Grenzfällen  das  Kranke  meist  nur  quantitative  Unter- 
schiede gegenüber  normalem  seelischen  Geschehen  erkennen  läßt,  ja,  daß 
wir  sogar  bemüht  sind ,  quahtative  Unterschiede  in  quantitative  umzuformen 
(Farbenempfindungen  in  Äthersch\vingungen  verschiedener  Wellenlängen). 
Genaue  Meßmethoden  gibt  es  für  Bas  religiöse  Erleben  nicht.  Daher  wird 
auch  dem  Urteil  eines  Gutachters  immer  etwas  Subjektives  anhaften. 

Die  Förderung  und  Pflege  der  Erziehungswissenschaften  betreffen  in  den 
«Schulforderungen"  des  Deutschen  Lehrervereins  die  folgenden 
Leitsätze:  1.  Zur  Prüfung  und  Verbesserung  aller  inneren  und  äußeren  Schul- 
verhältnisse :  der  Erziehung,  des  Lehrverfahrens,  der  Auswahl  und  Gestaltung 
der  Unterrichtsstoffe,  der  Lehrmittel,  der  Schulgebäude  usw.,  zur  erziehungs- 


132  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

wissenschaftlichen  Bearbeitung  der  Schulzählungen,  zur  Beobachtung  der  Ent- 
wicklung des  Schul-  und  Erziehungswesens  im  Auslande,  ist  ein  ständiger 
Ausschuß  aus  Lehrern  aller  Schulgattungen  und  Nichtschulmännern  der  ver- 
schiedensten Lebensgebiete  und  Gesellschaftsschichten  einzusetzen,  der  sich, 
je  nach  dem  Beratungsgegenstande,  durch  Sachkundige  ergänzt.  2.  Diesem 
Ausschuß  liegt  es  auch  ob,  neue  Vorschläge  in  erziehungswissenschaftliche a 
Schriften  zu  behandeln,  sowie  ihre  Erprobung  in  Schulversuchen  anzuregen, 
insbesondere  auch  alle  von  anderer  Seite  kommenden  Vorschläge  zu  prüfen. 

Mitteilungen  über  die  „Schülerbewegung".  Das  miterlebende  und  stellung- 
nehmende Eingehen  unserer  Jugend  in  die  Zeit  der  großen  Umwälzung  ist  ein 
hervorragendes  jugendkundUches  Beobachtungsgebiet.  In  ihm  hebt  sich  eine 
engere  Erscheinungsgruppe  heraus,  bei  der  es  sich  um  das  eigentätige  Eingreifen 
der  Mittelschüler  in  die  äußere  und  innere  Umgestaltung  der  höheren  Schulen 
handelt  und  für  die  der  Name  „Schülerbewegung"  nicht  unzutreffend  gewählt 
worden  ist»  Eine  genaue  Kenntnis  dieser  Strömung,  die  sich  in  Versammlungen, 
in  Demonstrationszügen,  in  Streiks,  in  öffentlichen  Erklärungen  usf.  hier  und 
da  ausgiebig  der  revolutionären  Technik  bediente,  hat  neben  dem  wissen- 
schaftlichen Interesse  vor  allem  auch  nicht  geringe  praktische  Bedeutung. 
Noch  aber  ist  ein  genaues  Gesamtbild,  das  zuverlässig  Einsicht  in  den  Um- 
fang, die  Wurzeln,  die  Triebkräfte,  die  Erscheinungsformen,  die  Ziele,  die 
Führer  der  ausgebreiteten  Bewegung  gäbe,  nicht  zu  gewinnen.  Die  oberen 
Schulbehörden  werden  hoffentlich  nicht  versäumen,  das  dazu  erforderhche 
Material  in  amtlich  einzufordernden  Berichten  aus  den  einzelnen  Schulen  bereit- 
zustellen. Vorerst  ist  der  Beobachter  noch  angewiesen  auf  die  vereinzelten 
und  zufälligen  Mitteilungen  der  Fach-  und  Tagespresse.  Wir  stellen  einiges 
daraus,    ohne    selbst  Stellung    zu  nehmen,    zur  Kennzeichnung  zusammen. 

I.  In  Wien  fanden  am  16.  Dezember  1918  unter  außerordentlichem  An- 
dränge mehrere  große  Mittelschülerversammlungen  statt,  in  denen  von  den 
verschiedenen  Schülergruppen  gemeinsame  Forderungen  begründet  wurden. 
Einmütig  wurde  verlangt:  1.  Volle  Koalitionsfreiheit  in  den  Oberklassen.  Den 
Mitschülern  soll  es  gestattet  sein,  nach  den  Bestimmungen  des  Vereinsgesetzes 
nichtpolitische  Vereine  zu  bilden.  Es  ist  daher  zunächst  die  Aufhebung  aller 
Paragraphen  der  Mittelschul -DiszipHnarvorschriften  zu  verfügen.  2.  In  den 
Mittelschulen  sind  Schulgemeinden  zu  bilden.  In  Orten,  wo  sich  mehrere 
Mittelschulen  befinden,  werden  diese  zu  Zentralschülerausschüssen  zusammen- 
geschlossen. 3.  Volle  Gewissensfreiheit.  Kein  Mittelschüler  soll  fürderhin 
wegen  seiner  politischen  oder  religiösen  Überzeugung  in  seinem  Schulfortgange 
behindert  werden.  Der  Zwang  zur  Teilnahme  an  religiösen  Übungen  hat  an 
allen  Mittelschulen  aufzuhören.  4.  Durchführung  einer  Schulreform.  Der 
Lehrplan  der  Mittelschulen  soU  so  umgestaltet  werden,  daß  die  Absolventen 
den  Anforderungen  des  praktischen  Leben94)esser  entsprechen.  5.  Insbesondere 
ist  der  Lehrplan  der  letzten  Klassen  sofort  noch  vor  Wiederaufnahme  des 
Unterrichts,  entsprechend  den  rein  praktischen  Forderungen  der  Zeit,  provi- 
sorisch zu  ändern. 

Es  wurde  beschlossen,  diese  Fordemngen  dem  nied.-österr.  Landesschul- 
rate  zu  überreichen  und  ihnen  durch  Veranstaltung  eines  Demonstrations- 
zuges Nachdruck  zu  verleihen.  Zu  dieser  Kundgebung  vereinigten  sich  die 
Mitglieder  des  Deutschen  Mittelschülerbundes,  der  Freien  Vereinigung  soziali- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  133 


stischer  Mittelschüler,  der  Zionistischen  und  Militärdienst  leistenden  Mittel- 
schüler, der  Wandervögel,  der  Pfadfinder,  des  Reformrealgjmnasiiuns  für 
Mädchen  und  anderer  Mädchenmittelschulen,  Hörer  der  Wiener  Handels- 
akademien sowie  Abordnungen  aus  Wiener -Neustadt,  Mödling  und  anderen 
Orten.  Der  Zug  bewegte  sich  vom  Schwarzenbergplatz  in  vollster  Ordnung 
nach  der  inneren  Stadt.  Hier  kam  es  leider,  während  eine  Anzahl  von 
SchOIer\'ertretem  beim  Landesschulrate  weilte,  um  diesem  die  Wünsche  der 
Schülerschaft  vorzutragen,  zu  beklagenswerten  Zusammenstößen  mit  der 
Polizei,  die  in  ihren  Ursachen  noch  nicht  völlig  aufgeklärt  erscheinen.  Beim 
Landesschulrate  selbst  fanden  die  Schülervertreter  einen  durchaus  freundlichen 
und  entgegenkommenden  Empfang,  und  in  dieser  ersten  wie  in  einer  zweiten, 
am  nächsten  Tage  abgehaltenen  Besprechung  wurden  in  den  meisten  Punkten 
weitgehende  Zugeständnisse  erreicht.  (Zeitschr.  f.  Kinderschutz  u.  Jugend- 
fürsorge.  XI.  Jahrg.   Nr.  1.) 

II.  Hohen  Wert  für  die  spätere  wissenschaftliche  Erforschung  der  Schüler- 
bewegung haben  zahlreiche  öff enthche  und  geheime,  unterzeichnete  und  namen- 
lose Flugblätter  und  Zuschriften,  die  in  den  höheren  Lehranstalten  von  Hand 
zu  Hand  gingen.  Die  Sammlung  dieser  Quellenstücke  wäre  ein  dankens- 
wertes Unternehmen.  Wir  drucken  als  Beispiel  einen  Aufruf  aus  dem  No- 
vember 1918  ab,  den  die  Freideutsche  Dürergemeinde  an  der  Dürer- 
schule Hochwaldhausen  unter  der  Überschrift  „An  die  Jugend  der 
höheren  Schulen"  ausgegeben  hat. 

Liebe  Kameraden!  An  Euch,  die  Schüler  der  oberen  Klassen  der  höheren  Lehranstalten, 
wenden  wir  uns  in  Deutschlands  Schicksalsstunde  als  an  unsere  Kameraden. 

Auf  den  Trümmern  der  alten  Zeit  wird  Neu-Deutschland  aufgebaut.  Ein  neuer  Geist,  frisch 
imd  jugendlich,  soll  die  neuen  Formen  des  nationalen  Lebens  erfüllen.  Ungezählte  Hände  sind 
am  Werk,  Überlebtes,  Minderwertiges,  das  ernster  Prüfung  nicht  standhält,  fortzuräumen  und 
Lebensstarkes,  Wertvolles  an  seine  Stelle  zu  setzen.  Nun  ist  es  auch  Zeit,  daß  die  gesamte 
Jugend  lerne,  mit  innerer  Wahrhaftigkeit  und  vor  eigener  Verantwortung  ihr  Leben  zu  gestalten. 
Vor  allem  sollte  sie  sich  in  der  Schule  bewußt,  durch  eigene  Arbeit,  eine  Heimat  schaflen,  in 
der  Stätte,  die  bisher  den  größten  Teil  ihrer  Zeit  und  Kraft  verlangte,  ohne  daß  die  Jugend 
recht  wußte,  wozu. 

Jugend,  noch  allzu  oft  eine  tote  Masse,  die  sich  formen  und  bilden  ließ,  ohne  den  eigenen 
Willen  dafür  einzusetzen,  soll  nicht  nur  gut  genug  dazu  gewesen  sein,  fürs  Vaterland  zu  stert)en : 
sie  soll  ihm  auch  zu  seinem  Aufl)au  im  Frieden  ihre  Kraft  leihen. 

Die  neue  Schule,  eine  kulturbewahrende  und  kulturschöpferische  Gemeinschaft  von  Jugend- 
lichen und  Er^'achsenen,  ist  das  Gebiet,  auf  dem  die  zum  Selbstbewußsein  erwachte  Jugend  zu- 
nächst mitarbeiten  muß. 

Darum  zögert  nicht!  Nehmt  die  Reform  des  Lebens  Eurer  Schule  selbst  in  die  Hand!  Geht 
an  die  W^urzel  der  Schäden  heran :  Tilgt  Oberflächlichkeit  und  Gleichgültigkeit  gegen  das  Geistige, 
schafft  eine  Schulmoral  gegenseitiger  Aufrichtigkeit,  Wahrhaftigkeit,  Kameradschaftlichkeit.  Macht 
aus  Eurer  Schule  eine  Arbeitsgemeinschaft.  Eine  Gemeinschaft  aber  ist  nicht  möglich, 
wenn  Schüler  und  Lehrer,  wie  bisher  noch  allzu  oft,  gegeneinanderstehen.  Gemeinsam  muß 
der  Weg  gehen;  ladet  Eure  Lehrer  zu  gemeinsamer  Arl)eit  ein,  versucht  mit  ihnen  gemeinsame 
Sache  zu  machen!  Zeigt  ihnen,  daß  Ihr  nach  der  wahren  Freiheit  strebt,  nicht  nach  Willkür 
und  ZügeUosigkeit,  daß  Ihr  Euch  freiwillig  unter  selbstgeschaffene  GSesetze  stellt,  daß  Eurer  Tat- 
willen ernst  ist,  daß  Ihr  dem  Geiste  Gefolgschaft  leisten  wollt. 

Viblleicht  wißt  Ihr  nicht,  wie  Ihr  dahin  kommen  sollt.  Wir,  die  älteren  Schüler  der  Dürer- 
schule Hochwaldhausen,  arbeiten  seit  Jahren  an  der  Ausgestaltung  unserer  Schule  in  Gemein- 
schaft mit  unseren  Lehrern  und  Erziehern,  die  imsere  Kameraden  und  Freunde  sind.  Wir  wollen 
Euch  gern  kameradschaftlich  helfen,  wenn  es  Euch  ernst  ist,  daß  die  neue  Schule  durch  Euch 
an  der  Neuschaffung  Deutschlands  mitarbeitet. 

Schreibt  uns,  wenn  Ihr  tinseren  Rat  wollt ;  wir  werden  Euch  antworten ;  wir  wollen  auch  zu 
Euch  kommen,  und  Ihr  sollt  zu  uns  kommen  zu  gemeinsamer  Beratung. 


134  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

Die  gesamte  Jugend  wird  heute  verlangt;  stellt  nicht  beiseite,  versäumt  nicht  den  Augen- 
blick, der  über  Deutschlands  Schicksal  entscheidet ! 

Aus  demselben  Kreise  und  derselben  Zeit  stammt  ein  zweites  Flugblatt, 
gerichtet  an  die  Schüler  und  Schülerinnen  der  oberen  Klassen  der 
höheren  Lehranstalten  Hessens.  Es  gibt  vornehmlich  praktische  An- 
weisungen zur  Verwirklichung  der  Gedanken  und  Ziele  der  Jugendbewegung 
und  bietet  damit  ein  anschaulicheres  Bild  des  Erstrebten.  Unterzeichnet  haben 
es  der  Leiter  der  Anstalt  G.  H.  Neuendorff  und  i.  A.:  A.  u.  Gl.  Brügelmann. 
Es  lautet: 

Kameraden!  Kameradinnen!  Gründet  Schülerausschüsse!  Die  Schule  im  neuen  Deutsch- 
land muß  von  den  Schülern  mit  geschaffen  werden.  Überlegt  Eure  Forderungen  und  verwirk- 
licht sie  mit  Verantwortlichkeitsgefühl,  Eifer  und  Uneigennützigkeit.  Helft  Sicherheiten  schaffen, 
daß  der  neue  Geist  auch  in  den  Schulen  zur  Herrschaft  kommt !  Die  neue  Schule  ist  das  wich- 
tigste Stück  am  kulturellen  Neubau  Deutschlands.  Laßt  persönliche  Beweggründe:  Ehrgeiz,  Ver- 
geltungssucht  beiseite! 

Wie  kommt  ein  Schülerausschuß  zustande? 

Jede  Klasse  von  Untersekunda  aufwärts,  an  den  Lehrerseminaren  alle  Klassen,  an  den  Lyzeen 
die  zwei  oberen  Klassen,  wählen  drei  ihrer  tüchtigsten  und  innerlich  vornehmsten  Mitglieder 
als  Angehörige  des  Schülerausschusses.  Sie  suchen  sich  —  wenn  vorhanden  —  einen  inner- 
lich jung  gebliebenen  Lehrer,  der  ihr  Vertrauen  hat,  möglichst  nach  Verhandlung  und  im  Ein- 
verständnis mit  dem  Direktor  als  einen  Vertreter  des  Lehrerkollegiums.  Wenn  Ihr  keinen  findet, 
müßt  Ihr  die  Arbeit  allein  tun.  Dieser  so  gebildete  Schülerausschuß  wählt  das  geeignetste  Mit- 
glied zum  Leiter  der  Versammlungen;  es  braucht  nicht  der  Lehrer  zu  sein.  Der  Schüleraus- 
schuß veranstaltet  regelmäßig  Aussprachesitzungen,  zu  denen  kein  anderer  Lehrer  oder  Schüler 
Zutritt  hat.  Rückhaltlose  Offenheit!  Keine  Furcht  vor  Schulstrafen  oder  Gegnerschaft  der 
Lehrer!     Alle  freiheitlich  Gesinnten  stehen  hinter  Euch! 

Zu  den  regelmäßigen  Gegenständen  der  Besprechungen  gehören: 

1.  Vorbringen  von  Wünschen  an  die  Leitung  oder  die  Lehrerkonferenz  über  bildende  Ver- 
anstaltungen, die  sonst  in  der  Schule  nicht  stattfinden,  z.  B.  Besprechungen  über  Alkohol- 
frage, Geschlechtsfrage,  Berufsfrage,  staatsbürgerliche  Fragen,  politische  Angelegenheiten, 
Hochschulwesen,  Frauenfrage,  Fragen  der  Hygiene  usw.  Für  solche  Veranstaltungen  steht 
Euch  jederzeit  ein  Vertreter  der  Erzieher  oder  der  älteren  Schüler  der  Dürerschule  zur  Ver- 
fügung. 

2.  Veranstaltung  von  Schülerversammlungen  zur  Orientierung  über  die  Jugendbewegung.  Lest 
dazu  die  Zeitschrift  „Freideutsche  Jugend"  (Verlag  Adolf  Saal,  Hamburg)  und  die  Veröffent- 
lichungen der  Dürerschule:  „Bücher  der  Dürerschule  I— III "  (Verlag  B.  G.  Teubner,  Leipzig. 
Berlin),  Vierteljahrschrift  „Dürerschule"  (Verlag  Ehrenklau,  Lauterbach,  Hessen,  auch  durch 
die  Geschäftsstelle  der  Dürerschule  Hochwaldhausen  zu  beziehen).  Auch  hierfür  stehen 
wir  Euch  zur  Verfügung. 

3.  Anträge  an  die  Schulleitung  oder  die  Lehrerkonferenz  über  Einrichtungen  der  Schule: 
Schülerlesezimmer  mit  Bücherei,  Zeitschriften  und  Zeitungen  (Vorschläge  machen  wir  Euch 
nötigenfalls),  Spiel-  und  Sportplätze. 

4.  Anträge  über  Veranstaltungen  der  Schule:  Wanderungen,  Besichtigungen,  Schulfeste.  Wie 
sie  gefeiert  werden  sollten,  seht  Ihr  im  Dritten  Buch  der  Dürerschule:  „Das  Fest". 

5.  Aufbauende  Kritik  an  den  bisherigen  Einrichtungen  und  Veranstaltungen  der  Schule.  Vor- 
schläge zur  Besserung.  Beispiele  im  Zweiten  Bericht  der  Dürerschule,  Kapitel  Gemein- 
schaftserziehung. 

6.  Der  Vervollkommnung  der  Schule  dienende,  nicht  aus  persönlichen  Motiven  entspringende 
Kritik  an  Unterrichtsmethoden  und  Unlerrichtsgegenständen,  Vorschläge  zur  Besserung. 

7.  Ehrliche,  offene  Aussprache  über  das  Verhältnis  zwischen  Lehrern  und  Schülern.  Herbei- 
führung gemeinsamer  Aussprachen  mit  den  Lehrern.  Habt  den  Willen  zur  Verständigung, 
kämpft  aber  gemeinsam  gegen  Ungerechtigkeit  und  Vergewaltigung! 

8.  Schaffung  einer  neuen  Schulmoral,  ohne  die  Euch  entwürdigenden  Mittel  des  Abschreibens, 
Vorsagens,  überhaupt  aller  auf  Täuschung  berechneten  Mittel,  die  bisher  im  Schwünge 
waren.     Geht  dabei  Euren  Kameraden  mit  gutem  Beispiel  voran! 

Wie  kommen  Beschlüsse  des  Schülerausschus%ßs  zustande? 
Die  Ergebnisse  der  Besprechungen  werden  zu  Anträgen  zusammengefaßt.    Über  die  Anträge 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  135 

■wird  darch  Handaufhebung  mit  '/s  oder  ^/4  Mehrheit  entschieden.  Jedes  Mitglied  des  Schüler- 
ausschusses hat  1  Stimme.  Die  Besctilüsse  des  Schülerausschusses  werden  —  wenn  vorhanden  — 
durch  Vermittelung  des  ihm  angehörenden  Lehrers,  sonst  durch  den  Vorsitzenden  des  Schüler- 
ausschusses dem  Direktor  als  Anträge  an  die  Leitung  oder  die  Lehrerkonferenz  vorgelegt.  Falls 
ein  Antrag  nicht  entgegengenommen  werden  sollte,  wendet  Euch  an  die  Schulabteilung  des 
Hessischen  Ministeriums  des  Innern  und  gebt  uns  Nachricht. 

Gemeinsame  Tagungen  von  Schülerausschüssen. 

Die  verschiedenen  Schülerausschüsse  in  den  einzelnen  Städten  veranstalten  gemeiosame 
Sitzungen;  die  Vertreter  sämtlicher  Schülerausschüsse  Hessens  laden  wir  zu  einer  gemeinsamen 
Besprechung  nach  der  Dürerschule  Hochwaldhausen  ein.  Genaueres  darüber  in  kurzer  Zeit. 
Gebt  uns  sofort  nach  Bildung  der  Schülerausschüsse  die  Anschriften  Eurer  Vorsitzenden  an '. 
Unterrichtet  uns  über  jedes  wichtige  Vorkomnmis!  Besprecht  die  Gründung  einer  gemeinsamen 
den  Interessen  der  Schüler  dienenden  hessischen  Schülerzeitschrift! 

.Jugendbünde. 

Wenn  Ihr  Euch  in  gemeinsamem  Wollen  gefimden  habt,  erwägt  Euren  Zusammenschluß  zu 
örtlichen  Jugendbünden,  die  gegenseitiger  Anregung,  Stärkung,  Erziehung  zu  adeliger  Gesinnung 
und  jugendlichem  Tun  dienen  sollen.  Der  Beitritt  zu  solchen  Jugendbünden  wird  Euch  von  der 
Schulbehörde  genehmigt  werden.  So  wird  die  Erweiterung  der  Selbstverwaltung  der  Schüler 
angebahnt  werden.  Ziel  ist:  Jede  Schule  eine  Schul  gemeinde;  eine  durch  einen  eigenen  Stil 
und  durch  selbstgeschaffene'  Gesetze  zusammengehaltene  Lebensgemeinschaft  grundsätzlich 
gleichberechtigter  Persönlichkeiten,  eine  in  Kameradschaftlichkeit  verbundene  Gemeinde  ohne 
Unterschied  des  Geschlechtes,  Standes,  Besitzes.  Ihre  gesetzgel)ende  Gew£ilt  liegt  in  den  Händen 
der  Gesamtheit  der  Lehrenden  und  Lernenden.  Sie  erfaßt  den  ganzen  Menschen;  die  Schule 
wird  zur  wirklichen  Heimat  ihrer  jugendlichen  Glieder.  Sie  arbeitet  durch  Freimachung  der 
Produktivität  aller  ihrer  Angehörigen  mittelt)ar  und  unmittelbar  am  geistigen  Fortschritt  der 
Menschheit  mit,  schafft  selbst  Kultur,  wird  ein  geistiges  Zentnim  im  Leben  des  Volkes. 

Den  Schülerbünden  gehören  grundsätzlich  nur  Jugendliche  an.  Innerlich  jung  gebliebene 
Lehrer  sollen  nicht  ausgeschlossen  sein.  Auch  ehemalige  Mitschüler  und  -Schülerinnen  und  An- 
gehörige anderer  Schulen  können  aufgenommen  werden.  Eine  strenge  Auslese  muß  gewähr- 
leistet sein;  es  kommt  auf  die  innerlich  vornehme  Gesinnung  an.  Neue  Mitglieder  wären  des- 
halb nur  mit  großer  Mehrheit  bei  der  At)stimmung  aufzunehmen. 

Aufgaben  der  Schülerbünde. 

1.  Körperliche  Durchbildung  durch:  rhythmische  Gymnastik,  künstlerischen  Tanz  (kein  kritik- 
loses Tanzen  von  Volkstänzen  I),  Turnen,  Schwimmen,  Skilaufen,  Sport,  Spiel  aller  Art. 

2.  Geistige  Bildung:  Vorträge,  Diskxissionsabende  über  alle  Fragen  des  Lebens  und  der  Er- 
kenntnis, von  denen  Ihr  glaubt,  daß  sie  Euch  angehen. 

3.  Kunstpflege:  Veranstaltimg  von  .\usst eilungen,  Musikaufführungen,  literarischen  Abenden. 
Wir  wollen  Euch  dabei  gern  durch  Nachweis  von  Schriften  und  Noten,  Aufstellen  von  Pro- 
grammen usw.  behilflich  sein.  Gemeinsame  Veranstaltungen  zur  Erarbeitimg  künstlerischer 
Kenntnisse,  dadurch  Bildung  eines  klaren  Urteils  und  eines  unbestechlichen  Geschmacks: 
Ihr  sollt  das  neue  Publikum  werden,  das  ein  bewußtes  Verhältnis  zu  den  wirklich  großen 
Künstlern  der  Gegenwart  hat  und  nicht  mehr  abhängig  ist  von  fremdem  Urteil. 

4.  Pflege  einer  stilvollen  jugendlichen  Geselligkeit.  Kein  gedankenloses  und  stilloses  Ge- 
nießen!    Gnmdsätzlicher  Ausschluß  von  Alkohol  und  Nikotin. 

5.  Erweckung  und  Pflege  von  Vaterlandsliebe ;  das  soll  nicht  heißen :  blinder,  lauter  „Patrio- 
tismus'', das  soll  heißen:  Liebe  zur  Heimat;  sie  erwächst  aus  gemeinsamen  Wanderungen, 
Ferienreisen,  Besichtigungen  von  kulturell  bedeutsamen  Stätten. 

6.  Erziehung  zu  sozialem  Denken  und  Handeln  innerhalb  und  außerhalb  der  Gemeinschaft, 
überhaupt  Schaffung  eines  neuen  jugendlichen  Lebens  vor  eigener  Verantwortung 
und  in  innerer  Wahrhaftigkeit 

„Laßt  Euch  den  Freundschaftsbund  Eurer  Jugend,  den  Jugendbundesstaat,  ein  Bild 
werden  des  vaterländischen  Staates,  dessen  Dienst  Ihr  bald  Euer  ganzes  Leben  weihen 
wollt!     Haltet  fromm  bei  Tapferkeit,  Ehre  und  Gerechtigkeit!  .  .  .   Lasset  uns  aus 
dem  Freimdschaftsbund  Eurer  Jugend  den   Geist  kommen  in  das  Leben  unseres 
Volkes ;  denn  jünglingsfrisch  soll  nns  erwachsen  deutscher  Gemeingeist,  für  Vater- 
land, Freiheit  und  Gerechtigkeit"  (I.F.Fries,  1817.) 
Nehmt  Euch  nicht  alles  zu  gleicher  Zeit  vor,  sondern  sucht  Euch  das  aus,  was  Eurer  Lage,  den 
Verhältnissen  in  Eurer  Stadt,  Euren  Neigungen  und  Fähigkeiten  am  nächsten  liegt! 


136  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

3.  Das  Preußische  Ministerium  für  Wissenschaft,  Kunst  und  Volksbildung; 
hat  wie  an  die  höhere  Lehrerschaft  so  auch  an  die  Schüler  und  Schülerinnen 
der  höheren  Schulen  Preußens  eine  Verfügung  gerichtet,  unterzeichnet  von 
Konrad  Haenisch.  In  ihr  werden  die  Bestimmungen  für  die  neuen  Ein- 
richtungen der  „Schülergemeinde  und  des  Schülerrates"  mitgeteilt.  Voran- 
gestellt und  angefügt  aber  sind  die  folgenden  ermunternden  und  mahnenden 
Ausführungen : 

Die  neue  Regierung  des  Freistaates  Preußen  wendet  sich  an  Euch,  die  Schülerschaft  der 
höheren  Schulen  Preußens,  insonderheit  an  die  Älteren  unter  Euch,  um  Euch  zu  sagen,  was 
sie  der  Schule  und  der  Jugend  zu  bringen  hat  und  was  sie  von  Euch  erwartet. 

Aus  der  Schule  sind  in  schöner  Begeisterung  Tausende  hinausgestürmt  in  den  Krieg,  um 
ihr  junges  Leben  dem  Vaterland  zu  weihen.  Sie  haben  voll  Sehnsucht  nach  letztem  Ernst  und 
wirklicher  großer  Pflicht  die  Gelegenheit  zu  höchster  Bewährung  und  Treue  ergriffen,  die  ihnen 
der  Krieg  zu  bieten  schien.  Erschüttert  und  dankbar  gedenken  wir  noch  einmal  dieses  Auf- 
flammens  jugendlichen  Opfermutes,  tief  erschüttert  der  furchtbaren  Opfer,  die  dieser  Krieg  gerade 
aus  den  Reihen  der  Jugend  gefordert  hat.  Eine  Jugend,  die  so  ihre  Treue  mit  ihrem  Blute  be- 
siegelt hat,  können  und  wollen  wir  nicht  mehr  als  eine  unreife  und  unmündige  Masse  behandeln. 
Auch  Ihr,  die  Jugend  und  die  Schule,  sollt  teilhaben  an  der  neuen  Freiheit  und  Selbstbestim- 
mung unseres  Volkes.  Und  wir  hoffen,  daß  vieles,  was  unter  einem  veralteten  und  toten  System 
der  Unfreiheit  in  Eurer  Seele  noch  hungern,  kranken  und  verkrüppeln  mußte,  in  der  neuen 
Welt  der  Freiheit  gesunden  und  aufblühen  wird. 

Um  einen  Anfang  zu  machen  mit  der  Befreiung  schlummernder  und  gebundener  Kräfte  der 
Jugend,  um  ihr  eine  erste  Möglichkeit  zu  eröffnen,  aus  innerer  Wahrhaftigkeit  und  unter  eigener 
Verantwortung  an  der  Gestaltung  ihres  Lebens  mitzuwirken,  und  um  die  Richtung  zu  bezeichnen, 
in  der  sich  unsere  Arbeit  an  der  öffentlichen  Erziehung  bewegen  wird,  für  die  alle  Erziehung 
nur  Hilfe  zur  Selbsterziehung  ist,  bestimmen  wir: 

An  jeder  höheren  Schule  (Vollanstalt)  sowie  an  den  Lehrer-  und  Lehrerinnenseminaren, 
Präparandenanstalten,  Oberlyzeen  und  Studienanstalten  wird  bis  Ende  dieses  Jahres  eine  Ver- 
sammlung sämtlicher  Lehrer  und  sämtlicher  Schüler,  an  den  höheren  Schulen  von  der  Klasse 
Obertertia  an  aufwärts,  einberufen.  Diese  Versammlung  wählt  in  geheimer  Wahl  mit  gleichem 
Stimmrecht  der  Lehrer  und  Schüler  einen  Lehrer  zum  Versammlungsleiter.  Dieser  liest  den  vor- 
liegenden Aufruf  an  die  Schüler  vor  und  stellt  die  Frage  zur  Verhandlung,  ob  man  die  im 
folgenden  angegebenen  neuen  Einrichtungen  an  der  betreffenden  Schule  einzuführen  wünscht. 
Es  findet  eine  freie  Aussprache  darüber  statt  und  zum  Schluß  eine  geheime  Abstimmung  über 
die  Einführung.  Annahme  oder  Ablehnung  geschieht  mit  einfacher  Mehrheit.  Im  Fall  der  Ab- 
lehnung muß  die  Versammlung,  jedoch  frühestens  nach  Ablauf  von  4  weiteren  Wochen,  wieder 
holt  werden,  wenn  entweder  mindestens  30  Schüler  oder  5  Lehrer  dies  verlangen.  Über  die 
Versammlung  ist  Protokoll  zu  führen.  Wo  mit  der  Demobilisierung  zusammenhängende  Um- 
stände eine  Abhaltung  der  angeordneten  Versammlung  in  der  angegebenen  Frist  nicht  gestatten, 
kann  beim  Ministerium  um  Verlängerung  der  Frist  nachgesucht  werden. 

Die  zur  Einführung  freigegebenen  Einrichtungen  sind  die  ^Schulgemeinde"  und  der  Schüler- 
rat.    Es  gelten  für  sie  folgende  Bestimmungen: 

1.  An  jeder  höheren  Schule  (Vollanstalt),  bei  jedem  Lehrerseminar,  jeder  Präparandenanstalt, 
jeder  Studienanstalt  und  jedem  Oberlyzeum  findet  alle  zwei  Wochen  einmal  zu  einer  zum 
lehrplanmäßigen  Unterricht  gehörenden  Stunde  eine  „Schulgemeinde"  statt,  d.  h.  eine 
völlig  freie  Aussprache  von  Lehrern  und  Schülern  über  Angelegenheiten  des  Schullebens, 
der  Disziplin,  der  Ordnung  usw.  Die  Leitung  der  Versammlung  hat  ein  v-on  der  Schüler- 
schaft in  geheimer,  gleicher  Wahl  ernannter  Lehrer  zu  übernehmen.  An  der  Schulgemeinde 
hat  der  Leiter  der  Schule  und  das  ganze  Kollegium  teUzunehraen,  sowie  alle  Schüler,  in 
den  höheren  Schulen  und  Studienanstalten  von  der  Obertertia  an  aufwärts.  Die  Schul- 
gemeinde kann  ihre  Wünsche  und  Meinungen  in  der  Form  von  Entschließungen  zum  Aus- 
druck bringen,  anordnende  oder  gesetzgebende  Befugnis  hat  sie  jedoch  zunächst  nicht.  In 
der  Schulgemeinde  hat  jeder  Schüler  und  Lehrer  eine  Stimme ;  sie  beschließt  mit  einfacher 
Mehrheit.  Ihre  Geschäftsordnung  beschließt  die  Schulgemeinde  selbständig.  Über  die  Ver- 
handlungen und  Beschlüsse  wird  Protokoll  geführt. 

2.  Die  Schulgemeinde  wählt  aus  der  Schülerschaft  einen  Schülerrat,  der  ständig  die  Inter- 
essen der  Schülerschaft  zu  vertreten  und  im  Einvernehmen  mit  Schulleitung  und  Lehrer- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  137 

Schaft  für  Ordnung  zu  sollen  hat.  Der  Schülerrat  gibt  sich  selbst  eine  Arbeitsordnung^ 
und  legt  sie  der  Schulgemeinde  zur  Genehmigung  vor. 

Von  jetzt  ab  wird  den  Schülern  völlige  Freiheit  zur  Bildung  unpolitischer  Vereine  (z.  B. 
Wandervogelgruppen,  Sportvereine,  Sprechsäle,  Vereine  zur  Pflege  geistiger  Interessen  oder  künst- 
lerischer Betätigung  usw.)  im  Rahmen  des  geltenden  Rechts  gewährt.  Auch  dürfen  die  Schüler- 
schaften verschiedener  Schulen  miteinander  in  Verbindung  treten.  Durch  die  Schuldisziplin  findet 
keinerlei  Beeinträchtigung  staatslxirgerlicher  Rechte  statt.  Wir  machen  es  jedoch  der  Schüler- 
schaft zur  Pflicht,  daß  sie  dem  Ernst  dieser  Zeit  entsprechend  für  immer  absage  der  Nacli- 
äffiing  eines  veralteten  studentischen  Verbindungswesens  und  der  Durchseuchimg  ihrer  Gesellig- 
keit mit  dem  Alkoholismus,  über  den  wir  uns  eine  besondere  Aufklärung  vorbehalten. 

Wir  erwarten  von  der  Jugend,  daß  die  neue  Freiheit  nie  zur  Entfesselung  niederer  Triebe 
mißbraucht  wird,  insonderheit  würde  es  einer  edlen  Jugend  unwürdig  sein,  sie  zu  irgendeiner 
Ungehörigkeit  oder  gar  zur  Rache  für  früher  erlittenes  Unrecht  zu  benutzen.  Nie  werden  wir 
dazu  die  Hand  bieten.  Euer  Blick  sei  nach  vorwärts  gerichtet  Wir  erwarten  von  einer  Jugend, 
die  die  furchtbarsten  Zeiten  unseres  Volkes  mit  Bewußtsein  miterlebt  hat,  die  Tausende  ihrer 
Kameraden  als  Opfer  hat  fallen  sehen  und  die  jetzt  teilhat  an  dem  großen  Aufatmen  des  Volkes, 
daß  sie  den  weltgeschichtlichen  Ernst  dieser  Stunde  und  die  große  Verantwortung,  die  auf  ihr 
ruht,  begreife.  Wir  verlangen  von  Euch  noch  keine  Stellungnahme  zu  der  politischen  Umwälzung 
und  Neuordnung.  Und  wo  man  versuchen  sollte.  Euch  zu  einer  Entscheidung  gegen  die  neue 
Freiheit  zu  verleiten,  da  vertrauen  wir  auf  die  Macht  der  Wahrheit  und  sind  gewiß,  daß  der 
gesunde  und  unverbogene  Sinn  der  reiferen  Jugend  bald  selbst  die  richtige  Stellung  zu  den 
Ereignissen  finden  wird.  Wir  wollen  keine  politisierende  Jugend;  wir  wollen  ein  freies,  freudiges 
und  unbefangenes  Leben  der  Jugend ;  aber  kindischer  Unfug  und  leere  Gedankenlosigkeit  dürfen 
darin  keine  Stätte  mehr  haben.  Wir  hoffen,  daß  die  neuen  Möglichkeiten  zur  Mitwirkung  an 
der  Gestaltung  Eures  Schul-  und  Gemeinschaftslebens  Euch  mit  einem  neuen  Gefühl  der  Mit- 
verantwortung für  die  Zukunft  unseres  Volkes  und  mit  einem  freudigen  Eifer  zur  inneren  Er- 
neuerung von  Schule  und  Jugend  erfüllen  werden.  Möge  ein  neues  Verhältnis  von  Kamerad- 
schaft zwischen  Euch  und  Euren  Lehrern  entstehen,  möge  die  Luft  der  Schule  gereinigt  werden 
von  dem  Ungeist  der  toten  Unterordnung,  des  Mißtrauens  imd  der  Lüge.  Alle  Kräfte  unseres 
Volkes  müssen  angespannt  werden,  um  ihm  aus  furchtbarem  Zusammenbruch  ein  neues,  schöneres 
Leben  zu  erringen.  Unermüdliche  Arbeit  und  strengste  Pflichterfüllung  ist  das  Gebot  der  Zeit 
auch  im  Lebens-  und  Wirkungskreis  der  Jugend. 

Wir  aber  versprechen,  daß  wir  die  Arbeit  der  Jugend  nicht  nur  von  einem  den  Körper 
schädigenden  Übermaß,  sondern  auch  von  allen  sinnlosen  und  verrotteten  Resten  einer  über- 
lebten Zeit  befreien  und  nach  den  Forderungen  der  neuen  Zeit  und  der  ewigen  Werte  der  Mensch- 
heit umgestalten  wollen.  Wir  hoffen,  der  Jugend  bald  die  innere  Gewißheit  geben  zu  können, 
durch  ihre  Bewährung  in  Arl)eit  und  Freiheit  an  ihrem  Teile  mitzuschaffen  am  Wiederaufbau 
unserer  Volksgemeinschaft  und  an  der  Wiedergebiui  unserer  Kultur.  Möge  die  Jugend  durch 
Ernst  und  Treue  ein  Vertrauen  rechtfertigen,  wie  es  ihr  bisher  in  der  Geschichte  noqh  nie  ent- 
gegengebracht worden  ist. 

4.  Quellen material  für  das  Studium  der  Schülerbewegung  bietet  die  Halb- 
monatsschrift „Der  neue  Anfang  —  Zeitschrift  der  Jugend".  Sie 
will  eine  Weiterfühnmg  des  von  G.  Barbizon  und  S.  Bemfeld  begründeten 
„Anfang"  sein,  der  am  April  1913  erschien,  zu  Kriegsausbruch  aber  ein- 
gestellt wurde.  Als  Schriftleiter  nennt  sich  Hermann  Schlicht.  Ebenso  hat 
in  den  „Politischen  Rundbriefen",  herausgegeben  von  Karl  Bittel 
(Karlsruhe),  die  Schülerbewegung  ein  Organ,  das  ihre  Bestrebungen  vertritt 
und  über  die  Vorgänge  fortlaufend  Bericht  erstattet.  Als  Flugblatt  unter  der 
Überschrift  „Die  Jugend  im  neuen  Volksstaat"  ist  ein  Sonderabdruck  von 
Nr.  10  verbreitet  worden.  Auch  „Der  Aufbau",  Flugblätter  an  die  Jugend, 
herausgegeben  von  der  Freien  Hochschulgemeinde  Berlin  (zu  beziehen  durch 
Hermann  Schüller,  Berlin,  Bauhofstr.  7)  unterstützt  (wie  seine  Nr.  9  „An  die 
Schüler:  Gründet  Schulgemeinden!"  zeigt)  die  Schülerbewegung.  Von  öster- 
reichischen Zeitschriften  und  Blättern  seien  genannt:  Sozialistische  Jugend, 
Organ  der  sozialistischen  Mittelschüler  Wiens  (erscheint  wöchenthch);  Die 
kommunistische  Jugend,  Organ  der  kommunistischen  Proletarierjugend  (halb- 


138  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


monatlich);    Mitteilungen  an  alle* Mittelschüler,  herausgegeben  vom  Komitee 
zur  Bildung  eines  zentralen  Mittelschülerausschusses  (wöchentlich). 

Elternbund  „Neue  Schule"  nennt  sich  eine  jüngst  gegründete  Vereinigung, 
die  im  Unterschied  zu  den  schon  bestehenden  Schulreformgesellschaften  eine 
Erneuerung  des  deutschen  Jugendbildungswesens  auf  völlig  veränderter  Grund- 
lage erstreben  möchte.  Aus  ihrem  Arbeitsplane  ist  zu  begrüßen  und  zu  unter- 
stützen, daß  beabsichtigt  ist,  auch  die  Versuche  zu  Schul  Verbesserungen 
in  allen  Kulturländern  zu  prüfen  und  die  neuen  Gedanken  in  Versuchs- 
klassen  und  Versuchsschulen  praktisch  zu  erproben  —  zwei  Bestrebun- 
gen, die  innerhalb  des  pädagogischen  Lebens  der  letzten  Jahrzehnte  immer 
wieder  angeregt  und  auch  —  allerdings  nicht  in  befriedigender  Weise  — 
verwirklicht  worden  sind.  Welche  Anschauungen  die  Gründer  des  Eltern- 
bundes leiten,  wird  ersichtlich  aus  den  „Leitsätzen",  die  sie  verbreiten. *)  In 
ihnen  wird  die  deutsche  Schule  in  den  folgenden  Maßlosigkeiten  herab- 
gewürdigt : 

Was  aber  leistet  die  bestehende  Schule? 
Sie  unterdrückt  den  selbständigen  Willen  zugunsten  einer  zwecklosen,  ja  verderblichen  Disziplin, 
sie  verdirbt  den  Charakter  (schon  indem  sie  einen  Interessengegensatz  zwischen  Schülern  und 

Lehrern  züchtet), 
sie  läßt  angeborene  Fähigkeiten  ganz  oder  teilweise  verkümmern,  hindert  Begabungen,  sich  frei 

zu  entfalten, 
sie  gibt  an  Stelle  von  Bildung  (d.  h.  demjenigen  Verständnis  der  Außenwelt,  welches  dazu  be- 
fähigt, bewußt  Stellung  zum  Leben  und  seinen  Problemen  zu  nehmen)  eine  Fülle  von  Buch- 
weisheit, die  —  weil  ohne  Beziehung  zum  Leben  —  meist  schnell  wieder  vergessen  wird, 
die  eine  enorme  Belastung  des  kindlichen  Gehirns  ist  und  die  überdies  in  einer  Form  ge- 
lehrt wird,  welche  meist  für  ein  ganzes  Leben  die  Freude  am  Lernen  ertötet, 
sie  unterdrückt  selbständiges  Denken,  Urteilen  und  Kritisieren, 

sie  lähmt,  ja  vernichtet  die  Arbeitsfreudigkeit,  so  daß  das  Kind  das  Nichtstun  bald  als  das  Fest- 
tägliche empfindet, 
sie  macht  aus  glücklichen  Kindern  sorgengequälte,  oft  verbittterte  Halberwachsene. 

Dieser  schroffe  Gegensatz  erklärt  sich  aus  dem  Charakter  der  bisherigen  Schule  als  Instru- 
ment des  Staates,  dessen  Bestreben  weit  mehr  darauf  hinauslief,  sich  ruhige,  unterwürfige,  bequem 
zu  behandelnde  Staatsbürger  zu  züchten,  als  harmonische,  vollkommene  Individualitäten  zu  ent- 
wickeln. 

Zu  den  Zeiten  des  schärfsten  Schulkampfes  ist  die  deutsche  Schule  nicht 
schlimmer  geschmäht  worden  wie  in  diesen  Anklagen.  Ganz  gewiß  bedarf 
die  deutsche  Schule,  um  die  das  Ausland  uns  beneidet  hat,  in  wesentlichen 
Stücken  tiefgreifender  Erneuerung;  sie  hat  ihre  Mängel  auch  selbst  erkannt 
und  an  ihrer.  Abstellung  gearbeitet.  Der  Richterspruch  aber,  den  sich  der 
deutsche  Elternbund  über  sie  anmaßt,  trifft  sie  zu  Unrecht.  Die  Öffentlichkeit 
sollte  gegen  solche  vernichtenden  Urteile  die  schärfste  Verwahrung  einlegen. 

Eine  Kundgebung  deutscher  Hochschullehrer  fordert,  daß  bei  der  Neu- 
ordnung des  Bildungswesens  die  weitesten  Kreise  aller  Lehrenden  zuvor  be- 
ratend gehört  werden.  Sie  lautet:  „Eine  durchgreifende  Schulreform  für 
Preußen  kündigt  sich  an.  Allem  Anscheine  nach  wird  bereits  im  neuen 
Ministerium  für  Wissenschaft,  Kunst  und  Volksbildung  daran  gearbeitet.  Bei 
der  entscheidenden  Wichtigkeit,  die  eine  solche  Maßregel  für  ganz  Deutsch- 
land hat,  dürfen  die  grundlegenden  Arbeiten  nicht  einer  kleinen  Gruppe  von 
Reformern  überlassen  bleiben.  Die  unterzeichneten  Lehrer  der  Erziehungs- 
und Bildungswissenschaft   an  deutschen  Hochschulen    halten    sich  für  ver- 

1)  Anschrift:  R.  M.  Grunwald,  Berlin  W,  Linkstraße  39. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  139 

pflichtet,  auf  die  bestehende  Gefahr  hinzuweisen.  Gerade  nach  den  freiheit- 
lichen Grundsätzen,  die  fortan  in  unserm  Staatswesen  maßgebend  sein  sollen, 
ist  unbedingt  zu  fordern,  daß  über  eine  umfassende  Neuordnung  die  weitesten 
Kreise  derer,  die  sie  als  Lehrende  an  Universitäten,  höheren  Schulen  und 
Volksschulen  später  zu  vertreten  und  durchzuführen  haben,  vorher  in 
freiester  Meinungsäußerung  gehört  werden.  Nur  aus  der  gemeinsamen 
Arbeit  aller  Beteiligten  kann,  wenn  es  gehngen  soll,  ein  so  ungeheuer  ver- 
antw'ortungsvolles  Werk  hervorgehen." 

Barth  (Leipzig),  Baumgarten  (Kiel),  Becher  (München),  Bergmann  (Leipzig),  Bernheim 
(Greifewald),  Braun  (Münster),  Budde  (Hannover),  Cauer  (Münster),  Cohn  (Freiburg  i.  B.). 
Ettlinger  (Münster),  Eucken  (Jena),  Fries  (Halle),  Frischeisen-Köhler  (Halle),  Hensel 
(Erlangen),  Hönigswald  (Breslau),  Jaeger  (Kiel),  Kabitz  (Münster),  Kerschensteiner 
(München),  Koppelmann  (Münster),  Kowalewski  (Königsberg),  Lehmann  (Posen),  Litt 
(Bonn),  Maier  (Heidelberg),  Marbe  (Würzburg),  Mausbach  (Münster),  Messer  (Gießen), 
Misch  (Göttingen),  Natorp  (Marburg),  Nohl  (Jena),  Rehm  (München),  Rehmke  (Greifswald), 
Rein  (Jena»,  Riehl  (Berlin),  F.  J.  Schmidt  (Berlin),  Scholz  (Breslau),  Schwarz  (Greifewald). 
Stern  (Hamburg),  St  öl  zle  (Würzburg),  Troeltsch(Berlin),Wentscher(Bonn),  Ziehen  (Frankfurt). 

Nachrichten.  1.  Die  Auskunftsstelle  für  Kleinkinderfürsorge  im 
Zentralinstitut  für  Erziehung  und  Unterricht,  Berlin  W  35,  Potsdamer  Str.  120, 
versendet  neue  Verzeichnisse  ihres  Leih  gut  es.  In  30  Lesemappen  sind 
Richthnien,  Beschreibungen  und  Berichte  vorbildlicher  Einrichtungen  der  Klein- 
kinderfürsorge gesammelt,  Anregungen  z.  B.  für  die  Veranstaltung  von  Mütter- 
abenden, sowie  Lehrpläne  von  Ausbildungsstätten  für  Pflegerinnen  und  Er- 
zieherinnen des  Kleinkindes  zusammengestellt  worden.  Die  Mappen  stehen 
gegen  Ersatz  der  Portokosten  zm*  Verfügung.  Eine  Ausnahme  bilden  Lehr- 
pläne, Zeichnungen  von  Kindergartenmöbeln,  Baupläne  und  Bildersammlimgen, 
für  die  geringe  Leihgebühren  erhoben  werden.  Für  aufklärende  Vorträge  über 
die  Entwicklung,  Pflege  und  Erziehung  des  Kleinkindes  in  Anstalt  und  Fa- 
milie werden  Lichtbilder  verliehen. 

2.  Mit  Beginn  des  nächsten  Sommerhalbjahres  wird  an  der  Universität 
Leipzig  ein  Institut  für  Erziehung,  Unterricht  und  Jugendkunde 
begründet  und  der  Leitung  des  ordentlichen  Professors  der  Philosophie  und 
Pädagogik  Dr.  phil.  Eduard  Spranger  unterstellt.  Diesem  Institute  werden 
vom  gleichen  Zeitpunkte  ab  das  Philosophisch-pädagogische  Seminar  und  das 
Praktisch-pädagogische  Seminar  der  Universität  eingegliedert. 

3.  Das  Psychologische  Institut  des  Leipziger  Lehrervereins  hat 
seine  durch  den  Krieg  unterbrochene  Tätigkeit  wieder  aufgenommen.  Unter 
Leitung  des  2.  Vorsitzenden  Joh.  Schlag  führt  der  „Ausschuß  zur  Untersuchung 
der  Begabten"  seine  Arbeit  weiter.  Der  wissenschaftliche  Leiter  Dr.  Max 
Brahn  kündigt  drei  Vorträge  über  „Spiritismus  und  Okkultismus"  an.  Weiter 
wird  eine  Vortrags-  und  Übungsreihe  „Intelhgenz  und  Wille  in  ihrer  sozial- 
psychologischen und  sozialpädagogischen  Bedeutung"  durch  Dr.  Brahn  ver- 
■anstaltet. 

4.  Der  ordenthche  Professor  der  Philosophie  und  Pädagogik  und  Direktor 
des  philosophisch-pädagogischen  Seminars  an  der  Universität  Leipzig  Dr.  phil. 
Eduard  Spranger  ist  vom  Sächsischen  Kultusministerium  ermächtigt  worden, 
zu  seiner  Information  dem  Unterricht  an  den  höheren  Schulen  einschließlich 
der  Lehrer-  und  Lehrerinnenseminare  beizuwohnen,  eine  Maßnahme,  die 
wegen  der  unerläßlichen  Fühlungnahme  der  erziehungswissenschaftMchen 
Forschung  und  Lehre  mit  der  Wirklichkeit  des  Schullebens  sehr  zu  begrüßen  ist. 


140  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


5.  An  der  Berliner  Technischen  Hochschule  habilitierte  sich  Dr.  Walter 
*Moede  für  das  Gebiet  der  industriellen  Psychotechnik ;  gleichzeitig  erhielt 

er  die  Leitung  des  Institutes  für  industrielle  Psychotechnik,  das  als 
Abteilung  des  Versuchsfeldes  für  Werkzeugmaschinen  und  Betriebslehre  (Pro- 
fessor Dr.  Schlesinger)  errichtet  wird. 

6.  Ein  deutscher  Verein  zur  Fürsorge  für  Jugendliche  Psycho- 
pathen ist  im  Anschluß  an  die  Tagung  für  Psychopathenfürsorge  im  Ok- 
tober 1918  gegründet  worden.  Er  will  der  Erforschung  der  psychopathischen 
Konstitutionen  dienen  und  die  praktische  Fürsorgearbeit  in  Deutschland  an- 
regen, ausbauen  und  zusammenfassen.  Die  Geschäftsstelle  befindet  sich  in 
Berlin,  Monbijouplatz  3. 

7.  Aus  dem  psychologischen  Institute  des  Leipziger  Lehrerver- 
eins sind  Rudolf  Schulze  und  Paul  Schlager  zu  einer  Vortragsreise 
nach  Schweden  eingeladen  worden.  Sie  werden  vor  den  Professoren  und 
Studenten  der  Universität  üpsala,  vor  den  Schulinspektoren  Schwedens,  vor 
der  Lehrerschaft  Stockholms,  vor  der  Schwedischen  Pädagogischen  Gesell- 
schaft und  anderen  Körperschaften  über  experimentelle  Psychologie  und  über 
Begabtenf orschung  sprechen. 

8.  In  der  2.  Hälfte  des  Handelshochschulkursus  der  Stadt  Nürn- 
berg für  den  Winter  1918/19  findet  sich  die  Psychologie  vertreten  mit 
der  Vorlesungsreihe  „Grundzüge  der  Wirtschaftspsychologie"  (mit  einem  Über- 
blick über  Aufgaben,  Verfahren  und  Hilfsmittel  der  Eignungsprüfungen  für 
das  Berufsleben).  Dozent  ist  Prof.  Dr.  Aloys  Fischer,  München,  der  außer- 
dem noch  die  Vorlesungen  über  „Philosophische  Strömungen  der  Gegenwart" 
übernommen  hat. 

9.  Die  Pflegschaft  der  Robert  Rißmannstiftung  (Anschrift:  Rektor 
Pretzel,  Berlin,  Prenzlauer  Allee  277)  setzt  in  diesem  Jahre  vier  Preise 
für  Arbeiten  wissenschaftlichen  Gepräges  aus.  Die  Wahl  des  Gegenstandes 
steht  frei;  erwünscht  ist  die  Behandlung  von  erziehungswissenschaftlichen 
Fragen,  die  durch  die  Zeitbewegung  in  den  Vordergrund  gerückt  sind. 


Literaturbericht. 

Prof.  Dr.  M.  Lazarus,    Das    Leben    der   Seele    in   Monographien    über   seine   Er- 
scheinungen und  Gesetze.     I.  Band.     Unveränderter  Neudruck  der  dritten  Aufl.     Berlin 
1917.     Dümraler.     414  S.     7,50  M. 
Das    dreibändige  Werk,    das   trotz   seines  hohen  Alters  —  der  erste  Bd,  erschien  1855  in 
erster,   1883  in  dritter  Auflage  —    noch  immer  im  Buchhandel  verlangt  wird,  liegt  mit  diesem 
Neudrucke  nun  wieder  vollständig  vor.     Es  sind  heute  seltener  die  Fachpsychologen,  die  es  fur 
Hand  nehmen,   als  solche  Kreise,   die  bestimmte  Probleme  des  Geisteslebeus  in  allgemeinerer 
Betrachtungsweise  besehen  und  durchdenken  wollen.   In  der  Tat  findet  sich  in  den  Monographien 
von  Lazarus  die   psychologische  Seite   seines   Gegenstandes   oft  weniger  berücksichtigt   als  die 
ethische,  soziologische  und  kulturphilosophische.    Heute  wie  vor  Jahrzehnten  bildet  dabei  neben 
der  geistvollen  Durchdringung  vor  allem  die  Kunst  des  Darsteliens  einen  besonderen  Reiz.    Bd.  I 
enthält  die  Abhandlungen  über  Bildung  und  Wissenschaft,  über  Ehre  und  Ruhm,  über  den  Humor 
und   über  das  Verhältnis  des  Einzelnen   zur  Gesamtheit;    Bd.  II  untersucht  Geist  und  Sprache; 
Bd.  III  handelt  über  Takt,  Kunst,  Freundschaft  und  Sitten.  Tr. 

Max  Dessoir,  Vom  Jenseits  der  Seele.     Die   Geheimwissenschaften  in  kritischer 

Betrachtung.     Stuttgart  1917.     Ferd.  Enke.     (Inzwischen  2.  Aufl.)     VI  u.  344  S.     12,60  M. 

Dessoir  ist  der  einzige  Psychologe  an  deutschen  Universitäten,  der  sich  seit  langer  Zeit  mit 

allen   Erscheinungen   des  Okkultismus   beschäftigt.     Es  gibt  wenige  in  der  Welt,   die  über  eine 


Literaturbericht  141 


größere  Erfahrung  verfügen  wie  er,  und  so  darf  man  von  einer  umfangreichen  Veröffentlichung 
bei  ihm  erwarten,  daß  sie  Besonderes  gibt.  In  der  Tat  ist  das  ganze  Gebiet  zusammengetragen 
und  kritisch  durchleuchtet.  Dabei  merkt  man  Dessoir  an.  wie  er  mit  den  Jahren  sich  von  dem 
Treiben  der  Spiritisten  immer  abgestoßener  fühlt  und  mit  großer  Härte  über  sie  urteilt.  Die 
Berichte  aus  seiner  eigenen  Erfahrung,  sowie  solche  aus  der  Literatur  zeigen  in  gleicher  Weise, 
wie  alle  spiritistischen  Erscheinungen  in  gleichem  Maße  uDler  den  Fingern  zerrinnen,  wenn 
man  sie  scharf  untersucht.  Die  Erscheinungen  des  Unterbewußtseins,  des  seelischen  Automa- 
tismus, der  Fernwirkung  sind  ebenfalls  ausführlich  dargestellt;  doch  wird  hier  wohl  mancher 
Leser  eine  systematische  Zusammenfassung  der  Begriffe  etwas  vermissen.  Manchmal  löst  sich 
die  Darstellung  in  sehr  interessante  und  aufklärende  Einzelerscheinungen  auf,  und  ich  würde 
eine  Auseinandersetzung  über  das  Wesen  des  Mediums  sehr  begrüßen. 

Etwas  ganz  Besonderes  ist  die  Darstellung  der  Geheimwissenschaft ;  eindringlich  und  amüsant 
zugleich  die  Darstellung  des  Kabbalistischen,  ein  wahres  Meisterstück.  Bei  der  Darstellung  der 
Theosophie  dagegen  muß  selbst  D.  logisch  versagen:  denn  diese  Dinge  logisch  darzustellen,  ist 
selbst  dem  größten  Meister  nicht  möglich.  Er  betont  mit  Recht  die  ethische  Bedeutung  dieser 
Richtung,  zeigt  aber  dem  Leser  aufs  schärfste,  daß  sie  wohl  selbst  auf  logische  Begründung 
keinen  Wert  legt.  Der  Versuch,  die  ganzen  Geheimwissenschaften  in  die  geistige  Entwicklung 
hineinzustellen  und  imter  dem  Titel  des  magischen  Idealismus  ihren  Zusammenhang  mit  dem 
philosophischen  Idealismus  zu  zeigen,  bietet  etwas  ganz  Neues.  Die  Denkmittel  des  magischen 
Idealismus  vrtrken  aufklärend  für  das  Verständnis  dieser  Dinge  vom  tiefsten  Altertum  bis  zur 
heutigen  Zeit.  Dessoir  nennt  richtig  diese  ganze  Bewegung  „den  im  Wachstum  zurückgebliebenen 
Bruder  des  logischen  und  ethischen  Idealismus"  und  fordert  zur  philosophischen  Besinnung 
dringend  auf.  Jeder  Leser  wird  durch  Zustimmung  imd  Ablehnung  zu  dem  Einzelnen  sich  tief 
bereichert  fühlen. 

Leipzig.  Max  Brahn. 

Rudolf  Lehmann,  Lehrbuch  der  philosophischen  Propädeutik.  Vierte,  neubearbeitete 
und  vermehrte  Aufl.     Berlin  1917.     Reuther  u.  Reichard.     178  S.     4  M. 

Das  Lehmannsche  Lehrbuch  will  dem  Anfangsunterricht  in  der  Hochschule  wie  dem  Abschluß 
der  Bildungsarbeit  in  den  höheren  Lehranstalten  dienen.  In  abgerundeten  Teilen  behandelt  es  die 
Grundzüge  der  Logik,  gibt  dann  einen  Ausblick  auf  die  Erkenntnistheorie  und  bewegt  sich  etwas 
länger  in  der  Psychologie,  um  schließlich  die  Grundbegriffe  der  Ethik  zu  erörtern  und  mit  einer 
Einführung  in  die  Ästhetik  abzuschließen.  Die  große  Schwierigkeit,  aus  diesem  ungeheueren 
Gebiete  das  Wesentliche  so  aufzugreifen,  daß  in  engem  Rahmen  ein  einigermaßen  geschlossenes 
Ganze  ersteht,  hat  Lehmann  ausgezeichnet  gemeistert,  und  wir  sind  ihm  im  eigenen  Unterricht 
streckenweise  gern  gefolgt.  Seine  Darstellung  ist  durchgängig  hinstellender  Art;  von  ihr  darf 
also  vorwiegend  nur  die  Vermittlung  von  Wissen  und  nicht  auch  die  Anregung  zum  philo- 
sophischen Denken,  wie  sie  eine  mehr  untersuchend  gehaltene  Gestaltung  ermöglicht,  erwartet 
werden.  Seh. 

Max    Frischeisen-Köhler,    Grenzen    der    experimentellen    Methode.     Berlin    1918. 
Union,  Deutsche  Verlagsgesellschaft.     30  S.     Preis  1  M. 

Verf.  will  „die  Eigenart  der  experimentellen  Methode,  die  nicht  unterschätzt,  aber  auch  nicht 
ül)erschätzt  werden  darf,  und  die  Grenzen  ihrer  Anwendbarkeit  und  Tragweite  grundsätzlich  dar- 
stellen". Schon  innerhalb  der  Naturwissenschaften  ist  das  Experiment  nicht  das  einzige  Hilfs- 
mittel; es  gibt  Gebiete,  wo  es  überhaupt  nicht  oder  nur  beschränkt  anwendbar  ist  (kosmische  Vor- 
gänge) und  wo  es  gegenüber  anderen  Betrachtungsweisen  an  Bedeutung  zurücktritt.  In  der 
allgemeinen  Psychologie  ist  die  Anwendung  des  Experiments  zweifellos  schwieriger,  ihre 
Möglichkeit  aber  heute  nicht  metir  mit  stichhaltigen  Gründen  anfechtbar.  Damit  ist  al)er 
noch  keineswegs  erwiesen,  daß  es  auf  alle  Erlebnisse  in  gleicher  Weise  angewandt  werden  kann. 
Jeder  psychologischen  Versuch-anordnung  eignet  eine  absichtliche  Künstlichkeit  und  Lebensfeme, 
aber  auch  wo  sie  in  eine  größere  oder  geringere  Lebensnähe  gebracht  wird,  kann  sie  in  das 
Leben  selbst  (unmittelbar)  nicht  eingreifen,  ohne  die  Vorteile,  die  in  ihrer  Künstlichkeit  liegen, 
aufzuheben.  Es  ist  immer  scharf  zu  sondern  zwischen  dem  eigentlichen  Experiment  und  all 
den  absichtslosen  oder  planmäßigen  Einflüssen,  Einwirkungen  imd  Wagnissen,  in  denen  das 
praktische  Leben  fortschreitet.  Es  ist  in  der  Gegenwart  nicht  mehr  fraglich,  daß  die  experi- 
mentell zu  prüfenden  Elementarfunktionen  nur  die  niederste  Schicht  unseres  Seelenlebens  dar- 
stellen, denen  gegenüber  die  seelischen  Kräfte,  auf  denen  der  Aufbau  der  Gesellschaft  und  der 
geistigen  Gemeinschaft  beruht,  als  Kräfte  höherer  Ordnung  und  von  selbständiger  Gesetzmäßig- 
keit angesehen  werden  dürfen,  denen  wir  mit  den  Mitteln  der  experimentellen  Methode  und  der 


1 42         '  Literaturbericht 


Laboratoriumstechnik  nicht  beikommen  können.  Hier  sieht  sich  die  Psychologie  zu  einer  grund- 
sätzlichen Erweiterung  ihrer  Methoden  gezwungen ;  denn  wir  können  aus  den  elementaren  Funk- 
tionen das  konkrete  seelische  Leben  mit  seiner  Inhaltlichkeit,  seinen  Werten,  seinen  schöpfe- 
rischen Synthesen,  seinem  geschichtlichen  Wachstum,  seinen  Gemeinschaftsbildungen  nicht  wieder 
aufbauen.  Auch  wird  die  Anwendung  des  Experiments,  wenn  es  in  seinem  streng  methodischen 
Sinne  verstanden  wird,  auf  die  Pädagogik,  auf  den  eigentlichen  BUdungs Vorgang  wenig  Erfolg 
erwarten  lassen.  Ausdrücklich  muß  zugegeben  werden,  daß  sich  die  Einwirkung  von  Unter- 
richtsmethoden auf  das  Kind  nach  gewissen  Seiten  hin  systematisch  erproben  läßt,  aber  nur, 
wenn  es  nach  dem  Vorbilde  des  psychologischen  Experiments,  auf  die  möglichste  Isolierung  der 
Wirkungen,  auf  die  Analyse  der  Elementarfunktionen  bedacht  ist,  und  deshalb  wird  es,  allem 
Protest  und  allen  Voraussetzungen  zum  Trotz,  auf  den  elementaren  Unterricht  beschränkt  bleiben. 
Dennoch  wird  niemand  verkennen  dürfen,  was  ein  Durchgang  durch  die  experimentelle  Pädagogik 
für  den  Pädagogen  bedeutet:  abgesehen  von  allen  positiven  Kenntnissen  verleiht  sie  eine 
Schulung  und  Unbefangenheit  in  der  Würdigung  der  Tatsachen,  die  nicht  verloren  gehen  kann, 
aber  sie  verführt  gar  leicht  dazu,  die  Seiten  der  Sache,  die  einer  exakten  Methodik  nicht  er- 
faßbar sind,  zu  sehr  zurücktreten  zu  lassen.  Sie  begünstigt  eine  einseitige  Berücksichtigung 
des  Erwerbes  von  Fertigkeiten,  während  das  emotionale  und  das  Willensleben  mit  seiner  Fülle, 
seinen  Tiefen,  seinen  Problemen  von  ihr  aus  nicht  erfaßt  werden  kann.  —  Man  wird  nicht  um- 
hin können,  zu  betonen,  daß  der  Verfasser  bei  aller  Vorsicht  und  Eindringlichkeit  die  Grenzen 
zumal  des  pädagogischen  Experiments,  etwas  weit  nach  links  gerückt  hat. 

Kiel.  Marx  Lobsien. 

Dr.  Alois  Höfler  und  Dr.  Stephan  Witasek,  Hundert  psychologische  Schul- 
versuche mit  Angabe  der  Apparate.  4.  Auflage.  Leipzig  1918.  Ambrosius  Barth. 
55  S.     3,00M. 

Das  vor  zwei  Jahrzehnten  erstmals  erschienene  Heft  verlangt  einen  neuen  Hinweis  durch 
die  Zugabe,  die  ihm  durch  Dr.  WUlibald  Kammel,  den  Leiter  des  pädagogisch -psychologischen 
Laboratoriums  in  Wien,  geworden  ist.  Ohne  diesen  Nachtrag  wäre  die  Aufzählimg  von 
100  Versuchen,  die  überwiegend  der  Sinnesphysiologie  und  -psychologie  entnommen  sind  und 
zumeist  mit  dem  Rüstzeuge  der  physikalischen  Kabinette  arbeiten,  kaum  noch  für  einen  Psycho- 
logieunterricht brauchbar,  der  mit  der  Entwicklung  der  experimentellen  Seelenlehre  und  Pädagogik 
in  jüngerer  Zeit  die  Fühlung  halten  will.  Kammeis  Auswahl  in  seiner  Beigabe  ist  gut;  wir 
haben  die  von  ihm  empfohlenen  Versuche  neben  vielen  anderen  fast  ausnahmslos  in  unserem 
eigenen  psychologischen  Unterrichte  erprobt  und  durchweg  brauchbar  gefunden.  Eine  5.  Auflage 
des  Buches  müßte  eine  völlige  Umarbeitung  bringen,  die  eine  Anzahl  Versuche  geringeren 
bildenden  Wertes  ausscheidet,  viel  reichlicher  das  Gebiet  der  höheren  Funktionen  bedenkt  und 
dabei  die  Ausführung  mit  möglichst  einfachen  Mitteln  zeigt.  Aufnahme  verdienen  u.  a.  einige 
neue  Versuche,  die  Rupp  in  seiner  Arbeit  „Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik" 
(Zeitschrift  f.  päd.  Psychologie,  Bd.  XV— XX)  beschreibt. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Dr.  Hermann  Roth,  Das  sittliche  Urteil  der  Jugend.  Nach  Experimenten  an  höheren 
Lehranstalten.     Borna- Leipzig  1915.    Noske.     78  S.     1,20  M. 

Roths  Arbeit  ist  ein  schätzenswerter  Beitrag  zu  den  noch  wenig  zahlreichen  moralpsycho- 
logischen Untersuchungen  an  Jugendlichen.  Die  Versuchspersonen  stellten  die  Sexta,  Unter- 
tertia und  Obersekunda  aus  einem  Realgymnasium  und  zwei  Gymnasien  der  Rheingegend.  Roth 
legte  ihnen  eine  Reihe  von  anschaulichen  „Fällen"  aus  der  Geschichte  und  dem  Leben  vor  und 
schloß  an  einen  jeden  eine  Frage  an,  deren  Beantwortung  ein  sittliches  Urteil  abverlangte.  So 
wurde  z.  B.  gefragt:  „Verdiente  der  Feldherr  Strafe?"  —  „Wie  stellst  du  dich  zu  dem  Tun  des 
Primaners?"  —  „Hat  der  junge  Mann  recht  gehandelt?"  Die  Antworten  waren  namenlos  ein- 
zugeben. Empfehlenswerter  ist  es,  aus  leicht  ersichtlichen  Gründen  die  Texte  nicht,  wie  es  Roth 
tat,  vorzutragen,  sondern  gedruckt  vorzulegen.  Jeder  der  drei  Schulen  waren  überwiegend  ver- 
schiedene Fälle  zur  Entscheidung  gegeben,  wodurch  nun  eine  einwandfreie  vergleichende  Be- 
handlung und  eine  Aufstellung  von  Entwicklungsreiben  leider  verhindert  ist.  Geprüft  wurden 
in  der  Sexta,  um  nur  diese  als  Beispiel  anzuführen,  der  Sinn  für  Gehorsam,  Selbstgefühl, 
Nächstenliebe,  Heldenmut,  Vergeltung,  RechtUchkeit,  Gerechtigkeit,  innere  Wahrheit.  Das  um- 
fangreiche Versuchsmaterial  hat  Roth  nun  so  behandelt,  daß  er  für  jede  der  drei  Altersstufen 
seiner  Versuchspersonen  die  für  sie  kennzeichnenden  sittlichen  Prinzipien  herausarbeitet  und 
diesen  eine  besondere,  mit  statistischen  Angaben  reichlich  durchsetzte  Darstellung  widmet.  Gra- 
phische VerbUdlichungen  fehlen  leider.     Die  Ergebnisse  sind  in  Kürze  diese :  Im  Alter  des  Sex- 


Literaturbericht  143 


taners  tritt  besonders  deutlich  Gehorsam,  Selbstgefühl  und  Kameradschaft  hervor;  beim  Unter- 
tertianer entwickeln  sich  in  deutlicherer  Weise  der  Sinn  für  Nächstenliebe  und  Heldenmut;  die 
sitthchen  Urteile  des  Primaners  aber  sind  vorwiegend  motiviert  durch  die  Grundsätze  der  Ver- 
geltung, Pietät,  Rechtlichkeit,  Gerechtigkeit,  WUligkeit,  innere  Wahrheit  und  Treue.  Die  Ver- 
suchsbefunde bestätigen  darnach  das  Bild,  das  uns  aus  der  freien  Beobachtung  über  die  sittliche 
Entwicklung  der  Jugend  geläufig  und  verständlich  ist.  Einen  auffallenden  Unterschied  in  den 
Urteilen  zweier  Untertertien  will  Roth  auf  die  verschiedene  Begabungshöhe  der  beiden  Klassen 
zurückführen.  Er  vertritt  also  gegen  andere  Meinungen  (z.  B.  die  von  Riebesell)  die  Ansicht, 
daß  reiferes  sittliches  Urteil  von  der  Intellektuaiität  abhängt  —  eine  Anschauung,  die  von 
Gizyckis  Untersuchungen  über  den  Funddiebstahl  bestätigt  wird.  Jedenfalls  wagt  Roth  es  nicht, 
im  Blick  auf  sein  ganzes  Material  den  Unterschied  der  beiden  Klassen,  deren  eine  der  Groß- 
stadt angehört  und  vorwiegend  dem  Kaufmannsstande  und  akademischen  Kreisen  entstammt, 
während  die  andere  —  eine  kleinstädtische  —  einen  stärkeren  Einschlag  von  Handwerkers- 
söhnen aufweist,  aus  den  Verhältnissen  sozialer  Schichtung  zu  erklären. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Franz   X.  Schönhuber,    Das  Kino  im  Lichte  von  Schülerantworten.     Leipzig  1918. 
A.  Haase.     38  S.     1,25  M. 

Schönhuber  bearbeitet  in  seiner  aufschlußreichen  Abhandlung,  die  vom  Leiter  des  päda- 
gogisch-psychologischen Instituts  in  München  angeregt  worden  ist,  das  Material  einer  Umfrage. 
Sie  wurde  veranstaltet  unter  den  31  Schülern  einer  Münchener  achten  Volksschulklasse  und 
bezog  sich  auf  Anleiß,  Häufigkeit,  Motive,  Nachwirkungen  und  Kosten  des  Besuches.  Ein- 
bezogen in  das  Material  sind  auch  freie  Aufsätze,  die  einer  früheren  Klasse  entstammten.  Die 
Beantwortungen  der  Fragen  werden  von  Schönhuber  in  sachgemäßer  tabellarischer  Verarbeitung 
vorgelegt  und  kurz  besprochen.  Sie  bes'ätigen  im  allgemeinen  die  auch  anderorts  —  so  jüngst 
in  Bern  —  erhaltenen  wenig  erfreulichen  Befunde.  Den  angeschlossenen  pädagogischen 
Folgerungen  und  Fordenmgen  Schönhubers,  der  das  Kino  nur  unter  bestimmten  Voraussetzungen 
als  wertvolles  BUdungsmittel  anerkennen  will,  darf  restlos  zugestimmt  werden.  Die  Aus- 
dehnung über  eine  weit  größere  Anzahl  von  Schülern  imd  Schülerinnen  und  die  Heranziehung 
der  einschlagenden  Literatur  wäre  wünschenswert  gewesen. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  Jakob    van    den  Wyenbergh,    Die    Organisation    des   Volksschulwesens   auf 
differentiell-psychologischer  Grundlage.  Leipzig  1918.  Quelle  &  Meyer.  102  S.  3,60 M. 
Auf  Grund  einer  vorsichtig  abwägenden  Darstellung  und  Beurteilung  der  Tatsachen  und  Ur- 
sachen der  differentiell-psychologischen  Unterschiede,  die  uns  die  wissenschaftliche  Begabungs- 
forschung und  die  Erfahrungen   der  pädagogischen  Praxis  in  engem  Zusammen  einwandfrei  er- 
geben, gelangt  der  Verfasser  zu  der  Forderung,  daß  für  die  Volksschule  nur  eine  Differenzierung 
nach  der  allgemeinen  Leistungsfähigkeit  in  Frage  kommen  könne.     „Bei  der  Feststellung  dieser 
Leistungsfähigkeit  sind  in  erster  Linie  die  konkreten  Schulleistungen  maßgebend,  jedoch  ist  die 
Verwertung   von    psychologischen   Fähigkeits-  und  insbesondere  Intelligenzprüfungen    sehr    zu 
wünschen,  in  zweifelhatten  Fällen  dringend  erforderlich."  —  Den  psychologischen  Tatbeständen 
entsprechend,   fordert  er  an  organisatorischen  und  unterrichtlichen  Maßnahmen:    Trennung  der 
Schüler   nach    der  natürlichen  Leistungsfähigkeit  und  Organisation  eines  differenzierten  Volks- 
schulsystems, das  neben  der  hergebrachten  Höhengliedenmg  des  Schulkörpers  in  acht  Klassen 
eine  differenzierte  Breitengliederung  (Parallelabteilungen)   zur  Individualisienmg  des  Unterrichts 
aufweist.     Das  differenzierte  Volksschulsystem  muß  haben,   außer  einem  Klassenaufbau  für  die 
Normalbegablen,  besondere    Klassenzüge    für    die  weniger  Schwachen,   die   abnorm  Schwachen 
und    die    Hochbegabten,  außerdem    auf   der    Oberstufe    Sonderkurse    für    die    Höchstbefähigten 
und    die  Schüler    mit  Spezialbegabimg  in    technischen   Fächern.     Daneben  müssen  ungünstige 
äußere  Einflüsse  durch  organisatorische  und  unterrichtliche  Maßnahmen  möglichst  kompensiert 
werden,  um   die  Abspaltung  der  Schwachen   auf  ein  Minimum  zu  l)eschränken  (obligatorische 
Schulkindergärten,    erweiterter    Arbeitsunterricht    im    ersten    Schuljahre    bei    zeitlicher    Hinaua- 
sehiebung  des  Unterrichts  im  Lesen,  Schreiben  und  schulgemäßen  Rechnen,   wohlorganisierter 
Nachhilfeimterricht  sowie  sukzessiver  Abteilungsunterricht,  maßvoll  gehaltene  Klassenbesetzung). 
„Denn  soll  dem  einzelnen  Individuum  ein  wirklicher  Fortschritt  und  der  Schule  als  Gesamt- 
orgemismus    ein  voller  Erfolg   beschieden  sein,  dann   darf   sich  die  besondere  Fürsorge  weder 
allein  auf  die  ,Sorgenkinder',  noch  allein  auf  die  ,Hoffnungskinder'  beschränken,  vielmehr  haben 
sich  die   praktischen  pädagogischen  Maßnahmen  zur  Hebung  der  Volksschule  auf  ihre  einheit- 
liche Gesamtheit  zu  erstrecken." 


144  Literaturbericht 


Mit  großer  Eindringlichkeit  und  Sachlichkeit  weist  der  Verf.  nach,  daß  für  eine  Neuordnung 
unseres  Schulwesens  nicht  sowohl  wirtschaftliche  und  sozialpolitische  Momente  als  vielmehr 
pädagogisch -psychologische,  in  erster  Linie  die  individuellen  Begabungsdiiferenzen  maßgebend 
sein  müssen. 

Die  sehr  treffliche  Arbeit  darf  für  die  wissenschaftliche  wie  praktische  Behandlung  des  er- 
örterten Problems  warm  empfohlen  werden. 

Kiel.  Marx  Lobsien. 

Peter  Zillig,  Die  innere  Einheit  aller  Lehrenden.  Ein  Beitrag  zur  pädagogischen 
Gesellschaftslehre.     Leipzig  1917.     Schulwissenschaftl.  Verlag  A.  Haase.     58  S.  1,00  M. 

Es  ist  ein  Zeugnis  für  die  Innerlichkeit  und  Würde,  mit  der  die  Herbartianer  das  Schulwerk 
erfassen,  daß  sie  über  alle  Enttäuschungen  hinweg  immer  wieder  ihren  Glauben  an  die  innere 
Einheit  aller  derer,  denen  von  Berufs  wegen  die  Erziehung  in  der  Schule  anvertraut  ist,  bekennen 
und  verteidigen.  Angesichts  der  großen  und  schweren  Zeit,  die  unser  Volk  für  alle  Zukunft  aufs 
innigste  einen  sollte,  nimmt  neben  anderen  auch  Peter  Zillig  seine  schon  vor  einem  Vierteljahr- 
hundert und  späterhin  wiederholt  noch  vertretenen  Gedanken  erneut  auf.  Und  seinen  Darlegungen 
ist  anzuspüren,  daß  er  die  wahrhaftig  nicht  geringe  Angelegenheit  lange  im  Kopf  und  Herz  be- 
wegt hat.  Er  zeichnet  zunächst  das  wenig  erfreuliche  BUd  der  Wirklichkeit,  dabei  noch  still 
vorübergehend  an  der  verletzenden  gesellschaftlichen  Abschließung,  die  unsere  Lehrerschaft  der 
Volksschule  ertragen  muß.  Den  Hauptteil  der  Schrift  bilden  dann  Ausführungen  über  all  das, 
worin  sich  alle  deutschen  Lehrer  der  Jugend  eins  fühlen  sollten :  es  müßten  einigen  das  gleiche 
Ziel  und  die  gleichen  Antriebe,  die  gleichen  Pflichten  und  die  gleichen  ethischen,  psychologischen 
und  sachlichen  Merkmale  des  Bildungsverfahrens  und  vieles  andere  mehr.  Eine  Betrachtung  über 
den  Wert  solcher  Einheit  führt  weiter  zu  soziologischen  Erörterungen,  und  der  Abschnitt  über  die 
Verwü-klichung  der  Forderung  gipfelt  in  großen  Erneuerungsgedanken.  Ein  Blick  auf  die  ge- 
schichtliche Entwicklung  der  Frage  bildet  den  Schluß. 

Stollberg  i.  Sa.  Paul  Ficker. 

Prof.  Dr.  Chr.  J.  Klumcker,  Fürsorgewesen.  Einführung  in  das  Verständnis  der  Armut 
und  der  ^rmenpf lege.     Leipzig  1918.     Quelle  &  Meyer.     119  S.     1,50  M. 

Das  Wesen  und  der  Wert  der  Armenpflege  wird  hier  von  dem  hervorragendsten  Fachmann 
des  Gebietes  dargelegt.  Der  erste  Abschnitt  erfüllt  eine  wissenschaftliche  Aufgabe :  er  behandelt 
die  „Theorie  der  Verarmung  und  der  Fürsorge".  Es  folgen  dann  die  „Hauptstücke  des  Armen- 
rechts und  der  Armenverwaltung".  Den  Beschluß  bildet  eine  Einführung  in  die  „praktische  Für- 
sorgearbeif*.  —  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  das  Buch  zu  würdigen.  Daß  es  eine  Darstellung 
ersten  Ranges  bietet,  verbürgt  der  Name  des  Verfassers.  Wir  zeigen  es  hier  an,  weil  sein 
Gegenstand  bei  näherem  Zuschauen  mit  mehr  psychologischen  und  pädagogischen  Problemen 
durchsetzt  ist,  als  es  von  ferne  scheinen  mag.  Schon  in  manchen  Strecken  der  Geschichte  der 
Pädagogik  kann  nur  tiefer  eingedrungen  werden  —  so  in  das  Wirken  Pestalozzis  —  aus  einem 
erschlossenen  Verständnis  für  die  Armut.  Ich  möchte  der  Lehrerschaft  auch  darum  dies  Quelle- 
Meyer-Bändchen  mit  besonderer  Wärme  empfehlen,  weil  aus  ihr  viele  Kräfte  für  die  Armen- 
pflege gestellt  werden.  Für  weiteres  Studium  weist  das  Buch  dann  die  Wege  in  einem  aus- 
führlichen Schriftenverzeichnis. 

Leipzig  Rieh    Tränkmann. 

Fedor  Lindemann,  Beiträge  zur  Geschmacksbildung.  Ein  Buch  zur  Besinnung  und 
Belehrung.     Mit  53  Abbildungen.     Leipzig  1917.     Dürr.     !25  S.     Geh.  3,00  M..   geb.  4,00  M. 

Theoretischen  Erörterungen  über  das  Wesen  des  Geschmacks  und  psychologischen  Dar- 
legungen über  die  Natur  und  die  Entwicklung  des  ästhetischen  Gefühls  geht  das  Buch  nur 
soweit  nach,  als  sie  seinem  pädagogischen  Hauptzweck  dienen,  die  praktischen  Wege  zur  Ge- 
schmacksbildung zu  ebnen.  Vor  allem  ist  es  der  „geschmackliche  Anschauungs- 
unterricht", dem  der  Verfasser  auf  Grund  seiner  reichen  Erfahrungen  zu  einer  erhöhten 
Pflege  verhelfen  will,  einem  Anschauungsunterricht,  der  die  Dinge  des  alltäglichen  Umganges 
im  Lichte  des  Schönen  sehen  läßt  An  zahlreichen  Beispielen  wird  seine  Ausführung  in  reiz- 
vollster Weise  gezeigt,  nachdem  vornweg  ein  aligemeiner  Teil  das  ästhetisch-pädagogisch  Grund- 
sätzliche erläutert  hat.  Wir  wünschen  dem  Buch,  das  selbst  mit  feinem  Geschmack  für  sprach- 
liche und  bildliche  Darstellung  abgefaßt  ist,  nicht  bloß  in  der  Lehrerschaft,  der  es  zunächst 
zugedacht  sein  soU,  sondern  auch  in  weiteren  Kreisen  eine  weite  Verbreitung  und  nachhaltige 
Wirkung  und  bekennen  gern,  daß  wir  ihm  viel  Gewinn  verdanken. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (A.  Pries)  in  Leipzig. 


Psychologie  und  Schule '). 

Von  William  Stern. 

Schon  einmal,  vor  ungefähr  hundert  Jahren,  ist  der  Versuch  gemacht 
worden,  zwischen  Psychologie  und  Pädagogik  eine  engere  Verbindung  her- 
zustellen, dies  geschah  durch  J.  Friedrich  Herbart;  wie  stark  dessen  auf  die 
beiden  Stützen  der  Sittenlehre  und  Seelenlehre  gegründetes  System  der  Päda- 
gogik im  19.  Jahrhundert  und  bis  in  unsere  Zeit  hinein  wirksam  gewesen 
ist,  darf  als  allgemein  bekannt  vorausgesetzt  werden.  Aber  eine  angewandte 
Psychologie  der  Schule  in  unserem  Sinne  hat  doch  Herbart  nicht  geschaffen; 
denn  die  Psychologie,  die  er  entwickelte,  war  nicht  die  Erfahrungswissen schaft 
von  der  Seele  des  Kindes  oder  der  Seele  des  Erziehers,  sondern  eine  allgemeine 
Psychologie  des  Menschen,  teils  auf  Selbstbeobachtung,  teils  auf  philosophischer 
Konstruktion  beruhend.  Sie  konnte  dmch  ihre  klare  Nüchternheit  und  durch- 
sichtige Deutlichkeit  dem  Lehrer  zunächst  einen  bedeutenden  Eindruck  machen 
und  auf  einem  wichtigen  Teilgebiet,  dem  des  Voi-stellungslebens,  auch  dauernd 
wert\^olle  Einsichten  vermitteln,  aber  sie  wurde  weder  der  qualitativen  Fülle 
anderer  Seelenregungen  gerecht,  noch  der  Mannigfaltigkeit  seelischer  Differen- 
zierungen und  Entwicklungen,  noch  der  Grundtatsache  der  inneren  Veranlagung 
und  angeborenen  Beschaffenheit  des  Kindes;  denn  Herbart  bekämpfte  die 
„Vennögens'* -lehre  in  jeder  Form  und  glaubte  an  die  Allmacht  der  von  außen 
her  auf  die  Seele  einwirkenden  Reize. 

So  hat  denn  die  pädagogische  Psychologie  unserer  Zeit  im  wesentlichen 
wieder  von  vorn  anfangen  müssen  (wobei  ihr  selbstverständhch  die  vom 
Herbartianismus  herkommende  Mitarbeit  wallkommen  und  wertvoll  war).  Sie 
hat  mit  dem  geschärften  Blick  füi'  das  erfahi-ungsmäßig  Gegebene  und  mit 
der  neuen  psychologischen  Methodik  unmittelbar  die  seelischen  Probleme 
zu  erfassen  gesucht,  die  im  Kinde,  im  Lehrer  und  in  der  pädagogischen 
Tätigkeit,  in  den  Schulreformaufgaben  schlummern.  Eine  große  Reihe  neuer 
Einsichten  hat  sie  bereits  trotz  ihrer  Jugend  zutage  gefördert;  manche  alten 
Meinungen  praktischer  Erziehungserfahrungen  exakt  formuliert  und  ausgebaut, 
andere  widerlegt  und  überwunden.  Doch  wichtiger  als  das  schon  Erreichte 
ist,  daß  sich  für  die  Zukunft  unenvartete  Ausblicke  eröffnen  in  eine  Psycholo- 
gisierung unseres  Erziehungswesens,  und  daß  den  Erziehern  eine  neue  vertiefte 
Einstellung  auf  die  seelischen  Probleme  ihres  Berufs  gegeben  wird. 
Die  pädagogische  Psychologie   soll    die  Einsicht  erwecken  und  zum  inneren 

1)  Die  Abhiindlung  bildet  das  II.  Kapitel  eines  später  erscheinenden  Buches,  das  unter  dem 
Titel  .Psychologie  und  Schule"  als  Abteilung  des  „Handbuches  f.  höhere  Schulen",  herg.  v. 
Richard  Jahnke,  veröffentlicht  werden  wird.  —  Die  Niederschrift  des  Kapitels  stammt  aus  der 
Zeit  vor  der  Umwälzung;  auf  die  neuen  Beziehungen  zw tschen  Psychologie  und  Schule,  welche 
durch  die  veränderten  Verhältnisse  und  die  schnell  einsetzenden  Reformen  herbeigeführt  werden, 
ist  daher  im  Text  noch  nicht  Bezug  genommen. 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psycliologie.  1') 


146  William  Stern 


Eigentum  und  Leitgedanken  jedes  Lehrers  machen:  „Werdende  Persönlich- 
keiten sind  es,  deren  seelische  Reifung  und  geistige  Bereicherung  mir  an- 
vertraut ist;  seelische  Hilfsmittel  sind  es,  deren  ich  mich  beim  Lehren,  Er- 
ziehen und  Leiten,  beim  Organisieren  und  Reformieren  bediene;  seelische 
Tätigkeiten  meiner  selbst  sind  es,  durch  die  ich  meinen  Beruf  erfülle.  Und 
deshalb  ist  eine  fruchtbare  Erfüllung  meiner  Erziehungsaufgabe  gar  nicht 
möglich  ohne  Verständnis  für  diese  seelischen  Unwägbarkeiten,  ohne  Ein- 
fühlung in  die  so  andersartige  Psyche  der  Schüler,  ohne  Selbstanalyse  meines 
Strebens  und  Könnens,  kurz  ohne  psychologische  Einstellung." 

Auch  äußerlich  betrachtet  ist  die  pädagogische  Psychologie  schnell  zu  einer 
bedeutenden  Kulturbewegung  angewachsen,  insbesondere,  seitdem  eine  weit- 
gehende Arbeltsgemeinschaft  zwischen  praktischen  Schulmännern  aller  Gat- 
tungen einerseits  und  Wissenschaftlern  (Medizinern  und  Psychologen)  anderer- 
seits zustandegekommen  ist.  Als  solche  führenden  Psychologen  seien  St.  Hall 
in  Amerika,  Binet  (Frankreich)  und  E.  Meumann  (Deutschland)  genannt.  Es 
entstanden  Vereine,  Kongresse,  Zeitschriften,  die  ausschließlich  oder  vor- 
nehmlich der  pädagogischen  Psychologie  gewidmet  waren;  an  Universitäten 
und  Seminaren,  in  Lehrervereinen  und  Fortbildungskursen  wurden  Vortrags- 
reihen über  das  neue  Gebiet  abgehalten;  staatliche  psychologische  Institute 
und  eigens  von  Lehrervereinen  gegründete  Institute  stellten  sich  in  den  For- 
schungsdienst der  neuen  Aufgaben;  in  jüngster  Zeit  haben  auch  Schulbehörden 
für  unmittelbare  praktische  Aufgaben  (z.  B.  für  die  Auslese  unternormaler 
und  übernormaler  Schüler)  die  Mitarbeit  derPsychologie  in  Anspruch  genommen.  0 

Und  dennoch  ist  das  alles  erst  als  Anfang  zu  betrachten.  Noch  stehen 
weiteste  Kreise  der  Lehrerschaft  —  und  nicht  zum  mindesten  gerade  der 
höheren  Lehrerschaft  —  dem  neuen  Gebiet  gleichgültig  und  verständnislos, 
ja  oft  ablehnend  gegenüber;  hier  wird  nur  durch  langsame  und  unbeirrbare 
Arbeit  Wandel  geschaffen  werden  können,  insbesondere  dadurch,  daß  die  jungen 
Lehrergenerationen  ausnahmslos  eine  vertiefte  Schulung  in  pädagogischer 
Psychologie  erhalten.  Ebenso  aber  wie  der  Unterricht  muß  auch  die  For- 
schungsarbeit erheblich  ausgebaut  werden;  denn  die  wenigen,  meist  gering 
dotierten  Institute  mit  ihrem  an  Zahl  ganz  unzureichenden  Mitarbeiterstabe 
vermögen  auch  nicht  annähernd  die  umfassenden  Aufgaben  zu  bewältigen. 


')  über  die  Gesamtheit  der  Veranstaltungen  und  Organe  der  pädagogischen  Psychologie  unter- 
richtet bis  zum  Jahre  1911  das  Verzeichnis:  Forschung  und  Unterricht  in  der  Jugendkunde. 
(Arbeiten  des  Bimdes  für  Schulreform.  1.  Leipzig  1912);  bis  zur  Gegenwart  führen  die  ständigen 
Berichte  in  der  „Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie"  (früher  Meumann  und  Scheibner,  jetzt 
Scheibner  und  Stern),  in  der  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  (Lipmann  und  Stern)  imd  in 
der  Zeitschrift  für  Kinderforschung  (Trüper).  Auch  auf  die  Kongresse  für  Jugendbildung  und 
Jugendkunde  sei  in  diesem  Zusammenhang  hingewiesen,  die  vom  Bunde  für  Schulreform  in 
Dresden  1911,  München  1912,  Breslau  1913  veranstaltet  wurden.  (Berichte  bei  Teubner,  Leipzig.) 
An  zusammenfassenden  Werken  über  das  Gesamtgebiet  der  pädagogischen  Psychologie  seien 
genannt: 

E.  Meumann:   Vorlesungen    zur   Einführung   in  die   experimentelle  Pädagogik.     3  Bände. 

2.  Auflage  1912—1916, 
„  „  Abriß  der  experimentellen  Pädagogik.  1914. 

K.  Groos:  Das  Seelenleben  des  Kindes.     4.  Auflage  1913. 

Gaupp:  Psychologie  des  Kindes  (Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Nr.  213/4).  4.  Auflage  1918. 
A,  Binet:  Die  neuen  Gedanken  über  das  Schulkind.     Leipzig  1912. 

R.  Schulze:  Aus  der  Werkstatt  der  experimentellen  Psychologie  und  Pädagogik.     3.  Auf- 
lage 1913. 


Psychologie  und  Schule  I47 


Institute  für  Jugendkunde  sollten  daher  an  möglichst  vielen  Orten  aus  öffent- 
lichen Mitteln  geschaffen  werden,  teils  als  freie  Forschungsveranstaltungen, 
teils  als  unmittelbare  Organe  der  Schulverwaltung,  da  ein  „schulpsychologischer 
Dienst"  ähnlich  dem  schulärztlichen  in  absehbarer  Zeit  eine  unabweisbare 
Notwendigkeit  werden  wird.  ^) 

Da  unser  Thema  „Psychologie  und  Schule"  heißt,  so  können  die  mannig- 
faltigen anderen  Beziehungen,  welche  die  Psychologie  zur  Kindheits-  und 
Jugenderziehung  hat,  beiseite  gelassen  werden.  Unser  Buch  wird  also  nicht 
bezugnehmen  auf  das  ganze  Gebiet  der  frühen  Kindheit  bis  zum  6.  Lebens- 
jahre, das  seit  Preyers  Vorgehen  vor  einem  Menschenalter  sein-  vielseitige 
psychologische  Pflege  gefunden  hat.  2)  Ebenso  lassen  wir  die  Bestrebungen 
beiseite,  die  einer  Erforschung  des  außerschulischen  Jugendlebens  gelten; 
hier  haben  ja  gerade  Kulturerscheinungen  der  neuesten  Zeit  wie  Jugend- 
bewegung und  Jugendkultm-,  Jugendgerichtsbarkeit  und  Jugendfürsorge, 
Jugendpflege  und  Jugendmilitarisierung  brennende  Probleme  gestellt,  die 
ohne  psychologische  Methoden  nicht  lösbar  sind.  Es  bleiben  für  uns  trotz- 
dem noch  genug  Fragen  und  Tatbestände  übrig,  die  sich  auf  die  Schule  als 
solche  erstrecken  —  wobei  wir  freilich  alle  Schulgattungen  und  beide  Ge- 
schlechter ins  Auge  fassen. 

Dreifach  geordnet  sind  diese  Beziehungen  zwischen  Psychologie  und 
Schule;  denn  wir  haben  eine  Psychologie  des  Schülers  nötig,  eine  der  Fächer 
und  pädagogischen  Methoden,  eine  des  Erziehers. 

Die  Psychologie  des  Schülers  ist  ein  Teil  der  „Jugendkunde". 
Unter  dieser  verstehen  wir  die  Wissenschaft  von  der  Jugend  in  der  Gesamt- 
heit ihrer  Erscheinungen;  sie  umfaßt  also  auch  die  Erforschung  der  kind- 
lichen und  jugendlichen  Körperbeschaffenheit,  der  Gesundheit  und  Krank- 
heit, der  jugendlichen  Kriminalität  und  Sozialität,  der  biologischen  Erbhch- 
keits-  und  der  sozialen  Umweltbedingungen,  unter  denen  die  Jugend  steht. 
Aber  immerhin  bildet  doch  die  Erforschung  des  jugendhchen  Seelenlebens 
das  eigentliche  Zentralgebiet  der  Jugendkunde,  schon  deshalb,  weil  ja  auch 
alle  Einwirkung  auf  die  Jugend  den  Weg  über  seelische  Bahnen  nimmt  und 
seelische  Formung  zum  letzten  Ziel  hat.  Das  jugendliche  Seelenleben  soll 
uns  hier  beschäftigen,  soweit  es  das  Schülerdasein,  also  das  Jahrzwölft  vom 
7.  bis  zmn  18.  Jahre  umfaßt.  Man  wird  hier  zimächst  an  diejenigen  see- 
lischen Vorgänge  und  Inhalte  denken,  die  der  Schüler  in  seiner  Eigen- 
schaft als  Schüler  zeigt.  In  der  Tat  muß  sich  ja  dem  Pädagogen  vor 
allem  die  Frage  aufdrängen,  wie  das  Kind  seehsch  auf  die  Anfordenmgen 
der  Schule  reagiert  und  ihnen  gewachsen  ist,  mit  welchen  geistigen  Mitteln 
es  die  gestellten  Aufgaben  löst  (z.  B.  auffaßt,  auswendig  lernt  usw.),  welche 
Begabungen  und  Interessen  es  dem  Lehrgut  und  der  Unterrichtsmethode  ent- 
gegenbringt, mit  welchen  Regungen  des  Willens-  und  Gemütslebens  die  Schul- 


*)  Zur  Begründung  obiger  Forderungen  vergleiche  man  die  Prograuimschrift  des  Verfassers: 
Jugendkunde  als  Kulturforderung.     Leipzig,  Quelle  &  Meyer  1916. 

^)  Preyers  grundlegendes  Werk  ,Die  Seele  des  Kindes"  erschien  erstmalig  1882,  seitdem 
in  vielen  Auflagen;  doch  ist  es  heut  im  wesentlichen  überholt.  Über  den  gegenwärtigen  Stand 
orientieren  die  beiden  zusammenfassenden  Bücher:  W.  Stern,  Psychologie  der  frühen  Kindheit. 
Leipzig    1914.    K.  Bühler,    Die    geistige  Entwicklung  des  Kindes.    Jena  1918. 

10* 


148  William  Stern 


zucht  zu  rechnen  hat.  Das  Eingehen  auf  diese  Fragen  wird  schon  sehr  dazu 
beitragen,  dem  Lehrer  innerhalb  der  Praxis  seiner  täglichen  Schularbeit  jene 
erwünschte  psychologische  Einstellung  zu  erleichtern;  er  erkennt,  daß  nicht 
lediglich  ein  sachliches  Objekt,  das  Lehrgut  des  Faches,  auf  den  Schüler 
sachlich  übertragen  und  von  diesem  rezipiert  wird,  sondern  daß  beseelte 
werdende  Persönlichkeiten  auf  seine  Tätigkeit  reagieren  und  in  diesen  Reak- 
tionen die  Eigenart  ihrer  Entwicklungsstufe,  ihres  Geschlechts,  ihrer  Indivi- 
dualität zu  bekunden  suchen. 

Aber  immerhin  —  es  sind  doch  auch  nur  Reaktionen,  von  denen  wir 
eben  sprachen;  und  es  ist  eine  der  Hauptthesen  der  neuen  Persönlichkeits- 
lehre, daß  das  Reagieren  nur  die  eine  Seite  persönlichen  Tuns  und  zwar  die 
von  außen  her  bestimmte,  darstellt.  Daneben  und  darüber  erhebt  sich  die 
Spontaneität,  das  von  innen  quellende  Tun;  und  sie  ist  noch  viel  tiefer 
im  Wesenskern  des  Menschen  verankert  als  das  bloße  Reagieren;  sie  steht 
diesem  aber  auch  nicht  schroff  gegenüber,  sondern  durchtränkt  es  und  ver- 
flicht sich  mit  ihm  in  mannigfacher  Weise.  Daraus  ergibt  sich  für  uns  die 
Folgerung,  daß  wir  das  Seelenleben  des  Schülers  nicht  nur  kennen  lernen 
müssen,  sofern  es  reagierend  unter  den  Schulanforderungen  steht,  sondern 
auch  in  seinen  natürlichen,  ungezwungenen  und  unerzwungenen  Betätigungen^ 
in  den  inneren  Gesetzmäßigkeiten  der  geistigen  Entwicklung,  im  freien  Spiel 
der  Interessen  und  in  den  spontanen  Regungen  des  Gemüts  und  Willens. 
Wollten  doch  die  Pädagogen  mehr,  als  es  gewöhnlich  geschieht,  dieser  Seite 
des  Jugendlebens  ihre  Aufmerksamkeit  zuwenden!  Sie  würden  bemerken, 
daß  die  bloße  Reaktion  auf  die  unmittelbare  Schuleinwirkung  nur  einen  un- 
vollständigen Ausschnitt  aus  der  Schülerpsyche  zur  Erscheinung  bringt  und 
Avürden  staunend  ganz  neue  Seiten  an  ihren  Schülern  entdecken,  die  auch 
erst  ein  tieferes  Verständnis  für  die  im  Unterricht  bemerkten  und  oft  falsch 
beurteilten  Reaktionen  vermitteln  —  so  wenn  sich  zeigt,  daß  ein  als  „faul" 
geltender  Schüler  in  Wirklichkeit  mit  zähem,  unbeirrbarem  Fleiß  begabt  ist, 
der  sich  aber  nur  auf  einem  Gebiet  spontanen  Interesses,  etwa  dem  Basteln 
oder  einer  Kunstbetätigung  oder  der  Hilfe  im  väterlichen  Geschäft,  zu  be- 
tätigen vermag.  Er  würde  endlich  auch  bei  allen  Organisationsfragen,  Lehr- 
planfestsetzungen, Schulreformen  usw.  Rücksicht  nehmen  auf  die  spontanen 
Lebens-  und  Entwicklungsbedingungen  der  jugendhchen  Seele  und  dadurch 
vermeiden,  daß  dem  Kinde  Stoffe  und  Methoden,  die  ihm  innerlich  fremd 
bleiben  müssen,  aufgezwungen  werden.  Damit  soll  natürlich  nicht  im  ent- 
ferntesten einem  wild  wachsenden  Aufsprossenlassen  der  Kinderseele,  etwa 
im  Rousseauschen  Sinn,  das  Wort  gesprochen  werden;  Pädagogik  darf  nicht 
nur  geschehen  lassen  und  die  natürliche  Entwicklung  unbeeinflußt  sich  aus- 
wirken lassen  —  nichts  wäre  unnatürlicher  als  solche  „Rückkehr  zur  Natur". 
Aber  sie  soll,  indem  sie  spendet  und  fördert,  erzieht  und  belehrt,  stets  sich 
dessen  bewußt  sein,  daß  sie  nicht  gegen  die  Schüler,  sondern  mit  ihnen  und 
mit  den  in  ihnen  ruhenden  Kräften  arbeiten  soll,  daß  diese  spontanen  Stre-: 
bungen  und  Anlagen  nur  darnach  dürsten,  verwertet  und  veredelt  und  da- 
mit selbst  zu  den  stärksten  Hilfsmitteln  des  pädagogischen  Erfolgs  erhoben 
zu  werden. 

Das  Interesse  der  Schule  am  jugendUchen  Seelenleben  ist  einerseits 
individualisierend,  andererseits  typisierend.  Im  ersten  Falle  handelt  es  sich 
darum,  die  einzelnen  Schülerindividualitäten  richtig  zu  erkennen  und 


Psychologie  und  Schule  149 

auf  Grund  dieser  Erkenntnis  richtig  zu  behandeln,  zu  würdigen,  zu  beraten. 
Eine  solche  individualisierende  „Menschenkenntnis"  ist  ja  auch  ohne  Wissen- 
schaft möglich  und  nötig;  sie  kann  aber  durch  Gesichtspunkte  der  psycho- 
logischen Wissenschaft  erhebUch  vertieft  und  durch  ihre  exakten  Beobach- 
tungs-  und  Prüfungsmethoden  bedeutend  verfeinert  werden.  Im  zweiten  Falle 
gilt  es,  die  für  bestimmte  Gruppen  von  Kindern  oder  Jugendhchen  gemein- 
samen Wesensmerkmale  festzustellen,  um  darauf  die  für  jene  Gruppen  be- 
stimmten Unterrichts-  und  Organisationsmaßnahmen  gründen  zu  können.  So 
müssen  wir  die  t>-pischen  Seelenbilder  der  verschiedenen  Altersstufen  kennen, 
um  den  Lehrplan  durch  die  Schuljahre  hindm-ch  „entwicklimgstreu''  aufzu- 
bauen. Wir  müssen  die  typischen  Unterschiede  und  Übereinstimmungen  der 
Mädchen-  und  Knabenpsyche  studieren,  um  die  Reform  der  Mädchenschul- 
bildung nicht  in  einer  geistlosen  Nachahmung  des  Knabenunterrichts  ver- 
ebben zu  lassen.  W^ir  müssen  die  t>T)ischen  Untei-schiede  der  Begabungen 
nach  Art  und  Grad  untersuchen,  um  die  besonderen  Schuleinrichtungen  für 
Untemormale,  Normale  und  Übernormale,  sowie  für  die  verschiedenen  ein- 
seitigen Begabungsrichtungen  zweckentsprechend  organisieren  zu  können. 

Geht  die  bisherige  Betrachtung  vom  Schüler  aus,  so  kann  man  nun  auch 
von  der  anderen  Seite  herkommen,  nämlich  von  den  sachlichen  und  metho- 
dischen Bedingungen  des  Unterrichts;  wir  kommen  so  zu  einer  Psychologie 
der  Fächer  und  Methoden.  Die  Bildungsgüter,  die  dem  Schüler  über- 
mittelt werden  sollen,  sind  sehr  verschieden  nicht  nur  nach  ihrem  äußeren 
sachlichen  Gehalt  und  ihrer  kulturellen  Bedeutung,  sondern  auch  nach  ihrer 
,.psychologischen  Struktur".  Damit  ist  das  Folgende  gemeint.  Jeder  Bil- 
dungsstoff, z.  B.  die  euklidische  Geometrie  oder  die  lateinische  Grammatik, 
ist  zunächst  das  Erzeugnis  psychischer  Leistimgen  derjenigen,  die  jenes  Ge- 
biet geschaffen  haben.  Darüber  hinaus  aber  sind  in  ihnen  dauernd  gewisse 
psychische  Inhalte  und  Funktionen  niedergelegt,  die  notwendig  aktiiell  werden 
müssen,  wo  auch  immer  dieser  Stoff  zum  Gegenstand  menschlicher  Tätigkeit 
gemacht  wird.  So  setzt  die  Geometrie  ganz  bestimmte  Betätigungen  der 
visuellen  Anschauung,  der  Abstraktionsfähigkeit,  der  konstruktiven  Phantasie, 
der  Fähigkeit  logischen  Scliließens  notvs^endig  voraus;  eine  Fremdsprache  er- 
fordert Wortgedächtnis  ^akustisches  für  den  Klang  der  Worte,  motorisches 
für  die  Aussprache,  visuelles  für  die  Schrift),  assoziatives  Gedächtnis  für  die 
Beziehung  zwischen  Wort  und  Bedeutung,  Verständnis  für  sprachlich-logische 
Zusammenhänge,  Einfühlung  in  den  andersartigen  Sprachgeist  usw.  Werden 
nun  solche  Bildungsstoffe  zu  Unterrichtsfächern,  so  erhebt  sich  sofort  die 
Zielfrage:  welche  psychischen  Funktionen  sollen  durch  das  Fach  ins  Spiel 
gesetzt,  entwickelt  und  ausgebildet  werden,  und  wie  nmß  Stoffauswahl,  Unter- 
richtsweise usw.  gestaltet  werden,  um  diese  Werte  aus  dem  Fach  herauszu- 
holen? Man  denke  etwa  nur  an  die  verschiedenen  Bewertungen  des  deut- 
schen Aufsatzes:  bald  w^ird  die  schrifüiche  Beherrschung  der  Muttersprache, 
bald  die  Fähigkeit  zu  straffer  logischer  Ghederung  eines  gegebenen  Stoffes, 
bald  der  freie  Ausdruck  eigenen  phantasievollen  Erlebens  als  Ziel  hingestellt. 
Und  wenn  auch  die  Psychologie  selbst  niemals  das  Ziel  als  solches  zu  recht- 
fertigen und  zu  begründen  vermag,  so  liefert  sie  doch  erst  mit  ihrer  Analyse 
des  Fachgebietes  die  Einsicht  in  die  Vielheit  und  die  Verknüpfungen  der  da- 
bei beteiligten  seeUschen  Funktionen  und  damit  eine  empirische  Grundlage 


150  Wüliam  Stern 


ür  die  sonst  leicht  im  Abstrakten  und  Einseitigen  verschwimmenden  Ziel- 
betrachtungen, Um  nur  ein  Beispiel  zu  nennen :  die  ganze  moderne  Reform 
des  Zeichenunterrichts  wäre  nicht  denkbar  gewesen  ohne  die  eingehende 
Untersuchung  der  beim  Zeichnen  ins  Spiel  tretenden  psychischen  Betätigungen 
und  Leistungsformen. 

Entsprechendes  gilt  von  der  Unterrichts  methodik.  Es  gibt  gewisse  ganz 
allgemeine  Verfahrungsweisen,  die  unabhängig  vom  Fach  den  ganzen  Unter- 
richt durchziehen,  und  deren  jede  ihre  besondere  psychische  Beschaffenheit 
hat.  So  ist  das  wörtliche  Memorieren  auf  zum  Teil  anderen  seelischen  Funk- 
tionen aufgebaut  als  die  sinnhafte  Einprägiing,  die  nicht  an  den  Wortlaut  ge- 
bunden ist.  Das  sokratische  Verfahren  hat  andere  psychologische  Voraus- 
setzungen als  der  zusammenhängende  Vortrag  usw.  Bei  allen  Stoffen  spielt 
die  methodische  Kette  von  der  Vorbereitung  und  Darbietung  über  die  Ver- 
knüpfung und  Einordnung  hin  bis  zur  Einübung  eine  Rolle;  diese  Kette  ist 
zugleich  eine  Abfolge  verschiedener  seelischer  Tätigkeiten,  sowohl  beim  Lehrer 
wie  beim  Schüler  (bekanntlich  ist  diese  Kette  in  der  Lehre  von  den  Herbarti- 
anischen  „Formalstufen"  schematisch  festgelegt  und  zum  Teil  zu  einer  un- 
erh'äglichen  Fessel  der  unterrichtlichen  Tätigkeit  ausgestaltet  worden). 

Die  allgemeine  Methodik  aber  spezialisiert  sich  nun  wieder  nach  den 
Fächern  und  nach  deren  vorhin  besprochenen  psychologischen  Merkmalen. 
Die  Rolle,  welche  die  Anschauung  beim  Rechenunterricht  zu  spielen  hat,  ist 
eine  ganz  andere  als  diejenige,  die  ihr  etwa  in  der  Naturkunde  zukommt; 
das  moderne  Prinzip  der  „Selbsttätigkeit"  kann  anders  beim  Aufsatz  als  etwa 
in  der  Grammatik  zur  Geltung  kommen.  Die  spezielle  Didaktik  der  Unter- 
richtsfächer war  ja  bisher  —  und  ist  zum  Teil  noch  —  das  Gebiet,  auf  dem 
eine  unsystematische  und  unbedachte  Reformwut  sich  besonders  breit  macht; 
und  da  ist  es  doch  als  großer  Fortschritt  zu  betrachten,  daß  die  Psychologie, 
zum  Teil  auch  mit  Hilfe  experimenteller  Methoden,  exakt  untersuchte,  welche 
psychologischen  Mittel  am  schnellsten,  sichersten  und  nachhaltigsten  be- 
stimmte unterrichtliche  Zwecke  zu  verwirklichen  geeignet  sind.  Die  Ökonomie 
und  Technik  des  Anschauens  und  Auffassens,  des  Lernens  und  Behaltens, 
des  Wiederholens  und  Einübens  wurde  für  eine  ganze  Reihe  von  Fachgebieten 
eingehend  untersucht,  und  so  manche  praktisch  wichtige  Anweisungen  und 
Ausgestaltungen  der  Unterrichtsmethoden  konnten  bereits  daraus  abgeleitet 
werden;  weitere  sind  in  Zukunft  zu  erhoffen. 

Die  Gesamtheit  der  eben  besprochenen  Bestrebungen,  die  vor  allem  auf  eine 
psychologische  Durchforschung,  Begründung  und  etwaige  Umformung  der 
Unterrichtsstoffe  und  Methoden  gehen,  hat  man  als  „experimentelle  Didaktik" 
(Lay)  und  in  erweitertem  Sinne  als  „experimentelle  Pädagogik"  bezeichnet 
(Meumann).  Es  waren  gar  zu  hoch  fliegende  Hoffnungen,  die  man  anfangs 
auf  dies  neue  pädagogische  Arbeitsgebiet  setzte;  glaubten  doch  manche  Heiß- 
sporne, daß  überhaupt  die  ganze  Pädagogik  von  dieser  psychologisch  orien- 
tierten Betrachtungsweise  her  grundstürzend  gewandelt  werden  würde,  ja  daß 
Pädagogik  sich  ganz  und  gar  in  angewandter  Psychologie  erschöpfen  würde. 
Diese  Verstiegenheiten  haben  vielen  Schaden  angerichtet.  Heut  wissen  wir, 
daß  die  anderen  Betrachtungsweisen  der  Pädagogik :  die  kulturphilosophische 
und  die  werttheoretische,  die  soziologische  und  staatswissenschaftliche,  die 
didaktische  und  organisatorische  ihr  Recht  auch  in  Zukunft  behalten  werden, 
daß   aber  neben   ihnen,   als  gleichberechtigte  und  unentbehrhche,  früher 


Paychologie  und  Schule  151 

ungebührlich  vernachlässigte  Betrachtungsweise,  die  psychologische  Pädagogik 
Beachtung  und  Pflege  erheischt. 

Aber  die  Psychologie  des  Schülers  und  die  psychologischen  Bedingungen 
des  Unterrichts  machen  noch  nicht  das  Ganze  der  seelenkundlichen  Probleme 
aus,  die  uns  die  Schule  stellt;  die  Psyche  des  Lehrers  ist  eine  nicht 
minder  wichtige  Voraussetzung  für  das  Gedeihen  unseres  Schulwesens.  Merk- 
würdigerweise hat  man  bisher  kaum  bemerkt,  daß  hier  eine  Frage  verborgen 
ist,  deren  Behandlung  an  Bedeutung  der  Erforschung  der  Schülerpsyche  eben- 
bürtig ist.  Wir  hoffen,  daß  die  Zukunft  diese  bedauerliche  Lücke  der  päda- 
gogischen Psychologie  bald  ausfüllen  möge;  und  vrir  haben  ein  Recht  zu 
dieser  Hoffnung,  da  jetzt  die  Frage  der  psychischen  Berufseignung  zu  einer 
der  dringendsten  unseres  sozialen  Lebens  geworden  ist. 

Es  ist  eine  elementare  Forderung  der  heute  unumgänghchen  Menschen- 
ökonomie, daß  in  der  beruflichen  GUederung  unseres  Volkes  überall  „der 
rechte  Mann  an  die  rechte  Stelle"  komme.  Wenn  jemand  in  einen  Beruf 
eintritt,  in  dem  er  nicht  sein  Bestes  zu  leisten  vermag  oder  in  den  er  sich 
innerlich  nicht  hineingehörig  fühlt,  dann  ist  das  nicht  nur  ein  Unglück  für 
das  Individuum,  sondern  auch  ein  Kraftverlust  für  die  Allgemeinheit  und  eine 
jahrzehntelange  Schädigung  derer,  die  ihm  von  Berufs  wegen  anvertraut  sind. 
Wendet  man  diesen  Gesichtspunkt  auf  den  Beruf  des  Pädagogen  an,  so  ent- 
stehen die  Fragen:  W^er  ist  zum  Lehrer  innerlich  geeignet?  Welche  Forde- 
rungen müssen  an  die  Psyche  desjenigen  gestellt  werden,  der  den  Unter- 
richtsberuf ergreifen  soll?  Ganz  befriedigend  werden  diese  Fragen  erst  be- 
antwortet werden  können,  wenn  die  eigentümliche  seehsche  Struktur  der 
pädagogischen  Aufgabe  und  Tätigkeit  vielseitig  durchforscht  sein  wird.  Aber 
eines  darf  schon  jetzt  hervorgehoben  werden.  Erziehung  und  Unterricht  sind 
Tätigkeiten,  in  denen  unmittelbar  Mensch  auf  Mensch  wirkt.  W^enn  auch 
stets  ein  Sachgebiet  (Mathematik,  Fremdsprache,  Musik  usw.)  hier  mitspielt 
—  nie  handelt  es  sich  lediglich  um  Pflege,  Bearbeitung  und  Übermittlung 
dieses  Sachgebiets,  sondern  um  seine  Verwertung  im  Dienste  werdender  Per- 
sönlichkeiten; nicht  die  „Sache",  sondern  diese  Persönhchkeiten  selbst  also, 
ihre  geistige  Bereicherung,  ihre  sittliche  Vervollkommnung  sind  die  eigent- 
lichen Ziele  der  pädagogischen  Tätigkeit.  Daher  ward  zum  Lehrer  nur  der- 
jenige psychisch  geeignet  sein,  dem  das  Interesse  am  lebendigen  Men- 
schen und  seiner  Entwicklung  noch  höher  als  das  Interesse  an 
der  zu  übermittelnden  Sache  steht.  Damit  ist  nicht  etwa  ein  Wert- 
urteil ausgesprochen,  sondern  nur  eine  psychologische  Differenzierung  fest- 
gestellt. Es  gibt  einen  Menschentyp,  der  durchaus  „sachUch"  gerichtet  ist: 
sein  Interesse  geht  auf  diejenigen  Seiten  der  Welt,  die  er  gegenständhch  er- 
forschen und  analysieren,  logisch  bearbeiten,  mechanisch  beheiTschen  und 
organisieren  kann.  Und  es  gibt  einen  anderen  Typ,  dessen  Neigung  und 
Eignung  vorwiegend  „personalistisch"  ist:  in  lebendige  Wechselwirkung  mit 
Menschen  zu  treten,  sie  nicht  als  bloße  Objekte  nach  eigenen  Wünschen 
zurechtzukneten,  sondern  sie  unter  Anerkennung  ihrer  persönlichen  Wesen- 
heit zu  beeinflussen  und  zu  fördern,  ist  ihm  freudige  Lebenserfüllung.  Wer 
vornehmhch  zum  ersten  Typ  gehört,  kann  ein  vorzüglicher  Fachgelehrter,  ein 
hervorragender  Organisator  werden  —  aber  zum  Lehrer,  der  zugleich  stets 
ein  Erzieher  sein  muß,  wird  er  weniger  geeignet  sein.     Nun  besteht   ins- 


152  William  Stern,  Psychologie  und  Schule 


besondere  für  den  Oberlehrerstand  die  große  Schwierigkeit,  daß  in  ihm  eine 
weitgehende  Sach-  und  Fachbeherrschung  mit  dieser  personaUstischen  Ein- 
stellung und  Interessenrichtung  verbunden  sein  muß;  es  wird  noch  so  manches 
an  der  akademischen  Vorbildung  der  Oberlehrer  geändert  werden  müssen, 
damit  neben  der  vortrefflichen  Fachausbildung,  die  die  Universität  gewährt, 
auch  jenes  eigentliche  Berufsethos  und  die  Berufspsychologie  des 
Lehrers  zur  Geltung  komme. 

Des  weiteren  wird  die  Psychologie  des  Lehrers  die  besonderen  seelischen 
Funktionen  zu  untersuchen  haben,  die  bei  der  Wechselwirkung  zwischen 
Lehrer  und  Schüler  ins  Spiel  gesetzt  werden.  Welches  sind  die  gnmdlegenden 
psychischen  Bedingungen  der  unterrichtlichen  Ai'beit  und  der  „didaktischen 
Fähigkeit"  ?  Welche  Eigenschaften  des  Pädagogen  bestimmen  das  Autoritäts- 
und das  Kameradschaftsverhältnis  zu  den  Schülern?  Wodurch  vermag  er  die 
Klasse  als  Ganzes  zu  beherrschen  und  wodurch  wiederum  wird  er  zu  indivi- 
dualisierender Behandlung  der  einzelnen  Schüler  fähig?  Soviel  Fragen,  so 
viel  Aufforderungen  zu  künftiger  psychologischer  Untersuchung,  die  nur  in 
enger  Arbeitsgemeinschaft  von  Psychologen  und  praktischen  Kennern  des 
Lehrerberufs  wird  geleistet  werden  können. 

Endhch  werden  wir  eine  differentielle  Psychologie  des  Lehrers  ent- 
wickeln müssen.  Zweifellos  gibt  es  nicht  nur  einen  Menschen  typ,  der  als 
der  spezifische  Typ  des  Pädagogen  betrachtet  werden  darf,  sondern  deren 
mehrere;  und  nun  ward  wieder  zu  prüfen  sein,  wie  die  verschiedenen  Typen 
den  so  verschiedenen  Aufgaben  innerhalb  der  Schultätigkeit  anzupassen  sind. 
Dies  gilt  zunächst  für  die  Fächer:  der  ideale  Religionslehrer  und  der  ideale 
Mathematiklehrer  unterscheiden  sich  nicht  allein  durch  das  Fachwissen  und 
den  Unterrichtsgegenstand,  sie  müssen  vielmehr  in  ihrer  ganzen  Persönlich- 
keitsstruktur, in  ihrem  psychischen  Wechselverhältnis  zum  Schüler  völlig  von 
einander  abweichen.  Und  es  gilt  für  die  Schulgi'uppen :  so  fordern  Knaben- 
schulen und  Mädchenschulen  recht  verschiedene  pädagogische  Einstellungen 
und  Fähigkeiten,  und  es  ist  bedauerhch,  daß  die  Entscheidung  fiu-  diese  und 
Jene  Schulgattung  meist  viel  mehr  aus  äußeren  oder  aus  Zufallsmotiven,  als 
aus  Rücksicht  auf  die  besondere  psychische  Eignung  erfolgt.  Auch  für  die 
Altersstufen  der  Schüler  differenzieren  sich  die  Lehrertypen;  es  gibt  Päda- 
gogen, die  ihr  Bestes  gerade  in  der  Erziehung  und  Unterweisung  jüngerer 
Kinder  geben  können,  andere,  die  für  die  reifere  Jugend  geeignet  sind  —  ist 
es  recht,  daß  hier  das  Dienstalter  ohne  Rücksicht  auf  Psychologie  allein  maß- 
gebend ist?  Und  um  ein  ganz  modernes  Problem  zu  nennen :  die  jetzt  be- 
ginnende Gruppierung  der  Schüler  nach  Begabungen  kann  nur  dann  zu 
günstigen  Erfolgen  führen,  wenn  auch  die  Lehrerwahl  dieser  Differenzierung 
entspricht.  Schon  bildete  sich  für  die  Schwachen  im  Geiste  der  besondere 
Typ  des  Hilfsschullehrers  aus,  der  ganz  andere  Fähigkeiten  haben  muß  als 
der  Lehrer  der  Normalklassen.  Und  wenn  jetzt  nach  der  anderen  Seite  hin 
Klassen  für  besonders  befähigte  Kinder  geschaffen  werden,  so  wird  sich  bald 
zeigen,  daß  nicht  jeder  Pädagoge  —  mag  er  sonst  noch  so  tüchtig  sein  — 
zum  Lehrer  einer  solchen  Begabtenklasse  paßt;  auch  hier  wird  der  erforder- 
hche  psychologische  Typ  festgestellt  und  im  konkreten  Fall  herausgefunden 
werden  müssen. 

So  sei  sich  denn  jeder  Lehrer  dessen  bewußt,  daß  die  Schulpsychologie,  die 
ihn  angeht,  nicht  erst  beim  Schüler  einzusetzen  hat,  sondern  bei  ihm  selber. 


Otto  Lipmann,  Das  Zusammenwirken  der  Schule  und  des  Psychologen  usw.    153 

Das  Zusammenwirken  der  Schule  mid  des  Psychologen  bei 
der  Begabungs-  und  Eignungs-Auslese*). 

Von  Otto  Lipmann. 

Jede  systematische  Erziehung  und  jeder  geordnete  Unterricht  hat  zwei 
psychologische  Voraussetzungen :  Kenntnis  des  zu  erziehenden  und  zu  unter- 
richtenden Individuums  und  Kenntnis  der  Büttel,  mit  denen  solche  Individuen 
erziehhch  und  unterrichtlich  beeinflußt  werden  können.  Zu  diesen  jeder 
Pädagogik  ursprtinghch  anhaftenden  psychologischen  Voraussetzungen  treten 
in  neuester  Zeit  von  außen  her  psychologische  Forderungen  anderer  Art, 
Forderungen,  die  über  die  innerhalb  einer  Schule  zu  erfüllenden  erzieh- 
lichen und  unterrichthchen  Aufgaben  hinausgreifen:  der  Lehrer  soll  nicht 
nur  mehr  seine  Zöglinge  kennen,  um  sie  bestmöglich  erziehlich  und  unter- 
richtlich beeinflussen  zu  können,  sondern  er  soll  diese  Kenntnisse  auch  einer 
Prophezeiung  über  ihr  künftiges  Lebensschicksal  zugrunde  legen;  er  soll 
unter  Umständen  und  in  gewissem  Maße  sogar  dieses  Schicksal  mitbestimmen. 

Ich  spreche  nicht  davon,  daß  der  Lehrer  als  solcher  etwa,  einen  Berufs- 
rat erteilen  soU;  die  Schule  ist  nicht  in  der  Lage,  auch  als  Berufsberatungs- 
stelle zu  dienen.  Denn  wenn  wir  auch  annehmen  mögen,  daß  sie  dem  psy- 
chologischen Teil  dieser  Aufgabe,  —  demjenigen  Teil,  der  sich  auf  der 
Kenntnis  der  Schüler  aufbaut,  —  zu  entsprechen  vermag,  so  ist  sie  doch 
keinesfalls  ohne  weiteres  in  der  Lage,  auch  über  die  einzelnen  Berufe,  ihi-e 
wirtschaftüche  Lage  usw.  ausreichend  unterrichtet  zu  sein.  Dies  kann  nur 
eine  Berufsberatungsstelle,  die  darauf  eingerichtet  ist,  sich  über  diese  Ver- 
hältnisse und  ihren  ständigen  Wechsel  dauernd  auf  dem  Laufenden  zu  er- 
halten. Der  Berufsberatungsstelle  aber  fehlt  andrerseits  wieder  der  genaue 
Einblick  in  die  besonderen  seeUschen  Fähigkeiten  und  Eigenschaften  des  zu 
Beratenden,  und  wenn  jeder  Arbeitsuchende  in  denjenigen  Beruf  gestellt 
werden  soll,  für  den  er  nach  Maßgabe  seiner  psychischen  Kiäfte  bestgeeignet 
ist,  wenn  bei  der  Berufsberatung  nicht,  wie  bisher,  nur  die  wirtschaftlichen 
Aussichten  berücksichtigt  werden  sollen,  so  muß  der  Berufsberater  von 
anderer  Seite  her  instand  gesetzt  werden,  sich  auch  über  die  besondere 
Veranlagung  der  Ratsuchenden  ein  Bild  zu  machen.  Diese  Vorarbeit  kann 
niemand  besser  leisten  als  die  Schule;  sie  besteht  hier  in  einer  psycho- 
logischen Charakteristik  der  einzelnen  Schüler,  die  sich  zu  erstrecken  hat 
auf  alle  die  fiu*  eine  künftige  Berufswahl  in  Frage  kommenden  Eigenschaften, 
soweit  der  Lehrer  in  der  Lage  ist,  eine  besonders  hohe  Entwicklung  oder 
einen  auffallenden  Mangel  durch  Beobachtung  festzustellen. 

In  viel  unmittelbarerer  und  verantw^ortlicherer  Weise  wird  ein  psycholo- 
gisches Urteil  der  Lehrer  bei  der  Begabten  auslese  mit  herangezogen  und 
dem  Übergang  einzelner  Schüler  einer  Schulgattung  in  eine  andere  zugnmde 
gelegt.  Freilich  hat  auch  hier  gewöhnlich  der  Lehrer  nicht  das  letzte  aus- 
schlaggebende Wort.  Handelt  es  sich  um  schwach  begabte  Schüler,  so  trifft 
der  Schularzt  die  Entscheidung,  ob  eine  Überweisung  in  die  Hilfsschule  an- 
gezeigt erscheint.  Handelt  es  sich  um  übernormale  Begabungen,  so  be- 
halten sich  die  Schulverwaltungen  gewöhnhch  vor,  unter  den  von  den  Schulen 


')  Vortrag,  gehalten  am  20.  März  1919  in  einer  von  Stadtschulrat  Dr.  Buchenau  in  Neukölln 
bei  Berlin  veranstalteten  Rektoren-Konferenz. 


154  Otto  Lipmann 


für  einen  Aufstieg  vorgeschlagenen  Schülern  eine  engere  Auslese  zu  treffen, 
und  als  Mittel  einer  solchen  endgültigen  Auslese  wird  dann  gewöhnlich  das 
psychologische  Experiment  verwendet,  und  mit  seiner  Durchführung  wird 
ein  „Schulpsychologe"  beauftragt. 

Solche  Prüfungsexperimente  sind  notwendig, 

1.  wenn  die  Zahl  der  von  den  Schulen  vorgeschlagenen  Schüler  größer 
ist  als  die  Zahl  derjenigen,  welche  die  Schulverwaltung  für  einen  Aufstieg 
in  Aussicht  genommen  hat; 

2.  wenn  die  Schulverwaltung  glaubt,  dem  Lehrerurteil  allein  in  dieser 
wichtigen  Frage  nicht  trauen  zu  dürfen; 

3.  wenn  die  Urteile  der  Rektoren  und  der  verschiedenen  Lehrer  und  die 
Schulleistungen  in  Widerspruch  zueinander  stehen,  vielleicht  auch,  wenn  der 
gesetzliche  Stellvertreter  eines  nicht  vorgeschlagenen  Schülers  glaubt,  daß 
dieser  gleichfalls  ein  Anrecht  darauf  gehabt  hätte,  mit  vorgeschlagen  zu  werden. 

Die  Ausführung  solcher  Ausleseprüfungen  muß  natürlich  einem  Fach- 
psychologen überlassen  sein,  da  nur  eine  Vertrautlieit  mit  der  Technik  des 
psychologischen  Experimentierens  überhaupt  und  eine  gründhche  Kenntnis 
der  speziellen  anzuwendenden  Methoden  und  ihrer  Fehlerquellen  eine  sach- 
gemäße Durchführung  der  Prüfungen  selbst  und  eine  brauchbare  Wertung 
der  Ergebnisse  gewährleistet.  Aber  auch  hier  wird  schon  ein  Zusammen- 
wirken des  Psychologen  mit  der  Lehrerschaft  insofern  erforderlich  sein,  als 
der  Psychologe  allein  nicht  imstande  ist,  sämtliche  Prüfungen  in  der  erforder- 
lichen Schnelligkeit  durchzuführen  und  auszuwerten.  Es  wird  sich  eine  unter 
Leitung  des  Psychologen  stehende  Arbeitsgemeinschaft  bilden  müssen,  in  der 
die  Methoden  der  Prüfung  und  der  Wertung  genau  besprochen  werden  und 
deren  Mitglieder  dann  einen  Teil  der  Durchführung  übernehmen  können,  ohne 
daß  Exaktheit  und  EinheitHchkeit  der  Prüfung  darunter  leidet. 

Eine  solche  Arbeitsgemeinschaft  zwischen  dem  Psychologen  und  den  Lehrern 
ist  auch  noch  aus  einem  weiteren  Grunde  erforderlich :  Das  Ziel  der  Begabten- 
prüfung  ist,  wie  ich  schon  vorher  andeutete,  die  Grundlage  für  eine  Prophe- 
zeiung darüber  zu  schaffen,  ob  der  Prüfung  gewissen  Anforderungen,  die  in 
Zukunft  an  ihn  herantreten  werden,  zu  entsprechen  imstande  sein  wird. 
Wenn  diese  Anforderungen  qualitativ  anderer  Art  sind,  als  diejenigen, 
die  bisher  an  den  Prüfling  gestellt  wurden,  so  können  die  bisherigen  Leistungen 
des  Prüfhngs  naturgemäß  keine  genügende  Grundlage  für  jene  Prophezeiung 
gewähren;  daraus,  daß  einer  in  den  Elementarfächern  Genügendes  oder  auch 
sehr  Gutes  leistete,  kann  man  nicht  ohne  weiteres  schließen,  daß  er  sich 
auch  Fremdsprachen  oder  der  Mathematik  gegenüber  ebenso  bewähren  wird. 
Man  hat  nun  in  der  „Intelligenz"  eines  Schülers  diejenige  Eigenschaft  zu 
finden  geglaubt,  die  ihn  befähigt,  ganz  allgemein  sich  neuen  Anforderungen 
anzupassen  und  neu  an  ihn  herantretende  Aufgaben  bewältigen  zu  können, 
und  man  hat  dementsprechend  jene  Prophezeiung  auf  eine  Prüfung  der  all- 
gemeinen Intelligenz  aufbauen  zu  können  vermeint.  Dem  gegenüber  glaube 
ich:  wir  müssen  unser  Ziel  enger  stecken,  wir  können  nicht  prophezeien, 
ob  ein  Schüler  einmal  allen  neuen  Anforderungen,  die  das  Leben  an  ihn 
stellen  wird,  entsprechen  wird;  wir  können  das  schon  deshalb  nicht,  weil 
der  Schüler  ja  noch  kein  fertiger  Mensch  ist,  weil  seine  Intelligenzentwick- 
lung ja  noch  nicht  abgeschlossen  ist,  weil  eine  solche  InteUigenzentwicklung 
nicht  stetig  verläuft  und  weil  kein  Mensch,  und  auch  kein  Psychologe,  über- 


Di3  Zusammenwirken  der  Schule  und  des  Psychologen  usw.  155 

sehen  kann,  in  welcher  Weise  diese  Entwicklung  z.  B.  durch  die  Pubertät 
gefördert  oder  gehemmt  werden  wird.  Aus  diesem  Grunde  müssen  wir  uns 
damit  begnügen,  eine  Prophezeiung  nur  für  die  allernächste  Zukunft  auszu- 
sprechen; die  Prüfung  darf  dementsprechend  nicht  auf  eine  abstrakt-all- 
gemeine Intelligenz  gerichtet  sein,  sondern  sie  muß  diejenigen  Eigenschaften 
betreffen,  welche  die  nächste  Zukunft  von  dem  Schüler  verlangen  wird. 
Unsere  Aufgabe  bei  der  Begabten-Prüfung  ist  also  die,  zu  entscheiden,  ob 
ein  Schüler  diejenigen  Eigenschaften  besitzt,  welche  die  neue  Schule,  in  die 
er  gegebenenfalls  eintreten  soll,  ihrer  Art  nach  von  ihren  Schülern  verlangt, 
also  z.  B.  diejenigen  Eigenschaften,  welche  die  Grundlage  für  das  Erlernen 
fremder  Sprachen,  für  das  mathematische  Verständnis,  für  technische  Fertig- 
keiten usw.  bilden.  Diese  Anforderungen  aber  kennt  der  Psychologe,  der 
nicht  zugleich  Schulpraktiker  ist,  nur  sehr  unvollständig,  und  nm*  die  Arbeits- 
gemeinschaft mit  Lehrern  kann  dazu  verhelfen,  das  Prüfungsverfahren  möglichst 
genau  dem  anzupassen,  was  es  eigentlich  leisten  soll. 

Ich  will  nur  nebenbei  erwähnen,  daß  meine  vorigen  Ausfühi-ungen  nicht 
etwa  einen  Widerspruch  gegen  die  Tendenz  der  neueren  Schulorganisation 
bilden,  die  unter  dem  Schlag worte  „Aufstieg  der  Tüchtigen"  steht.  Nur 
meine  ich,  die  Schule  und  der  Psychologe  sind  nicht  imstande,  diejenigen 
zu  erkennen,  die  später  einmal  schlechthin  „die  Tüchtigen"  sein  werden. 
Wohl  aber  kann  es  als  Grundsatz  der  Schulorganisation  hingestellt  werden: 
Jedem  Schüler  dasjenige  Höchstmaß  von  Schulbildung  zuteil  werden  zu  lassen, 
dem  er  nach  Maßgabe  seiner  jeweiligen  Leistungsfähigkeit  eben  gewachsen 
ist  Man  wird  nicht  annehmen  können,  daß  die  oben  erwähnten  Unstetig- 
keiten  der  Entwicklung  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  das  Verhältnis  zwischen 
den  heute  Tüchtigen  und  heute  Untüchtigen  gradezu  umkehren  werden,  und 
man  wird  so,  selbst  wenn  man  sich  auf  kurzfristige  Prophezeiungen  be- 
schränkt, damit  meist  wohl  auch  gleichzeitig  die  Lebens  tüchtigen  von 
den  weniger  Lebenstüchtigen  scheiden.  Daß  dies  nicht  völlig  geschieht,  be- 
trachten wir  als  kein  Unglück.  Die  Unstetigkeiten  der  Entwicklung  werden 
dann  immer  dafür  sorgen,  daß  einerseits  auch  Intelligente,  zwar  ohne  be- 
sondere Schulbildung,  den  niederen  Berufen  erhalten  bleiben,  und  daß  ihnen 
andrerseits  auch  weniger  Intelligente,  die  zwar  eine  höhere  Schulbildung 
genossen  haben,  aber  doch  in  einem  höheren  Berufe  nicht  weiterkommen, 
wieder  zuströmen.  — 

Ich  habe  nun  ziemlich  ausführlich  über  das  Zusammenwirken  der  Lehrer 
und  des  Psychologen  bei  der  Begabten  prüf  ung  gesprochen,  und  doch  be- 
tiachte  ich  diese  Aufgabe  letzten  Endes  nicht  als  die  wichtigste.  Sie  setzt, 
wie  ich  sagte,  immer  ein  aktives  Mitwirken  des  Psychologen  voraus,  und 
ich  muß  gestehen,  daß  dies  vom  Standpunkte  des  Lelu-ers  aus  angesehen, 
als  eine  Eimnischung  in  seine  allereigensten  Angelegenheiten  betrachtet 
werden  muß.  Mir  scheint  allerdings  diese  Mitwirkung  des  Psychologen  heute 
noch  unumgänglich;  aber  andrerseits  müssen  wir  doch  an  dem  Ziel  fest- 
halten,  sie    allmählich  überflüssig   zu  machen.     Wie  kann  das  geschehen? 

Von  den  Zwecken,  denen  eine  Begabtenprüfung  zu  dienen  hat,  erwähnte 
ich  vorher  die,  daß  sie  eine  engere  Auswahl  unter  den  von  der  Schule  vor- 
geschlagenen Schülern  treffen  soll.  Dieser  Zweck  wird  hinfällig,  wenn  die 
Vorschläge  der  Schule  so  gut  begründet  sind,  daß  mit  Recht  von  der  Schul- 
verwaltung verlangt  werden  kann,   ihnen   sämtlich  ohne  weiteres  Rechnung 


156     Otto  Lipmann,  Das  Zusammenwirken  der  Schule  und  des  Psychologen  usw. 

zu  tragen,  d.  h.  allen  denjenigen  Schülern,  die  von  ihren  Lehrern  als  dazu 
geeignet  erklärt  werden,  den  Übergang  in  eine  höhere  Schule  zu  ermög- 
lichen, und  wenn  die  vorhandenen  Schulen  und  Klassen  nicht  ausreichen, 
neue  zu  schaffen.  Wenn  die  Vorschläge  der  Schule  den  hierfür  erforder- 
lichen Grad  der  Zuverlässigkeit  erlangen,  so  wird  damit  auch  der  weitere 
Zweck  der  Prüfungen  hinfällig,  daß  sie  nämlich  der  Schulverwaltung  eine 
Nachprüfung  der  Schulvorschläge  ermöglichen  soll.  Es  bleibt  dann  also  nur 
der  dritte  der  genannten  Zwecke  übrig,  eine  Entscheidung  im  Falle  von 
Widersprüchen  und  Einwendungen  herbeizuführen;  auch  dies  würde  nur  noch 
in  äußerst  seltenen  Fällen  in  Frage  kommen,  wenn  die  eben  genannten  Vor- 
bedingungen erfüllt  sind. 

Es  liegt  also  im  eigensten  Interesse  der  Lehrerschaft,  ja  es  ist  gewisser- 
maßen eine  Ehrensache  für  sie,  daß  es  ihr  gelingt,  auch  ohne  das  Hilfs- 
mittel experimenteller  Prüfungen  zu  einem  entscheidenden  Urteil  über  die 
Befähigung  der  Schüler  zu  kommen.  Das  Mittel,  dessen  sie  sich  dabei  zu 
bedienen  hat,  ist  die  eingehende  und  systematische  psychologische  Beob- 
achtung der  Schüler.  Den  Lehrer  zu  einer  solchen  Beobachtung  instand 
zu  setzen,  darin  erblicke  ich  die  zweite  und  die  wichtigste  Aufgabe  eines 
Schulpsychologen. 

Man  wird  mir  hier  vielleicht  einwenden:  Der  Lehrer,  der  tagein,  tagaus, 
jahrein,  jahraus  mit  den  Schülern  zusammenlebt,  stellt  ja  schon  ganz  von 
selbst  immerfort  Beobachtungen  an  und  braucht  dazu  nicht  erst  eine  psy- 
chologische Anleitung.  Dies  ist  richtig  und  falsch  zugleich.  Richtig  insofern, 
als  in  der  Tat  auch  nach  meiner  Überzeugung  die  jahrelang  fortgesetzte 
Beobachtung  mehr  und  zuverlässigere  Ergebnisse  zeitigen  kann  als  ein  ein- 
maliges Prüfungsexperiment;  falsch,  insofern  die  Beobachtung  seitens  des 
Lehrers  einmal  eine  unsystematische,  nicht  durch  psychologische  Gesichts- 
punkte geleitete,  und  zweitens  meist  nicht  auf  die  Begabung,  sondern  auf 
Leistungen  des  Schülers  gerichtete  ist.  Die  Aufgabe  des  Psychologen  ist 
also,  die  Aufmerksamkeit  des  Lehrers  auch  auf  die  Begabungen,  auf  die 
psychischen  Eigenschaften  der  Schüler  einzustellen  und  dem  Lehrer  zu  zeigen, 
auf  was  alles  er  zu  achten  hat,  um  zu  einem  begründeten  Urteil  über  die 
Eignung  des  Schülers,  sei  es  für  den  Besuch  einer  bestimmten  höheren 
Schule,  sei  es  für  einen  Beruf  zu  gelangen.  Denn  wenn  die  Schulverwaltung 
oder  der  Berufsberater  diesem  Urteil  über  die  Eignung  ohne  weiteres  ver- 
trauen soll,  so  genügt  es  natürlich  nicht,  wenn  es  nur  zusammenfassend 
lautet :  X  ist  für  diese  oder  jene  Schule  oder  für  diesen  oder  für  jenen  Beruf 
geeignet;  es  muß  vielmehr  auch  ersichtlich  sein,  auf  welche  Einzelbeob- 
achtungen bzw.  auf  die  Beobachtung  welcher  Eigenschaften  sich  dieses 
Urteil  stützt. 

Der  Psychologe  wird  also  dem  Lehrer  eine  Beobachtungsanweisung  in  die 
Hand  zu  geben  haben,  die  in  systematischer  Aufzählung  alle  diejenigen 
Einzeleigenschaften  nennt,  deren  Vorhandensein  für  die  Eignung  für  den 
Besuch  einer  höheren  Schule  oder  für  verschiedene  Berufe  maßgebend  ist. 
Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  die  meisten  dieser  Eigenschaften  in  der 
Tat  durch  den  Lehrer  beobachtet  werden  können,  sei  es  im  Untenicht  selbst, 
sei  es  bei  Turnspielen,  sei  es  bei  Schulausflügen.  Im  Zusammenarbeiten 
zwischen  dem  Psychologen  und  der  Lehrerschaft,  in  der  oben  erwähnten 
Arbeitsgemeinschaft,  wird  man  dazu  gelangen,  in  die  Beobachtungsanweisung 


Lobsien,  Höh.  Intelligenzprüfung  an  Jugendl.  mit  Hilfe  des  Bindoworttests    j  5 , 

auch  noch  bei  jeder  der  zu  beobachtenden  Eigenschaften  eine  Aufzählung 
der  Beobachtungsgelegenheiten  mitaufzunehmen. 

Ich  will  nicht  leugnen,  daß  dem  Lehrer  eine  behächthche  Mehrarbeit  er- 
wächst, wenn  er  in  der  geforderten  Weise  gründliche  Beobachtungen  über 
seine  Schüler  anstellt  und  sorgfältig  aufzeichnet.  Aber  diese  Mehrarbeit  ist 
nicht  so  bedeutend,  Wie  es  zunächst  scheinen  mag,  wenn  man  die  Aufgabe 
darauf  beschränkt,  nur  das  auffällige  Verhalten  eines  Schülers  in  dieser 
oder  jener  Richtung  zu  beachten,  und  wenn  die  Beobachtungen  nicht  etwa 
nur  auf  die  Zeit  unmittelbar  vor  einer  Entscheidung  beschränkt,  sondern 
über  die  ganze  Schullaufbahn  des  Schülers  ausgedehnt  werden.  Was  daraus 
dennoch  dem  Lehrer  an  Mehrarbeit  erwächst,  muß  er,  wie  mir  scheint,  gern 
in  Kauf  nehmen,  aus  dem  Gefühl  heraus,  daß  er,  wie  keine  andere  Instanz 
berufen  ist,  die  Verantwortung  für  das  künftige  Schicksal  seiner  Schüler  zu 
Obernehmen  und  zu  tragen. 

Der  Psychologe  erblickt  seine  Hauptaufgabe  darin,  den  Lehrer  dazu  instand 
zu  setzen,  und  damit  seine  eigene  aktive  Mitwirkung  mit  der  Zeit  mehr  und 
mehr  überflüssig  zu  machen.  Er  wird  schließlich  nur  noch  in  besonderen 
Fällen  mit  heranzuziehen  sein  und  seine  Tätigkeit  im  übrigen  darauf  be- 
schränlven  können,  das  durch  Beobachtung  und  gegebenenfalls  auch  durch 
Piiifungen  gewonnene  Material  'wissenschaftlich  zu  verarbeiten  und  die  Er- 
gebnisse der  Beobachtungen  und  der  Experimente  mit  der  weiteren  Schul- 
und  Lebensbahn  der  beobachteten  und  geprüften  ^Schüler  zu  vergleichen. 


Höhere  Intelligenzprüfung  an  Jugendlichen 
mit  Hilfe  des  Bindeworttests. 

Von  Marx  Lobsien. 

Die  praktische  Dui'chführung  des  Einheitsschulgedankens  'ward  dem  Prüfungs- 
wesen eine  höhere  Bedeutimg  zuweisen  als  bisher.  Es  kann  keinem  Zweifel 
imteriiegen,  daß  die  wissenschaftHche  Intelligenzprüfung  durch  diese  Tatsache 
vor  verantwortungsvolle  Aufgaben  gestellt  wird:  Als  deren  erste  dürfen  wir 
hinstellen,  das  eindringliche  Bemühen  um  das  Gewinnen  zuver- 
lässiger Prüfungstests.  Tests,  die  sich  bisher  als  wertvoll  erv.iesen 
haben,  müssen  in  neuen  umfänglichen  Untersuchungen  eine  Bewährung, 
eine  sorgsame  Eichung  erfahren,  neue  müssen  ersonnen  und  ei-probt  werden. 
Es  kann  nicht  geleugnet  werden,  daß  wir  inmitten  dieser  Arbeit  von  der 
Verwirklichung  der  neuen  Umgestaltung  überrascht  worden  sind. 

Methode. 

Die  nachfolgenden  Untersuchungen  stellen  sich  in  den  Dienst  der  Eichung 
eines  noch  jungen,aber,  wiemirscheinen>\Tll,außerordentlich  vielversprechenden 
Tests,  des  Bindeworttests.  Er  ist  eine  besondere  Form  des  seitEbbing- 
haus  bekaanten  Ergänzungstests,  stellt  aber  an  den  Prüfling  weit  höhere  An- 
forderungen, weil  er  das  streng  logische  Verhältnis  benachbarter  Gedanken- 
einheiten zu  einander  fordert,  als  dessen  Ausdruck  die  Konjunktionen  dienen. 


158  Marx  Lobsien 


Um  dieser  Schwierigkeit  willen  eignet  sich  der  Test  nicht  für  jüngere 
Schüler,  sondern  erst  für  Prüflinge,  die  zwölf  Jahre  und  darüber  alt  sind, 
Lipmann*)  hat  die  Methode  ersonnen.  Der  von  ihm  entworfene  Text  ist  für 
die  vorliegenden  Untersuchungen  zu  leicht.  Ich  benutze  den  von  Stern  "^j 
mitgeteilten  Minkus-Test;  der  gesamte  Wortlaut  des  ziemlich  langen  Textes 
ist  an  der  genannten  Stelle  nachzulesen;  hier  sei  nur  noch  einmal  der  An- 
fang abgedruckt: 

Der  Freund  aus  der  Unterwelt. 

In  einer  größeren  Stadt  Chinas  lebte  einst  ein  strebsamer  Beamter  namens  Tien.  (1.)  ....  sein 
Gehalt  für  ihn  und  seine  junge  Frau  kaum  ausreichte,  hätte  er  sich  gern  eine  besser  besoldete 
Stellung  erworben.  (2.)  ....  er  hatte  wenig  Hoffnung,  die  hierzu  nötige  Prüfung  zu  bestehen,  (3.) 
....  ihm  nicht  geradezu  ein  Wunder  zu  Hilfe  kam.  Oft  war  er  nahe  daran  zu  verzweifeln,  (4.) 
....  er  sich  alle  erdenkliche  Mühe  gab,  wollte  in  seinem  armen  Kopfe  nichts  haften  bleiben :  stets 
vergaß  er  das  mühsam  Gelernte  (5)  .  .  .  .  überhaupt  wieder  völlig,  ....  er  behielt  es  nur  verworren 
in  seinem  Gedächtnis.  (6.)  ....  glaubten  seine  Freunde,  die  sich  (7.)  ....  für  diese  Prüfung 
vorbereiteten,  er  werde  nichts  erreichen,  und  redeten  oft  lange  auf  ihn  ein,  (8.)  ....  ihn  endlich 
einmal  von  der  Aussichtslosigkeit  seiner  Anstrengungen  ....  überzeugen.  Aber  (9.)  ....  ihn 
seinem  Vorhaben  abspenstig  ....  machen,  spornte  ihn  solche  Reden,  weit  entfernt  ihren  Zweck 
zu  erreichen,  gerade  an.  und  gegen  aller  Erwarten  erreichte  er  trotz  seines  schlechten  Gedächt- 
nisses auch  wirklich  sein  Ziel.  Er  bestand  schließlich  die  Prüfung  (10.)  ....  als  bester  von 
allen  und  mit  großer  Auszeichnung.  Das  ist  eine  wunderliche  Geschichte.  (11.)  ....  ihr  mir 
zuhören  wollt,  erzähle  ich  euch,  wie  es  sich  zugetragen  hat.  Aber  glauben  werdet  ihr  mir  wohl 
kaum,  so  seltsam  klingt  alles.  Und  doch  ist  (12.)  ....  irgend  etwas  übertrieben  ....  hinzu- 
gedichtet.    Usw.  usw.  —  — 

Die  besten  Lückenausfüllungen  lauten:  1.  da,  2.  aber,  3.  wenn,  4.  denn  obgleich,  5.  ent- 
weder —  oder,  6.  daher,  7.  gleichfalls,  8.  um  zu,  9.  anstatt  zu,  10.  sogar,  11.  wenn,  12.  weder 
—  noch,  13.  nachdem,  14.  während,  15.  denn,  16.  obgleich,  17.  so  daß,  18.  nicht  einmal, 
19,  ebensowenig,  20.  ehe,  21.  statt  dessen,  22.  vorher,  23.  währenddessen,  24.  damit,  25.  dann, 
26.  denn  wenn,  27.  nachdem,  28.  wenn,  29.  entweder,  30.  so  daß,  31.  dann  (hierauf),  32.  da 
(weil)  33.  währenddessen,  34.  nur  —  zu,  35.  anstatt  zu,  36.  nicht  einmal,  37.  vorher,  38.  damit, 
39.  weder  noch.  40.  statt  dessen,  41.  sogar,  42.  trotzdem,  43.  denn,  44.  wenn,  45.  ebensowenig 
(auch  nicht),  46.  auch  (ebenfalls),  47.  obgleich,  48.  daher,  49.  während,  50.  ehe. 


Der  Minkus-Test  ist  mit  außerordenthchem  Scharfsinn  aufgebaut  worden. 
Es  kam  darauf  an,  möghchst  alle  Denkbeziehungen,  die  durch  Bindewörter 
vertreten  werden,  in  den  Text  hineinzuarbeiten  und,  damit  der  Zufall  nicht 
entscheide,  die  Denkbeziehungen  wiederholt  und  in  verschiedenen  Satzver- 
bänden zu  bringen.  Trotz  der  Sorgfalt  ist  nicht  vermieden  worden,  daß  die 
Lücken  eine  mehrdeutige  Ausfüllung  zulassen.  Neben  den  genannten  Binde- 
wörtern können  andere  eine  durchaus  gleichwertige  Anwendung  finden.  „Die 
Denkmöglichkeiten  sind  eben  mannigfaltiger  und  lassen  sich  nicht  in  eine 
bestimmte  grammatische  Kategorie  einzwängen."  Damit  ergeben  sich  für  die 
Beurteilung  der  Lückenausfüllungen  manche  Schwierigkeiten,  aber  keineswegs 
so  starke,  daß  man  Melchior  zustimmen  müßte,  wenn  er  urteilt:  „Die  Text- 
ergänzungen vermögen  einwandfreie  Ergebnisse  nicht  zu  bieten."  Man  muß 
sich  nm-  vor  einer  lediglich  grammatischen  Bewertung  hüten.   Man  darf  nicht 

1)  Vergl.  Otto  Lipmann:  Die  Entwicklung  der  grammatisch-logischen  Funktionen;  Zeitschr. 
für  aug.  Psychol.  XH.,  S.  347  ff. 

2)  W.  Stern,  Höhere  Intelligenztests  zur  Pi-üfung  Jugendlicher.  Diese  Zeitschr.  Bd.  19,  (Heft3/4) 
S.  71  ff.  (S.  7  der  Sonderausgabe:  Das  psychol.  päd.  Verfahren  der  Begabtenauslese.  Leipzig  1918). 
—  Über  bisherige  Anwendungen  des  Minkus-Tests  berichten:  O.  Melchior,  Die  Methode  der 
Bindewortergänzung.  A.  a.  0.  S.  103  (Sonderausgabe  S.  39);  W.  Minkus  (f)  und  W,  Stern,  Die 
Bindewortergänzung.     Beiheft  19  zur  Zeitschr.  für  ang.  Psychol.  1910. 


Höhere  Intelligenzprüfung  an  Jugendlichen  mit  Hilfe  des  Bindeworttests   150 

danach  fragen,  ob  die  „am  besten  passenden  fünfzig  Ergänzungen  vollkommen 
treffend  von  den  Prüflingen  angewandt  worden  sind'^,  sondern  muß  sich  mit 
der  Feststellung  begnügen,  ob  das  gewählte  Bindewort,  nicht  sowohl  gram- 
matisch voll  einwandfrei,  wohl  aber  mit  vollkommener  DeutHchkeit  erkennen 
läßt,  daß  die  Denkbeziehung  klar  erfaßt  und  ausgedrückt  ist.  Wir  wollen 
mit  der  Methode  nicht  in  erster  Linie  die  grammatisch  geschulte  sprachliche 
Ausdrucksfähigkeit,  sondern  die  Intelligenz  prüfen,  die  den  logischen  Zu- 
sammenhang der  Gedankenglieder  klar  erfaßt.  Dazu  ist  unbedingt  notwendig, 
daß  der  Versuchsleiter  —  zumal  wo  es  sich  um  Prüflinge  handelt,  die  nicht 
in  geschulter  sprachhcher  Hochkultur  stehen  —  genau  über  die  landläufige 
Ausdrucksweise  und  den  durch  den  Dialekt  gebundenen  Gebrauch  der  Kon- 
junktionen unterrichtet  ist.  Ich  gebe  aus  meinen  Versuchsprotokollen  eine 
kleine  Beispielssammlung,  die  zeigt,  wie  streng  grammatische  Bindungen 
durch  die  Umgangssprache  für  den  Kundigen  so  ersetzt  werden,  daß  sie  von 
der  logischen  Erfassung  des  Zusammenhangs  deutlich  genug  Zeugnis  ablegen : 

grammatisch  volkstümlich  grammatisch  volkstümlich 

nicht  nur schon  bevor ehe 

daher deshalb,  darum  während wie,  als 

währenddessen     .     .     .  währenddem,  nun  ehe vordem,  erst 

da nachdem  gleichfalls auch,  ebenfalls 

anstatt  zu ohne  nicht  einmal     ....  sogar,  schon 

als wie,  nachdem  obgleich wenn  auch 

trotzdem obgleich,  statt  dessen  denn dann 

Unter  Berücksichtigung  der  sprachlichen  Schwierigkeiten  bem-teilen  wir  die 
Ergänzungen  nach  folgenden  drei  Gesichtspunkten:  1.  die  Denkbeziehung 
wird  richtig  erkannt  (Treffer),  2.  sie  wird  falsch  gedeutet  (Fehler),  3.  sie 
wird  nicht  erfaßt  (Auslassung). 

PrüfUnge  waren  86  Schüler  einer  gewerbUchen  Fortbildungsschule,  die 
gelegentlich  einer  umfassenden  Untersuchung  ihrer  physischen  Berufseignung 
auch  auf  ihre  Intelhgenz  geprüft  wurden.  Sie  standen  im  Alter  von  sechzehn 
bis  neunzehn  (achtzehn)  Jahren  und  gehörten  der  Mittel-  und  Oberstufe  an. 

Der  Minkustext  wurde  ihnen  vorgelegt,  und  sie  füllten  nach  ruliiger  Über- 
legung, ohne  an  einen  Zeitraum  gebunden  zu  sein,  die  Lücken  nach  bestem 
Können  aus.     Sie  waren  allesamt  mit  großem  Eifer  bei  der  Sache. 

Ergebnisse. 
1.  Beziehungen  zum  Lebensalter. 

In  der  folgenden  Übersicht  finden  sich  für  ganze  Schulgi*uppen  und  Prozent- 
angaben der  Treffer  und  Fehler  die  Häufigkeit  der  angewandten  Kategorien. 
Die  Auslassungen  ergeben  sich  durch  eine  Subtraktion  der  Summe  der 
Treffer  und  Fehler  von  Hundert.     (Siehe  Tab.  S.  160.) 

Fassen  wir  zunächst  die  untere  Summenreihe  ins  Auge,  die  die  Leistungen 
der  einzelnen  Altersgruppen  ohne  Rücksicht  auf  die  verschiedenen  Arten 
der  Denkbeziehungen  erkennen  läßt,  dann  sehen  wir  mit  zunehmendem 
physischen  Alter  ein  langsames  Steigen  der  Leistungen  und  finden,  daß  die 
Trefferzahlen   der  Siebzehnjährigen  hinter   denen  der  übrigen  zurückstehen. 


160 


Marx  Lobsien 


Kategorie 


16j  ährig         17j  ährig 


18  jährig 


Summe 


adversativ  . 
kausal  .  .  . 
final .... 
komparativ  . 
konsekutiv  . 
konzessiv  .  . 
konditional  . 
disjunktiv 
koordinierend 
temporal   .     . 


26,3 
62,2 
61,8 
19,7 
34,2 
50,5 
67,1 
28,9 
36,8 
60,9 


67,9 
32,2 
26,3 
63,2 
46,1 
34,4 
21,5 
34,2 
44,7 
32,9 


31,5 

62,5 
67,8 
27,9 
41,7 
36,9 
79,3 
19,0 
52-4 
58,1 


54,2 
27,9 
19,6 

57,7 
42,3 
51,2 
15,5 
46,4 
23,8 
34.9 


26,4 
61,1 
67,5 
34,7 
25,0 
33,3 
86,1 
22,2 
36,1 
37,9 


56,9 
27,8 
29,2 
37,5 
54,2 
55,6 
6,9 
41,7 
22,2 
28,5 


28,1 
61,9 
65,7 
28,1 
33,6 
40,2 
77,5 
23,4 
41,8 
52,3 


563 
29,3 
25,0 
52,8 
47,5 
47,1 
14,6 
40,8 
30,2 
32,1 


iSumme 


45,1      39,3 


47,4 


37,4 


42,0   I  36,1    I  44,9  •)'    37.6 


Vernachlässigen  wir  die  Altersunterschiede,  indem  wir  allein  auf  die  Be- 
vorzugung der  zehn  Kategorien  untereinander  achten  und  sie  aufsteigend 
nach  der  Anzahl  der  richtigen  Lösungen,  also  der  Treffer  ordnen,  dann 
ergibt  sich  folgendes  Bild. 


10       20       30       9-0       50      60       70        60      90 


Disjunffh'y 
KomparaHy 

Konsekuh'k' 

Hoordinierend 

Temporal 

Kausal 

Final. 
Kond'iHonal 


-  Treffer 

-  Fehler 

'  Treffer  u.  Fehler 


•)  Die  Differenz   von  0,02   in  den  wagrechten   und   senkrechten  Schlußsummen   erklärt  sich 
.ans  den  üblichen  Erhöhungen. 


Höhere  Intelligenzprüfung  an  Jugendlichen  mit  Hilfe  des  Bindeworttests    \Qi 


Die  Zeichnung  ergibt  folgende  Reihenfolge  in  der  Häufigkeit  und  Schwierig- 
keit der  zehn  Denkbeziehungen:  adversative,  komparative,  disjunktive,  kon- 
sekutive, konzessive,  —  koodinierende,  temporale,  kausale,  finale  und  kon- 
ditionale. Man  beobachtet  deutlich  zwei  Fünfergruppen,  die  durch  einen 
recht  großen  Prozentabstand  voneinander  getrennt  sind,  nur  die  koodinierenden 
Denkbeziehungen  stehen  auf  der  Grenze;  zählt  man  sie  der  ersten  Gruppe 
zu,  dann  ergeben  sich  als  arithmetische  Mittelwerte  dort  35,1,  hier  64,4 
Treffer  auf  je  Hundert. 

Jetzt  fragen  wir,  ob  die  physischen  Altersunterschiede  bemerkenswerte 
Unterschiede  in  der  Bevorzugung  der  Kategorien  erkennen  lassen.  Wir 
fassen  zunächst  die  beiden  Gruppen  ins  Auge. 


Gruppe     j     16  jährig      1     17  jährig 


18  jährig 


1  I         32,6  !         34,9  29,6 

2  i         63.0  I         66,9         !  63,2 

Wir  finden  bestätigt,  daß  auf  allen  Altersstufen  die  Leistungen  in  der 
zweiten  Gruppe  über  die  der  ersten  nahezu  um  das  Doppelte  hinausgehen.  Im 
besonderen  zeigen  sich  die  siebzehnjährigen  Prüflinge  den  beiden  anderen 
Altersstufen  etwas  überlegen. 

Im  einzelnen  erkennen  wir  die  Altersdifferenzen  aus  folgender  Übersicht. 

10        20       30       ^0       50       60      70       80       90      700 

—^     \     \     \     \ — \ — \ — \ — r 


Dispunkt-Jy 
Homparatit' 

Honsekuh> 
i^onzessiw 

/koordinierend 
Temporal 
Kausal 
Final 

Konditional 


-  Ourch^chnittöleistung 

=  16 jährige  Prüflinge 

.  17  :     .      •. 

^  18    '       '       ' 


Wir  erkennen,  wie  im  großen  und  ganzen  auf  allen  Altersstufen  ein  über- 
einstimmender Aufstieg  der  Ordinalen  innegehalten  wird.     Das  hindert  aber 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  1 1 


162    Lobsien,  Höh.  Intelligenzprüfung  an  Jugendl.  mit  Hilfe  des  Bindeworttosts 


nicht,  daß  im  einzelnen  eigentümliche  Abweichungen  hervortreten;  sie  ergeben 
sich  aus  der  Zeichnung  von  selbst  und  bezeugen,  daß  der  physische  Alters- 
fortschritt für  den  Wechsel  nicht  allein  verantwortlich  gemacht  werden  kann. 

2.  Beziehungen  zur  Intelligenz. 

In  der  folgenden  Übersicht  ordne  ich  die  Schüler  erneut,  nun  aber  gieife 
ich  die  gut-  und  die  schlecht  veranlagten  Prüflinge  heraus,  ohne 
Rücksicht  auf  deren  Alter  zu  nehmen. 


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Schüler  begabt    .    . 

57 

85 

85 

35 

68 

57 

78 

65 

80 

73 

68 

Schüler    schwach- 

begabt     .... 

18 

48 

42 

8 

32 

23 

50 

5 

10 

57 

27 

Die  Leistungsunterschiede  sind  ganz  erheblich  größer,  als  wenn  nur  die 
Altersunterschiede  verglichen  werden.  Daraus  ist  zu  schließen,  daß  die 
richtige  Auffassung  der  Denkbeziehungen  zur  Intelligenz  in  weitaus  engerer 
Beziehung  steht  als  zu  den  Altersdifferenzen. 


KomparaHy 

Honzess'ii/ 

Di3Junh/-/y 

Monsekat/y 

Temporal 

Konditional 

Koordinierend 

final 

Kausal 


10 

T" 


20 


30        1-0       50        60       70 


80 


90 


Albert  Huth,  Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache 


163 


Im  einzelnen  stellen  die  Denkbeziehungen  an  die  beiden  Gruppen  sehr 
ungleiche  Anforderungen. 

Übereinstimmend  stoßen  die  komperativen,  adversativen  und  konzessiven 
Denkbeziehungen  beiderseits  auf  große  Schwierigkeiten,  bezeichnenderweise 
aber  sind  es  die  disjunktiven  und  koordinierenden,  die  nur  die  wenigsten 
schwächer  Befähigten  zu  erkennen  vermögen.  Alle  drei  stellen  an  die 
Intelligenz  die  höchsten  Anforderungen. 

Endlich  möge  noch  in  einer  Übersicht  gezeigt  werden,  daß  auf  den  ver- 
schiedenen Altersstufen  die  gut  und  schwach  Begabten  eigentünüiche 
Leistungsschwankungen  zeigen : 


Kategorie 


Gute  Schüler 
16  jähr,   j  17  jähr.   I  18  jähr. 


Schwache  Schülar 
16  jähr,  j  17  jähr.  |  18  jähr. 


adversativ    . 

.     I        40 

[       70        ■ 

60       jl 

15 

15 

25 

kausal  .     .     . 

.     '        85 

80 

90     1; 

45 

45 

55 

final      .     .     , 

.    1!       75 

100 

80 

55 

50 

20 

komparativ  . 

.     ü       25 

40 

40        ' 

10 

5 

10 

konsekutiv  . 

.   r     60 

75  . 

70 

25 

35 

35 

konzessiv     . 

.     '        55 

80 

35 

25 

15 

30 

konditional . 

60 

90 

85 

60 

30 

60 

disjunktiv     . 

70 

45 

80 

10 

5 

0 

koordinierend 

70 

90 

80       . 

10 

10 

10 

temporal  .    . 

90 

85 

45 

35 

40 

35 

Durchschnitt 

63 

75,5     ' 

66,5     i 

28 

25 

28 

Der  Unterschied  der  guten  und  schlechten  Schüler  ist  überall  sehr  bedeutend, 
ist  aber  bei  den  Siebzehnjährigen  besonders  deutlich  ausgeprägt. 

Rückblickend  dürfen  wir  auf  Grund  unserer  Untersuchung  feststehen,  daß 
der  Minkus-Test  ein  vorzügUches  Mittel  zur  Prüfung  der  Leistungsunter- 
schiede ist;  nicht  nur,  daß  er  als  Gesamtleistung  betrachtet,  die  Begabungs- 
unterschiede deutlich  zu  erfassen  vermag  —  er  bietet  auch  in  der  Verteilung 
und  Abstufung  der  verschiedenen  Denkbeziehungen  eine  Handhabe,  feineren 
Tntelhgenzunterschieden  nachzugehen . 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache.  ^) 

Von  Albert  Huth. 

Die  vorhegende  Untersuchung  stellt  sich  zur  Aufgabe,  unsere  wissenschaft- 
liche Kenntnis  der  Nebensätze  in  der  Kindersprache  za  ergänzen  und  einer  um- 
fassenden Untersuchung  übsr  die  Entwicklung  des  Satzbaues  durch  eine  kritische 
Übersicht  über  die  dazu  dienlichen  Methoden  vorzuarbeiten.  Es  handelt  sich 
also  um  die  verschiedenen  Formen  lediglich  des  Nebensatzes;  der  Hauptsatz 
wurde  nicht  behandelt,  weil  wir  über  die  einzelnen  Phasen  seiner  Entwicklung 
relativ  besser  unterrichtet  sind  als  über  den  ,,fiir  die  Psychologie  des  logischen 
Denkens  so  bedeutungsvollen  Nebensatz"  (Aloys  Fischer).    Das    Material 

*)  Die  Arbeit  ist  aus  Besprechungen  in  der  wissenschaftlichen  Arbeitsgemein- 
schaft des  pädagogisch-psychologischen  Instituts  München  unter  der  Leitiuig  von 
Herrn  Professor  Dr.  Aloys  Fischer  hervorgegangen. 

II* 


164 


Albert  Huth 


wurde  geschöpft  aus  dem  Umgang  mit  den  Kindern  des  Versuchskindergartens 
München  mid  zwar  aus  den  Schuljahren  1911/12,  Klasse  II  und  1912/13,  Klasse  III. 
Es  beteiligten  sich  Kinder  von  4^2  bis  6  Jahren  beiderlei  Geschlechts,  verschie- 
denster Begabung  und  aus  allen  Bevölkerungsschichten.  Da  es  sich  um  vorschul- 
pflichtige Kinder  handelt,  kann  nur  die  Sprechsprache  in  Frage  kommen;  hie 
und  da,  wenn  es  die  äußeren  Umstände  erlaubten,  wurden  systematische  Auf- 
zeichnungen gemacht.  So  ist  das  Material  gewonnen  aus  11  Protokollen  von 
provozierten  Lebensgesprächen  —  an  ein  weitgefaßtes  Thema  gebunden 
(z.  B.  eine  Unterhaltung  über  das  Karussell);  8  Protokollen  der  Ergebnisse  von 
Aufforderungen  zu  sprachlichen  Aussagen  (z.  B.  „erzähle  mir  vom  Ok- 
toberfest"); 6  Stenogrammen  von  Nacherzählungen  von  Märchen  und  dem 
Ergebnis  eines  zwecks  eines  anderen  psychologischen  Versuchs  angestellten 
Verhörs  über  einen  Ausflug.  Eigens  zum  Zweck  der  Sprachbeobachtimg  wurden 
keine  Versuche  angestellt,  ebensowenig  wurde  irgendwelches  Material  im  Hin- 
blick auf  üe  Möglichkeit  sprachlicher  Untersuchungen  notiert  —  es  sind  also 
lauter  unabsichtliche  Beobachtungen,  es  ist  tatsächlich  die  lebendige  Sprech- 
sprache des  Kindes.  —  Die  einzelnen  Kinder  wurden  nach  dem  alphabeti- 
schen Verzeichnis  durch  Buchstaben  imterschieden  und  zwar  die  Knaben  durch 
große,  die  Mädchen  durch  kleine  Buchstaben.  Über  die  Begabung  der  Kinder 
und  den  Stand  des  Vaters  gibt  folgende  Tabelle  Aufschluß. 

Tabelle  1. 
Begabung  und  soziales  Milieu  der  Versuchspersonen. 


Kind 

Begabung 

Stand  des  Vaters 

Kind 

Begabung 

Stand  des  Vaters 

A 

mittelmäßig 

Monteur 

d 

mittelmäßig 

Stukkateur 

B 

gut 

Beamter 

e 

sehr  gut 

Fabrikant 

C 

mittelmäßig 

Trambahnschaffn. 

f 

mittelmäßig 

Schreinermeister 

D 

mittelmäßig 

Schauspieler 

g 

gut 

unbekannt 

E 

ausgezeichnet 

Schreiner 

h 

gut 

Kaufmann 

F 

sehr  gut 

Schlosser 

i 

gut 

Maurer 

G 

gut 

Schreiner 

k 

sehr  gut 

Lampenwärter 

H 

gut 

Eisendreher 

1 

sehr  gut 

Kaufmann 

I 

sehr  schlecht 

Friseur 

m 

sehr  gut 

Bankbeamter 

K 

gut 

Redakteur 

n 

mittelmäßig 

Taglöhner 

L 

schlecht 

Tapezierer 

o 

gut 

Trambahnführer 

M 

sehr  schlecht 

Schreiner 

P 

mittelmäßig 

Monteur 

N 

gut 

Polizeisekretär 

q 

gut 

Musiker 

O 

mittelmäßig 

Metzgermeister 

r 

mittelmäßig 

Musiker 

P 

gut 

Privatier 

8 

gut 

Briefträger 

Q 

gut 

Hofoffiziant 

t 

sehr  gut 

Hausmeister 

R 

gut 

Verlagsbuchhänd. 

u 

mittelmäßig 

Lokomotivführei:- 

S 

gut 

städt.  Kassenbote 

v 

schlecht 

Monteur 

T 

sehr  gut 

Gastwirt 

w 

gut 

Taglöhner 

U 

gut 

Prokurist 

X 

schlecht 

Schäftemacher 

V 

sehr  gut 

Lohnkutscher 

y 

sehr  gut 

Kunstmaler 

W 

schlecht 

Milchhändler 

z 

gut 

Schreiner 

X 

sehr  gut 

Sekretär 

a 

sehr  gut 

Maschinist 

Y 

schlecht 

Ingenieur 

ß 

sehr  gut 

Kanalarbeiter 

Z 

mittelmäßig 

Monteur 

sehr  gut 

Milchhändler 

A 

sehr  gut 

Postpackmeister 

S 

gut 

Ingenieur 

a 

sehr  schlecht 

Buchdrucker 

e 

schlecht 

Schreiner 

h  . 

gut 

Küchenchef 

gut 

Maschinenarbeiter 

c 

sehr  gut 

Friseur 

• 

V 

mittelmäßig 

Schriftsteller 

I^e  Nebensätze  in  der  Kindersprache  165 

C.  und  W.  Stern^)  geben  2^4  Jalire  als  das  Alter  an,  bei  dem  ihre  Kinder 
über  die  Stufe  der  ausschließlichen  Parataxe  hinausgekommen  sind;  Andeutun- 
gen von  Nebensätzen  in  mangelhafter  sprachlicher  Fassung  (ohne  Partikel) 
finden  sich  frühestens  im  Alter  vod  1  Jahr  11 1/^  Monaten,  gewöhnlich  erst  im 
3.  Tiebensjahr;  mit  2^  Jahren  sind  Nebensätze  verzeichnet,  deren  Hauptsätze 
unausgesprochen  blieben,  sei  es,  daß  der  Nebensatz  eine  Frage  beantwortet,  sei 
es,  daß  die  Ergänzung  des  Hauptsatzes  dem  Zuhörenden  überlassen  wird.  Die 
frühesten  angegebenen  Beispiele  vollkommener  Nebensätze  stammen  aus  dem 
Anfang  des  4.  Lebensjahres (S.  70).  Ihrer  Art  nach  sind  die  Nebensätze  der  Ster  n- 
schen  Kinder  Subjektsätze,  Objektsätze  (S.  70,  104,  106)  und  Adverbialsätze. 
Von  den  verschiedenen  Adverbialsätzen  sind  vertreten  Temporal-,  Kausal-, 
Konditional-,  Final-  mid  Konsekutivsätze.  Bei  den  ersten  auftretenden  Neben- 
sätzen ,, bleiben  die  charakteristischen  Partikel  zimächst  mehr  oder  weniger  lange 
latent  oder  können  durch  einen  undefinierbaren  Universallaut  (etwa  ä  oder  mm) 
vertreten  werden.  Dabei  ist  für  den  aufmerksamen  Hörer  der  Nebensatzcharak- 
ter dennoch  zweifellos  auf  Grund  der  Betonung,  der  Modulation  und  der  Wort- 
stellung." Die  ersten  Nebensätze  drücken  mehr  äußerliche  Beziehungen  aas,  später 
erst  werden  Nebensätze  zur  Bekundung  innerer  logischer  Beziehungen  verwendet. 
Als  schwierigste  Nebensatzform  bezeichnen  C.  und  W.  Stern  den  irrealen 
Bedingungssatz. 

Mit  der  durch  die  Stern  sehen  Untersuchungen  wohl  noch  nicht  endgültig 
gelösten  Frage,  in  welchem  Lebensalter  das  Kind  zur  Hypotaxe  gelangt,  kann 
ich  mich  nicht  befassen,  da  meine  jüngsten  Versuchspersonen  4^  Jahre  zählten, 
also  ohne  Zweifel  schon  in  das  Nebensatzstadium  eingetreten  waren.  Meine  Unter- 
suchungen erstreckten  sich  vielmehr 

1.  auf  die  verwendeten  Nebensatzpartikel; 

2.  auf  elliptische  Sätze  (ohne  Partikel),  die  aus  irgendwelchen  Gründen 
■(Sprechtempo,  Stimmmodulation,  Zusammenhang  usw.)  den  Verdacht  erregen, 
als  Nebensätze  gemeint  zu  sein; 

3.  auf  die  mit  Nebensatzpartikeln  eingeleiteten  Redeteile  der  Eän- 
dersprache,  auch  wenn  bei  genauerer  Analyse  sich  ergab,  daß  sie  keine  echten 
Nebensätze  waren. 

Angeschlossen  wurden  Untersuchungen  über  die  Beziehimg  zwischen  Neben- 
satzentwicklung und  Geschlecht  einerseits,  zwischen  Nebensatzentwicklung  und 
Begab^ing  andrerseits. 

Um  Mißverständnissen  vorzubeugen,  dürfte  es  sich  empfehlen,  ein  Schema 
der  auf  die  Kindersätze   angewandten  Einteilung  der  untergeordneten 


^)  C.  u.  W.  Stern  bieten  in  ihrer  Monographie  über  die  Kindersprache  (Leipzig 
1907)  die  beste  Zvisammenfassung  der  Beobachtungen  u.  Forschungen  über  die  Sprach- 
entwicklung des  Kindes  bis  zur  Schulreife.  Zu  den  fast  durchweg  musterhaften 
Aufzeichnungen  über  die  Entwicklung  der  eigenen  Kinder  ziehen  sie  mit  kritischer 
Vorsicht  eine  große  Anzahl  von  Veröffentlichungen  anderer  Beobachter  heran  und 
•widmen  den  methodischen  Hilfsmitteln  wie  den  Parallelen  zwischen  der  Sprach- 
entwicklung des  Individuiuns  und  derGattung  volle  Aufmerksamkeit.  Über  die  Neben- 
sätze handeln  die  Seiten  190  f,  ihres  Werkes.  Wie  jede  Arbeit  über  Kindersprache 
ist  auch  die  vorliegende  sich  bewußt,  vielfach  durch  das  Stern  sehe  Werk  gefördert 
worden  zu  sein. 


166  Albert  H«th 


Sätze  zu  geben.    Ich  entnehme  es  aus  dem  „Abriß  der  deutschen  Sprachlehre 
von   Madel,   Dr.   Micheler,   Dr.   Reidelbach,    Dr.   Roth,    Schöttl,   Dr, . 
Stöckel". 

1.  Subjektsätze,  z.  B.  Wer  an  den  Weg  baut,  hat  viele  Meister, 

2.  Objektsätze,  z.  B.  Ich  weiß  nicht,  wohin  ich  mich  wenden  soll. 

3.  Prädikatsätze,  z.  B.  Die  Taten  sind  es,  woran  man  den  Menschen  erkennt. 

4.  Adverbialsätze  und  zwar 

a)  Lokalsätze,  z.  B.  Wo  viel  Freiheit,  ist  viel  Irrtum. 

b)  Temporalsätze,  z.  B.  Wie  er  winkt  mit  dem  Finger,  auf  tut  sich  der 
Zwinger, 

c)  Finalsätze,  z.  B.  Du  sollst  Vater  und  Mutter  ehren,  auf  daß  du  lange 
lebst  und  es  dir  wohl  gehe  auf  Erden. 

d)  Kausalsätze,  z.  B.  Dadurch,    daß  er  sich  zurückzog,    zeigte  er  seine 
Mutlosigkeit. 

e)  Modalsätze,  z.  B,  Er  tat,  als  ob  ich  ihn  beleidigt  hätte. 

f)  Restriktivsätze,  z.  B.  Soweit  ich  ihn  kenne,  ist  er  ein  Edelmann. 

g)  Komparativsätze,  z.  B.  Je  mehr  Feinde,  desto  mehr  Ehre. 

h)  Konsekutivsätze,  z.  B.  Er  ist  so  schwach,  daß  er  das  Bett  nicht  verlassen 

kann, 
i)  Konditionalsätze,    z.  B.  Wohltätig  ist   des    Feuers    Macht,    wenn   sie 

der  Mensch  bezähmt,  bewacht, 
k)  Konzessivsätze,  z.  B.  Ob  auch  die  Wolke  sie  verhülle,  die  Sonne  bleibt 

am  Himmelszelt. 

5.  Attributsätze  und  zwar 

a)  bestimmende,  z.  B.  Hunde,  welche  viel  bellen,  beißen  nicht. 

b)  ergänzende,  z.  B.  Die  Frage,  ob  unser  Werk  gelingen  wird,  macht  mir 
viele  Sorgen. 

Mit  der  Aufstellung  dieses  Nebensatzschemas  soll  aber  durchaus  nicht  gesagt 
sein,  daß  ich  in  meinem  Material  die  angegebenen  Arten  von  Nebensätzen  wieder- 
zufinden hoffe  —  ganz  im  Gegenteil  leiteten  mich  bei  meinen  Untersuchungen 
psychologische  Erwägungen,  und  erst  wenn  seelenkundliche  Einteilungsgründe 
versagten,  traten  grammatikalisch-logische  an  ihre  Stelle. 

Die  Kinder  sprechen  im  großen  und  ganzen  den  etwas  abgeschliffenen  Dialekt 
ihrer  erwachsenen  Umgebung  („Altersmundart"  würde  Berthold  Otto  sagen), 
es  ergibt  sich  daraus  die  Notwendigkeit,  die  Eigenheiten  des  oberbayeri- 
schen Dialekts  in  den  Kreis  unserer  Betrachtungen  zu  ziehen,  weil  es  uns 
sonst  passieren  könnte,  (laß  wir  Erscheinungen  auf  Konto  der  kindlichen  Sprach- 
entwicklung setzen,  die  in  Wirklichkeit  in  der  Mundart  ihreErklärung  finden. 
Ich  habe  darum  das  Büchlein  ,,Die  deutschen  Mundarten"  von  Prof.  Dr.  Hans 
Reis,  sowie  den  zweiten  Abschnitt  des  zweiten  Teiles  des  Lehrbuches  der  deutschen 
Sprache  von  Lippert  daraufhin  durchsucht,  ob  die  Nebensatzbildungthrif-c  derS 
spräche  und  die  der  Münchener  Mundart  Unterschiede  aufweisen,  konnte  aber 
nur  die  Feststellung  der  ohnehin  bekannten  Tatsache  finden,  daß  „wo"  als 
beziehendes  Fürwort  bevorzugt  wird  (,,die  Fiau,  wo  ich  gesehen  habe")  und  daß 
sich  mit  „wo"  noch  hinweisende  Fürwörter  verbinden  können  („der  Mann, 
der  wo  da  war")  (Reis  S.  99).  Eine  für  uns  bedeutungslose  Anmerkung  besagt 
(S.  108)  über  die  Wortstellung  im  Nebensatz^  daß  eine  Wiederholung  der  Füj-~ 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache  167 

Wörter  „mir"  und  „ös"  hinter  dem  Zeitwort  im  Nebensatz  niemals  vorkommt 
(,,mir  geamer  wohimer  wollen"  =  wir  gehen,  wohin  wir  wollen).  —  Eine  Art 
Syntax  des  Münchnerischen,  die  mit  unseren  Ergebnissen  über  die  Synt«x  der 
Kindersprache  verglichen  werden  könnte,  war  nicht  beizubringen;  ich  selbst 
war  nicht  in  der  Lage,  dieseAufgabe  der  Dialektforschung  mit  zu  bearbeiten. 

Bevor  wir  die  Besprechung  unserer  Ur tersuchungen  beginnen,  ist  noch 
eine  klare  Festlegung  des  Begriffes  Nebensatz  notwendig.  Es  handelt 
sich  darum,  was  wir  noch  als  Nebensatz  gelten  lassen  wollen  —  denn  daß  wir 
nicht  den  Maßstab  der  Gramnratik  anlegen  dürfen,  zeigen  schon  die  Sternschen 
Untersuchungen,  die  Sätze  wie  'pa'pa  sieh  mal  —  hilde  macht  hat  oder  eisenbahn 
hüterug  —  hauch  haus  is  (d.  h.  Vater  soll  malen :  eine  Eisenbahn,  einen  Güterzug, 
wo  der  Rauch  raus  kom.mt)  unbedenklich  als  Nebersätze  bucht.  Es  tritt  die  Not- 
wendigkeit an  uns  heran,  ,,die  Psychogenesis  in  erster  Linie  nicht  auf  die 
Worte,  sondern  auf  die  Sätze"  (und  ich  füge  hinzu,  sicher  ganz  im  Sinne  Sterns : 
auch  auf  Tonfall,  auf  Sprechtempo,  auf  den  Zusammenhang)  zu  giünden" 
(Stern,  S.  194). 

Das  allgemeinste  Merkmal  des  Nebensatzes,  die  Unselbständigkeit  des 
in  ihm  ausgedrückten  Gedankens  weist  auf  einen  psychologischen  Prozeß 
zurück;  eben  diesen  Prozeß  müssen  wir  kennen  und  düifen  dann  Phrasen,  sprach- 
liche Zusammenhänge,  die  durch  ihn  getragen  sind,  als  Nebensätze  in  Anspruch 
nehmen.  Die  einfachsten  Beispiele  von  Nebensätzen  (,,W'.-lches  schön  ist", 
,,ab  er  kam",  ,,daß  er  gestraft  werden  soll")  sind  grammatisch  geschlossene, 
vollständige  und  korrekte  Wortfolgen,  die  für  sich  allein  keinen  Sinn 
haben,  mindestens  keinen  klaren  und  eindeutigen  Sinn.  Sie  erweisen  sich  damit 
als  Ausdruck  eines  Teilgedankens  und  werden  ihrem  Simi  nach  erst  dann  klar 
und  eindeutig,  wenn  der  ganze  Gedanke  vorliegt,  dessen  Teil  oder  Fragment 
sie  bilden  (,,Ein  Buch,  welches  schön  ist,  verdient  Schonung";  ,,der  Freim.d 
begrüßte  mich,  als  er  kam";  ,,der  Hund  merkt,  daß  er  gestraft  werden  soll"). 
Wemi  nun  ein  mehrere  Teile  oder  Momente  umfassender  Gedanke  nicht  einfach 
durch  eine  Folge  von  Hauptsätzen  in  einfacher  Aneinanderreihung  oder  durch 
einen  zusammengezogenen  Satz,  sondern  in  einer  Periode,  in  einer  Vcrbindvnig 
von  Haupt-  und  Nebensätzen  zum  Ausdruck  gebracht  wird,  so  ist  dafür  ein 
bestimmtes  Verhalten,  eine  Weitung  der  einzelnen  Gedankenteile  maßgebend. 
Ich  könnte  (unter  Verwendung  von  nur  einem  der  angeführten  Beispiele)  so  den- 
ken: ,,das  Buch  ist  schön",  ,,das  Buch  verdient  Schonung".  In  einer  Gedanken- 
bewegung, wie  sie  durch  die  asyndetische  Reihung  von  Hauptsätzen  zum  Ausdruck 
kommt,  ist  zwar  der  Gegenstand,  über  den  ich  denke,  festgehalten,  als  identisch 
derselbe  dauernd  gemeint,  aber  die  einzelnen  Gedanken,  die  ich  mir  über  diesen 
identischen  Gegenstand  mache,  sind  jeder  für  sich  selbständig,  gegeneinander 
isoliert.  Das  Denken  bewegt  sich  in  immer  neuen  An-  und  Absätzen ;  jetzt  wird 
diese  Seite,  jetzt  eine  andere  des  Gegenstandes  erfaßt;  jede  jeweils  erfaßte  Kom.- 
ponente  wird  als  Aussage,  als  Prädikat  des  identischen  Subjektes  formuliert. 
Alle  diese  Aussagen  stehen  als  Schöpfungen  selbständiger  Denkakte  gleichge- 
ordnet nebeneinander. 

Die  Sachlage  wird  anders,  sobald  das  Denken  auf  die  gegenseitigen  Beziehungen 
der  Merkmale  eines  Gegenstandes  achtet;  von  diesem  Augenblick  an  kann 
manche  Erkenntnis  untergeordnet  werden  einer  anderer  ;  es  kann  demgemäß 


168  Albert  Huth 


auch  die  eine  Aussage  als  nebensäclilicli  im  Verhältnis  zur  anderen,  der  Haupt- 
aussage, behandelt  werden.  So  mag  es  dem  ermahnenden  Lehrer  wesentlich  nur 
auf  die  Erkenntnis  ankommen,  daß  das  Buch  Schonung  verdiene,  er  will  die 
Kinder  nur  zur  Unterlassang  der  Beschmutzupg,  Zerreißung  usw.  bringen.  In 
der  ganzen  Folge  von  Aussagen  über  das  Buch  liegt  für  ihn  (im  gegebenen  Augen- 
blick) der  innere  Nachdruck  auf  dem  Anrecht  des  Buches  auf  Schonung.  Zugleich 
abar  stellten  sich  diejenigen  Erkenntnisse  über  das  Buch  als  Stützen  und  Unter- 
stützungen ein,  die  geeignet  sind,  dieses  Anrecht  zu  motivieren:  ,,Da3  Buch  ver- 
dient Schonung,  weil  es  schön  ist".  Der  Nebensatz  ist  damit  vorhanden. 
In  einem  späteren  Zusammenhang  mag  dieser  Sachverhalt  in  anderer  sprachlicher 
Wendung  ausgeprägt  werden,  etwa  in  relativischer :  ,,Das  Buch,  welches  schön 
ist,,  verdient  Schonung",  oder  meinetwegen  sogar  in  attributivischer  ,,Das 
schöne  Buch  (b3tont,  mit  innerlich  anklingendem  Gegensatz  zum  häßlichen) 
verdient  Schonung".  Auch  in  diesem  Attribut,  genauer :  im  Tonfall  dieses  Attri- 
butes steckt  noch  der  Nebansatz. 

Freilich  müßte  eine  weiterdringende  Analyse  noch  mehrere  Fälle  auseinander- 
halten. Der  NebsDsatz  enthält  immer  einen  vollständigen  Gedanken,  enthält 
ihn  absr  immer  in  einer  für  sich  genommenen  unverständlichen  Form.  Diese 
Tatsache  weist  darauf  hin,  daß  es  lediglich  die  Stelle  in  der  Architektur  eines 
Gesamtgedankens  ist,  die  dem  anderen  Gedanken  die  Sslbständigkeit  raubt. 
So  ist  in  dem  Gesamtgedanken  der  Schonungsbadürftigkeit  des  Buches  ein  anderer 
Gedanke  unselbständig  enthalten :  der  der  Schönheit  des  Buches;  in  dem  Gesamt- 
gedanken der  Bagrüßung  des  Freundes  als  unselbständiges  Moment  der  Zeit- 
punkt und  Anlaß  enthalten.  Wie  man  aus  dem  Unterschied  der  Beispiele  ersieht, 
kann  die  sachliche  Beziehung  der  Momente  ganz  verschieden  sein;  bald  ist  die 
Folge,  bald  der  Grund  untergeordnet,  bald  die  Ursache,  bald  die  Wirkung,  bald 
der  Umstand  der  Zeit  oder  des  Ortes.  Deshalb  ist  die  sachliche  Beziehung  der 
durch  die  Teilgedaaken  erfaßten  Gegenständlichkeiten  die  entferntere  Voraus- 
setzung für  die  Nebensatzbildung.  Diese  selbst  vollzieht  sich  nun,  indem  ein 
möglicher  selbständiger  Gedanke,  der  ein  Moment  des  Sachverhalts  ausdrückt, 
das  in  irgendeiner  Beziehung  zu  dem  mir  gerade  wesentlichen  Momente  steht, 
in  den  Ausdruck  dieses  Momentes  eingeordnet  wird.  Man  bezeichnet  deshalb 
mit  Recht  Nebensätze  als  untergeordnete  Sätze.  Das  Bewußtsein  dieser 
Untergeordnetheit  eines  Gedankens  im  Aufbau  eines  Gesamtge- 
dankens  ist   das    volle    entfaltete    Nebensatzbewußtsein. 

Drücken  wir  das  Gesagte  noch  einmal  anders  aus :  auf  der  einen  Seite  stehen 
die  gedachten  Momente  eines  Sachverhaltes  und  ihre  (bald  mitgedachten,  bald 
nur  vorausgesetzten,  bald  übersehenen)  sachlichen  Beziehungen  zueinander  (z.  B. : 
das  Buch,  seine  Schönheit,  sein  Recht  auf  Schonung,  der  sachliche  Zusammen- 
hang, der  zwischen  Schönheit  und  Anspruch  auf  Schonmig  besteht).  Auf  der 
anderen  Seite  stehe  ich,  steht  der  auffassende,  sprechende,  auf  andere  wkende 
Mensch.  In  rein  erkennender  Geisteshaltung  würde  ich  nach  und  nach  alle  Mo- 
mente eines  Gedankens  erfassen  und  die  Teilstücke  in  ihrer  sachlichen  Ordnung 
nachbilden;  für  meine  praktischen  Zwecksetzungen  ist  mir  aber  von  den  ge- 
dachten Momenten  des  Sachverhaltes  gerade  eines  (jetzt  dieses,  ein  andermal 
ein  anderes)  vordringlich.  Dieses  aus  praktischen  Motiven  vordringliche  Moment 
wird  übergeordnet,  wird  Inhalt  des  Hauptsatzes ;  ein  mit  ihm  sachlich  verknüpftes 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache 


169 


Moment  wird  um  seiner  sacMichen  Bsziehung  willen  in  den  Gesamtgedanken  auf- 
genommen, aber  als  untergeordnetes  Moment,  in  der  Rolle,  eventuell  auch  in  der 
Form  des  Nebensatzes. 

Diesen  Überlegimgen  zufolge  bezsichnen  wir  als  Nebensatz  jedes  sprachlicbe 
Gebilde,  von  dem  angenommen  werden  muß,  daß  es  der  Ausdruck 
eines  Beziehungsbewußtseins  ist  —  gleichgültig,  ob  die  spracMichen  Par- 
tikel vorhanden  sind  oder  ob  sich  die  Annahme  eines  Beziehungsbewußtseins  we- 
sentlich auf  die  Beobachtimg  der  Nebenumstände  stützt,  unter  denen  der  in 
Frage  stehende  Ausdruck  gesprochen  wurde.  In  dieser  Definition  des  Neben- 
satzes ist  über  die  Art  des  Bsziehungsbewußtseins  nichts  enthalten,  wir  müssen 
uns  aber  darüber  klar  sein,  daß  dai  sachliche  und  sprachliche  Beziehungsbewußt- 
sein auseinanderzuhalten  ist  und  daß  über  diesen  beiden  noch  das  eigentliche 
grammatikalische  Bsziehungsbewußtsein  steht,  zu  dem  sich  naturgemäß  Kinder 
im  vorschulpflichtigen  Alter  nicht  aufschwingen  können.  Um  einen  Wort- 
komplex als  Nebensatz  zu  kennzeichnen,  genügt  es  also,  wenn  ein  sachliches 
Beziehungsbewußtsein  in  einer  ,, einheitlichen  Stellungnahme  zu  einem  Bewußt- 
seinsinhalt" (so  definiert  Stern  den  Satz,  a.  a.  0.  S.  164)  vorhanden  ist.  Schon 
eine  höhere  Stufe  der  Sprachentwicklung  ist  erklommen,  wenn  das  Kind  für  das 
sachliche    Beziehungsbewußtsein   einen   sprachlichen    Ausdruck   findet.    —   — 


Tabelle  2. 
Verteilung  der  Nebensatzpartikel  auf  die  einzelnen  Altersstufen. 


A.  Fürwörter 

4 

V,  Jahre 

ö    Jahre 

,   S'/a  Jahre 

6  Jahre 

der,  die,  das 

den 

1, 
1 

48.8%       1 

30,0% 

1        12.5% 

3,*% 

B.  Umstsmdswörter 

j! 

■ 

1 
i 

wo,  won,  die  wo ■)  2,3  % 

da,  dada 2,3  'o 

na,  nacha  (=  hierauf,  nachher)  4,6  ^^ 

dann 7.0  \', 

C.  Bindewörter  { 

aber 4,7% 

als ,,  2,3% 

bal  (=  wenn  oder  sobald  als)  — 

bis i  2,3% 

daß       4,7% 

derweil  (ungefähr      während)    i  4,7% 

ob i  2,3% 

so ;!  

sonst '  — 

weil I  — 

wenn li.'' 'o 

wie 

■yraa       — 


27,0% 
3,0% 
6.0% 


12,5% 


27,4% 

10.7% 

3.4% 

0,7% 


3.0  ?o 

6.0% 
3.0% 

6.0% 


6,0% 
10.0  V 


12.504 
12,5% 
12,5% 

12,5% 
25,0  % 


2,0% 
0,7% 


M% 


07% 
25,4  o/b 

4.7% 

18,8% 

0.7% 


Fragen  wir  uns  nun  zunächst,  welche    Nebensatzpartikel    das    Kind 
überhaupt  anwendet,  so  ergibt  mein  Material,  daß  die  Kinder  die  Fürwörter 


170 


Albert  Huth 


der,  die,  das  und  den,  die  Umstandswörter  wo,  da  und  dann  und  die  Binde- 
wörter weil,  wie,  wenn,  daß,  aber,  ob,  als,  so,  sonst,  bis  und  was  gebrauchen; 
außerdem  die  im  Hochdeutschen  nicht  vorkommenden  Umstandswörter  won  und 
„die  wo"  (statt  wo),  dada,  na  und  nacha  (für  da  und  dann),  sowie  die  ebenfalls 
in  der  Schriftsprache  fehlenden  Bindewörter  derweil  (am  besten  mit  ,, während" 
zu  übersetzen)  und  bal  (=  wenn;  auch:  sobald  als).  — Die  Viereinhalbjährigen 
gebrauchen  mit  Vorliebe  das  Fürwort  der  (die),  öfter  auch  wenn;  bei  den  Fünf- 
jährigen ist  wo  vorherrschend,  auch  die  Fürwörter  der,  die,  das  sind  häufig; 
mit  5^  Jahren  findet  sich  schon  weil;  die  Sechsjährigen  gebrauchen  haupt- 
sächlich wo,  weil  und  wie,  dann  auch  da,  w-enn  und  na.  Über  die  genauere  Ver- 
teilung gibt  Tabelle  2   S.  169  Aufschluß. 

Es  wäre  eine  ungemein  reizvolle  Aufgabe,  die  Häufigkeit  des  Vorkommens 
der  Nebensatzpartikel  in  der  Dialektsprache  der  erwachsenen  Umgebung  der 
Kinder  mit  den  vorstehenden  Zahlen  zu  vergleichen —  leider  war  es  mir  nicht 
möglich,  die  erforderlichen  Unterlagen  aus  der  Mundartforschung  zu  erhalten. 
Ich  muß  mich  darauf  beschränken,  einen  zusamn^enfassenden  Überblick  über  die 
vorkommenden  Partikel  zu  geben  (Tabelle  3). 


Tabelle  3. 
Häufigkeit  der  auftretenden  Partikel. 


der,  die,   das,  den  . 
wo,  won,  die  wo 
da,  dada      .... 
na,  nacha    .... 

dann 

aber 


23,7  % 

17,3% 

3,5% 
1,9% 

1.7% 


als 

bal  .   . 
bis 

daß    . 
derweil 
ob      . 


0,8% 

so 

0,8% 

sonst     .     .     . 

;   0,0  0/^ 

weil   .     .     .     . 

!     6,1  <% 

wenn      .     .     . 

,     5,0% 

wie     .     .     .     . 

1     3,9% 

was    .     .     .     . 

1,50;, 

3,3  % 
12.6% 
6.2% 
7,2  <% 
0.2% 


Nach  meinem  Material  sind  die  Fürw^örter  der,  die,  das,  die  Um^standswörter 
wo,  won  imd  die  wo  und  ferner  das  begründende  Bindewort  weil  die  beliebtesten 
Partikel  der  Kinder. im  Kindergartenalter.  Spätere  Untersuchungen  werden 
erst  entscheiden  können,  wieweit  diese  Verteilung  der  Partikel  der  Schrift- 
sprache oder  der  Mmidart  entspricht  bzw.  was  davon  Eigenart  der  kindlichen 
Sprachentwicklung  bildet. 

Vom  5.  Lebensjahr  abfinden  sich  vereinzelt  elliptische  Sätze  (ohne  Partikel), 
die  den  Verdacht  erregen,  als  Nebensätze  gemeint  zu  sein. — Der 
Schüler  Konrad  zeigt  auf  eine  orangefarbige  Kapuziner  blute  und  sagt:  Die  ist 
gelb.  Sofort  rufen  andere  in  überlegen -entrüstetem  Tone :  Der  Konrad  sagt, 
das  ist  gelb,  gleichsam  als  ob  sie  fortfahren  wollten :  wie  man  nur  so  eine  Dumm- 
heit sagen  kann!  —  Ein  anderer  Schüler  ( Q  —  in  Klammern  ist  jedesmal  der  Buch- 
stabe des  betreffenden  Kindes  angegeben  —  vergleiche  Tabelle  1  — ;  wo  der  Buch- 
stabe fehlt,  ließ  sich  nicht  mehr  feststellen,  welches  Kind  den  Satz  gesprochen 
hatte)  erwidert  auf  m.eine  Frage,  was  sie  damals  auf  dem  Ausfluge  gespielt  hätten : 
Katz  lind  Maus  glaub  ich.  Die  beiden  Sätze  spricht  er  unmittelbar  nacheinander, 
nach  „Maus"  macht  er  keine  Pause.  —  In  beiden  Fällen  haben  wir  es  sicher  mit 
elliptischen  Deklarative  ätzen  zu  tun  (Objektsätze  nach  dem  oben  angegebenen 
Schema),  ins  Schriftdeutsche  übersetzt  sollte  es  heißen:  Der  Konrad  sagt,  daß 
das  gelb  seif  und  Ich  glaube,  daß  wir' Katz  und  Maus  gespielt  haben.  —  Man  sieht 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache  171 


aber  auch,  wie  die  Beurteilung  solcher  Satzgebilde  durchaus  abhängig  ist  von  der 
Art  und  Weise,  wie  die  Kinder  sprechen.  Der  Konrad  sagt:  —  Pause  —  Das  ist 
gelb  wäre  imbedingt  als  Hauptsatz  (direkte  Rede)  aufzufassen,  ebenso  Katz 
und  Maus  —  Pause  —  glauV  ich.  Alles  kommt  hier  auf  die  Sprechmelodie,  auf 
die  Modulation  der  Stimme,  auf  das  Tempo  an,  in  dem  die  Sätze  aufeinander 
folgen.  Das  sieht  man  auch  aus  den  übrigen  Beispielen,  die  sich  aus  meinem  Ma- 
terial ergaben.  Ein  Mädchen  erzählt,  daß  wir  bei  dem  schon  erwähnten  Ausflug 
in  den  Regen  gekommen  waren,  daß  wir  dann  im  Englischen  Garten  einen  Spiel- 
platz mit  Bänken  trafen,  wo  wir  rasteten.  Aber,  fährt  sie  (a)  fort,  mir  (mundart- 
lich =  wir)  sind  nicht  drauf  gesessen,  die  Bänk^  waren  so  naß.  Wieder  war  zwischen 
den  beiden  Sätzen  keinerlei  Pause,  was  mich  zu  der  Annahme  berechtigt,  daß 
die  Bank  waren  zu  naß  als  elliptischer  Kausalsatz  aufzufassen  ist.  Das  Mädchen 
wollte  doch  offenbar  begründen,  warum  sie  sich  nicht  setzte,  das  Kausalbewußt- 
sein ist  vorhanden.  Auf  das  vorhandene  Beziehungsbewußtsein  schließe  ich  aus 
der  Sprechweise  —  folglich  haben  wir  es  wirklich  mit  einem  elliptischen  Kausal- 
satz zu  tun.  —  Einen  verkürzten  Temporalsatz  bildete  ein  Junge  (S),  indem  er 
seine  Erzählung  von  der  Entstehung  des  Backsteines  (wir  waren  in  einer  Ziegelei 
gewesen)  mit  den  Worten  schloß:  NacTia  is  er  fertig  gtven,  hams  ihn  an  Boden 
hingworfen.  Die  ganze  Art  des  Sprechens,  wie  der  Knabe  nach  nacha  eine  ganz 
kleine  Pause  machte,  bei  gwen  mit  der  Stimme  oben  blieb  und  das  hams  gleich 
nach  gwen  brachte,  bürgt  mir  dafür,  daß  es  hätte  heißen  sollen:  Als  er  fertig  war, 
haben  sie  ihn  auf  den  Boden  geworfen.  —  Nicht  so  sicher  bin  ich  mir  bei  einem 
anderen  Knaben  (E),  der  von  der  Drehorgel  eines  Karussels  auf  dem  Oktoberfest 
erzählte :  Da  dreht  allewei  der  Mo  um  und  inne  schpuits,  die  Musi.  Das  Grebilde 
könnte  eine  Satzreihe  sein,  eben  nichts  weiter  als  ein  Stück  aus  einer  in  lauter 
Hauptsätzen  fortlaufenden  Erzählimg:  Auf  dem  Oktober  fest  ist  ein  Karussel.  Vorne 
am  Karussel  steht  eine  Drehorgel.  Da  dreht  der  Mann  immer  um.  Innen  spielt 
die  Musik  . . .  Daß  diese  Erklärung  nicht  zutrifft,  geht  aus  dem  Zusammenhang 
hervor,  in  dem  der  Satz  gebracht  wurde.  Es  war  bei  der  Vorbesprechung  einer 
Nagelarbeit  —  jedes  Kind  sollte  sich  ein  Spielkarussell  zimmern.  Wir  hatten 
festgestellt,  daß  wir  einen  runden  Boden  und  ein  rimdes  Dach  brauchen,  es  war 
auch  schon  gesagt  worden,  daß  in  der  Mitte  so  a  Stange  nei  muß.  Dann  war  ein 
Kind  vom  Thema  abgeschweift,  E  unterbrach  es  mit  den  Worten :  Inne  nei  an 
Stecken  in  der  Mitten  drinn.  Inna  is  a  so  a  groß  Viereckatets  (er  meint  die  Dreh- 
orgel). D(i  dreht  allewei  der  Mo  um  und  inna  schpuits,  die  Musi.  —  Wenn  das 
in  Frage  stehende  Sprachganze  aus  2  Hauptsätzen  bestehen  würde,  wäre  es  zwei- 
fellos ebenso  gebildet  v/orden  wie  die  vorhergehenden  beiden  Hauptsätze.  Die 
Verbindung  durch  und  deutet  in  diesem  Falle  an,  daß  ein  sachliches  Beziehungt- 
bewußtsein  zwischen  der  Tätigkeit  des  Umdrehens  imd  dem  Spielen  der  Musik 
vorhanden  ist.  Dieses  Beziehungsbewußtsein  kami  sein  ein  temporales  (Währefid 
der  Mann  umdreht,  spielt  die  Musik)  oder  ein  kausales  (Die  Musik  spielt,  weil 
der  Mann  umdreht)  oder  endlich  ein  konditionales  (Die  Musik  spielt  innen,  wenn 
der  Mann  umdreht).  Weder  sachliche  noch  sprachliche  Gründe  können  dafür 
vorgebracht  werden,  ob  E  hier  einen  elliptischen  Temporal-,  Kausal-  oder  Kon- 
ditionalsatz gesprochen  hat;  ich  persönlich  neige  zu  der  Ansicht,  daß  es  sich  um 
einen  Konditionalsatz  handelt.  Das  ist  aber  rein  gefühlsmäßig:  wenn  ich  mich 
in  den  Schüler  E  hineindenke,  komme  ich  dazu,  hier  ein  Konditionsverhältnis 


172  Albert  Huth 


anzunehmen.  — Die  elliptischen  Sätze  machen  2,1%  der  überhaupt  vorkommen- 
den nebensatzähnlichen  Gebilde  aus.  Festzuhalten  ist,  daß  sich  vom  5.  Jahr 
-ab  vereinzelt  elliptische  Sätze  finden,  die  als  Nebensätze  aufzufassen  sind.  Sie 
entpuppen  sich  als  Objekt-,  Konditional-,  Kausal-  und  Temporalsätze.  Für  die 
Versuchsanordnung  ist  wichtig,  daß  Sprechmelodie  und  Sprechtempo,  Pausen 
usw.  mitnotiert  we^-den  und  daß  das  Protokoll  den  ganzen  Zusammenhang  er- 
sehen läßt.  — 

Bei  der  Besprechung  der  mit  Nebensatzpartikeln  eingeleiteten  Rede- 
teile der  Kindersprache  betrachten  wir  zunächst  das  gesamte  Material  nach 
Altersstufen  geordnet,  um  dann  daraus  Typen  der  kindlichen  Nebensatzentwick- 
lung abzuleiten.  Von  den  39  nebensatzähnlichen  Gebilden  der  Vi  er  einhalb - 
j  ähri  gen  entpuppen  sich  nicht  weniger  als  29  als  verkappte  Hauptsätze,  bei  einem 
Satz  läßt  sich  kaum  entscheiden,  ob  er  als  Haupt-  oder  Nebensatz  anzusprechen 
ist,  auf  jeden  Fall  ist  er  sprachlich  falsch  gebildet;  9  Nebensätze  sind  auch 
sprachlich  einwandfrei.  Auf  die  Hauptsätze  entfallen  74,4%,  der  sprachlich 
verfehlte  Nebensatz  zählt  mit2,6  %  und  für  die  sprachlich  richtig  gebildeten  Neben- 
sätze bleiben  23,0%.  Betrachten  wir  zimächst  die  Hauptsätze.  Zweimal  findet 
sich  adversative  Koordination:  (Q)  Das  CRnstkindl  hat  mir  a  Geign  bracht,  aber 
die  is  schon  wieder  kaput.  —  (Q)  Ich  hätt  ihn  fangen  wollen  und  dann  ist  er  gleich 
davongelaufen,  aber  nicht  so  fest,  nur  a  bisserl  is  er  davongelaufen.  —  Zwei  Sätze 
sind  mit  derweil  gebildet.  Dieses  merkwürdige  Wort  läßt  sich  nicht  ohne  wei- 
teres durch  einen  hochdeutschen  Ausdruck  wiedergeben,  in  vielen  Fällen  ist  Über- 
setzung mit  statt  dessen  angängig,  manchmal  steht  derweil  für  unterdessen,  häufig 
ist  Umschreibung  mit  ivährend  notwendig.  E  erzählt  vom  Wolf  und  den  sieben 
Oeißlein :  . . .  sie  ham  gmeint,  ihre  Mutter  kommt  rein,  derweil  war^s  der  Wolf 
und  später :  Sie  hat  gschaut,  was  im  Bauch  vom  Wolf  wackelt,  derweil  war^n  eahnene 
(=  ihre)  Kinder  drinna.  Schriftdeutsch:  Sie  haben  gemeint,  ihre  Mutter  käme 
herein,  indessen  war  es  der  Wolf  und:  Sie  hat  geschaut,  was  im  Bauche  des  Wolfes 
wackelt.  (Sie  überlegte  noch  hin  und  her,)  es  waren  aber  ihre  Kinder  drinnen. 
In  beiden  Fällen  ist  eine  Art  adversative  Koordination  herauszufühlen :  im  ersten 
+Satz  wird  die  erwartete  Mutter  dem  erscheinenden  Wolf  gegenübergestellt, 
im  zweiten  ist  das  derweil  war^n  eahnena  Kinder  drinna  gewissermaßen  zum  Zu- 
hörer gesprochen :  die  Mutter  steht  da  und  überlegt,  wir  aber  wissen  bereits, 
daß  da  ihre  Kinder  drinn  stecken.  —  Beim  nächsten  Satz  ist  auch  die  Deutung 
als  Konditionals  atz  möglich:  Da  hat  man  auftreiben  müssen,  na  is^s  rumglaufen{\J.) 
Dem  Sinne  nach  meint  der  Knabe :  wenn  man  so  aufgetrieben  hat,  ist  es  rum- 
gelaufen —  es  handelt  sich  um  ein  Spielzeug  mit  Uhrwerk  —  das  Abhängigkeits- 
verhältnis wird  gefühlt,  kann  aber  noch  nicht  sprachlich  formuliert  werden.  — 
Mädchen  e  erzählt:  Ich  war  bei  meinem  Onkel  und  da  hab  ich  ihm  erzählt  und  vor- 
gesungen und  da  hab  ich  so  gefragt  bis  zwei  Tag,  dann  bin  ich  wieder  fortgereist.  ■ — 
Bis  zivei  Tag  sollte  vielleicht  heißen  zwei  Tage  lang,  vielleicht  aber  ist  es  zu  er- 
gänzen zu:  bis  zwei  Tage  um  waren.  Ic'i  vermag  nicht  zu  entscheiden,  ob  wir 
es  hier  mit  einem  Umstand  der  Zeit  oder  mit  einem  verkürzten  Temporalsatz 
zu  tun  haben.  —  Es  folgt  nun  eine  Anzahl  von  mit  der  eingeleiteten  Sätzen,  die  der 
Form  nach  zwar  Hauptsätze  darstellen,  bei  denen  aber  ein  sachliches  Beziehungs- 
bewußtsein unschwer  zu  erkennen  ist.  Sie  stammen  zum  Teil  aus  einer  Unter- 
haltung über  Fasching,  zum  Teil  aus  einer  Vorbesprechung  des  Hundes.    E: 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprtwjhe  173 

Und  am  Sonntag  da  hob  ich  a  Bäuerin  gesehen,  die  hat  den  Schnaps  austrunken.  — 
E:  Und  an  Bauern  hob  ich  gsehen,  der  hat  die  Maskeradi  recht  naufghaut.  — 
f:  Ich  hob  gestern  Maskeradi  gsehn  und  Mädeln  und  Buben,  die  haben  an  Hut 
ghabt.  —  S :  Da  is  a  Mann  dort  gsessen,  der  hat  Wurst  in  die  Höh'  ghebt.  —  S : 
Und  an  der  Seiten  da  is  einer  gsessen,  der  hat  Wursteln  gessen.  —  S :  Da  hob  ich  an 
Mann  gsehn,  der  hat  brennt.  —  R :  Da  hob  ich  an  bösen  Buben  gesehen,  der  hat  den 
Hund  ins  Ohr  geblasen.  —  e :  Ich  haV  amal  an  Hund  gsehen,  der  hat  eine  Rüsche 
umghabt.  —  X :  Ich  hab  amal  an  Hund  gsehen,  der  hat  eine  Schleife  ghabt.  —  e : 
Ich  hob  amal  an  Hund  gsehen,  der  hat  eine  Zipfelhaubn  auf  ghabt.  —  E:  Da  war 
amal  a  Hund,  der  is  Maskeradi  gelaufen.  —  S:  Es  war  amal  a  Hund,  der  hat  eine 
Larve  ghabt  und  eine  Rüsche.  —  i:  Es  war  ein  Hund,  der  hat  mir  bald  in  die  Nase 
gebissen.  —  a :  Ich  hab  einen  Hund  gsehen,  der  hat  mich  gar  nicht  gebeißt.  —  R : 
Ich  hab  einen  Hund  gesehen,  der  hat  keinen  Schwanz  gehabt.  —  t:  Es  war  amal  a 
Kasperl,  der  hat  eine  Geige  gehabt.  —  s :  Ich  hab  einen  Hund  gesehen,  der  ist  Mas- 
keradi gewesen.  —  y :  Ich  hab  einen  Hund  gesehen,  der  hat  mich  am  Rock  gepackt. 
—  £ :  Ich  hab  einen  Hund  gesehen,  der  hat  mich  gar  nicht  gebissen.  —  e :  Ich  hab- 
einen Hund  gesehen,  der  hat  keinen  Schwanz  gehabt.  —  X:  Ich  hab  mal  einen 
Hund  gesehen,  der  hat  mich  in  die  Hose  gebissen.  —  N :  Ich  hab  einen  Hund  gesehen, 

der  hat  einen  Schnurrbart  gehabt. Den  Satz  des  Mädchens  e :  Da  hab  ich  einen 

Buben  gesehen  als  Bär  habe  ich  zu  den  „nebensatzajtigen  Grebilden"  gerechnet, 
weil  es  mir  wenn  auch  nicht  als  wahrscheinlich,  so  doch  als  nicht  unmöglich 
erscheint,  daß  dem  Kind  auch  hier  wieder  die  Beziehung  bewußt  geworden  ist, 
daß  es  dasselbe  zam  Ausdruck  bringen  wollte,  was  wir  in  der  Schriftsprache  mit 
den  Worten  sagen :  Ich  habe  einen  Buben  gesehen,  der  als  Bär  verkleidet  war.  — 
Treu  unserer  Definition  des  Nebensatzes  als  dem  Ausdruck  eines  Beziehungs-^ 
bewußtseins  mußten  wir  die  eben  betrachteten  29  Sprachgebilde  in  unsere  Unter- 
suchimg  einbeziehen.  Wir  wollen  sie  als  ,, Hauptsätze  mit  Nebensatzcharakter" 
bezeichnen.  Unter  diesem  Namen  verbergen  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  adversa- 
tive  Satzreihen,  unvollkommene  Konditional-  und  Temporalsätze  und  bestim- 
mende Attributsätze  (Bildung  mit  der). 

Der  sprachlich  verfehlte  Nebensf:tz  lautet:  Wenn  da  ein  Kind  ein  übrig 
Brot  oder  ein  Stückel  Apfel  hat,  das  soll's  den  Vögeln  hinwerfen.  Durch  Übertra- 
gung ins  Schriftdeutsche  erhält  man  einen  Konditionalsatz:  Wenn  ein  Kind  . ., 
so  soU  es  das  . . . 

Sprachlich  richtig  gebildet  sind  3  Objektsätze,  1  Lokalsatz  und  5  Kon- 
ditionalsätze. N  erzählt:  Ich  bin  mit  meiner  Mama  zur  Krippen  gangen  und  hab 
geschaut,  ob  das  Christkindel  geboren  worden  ist.  Das  Kind  war  jedenfalls  schon 
früher  einmal  in  der  Kirche,  als  die  Verkündigungsszene  aufgestellt  war;  jetzt 
gebautes,  ob  immer  noch  dasselbe  daist  oder  ob  das  Christkindel  geboren  wor- 
den ist.  —  E  berichtet,  wie  die  Geißenmutter  zum  schlafenden  Wolf  kommt: 
Dann  ham  sie's  gsehen,  daß  er  da  liegt.  —  Gleich  darauf  bildet  E  noch  einen  Ob- 
jektsatz :  Dann  ham  sie's  gsehen,  daß  da  was  wackelt  drinnen  (im  Bauche  des  Wol- 
fes). —  Als  ich  die  Geschichte  von  den  drei  Weisen  aus  dem  Morgenland  er- 
zählte, rief  X  dazwischen:  Wo  das  Christkindel  geboren  wird,  da  muß  auch  ein 
Stern  ein.  —  Die  5  Konditionalsätze  lauten  :  X :  Wenn's  an  Schnee  fressen,  müssen' s 
ersticken  (die  Vögel  nämlich).  —  X:  Wenn  aber  ein  Wind  kommt,  na  treibt  er'a 
weg  (das  vor  das  Fenster  gelgete  Vogelfutter).  —  Die  Vögel  laufen  davon,  wenn 


174  Albert  Huth 


luan  es  ihnen  hinwirft.  —  E :  Dan7i  hat  der  Wolf  gesagt:  Wennst  ^d  mir  keine  gibst, 
dann  fress  ich  dich!  —  E :  Dann  hat  der  Wolf  gsagt:  Wennst  ^d  mir  nix  nauf streichst, 
dann  fress  ich  dich. 

Das  Ergebnis  wäxe  für  die  Viereinhalbjährigen:  Es  findet  sich  häufig 
ein  sachliches  Bsziehungsbewußtsein,  das  absr  noch  nicht  sprachlich  formuliert 
werden  kann.  Daher  sind  drei  Viertel  der  „nebensatzartigen  Gebilde"  der  Vier- 
einhalb] ährigen  als  „Hauptsätze  mit  Nebsnsatzcharakter"  anzusprechen.  Es 
kommen  abar  schon  richtig  gebildete  Objekt-,  Lokal-  und  Konditionalsätze  vor. 
Einer  besonderen  Untersuchung  bedarf  die  früheste  Grenze  des  Auftretens  dieser 
Sätze.  — 

Die  Durcksicht  des  von  fünfjährigen  Kindern  gewonnenen  Materials  ergab 
bai  27  Sätzen  ein  Unterordnungsbewußtsein.  8  davon  sind  Hauptsätze  (29,6%), 
12  sprachlich  verfehlte  Nebensätze  (44,5%)  und  zwar  2  völlig  verfehlte  (7,5%) 
imd  10  mundartlich  richtige  (37,0%),  deren  Satzkonstruktion  sich  zwar  nicht 
in  der  Schriftsprache,  wohl  aber  im  Münchener  Dialekt  findet  —  und  endlich 
7  sprachlich  einwandfreie  Sätze  (25,9%). 

Als  Hauptsätze  mit  Nebensatzcharakter  sind  zu  bezeichnen:  Q:  Na 
is  der  Kasperl  kommen,  der  hat  ihm  dann  wieder  aufgesperrt  (ein  Wachtposten 
war  ins  Schilderhaus  eingesperrt  worden  und  wurde  vom  Kasperl  befreit).  — 
Aus  derselben Kasperli ade :  Q :  Nacha  is  der  andere  kommen  mit  der  grünen  Mützen, 
der  hat  sich  na  ins  Schilderhaus  neigstellt.  —  E :  Und  da  war  a  Mo  draußd,  der  hat 
an  großen  Stecken  ghabt.  —  e:  Ich  hab  amal  a  Pferd  gesehen,  des  is  da  vor.  —  S: 
An  der  Oktoberwiesen  draußd,  da  hab  ich  a  AiUerl  gsehn,  des  is  ganz  hoch  droben 
vorbeig fahren.  Die  ebsn  angeführten  5  Sätze  sind  grammatisch  natürlich  reine 
Parataxe,  psychologisch  dagegen  ,, Nebensätze",  weil  ein  aufkeimendes  Bewußt- 
sein der  verschiedenen  Wichtigkeit  der  zusammengekoppelten  Sätze  unverkennb^- 
ist.  Bei  weiter  vorgeschrittener  Sprachentwicklung  hätten  sich  bestimmende 
Attributsätze  ergeben.  —  E  erzählt  von  einem  Autokarussell  auf  dem  Oktober- 
fest: Na  is  mei  Vada  neigangen,  hat  zahlt  und  derwei  waren  lauter  Auto  drinna. 
Hier  haben  wir  wieder  die  merkwürdige  Bildung  mit  derweil.  Der  Gedanken- 
gang ist  sicher :  Während  wir  uns  Wunder  was  erwarteten,  ivaren  nur  lauter  Autos 
■drinnen.  In  dem  Wörtchen  derwei  steckt  also  hier  ein  unausgesprochener  Tem- 
poralsatz. Nebenbei  sei  auf  die  völlig  richtige  Zusammenziehung  hingewiesen: 
Mei  Vota  is  neigangen,  hat  zahlt  ...  —  Die  nächsten  2  Sätze  enthalten  ein  Kondi- 
tionalverhältnis,  dessen  sprachliche  Formulierimg  denKindem  noch  nicht  möglich 
war.  T:  Na  hat  ma'  so  andrücken  müssen,  na  ham's  allewei  geschwungen.  —  K: 
Na  hat  wa'  so  angedrückt,  na  is  er  gehupft.  —  Die  nebsnsatzartigen  Hauptsätze 
-der  Fünfjährigen  verbergen  also  im  ausgesprochene  Temporal-,  Konditional- 
imd  Attributsätze. 

Völlig  verfehlt  sind  2  Sätze,  die  anläßlich  des  Namensfestes  einer  den  Kin- 
dern bekannten  Lehrerin  entstanden.  Der  erste  lautet  (E):  Ich  gratulier  dir 
(die  Kinder  sprachen  ihre  Erzieher  mit  „du"  an)  zu  deim  Namenstag,  daß  'd  lang 
lebst  und  gsund  bleibst.  Gratulieren  ist  hier  im  Sinne  von  wünschen  gebraucht, 
wir  hätten  also  einen  Objektsatz.  Unwahrscheinlicher,  aber  nicht  ganz  ausge- 
schlossen, ist  die  Deutung  als  Kausalsatz:  Ich  gratuliere  dir,  damit  ...  Es  wäre 
übrigens  auch  möglich,  daß  die  Wendung  dem  Kinde  eingelernt  wurde,  also  gar 
-nicht  auf  sein  Konto  zu  setzen  ist.—  Am  Tage  darauf  erzählte  ein  anderesKind  (u) : 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache  175 


...  na  ham  mir  gesagt,  daß  W  recht  gesund  bleibst.  Der  Hauptsatz:  Ich  (oder  wir) 
wünsclie(n)  dir,  ist  ausgelassen,  so  ergibt  sich  auch  hier  die  Deutung  als  Ob- 
jektsatz. 

Mundartlich  richtig  sind  folgende  10  Sätze:  Q  erinnert  sich  an  seinen  Ge 
burtstag :  So  vielJahr  als  man  is,  so  viele  Liohter  stehen  am  Kuchen  droben.  Ein  reiner 
Komparativsatz  mit  freier  Wortfolge.  —  Auf  die  Frage:  Wann  sitzt  auf  iem 
Pferdkein  Reiter  droben  fentgegaefH.:  BaVs  im  Stall  drinn  san.  Der  Konditional- 
satz ist  richtig  gebildet,  nur  steht  mundartlich  bal  statt  wenn.  —  Die  nächsten 
7  Sätze  sind  Attributsätze  mit  dem  mundartlichen  Pronomen  ico  oder  die  wo. 
F:  Es  gibt  auch  Soldaten,  wo  trommeln.  —  k:  Soldaten  gibCs,  wo  Trompeten  harn 
die  Soldaten  auch.  Eine  interessante  Kontamination.  Die  beiden  dem  Sinne  nach 
gleichen  Sätze:  Soldaten  gibt's,  wo  trompeten  {oder  auch:  wo  Trompeten  ham) 
und:  Trompeten  ham  die  Soldaten  auch  werden  ineinandergeschoben.  —  S:  J?s 
qibt  auch  Soldaten,  die  wo  an  Wagn  ham.  —  "C,:  Es  gibt  solchene  auch,  wo  Kanonen 
ham.  —  t :  Es  gibt  auch  Soldaten,  die  wo  marschieren.  —  ¥:  Es  gibt  auch  Pferde, 
die^o  an  Möbelwagen  ziehen.  —  Wo  san  d'Leut,  wo  aufsteigen  ?  (Wir  hatten  uns 
ein  kleines  Karussell  gefertigt  und  wollten  nun  einige  Puppen  dazu  machen.)  — 
Der  letzte  Satz  ergab  sich  bäi  der  Bssprechung  des  Karussells:  E:  Rund  macha 
und  Heiter  ( =  Pferde)  nei  macha,  wo  die  Buben  hocken  ( =  sitzen).  Ich  halte  ihn 
für  einen  verfehlten  Lokalsatz:  auf  denen  Buben  hocken.  —  Verfehlt  wurden 
also  (wenn  man  die  mundartlichen  Sätze  als  verfehlt  bezeichnen  will)  Objekt-, 
Komparativ-,  Konditional-,  Lokal-  und  Attributsätze. 

Sprachlich  richtig  ist  ein  Lokalsatz:  r:  Wo  der  Strich  ist,  schneid'  icKs  aus. 
Dann  vier  "Temporalsätze :  S :  Wie  mir  ( =  wir)  von  der  Kirchen  heUngangen  sind, 
da  ham  mir  junge  Hasen  g sehen.  —  g:  Da  ham  mir  erzählt  von  der  Frau  Schreyer, 
wie's  klein  war.  — •  U:  Und  da  steht  noch  drobn  (auf  dem  Kalender),  wenn  man 
die  Stiegn  zum  Wischen  hat.  —  E :  Und  wenn  der  Kaminkehrer  kommt,  muß  man 
allewei  wischen.  — •  Endlich  noch  2  Attributsätze:  Z,:  Es  gibt  auch  Soldaten,  die 
an  Wagen  ham.  —  K:  Es  gibt  auch  Soldaten,  die  a  Gwehr  ham. 

Das  Ergebnis  ist  für  die  Fünf  jährigen:  Wieder  ist  ein  Viertel  der  Sätze, 
die  ein  Unterordnun^bewußtsein  erkennen  lassen-,  sprachlich  richtig  gebildet; 
ich  glaube  aber,  daß  man  ohne  Bsdenken  die  mundartlichen  Gebilde  zu  den  rich- 
tigen rechnen  darf,  dann  ergeben  sich  etwa  zwei  Drittel  richtige  Satzgefüge. 
Neben  den  Objekt-,  Lokal-  und  Konditionalsätzen,  die  schon  die  Viereinhalb- 
jährigen bildeten,  treten  auch  Komparativ-,  Attribut-  und  Temporalsätze  auf. 

Von  den  Fünfeinhalbjährigen  erhielt  ich  nur  9  Nebensätze,  darunter  3, 
die  sich  als  Hauptsätze  entpuppen  und  6  sprachlich  richtige  Nebensätze.  Bei 
den  Hauptsätzen  mit  Nebensatzcharakter  findet  sich  eire  Bildung  mit 
derwei:  a;  Dann  hätten'' 8  (oämlich  Hansel  und  Gretel)  davonlaufen  ivolUn,  derweil 
hat's  gesagt:  Hokuspokus.  Durch  Üb3rtragung  ins  Hochdeutsche  sieht  man  auch 
hier,  daß  das  derweil  einen  unausgesprochenen  Temporalsatz  verbirgt.  —  Ein 
Satz  mit  beginnendem  Beziehungsbewußtsein :  Ich  hob'  an  Soldaten  gsehen, 
den  ham's  totgeschossen  (u).  —  Eine  adversativ-koordinierende  Satzreihe:  n: 
Du  bist  unsere  Mutter  nicht,  du  bist  der  Wolf  (aus  dem  Märchen  von  den  sieben 
Geißlein). 

Sprachlich  richtig  gebildet  wurden  Lokal-,  Konditional-,  Objekt-  und 
zum  ersten  Male  auch  Kausalsätze,  n :  Jetzt  schauen  wir  einmal,  wo  er  ist.  —  u : 


176  Albert  Huth 


Geh  mir  ja  nicht  den  falschen  Weg,  sonst  erwischt  dich  der  Wolf!  (aus  Rotkäppchen). 
Dieser  riclitige  Nebensatz  ist  wie  so  mancher  andere  nicht  dem  Kind  als  Ver- 
dienst zuzurechnen.  Die  Wendimg  war  beim  Vorerzählen  des  Märchens  ständig 
gebraucht  worden  imd  wurde  ziemlich  mechanisch  nachgesagt.  Es  ist  noch 
sehr  zweifelhaft,  ob  u  imstande  ist,  selbständig  einen  richtigen  Konditionalsatz 
mit  sonst  zu  bilden.  Spätere  Untersuchungen  müssen  hierin  genau  scheiden.  — 
y :  Nacha  hat  das  Modele  gsagt:  er  soll  nimmer  Branntwein  trinken,  weil  er  wieder 
krank  werden  könnte.  —  n:  Nacha  is  er  (der  Wolf)  in  (=  zum)  Brunnen  gangen, 
weil  er  so  Durst  ghaht  hat.  —  c :  Da  waren' s  wieder  froh,  daß^s  wieder  da  sind.  — 
a:  Nacha  hat  die  Hexe  gsagt,  sie  soll  in  Ofen  neikriechen  und  soll  schauen,  06 V 
Feu£r  nei  kommt.  —  Als  Ergebnis  ist  festzuhalten,  daß  die  Fünfeinhalb- 
jährigen schon  Kausalsätze  bilden. 

Meine  Sechsjährigen  waren  fast  alle  erst  5  Jahre  und  10  oder  11  Monate,. 
nur  einzelne  hatten  schon  das  7.  Lebensjahr  begonnen.  Die  Sätze  wurden  gewon- 
nen als  Antworten  auf  Fragen  über  einen  gemeinsam  unternommenen  Ausflug 
nach  Oberf öhrin  g.  Unter  den  125  Sätzen  befinden  sich  10  Hauptsätze  mit 
Nebensatzcharakter  (8%),  19  sprachlich  verfehlte  Nebensätze  (15,2%)  und  zwar 
3  völlig  verfehlte  (2,4%)  mid  16  mundartlich  richtige  (12,8%).  Die  übrigen  96 
Nebensätze  sind  sprachlich  richtig  gebildet  (76,8%). 

Unter  den  Hauptsätzen  mit  Nebensatzcharakter  fällt  ein  Ausrufe- 
satz auf :  Q :  Wie  der  Singer  Heinz  hat  laufen  können!  Zu  ergänzen  wäre  vielleicht : 
Ich  habe  mich  gewundert  . . .,  oder  Weißt  du  noch. . .  —  Wie  bei  den  vorhergehen- 
den Altersstufen  war  eine  adversative  Koordination  vertreten :  U :  (Die  Ziegelsteine 
waren)  aus  Ton,  aber  nicht  aus  weißem,  aus  braunem.  —  Die  übrigen  8  Haupt- 
sätze zeigen  deutlich  das  erwachende  Beziehungsbewußtsein :  X:  Da  hat  a  Mann 
gerudert,  na  is  '5  Schiff  nuberganqen.  (wäre  bei  gesteigerter  Sprachfertigkeit  ein 
Konditionalsatz  geworden).  —  U:  Da  war  a  Mann  droben,  der  hat  immer  so  an 
Stock  in  der  Hand  ghabt.  —  i :  Nacha  da  ham  mir  so  a  Häuserl  gesehen,  da  sind 
auxih  Schiff erl  rausgstanden  im  Englischen  Garten.  (Gemeint  ist:  ...  ein  Haus, 
bei  welchem  . . . )  —  ö'-  Das  war  der  alte  Großvater,  der  hat  allewei  so  geschrieen.  — 
A :  A  Maus  ham  mir  gsehen,  die  is  in  a  Lochn  neikrabbelt.  —  Z :  Und  das  schöne 
Loch  (habe  ich  gesehen),  da  is  a  Wasser  rausgehffen.  —  a:  Da  war  a  Tafel,  da  is 
Oberf öhring  droben  gestanden.  —  u :  Und  Bäume  waren  da,  da  ham^s  gehtitscht 
(=  geschaukelt).  Mit  Ausnahme  des  letzten  Satzes,  der  ein  Lokalsatz  hätte 
werden  sollen,  handelt  es  sich  stets  um  unentwickelte  bestimmende  Attributsätze. 

Bei  den  sprachlich  verfehlten  Nebensätzen  unterscheiden  wir  wie  bei 
den  Fünfjährigen  zwischen  völlig  verfehlten  und  mundartlich  richtig  ge- 
bildeten. Zu  jenen  gehören  zwei  Lokalsätze  und  ein  Kausalsatz-:  ziWeil  mir  so 
runtergangen  sind,  wie  mir  zuerst  waren.  Muß  ergänzt  werden  zu :  Wir  sind  wieder 
über  die  Isar  herübergekommen,  weil  wir  da  hinuntergegangen  sind,  wo  wir  zuerst 
waren.  —  h :  Wo  mir  uns  untergestellt  ham  zuletzt  und  da  war  a  Pumpn.  Der  Neben- 
satz wird  durch  ein  kopulatives  Bindewort  verbunden  —  sehr  erklärlich,  gebraucht 
ja  das  Kind  sonst  fast  ausschließlich  koordinierende  Konjunktionen.  —  c  erzählt 
von  der  Entstehung  der  Ziegelsteine :  Der  (Hilfsarbeiter)  Ugt^s  immer  auf  den  Boden 
hin,  aber  net  zamm,  sonst  babben's  zamm.  Das  Bindewort  weil  ist  ausgelassen, 
das  Pronomen  dem  Verbum  nachgestellt  —  eine  auch  in  der  Mundart  vorkom- 
mende Form  des  Lifinitivsatzes.  —  Mundartlich   richtig  gebildet  wurden 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache  173 


2  Temporalsätze  iind  14  eigentliclie  Attributsätze  —  alles  mit  wo  eingeleitet. 
Aiif  die  Frage: ,, Warm  haben  wir  Mittagspause  gehalten  ?",  antwortet  ein  Bjind(a) 
Wo  da  a  args  Gvntter  koynmen  is.  Das  unbekannt«  ,,als"  wird  durch  das  ver- 
traute „wo"  ersetzt,  k:  GerieseU,  wo  mir  gspielt  kam.  Vom  Hauptsatz  (Es  hat 
schwach  geregnet)  ist  nur  das  Verb  ausgesprochen  worden,  wo  steht  wieder  für 
als.  —  Von  den  Ziegelarbaitem  erzählt  S:  Da  tun^s  so  an  habhigen  Ding  nei,  wo 
man  hahben  drauf  bleibt,  wenn  man  nei  steigt.  —  r :  (Ein  Mädchen  trug)  ein  Paket, 
wo  die H laschen  (gemeint  ist  eine  Hängematte)  drinn  vmr.  —  s  (Der  Ziegelstein  ist) 
aus  Ton,  wo  man  in  die  Platten  (gemeint  ist  die  Form)  nei  tut.  —  V:  Wir  haben  zu 
Mittag  gegossen  in  an  so  an  Häuserl,  da  wo  Bierfasserl  gicen  san.  —  K :  Wir  haben 
zum  drittenmal  gerastet  in  den  Garten,  wo  die  Bank  sammbrochen  ist.  Kann 
als  Lokalsatz  gewertet  werden.  —  ß:  Ich  haV  solche  Blumen  gesehen,  wo  die 
Blumen,  wo  der  Spescha  Albert  allwei  ghabt  ha.t.  Das  wo  die  Blumen  ist  nur  eine 
Verlegenheitswiederholung,  die  mit  dem  beliebten  wo  eingeleitet  wurde.  — 
ß:  An  Kahn  (habe  ich  gesehen),  wo  mir  gfahren  sind.  —  o:  Und  ein'  Wirt  vor  dem 
Haus  dorten,  won  immer  die  Schifferl  sind.  (Kann  Lokalsatz  sein,  ebenso  der  näch- 
ste): o:  Das  Haus  (habs  ich  gesehen),  wo  die  Schifferl  immer  dort  sind.  —  o:  Und 
Blumen  höh'  ich  gesehen  und  Gras  und  da  won  die  wo  immer  so  gema.cht  haben  in 
dem  hohen  Gras  (=  die  Frösche).  Das  da  won  ist  wieder  Verlegenheitsgestotter. 
n:  So  a  Ding  (habe  ich  gesehen),  wo  die  Frösche  driym  icaren  (=  ein  Sumpf).  — 
z:  Männer  (habe  ich  gesehen),  wo  Steiner  machen.  —  U:  Schiff  ham  mir  gsehen, 
es  waren  aber  not,  wo  mir  drinn  gsessen  ham.  —  u :  Und  da  ham  mir  an  Berg  gsehen, 
wo  Kohlen  sind.  Die  sprachlich  verfehlten  Nebensätze  der  Sechsjährigen  ergeben 
also  für   unsere  Untersuchung  keine  neuen  Gresichtspunkte. 

Von  den  sprachlich  richtigen  Nebensätzen  interessieren  ims  zunächst 
die  Subjektsätze,  weil  sie  die  einzige  neuauftretende  Satzart  bilden.  Q :  Es  war 
recht  schön,  loie  mir  heimgangen  sind  und  Katz  und  Maus  gespielt  haben.  Q:  Die 
erste  Pause  war  au  recht  schön,  wie  mir  die  Frosch  g fangt  haben.  —  Q :  Wie  mir 
heimgangen  sind,  des  war  aa  schön.  —  q:  Wer  brav  gwen  is  und  sich  ruhig  hingstellt 
hat,  der  is  drankommen.  Objektsätze  fanden  sich  2 :  i :  Und  nacha  wegtun,  was  na 
übrig  blieben  is  (nämlich  die  gefüllte  Form  mit  dem  Draht  glätten).  —  y :  Das  weiß 
ich  noch,  tvie  mir  ein  Reh  gesehen  ham.  — •  Die  Adverbialsätze  bringe  ich  in  der 
in  der  Einleitung  festgelegten  Reihenfolge,  also  zuerst  die  Lokalsätze:  a:  Zu  die 
Steiner  sind  mir  auch  hingekommen,  wo  die  Steiner  gemacht  ivorden  sind.  —  u: 
Die  Bank,  wo  eine  Bank  derbrochen  ist  (zu  ergänzen :  da  haben  wir  Pause  ge- 
halten). —  11 :  Wo  die  Straßen  war,  da  war's.  —  ß :  Und  solche  Bäum,  wo  die  Blumen, 
wo  der  Spescha  Albert  alleweil  ghabt  hat.  Der  Satz  ist  mehrfach  verkürzt.  Voll- 
ständig müßte  er  heißen:  Utul  solche  Bäume  habe  ich  gesehen,  wo  die  Blumen  ge- 
wachsen sitid,  welche  der  Spescha  Albert  immer  gehabt  hat.  —  Q:  .4  Bu  hat  ihn 
(den  Backstein)  nahiyigetan,  wo's  aufgestellt  worden  sind.  — C :  Wie's  Schiff  da  nüber- 
gefahren  sind,  wo  mir  waren,  da  sind  mir  eingstiegen.  Der  Gebrauch  der  Plural- 
form des  Hilfszeitwortes  statt  des  Singulars  ist  auf  dieser  Altersstufe  öfters 
zu  finden.  —  S :  Wir  haben  gerastet,  wo  die  Frosch  alleweil  geschrieen  ham.  — Frage : 
Wo  haben  wir  das  drittemal  gerastet  ?  Antwort  des  Knaben  I :  Wo  mir  d'Hutschen 
ghabt  ham,  da?  —  C:  Mir  san  dada  lieimgangen,  da  wo  mir  herüben  waren.  — 
V:  Wir  haben  gerastet,  da  wo  die  Bank  durchbrochen  ist.  —  s:  Wir  haben  da  ge- 
rastet, wo  mir  die  Frosch  gesehen  ham. — s:  Bei  da  drüben  (haben  wir  gerastet), 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  12 


174  Albert  Huth 


wo  ma  heim  Schiff  übergefahren  und.  —  Frage :  Was  ist  da  passiert,  wo  wir  das 
drittemal  gerastet  haben  ?  Antwort  des  Mädchens  i :  Da  wo  die  Bank  waren  ?  — 
i:  Wir  haben  gerastet,  da  wo  lauter  Bäum  waren.  —  x:  Wir  haben  gerastet,  wo 
mir  hutschen  derfa  ham.  —  o :  Wir  haben  gerastet,  da  wo  die  Fischerl  so  geschnappt 
haben.  —  a :  Wir  haben  da  gerastet,  da  wo  die  Hängematte  gemacht  worden  ist  und 
wo  die  Bank  waren.  —  h:  Wir  haben  da  gerastet,  wo  mir  die  Schaukel  angemacht 
haben.  —  h :  Wir  haben  da  gerastet,  y,  o  wir  das  Wasser  geholt  haben.  —  u :  Wi?  haben 
da  gerastet,  wo  mir  gessen  ham.  —  s :  Wir  haben  da  gerastet,  wo  das  Wasser  war 
und  da  war  a  Bruckn.  —  R:  Wir  sind  über  die  Isar  hinübergekommen,  wo  mir 
mit  dem  Schiff,  wie  mei  Mama  dabei  war  und  die  Kinder  alle  (übergefahren  sind). 
—  Es  folgen  25  Temporalsätze :  U :  Und  dann,  wenn  mir  dort  waren,  ham  mir  a 
hissel  Katz  und  Maus  gspielt.  —  U:  Nacha,  wenn's  aufghört  hat  (zu  regnen),  sind 
mir  heimgangen.  —  y:  Wir  sind  über  die  Isar  hinübergekommen,  wo  mir  mit 
dem  Schiff,  ivie  mei  Mama  dabei  war  und  die  Kinder  alle  (übergefahren  sind). 
Dieser,  eine  Parataxe  in  der  Unter ordnimg  enthaltende  Satz,  mußte  natürlich 
doppelt  gezählt  werden,  als  Lokal-  wie  als  Temporalsj^tz.  Wir  kommen  auf  diese 
Gebilde  später  ausführlicher  zurück.  —  v :  Wie^s  regna  wieder  aufghört  hat,  nacha 
^an  ma  wieder  weiter  gangen.  —  Q :  Es  war,  wie  mir  so  viele  Flugapparate  gesehen 
ham.  —  Q:  Es  war,  ivie  mir  im  Wald  Pause  gehalten  ham.  —  y:  Mü^m  Schiff 
(sind  wir  über  die  Isar  hinüber gkommen ),  und  wie  mei  Mama  kommen  is,  und 
wie  da  Kinder  dabei  gwesen  sind,  zerscht  die  Abteilung  und  dann  die  andere  (mit 
der  Fähre  mußten  wir  nämlich  zweimal  übersetzen).  —  C:  Wie^s Schiff  da^niiber- 
g fahren  sind,  wo  mir  waren,  da  sind  mir  eingestiegen.  Der  Satz  ist  schon  unter 
den  Lokalsätzen  aufgeführt.  —  Wir  haben  gerastet,  ( Q)  wie  die  Bank  umgfallen 
ist.  —  I:  Wie  mir  heitngangen  sind,  ham  mir  nix  mehr  gessen.  —  y:  Das  war, 
wie  ich  da  das  Reh  gesehen  hob  noch.  —  y:  Das  war,  wie  mir  da  weit  naus  gangen 
sind.  —  y:  Zum  Unterstellen  (sind  wir  gegangen),  wenns  so  regnet.  Kann,  auch 
als  Kausalsatz  aufgefaßt  werden.  —  V:  Das  war,  wie  das  Gewitter  kommen  is.  — 
Y:  Katz  und  Maus  (haben  wir  gespielt),  wie  mei  Mama  dabei  war.  —  Y:  Wie 
mir  bei  der  Stadt  raus  sind,  da  ham  mir  gar  keine  Häuser  mehr  gesehen.  —  c :  Wie 
mir  „faules  Ei''  hätten  spielen  wollen,  hat's  hageln  ang fangt.  ■ —  a:  Wie  mir  gangen 
sind,  da  hätten  wir  noch  (spielen)  wollen,  derweil  sind  wir  schon  gangen.  —  e: 
Wir  hab?n  gerastet,  wie  mir  über  der  Isar  drüben  waren.  —  e:  Wie'st  (=  wie  du) 
da  vor  gangen  bist,  nacha  is  mei  Midter  neigangen  in  den  Garten.  —  k :  Dann  werden' s 
ganz  rot,  wenn's  trocken  sind  (die  Ziegelsteine).  —  a:  Wie  mir  in  Oberföhring  waren, 
da.  ham  mir  gessen  und  a  bissei  was  trunken.  —  n :  Wie's  so  geregnt  hat,  da  ham  mir 
uns  untergestellt,  da  ham  mir  Mittag  gessen.  —  F:  Und  dann,  wie  mir  drüben 
waren,  san  die  andern  wieder  rüber  kemma.  —  Auf  die  Frage:  Warum  sind  wir 
in  das  Wirtshaus  neigegangen  ?"  erhielt  ich  29mal  die  Antwort:  WeiVs  geregnet 
Jiai^  —  weil's  so  arg  geregnet  hat,  —  weiVs  blitzt  hat  und  weiVs  donnert  hat.  Solche 
Kaasalsätze  notierte  ich  von  den  Kn.aben  E,  I,  K,  0,  S,  U,  Z,  ^;  von  den  Mäd- 
chen c,  h,  i,  k,  m,  o,  p,  q,  r,  t,  v,  x,  y,  z,  a,  ß,  S,  e,  C  Die  übrigen  Kausalsätze 
seien  wörtlich  wiedergegeben:  K:  Man  tut  ihn  (den  Ziegelstein)  hinlegen,  daß 
er  trocken  wird.  —  C:  Da  ham  mir  aa  wieder  gessen,  weiVs  so  donnert  hat  und  weiVs 
geregnet  hat.  —  d:  Wir  sind  in  das  Wirtshaus,  weil  so  a  Wetter  war.  —  B:  In  dem 
WirtsJiaus  (haben  wir  zu  Mittag  gegessen),  weiVs  so  arg  geregnet  hat.  —  e:  Wir 
sind  in  das  Wirtshaus  gegangen,  weiVs  so  geregnet  hat  und  so  a  Gewitter  war.  — "C,: 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache 


175 


Wir  sind  über  die  Isar  wieder  her  übergegangen,  weil  a  Brücken  toar.  —  u :  Wir 
haben  uns  hingesetzt,  daß  mir  Brot  gessen  Tiam.  —  s:  Wir  sind  über  die  Isar 
herübergekommen,  weil  wir  mit  dem  Schiff  gefahren  sind.  —  s:  Wir  sind  über 
die  Isar  herübergekommen,  weil  wir  so  wieder  runtergangen  sind,  wie  mir  zerst 
waren.  —  Der  Reigen  der  in  meinen  Material  vorhandenen  Nebensätze  wird 
beschlossen  durch  drei  Konditionalsätze  und  einen  Komparativsatz:  A:  Da  war 
so  a  Schlauch  und  wenn  der  neigfallen  is,  na  hat  ma  mWm  Schlauch  raufzogen. 
Gemeint  ist  das  Ruder,  das  der  Fährmann  ins  Wasser  fallen  ließ,  um  es  langsam 
herüberzadrücken.  Wie  das  Kind  dazu  kommt,  das  Ruder  als  Schlauch  anzu- 
sprechen, ist  mir  unerklärlich.  K:  Wenn  viel  T&n  da  ist,  dann  tut  man  an  alten 
Ton  nei\  —  S:  Da  tun's  so  an  habbigen  Ding  nei,  wo  man  babhen  drauf  bleibt,  wenn 
man  neisteigt.  —  o :  Aus  Ton  (werden  die  Ziegelsteine  gemacht),  als  wie  unser  Ton 
ist,  aber  der  ist  anders. 

Tabelle  4.     Typen  der  aufgetretenen  Nebensätze. 


I.  Hauptsätze  mit  Nebensatzcharakter 


1.  Adversative  Koordination 

2.  Bildung  mit  „derweil" 

2.  Unentwickelter  Objektaatz 

4.  Unentwickelter  LokalsatS 

5.  Unentwickelt.  Temporalsatz 

6.  Unentwick.  Konditionalsatz 

7.  Unentwickelter  Attributsatz 


„. . .  a  Geign,  aber  die  is  seho  wieder  kaput". 

„derweil  war's  der  Wolf". 

„wie  der  Singer  Heinz  hat  laufen  können". 

„Bäiune  waren  da,  da  ham's  gehutscht". 

„ich  hab'  so  gefragt  bis  zwei  Tag". 

„Da  hat  ma  auftreiben  müssen,  na  is's  rumglauf  en". 

„Ich  hab'anHund  gsehn,der  hat  eineSchleife  ghabt". 


IL  Sprachheh  verfehlte  Nebensätze 


a.  Völlig  verfehlt 


1.  Objektsatz 

2.  Lokalsatz 

3.  Kausalsatz 

4.  Konditionalsatz 


Wir  wünschen,  „daß  "d  recht  gsund  bleibst", 
„wir  sind  so  runtergangen,wie(=wo)  wir  zerst  waren", 
„er  legt's  net  zamm,  sonst  babbens  zamm". 
„Wenn  ein  Kind   ein  Stück  Brot  hat,  das  soll's 
den  Vögeln  hinwerfen". 


b. 

Mundartlich  richtig 

1. 

Lokalsatz 

,4n  dem  Garten,  wo  die  Bank  zammbrochen  is". 

2. 

Temporalsatz 

Wann  haben  wir  gerastet?  „Wo  a  Gwitter 
kommen  is". 

3. 

Komparativsatz 

„So  viele  Jahr  als  man  ist,  so  \-iele  Lichter 
stehen  am  Kuchen  droben". 

4. 

Konditionalsatz 

Auf  dem  Pferd  sitzt  kein  Reiter,  „bal'sim  Stall  san". 

5. 

Attributsatz 

,^E8  gibt  auch  Soldaten,  wo  trommeln". 

III.  Sprachlich  richtige  Nebensätze 


1.  Subjektsatz 

2.  Objektsatz 

3.  Lokalsatz 

4.  Temporalsatz 

5.  Kausalsatz 

6.  Kompfu-ativsatz 

7.  Konditionalsatz 
SS.  Attributsatz 


„Wie  mir  heimgangen  sind,  des  war  schön". 

,J!)a  waren's  froh,  daß's  wieder  da  sind". 

„Wo  das  Christkindel  geboren  wird,  da  muß  ein 

Stern  sein"". 
Das  war,  „wie  das  Gewitter  kommen  is". 
„Er  ist   zum  Brunnen   gangen,  weil  er  so  Durst 

ghabt  hat". 
Die  Ziegel  werden  „aus  Ton  gemacht,    als   wie 

unser  Ton  ist". 
„Wenn  ein  Wind  kommt,  na  treibt  er's  weg". 
„Es  gibt  auch  Soldaten,  die  a  Gwehr  ham". 

12* 


176  Albert  Huth 


Das  Ergebnis  ist  für  die  Sechs jäkrigeD :  Dyei  Viertel  der  neb3n3atzähnliclien 
Gebilde  sind  spracWich  richtig  gebildet  (mit  Einschluß  der  nur  mundartlich 
richtigen  Nebensätze  sogar  sieben  Achtel).  Als  neue  Satzart  treten  Subjektsätze 
auf,  die  Kausalsätze  werden  häufiger  verwendet. 

Nachdem  wir  nun  das  gesamte  Material  an  unserem  Auge  haben  vorübsr- 
ziehen  lassen,  wollen  wir  die  vorgekommenen  Typen  der  kindlichen  Nebensatz- 
entwicklung herausstellen.  Der  Übersichtlichkeit  halber  geschehe  dies  in  Form 
einer  Tabelle.    (Siehe  Tab.  4  S.  175.)     Je  ein  Beispiel  ist  hinzugefügt. 

Ein  Vergleich  dieser  Typen  mit  den  Stern  sehen  Nebensätzen  ergibt  das  Fehlen 
der  Final-  und  Konsekutivsätze,  da?  aber  durch  einen  Blick  in  Tabelle  1  einiger- 
maßen erklärt  wird:  meine  Schüler  waren  zum  weitaus  größten  Teil  aus  Kreisen, 
in  denen  Final-  und  Konsekutivsätze  wohl  nur  selten  gebraucht  werden .  Immerhin 
bleibt  es  verwunderlich,  daß  hier  die  Stern  sehen  Ergebnisse  von  meinen  ab- 
weichen. Den  Umstand,  daß  meine  Schüler  Lokal-,  Komparativ-  und  Attribut- 
sätze bilden,  die  bei  Stern  nicht  erwähnt  sind,  führe  ich  auf  Unvollkommen- 
heiten  der  Sternschen  Aufzeichnungen  zurück. 

Das  oben  gebrachte  Nebensatzschema  enthält  eine  Reihe  von  Satzarten, 
die  sich  in  meinem  Material  nicht  fanden.  Es  sind  dies  die  Prädikatsätze,  Final-, 
Modal-,  Restriktiv-,  Konsekutiv-  und  Konzessivsätze,  dann  noch  die  ergänzen- 
den Attributsätze,  Genauere  Untersuchungen  müssen  entscheiden,  ob  hier 
lediglich  mein  Material  Lücken  aufweist  oder  ob  diese  Satzarten  auf  dieser  Alters- 
stufe im  allgemeinen  tatsächlich  nicht  gebraucht  werden. 

"Wir  sind  heute  noch  weit  davon  entfernt,  eine  Art  Entwicklungsgeschichte 
des  kindlichen  Nebensatzes  schreiben  zu  können.  Auch  meine  Untersuchungen 
bieten  nur  wenige  unvollkommene  Anhaltspunkte  dazu.  Das  einzige  vorläufig 
Erreichbare  ist  die  Festlegung  einiger  Hauptstufen  der  Sprachentwicklung. 
Nach  A.  Fischer  sind  es  folgende:  Zunächst  stellt  das  Kind  einfach  eine  Reihe 
von  Hauptsätzen  un verbunden  oder  durch  und,  na,  nacha,  dann  verbunden  neben- 
einander. Die  zweite  Stufe  ändert  nichts  am  äußeren  Bau,  aber  das  sachliche 
Beziehmigsbe wußtsein  ist  vorhanden.  Zwei  Momente  werden  simultan  repro- 
duziert, können  aber  nicht  gleichzeitig  gesprochen  werden,  darum  wird  erst  i5ie 
Ursache,  dann  die  Wirkung  genannt  [Da  hat  ma  auftreiben  müssen,  na  is^s  rum- 
glaujen).  Die  Stellungsverhältnisse  der  Sätze  können  also  eine  Bedeutung  für  den 
sprachlichen  Ausdruck  von  Nebensatz  Verhältnissen  haben.  Auf  der  dritten 
Stufe  werden  schon  Nebensatzpartikel  verwendet,  es  unterlaufen  aber  noch 
sprachliche  Ungeschicklichkeiten  aller  Art.  Die  letzte  Stufe  bildet  darm  der  sprach- 
lich richtige  Nebensatz,  wie  er  in  der  erwachsenen  Umgebimg  üblich  ist.  —  Es 
ist  anzunehmen,  daß  jedes  einzelne  Kind  diese  4  Stufen  durchläuft  —  darüber, 
wie  lange  es  auf  den  einzelnen  Stufen  verweilt,  in  welchem  Lebansalter  es  durch- 
schnittlich in  die  einzelnen  Stufen  eintritt,  können  heute  noch  keine  Angaben 
gemacht  werden.  E%ist  aber  auffällig,  daß  mein  gesamtes  Material  von  12  Kin- 
dern keinen  einzigen  Nebensatz  aufweist.  Diese  12  Kinder  haben  doch  genau  so 
an  unseren  Unterhaitangen  und  Besprechungen,  am  Verhör  usw.  teilgenommen 
wie  die  anderen  46  — ■  und  doch  wurde  von  ihnen  kein  Nebensatz  notiert.  Da 
läßt  sich  —  trotz  aller  Beschränktheit  meines  Materials  —  die  Vermutimg  doch 
nicht  ganz  von  der  Hand  weisen,  daß  unter  diesen  12  Kindern  einzelne  sind,  die 
überhaupt  das  Nebensatzstadium  noch  nicht  erreicht  haben,  sondern  noch  auf 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache 


177 


der  ersten  Stufe  (aneinandergereihte  Hauptsätze)  stehen.  Auf  der  anderen 
Seite  habe  ich  ebenfalls  von  12  Kindern  überhaupt  nur  sprachlich  einwandfreie 
Nebensätze  erhalten;  es  ist  anzunehmen,  daß  diese  Kinder  vor  Beginn  meiner 
Untersuchungen  schon  die  vierte  Stufe  erreicht  hatten.  —  Man  sieht,  hier  ist 
noch  ein  weites  Feld  für  genauere  Untersuchungen,  denn  bei  aller  individuellen 
Verschiedenheit  muß  es  doch  möglich  sein,  eine  Anzahl  von  Typen  herauszu- 
kristallisieren.  Die  Frage  wird  noch  komplizierter  durch  die  Einbeziehung  der 


Tabelle  5. 

Verteilung  der  Xebensatztypen  auf  die  Altersstufen. 


I.  Hauptsätze  mit  Nebensatz- 
charak  ter 


4*/.,  Jahre!  5  Jahre 


S'/a  Jahrel  6  Jahre 


1.  Adversative  Koordination 

2.  Bildung  mit  „derweil"  .     .     . 

3.  Unentwickelter  Objektsatz  . 

4.  Unentwickelter  Lokalsatz 

5.  Unentwickelter  Temporalsatz 

6.  Unentwickelter  Konditionalsatz 

7.  Unentwickelter  Attributsatz 


5.1  "o 
5.1  % 


2.6  ^o 

2.6  ^o 

58,9  \, 


Q  7  o 


7.4% 
18,5% 


11.1% 
11.1% 


11,1°;, 


03% 

03% 

0.8% 
4.8% 


IL  Sprachlich  verfehlte  Nebensätze 


a.  Völlig  verfehlt 


1.  Objektsatz      .    . 

2.  Lokalsatz  .     .     . 

3.  Kausalsatz     .     . 

4.  Konditionalsatz 


7.5% 

—         I 


2.6  '\ 


1.6% 
0,8% 


b.  Mundartlich  richtig 


1.  Lokalsatz   .     .     . 

2.  Temporalsatz 

3.  Komparativsatz 

4.  Konditionalsatz 
6.  Attributsatz  .     . 


3J% 

3.7% 

3,7  % 

25,9  % 


13% 

11.2% 


IIL  Sprachlich   richtige  Nebensätze 


1.  Subjektsatz    .     . 

2.  Objektsatz     .     . 

3.  Lokalsatz   .     .     . 

4.  Temporalsatz 

6.  Kausalsatz     .     . 

6.  Komparativsatz 

7.  Konditionalsatz 
8.  Attrbutsatz  .     . 


7,7% 
•23% 


3.7% 
H3% 


123%  - 


740/ 


-         !  3,2% 

22,3%     1  13% 

11,1«%     i  18,4% 

'  20.0% 


22,2% 
11.1% 


30,4% 
03% 
2A% 


verschiedenen  Nebensatzarten.  Auf  der  2.  und  3.  Stufe  wird  man  stets  fragen 
müssen,  was  bei  vorgeschrittenerer  Sprachentwicklung  aus  dem  Ausdruck  ge- 
worden wäre;  es  muß  möglich  sein,  auf  Grund  ausgedehnter  Untersuchungen 
innerhalb  jeder  Entwicklungsstufe  eine  Reihe  festzulegen ,  nach  der  im  fiJl- 
gemeinen  die  einzelnen  Nebensatzarten  auftreten.  Nach  meinen  unvollkomme- 
nen Untersuchungen  kommen  bei  den  Viereinhalbjährigen  Objekt-,  Lokal-  und 
Konditionalsätze  vor;  die  Fünfjährigen  bilden  außerdem  Komparativ-,  Attribut- 
und  Temporalsätze;  bei  den  Fünfeinhalbjährigen  findet  sich  zum  ersten  Male 


178 


Albert  Huth 


der  Kausalsatz.  Die  Sechsjährigen,  von  denen  schon  über  drei  Viertel  die  4.  Stufe 
der  Sprachentwicklung  erreicht  zu  haben  scheinen,  ergänzen  die  Liste  der  kind- 
lichen Nebsnsatzarten  durch  den  Subjektsatz.  Bei  ihnen  finden  sich  auch  schon 
Nebensätze  2.  Grades  oder  wenigstens  dreiteilige  Satzgefüge.  Ich  wiederhole 
die  in  Betracht  kommenden  5  Sätze:  Y:  (Wir  sind  übsrgefahren),  wo  mir  mit 
dem  Schiff,  wie  mei  Mama  dabei  war  und  die  Kinder  alle.  Parataxe  in  der  Unter- 
ordnung: Lokal-  und  Temporalsatz.  —  ß:  Und  solche  iBäume  (habe  ich  gesehen), 
wo  die  Blumen  (waren),  wo  der  Spescha  Albert  alleweil  ghabt  hat.  Ein  Lokalsatz, 
von  dem  ein  Relativsatz  abhängig  ist.  —  C :  Wie's  Schiff  da  nüber  g fahren  sind, 
wo  mir  waren,  da  sind  mir  eingstiegen.  Temporalsatz,  dem  ein  Lokalsatz  unter- 
geordnet ist.  —  S:  Da  tun^s  so  an  babbigen  Ding  nei,  wo  man  babben  drauf  bleibt, 
wenn  man  neisteigt.  Attributsatz  mit  abhängigem  Konditionalsatz.  —  s:  (Wir 
sind  über  die  Isar  herübergekommen),  weil  mir  so  runtergangen  sind,  wie  mir 
zuerst  waren.  Kausalsatz,  dem  ein  Lokalsatz  untergeordnet  ist.  — 

Einen  Überblick  über  das  Gesagte  gibt  Tab.  5  S.  177. 

Die  drei  Hauptgruppen  der  Nebensatztypen  sind  zusammengefaßt  in 


Tabelle  6. 
Verteilung  der  Nebensatztypgruppen  auf  die  Altersstufen. 


Typ 


4V  2 Jahre 


5  Jahre 


S'/z  Jahre 


6  Jahre 


I.  Hauptsätze  mit  Nebensatzcharakter 
n.  Sprachlich  verfehlte  Nebensätze  .     . 

a.  völlig  verfehlt 

b.  mundartlich  richtig  .... 
m.  Sprachlich  richtige  Nebensätze     .     . 


74,3  % 
2fi  0/ 

2ß  o/ 
»"  /o 

23,1  % 


29,6  % 
44,5  % 
7,5% 
37,0  o/„ 
25,9  % 


33,3  % 


66,7  % 


8,0  % 
15,2  % 

2,4% 
12,8  % 
76,8  % 


Kurz  sei  die  Frage  gestreift,  ob  die  Neb^nsatzentwicklung  bei  den  Knaben 
anders  verläuft  als  b3i  den  Mädchen.  Tab3lle  7  zeigt,  wie  sich  die  Nebensätze 
auf  die  einzelnen  Kinder  verteilen.  In  der  ersten  Rubrik  sind  die  elliptischen 
Sätze  verzeichnet,  dann  folgen  die  Hauptsätze,  die  völlig  verfehlten,  die  mund- 
artlich richtigen  imd  endlich  die  sprachlich  einwandfreien  Neb3nsätzs.  Besonders 
aufgeführt  sind  dann  nöch  die  Nebensätze  zweiten  Grades. 

Bei  vier  Sätzen  ließ  sich  nicht  mehr  feststellen,  wer  sie  gesprochen;  es  war 
ein  elliptischer,  ein  verfehlter,  ein  mundartlicher  und  ein  richtiger. — Addiert 
man  in  den  einzelnen  Rubriken  die  Zahl  der  von  Knaben  gebrachten  Sätze,  so 
ergeben  sich  3  elliptische,  31  Hauptsätze,  1  verfehlter,  9  mundartliche,  51  richtige 
Nebensätze  und  2  Neb3nsätze  zweiten  Grades.  Bei  den  Mädchen  finden  sich 
1  elliptischer  Nebsnsatz,  19  Hauptsätze,  4  verfehlte,  16  mundartliche  und  66  rich- 
tige Nebensätze,  dazu  3  Nebensätze  zweiten  Grades.  Wegen  der  gar  zu  geringen 
Zahl  der  in  Betracht  kommenden  Sätze  ist  ein  Vergleich  der  Geschlechter  bei 
den  elliptischen,  verfehlten  und  doppelt  abhängigen  Nebensätzen  nicht  durch- 
zuführen; es  bleiben  die  Hauptsätze,  die  mundartlichen  und  richtigen  Neben- 
sätze. Von  den  Hauptsätzen  bildete  ein  Knabe  durchschnittlich  1,2;  ein  Mäd- 
chen 0,6;  die  Tendenz,  zwei  Hauptsätze  aneinanderzufügen,  die  ein  Abhängig- 
keitsverhältnis erkennen  lassen,  das  absr  noch  keinen  sprachlichen  Ausdruck 
findet,  ist  bei  den  Knaben  noch  einmal  so  stark  als  bei  den  Mädchen.  Mundartliche 


Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache 


179 


Nebensätze  ergeben  sich  für  den  Knaben  0,35,  für  das  Mädchen  0,50;  richtige 
für  den  Knaben  1,96,  für  das  Mädchen  2,05;  die  Unterschiede  sind  zu  gering- 
fügig,  als  das  von  einer  Differenzierung  gesprochen  werden  könnte.  Im  ganzen 
erhielt  ich  von  den  26  Knaben  97  nebensatzähnliche  Gebilde,  von  den  32  Mädchen 
109.  Das  ergibt  im  Durchschnitt  für  den  Knaben  3,7,  für  das  Mädchen  3,4  — 
also  wiederum  keine  deutliche  Differenzierung. 

Tabelle  7. 
Verteilung  der  Nebensätze  auf  die  einzelnen  Kinder. 


^    ! 

1 

Elliptisch 

i  ' 

m      ! 

1 

1 

u 

O 
ei     j 

73 

G 

Elliptisch 

<a 

.  1 
1 

> 

u 
lä 
T5 

a 

1 

05 

o 

A     i 

__ 

_ 



d 

- 





— 

1 

_ 

B 



i 

__ 





_ 

o 

- 

5 

— 

— 

3 

— 

C 



• 

— 

4 

1 

f 

1 

— 

— 

— 

— 

D 



— 

— 

— 

g 

. 

— 

— 

— 

1 

— 

E 

1 

7 

1 

1 

6 

— 

h 

— 

— 

1 

— 

3 

— 

F 



—    , 

- 

2 

1 

— 

i 

_ 

1 

— 

— 

4 

— 

G 



1 

— 

— 

— 

k 

! 

— 

— 

2 

2 

— 

H    - 

— 

_    1 

— 

1 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

1 





- 

3 

— 

m 

'— 

— 

— 

1 

— 

K 



1 



1 

4 

— 

n 

— 

1 

1 

3 

— 

L 





— 

_ 

_ 

— 

o 

— 

— 

— 

3 

3 

— 

M 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

P 

— 

— 

— 

— 

3 

— 

J^ 



1 



1 

— 

q 

— 

— 

— 

— 

2 

— 

O 

— 



— 

— 

1 

— 

r 

— 

1 

— 

1 

2 

— 

P 











— 

s 

— 

— 

— 

1 

2 

— 

Q 

1 

5 



1 

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_ 

t 

— 

1 

— 

1 

1 

— 

R 



2 



__ 

. 

— 

u 

_ 

2 

1 

1 

5 

_ 

S 

1 

5 

— 

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3 

— 

V 

— 

— 

— 

— 

2 

— 

T 



1 

— 

— 

_ 

w 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

U 

— 

3 

— 

} 

4 

— 

X. 

— 

— 

— 

— 

2 

— 

V 

W 

X 

— 

— 

_ 

1 

2 

— 

y 

— 

— 

— 

2 

1 
7 

— 

z 

3 

I 

I 

3 

z 

z 
a 

1 



2 



1 

Z 

Y 

Z 

- 

1 
2 

— 

i    _ 

i    _ 

9 

1 
2 

1 

ß 

— 

1 
1 

— 

2 

2 

i 

z 



S 

1    — 

z 

1 

3 

i 

a 
b 

— 

1 

\    - 

— 

— 

V 

i    

2 

1 

[      

1 

1 

4 
3 

1 

c 

- 

- 

1 

■    - 

4 

- 

- 

- 

- 

Um  zu  untersuchen,  ob  zwischen  allgemeiner  Begabung  und  Nebensatzreichtum 
und  -richtigkeit  eine  Korrelation  besteht,  mußte  ich  die  nebensatzähnlichen  Pro- 
dukte der  Kinder  werten.  Dabei  leitete  mich  der  Gredanke,  daßesetwadie  gleiche 
Leistung  bedeutet,  wenn  ein  elliptischer  Satz,  ein  Hauptsatz  mit  Nebensatz- 
charakter oder  ein  völlig  verfehlter  Nebensatz  gebildet  wurde ;  eine  höhere  sprach- 
liche Leistung,  wenn  der  Nebensatz  mundartlich  richtig  ist ;  daß  schon  eine  höhere 
Stufe  der  Sprachfertigkeit  erklommen  ist,  wenn  völlig  richtige  Nebensätze 
gebraucht  werden  und  daß  es  die  letzte  für  diese  Alterstufe  mögliche  Steigerung 
bedeutet,  wenn  ein  Kind  Nebensätze  zweiten  Grades  zustande  bringt.  Deshalb 
rechnete  ich  jeden  elliptischen  Satz,  Hauptsatz  und  verfehlten  Nebensatz  einfach. 


180 


Albei;t  Huth 


jeden  mundartlichen  Nebensatz  doppelt,  den  richtigen  dreifach  und  den  zweiten 
Grades  vierfach.  So  ergab  sich  für  die  Entwicklung  des  Gebrauchs  der  Nebensätze 
bei  den  einzelnen  Kindern  folgende  Wertung: 

Tabelle  8. 
Wertung  der  kindlichen  Nebensätze. 


a 

U 

CO 

73 

43 

TS 

u 

a 

u 

T3 

a 

(1 

Kind 

A 
B 

C 
D 
E 
F 
G 
H 
I 

16 

29 

7 

2 
9 

K 
L 
M 

N 
O 
P 
Q 
R 
S 
1 

15 



4 
3 

29 

2 

17 

T 

U 

V 

W 

X 

Y 

Z 

A 

a 

1 

17 

8 

12 

31 

4 

8 

1 

b 

c 
d 

e 

f 

.  g 
h 
i 
k 

13 

3 

14 

1  1 

3 

10 
13 
10 

1 

m 
n 
o 

P 

q 

r 
s 
t 

.  3 

12 

15 

9 

6 

9 

1 

u 

V 

w 

X 

y 
z 
a 
ß 
Y 

20 
6 

l 

26 

12 

1 

<5 
e 

c 

V 

1 

16 
21 
11 

Als  Mittelwert  ergibt  sich  7,7.  —  Nun  ordnete  ich  die  Kinder  nach  dem  Wert 
ihrer  Nebensätze  und  verglich  die  so  erhaltene  Nebensatzreihe  mit  der  Begabungs- 
reihe. Tabelle  9  bringt  die  Buchstaben  der  Kinder  nach  der  Begabung  geordnet, 
daneben,  welche  Nummer  in  der  Begabungsreihe  das  einzelne  Kind  einnimmt, 
ao  dritter  Stelle,  welchen  Platz  dasselbe  Kind  in  der  Nebensatzreihe  bekleidet. 


Tabelle  9. 
Vergleich  der  Begabungsreihe  mit  der  N«bensatzreihe. 


T3 

4 

bO 

CO 

a 
© 

ü 

T3 

i 

03 

c 
© 

© 

a 

03 

a 
© 

c 

Sä 

W 

Ö 

W 

© 

ö 

Ui 

© 

i 

Q 

E 

1 

3 

—  2 

i 

21 

14 

H-  7 

D 

41 

51 

—10 

c 

2 

15 

—13 

G 

22 

50 

—28 

.  A 

42 

56 

—14 

e 

3 

13 

—10 

H 

23 

42 

—19 

n 

43 

17 

+26 

1 

4 

53 

—49 

o 

24 

12 

^  12 

p 

44 

24 

J20 

k 

6 

20 

—15 

q 

25 

32 

—  7 

r 

45 

22 

4  23 

F 

6 

28 

—22 

s 

26 

25 

-^  1 

O 

46 

37 

-4  9 

m 

7 

38 

—31 

K 

27 

11 

^16 

u 

47 

6 

-i41 

V 

8 

27 

—  19 

N 

28 

35 

—  7 

V 

48 

57 

—  9 

t 

9 

33 

—24 

z 

29 

36 

-  7 

z 

49 

34 

-116 

y 

10 

30 

—20 

S 

30 

8 

4  22 

L 

50 

49 

+  1 

a 

11 

4« 

+  7 

ö 

31 

9 

-  22 

V 

51 

31 

-|20 

ß 

12 

16 

—  4 

u 

32 

7 

-  25 

Y 

52 

1 

4  51 

T 

13 

45 

-32 

f 

33 

19 

-i  14 

e 

53 

5 

4  48 

X 

14 

18 

—  4 

w 

34 

47 

—13 

W 

54 

58 

—  4 

A 

15 

26 

—11 

P 

35 

55 

—20 

X 

55 

29 

-2tt 

V 

16 

43 

—27 

Q 

36 

2 

4  34 

I 

56 

23 

-f33 

b 

17 

52 

—35 

R 

37 

41 

—  4 

M 

57 

48 

-1-  9 

B 

18 

54 

—36 

d 

38 

40 

—  2 

s 

68 

44 

+  14 

g 

19 

39 

—20 

C 

39 

10 

4  29 

h 

20 

21 

—  1 

f 

40 

46 

—  6 

Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache         '  181 

So  läßt  sich  für  jedes  Kind  feststellen,  ob  die  allgemeine  Begabung  mit  der  Ent- 
wicklung der  Nebensätze  parallel  läuft.  Ist  die  Nummer  eines  Kindes  in  der  Be- 
gabungsreihe höher  als  die  Nummer  desselben  Kindes  in  der  Nebensatzreihe, 
so  dürfen  wir  daraus  schließen,  daß  die  allgemeine  Begabung  besser  entwickelt 
ist  als  die  Fähigkeit,  Nebensätze  zu  bilden.  Darumist  in  der  vierten  Spalte  der 
Tabelle  9  die  Differenz  zwischen  der  Platznummer  in  der  Begabungsreihe  und 
der  in  der  Nebensatzreihe  angegeben.  Diese  Differenz  ist  positiv,  wenn  die 
Begabung  der  Nebensatzentwicklung  voraus  ist,  negativ  im  umgekehrten  Falle. 
Die  Betrachtung  der  Tabelle  ergibt  die  ebenso  überraschende  wie  interessante 
Tatsache,  daß  in  der  ersten  Hälfte  die  Differenz  fast  durchweg  negativ,  in  der 
zweiten  Hälfte  fast  durchweg  positiv  ist;  mit  anderen  Worten,  daß  die  gut  be- 
gabten Kinder  weniger  und  schlechtere  Nebensätze  gebrauchen  als  die  schlecht 
begabten.  Teilt  man  (nach  Dr.  Lipmann,  „Die  statistische  Untersuchung  von 
psychischen  Geschlechtsunterschieden"  in :  Arbeiten  des  Bundes  für  Schul- 
reform) die  Kinder  in  25%  gute,  50%  mittlere  und  25%  schlechte,  so  ergibt  sich 
für  die  gutbegabten  eine  negative  Differenz  von  — 249,  für  die  schlecht  begabten 
eine  positive  von  +307;  im  ganzen  divergieren  Begabung  und  Nebensatzbildung 
für  diese  30  Kinder  um  556  Platzsf ufen,  die  durchschnittliche  Differenz  beträgt 
18,5  Platzstufen.  Diese  Differenz  würde  0  betragen,  wenn  Begabung  und  Neben- 
satzreichtum und  -richtigkeit  parallel  laufen  würden,  sie  würde  bei  58  Kindern 
pro  Kind  43  Platzstufen  aasmachen,  wenn  das  bestbegabteste  Kind  die  aller- 
schlechtesten  Nebensätze  gebrauchen  würde.    Nach  meinem  Material  werden 

die  Nebensätze  um  43%  (nämlich '■ — '■ %)  schlechter  bzw.  besser  gebildet, 

43 

als  man  es  nach  der  Begabung  erwarten  sollte.   Ich  möchte  ausdrücklich  darauf 

aufmerksam  machen,  daß  dieses  Ergebnis  aus  den  tatsächlichen  Zahlen  meines 

Materials  imd  nicht  aus  berechneten  Prozentsätzen  gewonnen  wurde,  daß  also 

rückhaltlos  ausgesprochen  werden  könn,  daß  die  gut  begabten  Kinder  weniger  und 

schlechtere,  die  schlecht  begabten  aber  mehr  und  bessere  Nebensätze  bilden. 

Ihre  Erklärung  findet  diese  auf  den  ersten  Blick  eigenartige  Erscheinung  darin, 

daß  die  Gutbegabten  den  engumgrenzten  Gedankenkreis,  den  sie  aussprechen 

wollen,  in  einem  einzigen  Satze,  einem  Hauptsatze,  ausdrücken  können,  während 

die  Schlecht  begabten  ihre  Gredanken  nicht  so  bestimmt  zu  fassen  vermögen  und 

deshalb  Nebensätze  benötigen.    "Wann  gebrauchen  denn  v,iv  Erwachsene  einen 

Nebensatz  ?  Jedesmal,  wenn  wir  das  im  Hauptsatz  Gresagte  noch  näher  bestimmen 

wollen.    Es  ist  ein  2feichen  besonderer  Begabung,  wenn  jemand  den  Lapidarstil 

zu  meistern  versteht.  Die  lebensvolle  Sprechsprache  eines  Gustav Frenssen,  eines 

Berthold  Otto  verschmäht  die  Nebensätze  fast  vollkommen.    So  werden  wir 

es  auch  den  Kindern  als  einen  Beweis  scharfen  klaren  Denkens  auslegen  müssen, 

wenn  sie  wenig  Nebensätze  verwenden. 

Die  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  lassen  sich  kurz  folgendermaßen  zu- 
sammenfassen. 

1.  Bei  der  großen  individuellen  Verschiedenheit  der  Kinder  läßt  sich  vorläufig 
noch  keine  untere  Altersgrenze  der  Nebensatzentwicklung  angeben;  es  finden 
sich  jedenfalls  schon  bei  Viereinhalbjährigen  sprachlich  richtige  Nebensätze. 

2.  Als  Nebensatzpartikel  fungieren  bei  den  Viereinhalbjährigen  „der"    und 


182  AHsert  Huth.  Die  Nebensätze  in  der  Kindersprache 

„wenn",  bei  den  Fünfjährigen  „wo"  und  die  Fürwörter  „der,  die,  das",  bei  den 
Sechsjährigen   hauptsächlich  ,,wo,  weil,  wie". 

3.  Vom  5.  Lebensjahr  ab  finden  sich  vereinzelt  elliptische  Sätze,  die  Nebensatz- 
charakter tragen. 

4.  Als  Stufen  der  Nebensatzentwicklung  sind  anzunehmen:  a)  die  Aneinander- 
reihung von  Hauptsätzen,  b)  die  Aneinanderreihung  von  Hauptsätzen  mit 
Nebensatzcharakter  (sachliches  Beziehungsbswußtsein),  c)  die  Bildung  sprachlich 
verfehlter  Nebensätze  und  d)  die  Bildung  sprachlich  einwandfreier  Nebensätze. 

5.  Bei  den  Viereinhalbjährigen  ist  nach  meinem  Material  nur  der  vierte  Teil 
der  Sätze  sprachlich  einwandfrei;  es  sind  Objekt-,  Lokal-  und  Konditionalsätze. 
Die  Fünfjährigen  gebrauchen  außerdem  noch  Komparativ-,  Attribut-  und  Tem- 
poralsätze. Der  Kausalsatz  tritt  erstmalig  bei  den  Fünfeinhalbjährigen  auf. 
Bei  den  Sechsjährigen  findet  sich  auch  der  Subjektsatz;  jetzt  sind  mehr  als  drei 
Viertel  der  Sätze  richtig  gebildet. 

6.  Die  Sechsjährigen  bilden  schon  Nebensätze  zweiten  Grades. 

7.  Knaben  und  Mädchen  verhalten  sich  den  Nebensätzen  gegenüber  im  allge- 
meinen völlig  gleichartig,  nur  daß  die  Knaben  mehr  zu  Hauptsätzen  mit  Neben- 
satzcharakter neigen. 

8.  Allgemeine  Begabung  und  die  Häufigkeit  des  Gebrauches  von  Nebensätzen 
scheinen  zu  divergieren.    Je  besser  die  Begabung,  desto  weniger  Nebensätze. 

Ich  habe  schon  einleitend  bemerkt,  daß  meine  Arbeit  lückenhaft  ist,  daß  sie 
aber  späteren,  genaueren  Untersuchungen  zur  Unterlage  dienen  kann.  Für  solche 
umfassende  Untersuchungen  seien  folgende  Winke  gegeben: 

1.  Ungeklärt  sind  vor  allem  noch  die  Fragen ,  in  welchem  Alter  da'?  Durchschnitts - 
kind  dazu  kommt,  die  einzelnen  Nebsnsatzarten  der  Schriftsprache  zu  verstehen, 
in  welchem  Alter  es  die  ersten  Nebensätze  gebraucht  (gemeint  sind  hier  sprach- 
lich einwandfreie  Nebensätze),  auf  welchen  Altersstufen  die  obengenannt/cn  vier 
Nebensatzstufen  auftreten,  welche  Typen  der  individuellen  Nebensatzentwick- 
lung sich  hiebei  ergeben  und  in  welcher  Reihenfolge  innerhalb  der  vier  Stufen 
die  einzelnen  Nebensatzarten  der  Schriftsprache  gebildet  werden.  Interessant 
wären  Untersuchungen  über  den  Zusammenhang  zwischen  dem  sozialen  Milieu 
und  der  Entwicklung  der  Nebensätze;  besonderes  Augenmerk  ist  auf  den  von 
Stern  als  schwierig  bezeichneten  irrealen  Bedingungssatz  zu  richten  (in  meinem 
Material  war  er  nicht  vertreten). 

2.  Für  die  Gewinnung  des  Materials  ist  es  wertvoll,  die  Versuchspersonen  aus 
allen  Bevölkerungsschichten  zu  entnehmen.  Unbedingt  müssen  auch  Kinder 
unter  4  ^  und  über  6  Jahren  in  den  Kreis  der  Untersuchungen  einbezogen  wer- 
den. Die  Grundlage  sei  immer  durch  Stenogramme  der  lebensvollen  Sprech- 
sprache des  Kindes  gebildet.  Zum  Nachschreiben  eignen  sich  Nacherzählungen 
von  Märchen  und  anderen  Geschichten,  ungezwungene  Gespräche  zwischen  Lehr- 
kraft und  Kind  oder  noch  b2sser  z-wischen  den  Kindern  unter  sich,  Reaktionen 
der  Kinder  auf  einzelne  Sätze  der  Lehrkraft  (z.  B.  auf  eine  unmögliche  Behaup- 
tung, auf  die  Erinnerung  an  ein  gemeinsames  Erlebnis  usw.).  Wenn  sich  dann 
bei  der  Durcharbeitung  des  so  gewonnenen  Materials  die  Notwendigkeit  ergibt, 
auf  einzelne  Fragen  besonders  einzugehen,  wird  es  sich  empfehlen,  zur  Unter- 
suchung dieser  Fragen  besonders  geeignetes  Material  künstlich  zu  erzeugen  — 


Bergmann,  Beiträge  zur  Untersuch,  der  sprachl.  Entwicklung  des  Kindes     183 

durch  Fragen,  Nacherzählen  eigens  erfundenerGeschichten,  Ausführung  von  Hand- 
lungen mit  nachfolgendem  Bericht  usw. 

3.  Zur  Protokollierung  des  Materials  sei  daran  erinnert,  daß  notwendig  der 
gesarate  Zusammenhang  ersichtlich  sein  muß,  daß  Sprechmelodie  und  Sprech- 
tempo durch  irgendwelche  besondere  Zeichen  mitzunotieren  sind. 

4.  BsiderVerarbeitung  des  Materials  ist  stets  zu  unterscheiden,  ob  der  kindliche 
Nebensatz  nur  eine  Nachbildung  stereotyper  Ausdrücke  darstellt  (Märchen, Glück- 
wünsche u.  dgl.)  oder  ob  er  eine  Frage  beantwortet  oder  endlich  ob  er  durchaus 
selbständig  gebaut  wurde.  — 

Eine  solche  umfassende  Untersuchung  würde  wohl  beträchtliche  Arbeit  er- 
fordern, absr  mit  Sicherheit  könnte  darauf  gerechnet  werden,  daß  sie  imser Wissen 
über  das  Werden   des  nebensätzlichen  Denkens   bedeuteDd  erweitern   würde. 


Beiträge  zur  Untersuchung  der  sprachlichen  Entwicklung 

des  Kindes. 

(Nach  eigenen  Beobachtungen  mitgeteilt.) 
Von  Karl  Bergmann. 

Vorbemerkungen. 

Die  folgenden  Seiten  bringen  die  sprachlichen  Beobachtungen,  die  ich  an 
meinen  beiden  Kindern,   einem  Knaben  und  einem  Mädchen,  während  zehn 
Jahren  gemacht  habe.    Über  das  Verfahren,   das  ich  bei  diesen  Darlegungen 
einschlage,  sei  folgendes  berichtet.    Im  allgemeinen  werden  nur  solche  Wörter 
und  Wendungen  mitgeteilt,  die   von   den  Kindern   öfters  gebraucht  wurden. 
Soweit  es  sich  imi  vereinzelt  vorkommende  Beispiele  handelt,   wurden  sie 
dann  berücksichtigt,  wenn   sie   durch   andere  Beispiele   gleicher  Art  gestützt 
werden  oder  wichtige  Schlüsse   für  die  allgemeine  sprachliche  Entwicklung 
zulassen.     Die  Anordnung   der  Wörter  geschieht   nicht   in   zeitlicher  Folge, 
sondern  die  Beispiele  werden  nach  bestimmten  sachlichen  Gruppen  geordnet, 
denn  es  kommt  mir  bei  meiner  Arbeit  hauptsächüch  auf  die  nachstehenden 
Punkte  an.    Zunächst  will  ich  zeigen,  welche  lautliche  Umgestaltung  im  Munde 
des  Kindes  die  Wörter  erfahren,  die  dem  Kinde  vorgesprochen  werden  oder 
die   es  von  seiner  Umgebung  hört  und  dann  nachzuahmen   sucht.     Hierbei 
möchte   ich  vor  allem  auf  die  kindliche  Aussprache  der  schwierigen  Kon- 
sonanten hinweisen    und    auf    die    interessanten    Erscheinungen    der  Wort- 
kürzung,   der    verschiedenen    Assimilationen    und    der    Silben  Verdoppelung. 
Die  Aussprache  wird  mit  gewöhnlichen   Buchstaben  dargestellt;    ein    hoch- 
gestelltes "  bedeutet  einen  kurzen,  dumpfen  u-Laut;  die  Länge  der  yokale  ist 
die  gleiche  wie  in  den  entsprechenden  schriftsprachlichen  Wörtern;  wo  Ab- 
weichungen stattfinden,  wird  durch  die  bekannten  Länge-  und  Kürzezeichen 
besonders  darauf  hingewiesen.     Das  Kind  tritt  aber  auch  als  Wortschöpfer 
auf,  und  so  wird  ein  zweiter  Hauptteil  diese  wichtige  Seite  der  Sprachent- 
wicklung behandeln.     Schließlich  versucht  das  Kind,    seine  Gedanken  und 
Empfindungen  durch   Aneinanderreihen  von   einzelnen  Wörtern  zu  ganzen 
Sätzen  auszudrücken;  wie  es  dabei  verfährt,  soll  in  einem  dritten  grammatischen 


184  Karl  Bergmann 


Teil  an  einer  Anzahl  von  Beispielen  erläutert  werden.  Diesen  drei  Hauptab- 
schnitten geht  eine  knappe  Darstellung  der  ersten  Sprechversuche  des  Knaben 
voran;  für  das  Mädchen  kann  eine  solche  nicht  gegeben  werden,  da  hier 
die  Gelegenheit  zur  Beobachtung  ungünstig  war.  Auch  sonst  fällt  der  Haupt- 
teil der  Beobachtungen  auf  den  Knaben;  soweit  sie  sich  auf  das  Mädchen 
beziehen,  ist  dies  durch  ein  M.  in  Klammern  bemerkt.  Die  ebenfalls  in  Klammern 
mitgeteilten  Zahlen  beziehen  sich  auf  das  Lebensalter,  in  dem  die  Beobach- 
tung gemacht  wurde;  die  erste  Zahl  bedeutet  das  Lebensjahr,  die  zweite 
den  Monat  des  darauf  folgenden  Lebensjahres :  3/5  bedeutet  somit,  daß  das 
Kind  zur  Zeit  der  Beobachtung  drei  Jahre  und  fünf  Monate  alt  war.  Ein 
Fragezeichen  bei  dieser  Angabe  will  sagen,  daß  Zweifel  über  die  Zeit  der 
Beobachtung  bestehen.  Soweit  es  mir  möglich  war,  versuchte  ich  eine  Er- 
klärung der  verschiedenen  Erscheinungen  zu  geben,  die  natürlich  bei  der 
Schwierigkeit  des  Stoffes  keinen  Anspruch  auf  unbedingte  Geltung  machen 
kann. 

Die  ersten  Sprechversuche. 

Die  ersten  Sprechversuche  des  Knaben  begannen  im  8.  Monat ;  sie  lauteten 
wie  bäba,  das  erste  b  wurde  mit  deuthch  vorschlagendem  m  und  als  starker 
Explosivlaut  gesprochen,  die  beiden  Vokale  klangen  kurz  und  dumpf.  Die 
lautliche  Entwicklung  ging  dann  über  abä  (geschlossenes  erstes  a,  b  als  deut- 
licher Explosivlaut,  kurzes  zweites  a),  bäbä,  wawa,  waba,  bawa,  welche  drei 
letzteren  Wörter  in  buntem  Wechsel  unermüdlich  hintereinander  gesprochen 
wurden,  zu  baba  (ohne  vorschlagendes  m).  Im  9.  Monat  gesellte  sich  zu 
diesen  ersten  Versuchen  dada  mit  deutlichem  stimmhaften  d;  am  Ende  des 
10.  Monats  sprach  der  Knabe  zum  ersten  Male  ma  ma.  Bald  darauf  tritt  eine 
Pause  ein,  die  lautlichen  Äußerungen  gehen  über  baba  und  dada  nicht  hinaus, 
mama  fällt  ganz  weg;  das  Kind  bringt  nur  lallende  Laute  hervor.  Eine  in- 
teressante Beobachtung  war  im  14.  Monat  zu  machen.  Der  Knabe  hatte  dem 
Gurgeln  der  Erwachsenen  zugesehen,  dabei  beobachtet,  wie  mit  dem  Wasser 
aus  der  Wasserflasche  die  gurgelnden  Töne  hervorgebracht  wurden,  ahmte 
diese  Töne  nach  und  ließ  sie  dann  eine  Zeitlang  immer  hören,  wenn  die 
Wasserflasche  an  ihm  vorbeigetragen  wurde:  gleichsam  der  erste  Versuch 
einer  Namengebung.  Vom  Beginn  des  15.  Monats  stellt  sich  dann  wieder 
bei  starkem  Zahnen  der  Trieb  ein,  vorgesprochene  Worte  nachzuahmen; 
ba'  (=  Ball),  nein,  wauwau,  hotto.  Auch  das  Wort  mama  stellt  sich,  zu- 
nächst vermischt  mit  jämmerlichem  Schreien,  wieder  ein.  Im  allgemeinen 
aber  hat  das  Kind  in  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Lebensjahres  nur  geringen 
Trieb,  vorgesagte  Wörter  nachzusprechen.  Um  so  größer  ist  die  Wißbegierde; 
um  sie  zu  befriedigen,  deutet  es  auf  die  Gegenstände  mit  dem  Ausruf  hä? 
Im  21.  und  22.  Monat  lernt  es  wieder  eine  größere  Zahl  Wörter.  Im  22. 
Monat  spricht  es  auch  seinen  ersten,  aus  mehreren  Wörtern  bestehenden  Satz; 
(s.  4.  Satzbildung  Nr.  2  unter  „Grammatisches"). 

Die  Lautgestaltung  der  Wörter. 

1.  Die  Konsonanten  f,  g,  k,  1,  r,  s,  seh,  z: 
a)f: 

Fisch  —  bib  (2/1)  Affe  =  aba  (2)                             Stiefel  =  dibi  (2/3) 

Fuchs  -=  buk  (2/5)  Seife  =  deip  (2ß}                       auf  =  au  (2) 


Beiträge  zur  Untersuchung  der  sprachlichen  Entwicklung  des  Kindes    185 

5mal  -v^-ird  f  als  b  (p)  wiedergegeben  (2 mal  im  Anlaut,  2  mal  im  Inlaut,  Imal 
im  Auslaut),  Imal  fällt  f  ganz  weg. 

b)  g: 

gut  =  dut  (1/11)  Geige  =  deida  (2/1)  Glas  =  d»a  (2/1) 

gut  =  gut  (2)  Gutsei  =  gudu  (2/2)  groß  =  grot  (2/6) 

Geige  =  geid  (2)  Gang  =  gang  (2/2) 

Die  8  anlautenden  g  werden  3mal  als  d,  5mal  als  g  wiedergegeben;  zu 
beachten  ist  gut  als  gut  und  dut,  Geige  als  geid  und  deida. 

c)  k: 

[Ka>ao  =  gau  (1, 11)  Kappe  =  bab  (2)  Rock  =  ot  (t/T) 

Kahn  =  dan  (2)  Kanne  =  bam  (2/2)  Bock  =  bok  (1/11) 

Kanne  =  danne,  danna  (2)         Kleid  =  deid  (2)  Stock  =  ok  (2/1) 

Anlautendes  k  ist  3mal  durch  d  vertreten  (darunter  die  Doppelkonsonanz 
kl),  Imal  durch  g,  2  mal  durch  b;  dieses  b  kann  bei  bab  als  regressive  Assi- 
milation erklärt  werden.    Auslautendes  k  tritt  2 mal  als  k,  Imal  als  t  auf. 

d)  1: 

Liebling  =  Henning  (2)  lesen  =  "äde  (2/5)  dunkel  =  gtinnu  (2/2) 

[Sa]lon  =  hon  (2.1)  Glas  =  d"a  (2/1)  Gutsei  =  gudu  (2;2) 

los  =  hod  (2/3)  Stuhl  =  dud  (2, 1)  Pudel  =  budu  (2/3) 

Von  4  anlautenden  1  werden  3  durch  h  ersetzt,  1  durch  °;  dieser  dumpfe 
"-Laut  auch  bei  Gl  =  d";  auslautendes  1  (Stuhl)  =  d;  1  in  der  Endsilbe  el 
fällt  aus  (vgl.  auch  3  b  ß). 

e)  r: 

Rab  =  hab  (2)  Printe  ==  bin  (2/2)  Reiter  =  «eida  (2,1) 

Rab  =  "ab  (2, 6)  morgen  =  mojo  (2/5)  lieber  =  liba  (2/6) 

Rupp  =  hupp  (2/2)  Erde  =  äd  (2,7)  wieder  =  widda  (2/6) 

Reiter  =  "eida  (2/1)  Turm  =  dum  (2/2)  Zimmer  =  dimmi  (2/7) 

[hejrein  =  "ein  (2/6)  Erich  =  Eich  (2)  immer  =  immi  (2/7) 

schreiben  •=  d"eiba  (2/3)  bei  dir  =  beidi  (2,3)  Butterbrot  =  butterbrod  (1/11) 

schreien  =  d^eia  (2/3)  Uhr  =  u  (2,  3)  Bart  =  bart  (2.  2) 

drei  =  duei  (2/6)  Wasser  =  wawa  (2)2) 

hurra  =  huwa  (2/2)  Hammer  =  hamma  (2) 

Anlautendes  r  erscheint  2mal  als  h,  3mal  als  " ;  r  als  zweiter  Bestandteil 
einer  Doppelkonsonanz  wird  3mal  dm-ch "  wiedergegeben,  Imal  weggelassen: 
inlautendes  r  wird  4 mal  unterdrückt,  einmal  durch  w  ersetzt;  auslautendes 
r  wird  nie  ausgesprochen,  die  Endung  er  erscheint  als  a  bzw.  i ;  3  mal  erscheint 
r  in  richtiger  Aussprache  (bart,  butterbrod). 

f)  a)  s: 

Suppe  =  dupp  (2/ 1)  messen  =  männä  (2/3)  heiß  =  hei  (2  1) 

Sonne  =  donne  (2/2)  Messer  =  männä  (2,/3)  Schoß  =  dop  (2/1) 

so  =  do  (2/5)  lesen  =  "äde  (2/5)  los  =  hod  (2/3) 

Seife  -=  deip  (2/3)  Haus  =  hau  (1/11) 

satt  =  dad  (2,/7)  Glas  =  d"a  (2/1) 

5 mal  wird  anlautendes  s  durch  d  ersetzt;  inlautendes  s  Imal  durch  d,  2mal 

durch  n;  auslautendes  s  Imal  durch  d,  Imal  dm'ch  p,  3mal  fällt  es  aus. 
ß)  seh: 

Schoß  =  dop  (2/1)  schreiben  =  d"eiba  (2/3)  Stuhl  =  dud  (2/2) 

Schürze  =  ded  (2/2)  schreien  =  d"eia  (2/3)  Stoßt  =  dod  (2/2) 

schön  =  den  (2/6)  Schwan  =  wan  (1/11)  Stiefel  =  dibi  (2/3) 

Schuh[e]  =  du  (2/6)  Schwamm  =  bam  (2/2)  Fisch  =  bib  (2/1) 

Spinne  =  binne  (2)  Stein  =  dein  (111) 


186  Karl  Bergmann 


Wie  s  wird   auch  seh  gern   durch  d  ersetzt;   unter  Einrechnung  der  Ver- 
bindung st   (s.  auch  h.)  haben  wir  lOmal  d  für  anlautendes  seh;   3mal  fällt 
anlautendes  seh  weg;  auslautendes  seh  erscheint  Imal  als  b. 
g)  z: 

Zü  =  du  (2)  abc  =  abd  (2/2)  Zwieback  =  didat  (2/2) 

Zimmer  =  dimmi  (2/7)  Zange  =  ganga  (2)  zwei  =  d"ei  (2/5) 

Unter  6  Fällen  tritt  5  mal  d  für  z  ein;  kann  für  ganga  =  Zange  regressive 
Assimilation  angenommen  werden? 

h)  Wörter  mit  doppeikonsonantischem  Anlaut: 
Blätter  =  habet  (1/S)  Stein  =  dein  (l/ll)  •      Zwieback  =  didat  (2/2) 

blau  =  gau  (2)  Stiefel  =  dibi  ajS)  zwei  =  d"ei  (2/5) 

Pfau  =  gau  (2)  stoßt  =  dot  (2/2)  Stock  =  ok  (2/1) 

Kleid  =  deid  (2)  Spinne  =  binne  (2)  Schnake  =  ak  (1/10) 

Printe  =  bin  (2/2)  Schwan  =  wan  (1/11) 

Stuhl  =  dud  (2/2)  Schwamm  =  bara  (2/2) 

Die  Wörter  dieser  Gruppe  wurden  zum  größten  Teil  schon  in  den  vorher- 
gehenden Abschnitten  betrachtet.  Sie  werden  hier  nochmals  übersichtlich 
zusammengestellt,  um  die  Neigung  des  Kindes  zu  zeigen,  die  schwer  aus- 
zusprechenden doppelkonsonantischen  Anlaute  zu  vereinfachen  bzw.  ganz  zu 
beseitigen;  man  beachte,  wie  blau  und  Pfau  in  der  kindlichen  Aussprache 
zusammenfallen. 

2.  Der  Ausfall   anlautender  Konsonanten    bzw.   ganzer  Silbenr 

a)  Der  bzw.  die  anlautenden  Konsonanten  fallen  weg: 

Buch  =  «ch  (1/8)  Rock  =  ot  (1/7)  Bank  ==  ank  (2) 

Schnake  =  ak  (1/10)  Stock  =  ok  (2/1) 

Die  Erscheinung  dieses  Ausfalls  kann  in  doppelter  Weise  erklärt  werden. 
Einmal  kann  sie  in  der  Schwierigkeit  der  Aussprache  des  Anlauts  begi'ündet 
sein ;  dem  gegenüber  steht  aber  wieder  die  Tatsache,  daß  in  anderen  Wörtern 
der  gleiche  Anlaut  gesprochen  wird,  z.  B.  in  hart  (2/2).  Der  Ausfall  mag 
daher  besser  auf  die  bei  solchen  einsilbigen  Wörtern,  besonders  bei  Rock^ 
Stock  und  Bank  stattfindende  kurze  und  scharfe  Aussprache  zurückzuführen 
sein,  wodurch  vor  allem  die  letzten  Laute  in  das  Ohr  des  Kindes  hineinklingen 
(vgl.  auch  den  folgenden  Abschnitt). 

b)  Bei  mehrsilbigen  Wörtern  wird  gerne  die  erste  der  Tonsilbe  voran- 
gehende Silbe  (bzw.  die  ersten  Silben)  unterdrückt: 

kaputt  =  but  (2)  Trompete  =  pete  (2/1)  Chokoladchen  =  lädä  (2/2> 

Kakao  =  gau  (1/9)  Salon  =  hon  (2/1)  Harmonika  =  monika  (5/6) 

Soldat  =  dat  (2)  GemiU  =  mis  (2/2) 

In  allen  diesen  Beispielen  sind  die  ersten  Silben  unbetont,  sie  fallen 
somit  weniger  ins  Ohr  als  die  nachfolgenden  betonten  Silben  und  kommen 
daher  bei  der  Nachahmung  in  Wegfall.  Eine  beachtenswerte  Parallele  zu 
dieser  Erscheinung  bietet  die  neuste  Soldatensprache.  Als  unsere  Soldaten 
1914  in  Frankreich  eindrangen,  bekamen  sie  auf  ihre  Frage  nach  Lebens- 
mitteln usw.  die  ständig  wiederkehrende  Antwort:  11  n'y  en^a  plus.  Sie 
sprachen  das  Wort  als  naplü  nach,  d.  h.  sie  beschränkten  sich  auf  die  Wieder- 
gabe der  besonders  stark  in  ihr  Ohr  fallenden  letzten  Sprechtakte:  [ilniä]naplü. 
Das  Wort  ist  zu  einem  festen  Bestandteil  der  Soldatensprache  geworden. 

3.  Die  nächsten  Gruppen  behandeln  die  sog.  Assimilation,  d.  h.  die  aus- 
gleichende Wirkung,  die  benachbarte  Laute  aufeinander  haben.     Wir  unter- 


BeiträLge  zur  Untersuchung  der  sprachlichen  Entwicklung  des  Kindes     187 

scheiden  die  regressive  Assimilation,   d.  h.  die  rückwärts  wirkende  und  die 
progressive,  d.  h.  die  vorwärts  wirkende  Assimilation. 

a)  Regressive  Assimilation: 

Tunke  =  gunnu  (2/2)  Bleisiüt  =  scbleischtUt  (M.  4) 

dunkel  =  gunnu  (2/2)  Kaplan  =  bablan  (6/10) 

dunkel  =  gungel  (M.  4, 10?)  Tablette  =  bablette  (6,7) 

photographieren  =  kotografieren  (5,10)  verkrumpeln  =  verbrumbeln  (7  9) 

Phonograph  —  konograf  (M.  6/2)  Zwetschen  =  schwetschen  (5/ 1 1) 

Harmonika  =  karmonika  (5/6)  Infantrist  =  infrantrist  (5  11) 

Kaffee  =  fafe  (4/9)  die  Bube[n]  rodle[n]  =  die  buble  rodle  (M.  4yl0) 

b)  Progressive  Assimilation: 

a)  Angleichung  der  Konsonanten: 

gut  -=  gug  (2)  guten  Tag  =  guda  gad  >  2  5,i  Mauer  =  Momer  (5  ?) 

Bad  =  bab  (2)  Major  =  Mamor  i5  2) 

ß)  Angleichung  der  Vokale: 

Apfel  =  haba  (2)  Kanne  =  danna  (2)  Ochse  =  oggo  (2,3) 

Affe  <=  aba  (2)  danke  =  danna  (2,2)  morgen  =  mOjO  (2/3) 

haben  =  haba  (2  8)  Stiefel  =  dibi  (2  3)  Pudel  =  budu  (2|3) 

Wappen  =  "aba  (2/3)  Himmel  =  himm!  (2  7)  dunkel  =  gUnnu  (2,2) 

Hammer  =  hama  (2)  Zimmer  =  dimmi  (2  7)  Tunke  =  gUnnu  (2;  2) 

Zange  =  ganga  (2)  immer  =  immi  (2/7)  Gutsei  =  gudu  (2/2) 

Es  mag  dahingestellt  sein,  ob  es  richtig  ist,  alle  diese  Wörter  durch  pro- 
gressive Assimilation  zu  erklären ;  denn  neben  haben  =  haba  haben  wir  auch 
schreien  =  d"eia,  schreiben  =  d"'eiba ;  die  Formen  auf  a  mögen  auch  auf  die 
Freude  des  Kindes  an  vollklingenden  Endungen  zurückzuführen  sein.  Sehen 
wir  aber  von  diesen  Formen  auf  a  ab,  so  ist  bei  den  Wörtern  mit  o,  i  und 
u  eine  große  Gesetzmäßigkeit  zu  erkennen. 

4.  Eine  Verdoppelung  der  ersten  Silbe  findet  bei  folgenden  Wörtern 
statt: 

Wasser  =  wawa  (2),  wauwau  (2)  Häschen  =  iäjä  (2,3) 

Tasse  =  dada  j2: 1)  Hilde  —  1.  iiji  (2  2),  2.  hihi  (,2,7  '?) 

Tante  =  dandän  (2/1)  Engel  =  engeng  (2,1) 

5.  Die  nachstehenden  dreisilbigen  Wörter  müssen  sich  mit  einer  annähernden 
Wiedergabe  begnügen ;  dabei  ist  zu  beachten,  wie  das  Kind  wohl  die  Vokale 
ziemlich  richtig  ausspricht,  nicht  aber  die  Konsonanten  bzw.  Konsonanten- 
verbindungen; auch  die  genaue  Wiedergabe  der  Silbenzahl,  sowie  der  Be- 
tonung ist  bemerkenswert : 

Äbputztuch  =  äbedo  (1,'S)  Weihnachtsmann  =  "eidabam  (2,2) 

'Ejlisabeth  =  betabet,  bitabet  (2)  Offizier  =  dödidi  (2  2) 

[auf]  Wiedersehn  =  ninäne  (2/3) 

6.  Vertauschung  einzelner  Laute: 

buchstabieren  =  buchsbadieren  (7)  Sattler  ==  Laster  C7/5) 

Globus  =  Biogus  (6/5) 
Buchstabieren  wurde  bis  ins  10.  Lebensjahr  als  buchsbadieren  gesprochen. 

7.  Vertauschung  ganzer  Silben: 

Hasenbraten  =  bratenhas  (M.  3,6)  Uhrkette  =  kettenuhr  (5;4) 

W«lfgang  =  gangwolf  (M.  4/9)  Nußknacker  =  knacknusser  (5/11) 

Wasserstoff  =  stoffwasser  (M.  5/6)  Bleiaufschläge  •=  aufsbUischläge  (6/8) 
Wurstweck  =  weckwurst  (4/10) 

Was  die  Erwachsenen  oft  im  Scherze  tun,  wird  von  dem  Kinde  unbewußt 
im  Ernste  vorgenommen. 


188      Bergmann,  Beiträge  zur  Untersuch,  der  sprachl.  Entwickl.  des  Kindes 


8.  Verschiedenes: 

a)  Dissimilation  (vgl.  oben  3): 

Vilbeler  Wasser  =  vilberer  wasser  (6/9) 
die  Idioten  —  die  inloten  (M.  7/5) 

b)  Kürzung  der  Wörter  durch  Weglassen  von  Silben: 

Urgroßmama  =  urmama  (M.  3/9) 
Erbgroßherzog  Georg  =  erbgeorg  (M.  3/9) 

c)  Vermeidung  des  Hiatus  durch  Einschieben  eines  Konsonanten: 

Theo  =  dedo  (2/2)  (aber  auch  richtig  teo);   vgl.  auch  Erich  =  Eich  (2) 
adio  =  adido  (2/2) 
Noack  =  norak  (M.  6/6) 

Die  weitaus  größte  Zahl  der  in  diesem  Abschnitt  über  die  Lautgestaltung 
niedergelegten  Beobachtungen  entstammt  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten 
Lebensjahres  und  vor  allem  dem  dritten  Jahr.  Vom  vierten  Jahre  an  wird 
das  Kind  allmählich  Herr  der  meisten  lautlichen  Schwierigkeiten.  Auffallend 
sind  die  Beispiele  der  Gruppe  3  a  (regressive  Assimilation)  und  der  Gruppe  7 
<Vertauschung  ganzer  Silben),  die  sich  auf  die  höheren  Lebensjahre  (5  —  8) 
erstrecken.  _  (Schluß  folgt.) 

Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Zur  psychologischen  Beobachtung  der  Ftb-sorgezöglinge  hat  Prof.  Dr. 
Gregor,  Oberarzt  am  Heilerziehungsheim  Kleinmeusdorf  bei  Leipzig,  ein 
Schema  entwickelt,  das  er  für  gemeinsame  Arbeit  an  der  Erforschung  der 
Verwahrlosten  nach  ihrer  seelischen  Struktur  und  besonders  ihrer  moralischen 
Artung  und  Entwicklung  weiteren  Kreisen  zugänglich  machen  möchte.  Die 
von  ihm  vorgeschlagenen  Ermittlungen  können  unabhängig  von  der  psychia- 
trischen Untersuchung  vorgenommen  werden.  Beide  sollen  einander  ergänzen. 
Die  psychologische  Analyse  wird  dem  Psychiater  Beobachtungsmaterial  zur 
Prüfung  und  diagnostischen  Verwertung  bieten;  andererseits  vermag  die 
psychiatrische  Auffassung  die  Besonderheiten  der  Charakterstruktur  zu  be- 
leuchten. Bestimmt  ist  das  Schema  für  folgende  Aufgabe:  Es  soll  Lehrer  und 
Erzieher  zu  umfassender  und  systematischer  psychologischer  Beobachtung 
der  Zöglinge  anregen;  es  soll  verwertbares  Material  für  ärztliche  Diagnosen- 
stellung liefern ;  es  soll  eine  individualisierende  Erziehung  ermöglichen  helfen ; 
es  soll  das  für  die  Verwahrlosung  kennzeichnende  Verhalten  aus  der  Struktur 
der  Zöglinge  erklären ;  es  soll  die  Grundlage  zur  Abgrenzung  von  Charakter- 
typen Verwahrloster  sein.  Die  Aufstellung  der  vorgeschlagenen  Beobachtungs- 
richtungen ergibt  folgendes  Bild. 

A.  Komplexe  psychiatrische  Funktionen. 

1.  Intelligenz,  a)  Anlage,  b)  Kenntnisse,  c)  Fähigkeiten.  —  Gedächtnis  —  Auffassung  (schwer  — 
leicht  —  Interessen  —  Vorstellungsreichtum  und  -armut  (Phantasie)  —  Denken  (oberflächlich  — 
tief,  langsam  —  rasch). 

2.  Gemütliches  Verhalten,  a)  Stimmungslage  (heiter  —  traurig;  gehoben  —  gedrückt;  gleich- 
mäßig —  wechselnd;  begründete  —  unbegründete  (endogene);  Verstimmungen,  deren  Art 
und  Dauer).  —  b)  Affekte  (erregbar  —  stumpf;  dem  Reize  entsprechend  —  ungewöhrdich 
oder  abnorm  in  Stärke  und  Art).  —  c)  Höhere  Gefühle  dem  Alter  entsprechend  entwickelt; 
soziale  und  moralische  Gefühle. 

3.  Triebleben,  a)  Triebhafte  Erscheinungen  (naschen,  stehlen,  ausreißen  usw.).  —  b)  Sexuelles 
Verhalten.  —  c)  Krankhafte  Trieberscheinungen  und  Perversitäten. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  /^f 193 

4.  Wollen  und  Handeln  (aktiv-passiv,  schlaff,  energisch,  bratal.  überlegt,  zielbewußt,  zerfahren), 
Eifer,  Ausdauer,  Fleiß. 

B.  Persönlichkeit. 

1.  Psychische  Struktur  (fein,  empfindlich,  derb,  niedrig  organisiert).  —  2.  Ablauf  psychischer 
Funktionen  (anregbar,  ansprechend,  stumpf,  nachhaltig,  intensiv,  flüchtig,  matt).  —  3.  Der 
äußere  Mensch  (gehalten,  geordnet,  nachlässig,  unsauber).  —  4.  Benehmen  (gesittet,  höflich, 
grobschlächtig).  —  5.  Beziehungen  zur  Umwelt  (offen,  zurückhaltend,  verschlossen,  gut,  IkSs- 
artig;  wahr,  lügnerisch,  prahlerisch,  l>eeinflußbar,  anstiftend).  —  6.  Haltung  (energisch,  schlaff, 
konstant,  wechselnd,  schwankend,  selbstbewußt,  kindlich-naiv).  —  7,  Stellungnahme  (zum 
eigenen  Schicksal,  Kritik  und  Urteil  zu  eigenem  Handeln  und  Verfehlungen).  —  8.  Zusammen- 
hang der  Persönlichkeit  harmonisch,  einseitig,  verbildet  i. 

C.  Einfluß  des  Anstaltsaufenthaltes. 
1.  Beurteilung  der  Lage.  —  2.  Vorsätze  und  Reue.  —  3.  Wiederauftreten  alter  Fehler,  Ansätze 
oder  tatsächliche  Besserung.  —  4.  Erfolge  des  Unterrichts. 

D.  Körperliche  und  psychische  krankhafte  Erscheinungen. 
E.  Ergänzung  durch  fortlaufende  Beobachtung. 

Ober  die  pädagogische  Fortbildung  der  Oberlehrer  äußert')  sich  der 
Prof.  für  Philosophie  und  Pädagogik  Dr.  Eduard  Spranger  an  der  Universität 
Leipzig  in  folgenden  Ausführungen,  die  vor  allem  auch  der  Bedeutung 
der  Jugendkunde  für  das  höhere  Lehramt  gerecht  werden. 

„Wenn  von  pädagogischer  Fortbildung  im  Lehramte  die  Rede  ist,  so  könnte 
dies  leicht  als  ein  Iv  did  övoTv  erscheinen.  Denn  wie  ■will  man  erziehen 
und  unterrichten,  ohne  sich  pädagogisch  fortzubilden?  Hier  aber  ist  jene 
Vertiefung  gemeint,  die  nicht  nur  auf  dem  Ausprobieren  und  der  jahrelangen 
Selbstkorrektur  beruht,  sondern  auf  zusammenhängendem  Nachdenken,  ja 
Forschen  und  Lesen.  Kurz :  eine  tb'/jt] ,  nicht  eine  efiTrsigia  im  Sinne 
des  Platonischen  Gorgias  sollte  die  Kunst  der  Menschenbildung  sein. 
Es  bleibt  in  ihr  etwas  Unlernbares,  durchaus  Geniahsches.  Aber  —  mit 
einer  unzulänglichen  Analogie:  auch  die  Musik  vollendet  sich  erst  durch 
Mu8ik\^^ssenschaf t ,  jede  Kunst  erst  im  Hindurchgehen  durch  ästhetische 
Reflexion. 

Damit  ist  ausgesprochen,  daß  die  Lektüre  der  zahlreichen  didaktischen 
Ratgeber,  ja  auch  der  Aphorismen  vom  pädagogischen  Lebenswege  nicht 
genügt.  Vielmehr  sollte  das  pädagogische  Tun  in  seinem  ganzen  Zusammen- 
hange zur  Besinnung  erhoben  werden,  ein  Zusammenhang,  der  auf  der 
einen  Seite  in  die  Welt  der  Kultiirgüter  und  Kulturgebiete,  auf  der  andern 
in  die  Welt  der  Jugend  und  des  werdenden  Lebens  hineinreicht.  In  erster 
Linie  muß  der  Erzieher  sich  klar  sein,  was  er  soll  imd  was  er  will:  das 
Nachdenken  über  die  Bildungsziele  der  Gegenwart,  ihren  Kampf,  ihren 
Ursprung,  ihr  Recht  gehört  für  ihn  nicht  zum  Fakultativen,  sondern  das  ist, 
wenn  er  keine  andere  haben  sollte,  seine  Philosophie  und  als  solche  obli- 
gatorisch. Diese  Richtung  des  Denkens  aber  führt  in  der  Regel  erst  dann 
zu  wirklichem  Ertrag,  wenn  der  betreffende  im  Amte  selbst  drinsteht  und 
an  den  Kräften  der  Wirklichkeit  die  Probe  auf  seine  Ideale  machen  kann. 
Nicht  ein  Jota  soll  von  der  Strenge  der  fachwissenschaftlichen  Ausbildimg 
des  Lehrers  fortgenommen   werden.     Aber  so  wenig  man  aus  Wissenschaft 


')  Vergl.  Dr.   Ed.   Spranger.   Kultur    und   Erziehung.      Gesammelte   'pädagogische    Aufsätze. 
Leipzig  1919.     QueUe  &  Meyer.     S.  103  ff, 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psjcliologie.  13 


194  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


allein  das  Leben  oder  gar  die  Kultur  aufbauen  könnte,  so  wenig  darf  der 
Lehrer  glauben,  wenn  er  nur  die  Wissenschaft  habe,  werde  ihm  alles  andre 
von  selbst  zufallen.  Diese  Selbsttäuschung  pflegt  auch  nur  bei  Universitäts- 
professoren vorzukommen,  die  von  der  Schule  nur  so  viel  sehen,  als  an  ihr 
Wissenschaft  ist. 

Aber  es  kommt  für  den  Pädagogen  nicht  nur  darauf  an,  was  er  lehrt, 
sondern  auch  wen  er  lehrt.  Jugendkunde  muß  er  besitzen,  sei  es  als  an- 
geborenes Genie,  sei  es  als  erworbene  Kenntnis.  Je'  weniger  sie  ihm  zum 
starren  System  oder  ziu-  statistischen  Massenbehandlung  wird,  um  so  besser 
wird  sie  ihm  zur  Durchleuchtung  seines  lebendigen  Schaffens  dienen,  das 
an  sich  eine  ursprüngUche  Gabe  und  Richtung  des  Geistes  ist.  Der  bildende 
Künstler  studiert  Anatomie:  die  Lenker  der  Seele  müssen  sich  um  die  Ana- 
tomie und  Biologie  der  Seele  kümmern.  Es  ist  eine  auffallende  und  nicht 
genug  zu  beklagende  Tatsache,  daß  die  Beiträge,  die  bisher  die  höheren 
Lehrer  zur  Kinder-  und  Jugendpsychologie  geliefert  haben,  verschwindend 
gering  an  Zahl  und  fast  noch  geringer  an  Bedeutung  sind.  Was  wir  auf 
diesem  Gebiet  besitzen,  stammt  aus  der  Arbeit  der  Volksschul-  und  Seminar- 
lehrer. Die  Folge  ist,  daß  unsere  bisherige  Literatur  in  der  Regel  mit  dem 
14.  Jahre  Schluß  macht.  Nicht  ein  einziges  Buch  über  das  so  ent- 
scheidend wichtige  Pubertätsalter  gibt  es  in  deutscher  Sprache.  Seit  der 
Adolescentia  des  Wimpfeling  scheint  diese  Forschungsrichtung  ausgestorben, 
obwohl  doch  seit  100  Jahren  ein  eigner  Stand  existiert,  dem  die  seelische 
Pflege  dieses  Lebensalters  geradezu  ausschließUch  anvertraut  war.  Die 
Fortbildungsschule,  so  jung  sie  ist,  hat  in  kurzer  Zeit  schon  viel  beachtens- 
wertere psychologische  Forschungen  nach  dieser  Richtung  veranlaßt.  Auf 
diese  Lücke  in  der  Fortarbeit  der  höheren  Lehrer  weise  ich  mit  dem  größten 
Ernst  hin,  weil  sich  an  dieser  Stelle  ein  Mangel  des  ganzen  bisherigen 
Systems  zeigt,  über  den  man  nicht  ausführlicher  reden  könnte,  ohne  eine 
Anklage  zu  schreiben.  Das  Vertrauen  in  die  Zukunft  aber  ist  um  so  be- 
rechtigter, als  sich  die  Jugend  inzwischen  selbst  geholfen  hat.  Die  Jugend- 
bewegung ist  der  Versuch  des  unverstandenen  Pubertätsalters,  sich  selbst 
zu  verstehen.  Die  künftigen  Lehrer,  die  durch  diese  Bewegung  in  ihren 
gesunden  und  geläuterten  Formen  hindurchgegangen  sind,  werden  auf  Grund 
eigner  Erfahrung  füi'  diese  Seite  ihrer  Aufgaben  nicht  mehr  blind  sein.  Es 
wird  dann  auch  nicht  mehr  als  geringwertige  wissenschaftliche  Leistung 
gelten,  wenn  sich  ein  größerer  Kreis  der  Erforschung  der  jugendlichen  Seele, 
der  Anthropologie  der  Jugend  überhaupt  zuwendet. 

Demgegenüber  sind  die  andern  Zweige  der  pädagogischen  Fortbildung 
weniger  dringend.  Schulgeschichtliche  Forschung  hat  schon  immer  als  eine 
Ehrensache  der  Lehrer  gegolten.  Freilich  muß  man  auch  von  dieser  Literatur- 
gattung sagen,  daß  sie  größtenteils  das  Vertrauen  in  die  Werte  einer  Wissen- 
schaft der  Pädagogik  wenig  gefördert  hat.  Mit  dem  Auffinden  und  Ab- 
drucken von  Schulordnungen  ist  es  nicht  getan;  auch  nicht  mit  der  chro- 
nistischen Treue  der  Erzählung,  wie  alles  gewesen  ist  —  (denn  mit  dieser 
falschen  Betonung  scheinen  manche  hier  das  Rankesche  Wort  gelesen  zu 
haben).  Viehnehr  kommt  es  auch  hier  darauf  an,  daß  eine  Frage  der  Ant- 
wort vorausgeht  und  daß  in  dieser  Frage  die  Bezüge  zur  allgemeinen  Geistes- 
geschichte, das  Bewußtsein  für  das  Typische  und  das  Abstechende,  der 
Sinn  für    das    Lebendige  und  Wirksame  im  Kostüm  alter  Zeiten  enthalten 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  195 


sei.  Wünschenswert  ist  es  ferner,  daß  auch  die  historischen  Zweige  gepflegt 
werden,  die  an  den  Universitäten  heute  noch  wenig  zur  Geltung  kommen, 
nämhch  die  Geschichte  der  Universitäten  selbst,  die  Geschichte  der  Wissen- 
schaften, die  Biographik  großer  Forscher  und  Lehrer.  Geschichte  der  Schul- 
verfassung kann  heute  erst  geschrieben  werden,  nachdem  wir  eine  allgemeine 
Verfassungsgeschichte  besitzen,  in  die  die  Schule  nur  eingeordnet  zu  werden 
braucht. 

Dieses  letzte  Gebiet  sollte  auch  in  systematischer  Hinsicht  gepflegt  werden: 
als  Schulvervs'altungslehre  und  Theorie  der  Schulorganisation.  Die  Zu- 
sammenhänge der  Schule  mit  dem  Staat,  der  Gesellschaft  und  der  Wissen- 
schaft stehen  heute  sachlich  so  im  Vordergrunde,  daß  sich  auch  die  Theorie 
stärker  mit  ihnen  beschäftigen  muß. 

So  wäre  denn  der  ganze  Umkreis  der  pädagogischen  Wissenschaft  zu 
kennzeichnen  als  historische  und  systematische  Behandlung  der  Bildungsziele, 
der  Bildsamkeit  (pädagogischen  Psychologie),  der  Menschenbildner  und  des 
Bildungswesens.  Wem  aber  sollte  die  Pflege  dieser  umfassenden  Bildungs- 
wissenschaft sonst  zufallen  als  denen,  die  in  einem  vielausgesprocheneren 
Sinne  als  die  Universitätsprofessoren  Träger  des  nationalen  Bildungs- 
gedankens sind,  also  den  höheren  Lehrern?  Freihch  wird  für  diese  große 
Arbeit  so  lange  die  Anregung  und  der  Mittelpunkt  fehlen,  als  es  an  den 
preußischen  Universitäten  keine  Ordinariate  für  Pädagogik  gibt.  Und  doch 
besteht  ein  doppeltes  praktisches  Bedürfnis  nach  Männern  solcher  Interessen- 
richtung: Die  Lehrer  an  den  Volksschulseminaren  empfinden  selbst,  wie  sehr 
wir  in  unsrer  wissenschaftlichen  Pädagogik  allenthalben  noch  zurück  sind. 
Und  geeignet  ausgebildet^  Leiter  der  zweijährigen  praktischen  Vorbereitungs- 
zeit für  höhere  Lehramtskandidaten  fehlen  bis  heute,  wie  man  wohl  zugeben 
wird,  so  gut  wie  ganz. 

Leitsätze  zur  Arbeitsschule  veröff enthebt  der  Deutsche  Verein  für 
Knabenhandarbeit  und  Werkunterricht  in  seinem  Organ  „Die  Arbeits- 
schule", Heft  1  des  Jahrganges  1919.  Der  Verein  findet  seine  langjährigen 
Bestrebungen  von  der  Gunst  der  Zeit  getragen  und  ruft  seine  Mitglieder  auf, 
die  alten  Bestrebungen  im  Angesichte  der  ungeheuerlichen  Kulturwende  zu 
überprüfen.  Erforderlich  erscheint  ihm  die  Untersuchung  der  Fragen: 
Welches  ist  heute  der  sicher  erkennbare  Stand  der  Arbeitsschulbewegung? 
Mit  welchen  Plänen  und  Forderungen  anderer  Strömungen  steht  sie  im  Einklang? 
Welche  Richthnien  für  die  weitere  Durchbildung  und  Durchführung  des  Arbeits- 
schulgedankens ergeben  sich  aus  der  neuen  Lage? 

Die  Grundlage  für  die  weiteren  Vereinsbesprechungen  und  -bestrebungen 
sollen  nun  die  folgenden  Sätze  geben: 

A.  Grundsätzliche  Anschauungen. 

I.  Der  Verein  erstrebt  die  Verwirklichung  und  den  Ausbau  der  Arbeitsso-bule.  Er  ver- 
steht darunter  eine  Schulform,  in  der  die  Eigentätigkeit  des  Schülers  das  Kennzeichen  des 
gesamten  Bildungsvorganges  ist  und  in  der  damit  auf  die  Erziehung  zu  persönlicher 
Selbständigkeit  abgezielt  wird. 

II.  Unter  ihrem  Leitgedanken  „Durch  Selbsttätigkeit  zur  Selbständigkeit*  -will  die 
Arbeitsschule  die  ganze  werdende  Persönlichkeit  in  allen  Anlage*  und  Kräften  ihrer  Eigen- 
wesenheit (Individualität)  entfalten,  in  den  leiblichen  Anlagen  nicht  minder  als  in  den 
seelischen,  in  den  lebendigen  Kräften  des  Gemüts  und  Willens  nicht  weniger  als  in 
denen  des  Verstandes.   Vordringlich  ist  dabei  die  Pflege  einer  echten  Arbeitsgesinnung,  eines 

13» 


196  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

starken  Arbeitswillens  und  einer  sicheren  Arbeitstechnik,  gestützt  durch  frische  Freude  am 
eigenen  Tun  und  an  jeglicher  tüchtigen  Leistung.  Als  besonders  wertvoll  wird  die  Erziehung  zu 
„praktischer  Anstelligkeit"  betont.  Allem  voran  steht  aber  die  lebenstüchtige  Charakter- 
bildung. 

HI.  Beherrschen  soll  die  Eigentätigkeit  als  der  Grundsatz  der  Arbeitsschule  das  gesamt« 
deutsche  Bildungswesen:  auf  allen  Unterrichtsstufen  und  in  allen  Schulformen,  vom 
Kindergarten  bis  hinauf  zu  den  Hochschulen.  Ein  in  besonderem  Maße  bedeutungsvolles 
Wirkungsfeld  sind  die  mannigfachen  Formen  der  Jugendpflege  und  Jugendfürsorge. 

IV.  Der  Verein  erstrebt,  die  Entwicklung  der  Arbeitsschule  in  innigster  Fühlung  zu  halten 
mit  den  großen  Fragen  der  Kultur  und  der  Bewegung  der  Gesamtpädagogik,  besonders 
auch  mit  den  Fortschritten  der  Erziehungswissenschaft.  Von  anderen  pädagogischen 
Bestrebungen  nimmt  er  Gleichsinniges  vornehmlich  aus  der  Kunsterziehung  und  der  staats- 
bürgerlichen Bildung  auf. 

Er  unterstützt  das  schulpolitische  Programm  der  deutschen  Lehrerschaft  in  den 
Forderungen,  von  denen  eine  günstige  Beeinflussung  der  Arbeitsschulbestrebungen  zu  erhoffen  ist 

B.  Abgeleitete  Bestrebungen. 

Von  der  umgestaltenden  Wirkung  des  Grundsatzes  der  Eigentätigkeit  muß  die  Schule  er- 
griffen werden  im  Gesamtbereiche  ihres  äußeren  und  inneren  Lebens,  all  ihrer 
Einrichtungen  und  Veranstaltungen.  Wichtigere  Einzelforderungen  leiten  sich  insbesondere  her 
für  das  Unterrichtsverfahren,  den  Lehrplan,  das  Gemeinschaftsleben. 

I.  Forderungen  für  das  Unterrichtsverfahren. 

Es  ist  zu  verlangen, 

1.  daß  sich  im  allgemeinen  der  Zwang  und  Druck  der  Lehrerarbeit  im  Unterricht  mildert  zu- 
gunsten einer  selbständigeren  geistigen  Bewegung  des  Schülers   und  der  Klasse; 

2.  daß  die  schulmäßigen  Verfahren  des  Lernens  angenähert  werden  an  die  Lebensformen 
des  freien  Bildungserwerbes; 

3.  daß  tunlichst  das  Lehren  und  Lernen  von  sinnlicher  Erfassung,  von  Beobachtung  und 
Untersuchung  ausgehe  und  hinführe  zu  gestaltendem  Ausdruck  und  vielseitiger  handelnder 
Anwendung ; 

4.  daß  sich  auf  den  geistigen  Gebieten  der  Unterricht,  wo  immer  nur  möglich  und  wertvoll, 
durchsetzt  mit  handlichem  Tun  am  dinglichen  Gegenstande; 

.5.  daß  die  Bildungsgebiete,  denen  bislang  als  Gruppe  der  Fertigkeiten  und  Künste  nicht  die 
volle  Würdigung  wurde,  künftig  soweit  als  nur  möglich  geist-,  gemüts-  und  willens- 
getragene Arbeitsvorgänge  ausprägen,  daß  sie  den  Körper  zum  dienstwilligen  Organ 
des  Geistes  schulen  und  daß  hier  im  schaffenden  Darstellen  der  künstlerische  Zug  der 
gesamten  Schulbildung  abgipfelt, 
n.  Forderungen  für  den  Lehrplan. 

1.  Das  Ausmaß  an  verbindlichem  Wissen  ist  durch  Ausscheidung  weniger  bildenden  Stoffes 
so  zu  bemessen,  daß  der  arbeitende  Erwerb  und  die  freitätige  Durchdringung  und  An- 
wendung nicht  durch  Mangel  an  Zeit  und  Kraft  behindert  ist. 

2.  Bei  der  Auswahl  des  Stoffes  hat  mitzusprechen,  wie  ergiebig  er  wertvolle  Eigentätigkeit 
zuläßt. 

3.  Die  Anordnung  in  den  Lehrgängen  muß  neben  den  sachlich-systematischen  Grundsätzen 
auch  nach  arbeitstechnischen  und  psychologischen  Rücksichten  erfolgen;  sie  hat  femer  zu 
sorgen,  daß  im  Gesamtbilde  des  Lehrplanes  die  Fächer  einander  sich  nicht  bloß  stofflich 
sondern  auch  arbeit  lieh  wechselseitig  fördern  (Prinzip  der  formalen  Konzentration). 

4.  Die  wirksame  Eingliederung  des  werktätigen  Schaffens  in  den  gesamten  Unterricht  als 
Prinzip  verlangt,  daß  in  Form  eines  eigenen  , technischen"  Lehrganges  der  Werkunterricht 
(die  Handfertigkeit)  als  Fach  betrieben  wird. 

in.  Forderungen  für  das  Gemeinschaftsleben. 

Nach  dem  Grundsatze  der  Eigentätigkeit  muß  in  der  Schule,  die  ein  Gemeinschaftsleben 
unter  geregelter  Ordnung,  unter  Verwaltung,  unter  Spiel  und  Feier,  unter  Arbeit  und  persön- 
lichem Verkehr  zu  organisieren  hat,  der  älteren  Schülerschaft  eine  begrenzte  freiere  Mit- 
wirkung zugestanden  werden.  Wie  weit  amerikanische  Vorbilder  für  die  anders  geartete 
deutsche  Schulkultur  anzuerkennen  und  nachzuahmen  sind  und  wie  weit  die  Einrichtungen  und 
Erfahrungen  der  Freien  Schulgemeinden,  die  unter  wesensverschiedenen  soziologischen  Be- 
dingungen stehen,  auf  öffentliche  Schulkörper  sich  als  übertragbar  erweisen,  bedarf  gewissen- 
haftester Erwägung  und  Erprobung. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  197 

C.   Notwendige  Vorbedingungen. 
Zur  Verwirklichung  des  Arbeitsschulgedankens  ist  erforderlich, 

1.  daß  für  die  Ausbildung  und  Fortbildung  der  Lehrerschaft  solche  Bildungsstätten 
geschaffen  und  unterhalten  werden,  in  denen  für  die  Aufgal>en  der  Arbeitspädagogik  das 
berufliche  Rüstzeug  erworben  werden  kann  und  in  denen  insbesondere  die  in  Deutschland 
noch  vernachlässigte  Schulung  in  der  Handbetätigung  einen  Boden  hat  (Reform  der  Lehrer- 
seminare, Ausbau  der  Lehrerseminare  für  Handfertigkeit  in  Leipzig,  Berlin  a,  a.  a.  0.); 

2.  daß  sich  eine  freiheitliche  Schulverfassung  entwickelt,  die  dem  Lehrer  die  Freiheit 
und  Selbst  Verantwortlichkeit  seines  unterrichtlichen  Schaffens  gewährleistet  und  die 
auch  den  Vertretern  der  kulturellen  Lebensgebiete,  vor  allem  der  wirtschaftlichen 
Arbeit,  wie  auch  der  Elternschaft  einen  mitwirkenden  Einfluß  gestattet; 

3.  daß  nach  dem  Stande  der  wissenschaftlichen  Jugendkunde  alle  Mittel  zur  Erkenntnis  des 
kindlichen  Eigenlebens  und  der  Eigenwesenheit  des  Schülers  für  die  Schule  nutzbar  ge- 
macht werden; 

4.  daß  den  Schulen  von  den  Behörden  und  Pflegschaften  eine  äußere  Einrichtung  und 
Ausstattung  zu  geben  ist,  die  sie  zu  geistigen  .Werkstätten  der  Bildung"  erbeben, 
und  daß  allen  Schülern  die  erforderlichen  Lern-  und  Arbeitsmittel  unentgeltlich  ge- 
reicht werden. 

Das  Arbeitsprogramm  des  Deutschen  Ausschusses  für  KleinkinderfOr- 
sorge  wird  im  nachstehenden  Entwurf  veröffentlicht: 

1.  Als  ein  Teil  der  Bestrebungen  für  den  Wiederaufbau  deutscher  Volks- 
kraft ist  die  gesamte  Kleinkinderfürsorge  nach  volkswirtschaftlichen,  volks- 
gesundheitlichen und  volkserzieherischen  Gesichtspunkten  auszubauen.  Nur 
durch  eine  planmäßige  Arbeitsgemeinschaft  von  Staat,  Gemeinde  und  freier 
Liebestätigkeit  ist  dieses  Ziel  zu  erreichen.  Die  Famihe  bleibt  dabei  der 
natürliche  Träger  der  Pflege  und  Erziehung  des  Kleinkindes.  Alle  übrigen 
Einrichtungen  sind  nur  Hilfseinrichtungen  für  die  Familie. 

2.  Ziu-  Besserung  der  Aufwuchsverhältnisse  von  Kleinkindern  sind  volks- 
wirtschaftliche Maßnahmen  zur  Hebung  der  Lage  der  minderbemittelten  und 
der  diu-ch  den  Krieg  in  Mitleidenschaft  gezogenen  Volksschichten  unerläßUch. 
Insbesondere  bedarf  es  einer  zielbewußten  Begünstigung  von  Famihen  mit 
mehreren  Kindern  in  Form  von  Erziehungsbeihilfen,  von  Wohnungsfürsorge 
sov^ie  von  anderen  geeigneten  Mitteln. 

3.  Zur  Verhütung  und  Beseitigung  von  Schädigungen  des  Kleinkindes  sind 
zu  fordern:  a)  vom  Standpimkte  der  Volksgesundheitspflege:  Aufklänmg 
über  zweckmäßige  Ernährung  und  Pflege  des  Kleinkindes,  Hebung  seiner 
Widerstandsfähigkeit,  wirksame  Bekämpfung  der  Entstehungsursachen,  der 
Krankheitserscheinungen  und  der  Folgen  der  Tuberkulose,  der  lympha- 
tischen Konstitution,  der  Rachitis,  der  Erbsyphihs  sowie  der  ansteckenden 
Kinderkrankheiten  im  Kleinkindesalter;  b)  vom  Standpunkte  der  Volks- 
erziehung: Versorgung  der  aufsichtsbedürftigen,  schwer  erziehbaren  oder 
nicht  vollsinnigen  Kleinkinder  sowie  Rücksichtnahme  auf  die  Eigenart  der 
Kleinkinder  innerhalb  der  öffentlichen  Jugendfürsorge  (W^aisen,  Armenkinder, 
FürsorgezögUnge  und  Kostkinder), 

4.  Form,  üreachen  und  Folgen  von  Krankheiten  und  Erziehungsschäden 
im  Kleinkindesalter,  soweit  sie  als  Massenerscheinungen  auftreten,  sind  in 
ihren  wirtschaftlichen  und  sozialen  Zusammenhängen  zu  erforschen,  und  es 
sind  entsprechende  Mittel  der  Abhilfe  zu  erproben.  Unter  Berücksichtigung 
der  Unterschiede  zwischen  städtischen  imd  ländhchen  Verhältnissen  ist 
hierbei  besonderes  Augenmerk  der  Frage  zu  widmen,  inwieweit  die  Familie 


198  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


als  der  natürliche  Träger  der  Pflege  und  Erziehung  der  Kleinkinder  gestützt 
und  ergänzt  werden  muß. 

5.  An  Hilfseinrichtungen  auf  dem  Gebiete  der  Volksgesundheitspflege  sind 
erforderlich:  a)  Fürsorge-  und  Beratimgsstellen  für  Kleinkinder  im  engen 
Zusammenhange  mit  der  Säuglingsfürsorge;  b)  fachlich  in  der  Kleinkinder- 
fürsorge geschulte  Fürsorgerinnen  unter  ärztUcher  Leitung;  c)  Ausbau  von 
Kinderkrankenhäusern  und  Kinderheilstätten;  d)  Bereitstellung  von  Erholungs- 
heimen und  Tageserholungsstätten  für  Kleinkinder;  e)  Ausgestaltung  der  Fa- 
milienversicherung von  Krankenkassen. 

6.  An  Hilfseinrichtungen  auf  dem  Gebiete  der  Volkserziehung  sind  erfor- 
derlich: a)  Tagesheime  (Krippen,  Kindergärten,  Kinderschulen  usw.)  für 
aufsichtsbedürftige  Kinder  in  ausreichender  Zahl  und  in  einer  Form,  die 
berechtigten  Mindestanforderungen  an  Bau,  Einrichtungen  und  Betrieb  ent- 
spricht; b)  fachlich  geschultes  Erziehungspersonal;  c)  Veranstaltungen  zur 
Einwirkung  auf  die  häusliche  Erziehung  und  Pflege  des  Kleinkindes;  d)  Son- 
derkindergärten oder  Sonderkinderheime  für  schwererziehbare,  geistig  minder- 
befähigte oder  nicht  vollsinnige  Kleinkinder. 

7.  Um  in  Stadt  und  Land  von  Staat,  Gemeinden  und  freier  Liebestätigkeit 
getragenen  Bestrebungen  der  Kleinkinderfürsorge  die  Sicherheit  einer  Allge- 
meinwirkung zu  geben,  ist  anzustreben:  a)  die  Zusammenfassung  der  öffent- 
lichen Fürsorge  in  Jugendämtern  und  Jugendausschüssen  für  Stadt-  und 
Landkreise  oder  ähnliche  Verwaltungsbezirke  und  im  Zusammenhange  damit 
Förderung  der  freien  Liebestätigkeit;  b)  die  Schaffung  von  Zweckverbänden 
für  Wohlfahrtspflege  unter  Anlehnung  an  Stadt-  und  Landkreise  oder  ähn- 
liche Verwaltungsbezüke ;  c)  die  stärkere  Nutzbarmachung  der  Hilfsmittel 
der  Sozialversicherung;  d)  die  Gewährung  geldlicher  Beihilfen  an  leistungs- 
schwache Gemeindeverbände  aus  Mitteln  des  Reiches,  der  Bundesstaaten  oder 
der  Provinzen. 

Die  Errichtung  einer  Ausbildungsstätte  für  heilpädagogische  Lehrberufe 

ist  in  Wien  erfolgt.  Der  Lehrplan  dieses  „Heilpädagogiums"  verzeichnet 
nachstehende  Gegenstände:  1.  Halbjahr:  Einführung  in  die  Heilpädagogik. 
Über  Pathologie  der  Sinnesorgane.  Methodik.  2.  Halbjahr:  Geschichte, 
Kongreßberichte,  neue  Lehrmittel,  Einführung  in  die  Literatur.  Anatomie, 
Psychopathologie.  Methodik.  3.  Halbjahr:  Über  Entwicklung  der  Sprache, 
Behandlung  von  Sprachgebrechenr  Psychiatrie  für  Heilpädagogen.  4.  Halb- 
jahr: Behandlung  schwierigster  Fälle  aus  dem  Taubstummen-,  Blinden-  und 
Schwachsinnigenwesen.  Methodik.  Prakt.  Auftritte  in  der  Taubstummen-, 
Blinden-  und  Schwachsinnigenschule  und  -Vorschule.  Es  ist  ferner  ein  durch 
alle  vier  Halbjahre  sich  erstreckender  Kurs  über  experimentelle  Päda- 
gogik (Vortragender  Dr.  W.  Kammel,  Leiter  des  pädagogisch-psychologi- 
schen Laboratoriums  an  der  n.-ö.  Landeslehrerakademie  in  Wien)  vorgesehen  ; 
außerdem  findet  eine  Reihe  ergänzender  Einzelvorträge  statt. 

Zur  Heranbildung  von  Leitern  für  Stotterklassen  und  von  Lehrern  für 
Absehunterricht  bei  Schwerhörigen  und  Ertaubten  ist  im  vergangenen  Jahre 
im  Kanton  Zürich  ein  Lehrinstitut  begründet  worden.  An  den  vorgesehenen 
Kursen  kann  jeder  Lehrer  teilnehmen,  der  sich  in  diesem  Gebiete  vervoll- 
kommnen   will.      Zur   Behandlung   kommen    die    verschiedenen    Alten    von 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  199 

Stummheit,  das  Stottern,  Poltern,  die  verschiedenen  Arten  des  Stammeins, 
besonders  Näseln,  Lispeln,  Agi'ammatismus  und  die  psychogenen  Sprach- 
störungen, unter  den  Stimmstörungen  die  bei  Schülern  so  häufigen  Formen 
von  chronischer  Heiserkeit,  dann  die  Störungen  der  Sprech-  und  Singstimme 
während  der  Pubertät  und  die  nervöse  Stimmschwäche.  Alle  diese  Stimm- 
und  Sprachfehler  kommen  fast  häufiger  im  Kindesalter  als  bei  Erwachsenen 
zur  Beobachtimg.  Besonders  oft  zeigen  sie  sich  bei  den  Insassen  der  Klassen 
für  Schwachbegabte  und  Schwerhörige,  dann  aber  auch  in  allen  Volksschulen 
und  zwar  bis  in  die  höchsten  Schulklassen.  Das  neue  Institut  will  eine  Lücke 
in  den  gemeinnützigen  Anstalten  zum  Wohle  vieler  Schulkinder  ausfüllen  und 
will  die  gewinnsüchtige  Ausbeutung  solcher  Patienten  durch  herumziehende 
Sprachheilkünstler  verhindern. 

Das  pädagogisch-psychologische  Laboratorium  an  der  niederösterreichischen 
Landeslehrerakademie  Wien  legt  den  Bericht  über  sein  5,  Arbeitsjahr 
vor.  Er  wird  erstattet  vom  Leiter  Prof.  Dr.  W.  Kammel.  Trotz  der 
Schwierigkeiten,  die  der  Krieg  auftürmte,  konnte  der  rege  Betrieb  in  vollem 
Umfange  aufrechterhalten  werden.  Es  wurde  wie  in  den  Vorjahren  eine 
größere  Anzahl  von  Untersuchungen  aus  dem  Gebiete  der  empirischen 
Pädagogik  ausgeführt,  und  es  konnten  für  Lehrer  und  Lehrerinnen,  Uni- 
versitätshörer und  Kandidaten  der  Lehrerbildungsanstalten  wie  auch  für 
andere  an  der  Erziehungswissenschaft  interessierte  Kreise  weiterführende 
Bildungsveranstaltungen  geboffen  werden.  Behörden  und  Schulen  haben 
dem  Institute  viel  Unterstützung  und  Anerkennung  gegeben. 

Nachrichten.  1.  Dr.  Max  Brahn,  der  das  psychologische  Institut  des 
Leipziger  Lehrerv-ereins  seit  der  Gründung  im  Jahre  1906  leitete,  hat  sein 
Amt  niedergelegt.  Mit  seiner  glänzenden  Rednergabe,  seiner  pädagogischen 
Begabung  und  seinem  vielseitigen  Wissen  hat  er  dem  Institut  in  uneigen- 
nützigster Weise  große  Dienste  geleistet,  das  Interesse  an  der  experimentellen 
Psychologie  und  Pädagogik  in  weitere  Kreise  getragen  und  die  wissenschaft- 
liche Forschung  auf  diesen  Gebieten  durch  Förderung  der  Einzelarbeiten 
im  Institut  vorwärtsgebracht.  Acht  stattliche  Bände  der  Institutsveröffent- 
lichungen sind  mit  seinem  Namen  als  Herausgeber  gezeichnet.  Zum  Nach- 
folger Dr.  Brahns  ist  der  durch  seine  wissenschafthchen  Arbeiten  bekannte 
Lehrer  Rudolf  Schulze,  der  Gründer  des  Instituts,  gewählt  worden. 

2.  Professor  Dr.  Wilhelm  Peters  in  Würzburg  ist  auf  den  neuerrichteten 
Lehrstuhl  für  Philosophie,  Psychologie  und  Pädagogik  an  der  Mannheimer 
Handelshochschule  berufen  worden. 

3.  Prof.  Dr.  A.  Fischer  in  München  \\ird  dem  an  ihn  ergangenen  Ruf  an 
die  Universität  Basel  nicht  folgen. 

4.  An  der  Freibiu-ger  Universität  ist  der  nichtetatmäßige  a.  o.  Prof. 
Dr.  Jonas  Cohn  zum  etatmäßigen  a.  o.  Professor  für  Pädagogik  und  Phi- 
losophie ernannt  worden. 

5.  In  den  wissenschaftlichen  Vorlesungen  des  Berliner  Lehrer- 
vereins im  Sommer  1919  (90.  Halbjahr)  finden  sich  die  folgenden  philo- 
sophischen, psychologischen  und  pädagogischen  Vorlesungen:  Dr.  A.  Liebert, 
Geschichtsphilosophie;  A.  Bogen,  Zur  Organisation  der  geistigen  Arbeit; 
Dr.  Buchenau,  Einführung  in  die  Theorie  und  Praxis  der  Sozialpädagogik, 


200  Literaturboricht 


dazu  Übungen  und  Referate  im  psychologisch-pädagogischen  Seminare; 
Rektor  Seinig,  Untersuchung  für  die  Erzielung  bewußten  Denkens  in  der 
Volksschule,  mit  Lehrproben.  Rektor  H.  Rebhuhn:  Einführung  in  die 
exakte  Pädagogik  (Fortsetzung  der  Vorlesungen  im  Winterhalbjahr:  Auf- 
merksamkeit, Übung,  Ermüdung;  Anleitung  zu  Beobachtungen  und  einfachen 
Versuchen  für  die  Feststellung  der  seelischen  Eigenart  der  Schüler  und  der 
Ursachen  für  Fehlleistungen  als  Grundlage  fiu*  erzieherische  Maßnahmen; 
neuere  Untersuchungen  über  Anschauungsunterricht,  Lesen,  Schreiben,  Recht- 
schreibung, Rechnen,  Zeichnen). 


Literaturbericht. 

Johannes    Hessen,    Die    Begründung    der    Erkenntnis    nach    dem    hl. 
Augustinus.     Münster  i.  W.    Aschendorf f   1916.    (Beiträge  zur  Geschichte  der 
Philosophie  des  Mittelalters,  herausgegeben  von  Cl.  Bäumker.   Bd.  XIX,  Heft  2.) 
Es  handelt  sich  hier  um   eine  philosophiegeschichtliche  Untersuchung;   nur 
am  Schlüsse  wird  versucht,  die  Augustinische  Theorie  der  Erkenntnis  zur  Philo- 
sophie der  Gegenwart  kurz  in  Beziehung  zu  setzen.    Dabei  zeigt  sich  Verwandt- 
schaft zum  kritischen  Realismus,  sofern  auch  dieser  eine  Metaphysik  für  möglich 
hält  und  —  in  manchen  Vertretern  —  geneigt  ist,  die  Harmonie  von  Denken  und 
Sein   auf  ein  sie   ermöglichendes  und  verbürgendes  göttliches  Wesen  zurückzu- 
führen.    Ferner  berührt  sich  Eucken  mit  Augustinus  in  der  Überzeugung,  „daß 
die    allgemeingültige  Wahrheit  ihren  letzten  Grund  in   einem  absoluten  Geistes- 
leben hat". 

Gießen.  August  Messer. 

Dr.  Bruno  Bauch,   Prof.    an    der  Universität   Jena,    Imanuel   Kant,    Berlin- 
Leipzig  1917.     Göschen.     475  S.,  geb.  12  M.        . 

Der  Literaturbericht  dieser  Zeitschrift  kann  das  philosophische  Schrifttum 
nur  so  weit  eingehender  würdigen,  als  es  deutliche  Beziehungen  zur  Erziehungs- 
wissenschaft unterhält.  Auch  für  ein  so  bedeutendes  Werk  wie  das  vorliegende 
bleibt  ihm  nur  die  Pflicht  der  Anzeige.  Innerhalb  der  Fülle  von  Kantschriften 
aus  den  letzten  Jahrzehnten  hat  das  Buch  seinen  Platz  neben  Kuno  Fischers 
Gesamtdarstellung,  seit  deren  Erscheinen  aber  die  Kenntnis  der  Kant'schen  Philo- 
sophie und  ihrer  erhöhten  Bedeutung  für  unser  Geistesleben  doch  so  wesentlich 
erweitert  worden  ist,  daß  ihr  mit  Recht  ein  neuer  Versuch,  das  Ganze  der  Lehre 
Kants  in  einheitlichem  Bilde  breiter  und  streng  wissenschaftlich  zu  erfassen,  zur 
Seite  gestellt  werden  durfte.  An  kürzer  gefaßten  Schriften,  die  in  Kants  Lehre 
weitere  Kreise  einführen  wollen,  ist  ja  kein  Mangel;  Bruno  Bauch  selbst  hat  vor 
seinem  großen  Werke  im  gleichen  Verlage  eine  solche  Darstellung  erscheinen 
lassen,  Tr. 

Hegels    Philosophie.     Für    die    deutsche    Bibliothek    herÄusgegeben    von  Karl   Paul   Hasse. 
Deutsche  Bibliothek  in  Berlin.     232  S. 

Das  schmuck  ausgestattete  Bändchen  vereinigt  unter  einer  Reihe  philosophischer  und 
kulturwissenschaftlicher  Schlagwörter  kürzere  Auszüge  aus  Hegels  Schriften,  vor  allem  seiner 
Ästhetik,  die  —  so  heißt  es  im  Vorwort  —  dem  sllgemeinen  Verständnis  am  nächsten  liege 
und  zu  Unrecht  verkannt  imd  vergessen  sei.  Um  ein  dieser  Zeitschrift  näherliegendes  Beispiel 
herauszugreifen,  sei  angeführt,  daß  der  Abschnitt  „Die  Erziehung  zur  Bildung"  einige  Stellen 
aus  den  Gymnasialreden  aneinanderfügt.  Die  Abfolge  der  Gedankengruppen  folgt  im  allgemeinen 
dem  großen  Zuge  des  Hegeischen  Systems.  Eine  Einleitung  des  Herausgebers  versucht,  in  die 
Gedankenwelt  des  „unausdenkbaren  Schwaben"  einzuführen,  ist  aber  nur  dem  philosophisch 
Geschulten  verständlich.  Doch  will  das  Bändchen  gerade  gedacht  sein  als'  eine  Gabe  an  einen 
größeren  Leserkreis.  Tr. 


Literaturbericht  201 


Dr.  B.Maydorn,  Zeitfragen  der  Gegen-Äart  in  Fichtes  Reden  an  die  de  utscheNation^ 
Theod.  Weicher,  Leipzig  1917.     70  S.  geb.  1,30  M. 

Die  Gegenwart  bietet  mit  der  Zeit  Ficlites  sehr  viele  Berührangspunkte ,  anderseits  haben 
Fichtes  Auffassungen  vom  Staat  und  vom  Deutschen  eine  von  der  Zeit  abhängige  Bedeutimg 
und  sind  in  einer  solchen  Sprache  niedergelegt,  um  auch  heute  noch  zur  Stärkung  vaterländischer 
Begeisterung  zu  dienen  und  zum  Leben  in  der  Idee  anzuregen.  M.  benutzt  neben  den  , Reden'' 
auch  noch  die  „Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters"  und  den  ,gesclilossenen  Handelsstaat"' 
Auch  die  Fragen  der  Aimexion,  der  Abrüstung,  des  Schiedsgerichts,  des  ewigen  Friedens  finden; 
eine  Beleuchtung  vom  Fichteschen  Geiste  aus. 

Bonn.  ■   O  skar  Ku  tzner. 

Dr.  med.  H.  Krauser,  ObermedizLnalrat,  Krankheit  und  Charakter.    Wand- 
lungen der  Persönlichkeit  in  gesunden  und   kranken  Tagen.      Stuttgart   1916. 
Strecker  &  Schröder.    213  S.     4,40  M. 
Immer    die  Beziehungen    zwischen    körperlichem   und  geistigem  Leben  auf- 
zeigend,  verfolgt  das  Buch   eingangs  die   Entwickelung  der  Persönlichkeit.     Es 
werden  dann  Krankheiten  behandelt,  die   sich  dem  Ausreifen  und  dem  Wirken 
des  sittlichen  Charakters  hemmend   entgegenstellen.     Den  Schluß  bilden  Winke 
und  Ratschläge  zur  Abwehr,  worunter  sich  u.  a.  auch  pädagogische  Ausführungen 
über  Fürsorgeerziehung,  sexuelle  Aufklärung,  Strafen  u.  a.  finden.  Tr. 

Paul  Hildebrandt,  Vom  Seelenleben  unserer  Schüler.  Ein  Beitrag  zur  Schulgeschichte- 
1914—1918.     Mitteldeutsche  Verlagsanstalt  G.  m.  b.  H.,  Mügeln.     0.  J.     56  S.     1,50  M. 

Der  bekannte  pädagogische  Mitarbeiter  der  Voss.  Ztg.  gibt  hier  einen  sehr  dankenswerten 
dokumentarischen  Bericht  über  die  seelischen  Einwirkungen  des  Krieges  auf  das  deutsche  Schul— 
und  Schülerleben.  Der  Titel  ist  vielleicht  etwas  irreführend;  denn  der  Nachdruck  liegt  nicht 
sowohl  anf  dem  Seelenleben  der  Schüler  selbst,  sondern  auf  der  Schilderung  der  Bedingungen, 
imter  denen  die  Schwankungen  des  Seelenlebens  standen.  Am  Anfang  ein  beispielloser  Auf- 
schwung \ind  eine  Begeisterung  von  höchster  Spannung,  am  Ende  —  das  Buch  ist  im  August 
1918  abgeschlossen —  ein  wenig  erfreuliches  Bild:  Abgestumpftheit  und  Gleichgültigkeit,  starkes 
Nachlassen  des  Lerneifers  und  des  Pflichtbewusstseins,  Verringerung  der  Büdungshöhe,  Verwahr-^ 
losimg  und  Zunahme  der  Kriminalität.  Und  dazwischen  die  vielen  Einwirkungen  des  Kriegs  aut 
das  Schulleben:  die  Notprüfungen  mit  herabgesetzten  Ansprüchen,  die  Erntehilfe  und  die  Kohlen- 
ferien, die  Beteiligung  der  Schüler  an  Sammlungen  aller  Art,  die  militärischen  Jugendübungen ,^ 
die  Erschütterung  der  häuslichen  Verhältnisse,  die  verringerte  körperliche  und  geistige  Wider- 
standskraft infolge  des  Ernährungselends  —  all  dies  wird  knapp,  aber  in  treffender  Hervorhebung, 
des  Wesentlichen   und  mit  vielen  amtlichen  und  anderen  Belegen  geschildert. 

Das  Buch  erscheint  erst,  nachdem  die  in  ihm  geschilderte  Epoche  einen  jähen  Abschluß 
gefunden  hat;  von  den  wieder  ganz  neuen  Seelenwirkungen,  welche  die  Revolution  auf  die 
Jugend  ausübt,  berichtet  es  uns  nicht.  So  ist  es  wirklich,  wie  es  sieh  im  Untertitel  nennt,  ein 
Stück  Schulgeschichte,   freilich  eine  solche  der  neuesten  Zeit 

Hamburg.  William  Stern. 

Dr.  med.  Stadelmann,  Die  Bedeutung  des  Kindheitserlebnisses  für  die  Aus- 
gestaltung der  Lebensführung.     Dresden  1917.     Huhle.     19  S.     M.  0,65. 

Das  Schriftchen  legt  in  gemeinverständlicher  Weise  dar,  wie  Eindrücke  der  Kindheit  in  der 
seelischen  Verfassung  des  Erwachsenen  oft  mit  entscheidender  Kraft  nachwirken.  Es  ist  vor 
allem  die  Erscheinung  der  Verdrängung  —  einer  der  fruchtbarsten  Begriffe  der  Psychoanalyse  — ,, 
den  Stadelmann  erläutert  und  mit  Beispielen  belegt.  Freilich  bezieht  sich  Stadelmann  nicht  aus- 
drücklich auf  die  psychoanalytische  Forschung  und  hält  sich  glücklicherweise  von  all  ihren  ge- 
fährlichen Einseitigkeiten  und  €T)ertreibungen  fern,  besonders  dort,  wo  er  die  Bedeutung  sexueller 
Kindheitserlebnisse  berührt  (S.  10).  Ein  pädagogischer  Gnmdgedanke  Stadelmanns  ist  es,  daß 
die  übliche  ,,Verbotserziehung'"  gefahrvoll  sei :  sie  wirke  lähmend  auf  das  Kind,  zerschlage  sein 
Eigenes  imd  führe  schwere  Willensmängel  im  späteren  Leben  herbei.  Wie  solche  Folgen  schäd- 
licher Kindheitserlebnisse  nachträglich  zu  beheben  seien,  wird  von  Stadelmann  nicht  behandelt ; 
vielleicht,  daß  er  hier  gegen«  manches  fragwüixlige  Gebaren  psychoanalytischer  Praxis  Stellung 
hätte  nehmen  können.  Wohl  aber  versäumt  er  nicht  die  Frage,  wie  hemmende  Einflüsse  in  der 
Kindheit  zu  vermeiden  und  wie  fördernde  Erlebnisse  einzubauen  seien.  „Jeder  Erzieher''  —  so* 
seine  Grundlehre  —  „muß  danach  trachten,  daß  Hemmungen  beim  Ablauf  des  kindlichen  Seelen— 


^02  Literaturbericht 


''lebens  zu  Stauungen  führen."  (S.  17.)  Dies  aber  erfordert  eine  gründliche  Kenntnis  des  kind- 
lichen Eigenlebens.  —  Stadelmann  hat  als  Nervenarzt  wiederholt  in  pädagogischen  Fragen  das 
Wort  ergriffen.  Seine  neue  Schrift  ist  eine  seiner  besten  Äußerungen  —  nach  den  Ansprüchen, 
die  sie  an  wissenschaftliche  Schulung  stellt,  wohl  weniger  für  den  fachmännischen  Pädagogen 
als  vielmehr  für  die  Elternschaft  bestimmt.  Man  wird  ihn  hier  hoffentlich  nicht  dahin  miß- 
verstehen, daß  eine  pädagogische  Pflege,  die  alle  Tyrannei  der  „Verbotserziehung"  aufhebt,  etwa 
jeden  Zwang  und  jegliche  straffe  Zucht  meiden  soll. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Charlotte  Bühler,  Das  Märchen  und  die  Phantasie  des  Kindes.  17.  Beiheft  d.  Z.  f. 
angew.  Psych.  Leipzig  1918.  Barth.  82  S.  4  M. 
Das  erdenweit  verbreitete  Märchen  bildet  die  Anfangsstufe  der  erzählenden  Dichtung.  In 
seiner  ursprünglichen  Form  sucht  es  hauptsächlich  die  Erscheinungen  der  Natur  und  die  Er- 
fahrungen der  Menschen  aus  der  Phantasie  zu  erklären,  wobei  Wunder  und  Zauber  die  größte 
Rolle  spielen.  Im  Bereiche  des  europäischen  Kulturkreises  ist  das  Märchen  vorwiegend  Literatur 
des  Kindes  geworden,  und  unser  Märchenschatz  ist  mehr  und  mehr  dem  kindlichen  Geiste  an- 
gepaßt worden.  Die  Beziehungen  nun,  welche  zwischen  dem  Märchen  und  der  Phantasie  des 
Kindes  bestehen,  untersucht  Charlotte  Bühler  in  ihrer  Monographie,  wobei  sie  von  den  Grimm- 
schen Märchen  ausgeht.     In  diesen,  wie  in  fast  allen  Kindermärchen,  spielen  die  Kinder  selbst 

•  die  Hauptrolle  und  zwar  sind  es,  soweit  die  Verhältnisse  beschrieben  werden,  Kinder  aus  sehr 
armem  oder  aber  aus  königlichem  Hause.  Zum  Teil  erklärt  sich  das  wohl  daraus,  daß  manche 
Märchen  aus  einer  Zeit  stammen,  in  der  das  Bürgertum  noch  keine  hervorragende  Rolle  spielte. 
Wichtiger  aber  dafür,  daß  man  jene  Verhältnisse  so  treu  bewahrt  hat,  ist  wohl  der  Umstand, 
daß  gerade  sie  der  Phantasie  und  dem  Gefühl  einen  besonderen  Reiz  boten.  Das  Kind  hat  Ver- 
gnügen am  Anblick  von  Glanz  imd  Pracht,  und  das  Kind  ist  mitleidig.  Beide  sehr  charak- 
teristische Züge  finden  in  jenen  Verhältnissen  am  besten  Befriedigung.  Von  großer  Bedeutung 
sind  unter  den  Märchengestalten  die  Tiere  und  personifizierte  Gegenstände,  sowie  die  Fabel- 
wesen: Zwerge,  Riesen,  Hexen.  Neben  diesen  handelnden  Personen  treten  im  Märchen  nur  noch 
bestimmte  Typen  zur  Staffage  auf.  Die  Charaktere  sind  einfach,  ein  Wesenszug  füllt  sie  hin- 
reichend aus ;  sie  sind  meist  als  Extreme  aufgefaßt  und  stehen  in  gegensätzlicher  Beziehung  zu 

'einander,  um  die  Eigenschaften  der  Personen  am  wirksamsten  hervorzuholen,  so  wie  es  den 
kindlichen  Fähigkeiten  am  besten  entspricht.  Die  Abstraktionsfähigkeit  des  Kindes  ist  gering, 
und  damit  verbietet  sich  die  Einführung  komplexer  Charaktere.  Die  Personen  sind  keine  Indi- 
vidualitäten, sondern  Typen.  Die  Moral  des  Märchens  ist  einfache  und  gesunde  Volksmoral  mit 
starken  Instinkten,  starken  Sympathien  und  Antipathien;  dem  Tiermärchen  fehlt  die  morali- 
sierende Tendenz  ganz.  Tiergestalten  und  Fabelwesen  werden  in  die  Märchen  eingeführt,  weil 
sie  das  Kind  erfreuen,  lustbetontes  Empfinden  hervorrufen.  Die  Vermenschlich ung  von  Tieren 
und  Gegenständen  ist  vor  allem  ein  Zeichen  der  Dlusionsfähigkeit  des  Kindes.  Unerfahrenheit 
mit  der  Natur  —  wie  Bühler  meint  —  ist  nicht  der  tiefere  Grund  hiervon.  Die  bewußte  Selbst- 
täuschung des  Kindes  ist  darauf  zurückzuführen,  daß  sich  das  Denken  des  Kindes  in  Analogie- 
bildungen bewegt.  Das  ist  auch  für  die  vielfachen  Übertragungen,  wie  Merkmalübertragung,  All- 
beseelung usw.  verantwortlich,  mögen  diese  nun  in  denkendem  Phantasieren  oder  in  praktischer 
Betätigung  sich  letzten  Ausdruck  verschaffen.  Die  kombinatorische  Phantasie  ist  dagegen  beim 
Kinde  erst  schwach  entwickelt. 

Für  das  Milieu  des  Märchens  stellt  Bühler  folgenden  Satz  auf:  eine  ausdrückliche  Be- 
schreibung findet  nur  dann  statt,  wenn  ein  plötzlicher  Übergang  in  eine  neue  Umgebung  ein- 
getreten ist;  die  zu  Beginn  gegebene  Situation,  das  gegebene  Milieu,  wird  gewöhnlich  nicht 
beschrieben.  Von  dieser  Regel  gibt  es  nur  wenige  Ausnahmen.  Damit  im  Einklang  steht,  daß 
im  Märchen  —  trotz  des  Nebeneinanderauftretens  von  Königen  und  Bettlern  —  jede  soziale  und 
kulturelle  Distanz  glattweg  aufgehoben  ist.  Bühler  sagt:  Diese  Verhältnisse  wird  man  zunächst 
jedenfalls  historisch  zu  würdigen  haben;  sie  werden  ihren  Entstehungsgrund  in  den  Wünschen 
und  geheimen  Träumen  des  niederen  Volkes  finden,  bei  dem  das  Märchen  zu  Hause  war.  Aber 
wie  den  Wünschen  des  Volkes,  so  entspricht  all  das  zweifellos  der  inexplizierten  Erwartung, 
mit  der  das  Kind  dem  Leben  als  etwas  Wunderbarem  und  Freudigem  entgegenträumt.  Das 
Kind  ist  gläubig  und  optimistisch;  auch  ist  es  zum  Frohsinn  veranlagt,  wenn  nicht  Kummer  es 
frühzeitig  stört.  Es  glaubt  an  alle  die  glücklichen  ZufäUe,  mit  denen  das  Märchen  arbeitet, 
ja  es  rechnet  auf  sie.  Auch  fehlt  dem  Kind  noch  das  Wissen  hm  die  mannigfaltigen  Unter- 
schiede der  Bildung,  Geburt  und  Veranlagung,  welche  die  Menschen  meist  als  unüberbrückbare 
Kluft  voneinander  trennen.  Das  Märchen  entspricht  hier,  wie  in  vielem,  gerade  dem  Erfahrungs- 
ikreis  und  dem  Wissen  des  Kindes. 


Litoraturbericht  203 


Die  Handlung  des  Märchens  ist  dadurch  ausgezeichnet,  daß  das  bewußte  Streben  nach  einem 
"Ziel  mangelt.  Wo  es  sich  in  Einzelakten  tatsächlich  um  zielstrebiges  Denken  handelt,  wird 
nicht  dieses  selbst,  sondern  nur  sein  Ergebnis  berichtet.  Die  Handlung  erschöpft  sich  in  einer 
Reihe  merkwürdiger  und  spannender  Ereignisse,  Taten  und  Abenteuer.  Auf  sie  allein  kommt 
es  wirklich  an.  Die  Ereignisse  sind  nicht  innerlich  verkettet;  es  besteht  keine  andere  Ver- 
knüpfung der  Handlimgen  als  das  Nacheiiiander  der  Zeitfolge.  Die  Wundertaten,  und  vor  allem 
die  Verwandlungen,  nehmen  einen  breiten  Raum  ein.  Der  erwartungsvolle  Geist  des  Kindes 
verlangt,  daß  etwas  besonderes  geschehen  soll,  das  den  Rahmen  des  Alltags  sprengt,  das  einem 
Traume  gleicht  und  die  nach  Stoff  suchende,  umherschweifende  Phantasie,  wie  das  unbeschäftigte 
Denkvermögen,  anzuregen  und  zu  fesseln  geeignet  ist.  Wir  begegnen  beim  Volk  wie  beim  Kinde 
■einer  unkonzentrierten,  unbeschäftigten  und  ungeschulteu  geistigen  Anlage,  einem  Keim  geistigen 
Lebens,  der  Entfaltung  in  irgendeiner  ihm  unbekannten  Richtung  sucht.  Es  fehlt  ihm  die  Ziel- 
strebigkeit des  gebildeten  Geistes,  und  irgendeine  unklare  Expansion  verdichtet  sich  ihm  zu 
Hoffnungen,  Wünschen,  Erwartungen  eines  Geschehens,  das  die  Befriedigung  des  unverstandenen 
Bedürfnisses  bringen  soll. 

Die  Wunderhandlung  oder  das  außergewöhnliche  Zufallsereignis  sind  die  Anregungen,  die 
den  Geist  des  Kindes  beschäftigen  und  erheben  können.  Die  immerwährende  Wiederkehr  von 
Wundem  im  Märchen  ist  darauf  zurückzuführen,  daß  der  rasche,  vom  Wunsch  dirigierte  Vor- 
stellungswechsel  an  sich  für  das  Kind  eine  Quelle  der  Lust  ist.  Sehr  zutreffend  schreibt 
Bühl  er:  So  sicher  das  Wunder  im  Mittelpxmkt  der  echten  Märchenhandlung  steht,  gelangen  wir 
mit  ihm  an  die  wichtigsten  Beziehungspunkte  des  Märchens  zu  der  Phantasie  des  Kindes:  in 
einem  von  Wünschen  dirigierten,  durch  den  Affekt  des  Außergewöhnlichen  bestimmten  und 
durch  keine  Verstandeskritik  gehemmten  Vorstellungsspiel  sucht  die  kindliche  Phantasie  ihre 
regste  Entfaltung.  Sie  mag  hier  in  etwas  der  Traumphantasie  nahekommen,  die  wiederum  um- 
gekehrt vielleicht  die  Vorbilder  für  die  Wundergescbichten  geliefert  hat.  Nächst  den  Wunder- 
märchen sind  die  häufigsten  die,  welche  von  Taten  und  Abenteuern  des  Helden  oder  der  Heldin 
berichten,  die  ebenfalls  in  der  Regel  außergewöhnlich  sind  und  dadurch  die  kindliche  Phantasie 
anregen.  Erwachsenen  kommen  solche  Handlungen  phantastisch  vor,  das  Kind  findet  sie  natür- 
lich. Es  nimmt  auch  daran  keinen  Anstoß,  daß  die  Märchenhandlungen  meist  nur  durch  den 
Affekt  motiviert  sind  und  der  intellektuellen  Begründung  entbehren,  denn  es  tut  selbst  im  Spiel 
vieles  grund-  und  zwecklos,  weil  es  ohne  Überlegung  Instinkt-  und  affektmäßig  handelt.  Das 
Märchen  ist  typische  Anschauungsliteratur.  Alles  was  man  an  Mitteln  äußerer  Wahrnehmung 
hat,  wird  aufgeboten.  Durch  plötzliche  Veränderungen,  Verwandlung,  Verkleidung  usw.  sowie 
Proportionsverschiebungen,  die  auf  das  Erfassen  von  Unterschieden  verschiedenster  Art  gerichtet 
sind,  wird  der  Vorstellungsmechanismus  geübt.  Ein  begleitendes  Moment,  das  die  anschauliche 
Tätigkeit  des  Kindes  überall  charakterisiert,  ist  ein  lebhafter  Gefühlston,  der  auf  das  Schauen 
gelegt  wird.  Schon  das  Schauen  selbst  ist  für  das  Kind  eine  Lust.  So  ist  der  Gefühlston, 
der  sich  auf  das  einzelne  Bild  heftet,  schon  an  sich  intensiv  akzentuiert:  außerdem  werden  offen- 
bar gefühlsbetonte  Bilder  den  sachlichen  und  ruhigen  vorgezogen. 

Der  Intellekt  tritt  in  den  Märchen handlungen  zurück :  er  wird  nur  der  Komik  dienstbar 
gemacht  für  das  Motiv  der  Überlistung  und  der  Torenstreiche;  selbst  wo  so  etwas  wie  Scharf- 
sinn verlangt  und  hervorgehoben  wird,  liegt  eigentlich  eine  vollständige  Verkennung  der  Ver- 
standesleistung vor. 

Die  Schrift  Ch.  Bühlers,  aus  der  hier  einige  Gedankengänge  hervorgehoben  wurden,  bietet 
reichlich  Anregung  zu  weiteren  Untersuchungen  ül)er  die  Beziehungen  zwischen  der  kindlichen 
Psyche  und  der  Kinderliteratur,  als  welche  vornehmlich  die  Volksmärchen  in  Betracht  kommen. 

München.  Hans  Fehlinger. 

F.   Queisser,     Aus    meiner  Sammelmappe    psychologischer  Unterrichtsversuche. 
Leipzig  1919.     Schulwissenschaftlicher  Verlag  A.  Haase.     16  S.     1,00  M. 

Unter  Verwendung  zahlreicher  zweckdienender  Abbildungen  beschreibt  Queißer  eine  kleine 
Reihe  selbstgefundener  einfacher  Versuche.  Sie  betreffen  die  dreidimensionale  Auffassung 
flächenhafler  Darstellungen  (zum  Teil  umkehrlwre  optische  Täuschungen),  die  relativen  Bewegungs- 
erscheinungen auf  rotierenden  Scheiben,  eine  besondere  Form  positiver  Nachbilder,  den  simul- 
tanen Kontrast,  die  Akkomodation  des  Auges,  die  erschwerte  Betätigung  von  Muskeln  in  un- 
gewohnter Stellung.  Es  handelt  sich  also  um  Versuche,  die  überwiegend  in  physiologische  Zu- 
sammenhänge führen.  Wir  haben  die  Queisserschen  Versuche  durchgeprüft  und  für  die  Ein- 
gliederung in  den  seelenkundlichen  Unterricht  als  brauchbar  gefunden.  Es  darf  aber,  besonders 
im  Lehrerseminare,  das  sinnesphysiologische  Experiment  nicht  auf  Kosten  des  „rein  psycholo- 
gischen' Versuchs,  der  sich  heute  im  Gebiete    der  höheren  seelischen  Leistungen  reichlich  und 


204     ■  Literaturbericht 


in  gut  technisierter  Form  anbietet,  zu  weit  ausgedehnt  werden.  Dafür  mag  der  naturwissen- 
schaftliche Unterricht  mit  seinen  sinnesphysiologiscben  Einschlägen  dem  Fache  „Psychologie"^ 
wirksam  vorarbeiten. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Uve  Jens  Kruse,  Lebenskunst,  Ein  Wegweiser  in  die  neue  Zeit.  Buchenbach  in  Baden 
1918.  Felsenverlag.  117  S.  4,50  M. 
Die  .Lebenskunst*  Kruses  gibt  vornehmlich  praktische  Anweisungen  zur  Schulung  des 
Willens.  Als  Beispiele  der  behandelten  Themen  seien  genannt:  ,Die  Kunst  des  Befehlens"  — 
„Selbsterziehung  zu  Mut  und-Geistesgegenw^arf  —  »Wie  man  Entschlüsse  faßt"  —  „Bemeiste- 
rung  der  Affekte".  In  viel  gute  Lebens-  und  Erziehungsweisheit  fließt  in  den  empfohlenen 
Maßnahmen  auch  einiges  Gekünstelte  und  Überbetonte  ein.  Die  peinliche  Erfüllung  aller  der 
angeratenen  Selbstbeobachtungen  und  Selbstüberwachungen  und  Selbstbeeinflussungen  wird 
nur  zu  leicht  die  Natürlichkeit  des  persönlichen  Wesens  schädigen  können.  Im  ganzen  aber 
ist  das  Buch  eine  Fundgrube  guter  Willensregeln.  Ich  gestehe  gern,  Kruse  mancherlei  zu  danken, 
wenn  nicht  im  Sinne  des  Verfassers  für  eine  Eigenerziehung,  so  doch  für  meine  Erzieherarbeit 
an  der  Jugend.  Vielleicht  wird  noch  manch  anderem,  der  mit  mir  der  Meinung  ist,  daß  die  Schule 
gröblich  die  Willenspflege  zugunsten  einseitiger  Verstandesbildung  vernachlässigt,  und  der  gleich- 
falls nach  Wegen  zu  neuem  Schulerziehungsgeiste  sucht,  die  Schrift  einige  Förderungen  bringen. 
Ich  empfehle  übrigens  das  Buch  auch  dem  Fachpsychologen.  Zwar  wird  Kruse  kaum  in  der 
wissenschaftlichen  Psychologie  zu  Hause  sein,  wenigstens  weicht  er  geflissentlich  der  Fachsprache 
aus.  Aber  mit  feinem  psychologischen  Instinkte,  offenbar  an  strenger  Selbstbeobachtung  ent- 
wickelt, versteht  er,  seelische  Sachverhalte  scharf  zu  erfassen,  abzugrenzen,  herauszuheben  und 
treffsicher  zu  bezeichnen.  Einige  seiner  Formulierungen  könnten  recht  wohl  in  die  wissenschaft- 
liche Psychologie  herüber  genommen  werden.  Jedenfalls  aber  kann  der  Fachmann  aus  Kruses 
Schrift  hier  und  da  Anregungen  zu  neuer  Fragestellung  gewinnen. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Friedrich  Schulz,  Wollen  und  Vollbringen.  Eine  Anleitung  zur  Lebensführung.  Stutt- 
gart o.  J.     Strecker  &  Schröder.     83  S,     1,50  M. 

Ein  Lebensbüchlein,  das  jungen  Leuten  die  Wege  zu  einer  Selbsterziehimg  des  Willens 
weisen  will.  Ohne  in  flaches  Moralisieren  zu  verfallen,  leitet  es  u.  a.  an,  die  Gefühle  zu 
meistern,  die  Gedanken  zu  ordnen,  mit  Freuden  zu  arbeiten,  dem  Nächsten  zu  dienen,  in  Ge- 
duld zu  leiden.  Die  Ratschläge,  die  es  zur  Hinführung  auf  solche  sittliche  Tüchtigkeit  erteilt, 
sind  in  religiösem  Grund  verankert.  Es  ist  diese  kleine  Willensschule  alles  andere  als  ein 
wissenschaftlich  begründetes  Buch,  vermag  aber  für  die  Psychologie  und  Ethik  doch  den  und 
jenen  Hinweis  zu  geben  und  auch  für  den  Moralunterricht  in  der  Schule  einige  Handreichungen 
zu  tun.  Seh. 

Nikolaus  Faßbinder,  Konrektor,  Das  Glück  des  Kindes.  Erziehungslehre  füi- Mütter  und 
solche,  die  es  werden  wollen.   Freiburg  1918.   Herdersche  Verlagshandlung.   242  S.  kart.  4  M. 

In  dem  beifällig  aufgenommenen  Buche  „Am  Wege  des  Kindes"  hatte  Faßbinder  ver- 
sucht, auf  dem  Wege  der  Erzählung  dei}  alten  Gedanken  einer  Mütterbelehnmg  zu  verwirklichen. 
Seine  neue  Schrift  bringt  eine  mehr  systematische  Darstellung  der  Hauserziehung,  Sie  behandelt 
die  Pflege,  das  Seelenleben  und  die  Tugendfühi'ung  des  Kindes.  Kennzeichnend  für  die  Be- 
handlung ist  die  stete  Verdeutlichung  am  anschaulichen  Beispiel.  Angestrebt  findet  sich  durchweg 
leichte  Verständhchkeit  und  Vermeidung  alles  gelehrten  Beiwerkes.  Ein  zu  vordringlicher  Zug 
des  Erziehungsgeistes,  der  die  anregend  abgefaßten  Kapitel  durchwaltet,  ist  das  Streng-religiöse. 
Damit  verbindet  sich  eine  gewisse  Enge  imd  überpeinliche  Ängstlichkeit  in  den  empfohlenen 
Maßnahmen  zur  sittlichen  Erziehung  des  Kindes  (vgl,  z.B.  die  Hinweise  auf  den  Umgang  mit 
dem  anderen  Geschlechte,  S.  186).  Aber  auch  wer  den  ausgeprägten  Anschauungen  einer  katho- 
lischen Hauspädagogik  nicht  beipflichten  kann  und  der  werdenden  Persönlichkeit  für  ihre  natür- 
liche Entfaltung  weit  mehr  Freiheit  zugestehen  muß,  als  es  Faßbinder  den  Eltern  ans  Herz  legt,. 
wird  sein  etwas  brav-altmodisches  Buch,  geschrieben  aus  offenbar  reichen  Erfahrungen  und  guter 
Erziehergesinnung,  mit  Nutzen  lesen.     Es  erfreut  zudem  durch  eine  fließende  Darstellung. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

H.  E.  Schomburg,  Der  Wandervogel,  seine  Freunde  und  Gegner.  Wolfenbüttel  1917. 
Jul.  Zwißler.     112  S.     1,80  M. 

Die  aufkommende  neue  Zeit  mit  ihrem  ungestümen  Drängen  nach  „Verjüngung"  richtet  die 
Aufmerksamkeit  fester  auch  auf  den  Wandervogel,  der  über  den  Krieg  sehr  vielen  seiner  Freunde 


Literaturbericht  205 


und  Gegner  und  vor  allem  den  Gleichgültigen  aus  dem  Blick  geschw-unden  war.  Denn  die  Ge- 
danken und  Sehnsuchten,  die  im  Treiben  der  Wandenögel  nach  Erfüllung  suchten,  gewinnen 
heute  allgemeinere  Geltung.  Wer  das  Gären  in  der  Jugend  verstehen  will,  Verständnis  ge-winnen 
möchte  für  die  Tatsachen  eines  jugendlichen  Eigenlebens,  wird  aus  dem  Kreis  seines  Studiums 
den  Wandervogel  nicht  ausschließen  dürfen.  Die  Schrift  Schomburgs  sei  für  solche  Orientierung 
empfohlen:  von  ihr  aus  sind  dann  die  Wege  zu  gründlicherer  Vertiefung  in  das  Tatsächliche 
und  Problematische  leicht  zu  ge-winnen.  Ich  selbst  verdanke  ihr  bei  guter  Kenntnis  einzelner 
Erscheinungen  und  bei  eigenem  Durchdenken  der  wichtigsten  Fragen  einen  Überblick  über  die 
gegenwärtige  Lage  und  die  Aufhellung  einiger  wesentlichen  Zusammenhänge. 

Schomburg  gibt  zunächst  einen  Abriß  der  kurzen  Geschichte  des  Wandervogels,  seiner  äußeren 
und  inneren  Entwicklung.  Als  die  Periode  des  Ausreifens  kennzeichnet  er  als  besonders  wichtig 
die  Jahre  von  1907 — 1913.  Er  versucht,  den  Gewinn  dieser  Zeit  klar  herauszuarbeiten,  und  findet 
ihn  in  folgenden  Tatsachen:  Das  Verständnis  für  das  Volkslied  ist  Allgemeingut  der  Wander- 
vögel geworden;  sie  schufen  sich  in  den  Bundes-  und  Gaublättem  ein  eigenes  Schrifttum;  es 
gelang,  für  ein  rechtes  Wandern  die  angemessenen  Formen  zu  entwickeln;  bedeutsam  wird  das 
Aufkommen  des  Mädchenwandems ;  über  die  Wanderungen  hinaus  beginnen  die  Gruppen,  ihren 
Geist  im  Landheim  und  Stadtnest  zu  pflegen;  die  Lebensauffassung  wird  vertieft  und  für  alle 
Lebensgebiete  auf  festere  Formen  gebracht.  —  Sehr  gründlich  setzt  sich  Schomburg  dann  mit 
Hans  Blüher  und  Gustav  Wyneken  auseinander.  Seine  Ausführungen  wirken  hier,  besonders 
gegen  Blüher,  dem  aus  Wander^-ogelkreisen  bislang  nicht  entgegnet  worden  ist,  in  sehr  wichtigen 
Punkten  klärend.  In  dem  Abschnitte  ,Haus,  Schule  und  Kirche"  findet  sich  Schomburg  u.  E. 
zu  leicht  mit  den  Spannungen  ab,  die  sich  zwischen  diesen  festgefügten  Lebensgebieten  und  den 
Ansprüchen  der  Wander%'ögel  natnmotwendig  ergel)en.  —  Die  beiden  letzten  Teile  sind  schließ- 
lich dem  Versuche  gewidmet,  die  anderen  Richtungen  der  Jugendbewegung  —  besonders  die 
Bestrebungen  der  Freideutschen  —  in  ihren  Beziehungen  zu  den  Wandervögeln  grundsätzlich 
und  geschichtlich  darzustellen. 

Der  Verfasser  stellt  sich  als  Pastor  vor,  der  wandernd,  verwaltend  und  leitend  am  Wander- 
vogel teilgenommen  hat  und  in  dem  bis  zur  Zeit  —  er  nähert  sich  den  Fünfzig  —  die  Be- 
geisterung früherer  Jahre  nicht  erloschen  ist.  Man  wird  nach  Vorlegung  dieser  ,,  Berechtigungen" 
sich  gern  von  ihm  aufklären  und  belehren  lassen.  Zur  Kennzeichnung  seiner  Art  zu  urteilen,  sei 
eine  Stelle  angeführt,  die  sich  gegen  Blühers  Schulanklagen  wendet  und  bei  den  überheblichen 
Forderungen  unserer  gegenwärtigen  Schülorbewegung  besonders  angebracht  ist  (S.  40):  .Selb- 
ständiges Denken  und  Handeln  vollzieht  sich  nicht  nur  im  Wege  der  Loslösung  vom  Über- 
kommenen, sondern  im  Wege  der  bewußten  und  unbewußten  Aneignung  alten  Gutes.  Je  älter 
ich  geworden  bin,  umso  mehr  habe  ich  gelernt,  die  Wurzeln  dessen,  was  ich  mir  als  inneren 
Besitz  erarbeitet  hal)e,  außerhalb  meiner  Seele  zu  suchen.  Mich  erfüllt  mit  jedem  Jahre  mehr 
die  Dankbarkeit  gegenüber  denen,  die  mir  die  Furchen  vorgezogen  haben." 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  Georg  Grunwald,  Professor  an  der  Akademie  zu  Braunsberg.    Philosophische  Päda- 
gogik.    Paderborn  1917.     Schönmgh.     374  S.     8,50  M. 

Wer  nach  dem  Sprachgebrauche,  der  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  herausgebildet  hat. 
unter  philosophischer  Pädagogik  eine  Erziehungswissenschaft  versteht,  die  ihre  Lehren  deduktiv  aus 
Werthaltungen  und  Zielsetzungen  herleitet  und  die  sich  in  Gegenstellung  zur  psychologischen 
Pädagogik  weiß,  deren  Vertreter  weniger  „von  der  Kultur  her"  als  vornehmlich  „vom  Kinde  aus" 
die  Gesetze  und  Regeln  der  erziehlichen  Kunst  entwickelt,  wird  in  dem  Buche  Grunwalds 
weniger  und  mehr  finden,  als  er  nach  dem  Titel  erwartete.  Denn  der  Verfasser  bietet  das 
Ganze  einer  BUdungslehre  in  systematischer  Darstellung,  in  der  die  beiden  Strömungen,  die 
wegen  ihres  Unterschiedes  in  wichtigsten  Grundanschaunngen  eigene  Benennungen  erhalten 
haben,  miteinander  vereinigt  sind.  Grunwald  ist  mit  uns  der  Meinung,  daß  die  wissenschaftliche 
Pädagogik  weder  allein  durch  Deduktionen  noch  einzig  durch  Tatsachenforschung  ihre  Erkennt- 
nisse gewinnt.  Dat>ei  läßt  er  insbesondere  auch  der  experimentellen  Richtung  ihr  volles  Recht, 
weist  aber,  worin  wir  ihm  zustimmen,  üt)ertrieb'?ne  Ansprüche  von  einigen  ihrer  Vertreter  —  wir 
denken  an  Lay  —  entschieden  zurück.  Übrigens  vertritt  er  auch  —  den  neueren  Richtungen 
eines  „verstehenden*  Erziehens  und  Unterrichtens  entgegenkommend  —  die  Anschauung,  daß 
in  der  Pädagogik  wie  in  anderen  Geisteswissenschaften  neben  Erfahrung  und  Denken  auch  die 
Intuition  nicht  entbehrt  werden  könne. 

Die  Gliederung,  die  Grunwald  dem  pädagogischen  Lehrgebiet  gibt,  befremdet  in  einigen 
Stücken.  Eine  Einleitung  bringt  die  üblichen  Erörterungen  über  Quellen  und  Methoden,  Ober 
Wert,  Einteilung  und  Geschichte  der  Pädagogik,    Als  erster  Teil  tritt  dann  die  pädagogische 


206  Literaturbericht 


Wertlehre  auf.  In  ihr  finden  sich  seltsamerweise  eingeordnet  die  allgemeinsten  Grundsätze 
der  .Vermittlung"  der  pädagogischen  Werte  und  noch  überraschender  die  ^differentielle  Psycho- 
logie". In  solcher  Unterordnung  verliert  die  Psychologie  —  abgesehen  davon,  daß  sie  höchst 
unzulänglich  im  Ausmaß  und  Inhalt  dargestellt  ist  —  die  ihr  vorher  grundsätzlich  zugestandene 
Bedeutung  für  die  pädagogische  Erkenntnisgewinnung.  Der  Ziel-  und  Wertlehre  hat  im  päda- 
gogischen System  als  eine  umfassende,  unter  eigenen  Gesichtspunkten  gegliederte  pädagogische 
Psychologie  selbständig  gegenüberzustehen.  Der  zweite  TeU  nennt  sich  „Didaktik"  und  be- 
greift in  sich  —  wieder  in  ungerechtfertigter  Abweichung  von  herkömmlicher  Begriffsbildung  — 
„die  planmäßige  Vermittlung  des  Wahren".  Es  bleiben  dann  als  III.  and  IV.  Teil  die  Eunst- 
und  die  Moral-  und  Religionspädagogik.     Die  leibliche  Erziehung  ist  ausgeschlossen. 

Uns  inhaltlich  mit  den  von  Grunwald  vertretenen  Anschauungen  auseinander  zu  setzen,  ver- 
bietet die  große  Zahl  der  Fragen,  in  denen  wir  von  ihm  abweichen,  nicht  bloß  in  den  Gebieten, 
in  denen  der  katholische  Standpunkt  des  Verfassers  offener  erkenntlich  ist.  Es  sei  aber  an- 
erkannt, daß  es  bei  dem  ernsten  wissenschaftlichen  Zuge  des  Buches  und  bei  seinem  Bemühen, 
in  alte  pädagogische  Überlieferungen  die  Erkenntnisse  ans  neuerer  Zeit  einzuschmelzen,  recht 
wohl  lohnt,  das  Werk  in  kritischer  Haltung  zu  studieren. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Johannes  Meyer,  Erziehung  und  Leben.  Ausgewählte  Abschnitte  aus  den  Werken  von 
Wilhelm  Rein.     Mit  einem  Bildnis  Reins.     Leipzig,  Reclam.     189  S.     1,10  M. 

Aus  dem  reichen  literarischen  Werke  Wilhelm  Reins,  des  nunmehr  Siebzigjährigen,  bringt 
dieses  Reclambändchen  kleine  Proben  der  „Jenaer  Pädagogik".  Die  Auslese  ist  so  getroffen,  daß 
die  Reihe  der  hier  und  da  aufgegriffenen  Abschnitte  eine  einigermaßen  abgerimdete  Gesamtan- 
sicht bietet  von  der  Ausprägung,  die  Herbarts  pädagogische  Grundanschauungen  durch  Rein  er- 
fahren haben.  Sehr  bezeichnend  ist.  daß  die  Psychologie  nur  mit  einem  dürftigen  Abschnitt 
von  knapp  5  Seiten  bedacht  ist. 

Stollberg.  Paul  Ficker. 

Dr.  Oskar  Prochnow,  Wissen  oder  Können?  Gedanken  eines  Schulmannes  über  die  Auf- 
gabe der  höheren  Schulen  im  neuen  Deutschland.  Leipzig  1919.  Nemnich.  24  S.  1,60  M. 
Eine  Anklageschrift  gegen  das  alte  Gymnasium.  Es  wird  der  Vorwurf  erhoben,  daß  die 
vordringliche  Pflege  der  alten  Sprachen  die  Entwicklung  lebendiger  Kräfte  im  Schüler  und  die 
Pflege  eines  zeitgemäßen  Wissens  hindere.  An  dem  Beispiele  der  Mathematik  und  Physik  und 
einiger  Unterrichtsangelegenheiten  (Zensuren  und  Lehrbücher)  wird  zu  verdeutlichen  gesucht, 
wie  eine  lebensnahe  Bildung  im  Sinne  der  Arbeitsschule  zu  erstreben  sei.  —  Die  Schrift,  deren 
Verfasser  das  Gymnasium  aus  eigener  Lehrtätigkeit  kennt,  ist  nicht  frei  von  Übertreibungen  und 
Einseitigkeiten  und  fußt  in  den  Anschauungen  über  die  formale  Bildung  zum  Teil  auf  psychologisch 
nicht  haltbaren  Voraussetzungen.   Den  Gedanken  der  Arbeitsschule  hat  sie  gut  erfaßt.  Seh. 

Dr.  Richard  Jahnke,  Provinzialschulrat  in  Münster  L  W.,  Werden  und  Wirken.  Gedanken 
über  Geist  und  Aufgaben  des  Lehramts.  Leipzig  1918.  Quelle  &  Meyer.  Geheftet  3,60  M.. 
Gebunden  4,60  M.     197  S. 

Diese  27  Essays  über  den  Geist  und  die  Aufgaben  des  Lehramts  sind  eine  ausgezeichnete 
Berufsphilosophie  des  Lehrers  und  Erziehers.  Sie  unterscheiden  sich  von  zahlreichen  ähnlichen, 
Veröffentlichungen  durch  die  eindringende  Besinnung  über  die  alltäglichen  Fregen  des  Schul- 
lebens. Diese  selbst  sind  nicht  neu,  aber  es  gelingt  der  her^'o^ragenden  Dialektik  des  Verfassers^ 
seiner  40jährigen  Amtserfahrung  und  nicht  zuletzt  seiner  abgeklärten,  von  Vorurteilen  freien 
Lebensweisheit,  die  bisweilen  mit  lächelndem  Humor  in  die  heimlichsten  Falten  des  Menschen- 
herzens hineinschaut,  das  Problem  der  Schule  als  Lebensgemeinschaft  (der  Eintritt  ins  Amt  — 
Kollegialität  —  Klassenzucht  —  Verärgerung  —  Gerechtigkeit  —  Schülerrechte),  als  Bildungs- 
stätte (Wissenschaft  und  Schule  —  Methode  —  Vertiefung  —  Wissen  und  Können)  und  als  In- 
stitution des  öffentlichen  Lebens  (der  Verkehr  mit  den  Eltern  —  die  Öffentlichkeit  und  wir)  in 
durchaus  neuer  Beleuchtung  und  Deutung  aufzuzeigen  und  sowohl  den  Sinn  und  Wert  wie  auch 
die  Grenze  und  Bedingtheit  der  Erziehungs-  und  Unterrichtsarbeit  aufs  neue  zu  umgrenzen.  In 
der  Durchdringung  der  Schulprobleme  mit  einer  warmherzigen  und  weltoffenen  Lebensphilosophie 
beruht  das  Anziehende  dieser  scharf  zugespitzten  Aufsätze,  die  in  erster  Linie  für  den  Anfänger 
im  Lehramt  bestimmt  sind.  Sie  werden  vielleicht  manches  seiner  Ideale  zerstören,  al)er  sie 
werden  ihm  auch  Trost  zusprechen,  indem  sie  ihm  die  Erkenntnis  vermitteln,  weshalb  dieser 
Verlust  notwendig  war,  und  werden  ihm  eine  treffliche  Anweisung  sein,  wie  er  als  Lehrer  und. 
Erzieher  das  bedenken  soll,  was  er  beginnt. 

Leipzig.  Karl  MöckeL  . 


Literaturbericht  207" 


Dr.   Georg  Jäger,    Schulgemeinde   und   Schülerausschuß.     Hamburg  1919.     Freideut— 
scher  Jugendverlag  Adolf  Saal.     24  S.     1,20  M. 

Der  Verfasser  bietet  eine  kurze  klare  Einfühnmg  in  die  Bestrebungeq  der  modernen  Jugend- - 
bewegung  in  ihrem  Verhältnis  zur  Schule.  Im  allgemeinen  trägt  er  die  bekannten  Gedanken 
G.  Wynekens  vor  mid  ist  deshalb  auch  nicht  frei  von  Übertreibungen  bei  der  Charakterisierung 
des  gegenwärtigen  Systems  der  öffentlichen  Schulen.  Daß  die  heutige  öffentliche  Schule  sich 
nicht  bewußt  wäre,  Erziehungsschule  sein  zu  müssen,  ist  eine  ungerechtfertigte  Behauptimg.- 
Ob  nun  die  Einführung  der  Schulgemeinde  im  Sinne  Wynekens  an  den  Großstadtschulen  mög- 
lich ist  und  auch  wirklich  „nur"  segensreich  wirken  wird,  wird  die  Erfahrung  zeigen.  Aber 
die  auch  in  dieser  Schrift  angeführten  inneren  Gründe  nötigen  das  heutige  Schulwesen  dazu,  den 
vorgeschlagenen  Weg  zur  Vollerziehung  der  Jugend  in  Form  der  Schulgemeinde  zu  l)eschreiten. 
Im  besonderem  betont  der  Verfasser  noch,  daß  die  sogen.  Schülerausschüsse  ohne  gleichzeitige 
Errichtung  der  Schulgemeinde,  als  deren  Organ  sie  wirken  soUen,  ohne  Wqrzel  im  SchuUeben 
sind.  —  Die  Lektüre  dieser  Schrift  ist  allen  Leiirem  zu  empfehlen. 

Leipzig.  Fr.  Rudolf  Lehmann. 

Berufswahl  und  Berufsberatung.  Eine  Einführung  in  die  Praxis.  Von  Dr.  med.  M.  Ulrich. 
Dr.  C.  Piorkowski,  0.  Nenke,  G.  Wolff,  Dr.  E.  Bernhardt,  eingeleitet  von  Dr.  A.  Kühne,  Geh. 
Regierungsrat.     Berlin  1919.     Trowitzsch.     223  S.     6,50  M. 

Neben  Prof.  Dr.  Aloys  Fischers  Buch  über  „Beruf,  Berufswahl  und  Berufs- 
beratung als  Erziehungsfragen "  (Leipzig  1918,  Quelle  &  Meyer)  ist  die  vorliegende 
Schrift  wohl  die  beste  Gesamtdarstellung  des  bisher  sonst  nur  in  Einzelarbeiten  behandelten  Ge- 
bietes. Stellt  Fischer  vorwiegend  seinen  Gegenstand  unter  großen  Gesichtspunkten  dar  und 
arbeitet  er  die  inaerlichen  Beziehungen  der  Berufsberatung  zur  Ethik,  Soziologie,  Psychologie 
und  Pädagogik  in  großen  Leitlinien  heraus,  so  will  die  vorliegende  Sammelschrift  mehr  eine 
Einführung  in  die  Verwirklichung  sein,  zu  der  Fischer  in  seinem  vortrefflichen  Werke  die  Wege 
gewiesen  bat.  Beide  Bücher  wenden  sich  an  einen  sehr  weiten  Kreis:  außer  den  Behörden  imd 
Körperschaften,  die  sich  amtlich  mit  den  Fragen  der  Berufsberatung  zu  l)eschäftigen  haben, 
sollte  kein  Lehrer  und  Arzt,  kein  Politiker  und  kein  Führer  der  verschiedenen  Beinitsstände  an 
diesen  Schriften  vorl)eigehen,  die  eine  für  die  Zukunft  unseres  Volkes  ganz  wesentliche  Frage 
in  ihrer  Bedeutung,  ihren  Zusammenhängen  und  ihrer  praktischen  Ausgestaltung  t)ehandeln. 

Die  Frage  der  körperlichen  Eignung  behandelt  Dr.  med.  Martha  Ulrich.  Sie  konnte 
dabei  fußen  auf  den  gründlichen  Untersuchungen,  in  denen  die  Mediziner  schon  länger  die  leib- 
lichen Anforderungen  und  Gefahren  der  einzelnen  Berufe  erforscht  und  auf  dieser  Grundlage 
die  Gewerbehygiene  als  Zweig  der  ärztlichen  Wissenschaft  ausgebildet  haben.  Die  reichhaltigen 
Beispielreihen,  mit  denen  sie  die  allgemeinen  Sätze  belegen  kann  (vergl.  die  Fußnoten  S.  11—37), 
überzeugen  von  der  überraschenden  Vollständigkeit  dieser  wissenschaftlichen  Vorarbeit.  Ulrich 
liespricht  zunächst  die  allgemeine  Bedeutimg  der  körperlichen  Eignung,  geht  in  kurzen  Einzel- 
betrachtungen die  leiblichen  Organe  nach  den  Ansprüchen  und  Gefahren  der  Berufe  durch, 
widmet  eine  besondere  Darstellung  dem  weiblichen  Organismus  und  zeigt  schließlich  —  ohne 
die  methodischen  Verfahren  zu  besprechen  — ,  wie  eine  ärztliche  Berufsberatung  nötig  und 
durchführbar  ist   und  besonders  in  das  Tätigkeitsfeld  des  Schularztes  einbezogen  werden  muß. 

Ein  vorzüglicher  Abschnitt  steht  unter  der  Überschrift  „Psychische  Eignung*.  Sein 
Verfasser  ist  der  Berliner  Psychologe  Dr.  Curt  Piorkowski.  .\ls  Aufgabe  der  Psychologie 
bei  der  Berufswahl  und  Berufsberatung  l>ezeichnet  er  es,  daß  sie  durch  Zergliederung  der 
Berufe  auf  ihre  seelischen  Anforderungen  hin  psychologische  Berufsbilder  aufzustellen  habe  und 
dazu  die  Methoden  ausbilden  müsse,  mittels  deren  man  praktisch  die  einzelnen  Personen  auf 
die  vom  Berufe  zu  fordernden  Eigenschaften  zu  untersuchen  vermag.  Mit  aller  Vorsicht  versucht 
nun  Piorkowski  die  höheren  Berufe  nach  ihrer  psychologischen  Verschiedenheit  in  Gruppen  zu 
gliedern  und  gelangt  dabei  zu  subjektiven  und  objektiven  Berufen,  femer  zu  Typen,  die  sich 
an  der  Fähigkeit  zur  Einfühlung  voneinander  sondern,  schließlich  zu  Gruppen,  bei  denen  das 
Gedächtnis  oder  die  Beobachtung  und  die  Handgeschicklichkeit  oder  die  Übung  entscheidend 
wird.  Die  eingehendere  Betrachtung  der  Methoden,  die  heute  zur  Erkennung  der  Berufseignimg 
angewendet  werden,  wird  den  Femerstehenden  überzeugen,  wie  die  angewandte  Psychologie 
mittels  sorgfältig  ausgearbeiteter  Fragebogen,  deren  einer  abgedruckt  ist,  und  mittels  vielfach 
erprobter  Experimente  recht  zuverlässig  in  einem  breiten  Gebiete  arbeitet  und  allen  Anspruch 
auf  eme  gebührende  Berücksichtigung  erheben  darf.  Es  ist  aber  von  Piorkowski  nicht  verfehlt 
worden,  auch  vor  der  einseitigen  Überschätzung  zu  warnen. 

Eine  Ergänzung  zu  dem  Beitrage  von  Piorkowski  gibt  Georg  Wolff  in  dem  Abschnitte - 
„Die   Mitwirkung  der  Schule   bei  der   Berufsberatung".     Daß  die  beiden  trefflichen^ 


208  Literaturbericht 


^'ragebogen  von  Hyila  und  Rebhuhn  ebenso  wie  die  Aufstellungen  von  Weigl  in  ihm  abgedruckt 
worden  sind,  wird  manchem  eine  willkommene  Darreichung  sein.  Was  Fischer  neben  der  psycho- 
logischen auch  von  der  ethischen  Seite  des  Berufes  und  der  Berufsberatung  tief  und  geistvoll 
.ausgeführt  hat,  findet  bei  Wolff  eine  praktische  Anwendung. 

Otto  Nenke  hat  den  Abschnitt  über  die  wirtschaftlichen  Gesichtspunkte  bearbeitet. 
Wieder  ist  es  ein  Verdienst  Fischers,  daß  er  mit  allem  Nachdruck  betont  hat,  es  dürfe  die 
Soziologie  der  Berufe  (ihre  Geltung  im  öffentlichen  Leben,  ihre  äußeren  Möglichkeiten  und  das 
Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage)  über  der  neuerdings  so  starken  und  gewiß  unerläßlichen 
Wertschätzung  der  Psychologie  nicht  auf  die  Seite  gedrängt  werden.  Zur  Erfüllung  dieser  For- 
derung liefert  Nenke  gute  Ausführungen  mit  reichlichen  statistischen  Belegen  über  den  un- 
gelernten Arbeiter,  über  den  Lehrling  im  Handwerk,  in  der  Industrie  und  im  Handelsgewerbe. 
Auch  ein  Ausblick  auf  die  mittleren  imd  höheren  Berufe  ist  angefügt. 

Der  Schlußabschnitt  beschäftigt  sich  mit  der  Organisation  und  Tätigkeit  der  Be- 
rufsberatungsstellen. Dr.  Ernst  Bernhard,  Geschäftsführer  des  Verbandes  Märkischer 
Arbeitsnachweise,  berichtet  hier  vorwiegend  über  Erfahrungen,  ohne  aber  auf  Wünsche  u.  Vor- 
schläge und  die  Herausarbeitung  allgemeinerer  Zusammenhänge  zu  verzichten.  Er  bespricht  die 
Träger  der  Beratungsstellen,  behandelt  dann  einzelne  Organisationsfragen,  kommt  nochmals  auf 
die  Mitwirkung  der  Schule  zu  sprechen,  zeigt  den  Lehrstellennachweis  in  seiner  Bedeutung  und 
Handhabung  und  gibt  Vorschläge  für  den  weiteren  Ausbau.  Die  höheren  Berufe  finden  sich 
nicht  berücksichtigt.  Auch  dieser  Beitrag  ist  mit  Anführung  von  Fragebogen,  Schemen  usw. 
-in  dankenswerter  Weise  durchsetzt. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Ernst  Engel,  Der  Weg  der  deutschen  Schule.  Ein  Wort  zu  Deutschlands  Zukunft. 
Langensalza  1917.     Greßler.     47  S.    1, —  M. 

Für  den  von  der  Zeit  geforderten  inneren  Ausbau  der  Schule  soll  nach  Engel  der  Körper- 
pflege ,  dem  Deutschen ,  der  Geschichte ,  der  Erd-  und  Gegenwartskunde  ein  Mehr  zukommen. 
Raum  zu  gewinnen  wäre  durch  den  grundsätzlichen  Ausschluß  des  Französischen  aus  den  höheren 
Bildungsanstalten,  in  deren  Fprmenkreis  Gymnasium,  Realgymnasium  und  Oberrealschule  er- 
halten bleiben  sollen.  Als  neues  Schulgebilde  aber  fügt  Engel  im  Aufbau  auf  sieben  Jahre 
der  achtstufigen  Volksschule  die  rein  deutsche  höhere  Schule  ein.  Er  bietet  für  sie  einen  über- 
sichtlichen Lehrplan  dar  und  will  ihren  Unterrichtsbetrieb  auf  ein  selbständiges  Erarbeiten  des 
nationalen  Bildungsgutes  eingestellt  wissen.  Man  vergleiche  hierzu  den  von  Gaudig  in  seiner 
Schrift  „Deutsches  Volk  —  Deutsche  Schnle"  entwickelten  Schulplan. 

In  der  Abschlußklasse  seiner  deutschen  Schule  wird  von  Engel  als  Aufgabe  des  Faches 
^Deutsch"  auch  die  Gewinnung  einer  Weltanschauungs-,  Lebens-  und  Seelenkunde  am  deutschen 
Schrifttume  gefordert.  Die  von  uns  gewünschte  Eingliederung  der  Seelenlehre  als  selbstän- 
digen Faches  mit  wissenschaftlicher  Einstellung  —  nicht  in  vulgärpsychologischer  Art  —  findet 
somit  in  Engels  Plan  keine  Erfüllung. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Prof.  Dr.  G.  Lorenz,  Drei  Nationalschul-Entwürfe  aus  klassischer  Zeit.  Langen- 
salza 1917.     Beyer  &  So.  96  S.  1,60  M. 

Die  historischen  Dokumente,  die  Lorenz  auf  ihren  pädagogischen  Ertrag  hin  untersucht  hat, 
sind :  Herders  Entwurf  einer  livländischen  Nationalschule  in  seinem  Tagebuche  „Meme  Reise  1769", 
Fichtes  Plan  einer  deutschen  Nationalschule  in  seinen  „Reden  an  die  deutsche  Nation"  und  Goethes 
.(Pädagogische  Provinz"  aus  „Wilhelm  Meisters  Wanderjahre".  Die  Texte,  reichlich  mit  will- 
kommenen Erläuterungen  versehen  und  vielfach  für  bequemeren  Gebrauch  gekürzt  und  übersicht- 
lich gegliedert,  finden  sich  der  Abhandlung  vorangestellt. 

Die  vergleichend  gehaltene  Untersuchung  erstreckt  sich  vornehmlich  auf  die  Erläuterung  der 
Erziehungsgebiete  (Verstandes-,  Willens-,  Gedanken-  und  Körperbildung)  und  der  Erziehungs- 
veranstaltungen (Lehrplan,  Lehrweise,  innere  Einrichtung,  Verwaltung),  wie  sie  in  den  zeitbedingten 
Entwürfen  jener  Großen,  die  sich  nicht  für  zu  gering  erachteten,  dem  Schulwesen  ihr  Denken 
zuzuwenden,  als  Vorschläge  auftreten.  Den  Abschluß  bildet  eine  Zusammenstellung  der  Gedanken- 
gruppen, die  —  wie  die  Fragen  des  Erziehungsstaates,  der  Arbeitsschule,  der  Kunsterziehung. 
•  der  Schuleinheit  usf.  —  in  lebendigen  Beziehungen  zu  den  Bildungsfragen  unserer  Zeit  stehen. 

Stollberg  i.  Sa.  Paul  Ficker. 

Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (A.  Pries)  in  Leipzig. 


Schulorganisatorisches  Denken. 

Von  Hugo  Gaudig. 

In  der  Geschichte  der  deutschen  Schule  hat  es  keine  Zeit  gegeben,  in  der 
man  den  Kultui'wert  der  Schule  so  anerkannt  hätte  \^ie  in  der  Kulturära, 
die  sich  jetzt  zu  entwickeln  beginnt.  Wo  man  überhaupt  noch  kulturell  zu 
denken  vermag,  erwartet  man  von  der  Arbeit  der  Schule  eine  Generation, 
die  den  neuen  Kulturprozeß  auszugestalten  und  zu  tragen  vermag.  Diese 
Kultuiieistung  erwartet  man  aber  nicht  von  der  Schule  der  Gegenwart,  sondern 
von  der  Schule,  die  durch  einschneidende  Wandlungen  ihrer  großen  Kultur- 
aufgabe angepaßt  ist.  Man  fordert  demgemäß  einschneidende  Neuorgani- 
sation auf  dem  Gebiet  der  Schule. 

In  der  Zeit  des  Weltkrieges,  in  der  man  noch  auf  siegreiche  Selbstbe- 
hauptung Deutschlands  hoffte,  war  einer  der  Ruhmestitel,  mit  dem  wir  uns 
schmückten,  die  Fähigkeit  des  deutschen  Volkes  zur  Organisation.  Wie 
mancher  andere  Ruhmestitel  wird  auch  dieser  nach  unserem  Zusammenbruch 
der  Neuprüfung  unterzogen  werden  müssen.  Man  wird  dabei  z.  B.  auch 
nicht  an  dem  Wunderbau  des  deutschen  Heeres  mit  der  Kiitik  Halt  machen; 
es  wird,  wie  mir  scheint,  vielen,  nicht  nur  den  radikalen  Gegnern  des  ehe- 
maligen deutschen  Heeres  fraglich  erscheinen,  ob  nicht  die  Art  der  hierarchi- 
schen Organisation  des  Heeres,  d.  h.  der  Organisation,  die  zu  dem  grundtiefen 
Abstand  zwischen  Mannschaften  und  Offizieren  führte,  ein  grundsätzlicher 
Organisationsfehler  in  einem  Heere  war,  das  unter  dem  Leitgedanken  stand: 
Das  Heer  ist  das  Volk  in  Waffen.  Unzweifelhaft  haben  wir  Deutschen  in 
der  Kulturperiode  vor  dem  Kriege  eine  erstaunliche  Organisationskraft  auf 
dem  Gebiet  des  \virtschaftlich-technischen  Lebens  bewiesen.  Dieser  Ruhmes- 
titel liegt  über  alle  Kritik  hinaus,  und  auf  dem  Glauben  an  unsere  organi- 
satorischen Kräfte  in  diesem  Gebiet  beruht  auch  unsere  stärkste  Zukunfts- 
hoffnung; die  Angst  vor  dieser  deutschen  Kraft  beherrscht  unsere  Gegner 
noch  vielfach  und  bringt  sie  zu  Maßnahmen,  die  sich  aus  der  Furcht  erklären, 
Deutschland  könne  seine  darnieder  liegende  wirtschaftliche  Kraft  doch  wieder 
auf  organisieren  und  schneller,  als  man  es  dem  zu  demütigenden  Gegner 
gönnt.  —  Eine  Umschau  auf  den  anderen  Kulturgebieten  uird  aber  zu  einer 
scharf en  Kritik  des  früher  oft  so  leichthin  ausgesprochenen  Satzes :  „Das  deutsche 
Volk  ist  das  Volk  der  Organisation"  führen.  Ja,  schon  auf  dem  Gebiet  der 
wirtschaftlichen  Arbeit  wird  die  Kritik  einsetzen  müssen,  wenn  man  sich  von 
der  wirtschaftüch-technischen  zur  wirtschaftlich-sozialen  Seile  wendet.  Wie 
langsam  vollzogen  sich  hier  die  Prozesse,  die  zur  Beseitigung  der  Kultiu*- 
widrigkeiten  im  nationalen  Arbeitsleben  führen  sollten!  (Ich  gestatte  mir, 
auf  den  Abschnitt  „Sozialpolitik  und  nationales  Einheitsbewußtsein"  in  meinem 
1917  erschienenen  Buch  „Deutsches  Volk  —  deutsche  Schule"  zu  vervs-eisen; 
besonders  auf  den  Teilabschnitt  über  die  „Unternehmung").  Ungleich  un- 
günstiger noch   muß   das  Urteil  über   unsere  organisatorischen   Fähigkeiten 

Zeilschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  14 


210  Hugo  Gaudig 

lauten,  wenn  wir  die  Gebiete  der  geistigen  Kultur  in  Betracht  ziehen:  es  sei 
niu-  verwiesen  auf  das  politische  Parteileben,  auf  das  religiöse  Gemeinschafts- 
leben, vor  allem  aber  auf  das  Schulleben. 

Im  folgenden  soll  das  Problem  der  Organisation  des  Schullebens  von  einigen 
Gesichtspunkten  aus  beleuchtet  werden.  Die  Voraussetzung  für  wertvolles 
organisatorisches  Denken  über  die  Schule  ist  die  Erkenntnis,  daß  alles  Denken 
über  die  Schule  und  namentlich  alles  organisatorische  Denken  die  Erfassung 
der  Schule  im  Kulturprozeß  voraussetzt.  Wer  die  Schule  nicht  im  Zusammen- 
hange der  nationalen,  ja,  darüber  hinaus  der  allgemeinen  menschUchen  Kultur- 
en twicklung  zu  erfassen  versteht,  erfüllt  die  erste  Vorbedingung  für  organi- 
satorisches Denken  nicht.  SelbstverständUch  muß  hierbei  die  Schule,  nach 
der  Gesamtheit  ihres  Seins  und  Lebens  erfaßt  und  in  Beziehung  zu  all  den 
Seiten  des  Kulturprozesses  gesetzt  werden,  die  nur  irgendwie  Wechsel- 
beziehungen zwischen  dem  Leben  der  Schule  und  dem  allgemeinen  Kultur- 
leben erkennen  lassen.  Daß  die  deutsche  Lehrerschaft  die  Vorbedingung 
für  organisatorisches  Denken  gut  erfüllt,  wird  niemand  behaupten;  soweit 
ich  sehe,  leidet  unser  Denken  an  schlechter  Immanenz:  es  verläuft  meist 
im  Rahmen  der  Schule  selbst,  die  sich  dem  Denken  zu  einer  Welt  für 
sich  absondert.  Für  die  Lehrer  der  höheren  Lehranstalten  trägt  daran 
zunächst  vor  allem  die  völlig  unzulängliche  Organisation  des  philologischen 
Studiums  auf  der  Universität  die  Schuld;  erst  neuerdings  beginnt  man  als 
unbedingt  notwendig  das  Hören  kulturphilosophischer  Vorlesungen  zu  fordern. 
Leider  nur  wieder  bloß  das  Hören  von  Vorlesungen,  statt  daß  man  wirklich 
kulturphilosophisches  Arbeiten  fordern  sollte.  Ohne  kulturphilosophische  Ein- 
stellung wird  unsere  Arbeit  dauernd  nur  einen  Teil  des  Werts  und  der  Würde 
erlangen,  die  ihr  zustehen  und  die  sie  im  Ganzen  des  nationalen  Kultur- 
prozesses erlangen  muß;  erlangen  muß  um  dieses  Prozesses  und  um  ihrer 
selbst  willen.  Ein  schweres  Hemmnis  für  die  Erziehung  der  akademisch 
gebildeten  Lehrer  zu  „kulturellem"  Denken  wird  allerdings  die  Universität 
nur  schwer  überwinden  können :  den  Mangel  an  akademischen  Lehrern,  die 
eine  wertvolle  kulturphilosophische  Arbeit  zu  organisieren  vermögen.  Denn 
in  dem  großen  Schuldkonto  der  i.  a.  nicht  durch  organisatorische  Kunst  und 
Kraft  ausgezeichneten  Universität,  das  ich  überschreiben  möchte:  Mangelnde 
Lebensbeziehung  der  akademischen  Arbeit  zu  dem  Lebensprozeß  der  Nation 
und  der  Menschheit  ist,  der  stärkste  Schuldposten  die  unzulängliche  Betonung 
der  Kulturphilosophie,  überhaupt  des  Kulturdenkens  in  dem  gesamten  akade- 
mischen Arbeitsplan.  Wie  weit  aber  die  Arbeit  im  Seminarjahr  und  im  Probe- 
jahr davon  entfernt  ist,  den  Mangel,  den  die  Universität  gelassen  hat,  zu 
beseitigen,  ersehe  ich  —  ich  muß  sagen,  mit  Schrecken  —  aus  dem  Büch- 
lein von  Reinhardt. 

Auch  die  Lehrerseminare  lassen  den  Zug  ins  Kulturphilosophische  völhg 
vermissen.  Soll  die  deutsche  Schule  sich  über  sich  selbst  orientieren,  sich 
selbst  eine  sichere  Kulturstellung  geben  und  ihre  Arbeit,  ihr  Leben  und 
Wesen  planmäßig  in  die  allgemeine  nationale  Kulturarbeit  einorganisieren, 
so  muß  hier  Wandel  geschafft  werden;  sonst  ist  die  Gefahr,  daß  wir  im 
Fachdenken,  jedenfalls  im  Schuldenken  hängen  bleiben,  daß  wir  bei  unserer 
Arbeit  die  unbedingt  notwendigen  höheren  Beziehungs-  und  Orientierungs- 
punkte entbehren  und  die  Schukeformen  nicht  über  die  Höhenlage  der  kleinen 
Maßregeln  hinauskommen. 


Scliulorganisatorisches  Denken  211 

Allerdings  genügt  es  natürlich  nicht,  daß  wir  Lehrer  die  Fähigkeit  des 
kulturellen  und  kulturphilosophischen  Denkens  gewinnen;  \^Tr  müssen  nach 
lernen,  uns  in  das  Kulturleben  der  Nation  einzuleben  und  einzufühlen.  Ein 
schweres  Hemmnis  für  dies  Einleben  und  Einfühlen  sei  gleich  hier  genannt: 
die  kastenartige  Absperrung  vom  Volksleben  durch  allzu  ausschließlichen 
standesmäßigen  Zusammenschluß. 

Von  den  kulturellen  Lebensbeziehungen  der  Schule  ist  eine  der  wichtigsten, 
allerdings  auch  der  am  schwierigsten  zu  bestimmenden  die  Lebensbeziehung 
der  Schule  zum  Staat.*)  Die  Organisation  der  Schule  und  des  Schulwesens 
hängt  zum  guten  Teil  von  der  Grundanschauung  ab,  die  man  von  dem  Ver- 
hältnis des  Staats  ziu*  Schule  und  der  Schule  zum  Staate  hat. 

Man  denke  sich  z.  B.,  wie  der  Satz    „Der  Staat  ist  Herr  der  Schule"  oder 
der  andere   „Die  Schule  ist  Staatsanstalt"   auf  das  oi^anisatorische  Denken 
über  die  Schule  einwirken  muß.     Wie  nun,  wenn  die  Schule  ihrem  Grund- 
wesen nach  weder  als  „Anstalt"  noch  als  „Staats"anstalt  aufgefaßt  werden 
dürfte,    und   wenn   damit  alle   radikalen  Folgerungen  hinfielen!      Jedenfalls 
muß    für    das    organisatorische   Denken    auf   Grund    solcher  oder    ähnlicher 
Formeln  eins  klar  sein,  daß  sie  erst  dann  von  Wert  sind,  wenn  der  Begriff 
„Staat"  festgestellt  ist.    Sehe  ich  recht,  so  hat  unser  politisches  Denken  und 
Leben   sehr  darunter   gelitten,   daß  wir  uns  zu  wenig  über  Wesen,  Leben 
und  Funktionen  des  Staates  klar  waren.    Um  noch  ein  für  die  Organisation 
des  Schullebens  wichtiges  Beispiel  zu  nennen:  Das  gemeine  Denken  lu-teili, 
wenn  „die  Trennung  von  Kirche  und  Staat"  zur  Verhandlung  steht,   daß  es 
sich  dabei  um  eine  Zerstörung  aller  Lebensbeziehungen  beider  Kulturmächte 
handle,    als    ob   nicht   der  Kulturstaat   auch   nach  Lösung  der  bisherigen 
Beziehungen    das    stärkste    Interesse    hätte,    den    reügiösen   Gemeinschaften 
Schutz  und  Pflege  angedeihen  zu  lassen,  da  er  doch  der  allgemeine  Kultur- 
hüter und  Kulturpfleger  ist.     Jedenfalls  tut  die  Lehrerschaft  der  Volksschule 
sehr  gut,  wenn  sie  ihren  Staatsbegriff  jetzt  nicht  ohne  weiteres  in  der  alten 
Fassung  weiter  behält  und  munter  daraus  schlußfolgert,    sondern   ihn  einer 
gründhchen  Revision  unterzieht.    Denn  so  wenig  auch  zur  Zeit  klar  ist,  wie 
der  Staat  beschaffen  sein  wird,  der  sich  in  der  Zukunft  aus  den  revolutionären 
Bewegungen  herausmodeUiert,  jedenfalls   wird   dieser   Staat  wesenthch   ver- 
schieden sein  von  dem  Staat,  den  man  in  Formeln  wie  den  obigen  meinte. 
Wie  z.  B.,  wenn  sich  eine  Auffassung  durchsetzte,  die  den  Staat  unter  dem 
Gesichtswinkel  einer  Tätigkeitsform    der   kulturellen    Volksgemeinschaft   an- 
sähe?    Man  hätte   dann  das  Volk  als   den   allgemeinen   Träger  des  Kultur- 
prozesses, und  die  Tätigkeit  des  Volkes  nähme  in  gewissen  Richtungen,  auf 
gs\sissen  Gebieten  die  Form  des  Staatshandelns  an.    In  wie  rege  Verbindung 
mit  dem    gesamten   Kulhu^esen    des  Volkes   träte  dann  die  Staatstätigkeit; 
wie  würde  sie  frei  von  der  gefährlichen  Jenseitigkeit,  in  der  sie  früher  zu 
dem    allgemeinen  Kulturprozeß   des  nationalen   Lebens   stand!     Hielte   man 
dann   noch   die  Formel  fest,    daß   die  Schule  Staatsanstalt  ist,   so  würde  es 
jedenfalls  leichter  sein,  beim  organisatorischen  Denken  und  Handeln  in  Sachen 
der  Schule  der  allgemeinen  Kultiu«tellung  der  Schule  gerecht  zu  werden 
und  nicht  in  den  Bann  ausschheßender  staatlicher  Zwecksetzung  zu  verfallen. 
Eigenartig  ist  es  jedenfalls,  wenn  die  Lehrerschaft,  soweit  sie  sich  mit  der  Schule 


')  H.  Gaudig.  Die  Schule  im  Dienste  der  werdenden  Persönlichkeit.  2.  Bd.,  S.  102  f. 

14* 


212  Hugo  Gaudig 

in  den  Dienst  des  sozialistischen  Staats  stellen  will,  den  Staatscharakter  der 
Schule  einseitig  betont,  denn  soweit  ich  den  Sozialismus  verstehe,  lehnt  er 
nicht  nur  den  Klassenstaat  als  solchen  ab,  sondern  das  dem  Staate  eigen- 
tümliche Zwangshandeln  überhaupt,  so  daß  also  die  nationale  Kulturentwick- 
lung sich  je  länger,  je  mehr  ohne  Zwangseingriffe  herrschaftiicher  Gewalt 
ausschließlich  aus  wirksamen  Kulturkräften  heraus  und  unter  Organisation 
von  unten  her  vollzöge.  Jedenfalls  dürfte  es  sich  nicht  empfehlen,  wenn 
man  sich  auf  Denken  im  Stil  des  SoziaUsmus  einstellen  will,  den  Staats-- 
Charakter  der  Volksschule  besonders  zu  betonen  und  an  den«  Staat  statt  an 
das  Volk  als  den  tragenden  Untergrund  der  Volksschule  zu  denken. 

Wieweit  man  im  organisatorischen  Denken  über  die  Schule  in  Deutsch- 
land noch  rückständig  ist,  läßt  sich  daran  erkennen,  daß  wir  immer  noch 
nicht  darüber  hinaus  sind,  die  Schule  als  „Anstalt"  aufzufassen. 

Diese  Auffassung  der  Schule  als  Anstalt  ist  ein  Niederschlag  der  Unlebendig- 
keit,  unter  der  unser  Schuldenken  leidet.  Sobald  sich  ein  lebendiges  Denken 
durchsetzt,  werden  wir  die  Schule  als  einen  Lebenskreis  auffassen,  der  so 
zu  organisieren  ist,  daß  sich  in  ihm  die  zur  Erziehung  notwendigen  Lebens- 
kräfte entwickeln.  Erst  bei  dieser  Auffassung  läßt  sich  das  Schulleben  in 
das  allgemeine  Kulturleben  als  ein  integrierender  Teil  einorganisieren. 

Ein  weiterer  Beweis  für  die  Rückständigkeit  unseres  organisatorischen 
Schuldenkens  ist  die  geringe  Neigung,  die  man  bei  uns  bezeigt,  das  Schul- 
leben nach  seinen  verschiedenen  „Lebensgebieten"  zu  erfassen.  Statt  die 
verschiedenen  Lebensgebiete  der  Schule  scharf  gegeneinander  abzusondern 
und  dann  in  der  Gesamtanschauung  eines  lebendigen  Ganzen  wieder  zu 
vereinigen,  begnügt  man  sich  mit  einem  stumpfen  Allgemeinbegriff  „Schule". 
Die  Folge  solches  Denkens  ist  natürlich  die  unzulänglich  differenzierende 
und  integrierende  Organisation.  Nach  meiner  Meinung  ist  es  nötig,  die 
Lebensgebiete  der  Arbeit,  des  Spiels,  der  Feier  (die  Andacht  eingeschlossen), 
sowie  die  Lebensgebiete  der  Gemeinschaft,  der  Gemeinschaft  von  Lehrern 
und  Schülern  sowie  der  Gemeinschaft  der  Schüler  untereinander  (besonders 
der  Klasse),  endlich  das  Lebensgebiet  der  Ordnung  zu  unterscheiden.  Jedes 
dieser  Lebensgebiete  hat  sein  Eigenleben  und  so  auch  seine  eigenartigen 
Lebensgrundsätze,  nach  denen  es  zu  organisieren  ist;  bei  der  Organisation 
sind  aber  die  Wechselbeziehungen  der  einzelnen  Lebensgebiete  zueinander 
zu  beachten,  so  daß  die  Gesamtorganisation  einheitlich  auf  den  einheitlichen 
Erziehungszweck  hin  möglich  ist.  So  erscheint  z.  B.  die  Klasse  als  ein  sozial- 
ethisches Gebilde,  dessen  eigenster  Zweck  die  Pflege  der  Gemeinschafts- 
gesinnung und  des  Gemeinschaftshandeln  ist,  das  aber  auch  der  Ertüchtigung 
zur  Arbeit  dienen  muß. 

Schwere  Schädigung  des  Gesaratwerts  der  Schule  bedeutet  es,  wenn  ein 
organisatorisches  Prinzip  einseitig  wirksam  wird.  So  muß  gewiß  das  Bildungs- 
leben vor  allem  als  Arbeitslehre  organisiert  werden;  man  kann  sich  aber 
sehr  wohl  ein  zu  stark  auf  Arbeit  organisiertes  Bildungsleben  denken:  denn 
Bildung  wird  nicht  nur  durch  Arbeit,  sondern  auch  durch  Erleben  ge- 
wonnen, i)  Im  Kampf  um  ein  neues  Leitbild  der  deutschen  Schule  hat  man 
den  Namen  Arbeitsschule  geprägt;  unzweifelhaft  ein  nicht  unglückUch  ge- 
bildeter Kampf-  und   Programmname.     Heftet  sich   aber   an  diesen   Namen 


*)  Vergl.  Die  Schule  im  Dienste  der  werdenden  Persönlichkeit,  S.  179  f. 


Schulorganisatorisches  Denken  21S 

irgendwelcher  Gedanke,  irgendwelches  Gefühl  einseitiger  Betonung  der  Hand- 
tätigkeit oder  wird  —  bei  allgemeiner  Fassung  des  Begriffs  Arbeit  —  die 
Arbeit  innerhalb  des  gesamten  Schullebens  auf  Kosten  des  Erlebens  einseitig 
betont,  so  daß  die  andern  Lebensgebiete  verkümmern  müssen,  so  wird  der 
Schaden  einseitiger  Organisation  ersichtlich.  Unzulänghches  Wirksamwerden 
eines  organisatorischen  Prinzips  würde  sich  z.  B.  dann  zeigen,  wenn  im 
Gebiete  des  sozialethischen  Lebens  der  Klasse  die  gemeinsame  Arbeit  nach 
ihrer  sozialethischen  Seite  unbeachtet  bliebe  oder  wenn  die  Arbeit  selbst 
nicht  auch  als  Erlebnis  gefaßt  würde. 

Ein  Gebiet,  von  dessen  organisatorischer  Gestaltung  der  Zukunftswert 
namentlich  unserer  höheren  Schulen  sehr  wesentUch  abhängt,  ist  die  Klasse. 
Das  wird  man  umso  mehr  zugestehen,  je  mehr  man  ein  durchgearbeitetes 
Leitbild  0  der  Klasse  besitzt.  Aber  auch  wenn  man  unter  Klasse  nicht  mehr 
verstünde  als  eine  Anzahl  (ein  Aggregat)  von  Schülern,  die  zwecks  unter- 
richtlicher Förderung  zusammengefaßt  werden,  auch  wenn  man  also  aus- 
schheßlich  die  geistige  Förderung  der  einzelnen  Schüler  immer  im  Auge 
hätte,  würde  die  Arbeit  in  der  Klasse  weit  mehr  durchorganisiert  werden 
müssen,  als  es  bisher  i.  a.  geschehen  sein  dürfte.  Eine  der  stärksten  An- 
klagen gegen  die  höhere  Schule,  die  —  nach  dem  Fachsystem  unterrichtend  — 
die  Bildungsarbeit  an  ihren  Schülern  auf  eine  Mehrheit  von  Lehrern  verteilt, 
geht  darauf  hinaus,  daß  diese  Arbeit  ohne  den  durch  die  Einheit  des  Schul- 
lebens  der  Schüler  unbedingt  geforderten  Einheitszug  erfolgt.  Man  vermißt 
nicht  nur  die  Einheit  der  Lehr-  und  Arbeitspläne,  sondern  vor  allem  auch, 
worauf  hier  besonders  hingewiesen  werden  soll,  die  Zusammenfassung  der 
Bildungsarbeit  der  verschiedenen  an  denselben  Schulen  wirkenden  „Lehr- 
kräfte". Im  einzelnen  tadelt  man,  daß  es  an  den  nötigen  Veranstaltungen 
zur  einheithchen  Erfassung  des  geistigen  Gesamtlebens  der  Schüler  fehle; 
noch  mehr  aber,  wie  gesagt,  daß  sich  die  verschiedenen  Lehrkräfte  nicht  zu 
einheitlicher  Bildungsarbeit  an  den  einzelnen  Schülern  zusammenschlössen. 
Verlangt  werden  muß  allerdings,  daß  jeder  in  einer  Klassenlehrersehaft 
unterrichtende  Lehrer  ein  Bild  der  geistigen  Gesamtverfassung  aller  einzelnen 
Schüler  besitzt;  ohne  das  Bild  ist  eine  planmäßige  Mitarbeit  am  Ganzen  der 
Bildung  nicht  denkbar,  nicht  einmal  eine  planmäßige  Arbeit  in  einem  ein- 
zelnen Fach. 

Bei  der  Bildung  des  Urteils  über  die  Gesamtverfassung  des  Geistes  sind 
die  Einzelbilder,  die  die  Fächer  als  Ganzes  bieten,  zueinander  in  Beziehung 
zu  setzen.  Es  treten  so  nebeneinander  vor  allem  die  inhaltlich  und  formell 
nach  der  intellektuellen  Funktionsweise  verwandten  Fächer:  die  Sprachen, 
die  Zweige  der  Naturwissenschaften.  Ebenso  sind  in  Beziehung  zueinander 
zu  setzen  die  geistigen  Verfassungen  in  den  Fächern,  die  in  einer  gewissen 
Spannung  zueinander  stehen  (, Geisteswissenschaften"— „Naturwissenschaften"). 
Besonders  aber  sind  alle  Fächer  auf  die  für  alle  wichtigen  allgemeinen 
Merkmale  und  Eigenschaften  der  geistigen  Verfassung  hin  miteinander  zu 
vergleichen  (man  denke  z.  B.  an  das  Gedächtnis,  die  Aufmerksamkeit,  die 
Willenhaftigkeit).  Das  so  zwischen  den  Fächern  hin  und  hergehende,  ver- 
gleichende und  beziehende  Denken  ermittelt  dann  Korrelationen,  vor- 
schlagende Merkmale  und  Eigenschaften,  Gleichai-tiges  und  Ungleichartiges, 


')  Vergl.  Schule  im  Dienste  der  werdenden  Persönlichkeit.  Bd.  I,  133  !g. 


214  Hugo  Gaudig 

in  Beziehung  zur  gesamten  Bildungsaufgabe  Verhältnismäßiges  und  Unver- 
hältnisraäßiges,  Abnormes  usw.  Das  Ganze  aber,  das  gewonnen  wird,  ist 
kein  „Aggregat  seelischer  Eigenschaften",  sondern  ein  lebendiges  Bild  der 
Gesamtbeschaffenheit  des  Geistes  und  seiner  Struktur  in  der  Anpassung  an 
das  allgemeine  Bildungsziel  der  Schule. 

Das  Ziel  der  Organisation  der  erziehlichen  Arbeit  der  verschiedenen  Lehr- 
kräfte an  denselben  einzelnen  Schülern  muß  also  die  Verknüpfung  der  Urteils- 
bildung der  einzelnen  Lehrer  ^in.  Das  Organ  dieser  Verknüpfung  wie  der 
gesamten  gemeinsamen  Arbeit  ist  zunächst  die  Klassenlehrerschaft;  die 
äußere  Form  des  Zusammenwirkens  ist  zunächst  die  Konferenz.  Die  Psycho- 
logie der  Konferenzen  an  unseren  deutschen  Schulen  wird  hoffentlich  bald 
der  Gegenstand  eindringlicher  Untersuchung  werden.  Jedenfalls  können  die 
Konferenzen  ihr  Ziel  nicht  erreichen,  wenn  die  miteinander  Beratenden  ihre 
Urteile  „parataktisch"  hinstellen  und  nicht  der  Wille  zu  beziehen  und  zu 
vergleichen  herrscht;  vor  allem  muß  die  geistige  Verfassung  der  Konferenz 
erreicht  werden,  bei  der  die  einzelnen  sich  gemeinsam  in  das  geistige  Ge- 
samtwesen der  Schüler  eindenken  und  einfühlen ;  dazu  aber  ist  ein  Gemein- 
schaftsgeist nötig,  ein  Einswerden  der  Lehrer  der  Klasse  in  der  Bezogenheit 
auf  die  Schüler.  Indes  —  so  wichtig  die  Klassenkonferenz  ist,  an  Wichtig- 
keit steht  ihr  nicht  nach  —  der  Klassenlehrer.  In  der  Organisierung  der 
Tätigkeit  des  Klassenlehrers  sehe  ich  eine  der  dringlichsten,  aus  dem  Leben 
der  Schule  herausgeborenen  Aufgaben  der  Zukunft.  Von  der  glücklichen 
Organisation  des  Klassenlehreramtes  hängt  zunächst  die  Vereinheitlichung 
der  Arbeit  an  den  einzelnen  Schülern  in  starkem  Maße  ab.  Gewiß  —  die 
Klassenkonferenz  hat  ihr  eigenes  Recht  und  muß  ihr  eigenes  Leben  haben; 
sie  wird  aber  ihre  Aufgabe  ungleich  leichter  und  besser  lösen,  wenn  der 
Klassenlehrer  ihr  vorarbeitet,  in  ihr  mit  besonderem  Recht  arbeitet  und  ihr 
„nacharbeitet".  Lehrerversammlungen  von  '/2  Dutzend  Lehrern  werden  leicht 
—  auch  wenn  die  Beratungen  ungleich  häufiger  sind  als  bisher  —  an  Schwer- 
beweglichkeit, um  nicht  zu  sagen  Schwerfälligkeit  leiden.  Die  Kraft  der 
Initiative  wird  ihnen  vielfach  der  Klassenlehrer  geben  müssen;  er  wird  z.  B. 
zunächst  der  Beobachter  seiner  Schüler  sein,  der  am  intensivsten  beobachtet, 
meist,  auch  am  extensivsten;  das  letztere  wegen  der  größeren  Zahl  von 
Fächern,  in  denen  er  unterrichtet.  Er  wird  aber  auch  in  der  Rücksprache 
mit  seinen  einzelnen  Arbeitsgenossen  den  Beobachtungsstoff,  den  sie  ge- 
sammelt haben,  an  sich  ziehen,  wird  die  Beobachtungen  auf  vorläufige 
Einheitsbilder  hin  (auf  Hypothesen)  verknüpfen,  wird  Fragen  und  Probleme 
aufwerfen,  Beobachtungsrichtungen  empfehlen  usw.  Unbedingt  notwendig 
ist  dabei  allerdings,  daß  dem  Klassenlehrer  in  weit  höherem  Maße  das  ins 
agendi  mit  seinen  Arbeitsgenossen,  vor  allem  das  Recht,  die  Klassenkonferenz 
nach  seinem  Gutdünken  einzuberufen,  beigelegt  wird.  Ohne  eine  rechtliche 
Organisation  des  Klassenlehreramts  kann  der  wesentliche  Fortschritt  der 
inneren  Organisation,  den  ich  für  die  Zukunft  unserer  höheren  Schule  for- 
dere, nicht  erreicht  werden. 

Wir  haben  bisher  die  Klasse  nur  als  Zusammenfassung  einzelner  Schüler 
verstanden.  Brechen  wir  aber  in  der  deutschen  höheren  Schule  mit  der 
Rückständigkeit,  die  in  der  Klasse  nur  das  Aggregat  sieht,  dringen  wir 
darauf,  daß  die  Klasse  sich  zu  einem  sozialen  Gebilde  feinster  Art  entwickelt, 
so   tritt   die    Notwendigkeit    unserer    organisatorischen   Forderungen    an    die 


Schulorganisatorisches  Denken  215 


Klassenkonferenz  und  vor  allem  an  den  Klassenlehrer  noch  ungleich  schärfer 
heraus.  Wir  fordern  ein  Geistesleben,  ein  höheres  Seelenleben  der  Klasse 
als  Klasse;  im  Wir-Be\vTißtsein  werden  die  einzelnen  Klassengenossen  Träger 
des  Geraeingeistes.  Die  Klasse  muß  zimi  Selbstbewußtsein,  zur  Selbstbe- 
stimmung, zur  Stellungnahme  sich  selbst  gegenüber  erzogen  werden.  Vor 
allem  soll  die  Klasse  eine  sozialethische  Gemeinschaft  werden,  und  ihr  sozial- 
ethisches Wesen  soU  sich  mannigfach  auswirken,  in  der  gemeinsamen  Arbeit, 
im  gemeinsamen  Erleben,  so  daß  sie  in  vollem,  auch  in  ethischem  Sinne 
Arbeits-  und  Schicksalsgemeinschaft  sein  kann.  Von  hoher  Bedeutung  für 
die  Gesamtentwicklung  unserer  Jugend  ist  das  Klassenbewußtsein,  in  dem 
sich  die  einzelnen  Klasseugenossen  mit  der  Gesamtheit  verbunden  wissen 
und  fühlen,  dann  aber  auch  die  Stellungnahme  der  einzelnen  Schüler  zur 
Klasse  und  der  Klasse  zu  den  einzelnen  Schülern.  Wahrhaftig  eine  unent- 
deckte  und  unausgebeutete  Fülle  erzieherischer  Kräfte  wartet  der  Auslösung 
in  der  Klasse,  diesem  ursprünglichen  Notgebilde,  das  aber  dazu  berufen  ist, 
eine  Großmacht  in  der  Erziehung  der  deutschen  Jugend  zu  werden.  Die 
äußere  Organisation  aber  ermögliche  zunächst  die  innere  Organisation;  in 
erster  Linie  durch  Sicherung  des  Rechts  der  Klassenlehrer.  Der  Klassen- 
lehrer muß  es  ja  vor  allem  sein,  der  die  Klasse  in  seinem  einheitlichen 
Bewußtsein  trägt,  der  sie  denkt,  fühlt  und  will. 

Die  Schulgemeinde.  Ein  Begriff,  der  die  Geister  gerade  in  unseren 
Tagen  stark  erregt  hat.  Hier  nur  wenige  Bemerkungen.  In  der  Idee  einer 
Schulgemeinde  stellt  sich,  wie  es  Wyneken  ausdrückt,^)  eine  aus  neuem 
Gemeinschaftsgefühl  geborene  neue  Schulverfassung  dar,  „die  im  Grunde  nichts 
ist  als  der  organisierte  Wille  der  Jugend  und  ihrer  Führer  zu  ihrer  Schule". 
Die  „ Schulgemeinde ",  die  W.  wegen  ihrer  Verwandtschaft  zu  den  klöst er- 
heben Orden  die  „Ordensversammlung"  nennt,  ist  die  gemeinsame  Ver- 
sammlung der  Schülerschaft  imd  der  Lehrerschaft.  In  ihr  hat  jeder  Lehrer 
und  jeder  Schüler  je  eine  Stimme,  alle  gleiches  Recht  der  Rede.  Die  Schul- 
gemeinde ist  ihm  die  eigentliche  gesetzgebende  Versammlung  der  Schule.  — 
Eine  bedeutsame  organisatorische  Idee,  —  wenn  sie  innerliches  Recht  und  die 
Möglichkeit  äußerer  Verwirklichung  in  sich  trüge.  Die  gesamte  Schulge- 
meinde zu  einer  Einheit  des  Wollens,  zu  einem  höheren  Subjekt  einheitlichen 
Wollens  zusammengefaßt!  Wie  kümmerlich  nimmt  sich  gegenüber  dieser 
organisatorisch  durch  ihre  Geschlossenheit  Achtung  gebietenden  Einheits- 
organisation das  Einheitliche  aus,  das  an  unseren  Schulen  über  dem  Hinter- 
und  Nebeneinander,  dem  Aggregat  der  Klassen  eine  einheitUche  Schule  mit 
Eigenwesen  und  Eigenleben  vortäuscht.  Der  einheithche  (?)  Lehrplan,  das 
einheitlich  (?)  wirkende  Lehrerkollegium,  gelegentUche  Zusammenkünfte  der 
gesamten  Schule  bei  Spiel  und  Feier,  vielleicht  das  Zugehörigkeitsbewußtsein 
zur  Schule  bei  der  Mehrzahl  der  Schüler  und  weniges  andere;  weiter  ist's 
nichts,  worin  die  Schule  ihre  Einheit  erweist. 

In  diese  Schule  nun  mit  der  ein  geschlossenes  Anstaltsleben  eigener  Art 
voraussetzenden  Idee  der  „Schulgemeinde"  einzutreten  —  wäre,  logisch  gesagt, 
bedingt  in  einem  Denken  nach  falscher  Analogie,  pädagogisch  eine  Unbe- 
sonnenheit ersten  Grades. 


')  Der  Gedankenkreis  der  neuen  Schulgemeinde  (E.  Diedericfas,  1919),  S.  13. 


216  Hugo  Gaudig 

Doch  abgesehen  hiervon:  Ist  wirklich  eine  Willensgemeinschaft  der  geschil- 
derten Art  möglich,  d.  h.  eine  Gemeinschaft,  in  der  Lehrer-  und  Schülerwille 
als  gleichwertige  Kräfte  zur  Einheitlichkeit  zusammenwirken?  Wäre  es  freihch 
so,  wie  man  in  den  Kreisen  der  „Schulgemeinde"  anzunehmen  scheint,  daß 
sich  in  der  Jugend  dank  ihrer  Eigenwesenheit  Kräfte  einer  neuen  Kulhirphase 
entfalten  könnten,  die  der  jeweiligen  Gegenwartskultur  überlegen  ist,  so 
könnte  man  sich  die  Lehrerschaft  als  das  Organ  für  die  Auslösung  dieser 
Kräfte  denken  und  so  ein  gleichsinniges  Zusammenwirken  von  Schülern  und 
Lehrern  auf  dem  Fuße  der  Gleichberechtigung  denken.  Dem  aber  ist  nach 
dem,  was  ich  in  einem  Leben  der  Hingabe  an  die  Eigenkräfte  und  das 
Eigenleben  der  Jugend  beobachtet  habe,  nicht  so.  Gewiß  ist  es  grundfalsch, 
die  Erziehung  als  die  Eingliederung  der  Jugend  in  irgendeine  abgeschlossene, 
also  etwa  die  vorletzte,  Kulturphase  zu  bestimmen  —  derartige  Bestimmungen 
trifft  man  immer  noch  einmal  bei  den  gegenwartsscheuen  Pädagogen,  sodann 
bei  den  „zeitlosen"  —  aber  selbst  ein  mit  prophetischem  Blick  und  mit 
mystischer  Einfühlungskunst  ausgestatteter  Mann  dürfte  durch  Einschau  in 
die  Jugend  die  neue  Kultur  mit  ergründen.  Gewiß  lebt  und  webt  in  der  Jugend 
mancherlei,  was  für  die  Kultur  der  Zukunft,  die  über  die  Kultur  der  Gegen- 
wart empordrängt,  ungleich  mehr  zu  beachten  ist,  als  es  geschehen  ist: 
brauchbare  und  unbrauchbare  Elemente.  Die  deutsche  Schule,  die  bisher  nicht 
einmal  in  der  Lage  war,  die  immer  feindseligere  Stellung  der  Jugend  zu  ihr 
auf  ihre  tieferen  Gründe  hin  zu  verstehen,  besitzt  noch  viel  weniger  die 
Fähigkeit,  die  in  der  Jugend  wirksamen  Triebkräfte  und  Entwicklungsmotive, 
Wünsche  und  „Sehnsüchte"  einer  neuen  Kultur  zu  erspüren.  Aber  wenn  es 
gilt,  die  Kulturziele  zu  bestimmen,  auf  die  hin  wir  die  Jugend  erziehen 
wollen,  meinethalb:  auf  die  hin  wir  uns  mit  unserer  Jugend  entwickeln 
wollen,  dann  ist  doch  wohl  notwendig,  daß  „man"  sich  kulturphilosophisch 
in  die  Gegenwartskultur,  und  zwar  auf  allen  Kulturgebieten,  nicht  nur  etwa 
dem  „des  Geistes",  eindenkt  und  einfühlt,  die  empordringenden  Kräfte,  die 
Entwicklungsmotive  und  -tendenzen,  den  „Sinn"  der  Zeit  aufspürt,  auf  ihren 
Kulturwert  hin  prüft  und  (unter  Rückschau  auf  die  Vergangenheit),  soweit 
das  möghch,  zu  einem  Leitbilde  der  zukünftigen  Kultur  zusammenfaßt. 
„Man"?  d.h.  alle  zum  Kulturdenken  Fähigen;  in  Deutschland,  soweit  ich 
sehe,  eine  sehr  kleine  Zahl.  Zur  Heranbildung  von  Selbstdenkern  auf  dem 
Gebiete  der  allgemeinen  Kultur  fehlen  uns  die  „Einrichtungen"  an  den 
Schulen,  den  Universitäten,  in  der  Presse  usw.  fast  vollständig.  Gehört 
„man"  aber  nicht  zu  den  Selbstdenkern,  so  denkt  man  nach,  was  Selbst- 
denker vorgedacht  haben.  In  einem  Lehrkörper  ist  dann  das  Lehrer- 
kollegium der  Träger  des  Kulturbildes ,  auf  das  die  Erziehung  abgezweckt 
werden  muß.  Damit  aber  ist  das  Kollegium  aus  der  Gleiche  mit  der  Schüler- 
schaft gerückt,  imd  darum  kann  auch  von  einer  Gleichordnung  von  Lehrer- 
schaft und  Schülergemeinschaft  nicht  die  Rede  sein.  Als  Träger  der  Kulturidee 
und  als  Organ  für  die  Durchführung  dieser  Idee  steht  die  Lehrerschaft  der 
Schülerschaft  gegenüber  in  dem  Verhältnis  der  Überordnung,  das  die  Zu- 
sammenfassung in  einer  Schulgemeinde  nach  Wynekens  Anschauung  ver- 
bietet. Wohl  ist  ein  Zusammenwirken  der  Lehrerschaft  und  der  Schülerschaft 
im  einheitlichen  Geiste  auf  das  eine  Ziel:  Erfüllung  des  Schulzwecks  nötig; 
v/ohl  soll  die  Schülerschaft  das  wohlabgemessene  Maß  der  Verantwortung 
hierbei  tragen,  jeder  einzelne  Schüler  vor  allem  das  Höchstmaß  von  Verant- 


Schulorganisatorisches  Denken  217 


wortung  für  sich,  für  die  Klasse  und  die  gesamte  Schule,  die  Klassen  das 
Höchstmaß  der  Verantwortung  für  sich  und  für  die  Klassengenossen,  sowie  das 
Schulganze,  auch  soweit  das  irgend  angängig,  die  Schülerschaft  als  ein  Ganzes 
die  Verantwortung  für  das  Ganze,  die  Klasse  und  die  einzelnen  Schüler, 
aber  der  Grundplan  der  Schulorganisation  führt  nicht  zu  dem  schönen  Ein- 
heitsgebilde der  „Schulgemeinde",  sondern  zu  zweiheitlicher  (indes  nicht 
dualistischer)  Organisation:  hie  Schülerschaft,  hie  Lehrerschaft;  zwischen 
beiden  der  Abstand,  den  der  Erziehungszweck  fordert;  beide  aber  verbunden 
durch  den  hohen  Zweck,  den  der  Kulturprozeß  den  werdenden  Persönlich- 
keiten und  den  Mithelfern  der  Personwerdung  steckt.  Der  Abstand  ist 
einerseits  eine  Bedingung  für  die  Entwicklung  des  Achtungsgefühls,  das  den 
Kultiu^ägern  gebükrt,  anderseits  aber  auch  —  und  das  sei  besonders  nach- 
drücklich betont  —  eine  Sicherung  gegen  suggestive  Beeinflussung  des 
heranwachsenden  Geschlechts,  das  zu  seinem  Eigen wesen  kommen  soll, 
durch  Lehrer- „Führer",  die  bestimmend  auf  ihre  „Gefolgschaften"  einv\nrken, 
durch  die  , Religion"  neuen  Stils,  die  die  Zöglinge  in  einen  Ordensgeist 
bannen  w^ürde,  statt  sie  sich  aus  ihrer  Natur  heraus  zu  dem  „Ich  der 
Sehnsucht"  entwickeln  zu  lassen,  das  die  Einwirkimg  auf  eine  ideale  Kultiu* 
hin  fordert. 

Die  deutsche  Schule  ist,  das  sagten  wir  bereits,  arm  an  wertvollen  orga- 
nisatorischen Einrichtungen.  Umsomehr  muß  es  wnindernehmen ,  daß  man 
vielerorts,  besonders  eifrig  aber  in  Sachsen  bemüht  ist,  ein  Element  der 
organisatorischen  Gestaltung  der  Schule  auszuschalten,  in  dem  man  bisher 
ein  tragendes  Element  der  Schulorganisation  zu  sehen  gewohnt  war  —  das 
Direktorat.  Umsomehr  muß  es  wundernehmen,  als  die  neue  Zeit  eine  ganz 
ungewöhnliche  Steigerung  der  erziehUchen  Kraftwirkungen  fordert.  Aber 
vielleicht  ist  der  Direktor  entweder  keine  wertvolle  Kraft  im  gesamten  Kraft- 
system der  Schule,  vielleicht  gar  ein  Hemmnis  für  die  Entfaltung  anderer 
Kräfte,  besonders  der  Lehrerschaft,  der  Lehrerversammlung  und  der  einzelneu 
Lehrer,  so  daß  ein  Ersatz  durch  den  „Schulleiter"  (das  ist  übrigens  doch  wohl 
die  Übersetzung  von  Direktor?)  den  lockenden  Ausbhck  auf  eine  neue  Kräfte- 
entfaltung unserer  Schulen,  die  einfach  kulturnotwendig  ist,  eröffnete?  Eins 
vorweg:  Wo  die  „Direktoren"  unter  der  Last  der  äußeren  Verwaltung  nicht 
dazukamen,  ihre  eigentliche  Aufgabe  zu  verrichten,  da  sind  sie  allerdings 
zwecklose  Elemente  in  dem  Kraftsystem,  von  denen  es  überflüssigerweise 
belastet  wird.  Lehrer,  die  nur  dies  Direktorat  kennen  gelernt  haben,  dem 
die  Bedingungen  für  die  Selbstentfaltung  fehlten,  müßten  aber  sehr  vorsichtig 
sein  in  ihrem  Werturteil  über  das  \sirkende  Direktorat.  Oder  ist  vielleicht  das 
wirkende  Direktorat  noch  kulturgefährlicher?  Indem  ich  auf  meine  ausführ- 
liche Darstellung  der  gesamten  Frage  in  meinem  Hauptwerk  verweise  i),  \sill 
ich  hier  nur  den  grundsätzlichen  Standpunkt  hervorheben,  die  grundsätzhche 
Betrachtungsweise.  Dem,  der  über  den  gesamten  Wert  und  Unwert  des 
Direktorats  urteilen  -viil!,  muß  das  gesamte  System  der  Kräfte  gegenwärtig 
sein,  die  an  den  idealen  Erziehungszweck  der  Schule  zu  setzen  sind;  sodann 
ist  zu  erwägen,  ob  der  Direktor  innerhalb  dieses  Systems  notwendige  Funk- 
tionen zu  verrichten  hat  oder  nicht.  Ein  Denken,  das  nicht  funktionell  ein- 
gestellt ist,  muß  in  unserer  Frage  als  wertlos  gelten.    Mit  größten  Bedenken 

»)  a.  a    0.  S.  218-284. 


218  Hugo  Gaudig,  Schulorganisatorisches  Denken 

muß  Gedankengängen  und  Formeln  begegnet  werden,  die  ihre  Herkunft  aus 
anderen  Kulturgebieten  erkennen  lassen  und  von  denen  man  nicht  ohne 
weiteres  sagen  kann,  ob  sie  glatthin  übertragbar  sind,  ob  nicht  vielmehr  eine 
schiefe  Analogie  vorliegt.  Das  gilt  z.  B.  von  der  Verwendung  des  Begriffs 
„Selbstverwaltung"  in  unserer  Frage.  „Selbstverwaltung"  —  ist  einer  der 
mächtigsten  und  schönsten  Begriffe  in  meinem  kulturwissenschaftlichen  Be- 
griffsalphabet; aber  ob  man  diesen  Begriff  von  der  J^ehrerschaft  einer 
Schule  gebrauchen  und  so  schlankweg  von  einer  Selbstverwaltung  der  Schule 
durch  das  Lehrerkollegium  reden  darf,  sollte  denn  doch  wohl  von  vornherein 
zweifelhaft  sein. 

Nach  meinem  Urteil  ist  das  Direktorat  notwendig,  weil  es  folgende  Funk- 
tionen auszuüben  hat:  Die  Verwendung  der  Lehrkräfte,  die  spezielle  Fürsorge 
für  die  Vereinheitlichung  der  Erzieherarbeit,  die  Einwirkung  in  der  Richtung 
des  Bestmaßes  aller  erziehlichen  Tätigkeit  der  einzelnen  Lehrer,  die  Mit- 
wirkung bei  der  Organisation  der  kollegialen  Arbeit,  die  Vertretung  der  Eltern- 
schaft, der  Gemeinde,  des  Staates  innerhalb  der  eigentlichen  Schulsphäre. 
Das  Nähere  a.  a.  0. 

Nur  einiges  sei  hier  erwähnt :  Die  Verwertung  der  Lehrkräfte  im  Dienste 
der  Erziehung  ist  eine  Optimalaufgabe,  die  um  unserer  Jugend  willen  sehr 
ernst  zu  nehmen  ist:  die  Verwertung  muß  das  Bestmaß  des  Erfolges  verbürgen. 
Solche  Verwertung  aber  ist  nur  möglich,  wenn  die  Eigenart  aller  Lehrkräfte 
genau  bekannt  ist;  diese  genaue  Bekanntschaft  aber  kann  nur  jemandem 
möglich  sein,  der  alle  Mitglieder  des  Kollegiums  so  gründlich  als  möglich 
studiert,  dem  die  Kenntnis  der  Lehrer  Gegenstand  amtsmäßiger  Verpflichtung 
ist.  Dieser  „jemand"  kann  nicht  die  Konferenz  sein,  sondern  nur  eine  Einzel- 
persönlichkeit mit  direktoraler  Funktion.  Ferner:  In  die  Arbeitsgemeinschaft 
der  Schule  treten  immer  wieder  neue  Kräfte  ein,  deren  Einführung  in  den 
Geist  der  Arbeit  der  Schule  schnell  und  eindringlich  erfolgen  muß.  Von  dieser 
Einführung  wären  nur  Schulen  befreit,  die  keinen  eigenen  Geist  besitzen.  Die 
Einführung  aber  erfolgt  am  besten  und  schnellsten  durch  die  Persönlichkeit, 
die  aus  dem  Studium  der  Schularbeit  nach  ihrer  Gesamtheit  ein  eigenes  be- 
rufsmäßiges Studium  macht.  Oder  drittens:  Nur  ein  unerträglicher  Standes- 
hochmut der  Lehrerschaft  könnte  verkennen,  daß  in  einem  Lehrerkollegium 
nicht  selten  Mitglieder  sind,  denen  die  aus  der  Kenntnis  ihrer  Eigenart  und 
der  Eigenart  der  Schule  herauswachsende  taktvolle,  die  Würde  der  Persön- 
lichkeit nicht  verletzende  Einwirkung  eines  erfahrenen  Mannes  zu  einem 
wesentlich  höheren  Maß  der  Leistung  —  und  zu  wesentlich  höherem  Lehrer- 
glück verhelfen  könnte.  Und  weiter:  Die  Kollegien  müssen  in  Zukunft  eine 
viel  stärkere,  planmäßigere,  einheitlichere  Erziehertätigkeit  leisten  als  bisher; 
sie  müssen  sich  vor  allem  zu  einheitlichen  Geistgemeinschaften  zusammen- 
schließen. Das  wird  umso  weniger  der  Fall  sein,  je  mehr  sich  der  Geist  des 
schlechten  Parlamentarismus  in  die  Lebenssphäre  der  Schule  einnistet,  dieser 
öde  Geist  mit  seinen  Neigungen  zur  parteimäßigen  Trennung,  zum  „Parlamen- 
tein", zum  Hin-  und  Herreden,  zur  Zeitvergeudung,  zum  Emporheben  der  agi- 
tatorischen, demagogischen  Persönlichkeiten,  zur  Unterdrückung  der  feinen 
Geister,  der  stillen  Menschen,  zur  Beeinträchtigung  der  Eigenart  einzelner 
Persönlichkeiten  durch  eine  unpei-sönliche  Genossenschaft.  Solcher  Neigung 
des  parlamentarisch  sich  organisierenden  Lehrerkollegiums  wird  ein  Mann  am 
besten  entgegenwirken,  dem  die  Sorge  für  Einheitlichkeit  des  Wirkens  der 


Paul  Wischer,  Zur  Auswahl  vind  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten       219 


Arbeitsgemeinschaft  heilige  Amtspfhcht  ist.  Die  Lehrerschaft,  die  des  Direktorats 
sich  entledigen  will,  scheint  zu  meinen,  das  sei  besonders  im  Sinne  der  neuen 
Zeit,  das  sei  besonders  gut  soziahstisch  gedacht.  Soviel  ich  sehe,  ist  das  nur 
extrem  Uberal  gedacht;  wo  wirklich  sozialistisch  gedacht  wird,  verschUeßt  man 
sich  nie  und  nirgends  der  Notwendigkeit  der  Leitung  da,  wo  diese  Leitung  den 
besseren  Erfolg  gewährleistet.  Wenn  aber  hier  und  da  von  der  Lehrerschaft  auf 
die  Einstimmigkeit  oder  die  fast  völlige  Einstimmigkeit  ihrer  Beschlüsse  in  der 
Frage  des  Direktorats  hingewiesen  wird,  so  wird  eine  Regierung,  die  das 
Wesen  der  modernen  Organisationen  kennt,  schon  von  selbst  erwägen, 
wieweit  in  solchen  imposanten  Einheitsbeschlüssen  —  die  Ansicht  vollper- 
sönlich überzeugter  einzelner,  vvieweit  —  anderes  sich  durchsetzt.  —  Vielleicht 
überdenkt  man  vor  der  Beseitigung  des  Direktorats  die  Frage  noch  einmal 
unter  funktionalem  Gesichtspunkt,  damit  unsere  Jugend  nicht  die  Kosten 
des  Verfahrens  trägt. 


Zur  Auswahl  und  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten. 

Von  Paul  Wischer. 

Die  pädagogische  Wissenschaft  der  Gegenwart  steht  im  Zeichen  der  psy- 
chologischen Begabungsforschung.  Die  Auslese  und  Förderung  der  begabten 
Volksschüler  ist  erfolgverheißend  in  die  Wege  geleitet,  und  der  Stadt  Berlin 
gebührt  das  Verdienst,  diese  Begabtenauslese  nunmehr  auch  auf  die  Sonder- 
begabungen ausgedehnt  zu  haben.  An  die  halbjährlich  stattfindenden  Be- 
gabtenprüfungen  schließt  sich  eine  Prüfung  für  besonders  begabte  Zeichner 
an,  die  in  einem  Sonderkursus  der  Kunstgewerbeschule  weiter  ausgebildet 
werden  sollen. ^j  Wir  Zeichenlehrer  können  diese  Bestrebungen,  die  unsern 
begabten  Schülern  eine  ihren  Fähigkeiten  entsprechende  Entwicklung  er- 
möglichen wollen,  nur  mit  Freude  und  Genugtuung  begrüßen.  Es  erwächst 
uns  aber  jetzt  die  schwierige  Aufgabe  der  Vorauslese  der  begabten  Zeichner' 
und  Zeichnerinnen.  Daß  diese  Vorauslese  ihre  Schwierigkeiten  hat,  geht 
schon  daraus  hervor,  daß  bei  der  Zeichenprüfung  im  Frühjahr  vorigen  Jahres 
630/0  der  Knaben  und  85  0/0  der  Mädchen,  als  für  eine  Weiterbildung  im 
Zeichnen  nicht  ausreichend  begabt,  zurückgewiesen  wurden.  Dieses  immer- 
hin auffallende  Ergebnis  kann  einesteils  beruhen  auf  einer  falschen  Be- 
urteilung der  Zeichenbegabung  bei  der  Vorauslese,  andernteils  in  der  Methode 
der  Prüfung.  Es  erscheint  deshalb  geraten,  vom  Standpunkt  der  psycho- 
logischen Begabungsforschung  aus  einen  Versucli  zu  machen  zur  Klärung 
der  Fragen:  Woran  erkennt  man  die  übernormale  Zeichenbegabung 
und  wie  prüft  man  sie? 

Man  könnte  von  vornherein  einwenden,  daß  die  Beurteilung  einer  zeichne- 
rischen Begabung  allein  Sache  des  Künstlers  und  nicht  Sache  des  Psycho- 
logen sei.  Das  ist  zum.  Teil  richtig,  soweit  nämlich  eine  stark  ausgeprägte, 
bereits  entwickelte  Begabung  in  jeder  Zeichnung-  zum  Ausdruck  kommt. 
Der  Schule  aber  muß  es  darauf  ankommen,  auch  die  in  der  Entwicklung 
begriffenen  Ansätze  dazu  frühzeitig  zu  erkennen  und  durch  den  Unterricht 


^)  Je  nach  Art   der  Befähigung   werden  die  Schüler   und   Schülerinnen    auch    in    geeigneten 
Lehrstellen  für  einen  kunstgewerblichen  Beruf  untei^ebracht. 


220  Paul  Wischer 


zu  fördern.  Das  erfordert  aber  eine  genaue  Kenntnis  derjenigen  seelischen 
Funktionen,  die  in  ihrem  Zusammenwirken  eben  die  zeichnerische  Sonder- 
begabung ausmachen.  Es  wäre  deshalb  sehr  bedauerlich,  wollte  man  auf 
die  bisherigen  Ergebnisse  der  psychologischen  Begabungsforschung  bei  Aus- 
wahl und  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten  verzichten.  Die  zahlreichen 
Untersuchungen  der  Entwicklung  der  Zeichenbegabung  sind,  im  wesentlichen 
übereinstimmend,  zu  Resultaten  gekommen,  die  es  heut  ermöghchen,  einen 
Normaltyp  zu  konstruieren.  Ich  werde  diesen  Normaltyp  der  zeichnerischen 
Begabungsentwicklung  zunächst  kurz  kennzeichnen,  dann  die  Entwicklung 
begabter  Zeichner  damit  vergleichen,  darauf  das  Erkennen  der  Begabung 
aus  der  Art  der  Entstehung  der  Zeichnungen  zeigen,  um  zuletzt  die  Wege 
zu  beleuchten,  die  uns  durch  die  psychologische  Analyse  der  Zeichenbegabung 
gewiesen  werden. 

Die  normale  Entwicklung  der  zeichnerischen  Begabung  vollzieht  sich  in 
drei  Hauptstadien.  Vom  2.  bis  3.  Lebensjahr  ist  es  allein  die  Bewegungs- 
freude, die  den  Anreiz  zu  dem  sogenannten  „Kritzeln"  gibt.  Man  bezeichnet 
dieses  Anfangsstadium  deshalb  als  das  motorische.  Begriffliche  Deutung  durch 
Erwachsene  oder  durch  andere  Kinder  führen  das  Kind  zur  ersten  beab- 
sichtigten Darstellung.  Es  beginnt  die  interessante  Stufe  der  Schemabildung, 
die  durchaus  unter  der  Einwirkung  der  Umgebung  steht.  Je  nach  der 
individuellen  Veranlagung  werden  vom  6.  bis  10.  Jahre  die  Schemata  mit 
mehr  oder  weniger  erscheinungsgemäßen  Formen  gemischt.  Bis  zum 
10.  Lebensjahre  ist  den  meisten  Kindern  die  Form  an  sich  nichts,  der  Inhalt 
alles.  Verworn  bezeichnet  diese  Entwicklungsstufe  als  ideographische  oder 
gedächtnismäßige.  „Vom  10.  Jahre  erwacht,"  wie  Johannes  Kretzschmar^) 
sagt,  „langsam  die  Fähigkeit  der  logischen  und  ästhetischen  Beurteilung. 
Das  Interesse  des  Kindes  geht  allmählich  vom  Inhalt  auch  auf  die  Form 
über."  Das  ist  der  kritische  Zeitpunkt,  wo  viele  malende  Kinder  immer 
seltener  ihre  sonst  so  erfolgreiche  Zeichentätigkeit  ausüben,  um  schließlich, 
unbefriedigt,  in  der  richtigen  Erkenntnis  der  zeichnerischen  Unfähigkeit,  jeden 
Versuch  der  formgemäßen  Darstellung  aufzugeben.  Die  zeichnerische  Begabungs- 
entwicklung ist  mit  der  wachsenden  allgemeinen  Intelligenz  vom  ideographischen 
zum  physiographischen,  erscheinungsgemäßen  Typ  fortgeschritten.  Nur  ver- 
hältnismäßig wenige  suchen  nach  Hilfsmitteln,  um  zur  Formerfassung  zu 
gelangen.  Bei  ihnen  hat  der  Zeichenunterricht  seine  größten  Erfolge,  zumal 
in  diesem  Zeitpunkt  auch  die  räumliche  Darstellungsfähigkeit  beginnt.  Leider 
ist  für  die  Volksschüler,  da  die  erfolgreichste  Entwicklungstufe  bei  den  meisten 
Kindern  im  13. — 14.  Lebensjahre  liegt,  bereits  nach  einem  Jahr  der  Unter- 
richt und  damit  leider  auch  die  zeichnerische  Entwicklung  beendet.  Auf  dem 
Entwicklungsstandpunkt  des  14.  Jahres  bleiben  die  meisten  Menschen  stehen. 
Selbst  geistig  Hochentwickelte  kommen  zeichnerisch  im  allgemeinen  über  ihre 
kindliche  Darstellungsfähigkeit  nicht  hinaus.  Der  Zeichenunterricht  könnte 
hier  nur  bessernd  einwirken,  wenn  er  die  Kinderzeichnungen  nicht  ganz 
übersehen,  sondern  dem  suchenden  Kinde  helfen  würde.  Die  eingehende 
Beachtung  des  naiven  kindlichen  Zeichnens  ist  aber  auch  schon  deshalb  ge- 
boten, weil  in  der  Art  seiner  Entwicklung  bereits  die  Ansätze  einer  über- 
normalen Zeichenbegabung  zum  Ausdruck  kommen  können. 

1)  Dr.  J.  Kretzschmar,  Die  freie  Kinderzeichnung  in  der  wissenschaftlichen  Forschung.  Zeitschr. 
f.  pädagogische  Psychol.  Bd.  13,  Heft  7/8. 


Zur  Auswahl  und  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten  221 

Auch  die  begabten  Zeichner  durchlaufen  die  vorhin  skizzierte  Entwicklungs- 
reihe vom  Motorischen  zum  Gedächtnismäßigen,  Erscheinungs-  und  Form- 
gemäßen, mit  dem  Unterschied,  daß  sie  gewöhnhch  viel  früher  damit  fertig 
sind,  manche  Einzelstadien  überspringen  oder  die  letzte  Stufe,  an  der  die 
meisten  scheitern,  aus  eigener  Kraft  überwinden.  Hier  sind  Entwicklungs- 
unterschiede meist,  wenn  auch  nicht  immer,  Begabimgsunterschiede.  Durch- 
schnittlich 90  o/o  aller  Kinder  zeichnen  im  Alter  von  6  bis  7  Jahren  rein 
schematisch.  Was  verstehen  ^-ir  unter  Schema?  Walter  &ötzsch  0  be- 
zeichnet das  Schema  sehr  richtig  als  eine  Erstarrung  der  Form,  die  bei 
den  wenig  begabten  Zeichnern  sehr  frühzeitig  eintritt  und  bis  zum  10.  und 
12.  Lebensjahr,  oft  noch  länger,  die  ganze  Entwicklung  beherrscht.  Der 
Schemazeichner  zeichnet  nicht  im  eigentlichen  Sinne,  sondern  er  liefert 
nm-,  wie  Kerschensteiner^)  treffend  sagt,  eine  „Niederschrift  der  begriff- 
lichen Merkmale"  und  benutzt  dazu  immer  dieselben  Formen.  Der  un- 
begabte Zeichner  bleibt  jahrelang  auf  diesem  Standpunkt  stehen,  der  normal- 
begabte mischt  seine  Schemata  mit  erscheinungsgemäßen  Formen,  der  über- 
normal Begabte  dagegen  kennt  die  Stufe  des  reinen  Schemas 
überhaupt  nicht.  Für  ihn  beginnt  meist  sofort  das  Suchen  nach  Ähnlich- 
keit in  der  Formgebung,  er  „zeichnet",  während  die  anderen  noch  „nieder- 
schreiben". Von  Monat  zu  Monat  verbessert  er  beispielsweise  seine  Menschen- 
darstellungen, indem  er  sie  immer  mehr  charakterisiert.  Er  besitzt  eben  die 
Fähigkeit,  schon  etwas  zu  sehen,  während  die  andern  noch  bei  dem  erworbenen 
unveränderten  Schema  bleiben.  Er  hat  Gegenstands-  oder  Bildungsvorstellungen, 
die  andern  nicht. 

In  der  Tat  ist  die  Größe  des  Formenkreises  und  die  Vollkommenheit  der 
Darstellungsfähigkeit  bereits  auf  dieser  Stufe  ein  Maßstab  für  den  Grad  der 
zeichnerischen  Begabung.  Nach  W.  Krötzsch  kann  man  bei  eingehendem 
Studium  der  Kinderzeichnungen  einen  vierfachen  Grad  der  Zeichenbegabung 
unterscheiden.  Enger  Formenkreis  und  ungewandte,  meist  rein  schematische 
Darstellung  kennzeichnen  die  Schwachbegabten  Zeichner.  Reichen  Formen- 
kreis bei  gemischt  schematischer,  aber  noch  ungewandter  Darstellung  zeigt 
der  normal  begabte,  während  reicher  Formenkreis  mit  lebendiger, 
erscheinungsgemäßer  Darstellung  den  hochbegabten  Zeichner  auszeichnen. 
Eine  Sonderstellung  nehmen  diejenigen  Kinder  ein,  die  zwar  einen  engbe- 
grenzten Formenkreis  besitzen,  aber  einer  auffallend  lebendigen,  fast  form- 
gemäßen Darstellung  fähig  sind.  Das  sind  Kinder,  die  z.  B.  Pferde  oder 
Hunde  verblüffend  gut  zeichnen  können.  Ich  erinnere  mich  einer  11jährigen 
Schülerin,  die  Pferde  so  vorzüglich  zeichnen  konnte,  daß  ich  die  selbständige 
Gedächtniszeichnung  anzweifelte  und  das  Kind  in  meiner  Gegenwart  zeichnen 
ließ.  Wer  nur  diese  Zeichnungen  sah,  mußte  unbedingt  auf  ein  hervor- 
ragendes Talent  schließen.  Und  doch  gehörte  diese  Schülerin  nur  zu  den 
normal  befähigten  Zeichnerinnen.  Es  handelt  sich  in  solchen  Fällen,  die 
nicht  selten  vorkommen,  vun  eine  ganz  einseitige  Scheinbegabung,  aus 
der  nicht  viel  zu  machen  ist.  Im  allgemeinen  ist  bei  der  Beurteilung  von 
Kinderzeichnungen,  wenn  es  sich  um  die  Feststellung  einer  übernormalen 
Zeichenbegabung  handelt,  die  größte  Vorsicht  geboten.     Frühzeitige,  große 


')  W.  Krötzsch,   „Rhythmus   und  Form  in   der  freien  Kinderzeichnung".     Leipzig  191' 
-)  G.  Kerschensteiner,  Die  Entwicklung  der  zeichnerischen  Begabung.    München  1907. 


222  Paul  Wischer 


Hoffnungen  werden  häufig  getäuscht.  Noch  sind  die  Begabungsansätze  den 
zarten  Blütenteilen  in  der  Knospe  vergleichbar,  und  manche  hemmenden 
Einflüsse  des  Gefühls-  und  Willenslebens  können  ihre  Entwicklung  aufhalten, 
ja  ihre  Entfaltung  unmöglich  machen.  Andere  Begabungen  können  stark 
hervorbrechen  und  die  erste  völlig  verdrängen.  Von  geradezu  entscheidende]- 
Bedeutung  kann  hier  der  Einfluß  des  Lehrers  durch  frühzeitiges  Erkennen 
und  Fördern  werden,  wenn  er  eingehend  die  Entwicklung  der  zeichnerischen 
Begabung  beobachtet. 

Diese  Beobachtung  der  Begabungsentwicklung  wird  sich  aber  nicht  be- 
schränken auf  die  wenigen  Merkmale,  die  W.  Krötzsch  feststellte,  sondern 
sie  wird  auch  sehr  bald  ausgesprochene  Begabungstypen  entdecken,  wie 
sie  C.  Kik  in  einer  vorzüglichen  Arbeit  über  die  übernormale  Zeichenbegabung 
genau  kennzeichnet. 

Kik^)  studierte  eingehend  die  Entwicklung  von  14  hervorragend  begabten 
Zeichnern,  Knaben  und  Mädchen,  au  der  Hand  eines  mühsam  gesammelten 
Materials,  das  zum  Teil  in  der  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  Band  2 
veröffentlicht  wurde.  Von  jedem  Kinde  lagen  eine  Reihe  von  Zeichnungen 
aus  den  verschiedensten  Lebensaltern  vor.  Durch  Rückfragen  an  die  Eltern 
und  Lehrer  wurden  alle  näheren  Angaben  über  die  allgemeine  geistige  Ent- 
wicklung der  Kinder  und  die  Entstehung  der  Zeichnungen  biographisch  zu- 
sammengetragen. Die  so  entstandenen  Entwicklungsreihen  ermöglichen 
es,  die  individuelle  Zeichenbegabung  nach  ihrer  vielseitigen  Art  zu  erforschen. 
Nicht  nur  die  Zeichnungen  an  sich,  sondern  auch  alle  bei  ihrer  Entstehung 
mitwirkenden  Begleitumstände  sind  für  den  Psychologen  bedeutsam.  Es  ist 
für  die  Beurteilung  einer  Zeichenbegabung  durchaus  nicht  gleichgültig,  ob 
die  Begabung  aus  eigener  Kraft  zum  Ausdruck  kommt,  oder  sich  unter 
nachhaltigem  Einfluß,  unter  fortgesetzter  Anregung  des  Elternhauses  ent- 
wickelt. In  diesem  Fall  sind  Entwicklungsunterschiede,  wie  ich  sie  vorhin 
erwähnte,  oft  keine  Begabungsunterschiede.  Auch  Fragen  nach  Vererbung, 
nach  allgemeiner  Intelligenz  und  nach  dem  Anteil  des  Gefühls-  und  Willens- 
lebens bei  der  Entstehung  der  Zeichnungen  sind  von  größter  Bedeutung. 
Eine  psychologisch  geleitete  Beobachtung  ist  hier  durchaus  notwendig. 

In  welcher  Weise  bearbeitete  nun  Kik  sein  Material?  Maßgebend  für  die 
Beurteilung  der  Zeichenbegabung  ist  ihm  die  Art,  wie  die  Zeichnungen  ent- 
standen sind.  Das  kann  nur  auf  dreifache  Weise  geschehen.  Eine  Zeichnung 
kann  unmittelbar  nach  der  Natur,  nach  dem  Gedächtnis  oder  durch  freige- 
staltende Phantasie  entstehen.  Natur-  und  Gedächtniszeichnung  können  nach 
dem  Gegenstand  oder  dem  Bilde  angefertigt  werden.  Dadurch  entstehen  in 
jedem  Falle  zwei  Darstellungsarten:  das  Objektzeichnen  und  Kopieren  einer- 
seits, und  das  Zeichnen  aus  der  Gegenstands  Vorstellung  und  Bildvorstellung 
andererseits.  Dementsprechend  unterscheidet  Kik :  a.  Begabung  für  Natur- 
wiedergabe, b.  Kopierbegabung,  c.  Vorstellungsbegabung,  d.  h. 
Gedächtniszeichnen  nach  der  Gegenstands-  oder  BildvorsteUung,  d.  Phan- 
^asiebegabung,  e.  Kombinationen  der  vorsteh  enden  Begabungsarten. 

Die  normale  Entwicklung  der  zeichnerischen  Begabung  führt,  wie  wir 
vorhin  schon  feststellten,  die  Kinder  nur  sehr  selten  aus  eigener  Kraft  zum 

')  C.  Kik,  „Die  übernormale  Zeichenbegabung  bei  Kindern."  Zeitschr.  f.  angew.  Psychol., 
Bd.  2.  1909,  —  Auch  abgedruckt  in  dem  Sammelband:  Das  freie  Zeichnen  und  Formen  des 
Kindes,  herausgegeben  von  Grosser  und  Stern.     Leipzig  1913. 


Zur  Auswahl  und  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten  223 


unmittelbaren  Abzeichnen  nach  der  Natur.  Die  Naturdarstellungen  fallen, 
wie  Kerschensteiner  nachweist,  bei  etwa  80 ^o  aller  Kinder  schlechter  aus 
als  die  Gedächtniszeichnungen.  Es  sind  eben  eine  ganze  Reihe  psycholo- 
gischer Schwierigkeiten,  die  nur  durch  Studium  am  Einzelobjekt  überwimden 
werden  können.  Nur  dieser  Weg  führt  zur  formgemäßen  Darstellung,  die 
auch  der  Selbstkritik  standhält.  Aber  der  Weg  ist  lang  und  dornenvoll,  und 
die  Lust  zum  Zeichnen,  wenn  sie  noch  vorhanden  ist,  verlangt  nach  ganz 
anderen  Dingen.  Bilder  sollen  entstehen,  nach  Erfolg,  Ruhm  und  Befriedigung 
strebt  der  junge  Zeichner,  und  klug  wählt  er  den  sichersten  und  einfachsten 
Weg,  er  kopiert.  Für  viele  ist  das  Kopieren  die  letzte  Stufe  ihrer  zeich- 
nerischen Entwicklung,  und  sie  kann  so  frühzeitig  auftreten  und  einen  solchen 
Grad  der  Vollkommenheit  erreichen,  daß  man  von  einer  einseitigen  Kopier - 
begabung  sprechen  kann.  Sie  beruht  auf  scharfer  Beobachtungsgabe  und 
guter  Handgeschicklichkeit.  Über  den  Wert  des  Kopierens  ist  gar  nicht  zu 
streiten.  Bildung  des  Geschmacks  und  Übung  in  den  Techniken  des  Zeichnens 
können  durch  fleißiges  Kopieren  künstlerischer  Vorlagen  wohl  erreicht  werden, 
aber  für  das  Naturzeichnen  hat  es  wenig  oder  gar  keine  Bedeutung,  w^eil 
die  psychologischen  Funktionen  beim  Abzeichnen  des  Objekts  andere  sind 
als  beim  Kopieren.  Die  Naturdarstellung  scheitert  an  der  Unfähigkeit,  klare 
Vorstellungen  zu  gewinnen,  die  Form  an  sich  gewißermaßen  vom  Objekt 
zu  abstrahieren.  Die  Vorlage  ist  in  dieser  Beziehung  bereits  eine  gelöste 
Aufgabe,  die,  im  übertragenen  Sinne,  nur  noch  „abzuschreiben"  ist.  Der 
Hauptwert  des  Kopierens  liegt  deshalb  im  Technischen,  Handwerkhchen.  Nur 
wenn  die  Kopie,  die  Nachzeichnung,  sich  frei  macht  von  pedantischer  Nach- 
ahmung und  mehr  den  geistigen  Gehalt  der  Vorlage  auszudrücken  sich 
bemüht,  kann  sie  künstlerischen  Wert  gewinnen.  Künstlerische  Kopisten 
sind  aber  bekanntlich  sehr  selten  zu  finden.  Auf  Grund  seiner  einseitigen 
Begabung,  seiner  Handgeschicklichkeit  und  Beobachtungsgabe,  eignet  sich 
der  Kopist  nur  für  technische  Berufe  des  Zeichnens,  z.  B.  in  der  Lithographie, 
als  technischer  Zeichner  und  dergl.  So  häufig  die  Kopierbegabung  auftritt 
und  so  blendend  oft  ihre  Erzeugnisse  sind,  muß  sie  doch  verhältnismäßig 
gering  bewertet  werden. 

Aber  auch  die  Begabung  für  Naturwiedergabe  kann  so  einseitig  auftreten, 
daß  sie,  wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf,  zu  einem  reinen  „Naturkopieren " 
Vvärd,  d.  h.  der  Zeichner  besitzt  die  Fähigkeit,  mit  einer  vorzüglichen  Beobach- 
tungsgabe alle  Einzelheiten  der  Erscheinungsform  aufzufassen  und  richtig 
darzustellen.  Seine  Leistungen  befriedigen  den  Zeichenlehrer  vollkommen, 
er  ist  im  Freihandzeichnen  nicht  selten  unser  bester  Zeichner.  Ja,  in  den 
höheren  Klassen  kann  diese  Fähigkeit  bis  zum  Porträt  ausreichen,  kann  im 
Höchstfalle  sogar  künstlerische  Darstellungsart  zeigen  ohne  jedoch  künstlerisch 
zu  sein,  weil  die  objektiv  genaue  Darstellung  ohne  rein  künstlerische  Ge- 
fühlsv/erte  ist.  Was  diesen  Zeichnern  fehlt,  ist  die  Vorstellungfähigkeit. 
Ihre  Gedächtniszeichnungen  und  Kinderzeichnungen  überragen  nur  wenig 
die  Grenze  des  Normalen.  Der  Zeichner  kann  in  keiner  Sekunde  das  Modell 
entbehren.  Gerade  hierbei  unterscheidet  er  sich  vom  hochbegabten  Natur- 
zeichner, der  mit  schnellem  Blick  die  kennzeichnenden  Merkmale  des  Objekts 
erfaßt  und  mit  sicheren  Strichen  darstellt,  ohne  fortgesetzt  das  Vorbild  zu 
fixieren.  Würde  man  beide  Zeichner  lebende  Tiere  darstellen  lassen,  so 
würden  ihre  Begabungsunterschiede  erst  recht -deutUch  werden.    Gerade  das 


224  Paul  Wischer 


Zeichnen  nach  bewegten  Formen  gibt  einen  Maßstab  für  den  Grad  der  Vor- 
stellungsfähigkeit, die  das  unerläßliche  Formengedächtnis  bedingt. 

Wo  nur  die  Fähigkeit  der  Formenauffassung,  ohne  Formengedächtnis  vor- 
handen ist,  handelt  es  sich  nur  um  eine  einseitige  Begabung,  die  zwar 
bedeutend  höher  zu  bewerten  ist  als  die  Kopierbegabung,  aber  am  besten 
doch  nur  für  technische  Zeichenberufe  in  Frage  kommt.  Kik  findet,  daß 
solche  einseitige  Begabung  meist  auch  mit  Schwächen  in  wichtigen  Haupt- 
fächern der  Schule  verbunden  ist,  z.  B.  Sprachen  und  Mathematik.  Auf  den 
höheren  Schulen  sind  diese  begabten  Zeichner  sehr  übel  dran.  Die  An- 
strengungen für  die  Mängel  in  den  Hauptfächern  lassen  zur  weiteren  Aus- 
bildung des  LiebMngsfaches  wenig  Zeit  und  Kraft  übrig.  Hier  müßte  eine 
höhere  Bewertung  des  Zeichnens  vorhandene  Mängel  in  anderen  Fächern 
ausgleichen  können.  Über  das  Verhältnis  der  Zeichenbegabung  und  der 
allgemeinen  Intelligenz  sei  bemerkt,  daß  nach  Kik  und  Kerschensteiner  eine 
gute  allseitige  Zeichenbegabung  auch  mit  guter  allgemeiner  InteUigenz  ver- 
bunden ist. 

Zwischen  den  vorhin  gegenübergestellten  Begabungen,  dem  einseitigen 
Beobachter  und  dem  hochbegabten  Zeichner,  bewegt  sich  nun  die  Menge 
aller  Begabungen,  die  mit  guter  Beobachtungsgabe  eine  ebensolche  Vor- 
stellungs-  und  Phantasiebegabung  verbinden.  Auch  sie  können  wieder  ein- 
seitig stark  hervortreten.  Kik  fand  unter  seinen  Kindern  ausgesprochene 
Typen  der  Vorstellungsbegabung,  die  beim  Gedächtniszeichnen  nach  Gegen- 
stand- oder  Bildvorstellungen  Hervorragendes,  beim  Naturzeichnen  nur 
Normales  leisteten.  Vorstellungs-  und  Phantasiebegabung  sind  oft  schwer 
zu  unterscheiden,  da  sich  bei  näherer  Untersuchung  viele  Phantasiezeich- 
nungen der  Kinder  als  mehr  oder  weniger  veränderte  Gedächtniszeichnungen 
herausstellen.  Aber  während  der  begabte  Gedächtniszeichner  oft  eine 
erstaunliche  Genauigkeit  und  Treue  des  Formgedächtnisses  aufweist,  legt 
der  Phantasiezeichner  auf  die  Form  viel  weniger  Wert  als  auf  den  geistigen 
Inhalt  des  Dargestellten.  —  Soweit  es  sich  bei  allen  diesen  Begabungstypen 
um  eine  einseitige  Veranlagung  handelt,  sind  sie  leider  wenig  wertvoll. 
Erst  ihre  verschiedenen  Mischungen  ergeben  brauchbare  Zeichner,  deren 
Begabung  auch  berufhch  zu  verwerten  ist.  Je  nachdem  die  eine  oder  andere 
Art  vorwiegt,  kommen  technische,  kunstgewerbliche  und  künstlerische  Be- 
rufe in  Frage. 

Kik  hat  gezeigt,  wie  man  aus  zeichnerischen  Entwicklungsreihen  durch 
eingehendes  Studium  der  Zeichnungen  die  übernormale  Zeichenbegabung, 
und  zwar  die  verschiedenen  Begabungstypen,  erkennen  kann.  Seine  Arbeit 
verdiente  aber  weitergeführt  zu  werden,  um  seine  Urteile  auf  eine  breitere 
Grundlage  zu  stellen.  Die  Zeichenlehrer  könnten  sich  hier  ein  großes  Ver- 
dienst um  die  psychologische  Begabungsforschung  im  Zeichnen  erwerben, 
wenn  sie  von  ihren  begabten  Zeichnern  recht  viele  Zeichnungen  aus  Schule 
und  Haus  zu  Entwicklungreihen  mit  biographischen  Bemerkungen  zusammen- 
stellen würden.  Ideal  aber  wäre  eine  solche  Sammlung,  die  Einblicke  in 
den  zeichnerischen  Entwicklungsgang  eines  ausübenden  Künstlers  gestattete. 
Über  die  künstlerische  Entwicklung  sind  wir  meist  unterrichtet,  aber  gerade 
das  Keimen  und  Wachsen  des  jungen  Talents  ist  für  den  Lehrer  und 
Psychologen  bedeutungsvoll.  Hier  liegt  noch  ein  interessantes,  aber 
schv^ieriges  Arbeitsfeld. 


Zur  Auswahl  und  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten  225 


Nachdem  wir  das  Erkennen  der  übernormalen  Zeichenbegabung  aus  ihrer 
Entwicklung  (Krötzsch)  und  die  Begabungstypen  aus  der  Art  der  Entstehung 
der  Zeichnungen  festgestellt  haben,  bleibt  noch  die  Frage  zu  erörtern,  welche 
Wege  uns  die  experimentelle  Psychologie  weist.  Sie  sind  uns  gezeigt  von 
Ernst  Meumann  und  Albien  durch  die  psychologische  Analyse  der  zeich- 
nerischen Begabung. 

Die  vielen  Teilvorgänge,  die  in  ihrer  Gesamtheit  den  Zeichenakt  so 
schwierig  gestalten,  daß  eine  psychologische  Analyse  noch  heute  teilweise 
als  unsicher  gelten  muß,  lassen  sich  nach  Meumann  *)  in  drei  Hauptgruppen 
zusammenfassen.  Es  sind  1.  optische,  2.  motorische,  3.  apperzeptive 
Vorgänge  und  deren  Zusammenwirken,  wobei  es  wieder  hauptsächlich  auf 
das  Zusammenwirken  von  Auge  und  Hand  und  von  Gesichtsvorstellung 
und  Hand  ankommt.  Von  besonderer  Bedeutung  ist  das  Zustandekommen 
der  Gesichtsvorstellungen  durch  die  äußeren  und  inneren  Sehvorgänge. 
Meumann  weist  auf  die  bekannte  Behauptung  des  Anatomen  Henke-)  und 
des  Geologen  Heim^)  hin.  „Zeichnen  ist  Sehen!"  Wer  genau  sieht  und 
sichere  visuelle  Erinnerungsbilder  hat,  müßte  demnach  auch  zeichnen  können. 
Dem  ist  entgegenzuhalten,  daß  es  sehr  viele  Menschen  gibt,  die  sehr  genau 
sehen  und  absolut  klare  Gesichtsvorstellungen  haben,  ohne  sie  jedoch  zeichnen 
zu  können.  Auf  die  optischen  Vorgänge  müssen  wir  deshalb  etwas  genauer 
eingehen.  Da  es  sich  hier  um  eine  Analyse  der  Begabung  zum  Zeichnen 
und  nicht  des  Zeichenaktes  selbst  handelt,  kann  auf  eine  Klarlegung  der 
elementaren  Sehvorgänge  verzichtet  werden.  Erst  bei  den  höheren  Seh- 
vorgängen beginnt  die  Unterscheidung  der  individuellen  Zeichenbegabung. 
Die  psychologische  Analyse  gibt  uns  hier  auch  die  Erklärung  der  ver- 
schiedenen vorhin  festgestellten  Begabungstypen.  Sie  sind,  wie  Albien^) 
feststellte,  im  Grunde  nichts  weiter  als  verschiedene  Sehtypen.  Albien 
fand  durch  seine  Untersuchungen,  auf  die  ich  zurückkommen  werde,  einen 
visuellen  Typ,  der  sich  allein  auf  die  Genauigkeit  des  Sehens  verläßt,  und 
einen  konstruierenden  Typ,  dessen  Sehvorgang  mehr  durch  Gefühls- 
momente, Kombination  und  Phantasie  beeinflußt,  d.  h.  in  seiner  Genauigkeit 
gestört  wird.  Läßt  man  eine  Anzahl  begabter  Zeichner  nach  demselben 
Modell  zeichnen,  so  werden  meist  drei  Hauptgruppen  zu  untei'scheiden  sein. 
Die  eine  beobachtet  außerordentlich  scharf  und  bringt  alle  Einzelheiten,  die 
zweite  dagegen  läßt  sich  bei  der  Darstellung  mehr  vom  Gesamteindruck 
leiten,  ohne  die  objektive  Genauigkeit  im  einzelnen  zu  erreichen.  Die 
Zeichnung  verrät  eine  gewisse  Ungenauigkeit  und  Unsicherheit  in  der  Strich- 
führung. Man  sagt  gewöhnlich,  der  Zeichner  sieht  nicht  scharf  genug.  Das 
kann  einen  zweifachen  Grund  haben:  Ent^veder  ist  die  Aufmerksamkeit  eine 
flüchtige,  oder  aber  das  Objekt  selbst  wirkt  mit  der  Fülle  seiner  Einzelheiten 
verwirrend  auf  den  Zeichner,  so  daß  es  nicht  gehngt,  ein  klares  visuelles 
Bild  zu  erhalten.  Die  dritte  der  vorhin  erwähnten  Gruppen  ist  in  gewissem 
Sinne  eine  Kombination  der  beiden  ersten.     Der  Zeichner  sieht  sehr  scharf, 


')  E.  Meumann :  Ein  Programm  zur  psychol.  Untersuchung  d.  Zeichnens.  Zeitschr.  f.  pädag. 
Psychol.,  Bd.  13,  Heft  7/8. 

*)  Henke:  Zeichnen  und  Sehen,  1889. 

^)  Heim:  Sehen  und  Zeichnen  (Vortrag),  Basel  1894. 

*)  Albien:  Der  Anteil  der  nachkonstruierenden  Tätigkeit  des  Auges  und  der  Apperzeption 
a.  d.  Behalten  u.  d.  Wiedergabe  einfacher  Formen.     Leipzig  1907. 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  16 


226  Paul  Wischer 


gibt  aber  nur  die  das  Modell  charakterisierenden,  typischen  Merkmale  wieder. 
Diese  Gruppe  zeigt  die  Fähigkeit,  künstlerisch  darzustellen;  sie  ist  deshalb 
am  höchsten  zu  bewerten. 

Die  Güte  der  Gesichtsvorstellungen  hängt  aber  nicht  nur  von  der  Genauig- 
keit der  Beobachtung  des  Objekts,  sondern  auch  von  der  Dauerhaftigkeit 
der  visuellen  Erinnerungsbilder,  also  dem  Formgedächtnis  ab.  Wieweit  die 
Genauigkeit  der  Gesichtsvorstellungen  die  Treue  des  Formgedächtnisses  beein- 
flußt, ist  heute  noch  eine  offene  Frage.  Keineswegs  kann  man  ohne  weiteres 
sagen:  Je  genauer  das  Sehen,  desto  dauerhafter  die  Erinnerungsbilder.  Beweis: 
der  vorhin  charakterisierte  Typ  des  einseitigen  Naturzeichners.  Eins  aber 
steht  fest,  daß  zum  rechten  Erfolg  im  Zeichnen  beide  Fähigkeiten  verbanden 
sein  müssen.  „UnerläßUch  ist  auf  jeden  Fall,"  sagt  Meumann,  „daß  der 
Zeichner  zuerst  einmal  genau  gesehen  und  genau  vorgestellt  hat,  sonst 
entsteht  keine  typische  Darstellung  des  Objekts,  sondern  bloß  Unbeholfenheit 
des  Ausdrucks  und  Untreue  der  Darstellung."  Wenn  daher  der  Zeichen- 
unterricht die  Erziehung  zum  bewußten  Sehen  als  erstes  Ziel  erstrebt,  so  ist 
er    damit   auch  auf   rechtem  Wege  zu  Formerfassung  und  Formgedächtnis. 

Zur  Formauffassung  führen  aber  keineswegs  nur  optische,  sondern  vor 
allem  auch  apperzeptive  Vorgänge.  Eine  Form  wird  um  so  leichter  und 
genauer  erfaßt,  je  mehr  ähnliche  Vorstellungen  bereits  im  Bewußtsein  des 
Zeichners  vorhanden  sind.  Auch  die  genaue  Kenntnis  des  Objekts  kann  von 
größter  Bedeutung  sein.  Eine  wesentliche  Hilfe  bei  der  Formauffassung  ist 
das  analysierende  Sehen.  Man  steht  einer  neuen,  komplizierten  Form  als 
Ganzem  oft  ratlos  gegenüber.  Das  zeichnerisch  geschulte  Auge  sucht  zunächst 
nach  Teilformen,  die  den  wesentUchen  Bestandteil  der  Gesamtform  ausmachen. 
Dazu  ist  unbedingt  die  Kenntnis  elementarer  Grundformen  der  Flächen  und 
Körper  nötig.  Wenn  von  vielen  Zeichenmethodikern  die  Übermittlung  solcher 
Grundformen  als  zu  abstrakt,  geisttötend  verworfen  wird,  so  ist  das  wohl 
eine  gewaltige  Überschätzung  der  naiven  künstlerischen  Fähigkeiten,  die 
angeblich  im  Kinde  schlummern  sollen.  Für  die  von  Natur  aus  begabten  ist 
dieser  Standpunkt  wohl  verständlich,  aber  der  Durchschnittsschüler  kann  m.  E. 
nur  dadurch  zum  analysierten  Sehen  befähigt  werden,  daß  er  mit  diesen 
Grundformen  arbeitet,  denn  sie  gerade  geben  Apperzeptionsstützen  ersten 
Ranges.  Aber  der  Begriff  der  Apperzeption,  wie  ihn  Herbart  gefaßt  hat,  ist 
zu  eng.  Meumann  rechnet  zur  Apperzeption  auch  alle  durch  die  betrachtete 
Form  ausgelösten  Gefühls-  und  Willensmomente,  weil  sie  das  Erfolg  bedingende 
Zusammenvdrken  von  Auge  und  Hand  hemmend  oder  fördernd  beeinflussen 
können.  Nicht  auf  den  Muskelapparat  kommt  es  hauptsächlich  an,  sondern 
wie  Meumann  sagt,  auf  die  die  Bewegung  begleitenden  und  kontrollierenden 
Gelenk-  oder  Bewegungsempfindungen. 

Hier  gehen  die  Meinungen  der  Fachpsychologen  auseinander.  Meumanns 
Gegner  sagen,  nicht  die  Empfindung,  (das  „Gefühl"),  sondern  allein  der  Wille, 
der  Impuls  leitet  eine  Bewegung.  Auf  die  Zuordnung  dieses  Impulses  zur 
Gesichtsvorstellung  kommt  es  an.  Hieran  fehlt  es  eben  dem  Nichtzeichner. 
Auf  welche  Weise  der  Unterricht  hier  fördernd  eingreifen  kann,  das  ist  das 
ganze  Problem  des  Zeichnens.  Man  kommt  seiner  Lösung  vielleicht  am 
nächsten,  wenn  man  den  zeichnerischen  Akt  mit  dem  Sprechen,  Singen, 
Musizieren  vergleicht.  Bei  allen  Funktionen  handelt  es  sich  um  den  Impuls 
zur  Auslösung  bestimmter  Bewegungen.    Gefördert  wird  dieser  Impuls  zweifei- 


Zur  Auswahl  und  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten  227 


los  durch  bewußte  oder  unbewußte  stete  Übung  der  Bewegungselemente. 
Dabei  sei  bemerkt,  daß  je  nach  der  natürlichen  Veranlagung  auch  die 
erreichbare  Geläufigkeit  der  entsprechenden  Bewegung  variiert.  Wenn  nun 
unsere  zeichnerischen  Durchschnittsleistungen  schwach  sind,  so  führe  ich  das 
darauf  zurück,  daß  wir  viel  zu  wenig  zeichnen.  So  mangelhaft  man  z.  B. 
das  Klavierspielen  lernt,  wenn  man  wöchentlich  nur  zwei  Stunden  Unterricht 
nimmt  und  sonst  nicht  übt,  so  wenig  kann  man  auch  durch  zwei  Zeichen- 
stunden wöchentUch  Zeichnen  lernen.  Man  frage  doch  einmal,  wie  viel 
Kinder  sich  zu  Haus  zeichnerisch  betätigen.  Es  werden  meist  nur  die  guten 
Zeichner  sein.  Will  man  also  den  zeichnerischen  Durchschnitt  heben,  so 
muß  täglich  etwas  gezeichnet  werden,  sei  es  Nachzeichnen,  Naturzeichnen 
oder  Gedächtniszeichnen.  —  So  ergibt  sich  schon  aus  diesen  psychologischen 
Erwägungen  heraus  die  Notwendigkeit,  das  Zeichnen  nicht  nur  als  Unter- 
richtsdisziplin zu  pflegen,  sondern  wie  Seinig  es  fordert,  zum  Unterrichts- 
prinzip zu  machen.  Wenn  dabei  mehr  von  der  Wandtafel  abgezeichnet 
wird  als  bisher,  so  ist  das  kein  Fehler. 

Auf  methodische  Einzelheiten  kann  ich  hier  natürlich  nicht  eingehen.  Zu- 
sammenfassend kann  man  wohl  sagen,  daß  im  wesentlichen  zwei  Momente 
die  Fähigkeit  zum  Zeichnen  ausmachen,  das  analysierende  Sehen  und  der 
Impuls  zur  Ausführung  der  entsprechenden  Bewegungen.  Gesichtsvorstellung 
und  Bewegungsimpuls  müssen  eng  miteinander  verknüpft  sein.  Das  ist  bei 
dem  begabten  Zeichner  in  hohem  Maße  der  Fall.  Auge  und  Hand  stehen 
bei  ihm  in  so  engem  Kontakt,  daß  vielfach  schon  beim  Sehen  der  Form 
gleichzeitig  entsprechende  Bewegungen  ausgelöst  werden.  Dem  tüchtigen 
Zeichner  zuckt  es  in  der  Hand,  wenn  eine  Erscheinungsform  ihn  zur  Dar- 
stellung reizt.  Was  er  sieht,  steht  mit  sicheren  Strichen  sofort  auf  dem 
Papier.  Radiergummi  wird  selten  gebraucht,  die  Zeichnung  verrät  in  allen 
Teilen  eine  überzeugende  Sicherheit,  ist  aber  deshalb  keineswegs  immer 
künstlerisch.  —  Worin  hegt  nun  das  spezifisch  Künstlerische?  „Es  Hegt" 
wie  Meumann  sagt,  „in  der  Art  der  Auffassung  und  Darstellung  des 
Objekts.  Der  künstlerisch  Begabte  begnügt  sich  nicht  mit  dem  Nachbilden 
der  Erscheinungsform,  sondern  er  bemüht  sich,  mit  ihrer  Wiedergabe  eine 
Summe  von  ausgelösten  Gefühlen,  Erinnerungen,  Lebenserfahrungen  zimi 
Ausdruck  zu  bringen.  Unter  Auffassung  versteht  man  die  Art  der  geistigen 
Verarbeitung  des  Objekts.  Diese  kann  so  subjektiv  sein,  daß  ein  aUgemeines 
Verständnis  schwer,  oft  sogar  unmöglich  wird.  (Impressionismus,  Expressio- 
nismus, Futurismus  usw.)  Kunst  ist  aber  nicht  nur  Ausdruck,  sondern 
ringt  stets  nach  einer  Form  der  Darstellung.  Darunter  versteht  man  das 
Herausarbeiten  des  künstlerisch  Wesentlichen  und  die  Ausnutzimg  des 
jeweihgen  Zeichenmaterials.  Die  künstlerische  Darstellungsform  ist  lehrbar, 
die  Auffassung  nicht;  sie  ist  angeboren."  Psychologisch  betrachtet  müßte 
also  eigentlich  jedermann  bis  zu  einem  ziemlich  hohen  Grade  zeichnen  lernen 
können,  indem  die  Mängel  seiner  Begabung  durch  entsprechende  Unterrichts- 
dauer und  -art  und  emsigen  Fleiß  ausgeghchen  werden.  Von  diesem  Ge- 
sichtspunkt betrachtet,  ist  es  fast  unmöglich,  bestimmt  zu  sagen,  wo  die 
normale  Begabung  aufhört  und  die  übernormale  anfängt.  Als  Maßstab  könnte 
hier  nur  die  Durchschnittsleistung  in  Betracht  kommen,  die  sich  aus  der 
Unterrichtserfahrung  ergibt.  Die  vorhin  geforderte  psychologisch  geleitete 
Beobachtung  müßte  deshalb  besonders  feststellen,    wie  weit  die  natürhche 

15* 


228  Paul  Wischer 


Begabung  durch  Fleiß  und  Energie  des  Willens  beeinflußt  wird.  Jedenfalls 
ist  die  Beurteilung  einer  Zeichenbegabung  allein  aus  den  vorHegenden  fertigen 
Zeichnungen  unsicher,  wenn  sie  nicht  durch  eine  schriftlich  niedergelegte 
längere  Beobachtung  gestützt  wird.  Da  aber  außerdem  in  den  seltensten 
Fällen  die  Zeichnungen  ausschließlich  Eigenarbeiten  ohne  Korrektur  des 
Lehrers  sind,  ist  eine  Prüfung  des  Schülers  unerläßlich.  Sie  hätte  sich 
nach  den  voraufgehenden  Ausführungen  zu  erstrecken: 

1.  aufHandgeschickUchkeit,  bezw.auf  das  Zusammenwirken  von  Auge  undHand, 

2.  auf  Genauigkeit  der  visuellen  Beobachtungsgabe, 

3.  auf  Treue  des  visuellen  Gedächtnisses, 

4.  auf  die  Art  der  Verarbeitung  des  Objekts   (phantasie-  und  gefühlsmäßig 
oder  in  künstlerischer  Darstellung), 

5.  auf  die  Art  der  Auffassung  des  Objekts  (subjektiv-künstlerische  Auffassung). 

Die  Handgeschicklichkeit,  die  Genauigkeit  der  visuellen  Beobachtung  und 
die  Treue  des  visuellen  Gedächtnisses  lassen  sich  auf  Grund  experimenteller 
Methoden  prüfen,  die  Art  der  Verarbeitung  und  die  Auffassung  des  Objekts 
nicht  Eine  derartige  Untersuchung  wäre  für  den  Zeichenunterricht  von 
größter  Bedeutung,  da  in  diesen  Teilvorgängen  die  Gründe  für  das  Nicht- 
zeichnenkönnen liegen.  Wie  weit  die  Handgeschicklichkeit  die  Güte  der 
Zeichnung  beeinflussen  kann,  ist  heut  noch  eine  Streitfrage.  Graberg ')  legt 
in  seiner  Arbeit  über  die  visuellen  motorischen  Zeichenvorgänge  größeren 
Wert  auf  gewisse  rhythmische  Bewegungen,  die  in  steter  Wiederholung  geübt 
werden  müssen.  Meumann  dagegen  warnt  vor  einer  Überschätzung  der  rein 
motorischen  Vorgänge.  Es  bleibt  einer  Untersuchung  der  technischen  Be- 
gabungen vorbehalten,  die  Handgeschicklichkeit  an  sich,  z.  B.  die  Unterschieds- 
empfindlichkeit für  differenzierte  Bewegungsrichtungen,  zu  prüfen. 

Die  experimentelle  Psychologie  kennt  dazu  verschiedene  Methoden.  Die 
zeichnerische  Handgeschicklichkeit  kann  schon  dadurch  untersucht  werden, 
daß  man  vorgezeichnete  Linien  und  Linienzüge  nachzeichnen  läßt.  Man 
bedient  sich  dazu  eines  elektrischen  Kontrollapparates,  der  jede  Abweichung 
beim  Nachzeichnen  durch  ein  Glockenzeichen  angibt.  Maßstab  zur  Beur- 
teilung der  Leistung  gibt  einmal  die  Zeitdauer  der  Ausführung  und  die 
Häufigkeit  des  Glockenzeichens,  also  der  Fehler.  —  Die  visuelle  Genauigkeit 
kann  auf  verschiedene  Weise  geprüft  werden.  Am  exaktesten  erscheint  mir 
die  Methode,  die  Albien  bei  seinen  Versuchen  anwandte.  Er  bediente 
sich  eines  Apparates,  der  nach  dem  Prinzip  des  sogenannten  Schnellsehers, 
des  Tachistoskops,  konstruiert  war.  Eine  bestimmte  Zeichnung  blieb  10  bis 
20  Sekunden  vor  dem  Auge  des  Zeichners,  wurde  genau  fixiert,  plötzlich 
verdeckt  und  dann  gezeichnet.  Anstelle  der  Albien'schen  Zeichnungen  würden 
für  unsere  Zwecke  besser  Objekte  mit  mehreren  typischen  Einzelheiten 
gewählt.  Bei  einem  zweiten  Versuch  kann  dann  ein  ähnliches  Objekt  bei 
unbegrenzter  Beobachtungszeit  abgezeichnet  werden,  wobei  vor  allem  die 
Gesamtarbeitszeit  zu  notieren  ist.  Aus  der  Zahl  der  fehlenden  charakte- 
ristischen Einzelheiten  ist  der  Grad  der  visuellen  Beobachtungsfähigkeit  fest- 
zustellen. Denselben  Apparat  benutzte  Albien  zur  Prüfung  des  Form- 
gedächtnisses,  also  der  Treue  der  visuellen  Erinnerungsbilder.     Der  Schüler 


')  Graberg,  Die  visuell-motorischen  Zeichenvorgänge.  Zeitschr.  f.  experiment.  Pädagogik  Bd.  VII. 


Zur  Auswahl  und  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten  229 

darf  das  Objekt  so  lange  betrachten,  bis  er  es  aus  dem  Gedächtnis  zeichnen 
zu  können  glaubt;  dann  wird  das  Objekt  entfernt  und  dargestellt.  Die  Zeit 
der  Beobachtung  und  Darstellung  ist  einzeln  zu  notieren.  Ich  muß  mich 
hier  darauf  beschränken,  die  experimentehen  Methoden  der  Prüfung  nur 
kurz  anzudeuten,  sie  wären  im  Einzelnen  natürüch  noch  psychologisch  ein- 
gehend festzulegen. 

Vom  Standpunkt  des  Praktikers  aus  kann  man  auch  einen  anderen  Weg 
zur  Prüfung  der  drei  genannten  Grundforderungen  des  Zeichnens  einschlagen. 
So  wesentlich  die  Prüfung  der  Handgeschicklichkeit,  der  Genauigkeit  der 
visuellen  Beobachtung  und  der  Treue  des  visuellen  Gedächtnisses  im  einzelnen 
für  die  Art  der  Begabung,  den  Begabungstyp,  sein  können,  müssen  wir 
doch  betonen,  daß  erst  ihr  Zusammenwirken  die  Qualität  der  Zeichen- 
begabung ausmacht.  Man  könnte  deshalb  vielleicht  auf  eine  experimentelle 
Prüfung  im  Einzelnen  verzichten,  wenn  das  Abzeichnen  und  Gedächtnis- 
zeichnen unter  bestimmten  Voraussetzungen  geschieht.  Von  größter  Bedeutung 
ist  dabei  die  Art  der  gestellten  Aufgabe.  Wie  man  unter  allgemeiner 
Intelligenz  die  Fähigkeit  versteht,  sich  schnell  und  leicht  einer  neuen 
Anforderung  anzupassen,  so  muß  auch  die  zeichnerische  Begabung  am 
deutlichsten  zum  Ausdruck  kommen,  wenn  man  den  Schüler  vor  Aufgaben 
stellt,  die  ihm  bisher  noch  nicht  zugemutet  wurden. 

Würde  man  die  Aufgabe  aus  dem  Stoffgebiet  des  Schulzeichnens  wählen, 
so  müßte  das  Moment  der  Übung  in  Betracht  gezogen  werden.  Der  weniger 
begabte  Schüler  könnte,  falls  er  im  Zeichenunterricht  ähnliche  Aufgaben 
mehrfach  gelöst  hat,  die  Leistung  des  hochbegabten  erreichen.  Die  Beur- 
teilung der  Begabung  uürde  dadurch  wesentlich  erschwert  werden.  Begabungs- 
prüfungen sind  Kraftproben.  Ich  halte  es  deshalb  für  zweckmäßiger,  die 
Kinder  nach  dem  lebenden  Modell,  dem  Menschen,  zeichnen  zu  lassen  (z.  B. 
Knabe  in  Schrittstellung,  im  Profü,  mit  Mütze  und  Mappe).  Die  Leistungen 
sind  natürlich  nur  relativ  zu  bewerten.  Da  der  für  die  Apperzeption 
wesentliche  Einfühlungsprozeß  sehr  verschiedene  Zeitdauer  beansprucht,  ist 
vor  dem  Zeichnen  eine  bemessen  kurze  Beobachtungszeit  geboten.  Diese 
ist  genau  zu  notieren;  das  Abzeichnen  beginnt  gleichzeitig.  Beim  Zeichnen 
sind  die  Schüler  zu  beobachten,  ob  sie  das  Modell  fortgesetzt  fixieren  oder 
seltener  hinzusehen  brauchen,  ob  sie  viel  radieren,  oder  den  Gummi  fast 
gar  nicht  benutzen.  Nach  15  Minuten  ist  der  Arbeitsakt  zu  unterbrechen. 
Die  Schüler,  die  schnell  visuell  auffassen  und  ebenso  sicher  imd  gewandt 
darstellen,  werden  ihre  Arbeit  bedeutend  weiter  gebracht  haben,  als  diejenigen, 
bei  denen  alle  psychologischen  Funktionen  des  Zeichnens  sich  langsamer 
ab\^^ckeln,  weil  sie  verschiedentliche  Hemmungen  zu  überwinden  haben. 
Auf  die  Arbeitszeit  allein  kommt  es  aber  nicht  an,  es  muß  auch  die 
Qualität  des  Dargestellten,  in  diesem  Falle  zunächst  die  Genauigkeit  der 
Beobachtung  beachtet  werden.  Die  Unterbrechung  des  Zeichenaktes  hat 
also  nur  den  Zweck  festzustellen,  ob  der  Zeichner  schnell  und  genau  oder 
schnell  und  ungenau  oder  langsam  auffaßt.  Im  weiteren  Verlauf  der  Arbeit 
kann  auch  der  langsame  Schüler  eine  genaue  oder  ungenaue  visuelle  Be- 
obachtung zeigen.  Die  Gesamtarbeitszeit  ist  zu  notieren.  Die  Arbeitszeit 
im  Verhältnis  zum  Arbeitserfolg  ergibt  den  Grad  der  zeichnerischen  Begabung. 
Hierbei  müßten  auch  die  etwa  zum  Ausdruck  kommenden  künstlerischen 
Momente  in  der  Darstellung  und  Auffassung  des  Objekts  bewertet  werden. 


230        Paul  Wischer,  Zur  Auswahl  und  Prüfung  der  zeichnerisch  Begabten 


Um  die  Besserung  der  Leistungen  durch  die  Übung  zu  untersuchen,  muß 
das  Objektzeichnen    an   drei  Tagen   mit  neuem   Modell  wiederholt   werden. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Aufgaben  müßte  sich  auf  die  Prüfung  des  visuellen 
Gedächtnisses  erstrecken.  Das  Formgedächtnis  tritt,  wie  wir  gesehen  haben, 
in  Kraft,  wenn  zwischen  Formauffassung  und  Darstelhing  ein  längerer  oder 
kürzerer  Zeitraum  liegt.  Dabei  gibt  es  drei  Möglichkeiten:  das  Objekt  kann 
kurz  vor  der  Darstellung  wenige  Sekunden  angesehen  und  dann  sofort  aus 
dem  Gedächtnis  gezeichnet  werden.  Zweitens  kann  ein  Gegenstand  des 
täglichen  Gebrauchs  oder  eine  sonst  bekannte  Form  ohne  vorhergehende 
Betrachtung  dargestellt  werden.  Drittens  kann  die  Wiederholung  eines  vor 
mehreren  Tagen  oder  Wochen  gezeichneten  Objekts  verlangt  werden,  um  die 
Dauerhaftigkeit  und  Treue  des  visuellen  Gedächtnisses  zu  prüfen.  Die  zweite 
Aufgabe  würde  nachweisen,  ob  der  Schüler  auch  dann  zeichnerisch  sieht, 
wenn  er  bei  der  Anschauung  des  Objekts  gar  nicht  die  Absicht  zum  Zeichnen 
gehabt  hat.      Hier  hätten  wir  den  reinsten  Typ  der  Vorstellungsbegabung. 

Als  dritte  Gruppe  der  Aufgaben  blieben  noch  solche,  die  eine  ideelle 
Verarbeitung  der  im  Gedächtnis  haftenden  Formen  durch  die  Phantasie  prüfen. 
Hierher  gehören  Illustrierversuche,  Entwürfe,  Erfinden  von  Schmuck-  und 
Zierformen  und  dergl. 

An  diese  Hauptgruppen  von  Prüfungsaufgaben  könnte  sich  zur  Feststellung 
der  begabtesten  Zeichner  noch  das  Zeichnen  nach  dem  lebenden  Tiermodell 
(Vogel,  Katze,  Kaninchen  usw.)  anschließen.  Auch  die  Anfertigung  einer 
Kopie  ist  zum  Herausfinden  der  rein  technisch  Begabten  nicht  ausgeschlossen. 

Eine  solche  eingehende  Prüfung  ermöglicht  mit  ziemlicher  Sicherheit  eine 
Einordnung  des  Begabungstyps  und  die  Feststellung  seiner  zeichnerischen 
Berufseignung.  Handgeschicklichkeit  und  genaue  visuelle  Beobachtungsgabe 
allein  genügen  für  den  technischen  Beruf  als  Lithograph,  technischer  Zeichner 
u.  a.  Gute  Vorstellungs-  und  Phantasiebegabung,  verbunden  mit  künstlerischer 
Darstellungsform,  befähigen  zum  Kunstgewerblichen.  Künstlerische  Auffassung 
und  Darstellung,  Genauigkeit  der  visuellen  Beobachtung  und  Treue  des 
visuellen  Gedächtnisses  und  ein  vollendetes  Zusammenwirken  von  Auge  und 
Hand  bedingen  den  freien  künstlerischen  Beruf. 

Überblicken  wir  zum  Schluß  zusammenfassend,  woran  und  wie  man  die 
übernormale  Zeichenbegabung  erkennt:  Man  erkennt  sie  an  ihrer 
Entwicklung  und  an  der  Art  der  Entstehung  der  Zeichnungen; 
man  bem'teilt  sie  durch  eine  psychologisch  geleitete  Prüfung,  ergänzt 
durch  eine  ebensolche  vorausgehende  längere  Beobachtung.  Diese  Beobach- 
tung muß  schon  frühzeitig  einsetzen  und  sich  vor  allem  auf  die  freien 
Kinderzeichnungen  erstrecken,  die  bereits  Ansätze  der  übernormalen  Zeichen- 
begabung zeigen  können.  Von  solchen  Begabten  müssen  deshalb  Zeichnungen 
mehrerer  Jahrgänge  zu  Entwicklungsreihen  zusammengestellt  werden. 
Die  systematische  Beobachtung  würde  am  besten  an  der  Hand  eines 
psychologischen  Beobachtungbogens  ausgeführt,  der  neben  allen  Fragen 
der  individuellen  Entwicklung  auch  die  allgemeine  Intelligenz  und  die  Ver- 
erbung berücksichtigt.  Gerade  die  Vererbung  der  zeichnerischen  Begabung 
scheint  sehr  häufig  vorzukommen.  Von  11  Kindern,  die  Kik  untersuchte, 
fand  er  9,  deren  Begabung  auf  direkter  oder  indirekter  Vererbung  beruhte. 
Häufig  kommt  es  vor,  daß  eine  frühzeitig  erkannte  Begabung  plötzUch  stehen 
bleibt,    um  nach  Jahren  erst  wieder   hervorzubrechen.     Hier  sind  Gefühls- 


Marx  Lobsien,  Ein  Test  zur  Prüfung  der  Kritikfähigkeit  231 

und  Willensmomente  oft  von  entscheidendem  Einfluß.  Nichts  kann  dem  sich 
entwickelnden  Talent  mehi*  schaden,  als  vernichtende  Kritik,  Zwang  und 
Strafe,  nichts  kann  andererseits  mehr  zu  neuen  Anstrengungen  anspornen 
als  die  Freude  am  eigenen  Erfolg.  Lust  und  Schaffensfreude  zu  erhalten, 
muß  deshalb  die  Hauptaufgabe  des  Zeichenlehrers  sein,  um  dem  Schüler 
über  die  toten  Punkte  seiner  Entwicklung  hinwegzuhelfen.  Das  Interesse  am 
Objekt,  an  der  Darstellungsform  und  ihrer  praktischen  Verwendung  muß 
immer  aufs  neue  angeregt  werden.  Nur  so  kann  neben  den  alten  Forderungen 
des  Zeichnens,  Auge  und  Hand  zu  üben,  auch  der  Geist  gebildet  und  schUeßhch 
ein  Talent  gefördert  werden. 


Ein  Test  zur  Prüfung  der  Kritikfähigkeit. 

Von  Marx  Lobsien. 

Von  jeher  hat  man  die  Fähigkeit  zur  Kritik  als  Merkmal  der  Intelligenz 
gewertet.  „So  unsympathisch  der  Mensch  ist,"  sagt  Stern,  „dessen  Intelligenz 
sich  vorwiegend  im  Herausfinden  von  Mängeln  und  Schwächen  bekundet, 
80  ist  es  doch  zweifellos,  daß  innerhalb  der  Gesamtheit  geistiger  Fähigkeiten 
auch  diese  ihren  Platz  hat  und  deshalb,  wenn  möglich,  auch  in  einer 
Intelligenzprüfung  festgestellt  werden  muß.  Das  Kritisieren  ist  eine  höhere 
Stufe  des  Verstehens;  denn  jetzt  genügt  es  nicht,  das  Gegebene  in  seinem 
positiven  Inhalt  aufzufassen,  man  muß  es  auch  messen  an  einer  im  Bewußt- 
sein bereithegenden  Norm,  die  sich  in  dem  dargebotenen  Stoff  nicht  be- 
friedigt findet." 

Die  Prüfung  der  Kritikfähigkeit  Jugendhcher  kann  sich  nicht  an  Tests 
genügen  lassen,  wie  Binet  sie  anwandte,  solchen,  die  nur  einzelne  aufdring- 
liche Absurditäten  enthalten,  —  die  sind  viel  zu  leicht.  Es  ist  das  Verdienst 
Sterns,  einen  Test  entworfen  zu  haben,  der  nach  meinen  Erfahrungen  auch 
für  fünfzehn-  bis  achtzehnjährige  Fortbildungsschüler  ein  ausgezeichnetes  Hilfs- 
mittel zur  Prüfung  der  Kritikfähigkeit  darstellt.  Ich  habe  den  von  Stern 
entworfenen  schwierigeren  Test^)  im  Auge.  Er  verlangt  „das  Herausfinden 
von  Stellen,  die  objektive  Kritik  erfordern,  aus  einem  größeren  Ganzen". 
Die  Stellen  enthalten  „offenkundige  Widersinnigkeiten,  die  jeder  ablehnen 
muß,  der  ihren  Inhalt  versteht.  Hierdurch  ist  möghch,  die  Kritikfähigkeit 
der  Prüflinge  exakt  zu  vergleichen,  da  eine  bestimmte  Anzahl  von  sinn- 
widrigen Stellen  gefunden  werden  soll,  und  da  außerdem  diese  Stellen  in 
der  Schwierigkeit  der  Lösung  abgestuft  sind". 

Im  Stern  sehen  Text  kommen  zwölf  Unstimmigkeiten  vor.  Der  PrüfUng 
wird  vor  Erfüllung  seiner  Aufgabe  ausdrücklich  darauf  aufmerksam  gemacht, 
daß  der  Text  Unmöglichkeiten  enthalte,  daß  er  sie  möglichst  alle  aufsuchen 
und  seine  Kritik  begründen  müsse.  Die  Begründung  geschieht  schriftlich  am 
Rande  des  Textes. 

Zur  Bewertung  der  Korrekturen  durch  den  Versuchsleiter  folgende  Be- 
merkungen!    Die  Unstimmigkeiten  wiegen  verschieden  schwer,  auch  die  Be- 


')  Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher.    Diese  Zeitschr.  Bd.  IXX,  S.  79  u.  80.    Auch 
in  dem  Sonderheft:  Das  psychol -päd.  Verfahren  der  Begabtenauslese.     Leipzig  1918.     S.  15. 


232 


Marx  Lobsien 


gründungen;  so  ist  zu  erwarten,  daß  nicht  alle  psychologisch  gleichwertig  sein 
werden;  doch  zeigte  sich  bei  meinen  Versuchen  der  erste  Unterschied  weitaus  am 
wichtigsten,  während  die  logische  Vollkommenheit  oder  Unvollkommenheit  der 
Lösung  weder  so  viele  noch  so  ausgeprägte  Gradunterschiede  aufwies,  daß  ihre 
besondere  Berücksichtigung  sich  verlohnte.  Fehldeutungen  kamen  bei  meinen 
Prüflingen  in  so  geringer  Anzahl  vor,  daß  sie  ohne  Schaden  vernachlässigt 
werden  konnten.  So  blieben  für  die  Bewertung  nur  die  „Treffer"  und  die 
„Auslassungen"  übrig. 

Die  Feststellung  der  Schwierigkeitsunterschiede  der  einzelnen  Widersinnig- 
keiten erforderte  eine  besondere  Überlegung.  Manche  haben  ein  sogleich  in 
die  Augen  springendes  Schwergewicht;  so  wissen  wir,  daß  die  „Verwandt- 
schaftsverhältnisse", zumal  wenn  sie  etwas  verwickelt  liegen,  an  den  Be- 
urteiler hohe  Anforderungen  stellen.  Um  aber  eine  feinere  Wertabstufung 
zu  gewinnen,  ist  notwendig,  in  Prozenten  den  Seltenheitswert  (im  Sinne 
Sterns)  zu  berechnen.  Je  seltener  eine  Absurdität  übersehen  wird,  desto 
leichter  ist  ihre  Bewältigung  —  und  umgekehrt.  Für  die  im  Texte  vor- 
handenen zwölf  Unstimmigkeiten  ergaben  sich  folgende  Schwierigkeitsindizes*): 


Nummer  der  Abgurdität 
im  Text 

Schwierigkeitswert     .     .    . 


ii 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

21 

21 

» 

27 

35 

49 

11 

18 

11 

39 

4 

12 
35 


Der  Untersuchung  wurden  120  Prüflinge  unterworfen,  und  zwar  etwa 
20  fünfzehn-,  30  sechzehn-,  50  siebzehn-  und  20  achtzehnjährige  männHche 
Schüler  (Elektriker  und  Feinmechaniker)  der  Kieler  gewerblichen  Fort- 
bildungsschule. 

Ergebnisse. 

Sie  zerfallen  in  zwei  Gruppen.  In  der  ersten  prüfen  wir  die  Beziehungen 
der  Kritikfähigkeit  zum  Altersfortschritt,  in  der  zweiten  ihr  Verhältnis 
zur  Intelligenz  (auf  Grund  der  Schätzung)  innerhalb  der  vier  Altersstufen. 
In  der  ersten  Gruppe  begnügen  wir  uns  mit  den  Feststellungen,  die  allein 
auf  den  quantitativen  Leistungen  beruhen,  d.  h.  ohne  Auswertung  der 
qualitativen  Schwierigkeitsunterschiede  der  einzelnen  Widersinnigkeiten;  die 
zweite  Gruppe  berücksichtigt  sowohl  die  quantitative  wie  die  quantitativ- 
qualitative Leistungswertung. 

Kritikfähigkeit  und  Altersfortschritt. 
Das  Ergebnis  zeigt  folgende  Tabelle: 


Alter 

15  jährig 

16  jährig 

17  jährig 

18  jährig 

Leistung 

8,56 

9,06 

9,36 

10,17 

Sie  gibt  die  durchschnittliche  Anzahl  der  richtig  kritisierten  Absurditäten 
auf  den  Kopf  jeder  Prüflingsgruppe  an.  Man  sieht,  wie  mit  steigendem  Alter 
die  Kritikfähigkeit  wächst. 

*)  Das  Maß  der  Schwierigkeit  ist  die  Prozentzahl  der  Fälle,  in  denen  eine  Aufgabe  nicht 
gelöst  worden  ist. 


Ein  Test  zur  Prüfung  der  Kritikfähigkeit 


333 


40 


30 


20 


10 


Die  Verteilung  der  Leistungen  auf  die  Altersstufen  zeigt  folgende  Über- 
sicht, die  in  Prozentangaben  erkennen  läßt,  wieviele  Prüflinge  auf  eine  gewisse 
Anzahl  von  Leistungen  sich  vereinigen;  man  erkennt  also,  wieviel  Prozent 
der  Schüler  innerhalb  einer  und  derselben  Altersgruppe  auf  3,  4  usw.  rich- 
tige Kritiken  entfallen. 


Anzahl 

der  richtigen 

15  jährig 

16  jährig 

17  jährig 

18  jährig 

Fälle 

1 

; 





2 

1         



— 

— 

3 

5,3 

3,1 

— 

— 

4 

— 

.... 

1,6 

— 

5 

— 

3,1 

4,8 

— 

6 

6,2 

6,4 

— 

7 

15,9 

9,3 

6.4 

— 

8 

21,2 

9,3 

11,2 

11,2 

*> 

31,8 

18,1 

19,2 

16,8 

10 

i          15,9 

24,8 

16,0 

28,0 

11 

!           S,3 

15,5 

20,8 

33,6 

12 

5,3 

9,3 

12,8 

11,2 

Ü       100,7         !         99,2  99,2  100,8») 

Stellen  wir  die  Werte  in  einer  Kurve  dar,  dann  erkennt  man  deutlich  den 
Altersfortschritt  jeder  Gruppe:  zunächst  verengt  sich  die  Kurvenbasis  fort- 
schreitend, und  zugleich  wandert  der  Höhenpunkt  der  Kurve  stetig  von 
niederen  zu  höheren  Werten  fort.  Bezeichnend  ist  aber,  daß  der  Alters- 
fortschritt sich  nicht  ununterbrochen  auf  steigender  Bahn  bewegt.  Sehen 
wir  von  den  außerhalb  der  geschlossenen  Reihen  hegenden  Prozentangaben 
5,3  und  3,1  der  Fünfzehn-  und  Sechzehnjährigen  als  Zuf auswerten  ab,  dann 
erkennen  wir  die  geringere  Kurvenbreite,  also  die  geringere  Streuung  bei  den 
jüngsten  und  ältesten  unserer  Prüfhnge.  Dazu  stimmt  durchaus,  daß  die 
gleichen  Gruppen  die  größten  Kulminationshöhen  erreichen. 


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15  jährige 


16  jährige 


1 7  jährige 


18  jährige 


Wir  sehen,  daß  die  Fähigkeit  zu  kritischen  Leistungen  bei  unsem  Prüf- 
lingen von  Altersstufe  zu  Altersstufe  durchgehend  um  die  Bewältigung  einer 
Absurdität  steigt  —  ganz  unbekümmert  um  das  verschiedene  Gewicht  der 
einzelnen  Anforderungen,  die  der  Test  steht. 

')  Die  geringen  Differenzen  in  den  Endsummen  (100)  erklären  sich  aus  den  übUcben  Er- 
höhungen. 


334 


Marx  Lobsien,  Ein  Test  zur  Prüfung  der  Kritikfähigkeit 


Kritikfähigkeit  und  Intelligenz. 

Quantitative  Wertung. 

Die  Prüflinge  wurden  auf  Grund  wiederholter  sorgsamer  Schätzung  in 
Ranggruppen  nach  ihrer  Intelligenz  gebracht  und  dazu  die  Leistungen  in  der 
Kritikfähigkeit  in  Beziehung  gesetzt.  Jede  Altersgruppe  ward  für  sich  ge- 
ordnet. Zunächst  wurde  jede  Gruppe  nach  der  Intelligenz  in  eine  gute, 
mittlere  und  schwache  Unterabteilung  gesondert.  Die  Schnitte  wurden  so 
gelegt,  daß  die  Mittelgruppe  an  Zahl  jeder  der  beiden  andern  etwa  um  das 
Doppelte  überlegen  war.  Jeder  Gruppe  ward  das  zugehörige  Quantum  der 
kritischen  Leistungen  zugeordnet.     So  ergab  sich  folgendes  Bild: 


Alter 

gut 

mittel 

schwach 

15  jährig 

16  jährig 

17  jährig 

18  jährig 

10,3 
10,8 
11,4 
11,2 

7,5 
9,1 
9,1 

10,0 

6,5 

7,0 
6,3 

8,8 

Durchschnitt 

10,9 

8,9 

7,2 

Eine  Umrechnung  auf  Prozentwerte  der  Höchstleistung  von  zwölf  richtigen 
Lösungen  erübrigt  sich.  —  Man  erkennt  überall  eine  tadellose  Beziehung 
zwischen  Intelligenz  und  Kritikfähigkeit  ^). 

Qualitative  Wertung. 

Die  rein  quantitative  Wertung  bietet  eine  zu  geringe  Streuungsbreite,  so 
daß  sie  eine  verläßliche  Rang-Korrelationsrechnung  nicht  zuläßt.  Das  erst 
erlaubt  die  Beachtung  der  Leistungsschwierigkeiten  im  besonderen.  Wir 
ordnen  nun  nicht  nach  Gruppen,  sondern  stellen  eine  ausgebaute  Rangreihe 
für  jede  Unterstufe  auf,  ordnen  den  einzelnen  Rangplätzen  die  zugehörigen 
qualitativen  Leistungen  zu  und  berechnen  nach  der  üblichen  Formel  die 
Rangkorrelation  mit  dem  Fehlerwerte. 

Das  Ergebnis  der  Berechnung  zeigt  folgende  Übersicht: 


Altersstufe 

15  jährig 

16  jährig 

17  jährig 

18  jährig 

Korr. 
w.  F. 

0,90 
0,04 

0,92 
0,02 

0,93 
0,02 

0,95 
0,02 

Wir  finden  bei  sehr  geringem  wahrscheinlichen  Fehler  eine  starke  Korre- 
lation zwischen  der  Intelhgenz  und  der  Kritikfähigkeit. 

Damit  hat  sich  bei  unsern  Versuchen  der  hervorragende  Wert  des  Stem- 
schen  Tests  erwiesen. 


>)  Die  kleinen  Unterschiede  in  den  Durchschnitten  der  Qaerreihen  gegenüber  der  Tabelle  S.  233 
erklären  sich  von  selber. 


William  Stern,  Begabungsprüfungen  in  Fachschulen  235 


Begabungsprüflingen  in  Fachschulen. 

Von  William  Stern. 

Prof.  A.  Freund,  Die  Gliederung  nach  Qualitätsklassen  unter  Anwendung  experimenteller 
Methoden.     Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  15  (1/2),  S.  69—72. 

Oberlehrer  E.  Beger,  Förderung  und  Auswahl  Tüchtiger  an  der  öffentlichen  Handelslehranstalt 
zu  Leipzig.     Zeitschrift  für  lateinlose  höhere  Schulen.     1919.     Heft  2. 

Ingenieur  Otto  Stolzenberg,  Berufseignung.  Vortrag,  gehalten  auf  der  Arbeitsnachweis- 
konferenz  der  Vereinigung  der  Deutschen  Arbeifgeberverbände  in  Lübeck.  Berichte,  Heft  6 
der  Vereinigung  D.  Arbeitgeber- Verb.,  Berlin.     1918. 

Über  die  Mitarbeit  der  Psychologie  an  der  Begabtenauslese  sind  der  größeren 
Öffentlichkeit  bisher  nur  solche  Versuche  bekannt  geworden,  die  sich  auf  das 
allgemeine  Schulwesen  beziehen.  Hierbei  sind  —  wie  es  Oberlehrer  Beger 
im  oben  genannten  Aufsatz  ausdrückt  —  drei  Richtungen:  die  „Berliner",  die 
„Hamburger"  und  die  „Leipziger" Richtung  hervorgetreten:  die  erste  (Piorkowski 
undMoede)  machte  die  endgültige  Auslese  allein  von  der  Testprüfung  abhängig^); 
die  dritte  (Leipzig)  will  in  diametralem  Gegensatz  hierzu  die  psychologische 
Prüfung  ganz  ausschalten  und  alles  dem  Lehrerurteil  überlassen.  Die  mittlere 
(Hamburg)  strebt  ein  systematisches  Zusammenwirken  der  in  Schulzeugnis  und 
Beobachtungsbogen  niedergelegten  Lehrerurteile  mit  den  Ergebnissen  der  Test- 
prüfungen an. 

Neben  diesen  Bestrebungen  gehen  nun  aber  andere,  vielleicht  nicht  weniger 
wichtige  einher,  die  besonderen  Aufgaben  der  Begabungsauslese  in  Fach- 
schulen und  für  Fachschulen  ebenfalls  mit  psychologischen  Hilfsmitteln  zu 
lösen.  Über  drei  hierhergehörige,  zum  Teil  an  etwas  abgelegenen  Stellen  er- 
schienene Veröffentlichungen  sei  hier  berichtet,  die  sich  auf  eine  Gewerbe- 
schule, eine  Handelsschule  und  eine  technische  Lehrlingsschule  beziehen. 
Dabei  ist  es  interessant,  daß  die  beiden  erstgenannten  Schulen  in  Leipzig 
liegen,  der  Stadt,  die  sich  für  das  allgemeine  Schulwesen  ablehnend  gegen 
psychologische  Methoden  verhält.  Es  handelt  sich  bei  diesen  beiden  Schulen 
zunächst  noch  um  tastende  Anfänge.  Die  dritte  Veranstaltung  findet  in  Berlin 
statt;  sie  beruht  auf  dem  Zusammenwirken  eines  Praktikers  mit  einem  Psycho- 
logen und  ist  bereits  intensiver  ausgebaut. 

Die  öffentliche  Handelslehranstalt  in  Leipzig  hat  eine  Abteihing  für 
Volksschulabgänger  und  eine  höhere  Abteilung  für  junge  Leute  aus  höheren 
Schulen,  welche  den  Berechtigungsschein  erwerben  wollen.  Seit  einigen  Jahren 
sind  für  besonders  tüchtige  Lehrlinge  der  Volksschulabteilung  Abendkurse 
eingerichtet  worden,  um  sie  in  bestimmte  Klassen  der  höheren  Abteilung  über- 
zuleiten. Da  der  Andrang  zu  diesen  Abendkursen  zu  groß  wnirde,  erwachte 
das  Bedürfnis,  nur  die  wirklich  über  dem  Durchschnitt  Stehenden  hineinzu- 
nehmen. Deshalb  wurden  zunächst  Versuche  mit  Intelligenzprüfungen  nach 
der  Methode  Moede-Piorkowski  veranstaltet.  Bei  der  Nachprüfung  einer  ganzen 
Klasse  fand  Beger  eine  sehr  viel  geringere  Übereinstimmung  der  Testergebnisse 
mit  der  Schulrangordnung  als  Moede-Piorkowski;  aber  die  Abweichungen 
selbst  boten  wichtige  psychologische  Anhaltspunkte  zur  Beurteilung  der  Schüler. 
In  einem  Falle  war  ein  Schüler,  der  in  der  vorläufigen  Klassenrangordnung 

')  Neuerdings  wird  auch  in  Berlin  die  Notwendigkeit  anerkannt,  den  Beobachtungsbogen  mit- 
hineinzuziehen. 


236  William  Stern 


den  neunten  Platz  halte,  der  weitaus  beste  im  Test;  nach  einem  Vierteljahr 
war  er  auch  in  der  Klasse  Primus  geworden.  Der  Test  hatte  also  richtig 
prophezeit.  Bei  der  Auslese  für  die  Abendkurse  und  bei  der  Überleitung  in 
die  höhere  Abteilung  wird  jetzt  „kombiniert"  verfahren :  es  werden  Zeugnisse, 
Beobachtungen  der  Lehrer,  Ausfälle  der  pädagogischen  Prüfung  und  Test- 
ergebnisse zur  geraeinsamen  Grundlage  der  Entscheidung  gemacht.  „Wenn 
wir  wirklich  im  Laufe  der  Jahre  dazu  kommen  müssen,  eine  strenge  Auswahl 
der  Begabten  für  die  Abendkurse  zu  treffen,  dann  kann  es  meines  Erachtena 
nur  auf  der  Grundlage  des  Hamburger  Systems  sein.  Im  Vordergrund  muß 
die  Beobachtung  durch  den  Lehrer  stehen,  die  dann  durch  eine  mäßige  An- 
zahl von  Tests  ergänzt  werden  kann." 

Um  Angehörige  der  metallarbeitenden  Berufe  handelt  es  sich  bei  der 
städtischen  Gewerbeschule  in  Leipzig.  Hier  sollten  zu  Ostern  1917  250  Schüler 
in  7  Klassen  verteilt  werden,  die  den  Fähigkeiten  entsprechend  abgestuft  sind; 
und  zwar  fand  die  Zuteilung  der  Schüler  auf  die  Qualitätsklassen  statt  ohne 
Berücksichtigung  der  Schulzensuren,  lediglich  auf  Grund  einiger  Versuche, 
die  der  Ingenieur  Professor  Freund  gemeinsam  mit  dem  Gewerbelehrer  Herzog 
an  den  einzelnen  Schülern  unternahm.  Hierbei  wurde,  dem  gewählten  Beruf  ent- 
sprechend, vor  allem  das  Raum  vorstellungs vermögen  und  die  Fähigkeit,  Ursache 
und  Wirkung  klar  zu  erkennen,  geprüft,  daneben  auch  die  allgemeine  Intelh- 
genz  und  zwar  mit  folgenden  Aufgaben:  1.  Textlückenergänzung  nach  Ebbing- 
haus.  2.  Entfaltungstest  (aus  einem  mehrfach  zusammengefalteten  Papier  wird 
eine  Ecke  herausgeschnitten;  der  Prüfling  muß  aufzeichnen,  wie  nach  der 
Entfaltung  das  Papierblatt  aussieht).  3.  Umlegung  von  Dreiecken  gegeneinander 
nach  dem  Gedächtnis.  4.  Verständnis  für  einen  kleinen  einfachen  Mechanismus, 
der  keine  technischen  Spezialkenntnisse,  sondern  nur  Einsicht  in  elementare 
technische  Zusammenhänge  voraussetzt. 

Die  Verschiedenartigkeit  der  Testleistungen  war  überraschend  groß;  die  Be- 
wertung der  Antworten  wurde  nach  möglichst  exakten  Maßstäben  vorgenommen, 
zugleich  aber  der  individuelle  Eindruck  des  Prüfers  (ob  eine  Antwort  zögernd 
gegeben,  ob  eine  von  Verständnis  zeugende  Zwischenfrage  getan  wurde  usw.) 
mit  in  Betracht  gezogen.  Den  hier  angefügten  Satz  Freunds  kann  ich  freilich 
in  seinem  ersten  Teil  nicht  unwidersprochen  lassen,  gerade  weil  ich  seinem 
zweiten  Teil  voll  zustimme:  „Ich  kann  sehr  wohl  begreifen,  daß  dem  reinen 
Wissenschaftler  ein  derartig  kombiniertes  Verfahren  nicht  sympathisch  ist; 
ich  sehe  aber  keine  andere  Möglichkeit,  um  den  experimentellen  Methoden 
den  Weg  zu  ebnen,  als  eine  derartige  Verbindung  subjektiver  und  objektiver 
Beurteilung."  Gerade  als  Wissenschaftler  muß  ich  immer  wieder  betonen,  daß 
ich  nur  ein  solch  kombiniertes  Verfahren  für  gerechtfertigt,  die  einseitige 
ziffernmäßige  Verwertung  des  Testergebnisses  dagegen  für  mechanisch  und 
deshalb  verwerf hch  halte;  eben  diese  Kombination  ist  ja  auch  das  unter- 
scheidende Merkmal  der  „Hamburger"  von  der  bisherigen  „Berliner"  Aus- 
lesemethode. 

Der  Erfolg  der  GUederung  in  sieben  Quahtätsklassen  nach  diesem  Verfahren 
war  verhältnismäßig  günstig;  die  weitere  Erfahrung  mit  den  Schülern  zeigte, 
daß  nur  wenige  Irrtümer  vorgekommen  waren.  Ostern  1918  wurde  ähnhch 
verfahren,  nur  daß  diesmal  zu  den  eigentlichen  Tests  auf  Wunsch  des  Lehrer- 
kollegiums Prüfungen  des  sprachUchen  und  des  Rechenvermögens  hinzukamen. 


Begabungsprüfungen  in  Fachschulen  237 


Ergebnis:  „Die  Gliederung  hat  sich  auch  dieses  Jahr  als  erfolgreich  heraus- 
gestellt. Wesentliche  Mängel  bezw.  Ungleichheiten  innerhalb  der  Klassen  sind 
nicht  hervorgetreten.  Mit  den  besten  Klassen  konnte  das  vorgeschriebene 
Pensum  gründlicher  und  wissenschaftlicher  durchgearbeitet  werden  als  mit 
den  minderen  Klassen," 

Besonders  weit  ausgebildet  ist  die  psychologische  Auslesemethodik  bereits 
bei  der  Neuaufnahme  in  die  Lehrlingsschulen  einiger  technischen 
Großbetriebe.  BekanntHch  haben  solche  Betriebe  vAe  z.  B.  die  A.  E.  G.» 
Ludwig  Loewe,  die  Vulkanwerft  in  Hamburg  bedeutende  Schulveranstaltungen. 
für  den  technischen  Nachwuchs^);  und  da  der  Andrang  zu  den  technischen 
Lehrlingsschulen  um  ein  Vielfaches  die  Zahl  der  Aufzunehmenden  übertrifft, 
stellte  sich  das  Bedürfnis  eines  strengen  Auf  nähme  Verfahrens  ein.  Wieder 
wurde  die  Psychologie  zu  Hilfe  gerufen;  aber  jetzt  handelte  es  sich  nich^ 
mehr  um  die  allgemeine  oder  die  sprachlich  formulierte  IntelUgenz,  sondern 
um  die  speziellen  Teileigenschaften  der  technischen  Begabung  (zu  denen 
freilich  auch  eine  „technische  Intelligenz"  gehört).  In  der  Werkzeugmaschinen- 
fabrik von  Ludwig  Loewe  sind  diese  Methoden  zur  Auswahl  des  Nachwuchses 
für  hochwertige  Facharbeiter  (Maschinenbauer,  Dreher,  Werkzeugschlosser  usw.) 
gemeinsam  von  dem  Leiter  der  Werkstättenschule,  dem  Ingenieur  Stolzenberg, 
und  dem  Psychologen  Otto  Lipmann  ausgearbeitet  und  angewandt  worden; 
bisher  liegt  nur  ein  vorläufiger  Bericht  aus  der  Feder  des  Erstgenannten  vor. 
Geprüft  woirden   die  folgenden  Tätigkeiten,   und  zwar  jede  in  einer  Reihe 

von  Tests: 
Schätzung  von  Raumgrößen  (z.  B.  des  Durchmessers  eines  Kreises,  eines 

Bolzens). 
Augenmaß  (z.  B.:  Strecken  freihändig  in  3  gleiche  Teile  teilen). 
Feinheit  desTastsinns  (z.  B. :  Ordnen  von  Blechen  nach  ihrerDicke,  von  Schrau- 
ben nach  ihrer  Gängigkeit). 
Optisches  Erkennen  kleiner  Fehler  (z.  B.  Unebenheiten  oder  Abweichungen 

von  der  Rechtwinkligkeit  bei  prismatischen  Klötzen). 
Konstruktive  Raumphantasie    (z.  B.:  Wie  muß  die  Figur  durch         I      j 
einen  Schnitt  zerlegt  werden,  damit  die  Teile  zum  Quadrat    j —      — j 

zusammengesetzt  werden  können?    Ähnliches  mit  schwereren    I '■ 

Aufgaben). 
Optische  Vorstellungsfähigkeit  (z.  B.:  Wieviel  Diagonalen  hat  ein  Würfel? 

ein  Fünfeck?) 

Erkennen  und  Unterscheiden  von  Einzelheiten  (z.B.:  10  einander  ähnliche 

Blechstücke  mit  3  charakteristisch   gruppierten  Löchern;   welches  Stück 

entspricht  einer  vorgelegten  Zeichnung?) 

Verständnis  für  ein  Getriebe  mit  mehrfacher  Riemenübertragung  (z.  B. :  Wie 

muß  sich  Rad  b  drehen,  wenn  Rad  a  im  Uhrzeigersinne  gedreht  wird?) 

Sorgfalt  des  Arbeitens  (z.  B. :  Ein  Etikett  genau  auf  die  Mitte  eines  Deckels 

kleben.) 
Natürliche    Intelligenz    (Schloß  mit  12  Schlüsseln;    möglichst   schnell   den 
richtigen  finden.  Der  Intelligente  scheidet  von  vornherein  die  unmöglichen 
Schlüssel  aus.) 
Reaktionsschnelligkeit. 


*)  Nach  Stolzenberg  gibt  es  in  Deutschland  70  solcher  Werkschalen. 


238  William  Stern,  Begabungsprüfungen  in  Fachschulen 


Die  Prüfungen,  die  für  jeden  Prüfling  1 1/2  Stunden  dauern,  sind  bisher  an 
etwa  500  Jugendlichen  angestellt  worden.  Die  Ergebnisse  werden  als  sehr 
befriedigend  bezeichnet;  die  Übereinstimmung  zwischen  dem  Prüfungsausfall 
und  der  inzwischen  anderweitig  festgestellten  Berufseignung  wird  von  Stolzen - 
berg  geradezu  verblüffend  genannt.  Nähere  Belege  wird  man  abwarten  müssen; 
auch  sind  die  Methoden  im  Einzelnen  sicher  noch  verbesserungsbedürftig  und 
-fähig.  Immerhin  darf  man  jetzt  wohl  schon  so  viel  sagen,  daß  die  technische 
Begabung  wegen  ihrer  deutlichen  Abgrenzung  ein  besonders  aussichtsvolles 
Gebiet  der  experimentellen  Ausleseprüfung  darstellt. 


Beiträge  zur  Untersuchung  der  sprachlichen  Entwicklung 

des  Kindes. 

Von  Karl  Bergmann. 

CSchluß.) 

Wortschöpfung. 

Es  handelt  sich  in  diesem  zweiten  Hauptabschnitt  um  Wörter,  die  das 
Kind  selbständig  prägte.   Diese  Neuschöpfungen  teilen  wir  in  zwei  Gruppen  ein. 

1.  Das  Kind  hört  Wörter,  versteht  ihren  Sinn  und  prägt  nun  nach  dem 
Muster  dieser  Ausdrücke  seine  eigenen  Wendungen  (Analogiebildungen). 
Auffallend  groß  ist  die  Zahl  der  eine  Steigerung  ausdrückenden  und  auf 
einem  Vergleich  beruhenden  Zusammensetzungen.  Der  Knabe  hörte  die 
Ausdrücke  „riesengroß,  mausetot,  rabenschwarz",  faßte  die  Wörter  richtig 
als  Steigerungen  von  „groß,  tot  und  schwarz"  auf  und  bildet  nun  darnach 
die  folgenden  Wendungen: 

riesenblau  (5/10)  raauseglatt  (7/4)  ,  mausesatt  (9/8) 

riesenklein  (6)  mauserot  (7/9)  rabenhell  (9/8) 

riesendunkel  (6)  mausetrüb  (9/2) 

Eine  so  eigenartige  Bildung  wie  rabenhell  findet  eine  hübsche  Parallele 
in  dem  elsässischen  kridefinster  =  sehr  finster  (gebildet  nach  kreideweiß  = 
sehr  weiß). 

Von  weiteren  Analogiebildungen  erwähne  ich: 

nachhin  kommt  er  (4/10)  [gebildet  nach  vorhin] 
zufünft  (6/11)  [nach  zuerst]  (d.  h.  als  fünfter) 
ungescheit  (7/9)  [nach  den  Eigenschaftswörtern  mit  un-] 
ich  bin  überatmet  (7/9)  [nach  überangestrengt?] 
eisig  warm  (M.  7/10)  [nach  eisig  kalt] 
schlüssig  (für  fertig)  (7/6)  [nach  fertig] 

2.  In  allen  diesen  Fällen  hat  das  Kind  immerhin  ein  Vorbild,  nach  dem 
es  seine  eigenen  Wörter  formen  kann.  Anders  verhält  es  sich  mit  den 
nachfolgenden  Prägungen.  Hier  schafft  das  Kind  viel  freier,  denn  diese 
Wörter  lehnen  sich  nicht  an  irgendwelche  Vorbilder  an,  nach  denen  sie 
lautlich  geformt  werden,  sondern  sie  entstehen  ledigUch  auf  Grund  der 
Beobachtung,  der  Überlegung.  Die  Beobachtung  kann  nun  zu  folgenden 
Arten  der  Namengebungen  führen. 

a)  Die  Namengebung  erfolgt  auf  Grund  eines  Vergleiches,  der  sich  auf 
die  Ähnlichkeit  von  Gestalt,  Farbe,  Bewegung,  Zweck  bezieht;  das  Kind 
sieht  z.  B.   ein  längeres  gedrucktes  oder  geschriebenes  Wort,  die  einzelnen 


Bergmann,  Beiträge  zur  Untersuch,  der  sprachl.  Entwickl.  des  Kindes       239 

Buchstaben  erscheinen  ihm  wie  die  Wagen  eines  Eisenbahnzuges  aneinander 
gereiht,  und  so  ist  dies  längere  Wort  für  das  Kind  eine  Eisenbahn  (M.  2/8; ; 
weitere  Beispiele  dieser  Art  sind: 

eine  größere  Menge  von  Leuten  =  dat  (d.  i.  Soldaten)  (2) 

ein  Pilz  =  ok  (Stock)  (2/1) 

ein  Geigenbogen  ==  ok  (Stock)  (2/1) 

ein  Globus  =  ball  (2/1) 

ein  Käfig  =  haus  (2/1) 

irgendeine  Schrift  =  abd  (2/2)  (d.  i.  abc  [vgl.  1.  gl) 

Hauch  =  rauch  (4/3) 

eine  Briefmarke  =  pflästerchen  (4/3) 

ich  bin  in  den  Schmutz  getreten  =  ich  bin  in  den  schwein  getreten  (5/6) 

wir  (die  Kinder»  sind  durcheinander  (nicht  in  Reih  und  Glied»  gegangen  =  wir 
sind  krumpelig  gegangen  (M.  5/9)  (vgl.  auch:  der  Himmel  ist  krumpelig  von 
wölken  [7/2]) 

da  gibts  eine  Menge  von  Blumen,  von  Tannäpfeln  =  da  wirbelts  von  blumen,  von 
tannäpfeln  (8/10):  zugrunde  liegt  ein  Vergleich  mit  einer  großen  Zahl  in  der 
Luft  uraherschwirrender  Kohlweißlinge,  bei  deren  Anblick  der  Knabe  ausrief: 
da  wirbelts  von  Schmetterlingen;  als  er  am  Abend  des  gleichen  Tages  auf  der 
Wiese  viele  Blumen  und  im  Walde  auf  dem  Boden  viele  Tannäpfel  sah,  rief 
er  wieder:  da  wirbelts  von  bl.,  von  t. 

ein  grüner  Lampenschirm  =  hadda  (d.  i.  Blume)  (l/ll) 

zeichnen  =  d"eiba  (schreiben)  (2/5) 

aufhören  =  bett  (z.  B.  d^eiba  bett «—  der  Papa  soll  mit  dem  Schreiben  aufhören)  (2/5) 

b)  Die  Dinge  werden  nach  auffallenden  Eigenschaften  benannt:  Kasta- 
nien =  stacheln  (?),  Herd  =  hei[ß]  (2/1). 

c)  Die  Gegenstände  werden  nach  dem  Zweck  benannt,  dem  sie  dienen: 
Bilder  zum  Ausschneiden   sind  lachbilder  (M.  5/11),  weil  sie  zum  Lachen 

dienen  sollten;  ein  Güterzug  ist  ein  kofferzug  (M.  5/6),  während  ein  Personen- 
zug ein  menschenzug  (M.  5/6)  ist;  ein  schönes  Wort  prägte  das  Mädchen  im 
einkehrhaus  (M.  7/5)  für  Wirtshaus,  „Restauration".  Eine  grüne  Schreib- 
unterlage ist  ein  grüner  fleckenhalter  (M.  5/10),  „weil  man  doch  auf  ihr  Tinten- 
flecken mache". 

Auch  eine  Anzahl  von  Personenbezeichnungen  kann  hier  eingereiht 
werden:  Der  Landsturmmann  mit  dem  Gewehr,  der  die  Kriegsgefangenen 
bewacht,  ist  der  stechermann  (M.  5/6),  der  Baumeister  ist  ein  bauermann  (5/10), 
der  „Installateur",  der  die  Lampen  besorgt,  ist  der  lichtmann  (6/5);  ein  Ohren- 
arzt ist  ein  ormacher  (6/3).  Neben  diesen  Berufsbezeichnungen  seien  noch 
folgende  Personenbenennungen  erwähnt,  wenn  sie  auch  nicht  völlig  in  diesen 
Zusammenhang  gehören:  der  Knabe,  der  bei  einem  bestimmten  Spiel  den 
Schluß  bildet,  ist  der  Schlußmann  (6/11);  weil  es  beständig  in  das  Schlaf- 
zimmer geht,  nennt  sich  das  Mädchen  selbst  eine  schlafzimmerin  (M.  5/6), 
und  als  der  Knabe  einmal  schneidert  und  an  einem  Band  näht,  ist  er  ein 
schneidherr  (M.  5/10). 

3.  In  den  nachfolgenden  Fällen  sind  die  Bezeichnungen  der  Gegenstände 
dem  Kinde  wohl  bekannt,  aber  es  schafft  trotzdem  neue  Wörter,  in  denen 
noch  deutlicher  der  Zweck  dieser  Dinge  im  Gegensatz  zu  andern  Dingen 
ähnlicher  Art  zum  Ausdruck  gelangt:  so  erscheinen  die  Hosen  als  oberhosen 
(6/7),  der  Vorhang  ward  zum  obervorhang  (M.  7/5)  im  Gegensatz  zum  sog. 
Store;  wenn  der  Rucksack  als  hintersack  (4/5)  bezeichnet  wird,  so  braucht 
die  Benennung  nicht  aus  dem  Gegensatz  heraus  geschaffen  zu  sein,  sondern 
es  wird  lediglich  die  Angabe  des  Ortes  vorhegen. 


240  Karl  Bergmann 


4.  Wie  der  Mann  aus  dem  Volke  unverständliche  Wörter  sich  mundgerecht 
zu  machen  sucht  und  die  sog.  „Volksetymologien"  schafft,  so  begegnen  wir 
natürhch  auch  in  der  Kindersprache  solchen  Umdeutungen.  Ein  Zünd- 
plätzchen wird  zum  zimmetplätzchen  (M.  5/6),  der  Himbeersaft  wird  zum 
himbeerfaß  (M.  4/10  ?),  allerdings  kann  auch  nur  eine  Wortverdrehung  hier 
vorhegen;  aus  Badewanne  wird  badewand  (M.  5/6),  und  die  Ringelnatter  wird 
zur  schhngelnatter  (9/5).  Eine  hübsche  Umdeutung  ist  apfelkose  aus  Aprikose 
(5/11);  der  Städtename  Gastein  wird  zu  gastanien  (7/9),  der  Personenname 
Moritz  zu  morfritz  (M.  3/9);  Thermometer  verwandelt  sich  in  teometer  (7/2), 
wozu  wohl  der  dem  Kinde  geläufige  Name  Theo  beigetragen  haben  mag, 
und  aus  der  Telegraphenstange  macht  der  Knabe  zu  einer  Zeit,  als  er  viel 
vom  Phonographen  hört,  eine  phonographenstange  (7/9). 

5.  Eine  ergiebige  Quelle  für  Neuschöpfungen  bietet  die  Verschmelzung 
zweier  Wörter,  bezw.  Wortbestandteile: 

fein  -j-  wunderschön  =  wunderfeinschön  (5/2) 

abkaufen  -f  verkaufen  =.  abverkaufen  (5/2)  (der  Onkel  muß  mir  etwas  ab- 
verkaufen) 

ansehen  +  betrachten  =  anbetrachten  (5/6) 

Briefbogen  -{-  Papier  =  briefpabogen  (6/8) 

durchgehen  +  davonlaufen  =  durchlaufen  (7/4)  (das  ist  aber  zum  durchlaufen) 

glattbahn  (9/3)  aus  Glatteis  +  Eisbahn?  überredet  (6/11)  (ich  habe  es  schon 
mit  der  Christel  überredet)  aus  verabredet  und  überlegt? 

6.  In  den  von  Dingwörtern  abgeleiteten  Zeitwörtern  besitzt  die 
Sprache  ein  vortreffliches  Mittel  knappster  und  anschaulichster  Ausdrucks- 
weise; man  vergleiche  Flöte  :  flöten,  Gabel  :  gabeln;  Kugel  :  kugeln;  Löffel  : 
löffeln;  Tafel  :  tafeln;  Wurm  :  wurmen  usw.  Außerordentlich  reich  an  solchen 
Bildungen  sind  die  Mundarten,  besonders  die  oberdeutschen;  vgl.  eis.  köpfle  = 
kopfüber  ins  Wasser  springen,  lipple  =  saufen  (v.  d.  Katze),  straßen  =  auf 
der  Straße  plaudern  usw.  Auch  aus  meinen  Beobachtungen  kann  ich  ein 
Beispiel  dieser  Bildungsweise  anführen:  er  baucht  =  er  liegt  auf  dem  Bauch 
(M.  5/6;  vgl.  oben  eis.  köpfle). 

7.  Eine  bemerkenswerte  Übertragung  der  Sinneseindrücke  hegt  in 
dem  Satze  vor:  der  Bub  spricht  so  dunkel  (6/6);  hier  wird  die  Bezeichnung 
für  einen  Lichtgrad  auf  den  Klang  der  Stimme  übertragen.  Vgl.  schrift- 
sprachlich „eine  dunkle  Stimme". 

8.  Bei  den  drei  Beispielen  dieses  Abschnittes  handelt  es  sich  weniger  um 
Wortschöpfungen,  mit  deren  Hilfe  das  Kind  Gegenstände  bezeichnet,  als  um 
Ausrufe,  die  durch  den  Anblick  bestimmter  Dinge  oder  das  Hören  bestimmter 
Töne  bei  dem  Kinde  ausgelöst  werden.  Wenn  ich  sie  doch  hier  in  diesem 
Zusammenhang  bringe,  so  geschieht  dies  deshalb,  weil  ich  an  ihnen  zeigen 
will,  wie  Wörter  entstehen  können.  Nach  Weihnachten  gebrauchte  der 
Knabe  beim  Anblick  des  Christkindes  (z.  B.  in  seinem  Bilderbuch)  immer 
das  Wort  hon  (=  Salon)  (2/3);  im  Salon  hatte  nämlich  der  Christbaum 
gestanden,  an  dessen  Spitze  ein  „Christkindchen"  befestigt  war;  der  Anblick 
des  Christkindes  erweckte  die  Erinnerung  an  den  „Salon"  (hon)  mit  seinem 
Weihnachtsbaum.  Noten  riefen  bei  dem  Knaben  den  Ausruf  Schneemann 
(2/2)  hervor:  sein  Großvater  hatte  das  Kinderliedchen  „der  Schneemann« 
vertont,  die  Noten  in  das  Bilderbuch  neben  das  Bild  des  Schneemannes  ein- 
getragen und  das  Lied  mit  dem  Kinde  oft  gesungen;  Noten  waren  dann  für 


Beiträge  zur  Untersuchung  der  sprachlichen  Entwicklung  des  Kindes    24-1 

den  Jungen  einfach  Schneemann.  Als  im  Sommer  das  Eis  gebracht  wurde, 
schellte  der  Eismann,  und  das  Dienstmädchen  holte  mit  dem  Knaben  das  Eis  am 
Haustor;  noch  lange  darnach  brach  der  Knabe  beim  Schellen  in  den  Ruf  aus: 
ei(s)  (2/2).  Wir  sehen,  wie  ein  Gegenstand  oder  ein  Vorgang  die  Erinnerung  an 
irgend  etwas,  das  mit  ihm  einst  in  Beziehung  stand,  e^v^^eckt  und  wie  diese 
Erinnerung  dann  auch  sprachlich  zum  Ausdruck  gelangt  (Christkind  :  hon;  No- 
ten :  Schneemann;  schellen  :  ei[s]).  Dieser  Ausdruck  kann  unter  Umständen, 
wenn  der  Gegenstand  bzw.  der  Vorgang  fortwährend  von  den  kindlichen  Sinnen 
aufgenommen  wird  und  dadurch  die  Erinnerung  an  die  Beziehungen  auch  fort- 
während im  kindlichen  Bewußtsein  auftaucht,  sehr  wohl  zur  stehenden  Bezeich- 
nung werden.  Wir  können  uns  sehr  gut  vorstellen,  daß  sich  im  Wortschatz  des 
Kindes  die  Benennungen  hon,  Schneemann,  ei[s]  für  Christkindchen,  Noten 
und  schellen  festsetzen,  mindestens  so  lange,  als  das  Kind  nicht  die  richtigen 
Bezeichnungen  von  seiner  Umgebung  kennen  lernt. 

Grammatisches. 
Ich  beschränke  mich  in  diesem  Abschnitt  auf  die  Darstellung  des  Zeitworts, 
der  Präposition,  der  Steigerung,  der  Satzbildung  und  der  Verneinung: 

1.  Das  Zeitwort. 

a)  Analogieformen: 

ich  sieh  [nach  du  siehst  usw.]  (M.  3/6)  du  stohlst  [nach  gestohlen]  (6  5) 

diese   sachen   gillen  nicht   mehr   [nach  es  sprich   doch!   (Aufforderung  des  Erwach- 
gilt usw.]  (M.  5/6)  senen)  Ich  habe  gesprichen  (5)  (Ant- 
ich  hab  getu  [nach  tun  usw.]  (4/9)  wort  des  Kindes) 

das   auto   hat   stillgehalten    [nach  er  hält  wer  war  denn  da?   (Frage  des  Erwach- 

usw.]  (4/5)  senen)  Wer  soll  denn  da  waren?  (5) 

ich  hab  abgereisst  [nach  abreissen]   (4/5)'  (Antwort  des  Kindes) 

Die  beiden  letzten  Beispiele  zeigen,  wie  die  Analogieformen  unmittelbar 
durch  die  vorangehenden  Fragen  hervorgerufen  werden.  Solche  unmittelbare 
Beeinflussung  ist  auch  für  den  Satz:  ich  hab  dich  schon  hingelegt  (4/5)  für 
„ich  habe  mich  schon  hingelegt"  anzunehmen,  denn  er  erfolgte  auf  die 
Aufforderung  des  Erwachsenen:  leg  dich  doch  hin!  Auch  der  Ausruf:  wie 
freue  ich  dich  (4/3)  statt  „wie  freue  ich  mich"  wird  darauf  zurückzuführen 
sein,  daß  das  Kind  zwar  genug  Gelegenheit  hat,  von  seiner  Umgebung  das 
Reflexivpronomen  in  allen  Personen  zu  hören,  daß  aber  zunächst  die  2.  Person 
Einzahl  ganz  besonderen  Eindruck  auf  das  Kind  macht;  denn  diese  hat  in 
oft  gestellten  Fragen  und  Aufforderungen  wie  z.  B.  freust  du  dich?  leg  dich 
doch  hin!  Beziehung  zu  seinem  eigenen  Leben,  wird  daher  eher  von  ihm 
aufgefaßt  und  angewandt  als  die  erste  bzw.  dritte  Person. 

b)  In  den  zusammengesetzten  Zeiten  tritt  zunäcÖst  der  Infinitiv  an 
die  Stelle  des  Partizips  der  Vergangenheit: 

bub  hat  heraufgehn  (4)  =  der  Bub  ist  heraufgegangen 
bub  hat  tun  (4)  — =  der  Bub  hat  getan 
bilde  hat  mitgehn  (4)  —  Hilde  ist  mitgegangen 
die  bilde  hat  bub  hauen  (4)  =  der  Bub  hat  die  Hilde  gehauen 
ich  habe  nicht  trinken  (4)  =  ich  hal>e  nicht  getrunken 
bilde  hat  mit  fritz  mitgehn  (M.  2/11) -=  Hilde  ist  mit  Fritz  [mit]gegangen 
Bald  stellen  sich  jedoch  die  richtigen  Bildungen  mit  ge-  ein: 
das  auto  hat  stillgehalten  (4/5)  ich  hab  getu  (4/9)  ich  hab  geeten  (4/9),  ge- 

ich  hab  abgereißt  (4/5)  sie  hat  hingefallen  (?)  essen  (5/1) 

Zeitschrift  f.  padagog.  Psychologie.  16 


242  Karl  Bergmann 


c)  Als  Hilfszeitv/ort  für  die  zusammengesetzten  Zeiten  wird  haben  statt 
sein  gebraucht  in  den  folgenden  Fällen: 

bub  hat  heraufgehn  (4) 
bilde  hat  mitgehn  (4) 
sie  hat  hingefallen  (4) 

2.  Die  Präposition. 

Als  das  Kind  anfing,  in  seinen  Sätzen  Präpositionen  zu  verwenden  (vgl. 
unten  4:  Satzbildung),  stößt  die  Wahl  der  richtigen  Präposition  zunächst  auf 
Schwierigkeiten;  eine  Lieblingspräposition  ist  „in",  die  unterschiedslos  für  „auf 
und  „unter"  gebraucht  wird: 

in  den  markt  gehn  (4)  n  das  bett  stellen  (4)  =  unter  das  Bett 

das  Schaukelpferd  in  die  erde  tun  (4)         ler  onkel  sitzt  in  erde  (M.  2/11) 

3.  Die  Steigerung. 

Das  Kind  steigert  regelmäßig:  ich  hab  es  im  gernsten  (6/5),  guter  (4/5),  ich  habe  gutere 
äugen  wie  der  papa  (M.  5/6).  Der  Komparativ  von  groß  wird  gebildet  als:  mehr  groß  (4), 
höher  groß  (4)  (ich  will  noch  höher  groß  sein).  Wie  der  Erwachsene  für  das  jetzt  ganz 
abgeblaßte  „sehr"  gerne  zu  stärkeren  Ausdrücken  greift,  so  findet  auch  das  Kind  häufig 
ein  treffliches  Mittel,  einen  besonderen  Stärkegrad  anschaulich  zu  bezeichnen.  Da  ist  nicht 
allein  der  Teller  hochvoll  (6/9),  sondern  der  papa  ist  in  himmi  groß  (4),  d.  h.  bis  in  den 
Himmel  groß,  und  auf  die  Frage  „wie  lieb  hast  du  mich  denn?"  erfolgt  nicht  etwa  die 
farblose  Antwort:  „sehr  lieb"  oder  „so  lieb"  (unter  entsprechenden  Armbewegungen), 
sondern  das  überraschende  bis  nach  Rußland  (M.  4/10);  das  Mädchen  hat  offenbar  einmal 
von  Rußland  (die  Antwort  erfolgte  im  Kriegsjahr  1915)  als  einem  unermeßlich  großen  Land 
gehört,  und  so  wird  Rußland  für  das  Kind  geradezu  zu  einem  Gradmesser.  Auch  Dingwörter 
werden  gesteigert:  ist  das  viel  radauer?  (6/3?)  (d.  h.  macht  das  noch  mehr  Lärm;  radau 
wird  von  dem  Kind  adjektivisch  =  laut,  lärmend  aufgefaßt)  und:  es  wird  immer  nächter 
(9/3)  (d.  h.  es  wird  immer  dunkler;  nächler  Komparativ  von  nacht).  Eine  Verschmelzung 
von  Komparativ  und  Superlativ  zeigt  die  Wendung:  ich  hab  den  völlsteren  teller  (6/4). 

4.  Die  Satzbildung, 

1.  ak  (d.  i.  Schnake)  (1/10):  mit  diesem  Wort  fcfrdert  mich  der  Knabe  unter  den  ent- 
sprechenden Schlagbewegungen  zum  Schnakenfangen  auf. 

2.  baba  dada  auto  (1/10)  =  Papa  soll  mit  mir  fortgehen  und  Auto  (d.i.  elektrische  Bahn, 
fahren;  beim  Aussprechen  des  Satzes  deutet  der  Knabe  auf  meinen  Hut  und  Stock. 

3.  danne  hei  (2/1)  =  die  Kanne  ist  heiß. 

4.  butt  obaba  heiaheia  (2/2)  —  das  ist  kaputt,  der  Großpapa  soUs  heilen. 

5.  dida  gang  (2/3)  =  die  Christel  wäscht  den  Gang  auf. 

6.  dida  gang  (2/5)  =  die  Christel  ist  auf  dem  Gang. 

7.  baba  "äde  (2/5)  =  Papa  soll  lesen. 

8.  baba  "äde  (2/7)  =  Papa  liest. 

9.  wäg  hin  neue  bilderbuch  (2/5)  =  das  Bilderbuch  soll  weggelegt  werden,  und  zwar  auf 
den  Platz,  wo  es  gelegen  hat  (er  deutet  auf  den  betr.  Platz);  er  will  dann  das  neue,  d.  i. 
ein  anderes  Bildeibuch  haben. 

10.  mama  dommi  dobi  (2/5)  ^  die  Mama  soll  zum  Bubi  kommen, 

11.  d"eiba  bett  (2/5)  =  der  Papa  soll  mit  dem  Schreiben  aufhören. 

12.  buch  haba  (2/5)  =  ich  will  das  Buch  haben. 

13.  baba  an  (2/5)  =  der  Papa  soll  sich  anziehen. 

14.  baba  au  (2/5)  =  der  Papa  soll  sich  ausziehen. 

15.  baba  nein  an  (2/7)  =  der  Papa  soll  sich  nicht  anziehen, 

16.  nein  hihi  bad  bub  bad  (2/7)  =  Hilde  soll  nicht  baden,  der  bub  wiU  baden. 

17.  guguk  mei  dimmi  (2/7)  =  wir  wollen  Guckguck  in  deinem  Zimmer  spielen  (wegen  mei 
dimrai  ==  dein  Zimmer  vgl.  weiter  unten:  Verschiedenes  1). 

18.  wida  dun  (2/7)  =  ich  will  es  nicht  wieder  tun. 

19.  baba  essen  kommen  (4)  =  Papa,  du  sollst  zum  Essen  kommen. 

20.  baba  kann  bub  auch  hauen  (4)  =  der  Bub  kann  den  Papa  auch  hauen. 


Beiträge  zur  Untersuchung  der  sprachlichen  Entwicklung  des  Kindes    243 

21.  die  bilde  hat  bub  hauen  (4)  =  der  Bub  hat  die  Hilde  gehauen. 

22.  mama  mach  doch  der  Laden  auf  (4)  =  Mama,  mach  doch  den  Laden  auf. 

23.  kann  bub  der  baba  brauchen?  (4/3)  =  kann  der  Papa  den  Bub  brauchen? 

24.  bub  will  doch  sehen  wasser  abläuft  (4/3)  =  der  Bub  will   doch   sehen,   ob  das  Wasser 
abläuft. 

25.  will  mal  sehen  regnet  (M.  31  =  ich  will  mal  sehen,  ob  es  regnet. 

26.  das  kann  ich  vorbeipflücken  (4/5)  =  das  kann  ich  im  Vorbeigehen  pflücken. 

Was  die  Satzbildung,  anlangt,  so  konnte  ich  vor  dem  Ende  des  2.  Lebens- 
jahres keine  Äußerungen  feststellen,  die  den  Namen  eines  Satzes  in  gramma- 
tischem Sinne  verdienten.  Beispiel  1  stellt  einen  sogenannten  „Einwortsatz" 
dar,  während  alle  übrigen  Beispiele  aus  mehreren  Wörtern  bestehen.  Im 
dritten  Lebensjahr  iiberwiegen  die  Zweiwortsätze.  Im  einzelnen  sind  folgende 
Feststellungen  zu  machen,  die  sich  auch  mit  den  Mitteilungen  anderer  Beob- 
achter decken.  Das  Zeitwort  macht  die  größten  Schwierigkeiten;  in  \'ielen 
Fällen  fällt  es  ganz  weg  (vgl.  1,  3,  5,  6,  9,  13,  14,  15,  16,  17),  und  die 
Sätze  beschränken  sich  auf  Substantiv,  Adjektiv,  Adverb  und  besitzanzeigendes 
Fürwort.  Wird  ein  Zeitwort  gebraucht,  so  geschieht  dies  in  den  drei  ersten 
Lebensjahren  nur  in  der  Infinitivform  (vgl.  7,  8,  10,  12,  18);  die  Imperati- 
vische Bedeutung  des  Infinitivs  erhellt  aus  Beispiel  7,  10  und  19.  Erst  Bis 
das  Kind  vier  Jahre  alt  ist,  kann  die  Verwendung  der  Gegenwart,  des  Perfekts 
und  des  Imperativs  beobachtet  werden,  wobei  aber  für  das  Partizipium  immer 
noch  der  Infinitiv  eintritt  (s.  21  und  oben  Ib,  wobei  allerdings  das 
Beispiel  bilde  hat  mit  fritz  mitgehn  (M.  2  11)  schon  in  das  Ende  des  dritten 
Lebensjahres  des  Mädchens  fällt).  Beachtenswert  sind  die  Satzpaare  5/6  und 
7/8  mit  ihrer  verschiedenen  Bedeutung.  Auch  der  Artikel  tritt  erst  spät  auf 
(vgl.  21,  22,  23,  aber  wieder  20,  24).  Die  Beispiele  20  —  23  zeigen  eine 
entwickeltere  Satzbildung,  lassen  aber  noch  die  Fähigkeit  vermissen,  durch 
die  Stellung  den  Nominativ  und  Akkusativ  klar  auseinanderzuhalten,  so  daß, 
da  auch  der  Artikel  fehlt,  die  Sätze  zweideutig  werden  (s.  20,  21);  als  der 
Artikel  auftritt,  wird  der  Nominativ  für  den  Akkusativ  gesetzt  (22).  Die 
Sätze  24  und  25  sind  die  ersten  Beispiele  eines  aus  Haupt-  und  Nebensatz 
bestehenden  Satzgefüges,  jedoch  fällt  die  den  Nebensatz  einleitende  Konjunk- 
tion aus.  Eine  eigenartige  Zusammenziehung  haben  wir  in  Satz  26,  für  den 
auch  das  Auftreten  des  persönlichen  Fürv^^orts  „ich"  erwähnenswert  ist. 

5.  Die  Verneinung. 

Die  Beispiele  15  und  16  des  vorigen  Abschnitts  zeigen  die  Verwendung 
von  nein  als  Verneinungswort  für  „nicht"  (2  7).  Aus  späteren  Lebensjahren 
führe  ich  folgende  Beispiele  für  die  Verneinung  an: 

warum  gibts  immer  nicht  samstags  kuchen?  (4/3)  =  w.  g.  nimmer  (d.  h.  niemals)  S.  K.  ? 
immer  bringt  die  Christel  ihren  teller  nicht  (4/5)  =•  die  Chr.  br.  nimmer  (d.  h.  niemals)  L  T. 
der  mann  geht  zu  nirgends  jemand  (6/11)  =  der  Mann  geht  zu  niemand, 
heut   macht  kein   papa  keinen  laden  auf  (4  5)  =  heut  macht  der  Papa  keinen  Laden  auf. 

Die  drei  ersten  Beispiele  zeigen  die  Neigung  des  Kindes,  an  Stelle  der 
zusammengezogenen  schriftsprachlichen  Verneinungen  die  einzelnen  Bestand- 
teile, den  bejahenden  und  den  verneinenden,  auseinander  zu  halten.  Mit  dem 
kindUchen  immer  nicht  ist  nimmer  =  ahd.  ni  +  eo  mer  zu  vergleichen,  und 
neben  nirgends  jemand  ist  niemand  =  ahd.  nie  -h  eoman  zu  stellen.  Der 
letzte  Satz  zeigt  doppelte  Verneinung. 

16* 


244      Bergmann,  Beiträge  zur  Untersuch,  der  sprachl.  Entwickl.  des  Kindes 

Verschiedenes. 

1.  In  dem  Satze  guguk  mei  dimmi  =  wir  wollen  G.  in  meinem  Zimmer 
spielen  meint  der  Knabe  mit  mei  dimmi  nicht  etwa  sein  eigenes  Zimmer, 
sondern  „Papas  Zimmer".  Wenn  das  Kind  mich  aufforderte,  in  meinem  Zimmer 
mit  ihm  Guckguck  zu  spielen,  so  hätte  er  also  richtig  sagen  müssen:  guguk  dei 
dimmi.  Der  Ausdruck  mei  dimmi  kam  daher,  daß  ich  oft  sagte:  wir  wollen 
in  meinem  Zimmer  G.  spielen,  und  diese  Absicht  dann»  auch  immer  ausführte. 
So  wurde  für  das  Kind  mei  dimmi  gleichbedeutend   mit   „Papas  Zimmer". 

Das  Versprechen:  ich  will  es  nicht  wieder  tun  kleidet  der  Knabe  in  die 
Worte  wida  dun.  Diese  eigentümliche  Wendung  kommt  daher,  daß  er  oft 
die  Ermahnung  hörte:  das  darfst  du  nicht  wieder  tun;  er  empfindet  wohl, 
daß  dies  eine  Formel  ist,  die  ihm  etwas  verbietet,  und  wendet  sie  nun  auch 
seinerseits  als  Versprechen,  etwas  nicht  wieder  zu  tun,  an.  Faßt  er  so  diese 
Worte  ihrer  gesamten  Bedeutung  nach  auch  richtig  auf,  so  ist  er  doch  noch 
nicht  imstande,  den  Sinn  der  Einzelworte  zu  erfassen,  und  er  beschränkt  sich 
auf  die  Wiedergabe  der  ihm  besonders  ins  Ohr  fallenden  zwei  letzten  Wörter 
(vgl.  Lautgestaltung  2  b). 

Beide  Beispiele  beweisen,  wie  eine  Wendung  ihrer  Gesamtbedeutung  nach 
schon  verstanden  werden  kann,  ohne  daß  die  Bedeutung  der  die  Wendung 
bildenden  Einzelworte  klar  ist. 

2.  Einzelne  Redensarten  legen  unwillkürlich  den  Vergleich  mit  fremden 
Sprachen  nahe;  ich  führe  folgende  an: 

das  ist  mehr  groß  (4)  [vgl.  frz.  plus  grand]. 

ich  will  mal  sehen,  wer  strenger  ist  (6/U),  d.  h.  wer  stärker  ist  [vgl.  engl,  stronger]. 

mal  doch  all  der  ofen  (M.  5/2),  d,  h.  den  ganzen  Ofen  [vgl.  engl,  all  the  .  .  .]. 

das  kostet  teuer  (M.  6/2)  [vgl.  frz.  cela  coüte  eher]. 

großmama  geht  zu  sich  (M.  7),  d.  h.  .  .  .  geht  nach  Hause  [vgl.  frz.  .  .  .  va  chez  eile]. 

3.  Beispiele  für  Pleonasmen: 

ich  habe  bloß  nur  zwei  (5/2). 

kapellekirche  (6/8). 

bilde  trinkt  (?)  das  wasser  ganz  all  (M.  3). 

4.  Welch  eigentümliche  Vorstellungen  das  Kind  mit  gewissen  Wörtern 
verbindet,  mögen  folgende  Beispiele  zeigen: 

Hilde  (der  Name  des  Mädchens)  fragt,  wo  ihr  Bruder  wäre;  man  sagt  ihr,  er  sei  bei  der 
Großmutter  „eingeladen";  da  fängt  sie  laut  zu  weinen  an.  Endlich  stellt  sich  die  Ursache 
des  Schmerzes  heraus;  sie  fragt  nämlich,  ob  nicht  wieder  die  Läden  aufgemacht  würden; 
sie  hat  offenbar  „einladen"  als  „die  Läden  zumachen"  aufgefaßt,  und  glaubte  nun,  ihr 
Bruder  müsse  lange  im  Dunkeln  sitzen  (3/6). 

Hilde  hört,  daß  das  Evchen  verreist  ist;  sie  fragt:  da  geht  sie  doch  nicht  kaputt?  (3/6). 

Hilde  hört  viel  vom  18.  Oktober  und  der  Leipziger  Schlacht  sprechen  (Erinnerungsfeier 
1913):  sie  fragt  dann  mehrmals:  schlacht  ich  heut  leib?  (3/6). 

Als  vom  Totenfest  gesprochen  wird,  fragt  der  Knabe,  ob  da  die  Leute  tot  gemacht 
werden  (5/1). 


R.  Prantl,  Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs       2'4ö 

Die  Untersuchung  der  Suggestibilität 
mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs. 

Von  Rudolf  Prantl. 

Inhalt. 

I.  Das  Hauptproblem 245 

a)  Binets  Versuchsanordnung 245 

b)  Abänderungen  beim  Nachversuch 247 

II.  DerNachversuch 248 

a)  Reizlinienbereich       248 

1.  Die  erste  Spalte 248 

2.  Die  zweite  bis  fünfte  Spalte       251 

b)  Fallenbereich 254 

c)  Suggestibilitätskoeffizient-en 257 

1.  Herleitungen 257 

2.  Ihre  Beziehungen  zueinander 258 

3.  Ihre  Beziehungen  zur  Anzahl  der  vermiedenen  Fallen   .     .  263 

d)  Richtung  und  Schnelligkeit   der  Suggestionswelle.     Das  Problem 

der  vor-  und  rückläufigen  Bewegung 266 

e)  Normalform  des  Binetschen  Versuches  . 238 

f)  Maß  der  Ablenkung  des  (ersten)  Leitgedankens 269 

III.  Der  Gegenversuch 270 

a)  Versuchsanordnung 270 

b)  Reizlinienbereich 271 

c)  Fallenbereich 274 

d)  Suggestibilitätskoeffizienten 274 

IV.  Übersicht,  Ergebnisse,  Probleme 277 

I.  Das  Problem. 

a)  Binets  Versuchsanordnung. 
Binet  stellte  sich  in  seiner  Arbeit  „La  suggestibilite"  (Paris  1900)  die  Auf- 
gabe, die  Suggestibilität  einer  Person  zu  bestimmen,  ohne  von  der  Hypnose 
Gebrauch  zu  machen.  In  der  richtigen  Erkenntnis,  daß  der  Erfolg  bei  Täu- 
schungsversuchen zum  Hauptteil  von  der  Suggestionskraft  des  Experimen- 
tierenden abhängt,  mithin  bei  derartigen  Experimenten  eigenthch  mehr  diese 
Ej-aft  als  die  Suggestibilität  der  Vp.  untersucht  wird,  fahndete  er  nach  Me- 
thoden, die  den  Einfluß  des  Experimentators  möglichst  ausschheßen.  Die 
Suggestion  sollte  zu  einer  „unpersönhchen"  oder  besser  „entpersönlichten" 
(depersonnalisee,  S.  87)  werden,  nur  mehr  aus  der  Art  des  eigentlichen 
Versuchsstoffes  herausquellen.  Dies  erreicht  man  im  allgemeinen  dadurch, 
daß  man  die  Vp.  eine  Aufgabe  ausführen  heißt,  die  dazu  angetan  ist,  dem 
Individuum  einen  Leitgedanken  (une  idee  directrice,  S.  86)  aufzudrängen, 
der  als  Autosuggestion  die  Reaktionen  auf  die  Versuchsmaßnahmen  beein- 
flußt. Zeigt  man  etwa  einer  Vp.  nacheinander  und  getrennt  mehrere  Linien 
von  wachsender  Länge,  so  entsteht  bei  einiger  Aufmerksamkeit  (die  als  selbst- 
verständlich vorausgesetzt  werden  darf)  der  Leitgedanke:  „Die  Linien  werden 
immer  größer",  der  die  Vp.  verleiten  kann,  in  der  nächsten  noch  gar  nicht 
gesehenen  Linie  eine  größere  als  die  eben  gesehene  zu  vermuten.  Hierauf 
baute  Binet  zwei  Methoden,  wovon  die  erste  in  dieser  Abhandlung  genauer 
betrachtet  werden  soll.  Er  benützte  Linien,  die  eine  arithmetische  Reihe  bil- 
den, deren  Differenzen  also  konstant  und  zwar  12  mm  sind. 


246  Rudolf  Pranti 


Zuerst  hatte  er  vor,  einer  geometrischen  Reihe  sieh  zu  bedienen,  so  daß  die 
Längen  in  konstantem  Verhältnis  zueinander  gestanden  wären,  wonach  ge- 
mäß dem  WeberBchen  Gesetze  auch  die  Schätzungsschwierigkeit  die  gleiche 
geblieben  wäre.  Aber  er  stand  aus  dem  Grunde  hiervon  ab,  weil  eine  geo- 
metrische Reihe  doch  bedeutend  mächtiger  anwächst  und,  falls  das  An- 
wachsen unterbrochen  wird,  diese  Unterbrechung  viel  zu  sehr  auffallen  mußte, 
was  nicht  im  Interesse  des  Versuches  lag.  Der  Kniff  beruht  nämhch  darin, 
daß  nach  einer  Folge  von  5  Linien  (12,  24,  36,  48,  60  mm)  mit  viermahgem 
Anwachsen  (um  je  12  mm)  plötzlich  eine  Falle  auftritt,  indem  die  6.  Linie 
der  5.  gleich  ist.  In  diesem  Augenblick  steht  die  Vp.  unter  der  Einwirkung 
zweier  seelischen  Strömungen.  Die  eine  drängt,  falls  die  Falle  erkannt 
wurde,  auf  Konstatierung  deren  Anwesenheit,  die  andere  verleitet  in  dem 
empirischen  Bewußtwerden  des  Wachstums  aller  bisherigen  Linien  zu  dem 
Irrtum,  es  fände  auch  diesmal  ein  Anwachsen  statt,  ein  Irrtum,  der  durch 
die  Größe  der  nächsten  tatsächlich  wieder  anwachsenden  Linie  bekräftigt 
wird,  so  daß  als  Linie  8  wieder  eine  Falle  eingesetzt  werden  kann  usw.,  wie 
Tafel  1  angibt. 

Tafel  1. 


Linienfolge 

Länge 

Linienfolge 

Länge 

1 

12  mm 

7 

72  mm 

2 

24     „ 

Falle     8 

72     „ 

3 

36     „ 

9 

84     „ 

4 

48     „ 

Falle   10 

84     „ 

6 

60     „ 

11 

93     „ 

Falle  6 

60     ,. 

Falle   12 

96     „ 

Natürlich  darf  die  Vp.  nicht  wissen,  daß  man  mit  ihr  Suggestionsversuche 
anstellt.  Deswegen  gibt  man  ihr  ein  ungenaues,  indifferentes  Ziel,  vielleicht 
die  Mitteilung,  daß  es  sich  um  die  Prüfung  des  Schätzungsvermögens  handle 
oder  um  die  Untersuchung,  mit  welcher  Genauigkeit  gezeigte  Linien  nach- 
gezeichnet werden  u.  dergl.  Die  Modellinien  selbst  zog  Binet  mit  Tinte  1  mm 
dick  auf  einem  langen  weißen  Papierbogen  parallel  unter  einander  in  Ab- 
ständen von  2  cm,  mit  Zwischenräumen  also,  die  genügten,  um  eine  Linie 
für  sich  zu  zeigen,  während  die  anderen  verdeckt  waren.  Das  14  cm  breite 
Papier  wurde  platt  auf  den  Tisch  gelegt,  derart,  daß  die  Vp.  es  in  einer  Ent- 
fernung von  50  cm  horizontal  sah.  Um  jeweils  eine  Linie  freizugeben,  legte 
Binet  auf  den  beschriebenen  Modellbogen  zwei  undurchsichtige  Papierblätter 
mit  einer  als  Spalte  dienenden  Entfernung,  die  dann  nur  verschoben  werden 
mußten,  um  eine  Linie  nach  der  anderen  unter  Verhüllung  der  nachfolgenden 
und  vorausgegangenen  zu  zeigen.  Nach  Besichtigung  der  betreffenden  Linie 
ward  dieselbe  sofort  zugedeckt  und  wurde  nicht  mehr  gezeigt,  damit  eine 
nachträgliche  Kontrolle  und  Korrektur  ausgeschlossen  war,  worauf  übrigens 
die  Vp.  zuvor  aufmerksam  gemacht  worden  war.  Nach  der  Reproduktion 
der  Linie  wurde  die  neue  enthüllt  und  zwar  erst  jetzt,  um  anzudeuten,  daß 
eine  neue  Linie  darankäme.  Von  einer  Darbietung  zur  nächsten  sollten 
etwa  durchschnittlich  7  Sek.  verfließen,  weswegen  zu  langsame  Vpn.  ermun- 
tert, zu  schnelle  etwas  zurückgehalten  wurden.  Während  aller  Versuche 
richtete  Binet  an  die  Vp.  einige  Plauderworte  indifferenten  Inhalts,  etwa:  „Nun 
kommt  die  3.  Linie,  jetzt  die  nächste",  um  die  Aufmerksamkeit  wach  zu  halten» 

Zur  Reproduktion  der  Linien  stand  der  Vp.  Quadratpapier  zur  Verfügung, 
also  Papier  mit  aufgedruckten,  graublauen,  aufeinander  senkrecht  stehenden 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs        247 


Linien  in  Entfernungen  von  4  mm.  Die  Bogen  maßen  20  cm  zu  15  cm; 
beim  1.  cm  am  linlcen  Rand  war  ein  Punkt  mit  Tinte  angemerkt,  von  dem 
aus  die  gezeigte  Linie  dargestellt  werden  sollte.  Hierzu  war  nicht  die  ganze 
Linie  auszuziehen,  sondern  nur  deren  anderes  (rechtes)  Ende  diu-ch  einen 
weiteren  Punkt  oder  kurzen  Strich  anzudeuten.  Es  war  also  der  linke  An- 
fang und  die  Richtung  der  Linie  schon  gegeben,  vorgeschrieben,  das  rechte 
Ende  gesucht.  Alle  Linien  sollten  von  der  angegebenen  Marke  an  reprodu- 
ziert werden,  was  in  der  Ausführung  nur  darauf  hinaushef,  daß  vom  ersten 
(gegebenen)  Punkte  an  weiterhin  in  Abständen  von  12  mm  je  ein  Punkt  ab- 
zusetzen war,  mit  Ausnahme  bei  den  Fallen,  wobei  je  zwei  Punkte  zusam- 
menfielen. Damit  sollte  die  Aufmerksamkeit  mehr  auf  die  Differenzen,  als 
auf  die  absoluten  Längen  der  Linien  gelenkt  werden.  Das  Ausziehen  der 
Linien  hingegen  würde  zu  viel  Kraft  für  Genauigkeit  absorbieren  und  damit 
die  Suggestionswirkung  schwächen. 

Binet  führte  den  Versuch  an  45  Schülern  einer  Pariser  Schule  im  Alter 
von  7  bis  14  Jahren  aus.  Alle  Ergebnisse  ohne  Ausnahme  wurden  in  einer 
Tafel  vereinigt,  worin  in  Milhm.  die  Länge  angegeben  wurde,  welche  jeder 
Schüler  der  ersten  Linie  gab  und  die  Differenzen  aller  folgenden  Linien. 
NiL  .  .  z.  B,  (s.  Tafel  2)  zeichnete  die  erste  Linie  16  mm  lang  (anstatt  12  mm); 
die  Differenz  zwischen  erster  und  zweiter  Linie  zeichnete  er  8  mm  (anstatt 
12  mm);  damit  war  also  die  2.  Linie  im  ganzen  (16  -f-  8  ==)  24  mm  ge- 
zeichnet usw.  Wurde  aber  eine  folgende  Linie  kürzer  als  die  vorausge- 
gangene angegeben,  so  wurde  die  Differenz  durch  das  Negativzeichen  — 
charakterisiert. 

b)    Abänderungen   beim    Nachversuch. 

Nach  der  Lektüre  des  Binet'schen  Versuchs  hatte  ich  ledighch  den  Wunsch, 
ihn  nachzuprüfen  und  außer  diesem  Nach  versuch  noch  einen  Gegenver- 
such durchzuführen,  bei  dem  der  Leitgedanke  eine  stete  Verkürzung  der 
Linien  bilden  sollte,  wonach  nach  meiner  Ansicht  ein  Spiegelbild  des  Origi- 
nalversuches entstehen  mußte.    Weiteres  hierüber  später. 

Für  den  Nach  versuch  zog  ich  die  Linien  von  Tafel  1  nicht  auf  einen 
Bogen,  sondern  nahm  für  jede  Linie  ein  Blatt  von  17  cm  :  5  cm,  worin  ich 
dieselbe  parallel  zur  Längsseite  in  die  Mitte  zeichnete.  Alle  Blätter  band 
ich  in  ein  Büchelchen  zusammen.  Dasselbe  enthielt  außer  den  Blättern  für 
den  Nach-  und  Gegenversuch  noch  deren  4  mit  je  einer  Linie  von  der 
Länge  72,  36,  96,  60  mm,  weil  ich  wissen  wollte,  wie  genannte  Linien 
außerhalb  des  Versuches  ohne  Suggestion  gezeichnet  würden.  Ich  band, 
wie  gesagt,  die  Blätter  in  ein  Heftchen  zusammen,  in  dem  ich  nm-  immer 
umzublättern  brauchte,  wenn  die  vorausgegangene  Linie  gezeichnet  war; 
selbstredend  war  auch  für  die  Fallenlinie  je  ein  eigenes  Blatt  vorhanden. 
Ich  glaube,  daß  das  Umblättern  nicht  nur  bequemer  ist,  als  das  Verschieben 
eines  Doppelbogens,  sondern  auch  markanter  als  dieses  andeutet,  daß  eine 
neue  Linie  zu  zeichnen  ist  und  so  eine  Irrung  weniger  wahrscheinlich  sich 
einschleicht.  Um  im  letzteren  Punkte  ganz  sicher  zu  sein,  numerierte  ich 
die  Blätter  (Nr.  1  bis  12)  und  ließ  über  jeden  von  den  Kindern  markierten 
Punkt  die  Nummer  des  betreffenden  Blattes  zeichnen,  worin,  was  wir  nicht 
verkennen  wollen,  eine  Bekräftigung  des  Leitgedankens  vom  Anwachsen 
der  Linien  liegen  mag.     Außerdem  wich  ich  insofern  von  Binets  Vwsuchs- 


248 


Rudolf  Prantl 


anordnung  ab,  als  ich  nicht  auf  quadriertes  Papier  reproduzieren  ließ,  son- 
dern lediglich  auf  einfach  liniertes.  Einen  nennenswerten  Grund  habe  ich 
hierfür  nicht  anzugeben;  ich  hielt  diese  Vereinfachung  zwar  nicht  in  der 
Ausführung  für  bequemer,  weil  man  doch  mehr  messen  muß  als  beim  qua- 
drierten Papier,  wohl  aber  der  Versuchsidee  mehr  entsprechend.  Mithin 
mußte  eine  korrekte  Reproduktion  aller  Linien')  so  ausfallen: 


Fig.l 


Die  Vpn.  bildeten  Kinder  des  Würzburger  Waisenhauses,  dessen  Leitung 
ich  für  das  freundliche  Entgegenkommen  zu  großem  Dank  verpflichtet  bin. 
Die  Kinder  (26  Knaben  und  24  Mädchen)  erstrecken  sich  dem  Alter  nach 
auf  das  10.  bis  16.  Lebensjahr.  Die  50  Ergebnisse  vereinigte  ich  in  einer 
Tafel  (3)  ganz  im  Sinne  Binets. 


IL  Der  Nachversuch. 
a)  Reizlinienbereich. 

1.    Die  erste  Spalte. 

Um  Beleg  und  Vergleich  zu  gewinnen,  sei  außer  der  Ergebnistafel  meines 
Versuches  auch  die  gekürzte  Originaltafel  Binets  mit  aufgeführt: 

Tafel  2. 


Noras 
des 

« 

11 

Difference  entre  les  iignes 

ao  ai 
gl 

00 

ä 

"2 
'S 

Eleves 

" 

£■* 

et 

1 

.        ^  5  et  6 

„       „7  et  8  _        .  fletlO 

lletl2 

«3« 

•fS 

B 

'S 

let2 

2  et  3 

3  et  4  4  et  6 

Pifege 

6  et  7 

Pifege 

Set  9 

Piöge 

lOetll 

Pifege 

3^ 

2: 

1.  Nil  .     . 

16 

8 

12 

12  1   12 

8 

12 

—12 

16 

4 

12 

4 

124 

7,6 

1 

11.  Saga   . 

16 

8 

8 

12        8 

8 

8 

.    4 

8 

4 

8 

4 

146 

62 

0 

21.  Pou     . 

12 

4 

16 

12 

12 

12 

8 

8 

16 

8 

8 

8 

< 

81 

0 

31.  Obr     . 

16 

8 

8 

12 

12 

12 

12 

12 

8 

8 

8 

8 

209 

90 

0 

41.  Tizi     . 

> 

> 

> 

>        8 

12 

8 

8 

8 

8 

8 

8 

210 

112 

0 

Moyennes 

13,6 

8,68 

8,8 

9,7 

9,2 

7,5 

8 

5,1 

7,8 

6 

7,1 

6 

Darnach  wurde,  wie  das  Mittel  der  ersten  Spalte  zeigt,  die  Linie  von  12  mm 
im  Durchschnitt  bei  Binet  13,.6,  bei  mir  13,2  mm  lang  gezeichnet,  wurde 
also  hier  wie  dort  etwas  überschätzt  bzw.  überzeichnet.  Daß  aber  die  Werte 
nur  nach  außen  hin  genügend  übereinstimmen,  erkennt  man,  wenn  man 
die  reproduzierten  Längen  in  einer  Häufigkeitstafel  niederlegt.  Um  einen 
gemeinsamen  Maßstab  zu  gewinnen  (Binet  hatte  45,  ich  50  Kinder  für  den 
Versuch),  war  die  jeweilige  Variantenanzahl  in  Prozente  umzurechnen.     An- 


')  Die  Figuren  sind  auf  'j^  Größe  verkleinert  wiedergegeben. 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallen  Versuchs         249 


Tafel  3. 


Namen 

der 
Schüler 


Differenz  der  Linien 


1il2  j  2u3     3a.4 


.     _  i5  U.6    „    _    7  U.8 

4tL5  ipaUe    6"'    Falle    ^^-^ 


i3    ijS     i* 
S  »;  S  «;!  _ 

S     il  S     HC 


9U.10,.     ..llu.l^ll     jl|     lll 
Falle  ^O"-»  FaUr'^     i«    i!> 


± 


1.  Franz  . 

2.  Georg  . 

3.  Kathinka 

4.  Gertrud 

5.  Hermann 

6.  Fritz     . 

7.  Hans    . 

8.  Alfred  . 

9.  Karl     . 

10.  Heinrich 

11.  Johann 

12.  Otto     . 

13.  Valentin 

14.  Richard 

15.  Hermann 

16.  Max      . 

17.  Alfred  2 

18.  Rudolf 

19.  Werner 

20.  Max  2  . 

21.  Hilmar 

22.  Ernst  . 

23.  Konrad 

24.  Theresia 
25.Berta   . 

26.  Blanka 

27.  Rosa    . 

28.  Gretchen 

29.  Anna    . 

30.  Rosa    . 

31.  Elisabeth 
32  Margarete 

33.  Klara  .     . 

34.  Emma .     . 

35.  Maria  .     . 

36.  Gretchen  2 

37.  Barbara 

38.  Josepha 

39.  Therese 

40.  Elisabeth  2< 

41.  Franziska 

42.  Regina 

43.  Katharina 

44.  Lonie 

45.  Luise 

46.  Richard  2 

47.  Franz  2 

48.  Hugo    . 

49.  Adolf    . 

50.  Johann  2 

Mittel  . 


17 
15 
11 
17 
11 
12 

7 
11 
13 
11 
II 
12 

9 
18 
11 
12 
10 
26 
16 
II 
10 
12 
14 
15 
14 
22 

8 

12 
28 
13 
13 
10 
11 

9 
15 
10 
10 
12 
16 
10 
13 
12 
12 
14 
15 
14 
19 
13 
11 
12 


22 
10 
13 

6 
11 
14 
18 

4 
11 
14 
17 
15 
20 

7 

10 
—3 

3 
26 
13 
17 
12 
17 
15 

9 
12 

9 
10 

8 
29 
15 

9 
12 
14 
17 
17 
11 
10 
11 
19 
10 
16 
14 
12 
11 

7 
14 

8 
15 
13 
15 


27 

7 
11 
21 
17 
14 
10 
19 

9 
13 
29 
10 
26 

7 

10 
30 
25 
30 
18 
12 
10 
12 
17 

7 
14 
16 
12 
15 
29 
13 
19 
11 
13 
22 
13 
14 

8 
20 
21 
17 
13 
16 
10 
16 
15 
18 
21 
15 
14 
11 


14 
15 
10 
18 
21 
14 
11 
20 
20 
16 
54 
11 
30 
21 
12 
11 
10 
35 
10 
17 
21 
15 
17 
16 
15 
10 
15 
15 
29 
16 
23 
10 
19 
17 
14 
17 
10 
14 
16 
23 
14 
18 
10 
13 
15 
12 
10 
13 
10 
18 


15 
18 
10 
14 
20 
13 
25 

6 
13 
15 
15 

9 
14 

7 
15 

7 

16 
20 

8 
14 

4 
12 
14 
10 

8 

9 
10 
13 
30 
13 
16 
16 
17 
21 
16 
14 
14 
14 
21 
20 
14 
20 
12 
17 
11 
12 
22 
13 
11 
15 


13 

0 

10 

0 

13 

12 

29 

9 

12 

14 

19 

8 

15 

7 

0 

0 

7 

30 

8 

8 

2 

12 

10 

7 

—4 

0 

'7 

15 

29 

0 

-11 

5 

0 

0 

5 

12 

.9 

14 

12 

12 

15 

25 

0 

14 

—4 

6 

3 

17 

6 

11 


9 
10 

7 

0 
16 
12 
21 

8 

8 
11 
21 
12 
30 
18 
13 
15 

3 
18 
13 
16 

2 
12 

4 
21 
15 

9 
10 
15 
35 
16 
20 

7 

12 
15 
16 

8 

9 

7 

10 
14 

0 
27 
12 

8 
12 

7 
11 
13 

7 

4 


16 

0 

8 

0 

—22 

12 
7 
4 
0 
0 
8 
9 

28 
9 
0 
6 
6 

18 
5 

18 
7 
9 
6 
0 
—3 
0 

12 

17 

35 
0 
5 

15 
0 
0 
—8 
6 
7 
8 

10 

13 
-15 

27 
0 
8 
7 
4 
3 

16 
7 
0 


4 

2 

9 

10 

14 

12 

—13 

5 

8 

0 

22 

9 

37 

7 

15 

8 

6 

34 

4 

.  9 

5 

14 

9 

8 

7 

8 

14 

14 

37 

0 

—2 

7 

12 

14 

0 

7 

7 

11 

12 

10 

15 

18 

10 

8 

IG 

4 

7 

13 
8 
7 


12 

8 

0 

13 

10 

10 

11 

24 

—8 

8 

12 

13 

13 

5 

5 

5 

5 

0 

0 

9 

16 

11 

12 

8 

35 

-35* 

14 

11 

0 

}9 

5 

0 

6 

5 

20 

19 

3 

9 

11 

17 

5 

6 

5 

6 

8 

5 

11 

11 

3 

14 

0 

8 

13 

13 

12 

10 

36 

33 

0 

0 

—8 

13 

4 

6 

8 

9 

0 

0 

8 

19 

8 

8 

7 

8 

8 

9 

11 

13 

12 

14 

16 

9 

13 

19 

9 

10 

6 

5 

4 

17 

4 

4 

7 

20 

16 

14 

5 

8 

0 

9 

12 

0 

11 

13 

8 

11 

6 

5 

16 

0 

101 

7 

26 

18 

0 

4 

.14 

12 

10 

9 

7 

8 

13 

0 

3 

0 

13 

10 

32 

0 

—3 

0 

0 

10 

0 

9 

11 

9 

12 

18 

5 

18 

0 

9 

2 

3 

16 

15 

8 

6 


177! 
U4ii 
104| 
1181 
138 
lll 
169 
113 
104 
122 
204 
103 
^31 

82| 
108 

88 
Hl 
249 
133 
112 

98 
143 
107 

96 

98 
113 
119 
139 
r202} 
113 
117 

95 
114 
134 
105 
132 
100 
135 
157 
120 
147 
178 

92 
149 

97 

97 
130 
123 
116 
134 


132(10 

0iJ4 

0 

2 

161  2 


lOi 


I3420||l2,7 


,781 15,94  16,58|14,38i  8,86:12,58  6.5fi  lO.OO'  8.26  10,35  8.49 


94 

145 

96 

114 

40 

83 

95 

96 

112 

0 

50 


110  0 


8$ 
76 
82 

124 
77 

116| 
36 

—2 

0 

96 

104 

98 

0 

1-36 
67 
16 
20 
10 
95 
89 
95 
80 
95 

9 

21 

9 

181 


121 


0 
0 
0 
0 
0 
0 
2 
2 
4 
0 
0 
0 
4 
3 
4 
3 
3 
2 
0 
0 
0 
0 
0 
1 
0 
3 
0 
1 
0 
0 
0 
76jio 
49!  2 


250 


Rudolf  Prantl 


Tafel  4. 


B.l'^'lo 

4 

53| 

4 

4 

34 

4 

(^-97^-) 

l  Fälle 

1 

24 

1 

1 

16 

1 

1 

1       t       1 

mm 

7     8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

15 

16 

17 

18 

19 

20 

2l|22 

23 

24|25|26|27 

28 

(  Fälle 

1     1 

2 

6  1  9 

9 

5 

4  !  4 

2 

2 

1 

1 

h 

1          1  1 

1 

■  1  in  "/o 

2 

2 

4 

12 

18 

18 

10 

8 

8 

4 

4 

2 

2 

2 

(^ 

—  100)    2 

2 

statt  12  mm  z.  B.  wurde  bei  mir  (P.)  in  6  Fällen  nur  10  mm  gezeichnet, 
das  ist  in  {^'^-=)  12  o/o,  bei  Binet  (B.)  nur  in  1  Falle,  daß  ist  in  (l-^^^ 

2 

2  —  o^Q.  Bei  einem  Schüler  (Nr.  41,  Fini  .  .)  hat  B.  aus  einem  unbekannten 
Grunde  die  ersten  vier  Spalten  nicht  ausgefüllt,  so  daß  in  Tafel  4  der  Wert  fehlt 

(2        \         7 
100  —  2g^=J      97  g^ 

beträgt.  Aus  der  graphischen  Darstellung  der  Tafel  4  in  Figur  2  erhellt 
sofort  eine  einschneidende  Verschiedenheit  des  Binet'schen  und  meines  Li- 
nienzuges. Mein  Versuch  (ausgezogener  Linienzug)  läßt  auch  ohne  Abrun- 
dung  durch  irgendein  Verfahren  die  Gauß'sche  Fehlerkurve  unschwer  er- 
kennen, was  in  jedem  Falle,  wie  dem  vorliegenden  von  vornherein  erwartet 
werden  muß.  Das  Dichtigkeitsmittel  liegt  über  11  und  12;  die  Streuung  be- 
trägt (28  —  6  =)  22  mm.    Beim  Binet'schen  Linienzug  (punktiert)  kann  man 

eigentlich    von     keinem 
f^  Modus     sprechen,      wir 

sehen  vielmehr  zwei  hohe 
Gipfel  über  12  und  16, 
zwei  niedrige  über  10 
und  20.  Das  kommt  zwei- 
fellos davon  her,  daß 
Binet  quadriertes  Papier 
benützte.  Die  größte 
Häufigkeit  von  53  o/o  fällt 
auf  12  mm.  Die  Kinder 
überschätzen  zwar  auch 
bei  Binet  (wie  wir  schon  hörten)  ein  wenig  die  Linie  von  12  auf  13,6  mm; 
aber  da  ganz  nahe  davon  auf  dem  Papier  das  Ende  eines  Quadrates  sich 
befand,  so  dachten  die  Kinder  blitzartig:  „Gewiß  ist  dieser  Punkt  gemeint»" 
Kinder  sind  ja  von  verschiedenerlei  her  gewöhnt,  daß  an  sie  gestellte  Auf- 
gaben „aufgehen",  z.  B.  Rechenaufgaben.  Die  Tendenz  der  „Abrundung" 
ist  Allgemeingut  der  Menschheit.  Immerhin  standen  die  Binet'schen  Ver- 
suchskinder vor  einem  kleinen  herkulischen  Scheideweg";  denn  außer  dem 
Ende  des  Quadrats  (12  mm)  lockte  auch  noch  das  Ende  des  nächsten 
(von  16  mm)  an.  Mit  der  Neigung  zum  Überschätzen  verband  sich  die  Auto- 
suggestion des  nächsten  Linienschnittpunktes,  und  so  fielen  35  —  o/o  auf  16  mm. 
Selbst  der  übernächste  Linienschnittpunkt  (von  20  mm)  zog  noch  einen  Treffer 
(2  Q^  0/0)  an  sich,  obwohl  zwischen  16  und  20  kein  einziger  liegt.  •  Endlich, 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs        251 


glaube  ich,  war  auch  das  Quadratende  vor  12  mm  nicht  ohne  Einfluß;  denn 
der  eine  Fall  von  10  mm  liegt  genau  zwischen  8  und  12  mm.  Ebenso 
verteilen  sich  die  zwei  Varianten  zwischen  12  und  16  ganz  symmetrisch  zu 
12  und  16  mm.  ^ 

Aus  der  Rastrierung  des  Binet'schen  Quadratpapieres  läßt  sich  der  "punk- 
tierte Linienzug  restlos  erklären.  Die  Linienschnittpunkte  12,  16,  20,  8  mm 
wirkten  offensichtlich  als  vier  Magnete  in  einer  mit  zunehmender  Entfernung 
abnehmenden  Stärke.     Daher  beträgt  die  Streuung  nur  (20  —  10  =)  10  mm. 

Binet  griff  nicht  ohne  Gründe  zu  quadriertem  Papier.  Es  bietet  dasselbe, 
wie  er  (S.  90)  sagt,  ein  bequemes  Mittel  zur  Abschätzung  der  nachgezeich- 
neten Linienlängen  und  ihrer  Unterschiede,  ohne  daß  man  sich  eines  Dezi- 
metermaßstabes zu  bedienen  brauchte.  Außerdem  übt  die  Quadrierung  des 
Papieres  eine  Ergänzungssuggestion  (une  Suggestion  supplementaire)  auf  die 
Vp.  aus:  „Es  ist  etwas  Merkwürdiges,  daß,  wenn  man  auf  einem  quadrierten 
Papier  Punkte  zur  Bestimmung  von  Entfernungen  zu  machen  hat,  man  eine 
Neigung  verspürt,  diese  Punkte  vorzugsweise  auf  die  Schnittpunkte  der  Li- 
nien zu  setzen;  das  ist  eine  Suggestion,  der  wohl  wenig  Menschen  sich  ent- 
ziehen. Es  war  also  interessant  zu  verfolgen,  in  welchem  Maße  die  Kinder 
auf  die  Quadrierungssuggestion  ansprachen.  Infolge  dieser  Suggestion  vari- 
ieren die  gezeichneten  Längen  im  Minimum  um  4  mm,  sie  wurden  in  Ab- 
ständen von  4  mm  gezeichnet"  (S.  90).  Binet  entging  also  der  Einfluß  der 
Papierrastrierung  nicht.  Wahrscheinlich  fiel  ihm  die  optimistisch  „Suggestion 
supplementaire"  benannte  Erscheinung  erst  im  Laufe  der  fortgesetzten  Ver- 
suche auf,  die  er  dann  nicht  wieder  mit  geänderten  Bedingungen  von  vorne 
beginnen  wollte. 

2.   Die  zweite  bis  fünfte  Spalte. 

Stimmte  das  Mittel  der  ersten  Spalten  meines  Nachversuches  mit  dem  des 
Binet'schen  Originalversuches  wenigstens  äußerlich  noch  leidlich  überein, 
so  gehen  von  jetzt  ab  die  Ergebnisse  auch  numerisch  wesentlich  ausein- 
ander. Die  Mittel  des  Nachversuches  bewegen  sich  (mit  12,  78;  15,  94;  16, 
58;  14,  38)  über  dem  Normalmaß  12,  das  ihnen  bei  korrekter  Reproduktion 
zugekommen  wäre;  die  Mittel  des  Binet'schen  Versuches  laufen  (mit  8,  68; 
8,  8;  9,  7;  9,  2)  unter  dem  Normalmaß.  Die  Mittel  beider  Versuche  haben 
aber  das  gemein,  daß  sie  bis  zur  vorletzten  Stelle  ansteigen,  auf  die  letzte 
zu  schwach  abfallen,  daß  mit  andern  Worten  das  Gewicht  der  vierten  Spalte 
ein  Maximum  aufweist.  Auf  diese  anscheinend  nebensächliche  Tatsache 
werden  wir  noch  einigemal  zu  sprechen  kommen. 

Ich  habe  in  meinen  Vorarbeiten  für  jede  der  12  Spalten  eine  Häufigkeits- 
tafel mit  graphischer  Darstellung  hergestellt,  will  sie  aber  hier  nicht  mit  auf- 
führen. Den  Interessenten  ist  die  Rekonstruktion  aus  den  Tafeln  2  und  3 
leicht  möglich.  Hier  sind  sie  entbehrlich,  wenn  ich  verrate,  daß  sie  in  ihrem 
Grundcharakter  alle  der  Figur  2  ähneln.  Die  Binet'schen  Linienzüge  besitzen 
ausnahmslos  die  eigentümlichen  Gipfel  über  den  Vielfachen  von  4  mm  mit 
auffallender  Bevorzugung  von  8  mm.  Die  Streuungen  sind  stets  12  mm, 
während  die  meines  Nachversuches  bedeutend  größer  sind  (32,  24,  49, 
26  mm).  Wieder  offenbart  also  die  Quadrierung  des  Versuchspapieres  eine 
starke  Magnet-  und  Bremswirkung,  die  wir  sehr  hübsch  verfolgen   können, 


252 


Rudolf  Prantl 


wenn  wir  nicht  die  Differenzenmittel  der  Linienkopien,  sondern  die  Mittel 
der  ganzen  Längen  messen  und  in  einer  Figur  darstellen.  Wir  brauchen  nur 
die  Mittel  der  ersten  fünf  Spalten  nacheinander  zu  addieren  und  als  Ordi- 
nalen zu  den  Abszissen  12,  24,  36,  48,  60  mm  aufzutragen. 

In  Figur  3  ist  0  A  die  Normallinie,  auf  sie  hätten  die  oberen  Endpunkte 
der  zu  0,  12,  24,  36,  48,  60  gehörigen  Ordinaten  bei  korrekter  Wiedergabe 
fallen  müssen.    0  A  schließt  mit  der  Abszissenachse  natürlich  einen  Winkel 

von  450  ein.  Von  ihr  weicht  der  Binet'sche 
Linienzug  0  B  nach  unten,  meiner  (0  D) 
nach  oben  ab.  Man  wird  mir  sofort  zu- 
stimmen, wenn  ich  behaupte,  daß  die  Ab- 
weichung nach  oben  eine  dem  Versuch  zu- 
kommende, zu  erwartende,  also  positive 
ist;  denn  die  5  ersten  Linien  sollen  ja  den 
Leitgedanken  des  Linienzuwachses  erzeu- 
gen, und  wir  dürfen  doch  nicht  erwarten, 
daß  derselbe  auf  einmal  unvermittelt  wie 
ein  deus  ex  machina  nach  Vorführung  der 
fünf  „Reizlinien"  (ich  will  diesen  Ausdruck 
beibehalten  und  mit  Rzl.  abkürzen)  auf- 
treten soll.  Wahrscheinlich  wird  die  be- 
kannte Suggestion  schon  bei  der  Wieder- 
gabe der  3.  Rzl.  auftreten  und  zwar  aus  folgendem  Grunde:  Reproduktion 
von  Rzl.  1  kann  überhaupt  keine  Suggestion  erwecken,  sowenig  wie  ein  Punkt 
die  Richtung  einer  Geraden  bestimmt.  Wird  eine  weitere  Modellinie  (2)  wieder- 
gegeben, so  ist  ein  Dreifaches  möglich:  Die  Gerade  ist  größer,  gleich  oder 
kleiner  als  die  erste  (oder  wird  hierfür  gehalten).  Die  Erkenntnis  des  Ein- 
tritts einer  dieser  Möglichkeiten  bildet  ein  Suggestionselement.  Die  Sug- 
gestion kann  angebahnt  sein.  Von  der  ersten  Möglichkeit  macht  der 
Binet'sche  Versuch  selbst  Gebrauch,  von  der  dritten  mein  Gegenversuch 
(Abschnitt  III),  von  der  zweiten  meine  Gegenversuche  zum  2.  Binet'schen 
Liniensuggestionsversuch,  worüber  in  dieser  Abhandlung  nicht  die  Rede 
sein  wird.  —  Die  3.  Rzl.  endlich  kann  die  angebahnte  Suggestion  bestätigen, 
falls  das  aus  der  Wechselbeziehung  der  Rzl.  2  und  3  stammende  Suggestions- 
element mit  dem  ersten  gleichsinnig  übereinstimmt. 

Die  Genesis  eines  Leitgedankens  deckt  sich  scheinbar  nicht  mit  dem 
Schema  der  Analyse  des  Denkverfahrens,  wie  es  von  Dewey  0  und  Kerschen- 
steiner^)  verfochten  wird.  Ich  kann  und  will  an  dieser  Stelle  nicht  auf  das 
an  sich  anziehende  Seitenproblem  eingehen  und  begnüge  mich  mit  einem 
Fußnotenhinweis  auf  die  Literatvu*  hierüber. ^j  Ich  will  auch  nur  kurz  aus- 
führen, daß  auch  ein  Nichtübereinstimmen  der  Suggestionselemente,  falls 
in  den  weiteren  Regeln  wenigstens  das  Verhältnis  der  Suggestionselemente 
gewahrt  bliebe,  einen  —  allerdings  anderen  Leitgedanken  einführen  könnte. 
Das  wäre  z.  B.  der  Fall,  wenn  die  Längen  der  Regeln  kontinuierlich  zwischen 


')  Dew«y,  „How  we  think",  Heath.  Boston  (1910 1). 

*)  Kerschensteiner,  „Wesdn  und  Wert  des  naturkundlichen  Unterrichts"  (19131). 
^)    Über   Kerschensteiner   und    Dewey    referiert    vergleichend:    Prantl,    „Kerschensteiner    als 
Pädagog".     (Schöningh  1917,) 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs        253 

zwei  Größen  zickzackförmig  hin-  und  hersprängen.  Dann  entstünde  der 
auch  dem  Aufbau  nach  kompliziertere  Leitgedanke:  „Die  Linien  wechseln 
zwischen  zwei  bestimmten  Größen".  Bezeichnen  wir  die  Rzl.  mit  li,  h,  h, 
die  Suggestionselemente  si,  S2,  ss,  die  aus  dem  Verhältnis  (es  muß  nicht 
eben  ein  Quotient  sein)  aufeinanderfolgender  Suggestionseleraente  hervor- 
gehenden Suggestionselemente  zweiter  Ordnung  mit  oi,  02,  ca,  so  läßt  sich 
in  theoretisch  unendlicher  Folge  stets  aus  den  je  zwei  Elementen  der  voraus- 
gegangenen Ordnung  ein  neues  der  folgenden  bilden.  Es  leuchtet  aus  dem 
Schema  (Tafel  5)  unmittelbar  das  Bildungsgesetz  heraus.  Die 
Bedingung  der  Entstehung  des  Leitgedankens  erster  Ordnung  iafei  5. 

ist  si=S2,  der  der  zweiten  Ordnung  01  =  0-2,  der  der  dritten       ^^si 
ci=C2  usw.    Man  benötigt  zur  Erzeugung  des   ersten  min-      ,  >S2Cr*'^*>ci 
destens  drei  Rzl.,   des  zweiten  mindestens  vier,  des  dritten      ,  >S3^^     >« 
mindestens   fünf   usf.,    falls   nicht   neue    erschwerende   Be-      u-^^ 
dingungen  eingeschaltet    werden.     Das  gleiche  gilt  von  der 
Bekräftigung  des  entstandenen  Leitgedankens,  die  mit  der 
Anzahl    übereinstimmender    Suggestionselemente    gleicher    Ordnung    wächst. 

Die  theoretisch  abgeleitete  Wahrscheinlichkeit,  daß  zwischen  Rzl.  2  und  3 
bereits  der  Leitgedanke  (1.  Ordnung)  entsteht,  bestätigt  sich  durch  einen 
kleinen  Nebenversuch.  Wir  dürfen  nämlich  annehmen,  daß  der  Leitgedanke, 
kamn  geboren,  auch  schon  wirksam  wird,  indem  die  Kinder  im  Bewußtsein 
des  Linienzuwachses  die  Linien  besonders  lang  zeichnen,  dem  Experimentator 
gewissermaßen  beweisen  wollen,  daß  sie  den  Unterschied  wohl  gemerkt. 
Daß  dem  so  ist,  zeigt  sich,  wenn  man  die  Linie  von  36  mm  außerhalb  des 
Hauptversuches  für  sich  zeichnen  läßt  und  das  Mittel  aller  Reproduktionen 
berechnet.  Dieses  stand  in  meinem  Nebenversuch  auf  36,80  (Streuung 
56  -  28=)  28  mm,  also  unter  dem  Wert  41,9  mm,  die  innerhalb  des  Versuchs 
nach  Vorausgang  der  Rzl.  1  und  2  im  Mittel  gezeichnet  wurden.  Besäßen 
wir  einen  aus  großen  Massenversuchen  gewonnenen  numerischen  Wert  für 
die  Überschätzung  der  Linie  36  mm,  so  wäre  die  Differenz  41,9  und  jenem 
Mittel  ein  Maß  für  [die  suggerierende  Kraft  der  RzL,  in  schlechter 
Annäherung  aus  meinem  Versuch  berechnet,  beträgt  sie  (41,92  -  36,80  =) 
5,12  mm.  Diese  Kraft  von  über  fünf  Einheiten  muß  selbstredend  auch  im 
B. sehen  Originalversuch  gewirkt  haben,  sie  ist  aber  von  der  Gegenkraft  der 
„Suggestion  supplementaire"  der  Quadrierung  überwunden  worden,  so  daß 
das  obere  Ende  der  Ordinate  36  um  (36,8-31,1=)  5,8  mm  vom  Über- 
schätzungspunkt, um  (36,0  -  31,1  =)  4,9  mm  vom  Normalpunkt  und  um 
(41,9-31,1=)  10,8  mm  vom  Nachversuchpunkt  nach  unten  absteht.  Wir 
gewinnen  aus  der  Vergleichung  beider  Versuche  eine  Handhabe  zur 
rechnerischen  Bestimmung  jener  „Ergänzungssuggestion". 

Die  gleichen  Überlegungen  gelten  auch  für  die  beiden  nächsten  Spalten 
vier  und  fünf.  Unter  dem  Einfluß  des  wahren  d.  h.  gewollten  Leitgedanken», 
entfernt  sich  mein  Linienzug  immer  mehr  von  der  Normallinie  im  positiven 
Sinne,  während  der  B.sche  fortgesetzt  im  negativen  Sinne  von  ihr  wegstrebt. 
Wenn  der  -wieder  im  ■  Nebenversuch  gewonnene  Wert  64,00  (Streuung 
80-52  =  30  mm),  einigermaßen  brauchbar  sich  erwiese,  wäre  die  Gesamt- 
wirkung des  Leitgedankens  bisher  (72,9-64,0=)  8,9  mm,  die  Gesamtwirkung 
der  Suggestion  supplementaire  (72,9-50=)  22,9  mm,  also  über  2,5  mal  so> 
groß  und  negativ  gerichtet. 


264 


Rudolf  Prantl 


b)  Fallenbereich  (sechste  bis  zwölfte  Spalte). 

Die  Falle  gilt  nicht  nur  dann  als  vermieden,  wenn  die  Fallenlinie  genau 
so  lang  gezeichnet  wurde  als  die  ihr  vorangehende  Rzl.,  sondern  auch, 
wenn  sie  kürzer  als  jene  reproduziert  wurde;  denn  hierbei  wirkte  der  Leit- 
gedanke sicher  nicht,  beziehungsweise  wurde  er  durch  die  gespannte  Auf- 
merksamkeit und  eine  große  Genauigkeit  der  Abschätzung  übertönt. 

Die  erste  Falle  wurde  bei  B.  in  drei  Fällen  (6^/90'^),  bei  mir  iti  zwölf 
(240/0)  vermieden.  Woher  dieser  große  Unterschied?  Wir  hörten  bei  der 
Besprechung  des  Reizlinienbereichs,  daß  beim  B.schen  Versuch  fast  aus- 
schließlich die  Linienschnittpunkte  der  Rastrierung  markiert  wurden  rnd 
zwar  am  liebsten  jeweils  das  Ende  des  übernächsten  Quadrates.  Die  Punkte 
wurden  vorzugsweise  um  (2x4=)  8  mm  nach  rechts  weitergerückt.  Der 
allgemeine  Leitgedanke  des  Linienzuwachses  war  bei  vielen  zu  dem  speziellen 
„Die  Linien  werden  um  zwei  Häuschen  länger"  präzisiert.  Diese  konkrete 
und  daher  offenbar  um  so  wirksamere  idee  directrice  ließ  über  90  0/0  die 
Falle  übersehen  und  es  stimmt  der  Durchschnitt  von  7,5  mm  gut  hiermit 
überein.  Es  liegen  überhaupt  die  Mittel  fast  aller  Spalten  bei  B.  um  8  mm 
herum,  weil  in  allen  Spalten  mit  Ausnahme  der  ereten  und  letzten  das 
Dichtigkeitsmittel  auf  8  mm  fiel. 

Die  *rste  Falle  machte  eine  Reihe  der  Versuchspersonen  stutzig;  hatten 
die  Kinder  bisher  unter  dem  Eindruck  der  Leitidee  für  sich  darauf  losge- 
zeichnet und  übertrieben,  so  merkten  sie  (es  sind  bei  mir  fast  25  0/0)  infolge 
der  ersten  Falle  doch,  daß  die  Längen  nicht  mehr  stimmten.  Diese  Erkennt- 
nis wirkte  jedenfalls  sehr  ernüchternd,  so  daß  die  Meinung  sich  aufdrängte, 
sie  könnten  vielleicht  auch  früher  schon  über  irgendeine  Falle  oder  dergl. 
gestolpert  sein.  Das  sollte  nun  teilweise  durch  Korrekturen  (bis  zu  —  11  mm) 
wett  gemacht  werden.  Noch  mehr  tritt  dies  bei  der  zweiten  Falle  zutage 
(Korrekturen  bis  zu  —  22  mm),  was  ja  eigentlich  zu  erwarten  war,  da  doch 
die  einmal  Gewarnten  besser  aufpaßten  und  noch  andere  dazu  gewarnt 
wurden.  Nun  möchte  man  weiterhin  erwarten,  daß  aus  eben  diesem  Grunde 
die  Stürze  mit  jeder  Falle  noch  größer  würden.  Das  ist  aber,  wie  Tafel  6 
zeigt,  nicht  der  Fall.     Falle  III  und  IV  bringen  kaum  nennenswerte  Gefälle. 


Tafel  6. 

Falle  I 

II 

III 

IV 

B. 

1,7 

2,9 

1,8 

1,1 

P.       5,12       6,02       1,74      0,23 


Das  ist  bei  B.  darauf  zurückzuführen,  daß  die  Mittel  an  sich  schon  so 
niedrig  liegen,  daß  sie  kein  Fallen  mehr  vertragen,  wenn  die  Kinder  nicht 
blind  sind;  bei  mir  (P.)  darauf,  daß  die  durch  die  ersten  zwei  Fallen  stutzig 
gemachten  Kinder  (es  sind  schon  über  50 0/0)  nicht  nur  hinter  der  einzelnen 
Fallenhnie,  sondern  auch  jeder  ihnen  vorausgehenden  Rzl.  (das  Fallenbereich 
hat  vier  FallenMnien  und  drei  eingeschaltete  Rzl.)  Fallen  vermuteten  und 
deswegen  auch  diese  als  Fallen  behandelten !  Diese  merkwürdige  Erscheinung 
kommt  bei  B.  wohl  auch,  aber  nur  ein  einziges  Mal  vor.  In  meinem  Versuche 
wurde  24  mal  teils  0,  teils  ein  negativer  Wert  bei  der  Reproduktion  der  Rzl. 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetsehen  Linienfallenversuchs         255 


verzeichnet!  Trotz  der  durch  die  Fallen  eingeleiteten  Ernüchterung  gerieten 
aber  doch  manche  Schüler  im  Zeichnen  der  Punkte  sehr  hoch  und  wurden 
ihres  Irrtums  erst  bei  der  vorletzten  und  letzten  Linie  gewahr.  Daher  die 
gewaltigen  Korrektionssprünge  von  35  und  101  mm  (in  der  Tafel  3  mit 
*  versehen),  die  ich  bei  der  Berechnung  des  Mittels  nicht  berücksichtigen 
durfte,  ohne  die  Ergebnisse  im  Kerne  zu  fälschen,  da  doch  in  diesen  extremen 
Fällen  der  eine  große  negative  Wert  die  Summe  aller  übrigen  positiven 
größtenteils  entwertet  hätte;  das  Resultat  einer  Versuchsperson  darf  nicht 
das  von  49  aufheben!  Die  letzte  Reiz-  und  Fallenlinie  ist  deswegen  ein 
wunder  Punkt  in  der  B.schen  Versuchsform. 

Wie  die  letzte  Vertikah-eihe  der  Tafeln  2  und  3  angibt,  wurden  bei  B.  1  m 
ganzen  13  Fallen  vermieden,  von  einem  Kind  (13:45=)  0,29;  bei  mir  49, 
von  einem  Kind  (49  :  50=)  0,98,  also  rund  über  dreimal  so  viel.  Anders  aus- 
gedrückt: Die  Suggestion  supplementaire  des  Quadratpapiers  er- 
schwerte den  Versuch  psychologisch  auf  das  Dreifache. 

Verteilen  wir  die  auf  100  Kinder  berechneten  Fallen  Vermeidungszahlen 
auf  die  vier  Fallen,  so  begegnet  uns  das  schon  von  früher  her  bekannte 
Maximum    auf    der  zweiten    Falle.      Die  Tafel   7   lehrt    auch,    daß   die    Ra- 


Tafel  7. 

Falle  I 

II    !   III 

IV 

B.     4 

13i    1     81 

0 

•24 


32 


18 


24 


strierung  den  Sinn  des  Versuchs  gegen  das  Ende  hin  stark  verdunkelt.  Es 
ist  doch  logisch  und  psychologisch  ausgeschlossen,  daß,  wenn  die  ersten 
drei  Fallen  bemerkt  wurden,  die  vierte  vollständig  übersehen  wird!  Das 
Umgekehrte  wäre  zu  erwarten,  wie  es  auch  mein  Versuch  bestätigt.  Wir 
merken  für  später:  Falle  II  und  IV  sind  am  leichtesten  zu  vermeiden. 

Von  jedem  Kinde  konnten  0,  1,  2,  3  oder  4  Fallen  vermieden  werden. 
Ordnet  man  nach  diesem  Gesichtspunkt  die  wieder  auf  100  Kinder  berech- 
neten Häufigkeiten,   so   erhält  man  Tafel  8,   die   wieder   meine    Behauptung 

Tafel  8. 


Vermiedene  Fallen . 

0 

1 

1 

2 

.     3 

4 

(      R 
Häufigkeit  in 

'4 

•41 

0 

0 

"/o  bei         ^      p 

56 

14     1 

12 

10 

8 

bestätigt,  daß  durch  die  Papierquadrierung  des  B.schen  Versuches  dieser  sehr 
erschwert  wurde:  Kein  Kind  vermied  3  oder  alle  4  Fallen,  während  in 
meinem  Versuche  die  Gewichte  vom  zweiten  ab  eine  ruhig  abfallende 
arithmetische  Reihe  liefern.  Diese  erzählt  zudem,  daß  das  Vermeiden  von 
3  oder  4  Fallen  verhältnismäßig  nicht  mehr  besonders  schwieriger 
ist  als  das  von  2  Fallen,  nachdem  also  schon  durch  sie  das  Bewußt- 
sein der  Fallenexistenz  aufgetreten  ist,  welches  für  sich  selbst  wieder 
Suggestivkraft  besitzt  und  eine  Art  entgegengesetzt  gerichtete  ganz  natürliche 


256 


Rudolf  Prantl 


Polarisationssuggestion  vorstellt.  Es  ließe  sich  eine  Theorie  der  bei 
jedem  Suggestionsversuch  a  priori  zu  erwartenden  Gegensuggestionen  schreiben. 
—  Aus  der  in  Tafel  8  aufgeführten  Reihe  wäre  übrigens  unschwer  auch  eine 
Schwierigkeitskurve  zu  berechnen  und  zu  konstruieren  unter  der  Voraussetzung, 
daß  die  Vermeidungsschwierigkeit  der  Anzahl  der  jeweils  anfallenden  Treffer, 
ähnlich  wie  ich  bei  anderer  Gelegenheit  0  die  Schwierigkeiten  feststellte,  von 
einer  n  zifferigen  Ziffernreihe  1,  2,  3  usw.  Elemente  sofort  zu  reproduzieren. 
Man  gewinnt  am  besten  damit  eine  Übersicht  über  die  Ergebnisse  des 
Original-  und  Nachversuches,  daß  man  die  Gesamtlängen  (Summe  der  Mittel) 
der  Reproduktionen  zusammenstellt  und  damit  die  in  Fig.  3  begonnene 
Illustrierung  zu  Ende  führt. 

Tafel  9. 


Modellinie 

12 



24 

36 

48 

60 

= 

72 

— 

84 

— 

96 

= 

wurde  im     fg 
Durchschnitt  J 

13,6 

22,3 

31,1 

40,8 

50,0 

57,5 

65,5 

70,6 

78,4 

84,4 

91,5 

97,5 

reproduziert  jp 
bei          ^    ■ 

13,2 

25,98 

41,92 

58,5 

72,88 

81.74 

94,32 

100,88 

110,88 

llWM 

129,49 

137,98 

isoliert  bei     P. 

13,2 

36,8 

64,00 

69,9 

94,84 

Die  Staffeln  der  Fig.  4  zeigen  augenfällig  die  Wirkung  der  Fallen.  Die 
durch  die  Rzl.  erhaltene  positive  Richtung  wird  in  meinem  Linienzug  bei- 
behalten. Er  verläuft  vollständig 
über  der  Normaihnie;  selbst  wenn 
man  die  letzte  Ordinate  um  die 
Summe  der  4  Fallenmittel  (32,17) 
kürzt,  liegt  der  so  erhaltene  End- 
punkt A'  stark  über  der  Normal- 
linie. Der  B.sche  Linienzug  über- 
schreitet unter  dem  Einfluß  der 
Fallen  die  Normallinie  nach  lang- 
samem Annähern  knapp.  Nehmen 
wir  Ihm  aber  durch  Kürzung  der 
letzten  Ordinate  um  das  Mittel 
der  4  Fallen  (24,6)  die  Fallen- 
wirkung, so  entfernt  sich  C'B'  wie 
vorher  OC  weiterhin  negativ  von 
der  Normallinie.  CA'  bzw.  C'B' 
können  sehr  zwanglos  als  Extra- 
polationen von  OC  bzw.  OC  auf- 
gefaßt werden. 

Ich  ließ  auch,  wie  anfangs  be- 
merkt, Linien  von  72  und  96  mm 
außerhalb  des  Versuchs  zeichnen. 
Sie  wurden  im  Gegensatz  zu  den 
früheren  unterzeichnet  mit  69,90 
und    94,84  mm    (siehe   Tafel  9).. 


•)   Vergl,  meine  Abhandlung:    „Beeinflussung  der   Gedächtniespanne  durch   die   hypnotische 
Suggestion".     Journal  für  Psychologie  und  Neurologie,  24.  Bd.  S.  94. 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs        257 

Die  Gesamtwirkung  der  Rzl.  ist  graphisch  darstellbar  als  die  Strecke  zwischen 
A'  und  dem  (nicht  eingezeichneten)  Punkt  94,84  mm  der  letzten  Ordinate; 
sie  beträgt  also  (105,91  -  94,84=)  10,97  mm.  In  A'  hätte  der  B.sche  Linien- 
zug auch  ungefähr  enden  sollen,  wenn  nicht  die  Quadrierung  so  sehr  ge- 
hemmt hätte.  Wir  finden  wieder  einen  Wert  der  Kraft^irkung  der  Suggestion 
supplementaire ,  indem  wir  mit  obigem  Wert  10,97  in  die  Strecke 
A'B'  =  (105,81  —  72,6=)  33,21  hineindi\ddieren ,  die  Seite  10  angegebene 
Wirkung  von  2,5  mm   hat  sich  noch  bis  rund  3  mm  erhöht. 

B.  verkennt  den  wahren  Sachverhalt,  wenn  er  zusammenfassend  über  die 
Mittel  der  reproduzierten  Linienzuwachse  schreibt  (S.  95):  „Also  beobachten 
wir  im  ganzen,  daß  die  Schüler  die  aufeinanderfolgenden  Zuwachse  der  Modell- 
linien reproduziert  haben;  aber  sie  haben  sie  reproduziert,  indem  sie  sie 
verminderten,  und  diese  Verminderung  fiel  im  allgemeinen  um  so  stärker  aus, 
als  die  absolute  Länge  der  Linien  wuchs."  Er  bringt  dann  seine  schiefe 
Ansicht  noch  mit  dem  Weberschen  Gesetz  in  Zusammenhang,  wonach  Ver- 
änderungen um  so  weniger  vorgenommen  werden,  je  länger  die  Vergleichs- 
linien sind.  Das  psychophysische  Grundgesetz  tritt  wider  Erwarten  nicht 
zutage. 

c)  Suggestibüitätskoeffizienten. 
1.  Herleitungen. 

Der  B.sche  Linienf allen vereuch  gestattet  auf  verschiedene  Weise  für  jede 
Versuchsperson  einen  Suggestibilitätsgrad  zu  bestimmen.  Der  einfachste  Weg 
wäre,  vor  dem  eigentlichen  Versuch  die  Linie  von  60  mm  für  sich  zeichnen 
zu  lassen,  hierauf  die  5  ersten  bekannten  Rzl.  und  dann  unter  Verzicht 
auf  die  Fallen  mit  dem  Versuch  abzubrechen.  Es  ist  ja  anzunehmen,  daß 
die  unter  der  Wirkung  des  zwischen  Rzl.  2  und  3  geborenen  Leitgedankens 
die  Linie  von  60  mm  schon  weit  überzeichnet  wird,  in  viel  stärkerem  Maße, 
als  sie  bei  isolierter  Reproduktion  überschätzt  wird.  In  meinem  Versuche 
geschah  dies  (siehe  Tafel  9)  im  Durchschnitt  um  (72,88  —  64,00=)  12,88  mm. 
Die   Differenz   wäre   in   jedem  einzelnen  Falle  schon  ein   brauchbares  Maß. 

B.  machte  es  wohl  auch  so,  wie  ich  eben  beschrieb,  nahm  aber  die  erste 
FaUe  noch  mit.  Er  mußte  es  ja  auch,  da  die  5.  Reizlinie  (siehe  Tafel  9)  im 
ganzen  genommen  selbst  im  Versuch  noch  bedeutend  unterzeichnet  wurde 
(50  mm)  und  die  60  mm  erst  mit  der  ersten  Falle  (mit  64  mm)  überschritten 
wurden.  B.  gab  der  isoliert  gezeichneten  Linie  den  Wert  100  und  verglich 
hiermit  die  Länge,  welche  der  Schüler  der  Linie  gab,  nachdem  er  die  Rzl. 
1 — 5  gezeichnet  hatte  (par  entrainement  S.  96).  Die  Resultate  trug  er  unter 
dem  Titel  Coefficient  de  suggestibilite  pour  les  longeurs  de  lignes  in  Tafel  2 
ein.  Meine  ebenso  gefundenen  Resultate  stehen  in  Tafel  3  unter  „Linien- 
suggestibilitätskoeffizient".  —  Ein  Beispiel  zur  Erläuterung:  Schüler  Nr.  1, 
Franz,  gab  der  Linie  (60  mm)  isohert  die  Länge  61  mm  -=  i,  im  Versuch 
aber  die  Länge  v  =  (17  -|-  22  -+-  27  +  14  -H  15  +  13  =)  108  mm.  Der  Lsk. 
(=  Liniensuggestibilitätskoeffizient)  berechnet  sich  aus: 
61:100  =  108:x 
(i  :100=   V  :x) 

x-i5i_M(_ -1.100).  177 

Dl  1 

Zeilschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  17 


268  Rudolf  Pranti 

Anders  bestimmte  B.  (S.  101  ff.)  die  Suggestibilität  auf  Grund  der  Fallen- 
wirkung. Er  nahm  bei  jedem  Schüler  das  Mittel  der  vier  Fallenspalten 
(ecarts  suggeres)  und  verglich  es  mit  dem  Mittel  der  vier  ihnen  jeweils  vor- 
angehenden Reizspalten  (ecarts  pergus).  Diese  Mittel  werden  im  allgemeinen 
nicht  gleich  sein,  da  der  Charakter  der  sie  bestimmenden  Linien  (Reiz-  und 
Fallenlinien)  ein  sehr  verschiedener  ist.  Bei  korrekter  Reproduktion  ist  das 
Fallenspaltenmittel  0,  das  Reizspaltenm.ittel  gleich  12.  In  diesem  Falle  Hegt 
keine   Suggestionswirkung  vor,  die  betreffende  Versuchsperson  verdient  den 

Fsk.  (Fallensuggestibilitätskoeffizienten)  0,  der  als  Quotient  t^  erhalten  wird. 

B.  dividierte  also  das  Mittel  r  der  Fallenspalte  f  durch  das  Mittel  der  Reiz- 
spalten und   multiplizierte  (analog   der  Herleitung  des  Lsk.)  den  Quotienten 

f 
noch  mit  100.     Der  Ausdruck  für  Fsk.  = —  -100    ist    in  Tafel  2    als  Co- 

r 

effizient  de  suggestibilite  pour  les  ecaits  in  der  vorletzten  'Vertikalreihe 
eingetragen.  In  der  Ergebnistafel  3  meines  Nachversuches  ist  er  unter 
„Fallensuggestibilitätskoeffizient"  registriert.  Seine  Grenzen  liegen  bei  B. 
zwischen  7,6  und  132,  bei  mir  zwischen  —  36  und  145.  Daß  bei  mir 
auch  negative  Werte  vorkommen,  erklärt  sich  aus  dem  Umstände,  daß  die 
Fallen  vielfach  auch  negativ  eingetragen  wurden.  Damit  erleidet  aber 
der  Charakter  des  Fsk.  keine  Veränderung,  denn  wenn  eine  Versuchs- 
person die  Anwesenheit  einer  Falle  nicht  durch  Häufung  der  Punkte  an 
gleicher  Stelle,  sondern  sogar  durch  Zurückgehen  bekundet,  beweist  sie  in 
noch  stärkerem  Grade  die  Abwesenheit  einer  Suggestionswirkung;  sie  erweist 
sich  als  nicht  suggestibel  und  muß  also,  wenn  man  die  Versuchsperson  in 
eine  Rangordnung  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Suggestibilität  bringt,  an 
die  Spitze  treten.  Gleiche  Überlegungen  gelten  für  die  Fsk.  über  100,  die 
für  den  ersten  Augenblick  auch  befremden.  Zur  Klärung  der  Bestimmung 
des  Fsk.  noch  ein  Beispiel.     Schüler  Nr.  1,  Franz,  besitzt  das  Fallenspalten - 

1  r^Q  1 

mittel  f  -=   ~  (13+16-1-12  +  12)  =  ~,  das  Reizspaltenmittel  r  =  y  (8+8+ 

9  +  15)  =  -*^.      Fsk.  =    ^    •  100=    ^1':%     '  100  =  132,5. 

Man  hat  es  mit  Hilfe  des  Fsk.  oder  Lsk.  in  der  Hand,  nach  durchgeführter 
Ordnung  derVersuchspersonen  die  Gesamtheit  derselben  als  Kollektivgegenstand 
zu  behandeln  und  durch  Reihenvergleichung  Beziehungen  zwischen  ver- 
schiedenen Eigenschaften  im  allgemeinen  herzustellen  bzw.  zu  untersuchen. 
B.  hat  sich  leider  mit  der  Aufstellung  der  Koeffizienten  begnügt,  ohne  sogar 
auf  den  so  naheUegenden  Gedanken  einzugehen,  wenigstens  die  einerseits 
durch  die  Lsk.,  andererseits  durch  die  Fsk.  bildbaren  Reihen  einander  gegen- 
überzustellen. Ich  will  dies  nachholen  und  auch  der  Wechselbeziehung 
zwischen  den  Koeffizienten  und  der  Anzahl  der  von  jedem  Kinde  vermiedenen 
Fallen  nachgehen. 

2.  Beziehungen  zwischen  den  beiden  Koeffizienten. 
Zur  Vergleichung  der  gemäß  dem  Lsk  und  Fsk  gebildeten  Reihen  benutzte 
ich  nicht  die  Bravais-Pearsonsche  Formel  der  Produktenmomente,  da  hierzu 
die  Aufstellung  einer  Verteilungstafel  nötig  gewesen  wäre,  bei  deren  Her- 
stellung doch  eine  gewisse  Willkür  herrscht,  indem  man  sich  bisher  auf  keinen 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs        259 


bestimmten  Maßstab  bezüglich  der  Anzahl  von  Horizontal-  und  Vertikalreihen 
geeinigt  hat.  Darum  ist  bei  jeder  Angabe  des  auf  diese  Weise  berechneten 
Korrelationswertes  die  Mitaufführung  der  Verteilungstafel  zum  Zwecke  der 
Nachprüfung  wünschenswert,  was  viel  Raum  in  Anspruch  nimmt.  Ich  wählte 
also  die  angeblich  etwas  weniger  exakte  Form  von  Spearman  für  die  Rang- 
ordnungen, ordnete  also  die  Kinder  einmal  nach  der  Größe  der  Lsk,  das 
andere  Mal  nach  der  des  Fsk,  berechnete  das  Quadrat  des  Rangunterschiedes 
eines  jeden  Kindes,  um  die  Summe  aller  Quadrate  (^d^)  dann  in  die  Formel 

0=1  — "^ T    einzusetzen,   worin  o  die  Größe  der  Korrelation  und 

^  n  (n-  —  1) 

n   die  Anzahl   der  Kinder   (50)   bedeutet.     Bei  vollkommen   gleichgerichteter 

Korrelation   wird   p  =  1,    bei   vollkommen   umgekehrter   wird   q  =   —  1,    bei 

Abwesenheit  jeder  Korrelation  wird  p  =  0.    Eine  Nachkontrolle  ist  nach  den 

Angaben  der  Tafel  3  ohne  weiteres  möglich. 

Wie  man  bei  wissenschafthchen  Untersuchungen,  wenn  die  Logik  mit 
ihren  Analogieschlüssen  zu  ungestüm  dem  berechnenden  Versuch  voraneilt, 
oft  hinterher  stark  enttäuscht  wird,  so  erging  es  mir  hier.  Ich  erwartete 
eine  sehr  große  Übereinstimmung  der  Reihen  und  fand,  daß  soviel  wie  keine 
besteht.      p  =  0,21    verneint   fast    jede   Anwesenheit  einer   Korrelation,    der 

1  —  p2 
wahrscheinhche  Fehler  berechnete  sich  aus  wF  =  0,70643  — — :     zu 0,095, 

V  n 
ist  also  2,2  mal  so  klein  als  p,  was  zur  Not  genügt.  ^) 

Da  B.,  wie  gesagt,  eine  derartige  Vergleichung  unterließ,  berechnete  ich 
nach  den  Angaben  der  ungekürzten  Tafel  2  auf  gleiche  Weise  die  Korre- 
lation seiner  Reihen.  Sie  beträgt  p  =  0,22  (w.  F.  =  0,09)  und  stimmt  sehr 
gut  mit  meinem  Ergebnis  überein. 

Warum  nun  herrscht  zwischen  den  beiden  Reihen  des  Lsk.  und  Fsk.  so 
wenig  Einklang?  Ich  glaube  den  Schlüssel  zu  diesem  Rätsel  darin  zu  er- 
kennen, daß  wir  durch  den  Versuch  gar  nicht  die  Suggestibilität  prüfen, 
sondern  zwei  verschiedene  Seiten  derselben,  wenn  nicht  zwei  verschiedene 
Suggestibilitätsarten . 

Durch  die  ersten  5Rzl.  des  Versuches  wird  zweifellos  die  Suggestion  des 
Linienzuwachses  (der  Leitgedanke)  erweckt  und  die  Versuchsperson  verleitet, 
rein  mechanisch  den  Markierungspunkt  immer  weiter  nach  rechts  zu  setzen. 
Eine  automatisch  charakterisierte  Suggestion,  wie  wir  sie  hier  also  vor  uns 
haben,  wird  aber  auch  nur  auf  den  Automatismus  der  Suggestibilität 
vornehmlich  anzusprechen  imstande  sein,  mithin  diese  Seite  der  Suggestibilität 
dem  Studium  unterwerfen.  Das  würde  noch  reinlicher  geschehen,  wenn  man 
die  Anzahl  der  Rzl.  vermehrte  und  vom  System  der  Fallen  überhaupt  absehen 
würde.  Unter  diesen  Umständen  würde  aber  voraussichtlich  die  Suggestions- 
wirkung irgendwo  ihre  Grenzen,  zum  mindesten  aber  ihr  Maximum  haben. 
Trotzdem  schon  die  4.  Rzl.  ein  solches  liefert  (s.  S.  251)  und  der  extrapolierte 
Punkt  A'  (von  Fig.  4)  dagegen  spricht,  daß  ein  weiteres  Maximum  das  erste 
zu  einem  nur  relativen  stemple,  möchte  ich  die  MögUchkeit  hiervon  doch 
nicht  von  der  Hand  weisen,  da  mit  der  Länge  der  Rzl.  das  Schätzungsver- 
mögen abnimmt,  was  einem  stärkeren  Durchbrechen  des  Leitgedankens  sehr 
zu  Hilfe  käme.  Gewißheit  hierüber  könnte  nur  ein  eigener  Versuch  bringen. 

')  8,  Fröbes,  Lehrbuch  der  experimentellen  Psychologie,  1917,  Bd.  I  S.  493.  —  Nach  der  Fonnel 
der  Produktenmomente  berechnete  ich  i  zu  —  0,06  (bei  einem  w.  F.  von  0,095) ! 

17* 


360  Rudolf  Prantl 

Vom   Eintritt   der  Fallen   an  zerfällt   die   Schar  der  Versuchspersonen  in 
zwei  leicht  von  einander  trennbare  Gruppen.  Die  eine  fährt  fort,  rein  mechanisch 
Punkt  für  Punkt  weiter  rechts  zu  setzen  (vgl.  Nr.  3  in  Tafel  3);  sie  zeichnet 
sich  durch  eine  starke,  automatisch  charakterisierte  SuggestibiUtät  aus.     Die 
zweite  Gruppe  merkt  aber  bald  die  Fallenexistenz,  womit  in  ihnen  ein  neuer 
Leitgedanke   auftaucht:  „Vorsicht,   die  Linien  werden  nicht  immer  größer!", 
unter  dessen  Herrschaft  sich  meist  im  Unterbewußtsein  des  Kindes  ein  bitterer 
Kampf  mit  dem  ersten  Leitgedanken  abspielt.     Im  Verlaufe  desselben  heben 
sich  die  Wirkungen  beider  Suggestionen   einander  ganz   oder   zum   großen 
Teil  auf.     Während  der  ersten  Gruppe  hohe  Suggestibilitätskoeffizienten  zu- 
kommen, fallen  für  die  zweite  nur  kleinere  an  und  doch  kann  man  ihr  keine 
geringere  Suggestibilität   zuschreiben.     Sie  zeigt  vielmehr  die  Fähigkeit,  auf 
mehrere  Leitgedanken  gleichzeitig  anzusprechen,  sie  ist  distributiv  charakte- 
risiert.    Im   Extrem  wird  schließlich  der  erste  Leitgedanke  vergessen  oder 
vernichtet,  der  zweite  dominiert.     Dann  fallen  die  negativen  Fsk  an.    Wenn 
die  äußeren  Bedingungen  nicht  so  ungünstig  lägen,   könnte  sich  bei  diesem 
Extreme  auch  wieder  ein  gewisser  Automatismus  (nämlich   der  des  zweiten 
Leitgedankens)   durchringen,   wie   z.  B.  bei  Nr.  31  (Elisabeth),   wo   trotz  des 
viermaligen  Linienanwachsens  4  mal  negative  Werte  gezeichnet  wurden.    — 
Suggestibilität  kommt  mithin   jeder  Gruppe  zu,   jener  vornehmlich  die  auto- 
matisch, dieser  hauptsächlich  die  distributiv  charakterisierte,  welch  letztere  im 
Extrem   eine   nervöse   Gleitfähigkeit  von   einer  Suggestion   zur   anderen   mit 
totalem  Vergessen   der  ersten  besitzt,   ein  Umstand,   der  ein  psychologisches 
Streiflicht  auf  die  Gedächtnisschwäche  und  damit  auch  auf  das  Gedächtnis 
der  Suggestibilität  wirft.    Eine  Asuggestibilität  ist  nirgends  zu  bemerken, 
höchstens  eine  Antisuggestibihtät,  die  ihrem  Wesen  nach  mehr  eine  negative 
Suggestibilität  ist,   die   hinter  jeder  Versuchsanordnung  eine  Beeinflussungs- 
maßnahme argwöhnt  und   in   dieser  negativen  Autosuggestibilität  dem  Auf- 
treten eines  Leitgedankens   große  Schwierigkeiten  entgegenstellt.     Diese  Art 
von  Schülern  bereitet  dem  Erzieher  viel  Arbeit  und  Sorgen.    Sie  sind  ebenso 
leicht  zu  verziehen  als  zu  erziehen,   da  sie  distributiv  sowohl  auf  pädago- 
gische Einwirkungen   als   auch  ebensogut  auf  Gegenbeeinflussungen,   woran 
es  im  praktischen  Leben   nie  fehlt,   hören.     Sie  sind  oft  nur  auf  Umwegen 
durch  ein  indirektes  Verfahren,   mehr  durch  negative  als  positive  Erziehung 
zu  erobern.  —  Man  sieht,  daß  unter  Umständen  aus  scheinbar  nichtssagenden 
Reihenvergleichungen  heraus  uns  auch  Winke  von  großem  praktischen  Werte 
zuteil  werden  können.    Vielleicht  kommt  die  experimentelle  Pädagogik  noch 
in   die   Lage,    aus    einfachen  Suggestionsversuchen   heraus    mit   genügender 
Sicherheit  Schlüsse  für  die  Beurteilung  der  Behandlung  der  Kindercharaktere 
zu   ziehen,   wodurch    dem  Erzieher  manche  Mißerfolge  und  Enttäuschungen 
erspart  bheben. 

Der  zweite  Teil  des  B. sehen  Versuches  dient  also  vornehmlich  zur  Unter- 
suchung der  distributiv  charakterisierten  Suggestibihtät  und  täte  dies  reinlich 
bei  geeignetem  Ausbau  desselben.  Vorerst  müßte  zu  diesem  Ende  das  Reiz- 
Hnienbereich  fallen,  damit  nicht  der  Leitgedanke  des  ersten  Teils  in  den 
zweiten  hineinverschleppt  würde.  Der  Ausbau  selbst  läge  analog  dem  des 
ersten  Teiles  (s.  o. !)  in  einer  Vennehrung  der  Fallenanzahl.  Hierbei  würden 
sich  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  mit  zunehmender  Fallenzahl  die  in  meinem 
Nachversuch  beobachteten  Korrektionssprünge  bei  jeder  Versuchsperson  nach 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs        261 

und  nach  mit  einer  mehr  oder  weniger  großen  Deutlichkeit  zeigen.  Die  Stelle 
des  Korrektioneintrittes  wäre  ein  Maß  für  die  Spanne  der  distributiv 
charakterisierten  Suggestibilität.  — Das  wäre  ein  quantitativer  Ausbau. 
Der  qualitative  hielte  sich  an  die  Ordnung  des  Leitgedankens,  Im  vorliegen- 
den Falle  finden  wir  (vom  Reizlinienbereich  abgesehen)  zwei  Leitgedanken 
erster  Ordnung:  1.  „Die  Linien  werden  größer"  (die  den  Fallenlinien  vorge- 
lagerten Rzl.j  und  2.  „Die  Linien  bleiben  gleich"  (die  Fallenlinien),  die  ver- 
einigt den  Leitgedanken  zweiter  Ordnung  liefern:  „Die  Linien  sind  abwechselnd 
größer,  gleich".  Theoretisch  können  wir  neue  Leitgedanken  beliebig  hoher 
Ordnung  einführen,  praktisch  stoßen  wir  schon  bei  solchen  dritter  Ordnung 
voraussichthch  auf  größte  Schwierigkeiten.  Es  ist  nämlich  sehr  fraglich,  ob 
ein  solcher  überhaupt  noch  erkannt  wird  („Die  Linien  sind  abwechselnd 
größer,  kleiner,  gleich")  und  ob,  falls  er  es  wird,  er  nicht  sehr  schnell  wieder 
sich  selbst  zersetzt. 

Kehren  wir  nun  zur  Besprechung  der  beiden  SuggestibiUtätskoeffizienten 
zurück.  Der  Lsk.  ist  aus  dem  Reizhnienbereich  berechnet,  aber  mit  Benut- 
zung der  ersten  Falle,  der  Fsk.  nur  mit  Benutzung  des  Fallenbereichs,  aber 
nach  Vorausgehen  des  zweifellos  nachwirkenden  Reizlinienbereichs.  Mithin 
—  und  nun  komme  ich  zu  einem  Abschluß  in  der  Charakterisierung 
des  Binet'schen  Versuches  —  haben  sich  beide  Koeffizienten  einander 
infiziert,  der  erste  gibt  kein  reines  Maß  mehr  für  den  Automatismus, 
der  zweite  kein  reines  mehr  für  die  Distribution  der  Suggestibi- 
lität. Hingegen  ist  er  geeignet,  das  Wechselverhältnis  von  Auto- 
matismus und  Distribution,  ihre  gegenseitige  Beeinflussung  zu 
studieren. 

Hat  sich  bei  Reihenvergleichungen  eine  starke  KoiTelation  im  Gleich-  oder 
Gegensinn  ergeben,  so  bedarf  der  Fall  eigentlich  keiner  besonderen  Diskus- 
sion mehr.  Man  ist  nach  der  Berechnung  des  Korrelationsmaßes  —  von 
weiteren  pädagogischen  oder  psychologischen  Anwendungen  abgesehen  — 
mit  dem  Problem  zu  Ende.  Nicht  so,  wenn  eine  Korrelation  anscheinend 
fehlt;  denn  dann  ist  zu  erörtern,  ob  die  Abwesenheit  jeder  Beziehung  nicht 
auf  gegenseitigen  Aufhebungen  innerer  Faktoren  beruhe,  ob  nicht  hinter  dem 
geduldigen,  neutralen  Endwert  das  Kampfergebnis  positiver  und  negativer 
Mächte  steckt.  Man  hat  womöglich  —  immer  wird  es  ja  nicht  möglich 
sein  —  zu  beantworten,  warum  eine  Korrelation  fehlt,  ob  nicht  Parameter 
auszuschheßen  wären,  um  die  Akorrelation  in  eine  wertige  Korrelation 
überzuführen. 

Ich  packte  nun  das  Problem  so  an:  Ich  sah  bei  den  beiden  nebeneinander 
geschriebenen  Rangordnungen  beider  Reihen  (des  Lsk.  und  Fsk.)  nach,  ob 
wirklich  gar  keine  Ähnlichkeiten  vorlägen;  ich  suchte  nach  Optimen  von 
Ähnlichkeiten,  die  daran  sofort  erkannt  werden,  daß  die  Differenz  der  Rang- 
plätze (oder  das  Quadrat  davon,  das  zur  Berechnung  des  Korrelationsmaßes 
dient  und  neben  den  Rangplätzen  steht)  sehr  klein  ist.  Ich  nahm  also  die 
14  kleinsten  Differenzen  heraus.  Es  sind  die  in  Tafel  10  angegebenen 
Nummern  der  Haupttafel  3.  Ein  kurzer  Bhck  über  die  Plätze  der  Rang- 
ordnungen läßt  uns  mit  einem  Schlag  erkennen,  daß  fast  alle  aufgeführten 
Ränge  sonderbarerweise"  der  höheren  Hälfte  beider  Reihen  angehören. 
Das  heißt  ins  Psychologische  übersetzt:  Diejenigen  Schüler,  die  beim  „Fallen- 
versuch" zu    so    hohen    Rangplätzen    kommen,    stiegen    aus    dem    gleichen 


262 


Rudolf  Plaut 


Tafel  10. 


Nr. 

Rangplatz 

der 

nach  dem 

Tafel  3 

Lsk. 

Fsk. 

! 

1   j 

45 

49 

7   ! 

44 

50 

8 

21 

36 

13   i 

48 

37 

18   j 

19 

26 

20* 

28 

35 

27 

39 

41 

28 

37 

34 

29 

47 

39 

36 

33 

31 

40 

29 

33 

42 

46 

40 

44 

42 

38 

49 

25 

22I- 

Grunde   auch  beim  „Reizlinienversuch"  so  hoch.     Nachdem  aber  der  Grund 

bei  letzteren  der  Automatismus  ist,  ist  er  es  auch  für  erstere.     Daraus  folgt 

eine  nicht  geahnte,  bisher  versteckt  gewesene  Übereinstimmung  der  Reihen 

und  der  Satz:    „Die  automatisch   charakterisierte  Sug- 

gestibilität  zeichnet  sich  im  allgemeinen  durch  einen 

besonders  hohen  Suggestibilitätskoeffizienlen  aus." 

Nun  probierte  ich  das  Gegenstück,  nahm  wieder  die 
Liste  mit  den  Rangreihen  und  fahndete  nach  den 
Rangpaaren  mit  den  größten  Differenzen.  Die  sieben 
größten  sind  in  der  Tafel  11  aufgeführt.  Eine  neue 
Überraschung:  Von  den  7  Fällen  gehören  6  (Nr.  5 
also  ausgeschlossen)  nach  den  Rangplätzen  des  Lsk. 
in  die  niedere  Hälfte,  nach  denen  des  Fsk.  in  die 
höhere  Hälfte.  NatürUch  müssen  bei  den  größten 
Differenzen  von  vornherein  die  Rangplätze  auf  ver- 
schiedenen Hälften  der  Rangordnungen  liegen,  aber 
sie  könnten  doch  auch  umgekehrt  anfallen  wie  in 
unserem  Beispiel.  Darnach  haben  auf  die  höhere 
Hälfte  der  Rangordnung  des  Fallenversuchs  sowohl 
die  Schüler  Anwartschaft  und  Aussicht,  die  im  Reiz- 
linienversuch einen  sehr  großen,  als  auch  die,  welche 
dort  einen  sehr  niedrigen  Koeffizienten  besitzen,  also 
alle  mit  einer  sehr  großen  und  sehr  kleinen  automatisch 
i  I  charakterisierten  Suggestibilität.      Erstere  werden  vom 

(ersten)  Leitgedanken  lebhaft  gepackt,  schießen  stark 
voran  und  halten  ihren  Platz  mit  bedeutender  Zähigkeit.  „Der  Automatismus 
verrät  starke  Standhaftigkeit  oder  Stabilität."  Je  stärker  diese  Schüler  von 
der  ersten  idee  direcMce  erfaßt  w^erden,  desto  weniger 
sind  sie  geneigt,  eine  Gegenidee  zu  übernehmen. 
Letztere  hingegen  sprechen  sehr  langsam  auf  den  ersten 
Leitgedanken  an  und  geben  ihm  sehr  gemessen  Spiel- 
raum; aber  gerade  deswegen  sprechen  sie  auf  den 
zweiten  ebenso  langsam  an,  so  daß  er  während  des 
kurzen  Versuches  keinen  festen  Fuß  fassen  konnte. 
Wir  dürfen  nicht  sagen,  daß  diese  Schüler  weniger 
suggestibel  seien,  als  die  anderen,  sondern  müssen  uns 
anders  ausdrücken:  sie  sind  langsamer  suggestibel,  sie 
besitzen  die  Fähigkeit,  auf  verschiedene  Leitgedanken 
gleichzeitig  einzugehen,  in  geringem  Grade,  ihre  Sug- 
gestibilität ist  wenig  distributiv  charakterisiert. 

Endlich  entdeckte  ich  auf  dem  Wege  des  Vergleichs 
noch  ein  weiteres  Moment,  indem  ich  nachsah,  in 
welcher    Gegend     der    Rangordnung    des    Reizhnien- 

versuches  die  Varianten  des  Fallenversuches  mit  dem  Suggestibilitätskoeffi- 
zienten  0  lägen.  Da  stellte  sich  heraus,  daß  alle  mit  dem  Fsk.  0  be- 
hafteten Schüler  beim  Reizlinienversuch  um  die  Mitte  (16—26)  der  Rangreihe 
herum  stehen.  Dadurch  wird  aber  nur  bestätigt  und  bekräftigt,  was  wir 
schon  hörten:  Die  beim  Fallen  versuch  als  nichtsuggestibel  erklärten  Kinder 
(diese  Bedeutung  soll  doch  nach  Binet  der  Fsk.  =  0  haben)  sind  wohl  sug- 


Nr. 

der 

Tafel  3 


Tafel  11. 

Rangplatz 
nach  dem 
Lsk.  i  Fsk. 


3 

5 

9 

14 

17 
21 
23 


13 

38 

12 

1 

17 

8J 
15' 


42 

2 

45 
44 
43 

48 
46 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs        263 


gestibel  und  zwar  mit  mittelmäßig  automatischer  Charakterisierung,  nur  haben 
sie  infolge  der  Distribution  der  Suggestibilität  dem  zweiten  Leitgedanken 
ebenso  Folge  geleistet  wie  dem  ersten,  so  daß  der  zweite  den  ersten  gewis- 
sermaßen in  der  Wirkung  aufhob.    Wir  leiten  den  Satz  ab : 

„Die  Wirkungen  der  automatisch  und  der  distributiv  charakterisierten  Sug- 
gestionen stehen  zueinander  im  umgekehrten  Verhältnis  und  heben  einan- 
der bei  gleichen  mittleren  Werten  auf." 

Die  Gegensätzhchkeit  von  Automatismus  und  Distribution  kommt  auch  in 
den  beiden  Suggestibilitätskoeffizienten  zum  Ausdruck.  Während  der  Lsk. 
mit  dem  Automatismus  im  gleichen  Sinn  zu-  oder  abnimmt,  ist  es  mit  dem 
Fsk.  gerade  umgekehrt:  Je  größer  er  wird,  desto  weniger  wurden  doch  die 
Fallen  erkannt  und  beachtet,  destoweniger  distributiv  suggestibel  erschien 
dann  die  Vp.  Daran  müssen  wir  denken,  wenn  wir  Tafel  12  beurteilen,  die 
obige  Ergebnisse  in  etwas  geänderter  Form  zusammengreift: 

Tafel  12. 


Lsk.    i   Fsk. 


Ableitungen 


klein      groß 
mittel  1       0 
groß       groß 


Die  langsam  ansprechende  Suggestibilität  besitzt  geringe  Dis- 
tribution 

Mittelstarker  Automatismus  besitzt  sehr  große  Distribution  und 
sehr  kleine  Stabilität 

Sehr  starker  Automatismus  besitzt  sehr  kleine  Distribution  und 
.   sehr  große  Stabilität 


Nun  ist  es  uns  auch  klar  geworden,  daß  hinter  der  anscheinend  nichts- 
sagenden Gleichgültigkeit  der  verglichenen  Reihen  zueinander  nm*  die  Ruhe 
nach  dem  Sturm  steckt,  daß  die  Reihen  in  der  Tat  sowohl  gleichgerichtete, 
als  auch  umgekehrte  Korrelation  bergen,  aus  deren  Wechsel-  und  Gegenspiel 
eine  scheinbare  Akorrelation  geboren  wird. 

3.     Suggestibilitätskoeffizienten    und 
Anzahl    der  vermiedenen   Fallen. 

Es  ist  zu  erwarten,  daß  der  Fsk.  zu  der  Anzahl  der  vermiedenen  Fallen 
in  einem  starken  Abhängigkeitsverhältnis  steht.    Bei  richtiger  Beachtung  aller 

4  Fallen   muß  der  Koeffizient  gleich  0  werden  (x  =  -  =  — =  0).  Dertlieo- 

retische  Wert    des  Fsk.  für  0  vermiedene  Fallen  liegt  auf  100.  Theoretische 
Erwartungen  und  experimentelle  Ergebnisse  zeigt  Tafel  13,     Die  Annäherung 


Tafel  13. 

Vermiedene  Fallen  .         j       0          1 

1 

2 

'     1 

4 

nach  Berechnung 
Fsk. 

100    1     75 

1 

50 

25     ' 

0 

im  Versuch 


128         65     '     21     1     1-2 


ist  schlecht,  weil  für  die  Berechnung  der  Mittel  bei  1,  2,  3,  4  Vermeidungen 
nur  je  6,  6,  5,  4  Varianten  vorliegen.     Außerdem    drücken  negative  Fsk.  das 


264 


Rudolf  Prantl 


vor-  und  vorvorletzte  Mittel  (12,  21)  stark  herab.  Aber  bei  alledem  ist  die 
Richtung  einwandfrei  und  klar:  Je  mehr  Fallen  vermieden  werden, 
desto   kleiner  wird   der  Fsk. 

Ordnet    man    den  Vermeidungszahlen  0  bis  4  anstatt    der  Mittel  der  Fsk. 
nunmehr  die  Mittel  der  Lsk.  zu,  so  beobachtet  man  (Tafel  14)  ebenfalls  ein 

Tafel  14. 


Vermiedene  Fallen 
Lsk 


134   I    123       115       115 


112 


Fallen  der  Werte,  anfangs  im  stärkeren,  später  im  schwächerem  Maße.  Wir 
dringen  immer  mehr  in  das  Wesen  und  die  Psychologie  des  Gesamtversuches 
ein.  Schon  sind  wir  in  der  Lage,  zahlenmäßig  (wenn  auch  ;in  schlechter 
Annäherung)  zu  verfolgen,  wie  die  automatisch  charakterisierte  Suggestion 
(1.  Leitgedanke)  durch  das  vierstellige  Fallensystem  an  Stärke  verliert.  Es 
wäre  nun  interessant  zu  erfahren,  wieviel  von  der  beim  Einsatz  der  ersten 
Falle  vorhandenen  automatisch  charakterisierten  Suggestionskraft  verloren 
geht.    Die  Frage  kann  beantwortet  werden. 

Alle  Lsk.  liegen  zwischen  den  Grenzen  87  und  249  (s.  Tafel  3).  Um  Prozent- 
vergleichungen   zu    ermöglichen,  wollen  wir  die  Koeffizienten  zwischen  die 
Grenzen  0  bis  100  spannen.     Entspricht    eine    zwischen    87  und   249  ange- 
nommene   Zahl    a    einem    zwischen  0  und  100  ruhenden  Wert  x  eindeutig, 
dann  gilt  doch,  daß  die  Abstände  von  a  zu  den  Grenzen  87  und  249  sich 
genau    so  verhalten,  wie    die  Abstände  von  x  zu   den  Grenzen  0  und  100; 
also    (a  —  87)  :'  (249  —  a)  =  (x  —  0)  :  (100  —  x);  daraus 
_    (a  —  87)  •  100  . 
""  162 

Mit  Benützung  dieser  Formel  wird  a  =  87  zu  x  =  0;   a -=  249  zu  x  =  100; 
a  — 134;  123;  115;  112   zu   x=-29;  22;  17;  15.     Damit  geht  Tafel  14   über 

in  Tafel  14  a,  woraus  klar  ersichtlich,  daß  ungefähr  die  Hälfte  ^^^j    der   zu 

Tafel  Ua. 


1             i 
Vermiedene  Fallen    j      0      1      1 

2 

3 

4 

i     29     '     22 

17 

17 

15 

Beginn  des  Fallensystems  wirksamen  Suggestionskraft  automatischen  Charakters 
durch  die  Suggestionskraft  des  2.  Leitgedankens  überwunden  wurde. 

Zwängen  wir  die  Fsk.  ebenfalls  in  den  Zahlenraum  0  bis  100  (Grenzen 
—  36;  145;  Formel  x  =  -ip  •  100),  so  sind  die  Prozentzahlen  unmittel- 
bar mit  denen  der  anderen  Art  vergleichbar  (Tafel  15). 

Tafel  15. 


Vermiedene  Fallen 


0 


1 


Mittel  der  in  «/o 


Fsk. 


umgerechneten   |  -r   , 


91 


29 


56 


22 


31 


17 


26 


17 


15 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs        265 


Ich  führte  nun  den  gleichen  Gedankengang  anstatt  mit  den  Maßzahlen 
der  Fsk.  und  Lsk.  mit  den  durch  sie  bestimmten  Rangplätzen  durch,  wobei 
außer  dem  Multiphzieren  mit  2  (die  50  Schüler  ■'Äiu'den  zu  100  angenommen) 
kein  Umrechnen  nötig  war.  Es  ergab  sich,  daß  diejenigen  Schüler,  welche 
0  Fallen  vermieden  hatten,  im  Mittel  beim  Fallenversuch  den  34,5  ten  Rang- 
platz unter  50  Kindern,  also  den  69.  unter  100  einnehmen,  beim  Reizhnien- 
versuch  den  54.  unter  100  usw.  (Tafel  16). 

Tafel  16. 


Vermiedene  Fallen 


Mittel  der    f  FaUenversuch  .     .    j     69     j     47     i     20 

Rangplätze  \  — '■ 1 

beim         l  Reizlinienversuch         54     ^     38     '     43 


19 


47 


11 


41 


Ich  empfehle  dem  Leser,  sich  die  Werte  dieser  und  der  letzten  Tafel  gra- 
phisch auf  mm-Papier  aufzutragen.  Die  Figuren  zeigen  den  Grad  von  Ähn- 
Uchkeit,  den  man  bei  Benützung  verschiedener,  aber  doch  nicht  zusammen- 
hangloser Methoden  erwarten  darf.  Gleicht  man  nun  beide  Tafeln  unter- 
einander aus,  um  die  Härten  beider  zu  mildern,  so  gehen  die  Werte  in  fol- 
gende über,  bei  denen  wir  es  belassen  wollen  (Tafel  17^. 

Tafel  17. 


Vermiedene  Fallen 


!      0 


Fallenversuch 


Ausgeglichene  Mittel 

der  Rangplätze  beim    1    Reizlinienversuch    . 


80 


52 


26 


42 


30 


30 


23 


32 


28 


Meine  Behauptung  geht  jetzt  dahin,  daß  diese  ausgeghchene  Tafel  für  die 
im  vorigen  Kapitel  abgeleiteten  Sätze  starke  Beweiskraft  besitzt.  In  der  nach 
dieser  Tafel  gezeichneten  Figur  5   zeigen  beide  Linien- 
züge  über    0    (0    vermiedene    Fallen)    ihren    höchsten 
Punkt.    Der  automatisch  charakterisierten  SuggestiUbität 
kommen  in  beiden  Versuchen  besonders  hohe  Koeffi- 
zienten zu.     Trotzdem  hegt  der  Höchstw^ert  der  strich- 
punktierten   Kur\^e     (ReizHnienversuch)    nur    auf    dem 
Mittelwert  42,   da  zum  Höchstwert  des  Fallenversuches 
auch  kleine  Werte  des  Rzl.-Versuches  gehören  (s.  Tafel  12). 
—  Obwohl  mit  dem   fortschreitenden  Grad  der  Fallen- 
vermeidungen der  Automatismus  der  Suggestihbität  ge- 
drückt  wird,   hat  der   strichpunktierte  Linienzug    (der 
nicht  etwa  den  bloßen  Automatismus,  sondern  die  durch 
den    Fallenversuch    erfolgte    Niederdrückung    und    die 
hierdurch    erzwungene   Lagerung    illustriert,)     das   Be-      . 
streben,   gegen   diese  Vergewaltigung  sich   zu  wehren.     °       '       *      3      « 
Daher  der  Wendepunkt  mn  2  herum.    Der  Automatismus  bzw.  die  durch  den 

1.  Leitgedanken   eingeführte  Suggestion   krümmt   sich  unter  dem  Druck  des 

2.  Leitgedankens.  Automatismus  und  Distribution  der  Suggestibilität  sind  feind- 


266  Rudolf  Prantl 

liehe  Geschwister.  Der  Schnittpunkt  um  2  (Mittel  zwischen  0  und  4) 
deutet  endhch  an,  daß  die  Wirkungen  der  automatisch  und  distributiv 
charakterisierten  Suggestionen  in  gleichen  mittleren  Werten  sich  gegen- 
seitig aufheben. 

d)   Richtung  und  Schnelligkeit  der  Suggestionswellen. 
Das   Problem   der  vor-  und    rückläufigen   Bewegung. 

Man  kann  insofern  von  einer  Richtung  und  Schnelligkeit  von  Suggestions- 
wellen sprechen,  als  das  Mittel  der  Rangplätze  mit  der  Fortdauer  der  Sug- 
gestionswirkung nach  oben  oder  unten  oder  gar  nicht  sich  bewegt.  Beide 
(von  Binet  freilich  nicht  unterschiedenen)  Leitgedanken  treten  wellenartig 
auf;  jede  Rzl.  bzw.  jede  Falle,  also  jedes  Suggestionselement  mag  als  Wellen- 
stoß angesehen  werden,  der  den  Durchschnittswert  der  Varianten  vorwärts 
oder  rückwärts  drängt*  Wir  haben  es  mit  Hilfe  eines  Parameters  (Anzahl 
der  vermiedenen  Fallen)  zuwege  gebracht,  die  Wirkung  des  Rzl.-Leitgedan- 
kens  vom  Eintritt  des  Fallenbereichs  an  funktionsartig  an  die  Wirkung  des 
Fallengedankens  zu  binden,  wir  haben  5  bestimmte  Rangplätze  des  ?sk.  5 
ganz  bestimmten  Rangplätzen  des  Lsk.  zugeordnet,  wie  Tafel  17  zeigt:  Waren 
Schüler  im  Fallenversuch  auf  den  Rangplätzen  6,  23,  26,  52,  80  angekom- 
men, so  standen  sie  (im  Mittel)  unter  dem  Einfluß^  der  Rzl.  auf  der  28.,  22., 
30.,  42.  Stelle  im  Rzl.-Versuch.  Wir  besitzen  5  Wertepaare  (6—28;  23—32; 
26 — 30;  52 — 30;  80 — 42)  einer  zwangsläufigen  Bewegung  zweier  Reihen, 
wovon  die  eine  von  Rangplatz  6  bis  80  einsinnig  eilt,  die  andere  von  28 
bis  42  vorwärts,  rückwärts,  gleich,  vorwärts. 

Wir  fragen  uns  nun,  ob  es  nicht  möglich  sei,  die  Zwangsläufigkeit  zu 
brechen  bzw.  die  Bewegungsrichtung  der  zwangsmäßig  so  unregelmäßig 
laufenden  zweiten  Reihe  in  reiner  Unabhängigkeit  zu  zeigen,  ohne  natürlich 
den  Zusammenhang  zwischen  den  Bewegungen  der  Reihen  zu  verlieren;  ob 
es  weiterhin  dann  nicht  möglich  sei,  auf  die  relative  Schnelligkeit  des  Koef- 

fizientenanwaches  beider  Reihen  zu  schließen, 
also  festzustellen,  ob  in  gewissen  Punkten  die 
erste  oder  zweite  Reihe  schneller  voranstrebte. 
Um  diese  Frage  zu  lösen,  sei  eine  knappe 
geometrische  Überlegung  eingeschaltet.  Eine 
1.  Person  gehe  auf  der  Geraden  I  in  einer 
bestimmten  Zeit  von  A  nach  B,  zugleich  gehe 
eine  2.  Person  auf  der  zu  I  parallelen  Geraden  II 
von  Ai  nach  Bi  (also  in  entgegengesetzter 
'^  Richtung  wie  die  I.Person).   Mitten  zwischen 

den  parallelen  Wegen  Tund  II  sei  eine  zu  beiden  parallele  Glaswand  III 
eingesetzt.  Darauf  oder  darin  wird  die  2.  Person  von  der  1.  vor  dem 
Gehen  im  Bildpunkte  A2  (=  Schnittpunkt  des  Sehstrahls  A  Ai  mit  III), 
nach  dem  Gehen  im  Bildpunkt  B2  gesehen.  Während  nun  die  2.  Person  im 
Gegensinn  zur  ersten  ging,  wanderte  doch  der  Bildpunkt  mit  der  ersten 
in  gleicher  Richtung.  In  dem  in  Figiu-  6  gezeichneten  Beispiel  entspricht 
die  Rückläufigkeit  der  2.  Person  einer  Vorläufigkeit  ihrer  Bild- 
punkte auf  III.  Um  die  funktionelle  Abhängigkeit  von  A  B  =  a,  A2  B2  =  d, 
Bi  Ai  =  X   in   einer  Formel    zu  bekommen,  ziehen  wir  Ci  A2  C    |1   Bi  B2  B. 


B'i           Ci 

B 

^ — 

-* ^Ai 

\ 
\ 

^ 

y 

\ 

\  -. 

V 

d      1 

y 

^ 

\ 
\ 

AS. 

c 

y 

3 

Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binefcschen  Linienfallenversuchs        267 


Dann  ist  _1  Ci  A2  Ai  ^  ^  C  A2  A.  Also  Ai  Ci  =  A  C,  oder  x  -|-  d  =  a  — d, 
oder  X  =  a  —  2d.  —  Da  aber  die  Richtung  der  Strecke  x  zu  der  von  a  ent- 
gegengesetzt ist,  multiplizieren  wir  x  oder  (a  —  2d)  noch  mit  — 1  und  er- 
halten  dann   Formel  1, 

1.  x  =  2d  —  a, 

die  uns  jederzeit  über  Richtung  und  Länge  der  von  der  2.  Person  begangenen 
Strecke  Aufschluß  gibt,  falls  a  und  d  bekannt  ist.  Für  den  Fall  z.  B.,  daß  der 
Bildpunkt  sich  nicht  bewegt,  während  Person  1  um  a  weiterschreitet,  vdid 
X  =  —  a,  d.  h.  die  2.  Person  wanderte  die  gleiche  Strecke  wie  die  1.,  aber 
im  entgegengesetzten  Sinne  nach  B'i.  —  Die  relative  Geschwindigkeit  der 
2.  Person  ist  dargestellt  durch: 

2.    ^   =  2d-a  _2      d   _  ^ 
a  a  a  ' 

Von  diesen  Erwägungen  wird  man  stets  dann  Gebrauch  machen  können, 
wenn  es  sich  um  zwei  entgegengesetzt  gerichtete  Bewegungen  zweier  Zahlen- 
reihen handelt,  von  denen  eine  einsinnig  verläuft,  während  die  zweite  selbst 
nicht  bekannt,  sondern  nur  die  durch  die  erste  bedingte  Zwangsläufigkeit, 
die  sich  in  anscheinend  unerklärlichen  vor-  und  rückläufigen  Bewegungen 
und  Stillständen  äußert.  Die  obenerw^ähnten  Mittel  (80;  52;  26;  23;  61  stellen 
gewissermaßen  die  Wanderpunkte  A,  B  usw.  dar,  auf  ihnen  steht  zeitweihg 
der  Fsk.  beim  Anwachsen  von  0  bis  100.  Von  ihm  aus  betrachtet,  scheint 
der  Lsk.  jeweils  zu  stehen  auf  den  Mitteln  42;  30;  30;  32;  28.  Das  sind 
also  die  Bildpunkte.  Tragen  wir  nun  auf  zwei  parallelen  Geraden  von  senk- 
recht übereinanderstehenden  Anfangspunkten  aus  die  angegebenen  Werte 
auf  und  verbinden  korrelate  Punkte  geradlinig  miteinander,  schneiden  wir 
dann  die  Fortsetzungen  dieser  Verbindungsgeraden  durch  eine  dritte  Pa- 
rallele, die  außerhalb  des  Schnittpunktsystems  aller  Verbindungslinien  läuft 
(in  unserem  einfachen  Falle  in  doppelter  Entfernung  von  der  ersten  Geraden), 
und  numerieren  wir  die  Schnittpunkte  der  Verbindungsgeraden  mit  der 
eben  gezeichneten  Geraden  der  Reihenfolge  nach,  so  löst  sich  mit  einem 
Schlag  die  auf  der  mittUeren  Paiallelen  störende,  schwer  verständliche  Vor- 
und  Rückläufigkeit  der  Punkte  auf. 
Die  Reihenfolge  der  Punkte  der  Pa- 
rallele in  ist  der  der  Parallen  I  ent- 
gegengensetzt,  die  aus  Formel  2  be- 
rechneten relativen  Geschwindigkei- 
ten alle  dementsprechend  negativ 
(—  0,43;  —  1;  —  2,33;  —  0,53). 

Das  Hauptergebnis  der  durchgeführten  Transformation  ist  die 
Bestätigung  der  Tatsache,  daß  mit  dem  Anwachsen  des  Fsk.  die 
Abnahme  des  Lsk.  einhergeht,  aber  mit  ungleicher  Geschwindig- 
keit. Weiter  gehe  ich  auf  spekulative  Auslegungen  der  Figm-  7  nicht  ein. 
Wenn  die  differientielle  Psychologie  das  Theorem  der  Vor-  und  Rück- 
läufigkeit ausbauen  würde,  um  sie  praktisch  für  die  Reihen vergleichung 
anzuwenden,  um  innere  Bewegungen  von  Reihen  auf  ihre  Richtung  und 
Geschwindigkeit  zu  untersuchen,  oder  es  sonstwie  auszubeuten,  so  hätte  ich 
mit  dieser  Anregung  genug  getan. 


268  Rudolf  Prantl 


e)    Normalform  des  Binetschen  Versuches. 

Binet  gibt  keine  Gründe  an,  warum  er  für  seinen  Versuch  5  Rzl.  und  4 
Fallen  verwendet.  Warum  nimmt  er  nicht  3  oder  8  Rzl.  und  5  oder  7  Fallen? 
Gewiß  hat  Binet  nur  auf  gut  Glück  den  Versuch  in  der  uns  bekannten  Form 
zusammengestellt,  ohne  sich  über  diese  grundlegenden  Fragen  vorerst  den 
Kopf  zu  zerbrechen,  und  es  ist  auch  fast  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  auf 
rein  theoretischem  Wege  ein  Optimum  aller  Versuchsbedingungen  festzulegen. 
Das  ist  immer  erst  nach  Erledigung  von  Vorversuchen  oder  Durchführung  des 
Hauptversuches  angängig.  Eine  Art  der  Beantwortung  bestände  darin,  den 
Versuch  mit  Abänderungen  wiederholt  durchzuführen  und  die  Ergebnisse  zu 
vergleichen.  Das  wäre  ein  zeitraubendes,  schwieriges  und  doch  von  Anfang 
an  schon  zweifelhaftes  Unternehmen,  da  es  immerhin  eine  mißliche  Sache 
ist,  Suggestionsversuche  an  gleichem  Schülermaterial  zu  wiederholen,  das 
dann  schon  voreingenommen  ist,  selbst  wenn  nicht  durch  Redereien  unter  ein- 
ander der  Witz  des  Versuches  bekannt  wurde.  Neues  Material  hingegen  schiebt 
wieder  geänderte  Voraussetzungen  hinein,  deren  Fehler  bei  der  Auswertung 
der  Resultate  schwer  zu  eliminieren  sind.  —  Wir  wollen  daher  versuchen, 
obige  Frage  aus  dem  einen  Versuch  heraus  zu  beantworten. 

Wir  interessieren  uns  zuerst,  wieviel  Rzl.  dem  Binet'schen  Versuch  am 
besten  entsprechen.  Die  Aufgabe  derselben  ist  bekanntlich,  den  Leitge- 
danken des  Linienzuwachses  auf  kräftige  Weise  zu  erwecken.  Diesen  Zweck 
erfüllen  sie  denn  auch,  wenn  man  nicht  störendes  Beiwerk  (Quadrierung) 
einflicht,  in  der  wünschenswerten  Art,  aber  nicht  jede  in  gleichem  Maße. 
Ein  Maximum  ihrer  Wirkung  wird  nämlich  verhältnismäßig  bald,  schon  mit 
der  4.  Rzl.  erreicht.  Ein  Maximum,  sagte  ich,  da  ich  nicht  weiß,  ob  nicht 
bei  Fortsetzung  des  Rzl.-Systems  noch  ein  2.  oder  3.  noch  kräftigeres  ein- 
träte. Aber  selbst  für  den  Fall,  daß  dem  so  wäre,  hätten  wir  keine  Zeit 
und  kein  Verlangen  darauf  zu  warten,  weil  damit  die  Modellinien  überhaupt 
viel  zu  sehr  in  die  Länge  gerieten,  womit  das  Schätzungsvermögen  und  die 
Fähigkeit,  konstante  Längenzuwachse  zu  erkennen,  gemäß  dem  Weber'schen 
Gesetz  verschlimmert  würde.  Wenn  diese  Verschiebung  in  kleinen  Grenzen 
bleibt,  so  ist  sie  nur  z weckdienhch ;  denn  etwas  Unsicherheit  leistet[dem  Leitge- 
danken Vorspanndienste.  Aus  diesem  Grunde  ist  es  auch  nicht  erforderlich, 
sofort  mit  der  4.  Rzl.  das  Gefüge  derselben  abzubrechen,  trotzdem  das  Warn- 
signal des  Maximums  ertönt,  sondern  können  noch  die  5.  Rzl.  mitnehmen, 
besonders  auch  darum,  weil  das  Mittel  zwar  von  16,58  mm  auf  14,38  (s. 
Tafel  3)  zurückgeht,  dieses  Mittel  aber  doch  noch  beträchtlich  über  normal- 
12  steht.  Kurz  gesagt,  ich  glaube,  daß  die  Anzahl  der  Rzl.  von  Binet 
so  gut  als  möglich  erraten  wurde. 

Das  Fallenbereich  mag  so  weit  ausgedehnt  werden,  bis  sich  ungewollte 
Störungen  bemerkbar  machen,  daß  etwa  Korrektionssprünge  einsetzen,  die 
mit  ihren  übergroßen  Werten  das  Gesamtresultat  der  anderen  Schüler  über- 
tönen. Diese  Störung  tritt  bei  der  4,  Falle  meines  Nachversuches  schon  in 
2  Fällen  ein  (s.  Nr.  11  und  13  von  Tafel  3).  Ich  durfte  die  besternten  Zahlen 
auch  schlechterdings  nicht  zur  Berechnung  des  Mittels  und  des  Fsk.  mitbe- 
nutzen. Ich  stellte  letzteren  dadurch  fest,  daß  ich  das  Mittel  der  3  ersten 
Fallen  durch  das  Mittel  der  sie  einschheßenden  4  Rzl.  dividierte  und  den 
Quotienten    mit    100    multiphzierte.     Daß  man   auch  noch  anders  verfahren 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfflllenversuchs        269 

kann,  werde  ich  noch  zeigen.  Der  Umstand,  daß  die  4.  Fallengruppe  (mit 
der  vorangehenden  Rzl.)  schon  Störungen  verursachte,  führte  mich  auf  den 
Gedanken,  die  Fsk.  aller  Schüler  mit  Benützung  von  nur  3  Fallen  (der  ersten 
drei)  zu  bestimmen  und  nach  Reihenbildung  (Rangplätze)  das  Maß  der  Kor- 
relation mit  der  mittels  der  4  •=  Fsk.  hergestellten  Reihe  zu  berechnen.  Ich 
erhielt  p  =  0,93  bei  einem  wahrscheinl.  Fehler  von  0,01.  Diese  fast  voll- 
kommene Korrelation  macht  die  4.  Fallengruppe  entbehrlich.  Von  der  3.  zur 
4.  Falle  tritt  nur  eine  schwache  Änderung  in  der  Folge  der  Fsk.  ein.  Es 
lag  nahe  zu  untersuchen,  ob  nicht  et^^a  auch  noch  die  3.  Falle  überflüssig 
sei.  Ich  berechnete  also  in  der  angegebenen  Weise  auch  noch  die  Korrela- 
tion der  Reihen,  die  aus  den  Rangordnungen  mit  Benützung  von  nur  zwei 
Fallen  und  endlich  nur  1  Falle  des  in  Tafel  3  dargestellten  Versuches  sich 
ergeben.    Die  Maße  stehen  in  Tafel  18,  ebenso  die  wahrscheinlichen  Fehler. 

Tafel  18. 


Maß  der  Korrelation  des  4 -Fallenversuchs  mit  dem 

Fallenversucli 


4- 

i        3- 

2- 

1- 

0- 

Q  = 

1 

'■     om 

0,86 

068 

0,20 

w  F  = 

0 

'       0,01 

0,03 

0,05 

0.096 

Man  könnte  zur  Not  selbst  mit  2  Fallen  sich  begnügen.  Das  Korrelations- 
maß g  ^  0,86  ist  immer  noch  sehr  groß.  Die  Zahlen  bekunden  übrigens 
eine  Einheitlichkeit  des  ganzen  Fa  11  enUnien Versuches  insofern,  als  dies  Kor- 
relationsmaß mit  dem  R  z  l.-Versuch,  den  ich  in  Tafel  18  einfach  als 
0- Fallen  versuch  eintrug,  auf  0,20  abstürzt. 

Auf  Grund  der  vorstehenden  Überlegungen  geben  5  Reizlinien  und  3 
Fallengruppen  die  Normalform  des  Binet'schen  Originalversuches. 
Will  man  aber  die  4  Fallen  beibehalten  oder  sogar  zum  Zwecke  der  Unter- 
suchung der  Suggestibiliiätsspanne  vermehren,  so  darf  man  den  Fsk.  mit 
Benützung  von  n — 1  Fallen  berechnen,  wenn  bei  dernten  Fallen- 
gruppe Störungen  eintreten. 

f)  Maß  der  Ablenkung  des  ersten  Leitgedankens. 

Die  Methode  der  Reihenvergleichung  benutzte  ich  überdies,  um  einen  anderen 
Gedanken,  der  den  Versuch  B.s  im  ganzen  betrifft,  zahlenmäßig  zu  verfolgen. 
Nachdem  B.  doch  zur  Bestimmung  des  Lsk.  auch  die  1.  Falle  noch  mitnimmt 
(s.  S.  258),  müssen  der  Rzl.-  und  der  FaUenversuch  trotz  ihrer  entgegengesetzt 
gerichteten  Leitgedanken  doch  ein  Stück  Übereinstimmung  besitzen.  Dieser 
geringe  Verwandtschaftsgrad  tritt  zutage,  wenn  man  die  Kinder  nach  dem 
mit  Benutzung  nur  einer  Falle  (der  ersten)  berechneten  Fsk.  ordnet  und  die 
erhaltene  Reihe  mit  der  nach  dem  Lsk.  geordneten  Reihe  vergleicht.  Das 
Maß  der  Korrelation  ist  q  =  0,54  (w.  F.  =  0,31).  Der  erste  Leitgedanke 
geht  also  offenbar  in  den  2.  Teil  des  Versuches,  den  FaUenversuch  über, 
\NTrd  aber  schon  mit  der  1.  Falle  gebrochen  und  weiterhin  immer  noch  mehr, 
wie  ein  fortgesetztes  Vergleichen  des  Rzl.-Versuches  mit  dem  Ein-,  Zwei- 
Drei-,  Vierfallenversuch  ersichtlich  macht. 


270 


Rudolf  Prantl 


Tafel  19. 


_      Maß  der  Korrelation  des  Reizlinienversuchs  mit  deni 

Fallenversucli 


0- 

1- 

2- 

3- 

1 
4-         1 

Q  = 

1 

0,54 

0,35 

0,30 

0,20 

w  F  = 

0 

0,07 

0,09 

0,091 

0,096 

Mit  Hilfe  der  in  Tafel  19  aufgeführten  Werte  kann  man  das  Schicksal  des 
im  Rzl.-Versuch  entstandenen  Leitgedankens,  der  in  den  Fallenversuch  ein- 
dringt, verfolgen.  In  Figur  8  sei  durch  AO  die  Richtung  (nicht  die  Größe!) 
des  Leitgedankens  charakterisiert.  Er  dringt  bei  0  in  das  Gebiet  des  Fallen- 
versuches ein  und  würde  bei  völlig 
gleichgerichteter  Korrelation  der 
Reihen  (o  =  +1)  ohne  Richtungs- 
änderung gegen  B  zustreben,  bei 
vollkommen  umgekehrler  Korrelation 
(o  =  —  1)  aber  nach  A  zurückge- 
worfen, bei  Abwesenheit  jeder  Kor- 
relation (q  =  0)  nach  C,  der  Mitte 
zwischen  B  (+  1)  und  A  ( —  1)  hin- 
gebrochen werden.  Rechnen  wir  also 
0,54;  0,35;  0,30;  0,20  in  Winkelgrade 
um:  {rp  =  0,54""  90  =)  48,6«;  31,50; 
27,00;  18,00  und  tragen  diese  auf  den 
vier  Kreisbögen  auf,  welche  die  stufenweise  Fortsetzung  des  4-Fallenversuches 
darstellen,  so  gibt  der  Linienzug  0  I  II  III  IV  ein  anschauliches  Bild  der  Ab- 
lenkung der  Leitidee  durch  eine  entgegengesetzte  zweite. 

Im  Zusammenhalte  mit  dem  Ergebnis  von  S.  264  geben  wir  über  das 
Schicksal  der  idee  directrice  folgenden  Aufschluß:  Sie  wird  von 
ihrem  Eintritt  in  den  Fallenversuch  an  im  ganzen  um  720  ge- 
brochen und  verliert  etwa  die  Hälfte  ihrer  Wirkungskraft. 

III.  Der  Gegenversuch. 

a)  Versuchsanordnung. 

Der  B.sche  Linienfallenversuch  erlaubt  verschiedene  Umkehrungen.  Der 
Leitgedanke  „Die  Linien  werden  immer  größer"  ist  nur  ein  Spezialfall  eines 
allgemeineren  „Die  Linien  zeigen  in  ihrer  Folge  eine  gewisse  Regelmäßigkeit." 
Die  Regelmäßigkeit  besteht  bei  Suggestionen  erster  Ordnung  —  nur  von 
solchen  ist  hier  die  Rede  —  entweder  im  Anwachsen,  oder  im  Abnehmen 
oder  im  Gleichbleiben.     Den  zweiten  FaU  bringt  dieser  Gegenversuch. 

Zur  Erweckung  der  Autosuggestion  „Die  Linien  werden  immer  kleiner" 
bedürfen  wir  wieder  Rzl.,  und  zwar  nahm  ich  in  Übereinstimmung  mit  dem 
Originalversuch  deren  fünf.  Am  einfachsten  wäre  es  nun  allerdings  gewesen, 
die  ModelUnie  des  B. sehen  Versuches  in  umgekehrter  Reihenfolge  anzuordnen, 
wobei  dann  mit  Hereinnahme  der  4  Fallengruppen  folgende  Scharung  ein- 
getreten wäre: 


Nr.         \ 
Länge  / 


der  Linie: 


1 
96 


2 

84 


3 
72 


4 
60 


5 

48 


6 
48 


36 


8 
36 


9 
24 


10 
24 


11 
12 


12 

12  (mm) 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs        271 


Diese  Fassung  mußte  sofort  abgelehnt  werden,  da  doch  erster  s  nach  unten 
hin  kein  Spielraum  mehr  zur  Auswirkung  des  Leilgedajikens  bliebe  und 
zweitens  das  durch  die  kürzeren  Linien  garantierte  Schätzungsvermögen  dem 
Leitgedanken  zu  sehr  widerspräche.  Ich  schob  also  den  ganzen  Zahlensatz 
um  24  mm  nach  oben,   so   daß  er  sich  zwischen   36  und   120  mm  bewegt. 


Tafel  20. 

Linienfolge 

Länge 

Linienfolge 

Länge 

1 

120  mm 

7 

60  mm 

2 

108     ,. 

8 

60     „ 

3 

96     ,. 

9 

48     „ 

4 

84     „ 

10 

48    ., 

5 

72     „ 

11 

36    ., 

Falle  6 

72     .. 

.12 

36    .. 

Bezüglich  der  weiteren  Ausführung  verweise  ich  auf  Abschnitt  I.  Das 
Schülermaterial  war  das  gleiche.  Der  Gegenversuch  wurde  sofort  bei  jedem 
Kinde  im  Anschluß  an  den  Nachversueh  durchgeführt.  Tafel  21  enthält  alle 
Ergebnisse  aller  Schüler. 

b)  Reizlinienbereich. 

Die  Reproduktion  der  1.  Linie  von  120  mm  als  Versuch  für  sich  aufgefaßt 
ei^bt,  daß  von  den  Schülern  die  genannte  Modellinie  im  Durchschnitt  unter- 
zeichnet wurde  (115  mm).  Aus  der  sehr  großen  Streuung  aber  von  (174  —  84  =) 
91  mm  ersehen  wir  schon  die  sehr  große  Unsicherheit  in  der  Schätzung. 
Stellen  wir  einmal  die  Streuungen  bei  den  isoliert  gezeichneten  Linien  und 
den  ersten  der  Versuche  (bei  denen  noch  keine  Suggestion  wirkte)  zusammen, 
so  offenbart  sich  mit  zunehmender  Länge  der  Modellinie  eine  Zunahme  der 
Streuung  (Tafel  22.) 


Tafel  22. 

Modellinie  1  .     . 

12         36 

72 

96    1 

120 

Streuung  s    .     . 

i    22 

1 

28 

51 

68    '■ 

91 

Reproduktion  r 

1    13^ 

363 

69,9 

943  ' 

115,0 

Zwischen  der  wahren  Länge  1  der  Modelhnie,  dem  Mittel  der  Reproduktionen 
r  und  der  dabei  anfallenden  Streuung  s  bestehen  zweifellos  verschiedene 
Zusammenhänge,  die  wert  wären,  einmal  in  Sonderstudien  bearbeitet  zu 
werden.  Die  Streuung  s  übertrifft  bei  sehr  kleinen  Linien  deren  tatsächUche 
Ausdehnung  1,   um  1-30    mm   herum  aber  bleibt  s  hinter  1  schon  zurück. 

r 
Der  Quotient  —  scheint  von  einem  verhältnismäßig  kleinen  Wert  an   (etwa 

20  mm)  eine  Konstante  (etwa  k  =  l,2)  zu  sein;  das  Produkt  r  •  s  (==ks2) 
liefert  dementsprechend  eine  Parabel.  Trägt  man  nämlich  die  Produkte 
r  •  s  (aus  Tafel  22  zu  entnehmen)  als  Ordinalen  zu  den  Abszissen  12,  36 
usw.  auf,   so    läßt  sich   durch    die  Endpunkte   annähernd    eine  Parabel   von 

der  Gleichung  v  =  k    x^  legen,  worin  k  =   — .    —   Daß    zwischen    1    und  r 

s 

Beziehungen  herrscheu,  derart,  daß  etwa  um  70  mm  herum  —  =1  wird 
(Optimum  des  Schätzungsvermögens),  hörten  wir  schon. 


272 


Rudolf  Prantl 


Tafel  21. 


ei5 
JS 

2 

1 
1 
1 

1^ 

Differenz  dei 

Linien 

i 
11  u.  2 
Falle 

Liniensuggestibilitäts- 
koefrizient 

i 

iS 

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20 

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15 

13 

11 

7 

6 

88 

186 

0 

2 

132 

0 

35 

23 

0 

4 

19 

0 

11 

—7 

16 

—5 

88 

-  17 

3 

3 

102 

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16 

7 

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9 

—4 

27 

5 

10 

6 

67 

13 

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—44 

60 

11 

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0 

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3 

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3 

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80 

65 

1 

5 

106 

18 

7 

9 

6 

0 

6 

0 

8 

0 

14 

0 

84 

0 

1 

6 

155 

15 

14 

12 

12 

11 

13 

11 

14 

13 

14 

—7 

101 

53 

4 

7 

106 

—16 

0 

5 

20 

4 

25 

0 

17 

0 

18 

0 

56 

5 

3 

8 

92 

—6 

10 

7 

16 

3 

6 

4 

5 

6 

7 

4 

75 

50 

0 

9 

115 

0 

8 

14 

7 

9 

11 

0 

9 

5 

17 

—8 

93 

14 

2 

10 

93 

0 

0 

0 

16 

0 

13 

0 

7 

0 

13 

0 

74 

0 

4 

11 

124 

0 

—9 

30 

17 

0 

7 

—5 

10 

12 

18 

0 

85 

13 

3 

12 

83 

11 

—11 

11 

8 

5 

7 

0 

9 

4 

4 

0 

74 

32 

2 

13 

144 

0 

0 

23 

18 

19 

16 

0 

6 

0 

12 

16 

86 

34 

3 

14 

165 

0 

8 

8 

5 

13 

10 

21 

14 

18 

11 

0 

86 

166 

0 

15 

117 

0 

13 

18 

0 

22 

8 

0 

17 

0 

11 

0 

81 

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3 

16 

119  1 

6 

7 

14 

0 

9 

13 

11 

11 

0 

6 

3 

78 

77 

1 

17 

112 

4 

15 

9 

10 

6 

7 

3 

5 

3 

12 

3 

88 

44 

0 

18 

111 

—15 

9 

14 

12 

13 

15 

12 

12 

10 

9 

8 

79 

90 

0 

19 

121 

4 

2 

34 

8 

7 

6 

3 

18 

5 

6 

0 

88 

39 

1 

20 

129 

3 

8 

10 

4 

10 

16 

7 

24 

2 

10 

3 

90 

41 

0 

21 

108  , 

6 

4 

9 

20 

2 

12 

4 

9 

2 

7 

2 

81 

21 

0 

22 

114 

—18 

-7 

49 

21 

9 

4 

0 

15 

7 

7 

0 

95 

34 

2 

23 

121 

4 

0 

9 

12 

8 

6 

9 

11 

16 

4 

10 

93 

130 

0 

24 

115 

0 

8 

11 

8 

9 

10 

8 

22 

0 

4 

3 

81 

45 

1 

25 

109 

5 

4 

18 

2 

6 

18 

—5 

11 

3 

8 

4 

74 

21 

1 

26 

105 

0 

16 

11 

11 

0 

8 

0 

14 

0 

11 

0 

76 

0 

4 

27 

106 

—15 

—16 

55 

21 

—12 

26 

— 7 

19 

—5 

15 

—6 

63 

-37 

4 

28 

92 

—19 

-12 

-13 

79 

—17 

17 

2 

19 

—1 

9 

—1 

58 

—14 

3 

29 

115 

0 

0 

0 

29 

0 

0 

0 

30 

0 

0 

0 

96 

0 

4 

30 

115 

0 

17 

12 

18 

-15 

23 

0 

3 

0 

15 

0 

95 

—25 

4 

31 

106 

5 

17 

8 

6 

—4 

9 

13 

7 

—2 

16 

—2 

70 

13 

3 

32 

110 

0 

19 

12 

11 

6 

3 

1 

6 

— 1 

18 

3 

92 

24 

1 

33 

115 

0 

15 

14 

18 

11 

0 

0 

10 

0 

10 

0 

109 

29 

3 

34 

116 

0 

0 

19 

12 

9 

26 

—9 

15 

0 

9 

8 

79 

13 

2 

35 

142 

0 

11 

7 

0 

8 

40 

6 

7 

0 

14 

10 

78 

39 

1 

36 

89 

—4 

-4 

14 

17 

—4 

13 

—4 

19 

6 

7 

—3 

60 

—9 

3 

37 

108 

0 

—10 

17 

24 

0 

10 

0 

15 

0 

14 

0 

71 

0 

4 

38 

94 

—26 

—18 

—6 

88 

—5 

—5 

—8 

46 

—4 

10 

—3 

81 

—16 

4 

39 

117 

—8 

—13 

—10 

65 

—6 

28 

6 

4 

5 

11 

8 

73 

12 

1 

40 

122 

—18 

-10 

—6 

54 

15 

13 

10 

5 

—10 

18 

8 

90 

16 

1 

41 

100 

0 

13 

10 

6 

3 

10 

2 

9 

3 

7 

5 

71 

41 

0 

42 

107 

—14 

—11 

43 

18 

11 

12 

—6 

13 

—2 

11 

0 

88 

6 

3 

43 

120 

0 

34 

9 

0 

5 

15 

0 

6 

0 

14 

0 

79 

14 

3 

44 

115 

0 

0 

29 

20 

9 

0 

5 

6 

0 

15 

0 

96 

34 

2 

45 

111 

—2 

18 

8 

17 

4 

11 

4 

9 

'2 

7 

3 

85 

30 

0 

46 

115 

—13 

17 

—2 

27 

8 

7 

6 

17 

4 

8 

0 

96 

31 

1 

47 

137 

15 

3 

20 

15 

8 

16 

5 

8 

4 

10 

4 

96 

43 

0 

48 

174 

—16 

62 

26 

—13 

29 

17 

11 

16 

—16 

16 

0 

77 

67 

2 

49 

91 

—10 

—7 

-4 

49 

5 

5 

5 

4 

6 

4 

5 

81 

32 

0 

50 

115 

-7 

0 

34 

9 

S 

19 

0 

3 

3 

12 

2 

77 

18 

1 

Mittel 

116,02 

-3,42 

6,44 

14,12 

17,04 

5,20 

11.50 

2,78 

12,46 

2,22 

;  10,66 

1,88 

Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetachen  Linienfallenversuchs        273 

Die  Unterschätzung  der  Modellinie  von  120  mm  fällt  ebenso  wie  die  Zu- 
nahme der  Streuung  in  die  Erweiterung  der  früheren  Ergebnisse.  In  den 
nächsten  3  Spalten  stoßen  wir  hingegen  auf  eine  neue  nicht  erwartete  Er- 
scheinung. Spalte  2,  3,  4,  5,  enthält  bezw.  19,  13,  6,  1  negative  Einträge. 
Verschiedene  Kinder  zeichneten  also  die  kleineren  Linien  größer  und  zugleich 
einigemal  hintereinander,  so  z.  B.  Nr.  38,  39,  40.  Erst  bei  der  5.  Rzl.  merkten 
diese  Kinder,  daß  ihre  Reproduktionen  denn  doch  viel  zu  groß  ausgefallen 
waren  und  suchten  dann  ihren  Irrtum  durch  starke  Korrektursprünge  von 
54,  65,  88  mm  wett  zu  machen.  Außerdem  enthalten  Spalten  2,  3,  4,  5 
bezw.  noch  19,  8,  2,  4  mal  0.  Die  Längenabnahme  wurde  demnach  (zusammen 
mit  den  negativen  Einträgen)  in  75,  42,  16,  10^  o  nicht  erkannt.  Über  drei 
Viertel  der  Versuchspersonen  merkten  bei  der  2.  Rzl.,  beinahe  die  Hälfte  bei 
der  3.  noch  gar  nicht  den  Rückgang  der  Linienlängen.  Der  Grund  hierfür 
ist  entweder  der  Umstand,  daß  im  vorausgegangenen  Versuch  die  Linien 
wuchsen  und  die  Kinder  glaubten,  es  ginge  dies  nun  so  weiter;  oder  er  hegt 
auf  der  Linie  des  Weberschen  Gesetzes,  wonach  bei  verhältnismäßig  großen 
Reizen  ein  kleiner  Reizunterschied  nicht,  also  auch  der  Richtung  nach  nicht 
erkannt  wird,  oder  endUch  in  der  Neigung,  die  Punkte  in  Unsicherheit  über- 
haupt lieber  nach  rechts  als  nach  links  abzuselzen,  da  die  Hand  gewöhnt  ist, 
während  des  Schreibens  nach  rechts  weiter  zu  gehen. 

Über  die  Stichhaltigkeit  des  ersten  Umstandes  verschaffte  ich  mir  dadurch 
Aufklärung,  daß  ich  nach  einem  halben  Jahr  den  Versuch  an  26  Schülern 
einfach  wiederholte  und  diesmal  den  Gegenversuch  voraus  nahm.  Dabei 
zeigte  sich  aber,  daß  immerhin  etwa  die  Hälfte  der  Versuchspersonen  bei 
der  2.  Rzl.,  und  ein  Viertel  bei  der  3.,  ein  Fünftel  bei  der  4.  und  5.  Rzl,  sich 
über  die  Richtung  der  Linienveränderung  nicht  klar  war.  Der  unmittelbare 
Vorangang  des  Nachversuchs  nimmt  dementsprechend  etw^a  den  dritten  Teil 
der  Anomalie  auf  sich,  das  übrige  ist  den  anderen  Umständen  zuzuschreiben. 

Mein  Gegenversuch  krankt  von  Anbeginn  an  zwei  Übeln:  Ich  durfte  dem 
Versuch  nicht  einen  anderen  vorangehen  lassen.  Die  Magnetnadel  der  Sug- 
gestibilität besitzt  eine  überaus  feine  Empfindsamkeit.  Dieser  rein  persönliche 
Mißgriff  könnte  aber  leicht  bei  weiteren  Nachversuchen  vermieden  werden, 
wenn  ihm  überhaupt  viel  Bedeutung  zukommt.  Es  fällt  mir  selbst\'erständlich 
nicht  im  mindesten  ein,  einen  Fehler  zu  beschönigen,  wenn  ich  hinzufüge, 
daß  infolge  der  großen  Korrektionssprünge  der  auf  einmal  erwachte  Leit- 
gedanke von  besonders  großer  Kraft  war,  da  er  ja  explosionsartig  nach 
Überwindung  einer  nachweisbar  von  Anfang  an  bestehenden  Spannung  ent- 
sprang. Darin,  daß,  wie  bei  Nr.  38  oder  40  die  negativen  Eintragungen  absolut 
genommen  allmähUch  abnehmen,  sehen  wir  schon  einen  Kampf  zwischen  dem 
alten  Leitgedanken  des  Linienzuwachses  aus  dem  Nachversuch  und  dem 
zweifelnden  Vermuten,  daß  diesmal  doch  eine  neue  Sachlage  bestände. 
Manchmal  sprach  ein  Kind:  „Die  Linien  werden  kleiner,  und  ich  habe  sie 
immer  größer  gezeichnet!"  Ich  staunte  oft  über  die  zweifelnde  Haltung  der 
Schüler  beim  Zeichnen  der  Punkte.  Die  rechte  Hand  fuhr  in  nervösen  Zick- 
zackbewegungen wie  ein  Pendel  hin  und  her,  unwissend,  wohin  der  Punkt 
gehöre,  bis  schließlich  fast  eine  Art  Zufall  die  Lage  desselben  bestimmte. 
Ich  hatte  mitunter  den  Eindruck  einer  fein  spielenden  Wage,  auf  der  der  alte 
und  der  neue  Leitgedanke  mn  die  Vorherrschaft  stritten.  Durch  das  Bewußt- 
werden des  Irrtums  wTirde  ein  starkes  Erfassen  des  eigentlichen  Leitgedankens 

Zeitschrift  f.  padagog.  Psychologie.  IS 


274 


Rudolf  Prantl 


bewirkt,  das  sich  in  einem  auffallenden  Anwachsen   der  Mittel  von  —  3,42 
bis  +  17,04  bemerkbar  macht. 

Die  zweite  Mißlichkeit  des  Gegenversuches  ruht  darin,  daß  die  Rzl.  in 
schwerer  abschätzbaren  Höhen  spielen,  sie  also  größtenteils  ihre  Aufgabe  gar 
nicht  erfüllen.  Ein  einwandfreier  Spiegelversuch  mit  Beibehaltung 
der  konstanten  Liniendifferenz  von  12  mm  ist  also  zum  B. sehen 
Originalversuch  nicht  aufstellbar.  Es  wäre  eine  Sonderfrage  für  sich, 
welche  Differenzen  man  den  Rzl.  geben  müßte,  damit  sie  zu  Suggestions- 
elementen von  gleicher  Stärke  wie  die  des  Original  Versuches  würden. 

c)  Fallenbereich. 

Figur  9  gibt  den  Überblick  über  den  ganzen  Gegenversuch  (als  Gegenfigur 
zu  Figur  4).  Diesmal  hegt  der  Linienzug  fast  ganz  über  der  Normallinie, 
obwohl  das  Gegenteil  erwartet  worden  wäre.     Im  ausgeprägten  Bogea  nach 

rechts  sind  die  unter  b.  erwähnten 
Mißlichkeiten  klar  zum  Ausdruck  ge- 
bracht. Wieviel  hiervon  als  Nach- 
wirkung des  unmittelbar  vorange- 
gangenen Versuches  anzusehen  ist, 
gibt  uns  der  Abstand  des  ausge- 
zogenen zum  punktierten  Linienzug, 
welch  letzterer  das  Ergebnis  des 
Wiederholungsversuches  illustriert. 
Im  Zusammenhalt  damit  haben  wir 
hierin  auch  ein  Bild  von  der  Wir- 
kung einer  zurückgedrängten  und 
sich  dann  um  so  lebhafter  Platz 
machenden  Suggestion.  (Das  wäre 
ein  Kapitel  für  sich.)  Wir  bemerken, 
daß  unter  dem  Reaktionsüberdruck 
der  Linienzug  sich  gegen  das  Ende 
hin  endlich  der  NormalUnie  bis  zur 
Schneidung  nähert,  während  der 
^  punktierte  Zug  mit  verhältnismäßig 

günstigerem  Anfang  über  derselben 
«ö       ioi      96       s;      "72       60       48       56  bleibt.  —  Die  Fallen  wurden  beim 

Gegenversuch  in  reicherem  Maße 
bemerkt  als  beim  Nachversuch.  Im  ganzen  wurden  91  (gegen  49)  vermieden. 
Der  Gegenversuch  bot  nur  halbe  Schwierigkeit.  Die  ModelUnien  führen  ja 
von  einem  Bereich  des  schlechten  Schätzungsvermögens  in  das  des  günstigeren 
hinein.  Auf  die  4  Fallen  I  bis  IV  verteilen  sich  die  91  Vermeidungen  mit 
15;  24;  25;  27  Fällen.  Die  Zahl  der  Vermeidungen  nimmt  diesmal  reinhch 
zu.'  Ist  einmal  die  erste  Falle  erkannt  und  vermieden,  so  sind  die  übrigen 
leicht  zu   vermeiden.     Der  Leitgedanke  hatte   schwächere  Suggestionskraft. 

d)  Suggestibilitätskoeffizienten. 
Die  Bestimmung  des  Fsk.  erfolgt  auf  ganz  gleiche  Weise  wie  beim  Nach- 
versuch; die  des  Lsk.  hingegen  erfordert  mehr  Mühe. ,  Hierbei  sollte  ja  nur 
die  Suggestionswirkung  der  ersten  5  Rzl.  verwertet  werden.   Indem  die  Schuler 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs         275 

Linien  von  120,  108,  96,  84,  72  mm  hintereinander  zeichneten,  sollten  sie 
unter  dem  Einfluß  des  dabei  entstehenden  Leitgedankens  „Die  Linien  werden 
immer  kleiner"  bei  der  Reproduktion  der  zweimal  gebotenen  Linie  von  72  mm 
dieselbe  bedeutend  unterzeichnen,  so  wie  umgekehrt  beim  Nach  versuch  die 
Modellinie  von  60  mm  kräftig  überzeichnet  wurde.  Während  aber  damals 
von  einem  bestimmten  Punkte,  vom  0- Punkt  aus  begonnen  wurde,  mußte 
diesmal  mit  einem  unsicher  wiedergegebenen  Punkte,  nämlich  dem  von 
120  mm,  der  bekanntUch  unterschätzt  wurde,  eingesetzt  werden.  Es  war 
also  notwendig,  erst  rechnerisch  die  Reproduktionslänge  dieses  Endpunktes 
z  und  damit  auch  den  6.  gezeichneten  Punkt  a  so  zu  normieren,  als  wäre  z 
tatsächlich  gleich  120  gezeichnet  worden.  Da  der  Abstand  von  a  einmal  von 
0  und  z,  dann  von  0  und  120  dem  Verhältnis  nach  gewahrt  bleiben  mußte, 
bestimmte  sich  der  Wert  von  a  aus  a  :  (z  —  a)  =  x :  (120  —  x),  daraus  x  == 

—  •  120.    Damit  waren  noch  nicht  alle  Schwierigkeiten  gehoben.    Der  Lsk, 

müßte  doch  um  so  größer  ausfallen,  je  mehr  die  isoliert  gezeichnete  Linie 

von  72  mm  unterzeichnet  wurde.     Die  reproduzierte  Länge  hiervon  d  war 

also  durch  x  zu  dividieren  und  der  Quotient  endlich  (analog  dem  früheren 

Verfahren)  mit  100  zu  multiplizieren.   Somit  war  der  Lsk.  zu  berechnen  aus: 

d      ,  ^^        100  d  •  z        5      d  •  z      ^  ^  ,     .  ^..    ^ 

Lsk==  —  100=     ^„— =  — -.    .     Daß  man  auf  eme  so  umstand- 

X  120  •  a  6  a 

liehe  und  verhältnismäßig  mühselige  Weise  vorzugehen  hat,  ist  an  sich 
kein  Nachteil.  Jeder,  der  etwas  in  Reihenvergleichungen  gearbeitet,  weiß, 
daß  man  um  ein  paar  numerischer  Angaben  willen  oft  ein  paar  Tage  ange- 
strengt zu  rechnen  hat.  Arbeit  und  Zeit  spielt  in  der  Wissenschaft  keine 
prinzipielle  Rolle.  Anders  ist  es  aber,  wie  es  hier  zutrifft,  daß  ein  zu  ver- 
wendender algebraischer  Ausdruck  mehrere  Größen  enthält,  deren  jede  in 
ihrer  Entstehung  Zufälligkeiten  ausgesetzt  war,  so  d,  z,  a,  —  ein  Umstand, 
der  den  Wert  des  Gegenversuches  auch  nach  dieser  Seite  herabsetzt. 

Die  Lsk.  sind  fast  ausschließlich  unter  dem  Normalwert  100,  was  dafür 
spricht,  daß  die  Suggestivkraft  des  Leitgedankens  sehr  schwach  war. 

Zwischen  den  aus  dem  Lsk.  dieses  und  dem  Lsk.  des  Nachversuches 
gebildeten  Reihen  herrscht  soviel  wie  keine  Korrelation  (o  =  —  0,02) ,  eben- 
sowenig zwischen  den  aus  den  Fsk.  gebildeten  Reihen  (o-=  0,18j.  Unterein- 
ander haben  sie  aber  eine  bescheidene  Korrelation  (o  =  0,39).  Daraus  wäre 
normalerweise  der  Satz  abzuleiten,  daß  die  Fähigkeit  der  Seele,  auf  den 
Leitgedanken  des  Linienzuwachses  einzugehen,  eine  ganz  andere  sei,  als  die 
auf  den  der  Linienabnahrae.  Aber  ich  wage  nach  den  geschilderten  Uner- 
quicklichkeiten, die  dem  Gegen  versuch  anhaften,  kaum  diesen  Schluß  zu 
ziehen,  obwohl  er  a  priori  nicht  von  der  Hand  zu  weisen  wäre,  da  die 
SuggestibiUtät  sehr  diffiziler  Natur  zu  sein  scheint  und  auf  anscheinend 
ähnliche  Suggestionen  doch  ganz  verschieden  ansprechen  könnte. 

Ich  darf  auch  deswegen  jenen  Satz  nicht  aufstellen,  weil  trotz  allen  Nicht- 
übereinstimmens  der  Reihen  die  Ergebnisse  beider  Versuche  doch  einiger- 
maßen einander  gleichkommen.  Es  fheßt  nämlich  noch  eine  letzte  Vergleich- 
quelle, und  die  ist  diesmal  gewiß  die  lauterste,  weil  sie  die  mit  vielen  Um- 
ständlichkeiten und  Zufälügkeiten  behafteten  Koeffizienten  nicht  braucht. 
Ich  meine  einen  Vergleich  auf  Grund  der  Anzahl  der  von  jedem  Kinde  in 
beiden  Versuchen   jeweils    vermiedenen    Fallen.     Jeder    Schüler    konnte    in 

18» 


276 


Rudolf  PrantI 


jedem  Versuche  0,  1 ,  2,  3,  4  Fallen  vermeiden ;  das  sind  zwei  gleiche  Elementen- 
reihen, aus  denen  man  ein  einziges  Element  zur  Bildung  von  Komplexionen, 
80  oft  es  angeht,  verwenden  kann.  Die  Anzahl  der  Variationen  ist  dann 
gleich  52.  Am  einfachsten  und  übersichtlichsten  tragen  wir  dieselben  in 
eine  Verteilungstafel  ein  (Tafel  23).    Hat  z.  B.  ein  Kind  im  Gegen(x)- Versuch 

2  Fallen  vermieden,  im  Nach(y)-Versuch  deren  3,  so  wird  es  mit  1  in  dem 
Felde   eingetragen,   wo   die   mit   2  überschriebene  Vertikalreihe  mit   der  mit 

3  überschriebenen  Horizontalreihe  sich  schneidet. 


Tafel  23. 


0 

1 

2 

3 

4 

0 

10 

5 

5 

5 

4 

29 

1 

2 

2 

1 

1 

6 

.^  ! 

5 

1 

6 

3 

1 

3 

1 

5 

4 

1 

i 

2 

2 

4 

12 

12 

7 

11 

8 

S  =  50 

Wir  haben  so  eine  äußerst  einfache  und  klare  Verteilungstafel  gewonnen, 
die  noch  dazu  den  Vorteil  hat,  daß  bei  ihrer  Anlage  bezüglich  der  Bildung 
von  Fächern  keine  Willkür  herrschte.  Würden  beide  Versuche  nach 
der  Anzahl  der  vermiedenen  Fallen  völlig  übereinstimmen,  so  träten 
nur  die  Komplexionen  00,  11,  22,  33,  44  auf,  d.  h.  dann  wären  in  der  Ver- 
teilungstafel nur  die  Felder  besetzt,  die  von  der  Diagonale  von  links  oben 
nach  rechts  unten  durchlaufen  werden.  In  unserem  Beispiel  treffen 
(10-4-2-1-3  +  2=)  17  Fälle  darauf.  Umgekehrt  enthalten  die  Felder  der 
Diagonale  von  rechts  oben  nach  links  unten  die  Komplexionen,  die  eine 
vollkommen  umgekehrte  Korrelation  erzeugen  (40  usw.).  In  unserem  Bei- 
spiel sind  es  5  Fälle. 

Der  Mittelwert  der  ganzen  Tafel  berechnet  sich  aus 

:Sxy  126 

-— =__i=^  =  — ^  =  0,654. 

y  ^x2   •  ^y2  "[7  267      ^"'^ 


r  = 


139 


Der  wahrscheinliche  Fehler  ist 


j J.2  \ 0  654- 

w  F  =  0,67449   -7=^  =  0,67449 .  '-        =  0,054,  also  etwa  11  mal  so  klein 

]/n  y50 

als  r,  woraus  ebenfalls  hervorgeht,  daß  diese  Vergleichsweise  in  diesem  Falle 

die  sicherste  ist.    Da  r  =  1  vollkommen  gleichgerichtete,  r  =  —  1  vollkommen 

umgekehrte  Korrelation,  r=0  das  Fehlen  jeder  Korrelation  bezeichnet,  sagt 

unser  sehr  sicherer  Wert  r  =  0,654,  daß  der  Nach-  und  Gegenversuch  in  bezug 

auf  die  Vermeidung  der  Fallen  verhältnismäßig  noch  gut  übereinstimmen,  daß 

also  die  Suggestibilität  für  einen  umgekehrten  Leitgedanken  doch 

etwa  die   gleiche  ist  wie  für  den  ursprünglichen.  —  Ich  belasse  es 

bei  diesem  Hauptergebnis  der  Vergleichung  beider  Versuche. 


Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs         277 

IV.  Übersicht  —  Ergebnisse  —  Probleme. 

Der  eingangs  beschriebene  Binetsche  Linienfallenversuch  erweist  sich  für 
die  Bestimmung  der  Suggestibihtät  an  sich  als  nicht  sehr  brauchbar,  verfolgt 
den  von  B.  angegebenen  Zweck  nicht,  wenigstens  nicht  unmittelbar.  Er 
arbeitet  nur  mit  Autosuggestionen,  bezieht  sich  also  durchweg  auf  eine  Art 
Autosuggestibilität  und  könnte  somit,  von  anderem  vorerst  abgesehen,  zur 
Aufhellung  der  Beziehungen  zwischen  Suggestionen  und  Autosuggestionen, 
z\\ischen  Suggestibilität  und  Autosuggestibilität  mitvei'A^'endet  werden. 

Er  besteht  trotz  aller  äußeren  Einfachheit  aus  zwei  wesentlich  verschiedenen 
Teilversuchen,  deren  Leitgedanken  einander  direkt  aufzuheben  und  durch 
Richtungsablenkung  abzudrängen  bestreben.  Somit  eignet  er  sich  vorzüglich 
zur  Untersuchung  einander  widerstrebender  und  bekämpfender  Autosuggestionen. 

Die  Normalform  bestände  aus  5  Reizlinien  und  3  Fallengruppen.  Der  erste 
Bestandteil  des  Versuches,  das  Reizliniensystera  für  sich,  liefert  eine  einfache 
Methode  zur  Prüfung  der  automatisch  charakterisierten  Suggestibilität,  die  in 
dem  hiernach  berechneten  Lsk.  ihren  rechnerischen  Wert  erhält.  Diese  Methode 
verdiente  weiteren  Ausbau  durch  Erweiterung  des  Rzl.  -  Bereichs.  Ebenso 
ließe  sich  der  zweite  Bestandteil  des  Versuches,  das  Fallensystem,  weiter 
ausbauen.  Dieses  wirft  auf  eine  andere  Seite  der  Suggestibilität,  die  Distri- 
bution, ein  bedeutsames  Licht.  Der  Ausbau  beider  Teile  gibt  ein  Verfahren 
zm-Untersuchung  der  automatisch  bzw.  distributiv  charakterisierten  Suggestibilität. 
Wie  das  Ergebnis  des  Reizhnien Versuches  (1.  Teil)  jeweils  durch  den  Lsk. 
kurz  zusammengefaßt  wird,  so  auch  das  Resultat  des  Fallenversuches  (2.  Teil) 
durch  den  Fsk.  Aus  der  Vergleichung  der  nach  dem  Lsk.  und  Fsk.  bildbaren 
Reihen  fließen  folgende  Sätze:  1.  Die  langsam  ansprechende  Suggestibilität 
(geringes  Reaktionsvermögen)  besitzt  geringe  Distribution.  2.  Mittelstarker 
Automatismus  besitzt  sehr  große  Distribution,  sehr  kleine  Stabilität.  3.  Sehr 
starker  Automatismus  besitzt  sehr  kleine  Distribution  und  sehr  kleine  Stabilität. 
Diese  Sätze  sind  insofern  nicht  gesichert,  als  die  Versuchspersonen  nur  auf 
zwei  verschiedene  Leitgedanken  anzusprechen  brauchten.  Durch  Einführung 
mehrerer  Leitgedanken  sind  sie  zu  verallgemeinern.  Wahrscheinlich  gipfeln 
alle  im  allgemeinen  (erst  nachzuweisenden)  Gesetze:  Mit  Zunahme  der  Distri- 
bution nimmt  die  Stabihtät  ab.  Auf  je.  mehr  Leitgedanken  ein  Individuum 
reagiert,  desto  weniger  stark  läßt  es  sich  von  jedem  solchen  beeinflussen.  — 
Endlich  scheint  die  Suggestibihtät  bei  „Umkehrung  von  Leitgedanken"  unge- 
fähr gleich  zu  bleiben. 

Bei  der  Gegenüberstellung  des  Original-  und  Nachversuches  überraschte 
eine  starke  Verschiedenheit  der  Ergebnisse,  die  auf  die  Verwendung  von 
quadriertem  Papier  bei  B.  zurückzuführen  ist.  Durch  die  Rastrierung  des  bei 
der  Reproduktion  der  Linien  benützten  Papieres  wurde  der  eigenthche  Leit- 
gedanke wesentlich  irritiert,  indem  ungewollt  auftretende  konkretere  Neben- 
leitgedanken („Wahrscheinlich  ist  dieser  2.  Linienschnittpunkt  gemeint.")  selbst 
stark  suggestiven  Charakter  erhielten.  Auf  dem  Ver«uchspapier  angebrachte 
Punkte  und  dergl.  wirken  anziehend,  und  zwar  nimmt  die  Wirkung  mit  der 
wachsenden  Entfernung  ab.  Es  wäre  eine  dankbare  und  nicht  schwere 
Aufgabe,  zu  untersuchen,  ob  die  Abnahme  mit  dem  Quadrat  der  Entfernung 
erfolgt  oder  wie  sonst.  Da  vermuthch  verschiedene  Markierungen  (Punkt, 
Kreuz,   kleiner   Kreis,    Linienschnittpunkte,   Farben  und   dergl.)   verschieden 


278     R-  Prantl,  Suggestibilität  mittels  des  ersten  Binetschen  Linienfallenversuchs 


wirken  und  jeder  von  ihnen  gewissermaßen  eine  verschiedene  „Masse"  zu- 
kommt, könnte  auf  diesem  Wege  ein  psychologisches  Pendant  zum  Newton- 
schen  Gravitationsgesetz  entdeckt  werden  („2  Massen  ziehen  einander  an 
mit  einer  Kraft,  die  dem  Produkt  der  Massen  direkt  und  dem  Quadrat  ihrer 
Entfernung  voneinander  umgekehrt  proportional  ist.") 

Ebensowenig  ist  es  ausgeschlossen,  durch  das  Studium  der  Ablenkung 
von  Leitgedanken  beim  Eintritt  in  neue  Umgebung  (in  ein  Medium  anderer 
Art)  auf  einen  dem  Snelliusschen  Brechungsgesetz  vielleicht  analog  formulier- 
baren psychologischen  Satz  zu  stoßen. 

Als  Ergebnisse  nebensächlicher  Natur  (im  Hinbhck  auf  den  Hauptversuch) 
erhielten  wir,  daß  Linien  von  12,  36,  60  mm  über-,  von  72,  90,  120  mm 
unterschätzt  werden.  Um  70  mm  herum  hegt  wahrscheinUch  ein  Optimum 
des  Schätzungsvermögens.  Zwischen  der  wahren  Länge  der  Modelhnie,  deren 
Durchschnittsreproduktionen  und  den  hierbei  anfallenden  Streuungen  scheinen 
verschiedene  Beziehungen  zu  bestehen. 

Im  ganzen  genommen  bedarf  der  Versuch  noch  der  Nachprüfung  yon 
einigen  Tausend  Versuchspersonen  bis  zur  Annahme  oder  Ablehnung  der 
hier  aufgestellten  Hypothesen.  Erstreckten  sich  diese  Versuche  auf  Individuen 
jeden  Alters  in  genügender  Häufigkeit  und  würden  sie  an  der  gleichen  Gruppe 
entweder  nach  längerer  Zeit  oder  sofort  wiederholt,  so  könnten  noch  Be- 
ziehungen zwischen  der  Autosuggestibilität  und  dem  physischen  bzw.  (wenn 
die  Individuen  auch  in  Hinsicht  auf  ihr  Intelligenz  alter  geprüft  würden)  In- 
telligenzalter und  die  Grenzen  aufgedeckt  werden,  innerhalb  welcher  die 
Ergebnisse  schwanken.  Endlich  wäre  es  noch  interessant  zu  erfahren,  ob 
das  Resultat  einem  Limes  zustrebte  und  welchem,  wenn  man  den  gleichen 
Versuch  sehr  oft  hintereinander  an  ein  und  derselben  Versuchsperson 
wiederholte. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

über  das  psychologische  Laboratorium  in  Hamburg  bringt  das  erste  Heft 
einer  neuen  Sammlung!)  mit  dem  Titel  „Hamburger  Arbeiten  zur  Begabungs- 
prüfung" in  einem  Vorwort  einen  kurzen  Rechenschaftsbericht,  der  hier  im 
Wortlaut  wiedergegeben  wird. 

„Das  psychologische  Laboratorium  in  Hamburg  nahm  bisher  unter  den 
deutschen  psychologischen  Instituten  insofern  eine  Sonderstellung  ein,  als  es 
weder  einer  Universität  noch  einem  Lehrerverein  angegliedert  war  2).  Es  ist 
eine  staatliche  Veranstaltung,  die  als  Abteilung  des  philosophischen  Seminars 
am  allgemeinen  Vorlesungswesen  in  Hamburg  von  Meumann  im  Jahre  1914 
gegründet  wurde,  und  diente  bisher  den  Zwecken  der  Lehre  und  Forschung 
in  dem  Sinne  und  Maße,  wie  es  eben  an  einem  allgemeinen  Vorlesungswesen 
möglich  war.  Seine  Besucher  bestanden  zum  weitaus  größten  Teil  aus  Lehrern 
und  Lehrerinnen  der  verschiedenen  Schulgattungen;  wenn  diese  im  Vergleich 
zu  Studenten  eine  größere  Reife,  ein  unmittelbareres  Interesse,  insbesondere 

')  Die  Sammlung  wird  Veröffentlichungen  des  Instituts  enthalten.  Herausgeber  ist  William 
Stern.  Es  gelangen  zunächst  3  Nummern  als  BeUiefte  18,  19,  20  der  Zeitschrift  f.  angew.  Psych, 
zur  Ausgabe. 

2)  Seit  dem  1.  April  1919  ist   es  ein  Institut  der  neugegründeten  Hamburgischen  Universität. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  279 


an  den  Fragen  der  Jugendpsychologie,  einen  Schatz  an  praktischen  Erfahrungen 
und  einen  geübten  Blick  für  die  Anwendungsmöglichkeiten  psychologischer 
Erkenntnis  mitbringen,  so  fehlt  andererseits  die  Gleichmäßigkeit  der  Vorbildung, 
oft  auch  die  rein  wissenschaftliche  Einstellung  und  vor  allem  die  Zeit  zu 
eingehender  Beschäftigung  mit  wissenschaftlichen  Aufgaben,  da  ihr  Beruf  ja 
nur  wenige  Stunden  für  andere  Beschäftigung  übrig  läßt.  So  konnte  denn 
nur  ein  verhältnismäßig  kleiner  Bruchteil  dieser  Seminarbesucher  so  weit  ge- 
führt werden,  um  durch  selbständige  wissenschaftliche  Arbeit  an  den  Forschungs- 
und Prüfungsaufgaben  mitzuwirken;  einige  Ergebnisse  dieser  Tätigkeit  werden 
in  den  folgenden  Heften  niedergelegt.  Für  Helferdienste  dagegen  stand  er- 
freulicherweise stets  eine  größere  Zahl  von  genügend  geschulten  Persönlich- 
keiten zur  Verfügung. 

Des  w^eiteren  erhielt  unsere  Tätigkeit  dadurch  ihr  Gepräge,  daß  das  Labora- 
torium als  staatMches  Institut  Anlaß  und  Möglichkeit  hatte,  unmittelbar  an 
Fragen  des  Allgemeinwohles  Anteil  zu  nehmen.  Auch  dies  gab  Anlaß,  daß 
uns  neben  Problemen  der  theoretischen  Psychologie  solche  der  angewandten 
Psychologie  eingehend  beschäftigten.  Hierbei  ergab  sich  ein  erfreuliches  Zu- 
sammenarbeiten mit  Behörden  und  öffentlichen  Organisationen  —  insbesondere 
der  Oberschulbehörde  und  der  Zentrale  für  Berufsberatung.  Wesentlich  gefördert 
wurden  diese  Arbeiten  dadurch,  daß  der  hamburgische  Staat  für  bestimmte 
Aufgaben  gelegentlich  besondere  Mittel  gewährte  oder  die  Heranziehung 
wissenschaftlicher  Hilfskräfte  ermöglichte.  So  konnte  neben  dem  ständigen 
Hilfsarbeiter  Dr.  Heinz  Werner  (früher  Dr.  Theodor  Kehr  7)  längere  Zeit 
Dr.  Benary  für  Eignungsuntersuchungen  an  Fliegern,  Dr.  Bobertag  für  die 
Vorbereitung  von  Prüfungsmethoden  für  Straßenbahner  im  Laboratorium  tätig 
sein.  Seit  Anfang  1918  ist  außerdem  der  Volksschullehrer  R.  Peter  von  der 
Oberschulbehörde  auf  unbestimmte  Zeit  an  das  Laboratorium  beurlaubt  mit 
dem  Auftrage,  die  schulpsychologischen  Veranstaltungen  zu  überwachen  und 
zu  verwalten.  Damit  hat  die  von  mir  schon  vor  längerer  Zeit  aufgestellte 
Forderung  eines  „ Schulpsychologen "  eine  gewisse  Verwirklichung  erfahren; 
und  ich  sehe  einen'  besonderen  Vorteil  darin,  daß  nicht  ein  dem  Schuldienst 
fernstehender  reiner  Theoretiker,  sondern  eine  Persönhchkeit,  die  praktische 
Schulerfahrung  mit  psychologisch  wissenschaftHcher  Schulung  verbindet,  mit 
diesen  Aufgaben  betraut  worden  ist. 

In  loserem  Zusammenhang  mit  dem  Laboratorium  steht  das  von  der  ham- 
burgischen Lehrerschaft  gegründete  „Institut  für  Jugendkunde",  das  freiUch 
während  des  Krieges  nur  eine  beschränkte  Wirksamkeit  entfalten  konnte, 
sowie    eine    „Arbeitsgemeinschaft    für   Psychologie    der    Berufseignung*.    — 

Den  Mittelpunkt  der  psychologischen  Institutsarbeiten  bildet  das  Begabungs- 
problem, sowohl  nach  der  Seite  der  geistigen  Allgemeinbegabung  (Intelligenz) 
wie  nach  der  der  Sonderbegabung  für  bestimmte  Gebiete.  Unsere  Studien 
erstreckten  sich  auf  die  Analyse  der  Begabungen,  auf  ihre  Differenzierung 
nach  Altersstufen,  Geschlechtern,  sozialen  und  Schulbedingungen,  auf  die 
psychographische  Feststellung  der  Fähigkeiten  bestimmter  Individuen. 

Bezüglich  der  Methodik  war  es  uns  von  vornherein  klar,  daß  hier  das 
Experiment  nicht  allein  herrschen  dürfe.  Denn  das  Wesen  einer  Begabung 
ist  niemals  auszuschöpfen  durch  die  Art,  wie  ein  Mensch  auf  bestimmte  von 
außen  gesetzte  Anforderungen   (Reize)  reagiert;    sondern  sie  bekundet  sich 


280  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

auch  in  spontanen  Verhaltungsweisen,  in  frei  gewählten  Interessenrichtungen 
und  Tatformen,  die  sich  als  solche  grundsätzlich  der  künstlichen  Erzeugung 
im  Experiment  entziehen.  Sie  sind  nur  der  Beobachtung  zugänglich;  und 
eine  wissenschaftliche  Vertiefung  und  Systematisierung  der  natürlichen  Be- 
obachtung erschien  uns  daher  ebenso  notwendig  wie  ihre  Ergänzung  durch 
die  experimentelle  und  statistische  Methode.  Der  Beobachtungsmethode  diente 
einerseits  die  Ausarbeitung  von  Beobachtungsbogen,  andererseits  die  Anleitung 
zu  Intelhgenzschätzungen.  Beide  Hilfsmittel  sind  geeignet,  die  wertvollen  Er- 
fahrungen der  Lehrer  in  psychologische  Münze  umzusetzen  und  sie  dadurch 
wiederum  für  praktische  Aufgaben  (Begabungsauslese,  Berufsberatung)  nutz- 
bar zu  machen. 

Die  Testmethode  ist  unentbehrlich,  um  exakte  massenstatistische  Ergebnisse 
zu  erhalten  und  um  eine  größere  Anzahl  von  Individuen  in  bezug  auf  ihr 
geistiges  Niveau  exakt  zu  prüfen  und  zu  vergleichen.  Die  massenstatistischen 
Untersuchungen  dienen  in  erster  Linie  theoretischen  Interessen,  indem  sie  uns 
Einblicke  in  Entwicklung  und  Gruppendifferenzierung  der  Begabung  (nach 
Schulstufen,  Geschlecht  usw.)  gestatten;  ja  sie  können  auch  zur  Aufklärung 
von  Problemen  der  allgemeinen  Psychologie  (insbes.  der  Denkpsychologie) 
beitragen.  Zugleich  aber  bilden  solche  Massenstatistiken  die  notwendige  Vor- 
arbeit für  die  individualpsychologische  Prüfung  und  Auslese;  denn  sie  liefern  ja 
erst  die  Eichungsmaßstäbe  für  die  Methoden,  die  wir  der  Beurteilung  der 
Einzelindividuen  und  der  Entscheidung  über  ihre  Auslese  zugrunde  legen  dürfen. 
Die  bisherigen  Testmethoden  zur  Intelligenzprüfung  wurden  von  uns  einer- 
seits gesammelt,  andererseits  erweitert.  Angesichts  der  großen  Buntscheckig- 
keit und  teilweise  schweren  Zugänglichkeit  der  vielen  für  Intelligenzprüfungen 
vorgeschlagenen  Methoden  schien  es  uns  zunächst  für  unsere  eigene  Arbeit 
wünschenswert,  sie  alle  in  übersichtlicher  Ordnung  beisammen  zu  haben,  zum 
mindesten  soweit  sie  für  die  Prüfung  Jugendlicher  bestimmt  waren.  Diese 
Sammelarbeit  übernahm  in  dankenswerter  Weise  Herr  Lehrer  Wiegmann. 
Da  aber  auch  anderen  Kreisen,  die  sich  mit  Intelligenzprüfungen  beschäftigen, 
eine  solche  Übersicht  willkommen  sein  muß,  so  wurde  nunmehr  diese  Sammlung 
auch  zur  Veröffentlichung  bestimmt  und  im  entsprechenden  Sinne  von  Herrn 
Wiegmann  unter  meiner  ständigen  Beratung  bearbeitet. 

Daneben  ging  die  Ausarbeitung  neuer  Methoden  oder  die  Umgestaltung 
älterer  einher,  wobei  uns  folgende  Gesichtspunkte  leiteten.  Bei  früheren  Arbeiten 
auf  dem  Gebiete  der  Intelligenzprüfung  stand  im  Vordergrund  des  Interesses 
die  Feststellung  intellektueller  Schwäche  auf  früheren  Stufen  der  Kindheit; 
'deshalb  waren  die  Tests  für  niedere  Entwicklungsstufen  der  Intelligenz  be- 
sonders gründlich  ausgearbeitet  und  durchgeprobt  worden  (es  sei  nur  an  die 
Methodik  Binet-Simon-Bobertag  erinnert),  während  die  Aufgaben,  die 
eine  höhere  Denkbetätigung  verlangten,  stark  in  den  Hintergrund  traten.  Eine 
Beseitigung  dieses  Mangels  ist  nun  umso  nötiger,  als  die  neueren  praktischen 
Bedürfnisse  immer  mehr  neben  der  Erkenntnis  der  frühkindlichen  und  zurück- 
gebhebenen  Intelligenzen  auch  die  Begabungsdiagnose  der  höheren 
Jugendjahre  und  der  besonders  Befähigten  verlangen.  Zugleich  bieten 
solche  höhere  Intelligenztests  dem  Theoretiker  viel  interessantere  denk- 
psychologische Probleme  als  die  elementaren  Tests, 

Nun  waren  bereits  während  meiner  Bresiauer  Tätigkeit  im  dortigen  Seminar 
derartige  Untersuchungen  in  Angriff  genommen  worden,  die  nun  in  Hamburg 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  281 

weiter  geführt  und  ausgebaut  werden  konnten;  dies  gilt  besonders  von  dem 
Minkus 'sehen  Teste  der  Bindewortergänzung  und  von  den  Bilderbogentests. 
Als  neue  Gruppe  von  Tests  kamen  die  Ordnungs-  und  Kritiktests  in  Hamburg 
hinzu;  von  schon  bekannten  Tests  wurden  die  Definitionen,  die  Dreiwort- 
methode,  die  Vergleichung,  der  Analogietest  für  unsere  besonderen  Zwecke 
umgebildet.  — 

Die  praktischen  Aufgaben  unserer  Arbeit  erstreckten  sich  einerseits  auf 
berufspsychologische  Untersuchungen,  deren  Methoden  und  Ergebnisse  an 
anderer  Stelle  veröffentlicht  werden^),  andererseits  auf  Ausleseprüfungen, 
durch  welche  aus  einer  größeren  Anzahl  von  Kindern  oder  Jugendlichen  die 
für  bestimmte  Schulformen  besonders  Geeigneten  herausgefunden  werden 
sollten.  Das  besondere  Interesse,  das  der  Schulrat  für  das  Volksschulwesen, 
Professor  Umlauf,  der  pädagogischen  Psychologie  entgegenbringt,  machte  es 
möglich,  hier  den  praktischen  Wert  psychologischer  Fähigkeitsprüfungen  in 
größerem  Maßstabe  zn  erproben.  Es  handelte  sich  einerseits  um  die  Auswahl 
von  etwa  tausend  etwa  10  jährigen  Kindern  für  einen  neuen,  höheren  Zug 
der  Volksschule,  andererseits  um  die  Aufnahme  junger  Mädchen  von  14—16 
Jahren  in  ein  Lehrerinnenseminar,  bei  dem  die  Anmeldungen  stets  um  ein 
Vielfaches  die  Zahl  der  Aufzunehmenden  übertrafen.  Es  ist  zu  vermuten, 
daß  derartige  Auslesen  auch  in  Zukunft  mit  psychologischer  Unterstützung 
vorzunehmen  sein  werden,  auch  wenn  durch  die  veränderten  Verhältnisse 
die  Schulorganisation  ein  neues  Gepräge  erhalten  wird.  Ja,  es  ist  hier  sogar 
eine  noch  immer  steigende  Beteiligung  der  Psychologie  zu  erwarten;  denn 
der  Gedanke  der  Einheitsschule,  der  sich  jetzt  durchsetzen  wird,  hat  ja  zu 
seinem  notwendigen  Korrelat  die  Idee  der  Differenzierung  nach  Be- 
gabungsarten und  -graden.  Deshalb  verlangt  mit  Recht  eine  der  Thesen, 
welche  im  Hamburger  Lehrerrat  zurzeit  über  die  künftige  Gestaltung  der 
Einheitsschule  aufgestellt  werden:  „Um  jedes  Kind  seiner  Art  gemäß  zu  be- 
handeln, zu  beraten  und  zu  beschulen,  muß  eine  Erkenntnis  seiner  Eigenart 
nach  Neigungen  und  Interessen,  Charakter  und  Gemütseigenschaften,  Graden 
und  Arten  der  Befähigung  angestrebt  werden.  Hierzu  sind  alle  verfüg- 
baren Mittel  der  praktischen  und  wissenschaftlichen  Jugend- 
Uunde  heranzuziehen." 

Diese  Aufgabe  stellt  uns  Psychologen  nun  aber  vor  eine  Verantwortung, 
die  in  ihrer  ganzen  Wucht  gewürdigt  werden  muß.  Unsere  Methoden  werden 
diesen  neuartigen  Anforderungen  nicht  sofort  angepaßt  sein,  sondern  nur  all- 
mählich immer  besser   gerecht  werden.     Darum  scheint  mir  zweierlei  nötig. 

Erstens:  der  Psychologe  darf  nicht  allein  diese  Verantwortung  auf  sich  nehmen, 
sondern  muß  ein  systematisches  Zusammenarbeiten  mit  dem  Pädagogen  erstreben 
Dies  ist  bei  den  ersten  Veranstaltungen  dieser  Ait  (in  Berhn)  noch  nicht  ge- 
nügend geschehen;  in  Hamburg  wurde  von  vornherein  in  diesem  Sinne  ge- 
handelt.   Bei  den  10  jährigen  fand  diese  endgültige  Auslese  in  einer  aus  Päda- 


*(  In  Zeitschr.  f.  angew.  Psych,  und  in  den,  als  Sonderdrucke  herausgegebenen  „Schriften  zur 
Psychologie  der  Berufseignung  und  des  Wirtschaftslebens^' :  Lpzg.  Barth.  Folgende  Hefte  dieser 
..Schriften"  enthalten  Arbeiten  aus  dem  Hamburger  Institut :  Heft  2:  W.Stern,  Über  eine  psychol. 
Eignungsprüfung  für  Straßenbahnfahrerinnen.  1908  —  Heft  4:  W.  Heinitz,  Vorstudien  über 
die  psychol.  Arbeitsbedingungen  des  Maschinenschreibens.  1918.  —  In  Heft  8:  W.  Benary, 
Kurzer  Bericht  über  Arbeiten  zu  Eignungsprüfungen  für  Fliegerbeobachter.   1919. 


282  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


gogen  und  Psychologen  zusammengesetzten  Kommission  statt,  in  welcher  für 
jeden  vorgeschlagenen  Schüler  Schulleistung,  Beobachtungsbogen  und  etwaige 
besondere  Empfehlung  des  Lehrers  mit  dem  Ergebnis  einer  Testprüfung  zu 
einem  Gesamturteil  kombiniert  wurden.  Bei  den  Prüfhngen  für  das  Lehrerinnen- 
seminar wurde  die  übliche  pädagogische  Bildungs-  und  Kenntnisprüfung  nicht 
ersetzt,  sondern  ergänzt"  durch  eine  psychologische  Fähigkeitsprüfung.  Wir 
dürfen  es  uns  nicht  verhehlen,  daß  in  weiten  Kreisen  der  praktischen  Pädagogen 
ein  Mißtrauen  gegen  die  Beteiligung  der  Psychologie  an  der  Begabungsauslese 
besteht;  um  so  mehr  müssen  alle  Übergriffe  vermieden  werden,  welche  das 
Mißtrauen  gerechtfertigt  erscheinen  lassen  können. 

Zweitens :  die  ersten  Veranstaltungen  dieser  Art  sind  berufen,  wegweisend 
zu  sein ;  daher  müssen  sie  in  vollster  wissenschaftlicher  Strenge  mit  genauer 
Angabe  der  Methodik,  mit  objektiver  Berichterstattung  über  gut  Gelungenes 
und  weniger  Gelungenes  der  Öffentlichkeit  vorgelegt  werden ;  denn  nur  so 
können  sie  für  künftige  Veranstaltungen  ähnlicher  Art  Nutzen  stiften.  Eine 
derartige  Darstellung  hatte  noch  gefehlt;  denn  die  beiden  Veröffentlichungen, 
die  über  psychologische  Ausleseprüfungen  in  BerUn  und  Hamburg  bisher  vor- 
lagen, hatten  den  Charakter  einer  mehr  populären  Darstellung  i)  oder  einer 
vorläufigen  Mitteilung  ^)  ""'^  3).  Nun  aber  wird  für  Hamburg  das  Fehlende 
nachgeholt.  — 

Unter  dem  gemeinsamen  Titel:  „Hamburger  Arbeiten  zur  Begabungs- 
forschung" sollen  von  jetzt  an  die  wissenschaftlichen  Veröffentlichungen 
über  die  oben  besprochenen  Tätigkeitszweige  unseres  Instituts  zusammengefaßt 
erscheinen.  Es  werden  zunächst  in  schneller  Folge  die  Nummern  1,  2  und  3 
vorgelegt;  weitere  Nummern  sollen  später  zwanglos  ausgegeben  werden. 
In  engem  Zusammenhang  mit  diesen  Spezialarbeiten  wird  eine  Zusammen- 
fassung des  gegenwärtigen  Standes  unseres  Problems  ^—  hoffentlich  ebenfalls 
noch  im  Jahre  1919  —  veröffentlicht  werden,  nämlich  die  dritte,  völlig  um- 
gearbeitete Auflage  meines  Buches:  „Die  Intelhgenzprüfung  an  Kindern  und 
Jugendlichen". 

Die  Einteilung  der  drei  Nummern  der  „Hamburger  Arbeiten"  ist  die  folgende : 
Nummer  I  (Beiheft  18  der  Zeitschr.  f.  angew.  Psych.)  enthält  den  ausführlichen 
Bericht  über  die  Ostern  1918  veranstaltete  Begabungsauslese  mittels  Be- 
obachtungsbogens und  Testprüfungen;  anhangsweise  ist  eine  vorläufige  Mit- 
teilung über  die  Begabungsauslese  Ostern  1919  angefügt.  Der  Bericht  stammt 
aus  den  Federn  verschiedener  Verfasser;  herausgegeben  ist  er  von  R.  Peter 
und  W.  Stern.4) 


')  Moede-Piorkowski-Wolff.  Die  Berliner  Begabtenschulen,  ihre  Organisation  und  die  ex- 
perimentelle Methode  der  Schülerauswahl.    Langensalza,  Beyer  &  Söhne,  1918. 

^)  Das  psychol.-pädag.  Verfahren  der  Begabtenauslese,  Eine  Sammlung  von  Beiträgen,  hrsg. 
von  W  i  lliam  Stern.  Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  1918.  (Sonderausgabe  von  Heft  3—5  von  Zeitschr. 
f.  päd.  Psych.   18). 

3)  Über  eine  ähnliche  kleinere  Veranstaltung  in  Berlin  hat  ein  methodischer  Bericht  von 
0.  Lipmann  begonnen,  der  aber  noch  nicht  bis  zur  Darstellung  der  Aufnahmeprüfungen  selbst 
gediehen  ist:  InteUigenzmessungen  zum  Problem  der  schulischen  Differenzierung.  Zeitschr.  f.  angew. 
Psych.  13.  351  bis  391.     1918. 

*)  Der  genaue  Titel  lautet:  Die  Auslese  befähigter  Volksschüler  in  Hamburg.  Bericht 
über  das  psychol.  Verfahren.  160  S.  Die  einzelnen  Abschnitte  behandeha:  I.  Überblick  über 
das  Gesamtverfahren  (Peter  und  Stern).     II.  Der  Beobachtungsbogen  (Martha  Muchow).      lU.  Das 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  283 

Nummer  11  (Beiheft  19)  faßt  unter  dem  Titel:  „Untersuchungen  über 
die  Intelligenz  von  Kindern  und  Jugendliehen**  eine  Reihe  von 
Einzelstudien  zusammen.  Die  Untersuchungen  beziehen  sich  auf  die  verschieden- 
sten Altersstufen  von  der  frühen  Kindheit  bis  zur  Fortbildungsschule  hinauf. 
An  Kindergartenkindem  wurden  von  dem  Ehepaar  Schober  die  bekannte 
Heilbronner-Methode  in  verbesserter  Form  angewandt.  Eine  noch  aus  Breslau 
stammende  Massenuntersuchung  meines  verstorbenen  Schülers  Minkus,  der 
sich  auf  Volksschüler  und  Fortbildungsschüler  erstreckte,  \\ird  von  mir  geschildert 
und  bezüglich  des  einen  Tests  der  Bindewortergänzung  ausgearbeitet;  diese 
Untersuchung  hat  auch  einen  besonderen  denkpsychologischen  Abschnitt. 
Über  die  psychologischen  Methoden  bei  der  Aufnahmeprüfung  zum  Lehrerinnen- 
seminar, die  in  3  aufeinander  folgenden  Jahren  angewandt  wurden,  gibt 
Penkert  Auskunft.  Das  (nicht-experimentelle)  Verfahren  derIntelUgenzschätzung 
wird  endlich  von  Roloff  auf  Grund  eines  umfassenden  Materials  in  seinem 
methodischen  Wert  und  seiner  Brauchbarkeit  ge^s'ürdigt. 

Nummer  IE  (Beiheft  20)  enthält  die  „Methodensammlung  zur  Intelligenz- 
prüfung von  Kindern  und  Jugendlichen",  bearbeitet  von  0.  Wiegmann 
und  W.  Stern." 

Das  Institut  für  experimentelle  Pädagogik  und  Psychologie  im  Leipziger 
Lehrerverein  beginnt,  nachdem  der  Krieg  seine  Tätigkeit,  wenn  auch  nicht 
unterbrochen,  so  doch  sehr  eingeengt  hatte,  ein  überaus  reges  Arbeitsleben 
zu  entfalten.  Neben  den  fortzuführenden  und  den  neu  in  Angriff  genommenen 
experimentellen  Untersuchungen  sind  vor  allem  einführende  Kurse  im 
Gange.  So  leitet  der  Assistent  Dr.  Handrick  einen  solchen  über  das  Thema :  Die 
Grundbegriffe  der  Psychologie ;  so  führt  in  einem  anderen  der  wissenschaft- 
liche Leiter  des  Instituts,  Rudolf  Schulze,  gemeinsam  mit  Handrick  und  Schlager 
die  Anfänger  in  die  Handhabung  der  \^^chtigsten  Apparate  ein;  so  wird  femer 
eine  Übung  zur  Theorie  der  Begabtenforschung  (mit  besonderer  Berücksich- 
tigung der  V^errechnungsverfahren)  abgehalten.  Weiter  beschäftigt  sich  dann  in 
kleineren  Arbeitsgemeinschaften  eine  Reihe  von  Ausschüssen  mit  \sichtigen 
Fragen  aus  den  Anwendungsgebieten  der  experimentellen  Psychologie.  Joh. 
Schlag  steht  einem  Ausschuß  vor,  der  für  die  Untersuchung  der  Begabten 
eine  Vervollständigung  der  Testreihen  für  die  Vierzehnjährigen  und  die  Auf- 
stellung von  Testen  zur  Auswahl  der  Zehnjährigen  sich  zur  Aufgabe  gestellt 
hat.  In  anderem  Kreise  wieder  \^ird  die  Frage  behandelt,  wie  die  Erstschüler 
(Elementaristen)  der  Einheitsschule  auf  Grund  geleiteter  Beobachtungen  und 
experimenteller  Ermittlungen  auf  verschiedene  Klassenzüge  verteilt  werden 
können.  Ferner  hat  sich,  einen  Auftrag  des  Deutschen  Lehrervereins  erfül- 
lend, ein  Ausschuß  unter  dem  Vorsitz  von  Max  Döring  gebildet,  der  das 
Thema  „Kinder  als  Zeugen  vor  Gericht",  eingehend  zu  bearbeiten  hat.  Neben 
den  Kursen  und  Ausschußsitzungen,  die  alle  wöchentlich  mindestens  einmal 
abgehalten  werden,  laufen  wie  früher  so  auch  femer  Vortragsfolgen  her. 
Den  Beginn  z.  B.  machte  Rudolf  Schulze  mit  einer  Reihe  über  „die  Wirkung 
des  Antriebs  auf  die  fortlaufende  köi-perliche  und  geistige  Arbeit  und  auf 

Ordnen  von  BegriHsreihen  (Werner).  IV.  Definition  von  Begriffen  (Roloff).  V.  Ergänzung  von 
Textlücken  (Wiegmann).  VI.  Dreiwortmethode  iBobsrtag).  VII.  Fabeltext  (Lenore  Heitschl. 
VllL  Prüfmig  der  Kritikfähigkeit  (Meins).  IX.  Bildl)eschreibung  (Penkert  u.  Schol)er).  X.  Prüfung 
des  sinnvollen  Behaltens  (Martha  Muchow).     XI.  Ausleseprüfung  1919. 


284  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


geistige  Einzelleistungen."  Regelmäßig  wird  schließlich  auch  die  Bericht- 
erstattung über  die  Bücher-  und  Zeitschriftenliteratur  in  der  Weise  fortgeführt, 
daß  das  weite  Gebiet  der  Psychologie  in  kleinere  Teile  aufgegliedert  worden 
ist,  von  denen  jeder  seinen  ständigen  Beobachter  hat.  Schließlich  sei  be- 
richtet, daß  sich  das  Institut  mit  Einführungskursen  und  Vortragsreihen  auch 
an  dem  Akademischen  Fortbildungskursus,  den  der  Sächsische  Lehrer- 
verein vom  6. — 21.  Oktober  d.  J.  in  Leipzig  abhält,  tätigen  Anteil  nehmen 
wird.  —  Das  Institut  darf  sich  dank  dieser  seiner  regen  Tätigkeit  einer  stei- 
genden Beachtung  erfreuen.  Seine  Mitgliederzahl  ist  durch  einen  schnellen 
Zuwachs  in  jüngster  Zeit  auf  weit  über  300  gestiegen,  und  die  sächsische 
Staatsregierung  läßt  künftig,  nachdem  der  Kultusminister  mit  seinen  Räten 
kürzlich  persönlich  in  die  Arbeit  des  Instituts  Einblick  genommen  hat,  jährlich 
die  Summe  von  20000  M  dem  Institut  zufließen.  Auch  darin,  daß  der  Leiter 
des  Instituts  gemeinsam  mit  Paul  Schlager  zu  einer  Vortragsreise  nach 
Schweden  eingeladen  ist,  auf  der  sie  u.  a.  vor  Professoren  und  Studenten 
der  Universität  Upsala  über  experimentelle  Psychologie  und  Pädagogik 
sprechen  und  Versuche  vorführen  sollen,  darf  eine  Anerkennung  erblickt 
werden.  Die  äußeren  Erfolge  werden  es  ermöglichen,  das  Institut  in  naher 
Zeit  zu  einer  pädagogisch -psychologischen  Forschungsstätte  größeren  Stiles 
auszubauen. 

Ein  wirtschaftspsychologisches  Laboratorium  ist  an  der  Handelshoch- 
schule in  Mannheim  unter  fachmännischer  Leitung  eingerichtet  worden. 
Es  gliedert  sich  dem  betriebswissenschaftlichen  Institute  ein  und  arbeitet  dort 
besonders  in  Gemeinschaft  mit  den  Prüf-  und  Untersuchungsstellen  für  Or- 
ganisationswesen und  Werbewirkung.  Ausgestattet  mit  dem  erforderlichen 
wissenschafthchen  Rüstzeug,  stellt  es  sich  vornehmlich  die  folgenden  Aufgaben: 

1.  Die  Erforschung  der  Arbeits-  und  Berufseignung  und  die  Ausbildung 
und  Durchführung  von  Eignungsprüfungen. 

2.  pie  Erforschung  des  Lehrens,  Lernens  und  Einübens  wirtschaftlicher 
Arbeitstätigkeiten  und  die  Ausbildung  zweckmäßiger  Lehr-  und  Lern- 
methoden. 

3.  Die  Erforschung  der  Arbeitsgliederung  und  die  Ausbildung  zweckmäßiger 
Formen  der  Arbeitsteilung  und  Arbeitszusammenfassung. 

4.  Die  Erforschung  der  Arbeitstätigkeit  und  die  Ausbildung  zweckmäßiger 
Arbeitsverfahren . 

5.  Die  Erforschung  der  Angepaßtheit  von  Arbeitsmittel  und  Arbeitsmilieu 
und  die  zweckmäßige  Anpassung  an  den  Arbeiter. 

6.  Die  Erforschung  der  Arbeitsumgebungseinflüsse  und  ihre  Ausnützung 
im  Interesse  des  Wirtschaftslebens. 

7.  Die  Erforschung  der  Vorgänge  des  Ineinander-  und  Zusammenarbeitens 
und  ihrer  zweckmäßigen  Gestaltung. 

8.  Die  Erforschung  der  psychohygienischen  Verhältnisse  der  Arbeit  und 
der  psychohygienischen  Gestaltung  der  Arbeit. 

9.  Die  Erforschung  der  psychologischen  Ursachen  der  Betriebsunfälle  und 
der  psychologisch  richtigen  Durchbildung  der  Unfallverhütung. 

10.  Die  Erforschung  der  allgemeinen  Gesetze  der  Werbewirkung,  ihrer  prak- 
tischen Verwertung  und  die  Prüfung  von  Werbemitteln  und  -maßnahmen 
auf  ihre  Wirkung. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  285 

Die  psychologische  Gesellschaft  Essen  1919,  die  unter  dem  1.  Vorsitzenden 
Oberarzt  Dr.  Kleefisch  gegründet  worden  ist,  hat  sich  zur  Aufgabe  gestellt, 
das  Gebiet  der  Seelenkunde  nach  der  theoretischen  wie  praktischen  Seite 
hin  zu  pflegen.  Besonders  will  sie  den  psychologischen  Fragen  aus  dem  Wirt- 
schafts- und  Kulturleben  nachgehen,  wie  sie  heute  den  Lehrer,  den  Arzt,  den 
Anwalt,  den  Geistlichen,  den  Künstler,  den  Verkäufer,  den  Politiker,  den  Volks- 
wirtschaftler beschäftigen.  Diese  Zwecke  sollen  erreicht  werden  1.  durch  Ver- 
anstaltung von  Vorträgen  und  Aussprachen;  2.  durch  praktische  Arbeit  in 
Arbeitsgemeinschaften  (gegebenenfalls  nach  Sondergebieten) ;  3.  durch  Bekannt- 
gabe und  Besprechung  der  psychologischen  Literatur;  4.  durch  allgemein  ver- 
ständhche  Volksvorträge  über  psychologische  Gegenwartsfragen  und  5.  durch 
Ausschreiben  psychologischer  Preisaufgaben.  An  Verhandlungigegenständen 
für  die  Sitzungen  sind  u.  a.  zunächst  vorgesehen :  Schwer  erziehbare  Kinder  — 
Psychologische  Grundfragen  der  modernen  Kunstwissenschaft  —  Lernen  und 
Behalten  —  Zur  Psychologie  des  Willens  —  Linkshändigkeit  —  Über  das 
Gefühl  als  Faktor  in  Unterricht  und  Erziehung  —  Zur  Kinderpsychologie  — 
Zur  Völkerpsychologie  —  Über  die  Begabung  der  Frau  —  Methoden  der 
Begabungsprüfung  —  Psychologie  im  Geschäftsleben  —  Psychologie  der 
Demagogik  —  Zur  Psychologie  der  Arbeit. 

Ein  psychologisch-pädagogisches  Preisausschreiben,  das  im  Jahre  1917  vom 
Verein  zur  Förderung  des  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Unter- 
richts ausgegangen  war,  aber  trotz  der  verlängerten  Befristung  auf  Anfang  1919 
keine  befriedigende  Erfüllung  gefunden  hat,  wird  jetzt  erneuert.  Der  Preis 
ist  auf  500  M  erhöht  worden..  Es  hat  in  etwas  veränderter  Form  nunmehr 
den  folgenden  Wortlaut: 

Inwiefern  vermag  der  Rechenunterricht  über  die  Erwerbung 
bloßer    rechnerischer    Fertigkeit  hinaus   die    Intelligenz    der 
Schüler  auszubilden,  und  wie  ist  das  Unterrichtsverfahren  zu 
gestalten,  damit  das  Rechnen  als  besonders  geeignetes  Mittel 
für  den  Zweck  der  Begabungsprüfung  verwendbar  wird? 
Von   den  Bearbeitern  wird  erwartet,  daß  sie  Kenntnis  von  den  Methoden 
und  den  Ergebnissen  der  neueren  Begabungsforschung  haben.  Die  Bewerbungs- 
arbeiten müssen  in  gut  lesbarer  Schrift  geschrieben  sein  und  sind  bis  zum 
31. März  1920  an  den  Vorsitzenden  des  Vereins  (zurzeit  Geh.  Studienrat  Dr.Poske, 
Berhn-Dahlem,  Friedbergstraße  5)  einzusenden.  Sie  müssen  mit  einem  Kennwort 
versehen  sein;  in  einem  besonderen  Umschlag,  der  mit  demselben  Kennwort 
bezeichnet  ist,  sind  Name  und  Anschrift  des  Verfassers  anzugeben.    Das  Ver- 
öffentlichungsrecht geht  mit  der  Zuweisung  des  Preises  an  den  Verein  über.. 

Nachrichten.  1.  Prof.  Dr.  Rudolf  Lehmann  an  der  Akademie  Posen  ist 
zum  ordenthchen  Honorarprofessor  für  Pädagogik  an  der  Universität  Breslau 
ernannt  worden. 

2.  An  der  Königsberger  Universität  habilitierte  sich  Dr.  med.  et  phil.  Walter 
Schwarz  für  das  Fach  der  Pädagogik. 

3.  Hermann  Lietz,  der  Begründer  der  deutschen  L^nderziehungsheime,, 
ist  im  Alter  von  51  Jahren  gestorben. 


286  Literaturbericht- 


Literaturbericht. 

E.  V.  Aster,  Prof.  an  der  Universität  München,  Einführung  in  die  Psychologie.  Samm- 
lung „Natur  und  Geisteswelt ".    2.  Aufl.    Leipzig  1919.    Teubner.    142  S.    2,00  M. 

Wir  wiederholen  bei  diesem  unveränderten  Abdruck,  was  seinerzeit  in  der  Anzeige  der  ersten 
Auflage  über  Asters  gedrängte  psychologische  Gesamtdarstellung  kennzeichnend  gesagt  wurde. 
(XVII.  Jahrg.  S.  43.)  Es  tritt  das  Bändchen  nicht  als  ein  Auszug  aus  umfassenderen  Werken 
auf,  sondern  bietet  das  Bild  eines  Seelenlebens,  wie  es  ein  philosophisch  eingestellter  Gelehrter, 
die  herrschende  Betrachtungsweise  und  die  neuen  Erkenntnisse  seiner  Zeit  festhaltend,  in 
eigenster  Erfassung  und  Verarbeitung  schaut.  In  der  Darstellungsart  ist  dabei  ein  deutlich 
hervortretender  didaktischer  Zug  bemerkenswert.  Er  wird  sichtbar  besonders  in  der  Art,  wie 
beim  Fortsclireiten  im  System  die  Problemstellungen  mit  besonderer  Sorgfalt  herausgearbeitet  und 
unterstrichen  werden,  wie  sich  die  Darlegungen,  die  ohne  allzu  weites  Entgegenkommen  sich  doch 
auf  ein  leichteres  Verstehen  einstellen,  reichlich  mit  meist  eigengewählten  und  glücklichen  Bei- 
spielen durchsetzen,  wie  ferner  in  die  Fachsprache  Schritt  für  Schritt  geschickt  hineingeleitet 
wird.  Keineswegs  erstrebt  Aster  aber  mit  seiner  Einführung  eine  flache  Gemeinverständlichkeit, 
die  keine  ernsteren  Anforderungen  stellt.  Er  verlangt  in  seiner  wissenschaftlichen  Haltung  viel- 
mehr eine  denkende  Entgegennahme  des  vorgetragenen  Stoffes.  Inhaltlich  tritt  die  experimen- 
telle Richtung  weiter  zurück,  als  es  ihre  Bedeutung  zuläßt.  Auch  eine  reichlichere  Einfügung 
differential-  und  kinderpsychologischer  Lehren,  wie  es  z.  B.  im  Abschnitte  über  die  Vorstellungs- 
typen geschehen  ist,  würde  dem  Ganzen  dienlich  sein.  Daß  dagegen  die  Sinnespsychologie  sich 
nicht  wie  üblich  zu  Ungunsten  einer  ausführlichen  Behandlung  der  höheren  seelischen  Leistungen 
vordrängt,  gereicht  dem.  gutgeschlossenen,  einheitlichen  Gesamtbilde  zum  Vorteil. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  Hans  Rupp,  Privatdozent  und  erster  Assistent  am  Psychologischen  Institut  der  Universität 
Berlin,  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  und  Jugend- 
psychologie.    Leipzig  1919.     Quelle  &  Meyer.     244  S.     10,00  M. 

Der  handliche  und  vom  Verlag  auf  das  beste  ausgestattete  Band  ist  ein  wenig  veränderter 
Abdruck  der  Reihe  von  Aufsätzen,  die  Rupp  im  15.  bis  19.  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  ver- 
öffentlicht hat.  Es  wird  eine  solche  Vereinigung  in  geeigneter  Buchform  von  vielen  Seiten  sehr 
begrüßt  werden.  Zunächst  soll  die  Schrift  ein  Führer  durch  die  psychologische  Abteilung  der 
^Deutschen  Unterrichtsausstellung"  in  Berlin  sein.  Aber  sie  stellt  sich  nicht  dar  als  eine  trockene 
Aufzählung  von  Schaustücken.  Denn  in  engster  Verknüpfung  mit  der  bildlichen  Vorführung 
und  Beschreibung  von  Apparaten,  die  übrigens  über  den  Bestand  der  Unterrichtsausstellung  weit 
hinausgehen,  gibt  sie  eine  systematische  Darlegung  all  der  psychologisch -pä'dagogischen  Pro- 
bleme, deren  Untersuchung  an  die  vorgezeigten  Werkzeuge  gebunden  ist.  So  wird  das  Buch  über 
jenen  ersten  Zweck  hinaus  eine  beste  Einführung  in  die  experimentell  betriebene  Pädagogik 
und  Jugendkunde.  Es  muß  ebenso  gebraucht  werden  können  in  den  einführenden  Übungen  an 
Hochschulen  und  an  Lehrerbildungsanstalten,  wie  in  den  mancherlei  Arbeitsstätten  und  Prüfungs- 
ämtern, in  denen  beute  das  psychologische  Experiment  für  Berufseignung  usf.  in  so  weitgehendem 
Maße  Anwendung  findet.  Zu  jedem  Lehrbuch  der  experimentellen  Psychologie  und  Pädagogik 
empfiehlt  es  sich  zudem  als  trefflicher  Begleiter. 

Nicht  unerwälint  bleibe,  daß  Rupp  in  seinem  Handbuch  eine  Reihe  von  Fragen  erstmals 
behandelt  und  eine  Anzahl  von  neuen,  eigen  ersonnenen  Apparaten  und  Versuchsanordnungen 
vorführt.  Es  werden  dadurch  besonders  die  Gebiete  des  Farbensinnes,  des  Augenmaßes  und 
der  motorischen  Fertigkeiten,  die  eine  große  Anzahl  bedeutsamer  pädagogischer  Probleme  in 
sich  schließen,  sehr  wertvoll. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  R.  Pauli,    Privatdozent    an    der  Universität  München,    Psychologisches    Praktikum. 

Leitfaden  für  experimentell-psychologische  Übungen.  Mit  90  Abb.  im  Text  u.  l  Tafel.  Jena  1919. 

Gustav  Fischer.     223  S.     11,00  M. 

Die  heute  in  aller  Welt  an  der  experimentell-psychologischen  Forschung  arbeitenden  Institute 
haben  von  Deutschland  ihren  Ausgang  genommen.  Aus  bescheidenen  Anfängen  sind  sie  in 
steter  Pflege  zu  wissenschaftlichen  Arbeitsstätten  geworden,  die  in  den  Aufgaben,  den  Einrich- 
tungen, der  Exaktheit  und  Mannigfaltigkeit  ihrer  Methoden  und  den  Formen  ihrer  mit  der 
Forschung  verbundenen  Lehrtätigkeit  es  den  naturwissenschaftlichen  Laboratorien  nachtun,  wo- 
bei freilich  das  Ausland  in   vielen  Stücken  sein  deutsches  Vorbild  überflügeln  konnte.     Eine 


Literaturbericht  287 


Aufgabe  der  Institute  nun,  die  leicht  zu  gering  eingeschätzt  wird,  ist  die  praktische  Einführung 
in  die  Methoden  und  die  Technik  der  psychologischen  Untersuchung.  Daß  man  solche  Übungs- 
kurse zumeist  nur  mit  zwei  Wochenstunden  ansetzt  und  ihre  Leitung  mitunter  in  die  Hände  des 
jüngsten  Assistenten  legt,  zeugt  nicht  davon,  daß  ihre  Bedeutung  und  die  Schwierigkeit  ihrer 
Gestaltung  allenthalben  —  so  zu  meiner  Studienzeit  auch  im  Wundtschen  Institut  —  voll  gewürdigt 
wird.  Jedenfalls  erfordert  das  psychologische  Praktikum  von  seinem  Leiter,  soll  es  seinen  Zweck 
erfüllen,  neben  der  selbstverständlichen  wissenschafthchen  Tüchtigkeit  ein  hohes  didaktisches  Ge- 
schick, und  es  darf  einigermaßen  verwundem,  daß  die  Lehrgedanken  imd  Lehrerfahrungen  aus 
den  psychologischen  Kursen  so  wenig  mitgeteilt  und  verhandelt  worden  sind  und  daß  u.  a. 
bis  heute  in  Deutschland  ein  eigens  für  die  psychologischen  Einführungsübungen  verfaßtes 
Handbuch  fehlte.  Pauli  versucht  diesen  Mangel  zu  beheben.  Die  Gesamtanlage  seines  Buches 
zeugt  von  ernstem  didaktischen  Willen.  Jedenfalls  braucht  es  den  Vergleich  mit  trefflichen 
Seitenstücken  auf  naturwissenschaftlichem  Lehrgebiete  nicht  zu  scheuen.  Es  scheint  denn  doch, 
daß  sich  die  guten  Wirkungen  der  hochschulpädagogischen  Bewegung  immer  "deutlicher  und 
ausgedehnter  spürbar  machen.  In  der  Auswahl  des  Stoffes  weiß  sich  Pauli  die  erforderliche 
Beschränkung  aufzulegen.  Aus  den  Tatsachen-  und  Fragegebieten  greift  er  nur  das  für  eine 
Einführung  durchaus  Notwendige  auf.  Dagegen  erstrebt  er,  richtig  eingestellt  auf  den  obersten 
Zweck  des  psychologischen  Praktikums  eine  gewisse  Vollständigkeit  in  den  Methoden.  Doch 
unternimmt  er  es  nicht,  unter  methodischem  Gesichtspunkt  zu  gliedern,  sondern  folgt  im  Aufbau 
der  üblichen  systematischen  Abfolge  nach  psychischen  Funktionen.  Vordringlich  in  der  Be- 
handlung ist  selbstverständlich  die  Herausarbeitung  der  Fragestellungen  und  die  Beschreibung  der 
Apparate  und  Versuchsanordnungen  sowie  die  Anweisung  zum  praktischen  Gebrauch.  Der  Kenner 
des  Gebietes  kann  sich  dabei  zwischen  dem  Bekannten  an  manchem  wertvollen  Fund  von  Ab- 
geändertem und  Neuem  erfreuen.  Sehr  zu  begrüßen  ist  die  Beigabe  von  einer  großen  Anzahl 
von  Vordrucken,  die  der  Festhaltung,  Ordnung  und  Au.swertung  der  Versuchsergebnisse  «dienen 
sollen.  Ihre  Einrichtung  zeigt,  wie  auch  sonst  die  gesamte  Gestaltung  der  Schrift,  daß  das 
Buch  aus  der  eigengeformten  imd  mit  offenbarer  didaktischer  Neigimg  geübten  Lehrpraxis 
erwachsen  ist.  Welche  Regeln  in  ihr  von  Pauli  befolgt  werden,  gibt  er  u.  a.  in  einem  Ab- 
schnitte der  Einleitung  kurz  an.  Seine  Anregungen  werden  sicher  für  die  Mitglieder  und  Leiter 
der  psychologischen  Praktika  mit  viel  Gewinn  entgegengenommen  werden.  Es  sollte  auch 
der  psychologische  Unterricht  in  den  Lehrerbildungsanstalten  an  Paulis  Praktikum  nicht 
vorübergehen.  Noch  sei  betont,  daß  sich  Pauli  befleißigt  hat,  soweit  es  die  strengwissen- 
schaftliche Haltung  zuließ,  in  fremdwörterfreier  und  sclilichter  und  damit  schöner  Sprache  zu 
schreiben. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Dr.  N.  Braunshausen,  Einführung  in  die  experimentelle  Psychologie.  Sammlimg 
„Natur  und  Geisleswelt".     2.  veränderte  Aufl.     Leipzig  1919.     Teubner.     117  S.     2,00  M. 

Das  Bändchen  hat  sich  bewährt  als  zuverlässiger  Führer,  der  in  Kürze  eine  Übersicht 
über  die  wichtigsten  Verfahren  und  Ergebnisse  der  experimentell  betriebenen  psychologischen 
Forschung  gibt.  Es  reicht  aus  für  einen  ersten  Einblick,'  den  der  gebildete  Laie  in  dem  Gebiete 
sucht,  das  heute  bei  seinen  weitausgreifen^en  praktischen  Anwendungen  auch  weiteren  Kreisen 
nicht  mehr  völlig  verschlossen  bleiben  darf.  Vielleicht,  daß  es  sich  auch  als  Begleiter  der  seelen- 
kundlichen  Schullehrbücher,  die  überwiegend  der  Bedeutung  der  experimentellen  Psychologie 
noch  nicht  gerecht  werden,  anbieten  darf.  Dem  Ausbau,  dessen  sich  die  psychologischen  ünter- 
suchungsweisen  in  den  letzten  Jahren  erfreuen  konnten,  ist  Braunshausen  in  der  neuen  Ausgabe 
andeutend  nachgegangen,  wenn  auch  nicht  in  dem  uns  notwendig  erscheinenden  Maße.  So 
hätten  insbesondere  in  dem  Abschnitt  .InteUigenzprüfungen"  (S.  87)  bei  Ausscheidung  älterer 
überholter  Methoden  die  jüngeren  Fortschritte  in  der  Begabungsuntersuchung  stärker  berück- 
sichtigt werden  müssen.  Als  dankenswerter  Zuwachs  ist  ein  brauchbares  Verzeichnis  weiter- 
führender Schriften  zu  nennen,  das  nicht  bloß  Titel  anführt,  sondern  auch  kurze  Kennzeich- 
nungen des  Inhaltes  gibt.  Mit  Abbildungen,  die  eine  Darstellung  der  experimentellen  Psychologie 
nicht  entbehren  kann,  ist  nach  wie  vor  gespart  worden. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

W.  Peper,  Jugendpsychologie.  Für  Kl.  III  der  wissenschaftlichen  Kurse  des  Oberlyzeums. 
3,  Aufl.     Teubner,  Leipzig  1919.     126  S.     2,20  M. 

Die  neue  Auflage  dieses  I.  Teiles  aus  dem  Peperschen  Unterrichtswerke  bringt  einige  er- 
wünschte Erweiterungen.     So  berücksichtigt   sie.   sich  an  Sterns  führendes  Werk  „Zur  Psycho- 


288  Literaturbericht 


logie  der  frühen  Kindheit"  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer)  anlehnend,  mehr  als  beim  ersten  Erscheinen 
das  vorschulpflichtige  Alter,  und  so  bemüht  sie  sich  auch,  das  psychologische  Verständnis  für 
die  unerwartet  schnell  zu  praktischer  Bedeutung  gelangten  Begabungsprüfungen  anzubahnen.  — 
Pepers  Jugendpsychologie  ist  nicht  ein  bequemer  Auszug  aus  umfänglichen  Darstellungen  und  aus 
Einzeluntersuchungen  des  Gebietes,  sondern  eine  von  gutem  unierrichtswissenschaftlichen  Denken 
geleitete  schul  methodische  Bearbeitung.  Sie  mußte  sich  bei  solcher  Gestaltung  an  amtliche  Vor- 
schriften halten  und  so  Forderungen  für  Auswählen,  Zumessen  und  Anordnen  des  Stoffes  er- 
füllen, die  mir  und  vielleicht  auch  dem  Verfasser  zum  Teil  fragwürdig  erscheinen. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

A.  Rzehak,  Prof.  a.  d.  Deutschen  technischen  Hochschule  in  Brunn,  Der  gegenwärtige 
Stand  der  Wünschelrutenfrage.    Brunn  1918.    Mährischer  Gewerbeverein.    51  S    1,50  M. 

Auf  eingehende  Literaturstudien  sich  stützend,  versucht  der  Verfasser,  seinen  Gegenstand 
nach  den  verschiedensten  Seiten  hin  in  aller  Kürze  darzustellen.  Er  gibt  einen  von  weit  zurück 
bis  in  die  jüngste  Zeit  heraufführenden  geschichtlichen  Überblick,  zeigt  die  Formen  des  rätsel- 
haften Werkzeugs  und  den  verschiedenen  Gebrauch,  stellt  die  Deutungsversuche  zusammen, 
zählt  die  Anschauungen  über  die  physiologischen  Wirkungen  und  über  die  Rutenfähigkeit  auf 
und  sammelt  Stimmen  des  Für  und  Wider.  Rzehak  selbst  tritt  auf  die  Seite  derer,  die  unter 
den  sich  widerstreitenden  Erklärern  den  Rutenausschlag  als  eine  psycho  -  physiologische  Er- 
scheinung auffassen  und  glaubt  folgende  Sätze  als  vollkommen  feststehend  ansehen  zu  dürfen : 
„1.  Alle  Rutenausschläge  werden  duixh  Muskelbew^egungen  erzeugt,  die  ihrerseits  wieder  — 
sofern  sie  nicht  ganz  willkürlich  sind  —  entweder  durch  Auto.suggestion,  durch  (zum  Teil  un- 
bewußte) Sinneswahrnehmungen  oder  durch  rein  psychische  Einflüsse  hervorgerufen  werden. 
2.  Erfolge  und  Mißerfolge  der  Rutengänger  verteilen  sich  ungefähr  so  wie  Treffer  und  Nieten 
bei  den  Glücksspielen.  3.  Eine  unmittelbare  Einwirkung  unterirdischer  Wasserläufe,  Erzlager  u.  dgl. 
auf  die  Wünschelrute  ist  bisher  in  keinem  Falle  mit  Sicherheit  nachgewiesen." 

Erfahrungen,  die  ich  kürzlich  einem  Zufall  verdankte,  scheinen  den  ersten  der  Rzehakschen 
Sätze  teilweise  zu  bestätigen.  Mit  einer  Klasse  18— 20  jähriger  Schülerinnen  wohnte  ich  auf 
einer  Wanderung  den  Versuchen  eines  Rutengängers  vor  einem  Kreise  sehr  namhafter  Persön- 
lichkeiten, darunter  u.  a.  der  frühere  Kriegsminister  v.  Heeringen,  bei.  Die  jungen  Mädchen 
drängten,  ihre  „Rutenfähigkeit"  zu  erproben,  und  es  ergab  sich  dabei  eine  Streuung  von  völliger 
Erfolglosigkeit  durch  verschiedene  Grade  der  Wirkung  hindurch  bis  zu  einem  Falle  von  bo- 
ängstigend  starker  Reaktion.  Diese  Reihe  der  Schülerinnen  entspricht  einmal  der  mehr  oder 
minder  starken  Geneigtheit  der  jungen  Mädchen,  sich  mit  der  Wünschelrute  zu  versuchen  — 
den  stärksten  Ausschlag  erzielte  eine  auffällig  scheue,  sonst  alles  öffentliche  Hervortreten  ver- 
meidende Schülerin,  die  sich  zu  unserer  Überraschung  fast  leidenschaftlich  zu  dem  Versuche 
drängte  —  und  entspricht  dann  fast  genau  auch  der  Ordnung,  die  ich  auf  Grund  2 '/j jähriger 
Erfahrung  mit  der  Klasse  schon  früher  über  den  Grad  ihrer  Suggestibilität  gewonnen  hatte. 
Ich  gedenke,  an  anderer  Stelle  hierüber  ausführlicher  zu  berichten. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Moede-Piorkowski-Wolff,  Die  Berliner  Begabtenschulen,  ihre  Organisation  und 
die  experimentellen  Methoden  der  Schülerauswahl.  Mit  3  Textabbild,  u.  2  Tafeln. 
Langensalza  1918.     Beyer  &  So.     223  S.     4,80  M. 

Eine  Besprechung  dieses  Buches,  das,  wie  vorauszusehen  war,  außerordentlich  viel  Be- 
achtung gefunden  hat,  erübrigt  sich  füi-  uns,  weil  in  dieser  Zeitschrift  sein  Gegenstand  von  den 
Verfassern  Piorkowski  und  Moede  selbst  in  einer  kleinen  Aibeit  (Jahrgang  IXX.  S.  127  f.)  dar- 
gestellt worden  ist  und  weil  sich  daneben  in  der  und  jener  Abhandlung  zum  Begabtenproblem 
auch  kritische  Bemerkungen  über  die  Berliner  Versuche  finden.  Ein  abschließendes  Urteil 
kann  erst  dann  gegeben  werden,  wenn  gesicherte  Erfahrungen  darüber  vorliegen,  wie  die  experi- 
mentell vorgenommene  Berliner  Auslese  der  Begabten  sich  in  der  für  sie  eigens  eingerichteten 
Schule  bewährt  hat.  Es  möge  so  oder  so  ausfallen:  die  Drei-Verfasser-Schrift  wird  ihren  ge- 
schichtlichen Wert  behalten.  Seh. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (A.  Pries)  in  Leipzig. 


Bildsamkeit  und  Persönlichkeit. 

Von  Walther  Saupe. 

Mit  Recht  hat  Wilhehn  Windelband  wiederholt  an  bekannter  Stelle  die 
optimistischen  sowohl  wie  die  pessimistischen  „Antworten  auf  die  Frage,  ob 
die  Welt  mehr  Lust  oder  mehr  Leid  enthalte",  als  „gleichmäßig  pathologische 
Erscheinungen"  hingestellt  und  hinzugefügt,  daß  diese  Frage  für  die  Wissen- 
schaft ebenso  unnötig  wie  unbeantwortbar  sei.  Trotzdem  taucht  in  den  Wert- 
fragen fast  aller  Lebens-  und  Kulturgebiete  immer  wieder  der  Standpunkt 
eines  allzustarken  Empfindens  des  Wertwidrigen  ')  auf,  welches  sich  dem  Wert- 
haften vollkommen  überordnet,  und  dies  auf  der  Basis  des  ethischen  Satzes, 
daß,  je  tiefer  die  Befriedigung  i.als  emotionales  Erfüllungserlebnis  verstanden) 
ist,  desto  höher  der  Wert  sich  stellt.  —  Nicht  ohne  Grund  hat  nun  Theodor 
Litt,  mit  dessen  tief  schürf  endem  Auf  satze :  „Lehrfach  und  Lehrpersönlich- 
kei  t "  2)  sich  diese  Zeilen  beschäftigen  und  ihn  vielleicht  auch  hier  und  da  nutz- 
bringend ergänzen  möchten,  seine  Gedanken  in  jener  oben  skizzierten  Stellung 
Max  Schelers^)  verankert,  wenn  nicht  gar  bisweilen  sich  in  der  Fassung 
seiner  Resultate  von  dessen  Anschauungen  beeinflussen  lassen.  Es  handelt 
sich  hier,  in  Ergänzung  zu  der  oben  hergestellten  Beziehung,  um  Schelers 
öfters  vertretenen  Standpunkt  eines  kritizistisch- negativen  Ressentiments, 
welches  sich  in  seiner  Erwartung,  den  Aktvollzug  eines  guten  Wollens  durch 
zentrale  Glücksgefühle  begleitet  zu  sehen  (Scheler  a.  a.  0.  II,  S.  219  ff,  231  f), 
herb  enttäuscht  sieht,  und  nun  —  nur  aus  Mangel  an  sicheren  Entscheidungs- 
gründen —  sogleich  zu  negativer  Verwerfung  fortschreitet,  anstatt  mit  einer 
kritischen  Urteilsenthaltung  sich  zufrieden  geben  zu  wollen  4).  Und  dieses 
Überwiegen  des  Wertwidrigen,  im  Zusammenhange  mit  der  negativ-kritizi- 
stischen,  ressimenthaltigen  Stellungnahme  prägt  sich  besonders  den  Ausfüh- 
rungen Litts  über  die  Persönlichkeit  des  Lehrers  (besonders  S.  142  ff)  so  stark 
auf,  daß  man  von  ihm  (trotz  der  gegenteiligen  Berufung  auf  W.  Sterns 
neuestes  Werk  „Die  menschliche  Persönlichkeit"  Lpz.  1918)  „eine  fast  nativi- 
stische  Starrheit  und  Unbeeinflußbarkeit"  der  Persönlichkeit  (hier  in  dem 
einfachen  Sinne  des  sich  entwickelnden  Menschen  verstanden)  vertreten  zu 
sehen  glaubt  —  ein  Standpunkt,  gegen  den  sich  W.  Stern  schon  in  der  Vor- 
rede (S.  XI)  seines  genannten  Buches  richtet.  — 

Es  muß  nun  von  vornherein  betont  werden,  daß  Th.  Litt  selbst  (S.  140) 
bei  seiner  schmerzlichen  Feststellung  eines  starken  Mangels  an  PersönUch- 
keiten    im  Bereiche   der  ethischen   Bildungswerte  betont  hat,    er  sage  dies 

0  Vgl.  W.  Windelband,  Einleitung  i.  d.  Philosophie  (Tübingen  1914),  S.  424. 

2)  In  Ilbergs  Neuen  Jahrbüchern  für  Philologie  ...  1918  II,  S.  135  ff. 

3)  „Der  Formalismus  in  der  Ethik  und  die  raateriale  Wertethik"  im  „Jahrbuch  für  Philosophie 
u.  phänomenologische  Forschung"  Bd.  I  (1914)  u.  Bd.  11  (1916);  auch  in  Buchausgabe  (Halle  1916). 
Ich  zitiere  nach  dem  Jahrbuch  (zu  dieser  Stelle  vgl.  I;  492  u.  498  f.). 

4)  Scheler  a.  a.  0.  II,  226—228  u.  „Abhandlungen  u.  Aufsätze"  Bd.  I  (Lpz.  1915)  S.  45  ff.  74  f, 
76,  90  f,  109  f.  (,..Das  Ressentiment  im  Aufbau  der  Moralen"  T  I.). 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  19 


290  Walther  Saupe 


„unter  dem  ausdrücklichen  Zugeständnis,  daß  es  sich  hier  um  ein  seinem 
Wesen  nach  unbeweisbares  Werturteil  handle" ;  und  doch  ist  der  Schluß, 
der  aus  dieser  Zuständlichkeit  gezogen  wird,  so  schwerwiegend  und  hoffnungs- 
los zugleich  für  die  Zukunft  unseres  schwer  bedrohten  Bildungswesens,  daß 
man  der  „begrifflichen  Beschreibung"  der  pessimistischen  wohl  mit  gutem 
Rechte  die  der  optimistischen  Stimnmngsrichtung  entgegenstellen  darf.  Gewiß 
gilt  auch  von  ihr,  wie  Windelband  ausdrücklich  den  hier  benutzten  Aus- 
führungen (a.  a.  0.  S.  426)  abschheßend  hinzufügt,  der  Einwand,  daß,  „selbst 
wenn  man  statistisch  oder  begrifflich  ein  Überwiegen  von  Lust  ...  in  der 
Gesamtheit  der  Dinge  und  der  Erlebnisse  nachweisen  könnte,  doch  darin 
noch  lange  kein  Recht  läge,  das  Universum  als  gut  zu  qualifizieren".  Gleich- 
wohl will  es  so  scheinen,  als  ob,  wie  schon  erwähnt.  Litt  (S.  141)  durch  sein 
Beharren  im  „Zustandsteleologischen  der  Persönlichkeit"  (Stern  a.  a.  0.  S.  270) 
zum  Pessimismus  geführt  worden  sei  und  sich  nicht  zu  der  —  freilich  eben 
optimistisch  gefärbten  —  Bejahung  der  Sätze  durchgerungen  habe,  die  ei-st 
eigentlich  in  das  Zentrum  von  Sterns  Persönlichkeitsbegriff  hineinführen : 
„Die  Zweckbedeutung  des  BeM^ußtseins  liegt  nicht  in  der  glatten  Spiegelung 
persönlicher  Vollkommenheitszustände  (bei  Litt  etwa:  Unvollkommenheits- 
zustände),  sondern  in  der  tätigen  Verarbeitung  und  Überwindung  von  Stö- 
rungen der  persönlichen  Zweckbestimmtheit.  Das  Bewußtsein  ist  ein  als 
Waffe  dienender  Spiegel')  .  .  .  Aber  sie  (sc.  jene  Störungen)  erhalten  sofort 
ihre  positive  Wertbedeutung,  wenn  man  sie  als  dienende  Faktoren  in  einer 
jenseits  des  Bewußtseins  liegenden  Strebungsteleologie2)  der  Persönlichkeit 
auffaßt. '^  (S.  269  f) 

Bekennt  sich  nun  unser  deutsches  Erziehergeschlecht  noch  zu  Lessings 
unvergänglicher  Theorie  von  der  Wertüberlegenheit  des  Wahrheitsstrebens 
über  den  Wahrheitsbesitz ,  und  gewinnt  es  daraus  die  feste  Hoffnung  auf 
ein  unzerstörbares  Obsiegen  des  Wertstrebens  über  den  Wertbesitz,  so 
darf  und  soll  es  sich  nicht  den  guten  Glauben,  der  sich  nicht  auf  die  „Gnade" 
(Litt)  allein  verläßt  und  doch  auch  nicht  aus  jedem  Individuum  eine  „Persön- 
lichkeit zu  machen"  sich  strengstens  verpflichtet  fühlt,  als  einen  köstlichen 
Besitz  und  Wechsel  auf  die  Zukunft  bewahren,  daß  es  doch  besser  werden 
könne:  nicht  nur  auf  praktischem  Gebiete  durch  von  der  Vernunft  geforderte 
Maßnahmen,  sondern  auch  in  der  Theorie  von  Menschenbildung  und  Menschen- 
erziehung selbst.  — 

IL 
Th.  Litt  hat  selbst  schon  in  seinem  behandelten  Aufsatze  eine  Fülle  von 
Wegen  aufgewiesen,  die  für  einen  Ausbau  nach  den  oben  gekennzeichneten 
Richtungen  hin  von  höchstem  Werte  sind.  Sie  liegen  in  einer  schärferen 
Erfassung  der  menschlichen  Persönlichkeit,  und  zwar  eher  in  der  des  Er- 
ziehers als  der  des  Zöglings,  und  sodann  in  einer  klareren  und  tiefergehenden 
Herausschälung  der  Erziehungs-  und  Bildungswerte  aus  den  einzelnen  Bildungs- 
fächern, auf  deren  Reahsierung  die  geistigen  Kräfte  der  Persönlichkeit  sowohl 
von  selbst  zustreben  als  auch  —  in  richtig  verstandener  Weise  —  hingelenkt 


')  Vgl.  zu  Goethes  iiier  wohl  vorliegender  Theorie  von  der  Persönlichkeitsenlwicklung  zuui 
»schaffenden  Spiegel"  K.  Burdachs  Buch:  Deutsche  Renaissance  (Berlin  1918  2),  S.  S4ff. 

2)  Stern  bezeichnet  sie  auch  noch  schärfer  als  „funktionelle  Richtungsteleologie"  (a.  u.  0., 
S.  268  f.). 


Bildsamkeit  und  Persönlichkeit  291 

oder  hin  entwickelt  weiden  müssen.  Nun  leugnet  Litt  -  sicherlich  mit 
gutem  Rechte  —  die  Möglichkeit.  „Peisönlichkeiten  zu  machen",  bekennt 
sich  also  freimütig  zu  dem  Satze:  ex  nihilo  nihil  fit,  wenn  einmal  die  „Gnade" 
fehle  (S.  141):  er  gibt  aber,  nur  wenige  Zeilen  später,  zu,  daß  die  Persönlich- 
keit „werde,  wachse,  reife  —  falls  eben  in  ihr  der  Keim  zu  solchem  Wert- 
wachstum eingeschlossen  sei  —  von  selbst  durch  volle,  selbstvergessene  Hin- 
gabe an  die  Sache,  ja  sie  entfalte  sich  in  demselben  Maße  sicherer  und 
reicher,  wie  sie  die  Sache  in  den  Mittel-  und  Zielpunkt  des  eigenen  Strebens 
und  Schaffens  rücke  und  die  eigene  Person  aus  den  Augen  verliere  ..."  — 
In  beiden  Fällen  wird  man  wohl  die  scharfen  Zuspitzungen  aufeinanderzu 
umbiegen  und  sie  so  eine  mehr  und  mehr  gemeinsame  Kraft  entfalten  lassen 
dürfen:  Persönlichkeiten  sollen  nicht  „gemacht",  sondern  erweckt  und  durch 
geistige  Hilfeleistung  bei  ihrer  wachsenden  Selbstentfaltung  gestärkt  und 
unterstützt  werden;  und  andererseits  hat  die  auf  dieses  Ziel  hindrängende 
Erziehung  die  schwere  Aufgabe  vor  sich,  jenes  autonome,  zunächst  noch  und 
auf  lange  Zeit  hinaus  triebhafte  Werden,  Wachsen  und  Reifen  der  auf- 
blühenden Persönlichkeit  auf  ihrem  Wege  zur  selbstlosen  Hingabe  an  die 
Sache  vor  dem  Sturze  in  Abgründe  und  vor  der  Verirrung  auf  falsche  Wege 
zu  behüten  und  sie  zu  der  Selbsterkenntnis  und  selbständigen  Verwirklichung 
ihrer  inneren  Bestimmung  mit  fester  Hand  emporzugeleiten. 

Jene  zweifache  Betätigung  der  Erziehung  aber  stützt  sich,  bei  wissenschaft- 
licher Untersuchung,  m.  E.  auf  3  Faktoren,  die  sich  wie  3  konzentrische 
Kreise  von  außen  nach  innen  um  den  festen  Problemkern  herumlegen:  auf 
eine  tiefere  Erkenntnis  des  Kulturzusammenhangs  (nach  Struktur  und 
Entwicklung)  und  seiner  Forderungen  an  den  Menschen  als  shebungs- 
teleologische  PersönHchkeit;  auf  eine  tiefere  Erfassung  der  Möglichkeiten 
und  Mittel,  die  zur  Bewältigung  des  Kulturganzen  durch  die  im 
Menschen  angelegten  Strebungsteleologien  (unter  Berücksichtigung  ihrer 
eigenen,  inneren  Selbstent>\icklung)  dienen  können;  endhch:  auf  tieferer 
Erkenntnis  der  „Konvergenz"  dieses  doppelseitigen  Bildungsprozesses  zu  den 
Forderungen  der  gegenwärtigen  Lehr-  und  Erziehungsmethoden.  —  Eduard 
Spranger  hat  mit  Recht  in  seinen  „Lebensformen"  'Halle  1914;  auch  in  der 
„Festschrift  für  AI.  Riehl"  ebenda)  unter  allgemeiner  Zustimmung  nicht  ohne 
Grund  gefordert,  daß  der  Vierzahl  der  logischen,  ethischen,  ästhetischen  und 
religiösen  Werte,  die  auch  jüngst  in  Windelbands  „Einleitung  in  die  Philoso- 
phie" noch  nicht  zur  rechten  Einheit  kommen  konnten  i),  solche  aus  den 
Gebieten  der  Wirtschaft,  des  Staates  und  der  Gesellschaft  zur  Seite  beten 
müßten,  und  daß  dann  natürlich  der  Zögling  auch  zu  ihrer  Beherrschung 
und  Förderung  im  Prozeß  der  historischen  Gesamtentwicklung  emporgebildet 
werden  müsse.  Diese  ihre  Forderungen  aber  kann  die  Kultur  an  den  Menschen 
nur  dann  erfolgreich  richten,  wenn  sie  durch  ihre  Probleme  die  in  ihm  ange- 
legten Dispositionen  des  Vorstellens,  Fühlens  und  Wollens  entzündet  und 
anti-eibt  zu  einer  Herauslösung  der  für  den  menschhchen  £ildungsprozeß 
ebenso  als  für  die  Förderung  der  Kultur  unentbehrlichen  Werte  und  Normen 
der  Verstandes-,  Gefühls-  und  Willensbildung  aus  dem  engmaschigen  Netz 
des  komphzierten  Kulturzusammenhangs,   in  das  sie  hineinverwebt  sind.  — 


')  Vgl.  auch  H.  Rickert.     Wilhelm  Windelband  (Tübingen  1917>  S.  23. 

19' 


292  Walther  Saupe 


So  ergibt  sich  in  kurzen  Umrissen  folgendes  Bild^j:  Fordert  zunächst  die 
erkenntnistheoretische  Seite  der  Bildung  die  Einführung  des  Zöglings 
in  die  Inhalte  und  logischen  Grundbegriffe  (innerer  Strukturzusaramenhang, 
Möglichkeit  und  Umfang  unserer  Erkenntnisse)  jener  sechs  objektiven  Kultur- 
gebilde, so  verlangt  der  Standpunkt  der  Gefühlsbildung  die  Aufstellung 
sittlicher  Prinzipien  im  Bewußtsein  des  Individuums,  die  als  Ideale  mit  abso- 
lutem Gültigkeitsanspruch  gleichsam  über  den  einzelnen  Kulturgebieten 
schweben  sollen  und  sich  für  sie  etwa  als  Wahrheitssinn,  Arbeitssinn,  soziale 
Liebe  im  weiteren  Sinne,  politische  Gesinnung,  Gefühl  für  innere  Harmonie 
und  religiöse  Gesinnung  (Erlösungssehnsucht)  formulieren  lassen.  —  Als  Ziel 
der  Willenserziehung  werden  sich  schließlich  —  in  strenger  Korrelation  zu 
jenen  —  die  wichtigsten  Kulturleistungen  der  einzelnen  Gebiete  im  Rahmen 
der  Gesamtkultur  ergeben,  zu  deren  selbsttätiger  Förderung  der  Zögling 
emporentwickelt  werden  muß:  das  Erkennen  und  Wissen  (als  wissenschaft- 
liche Betätigung  im  weitesten  Sinne) ;  die  Beherrschung  der  für  die  psycho- 
physische  Kultur  notwendigen  Fertigkeiten;  die  Fähigkeiten  politischen  und 
sozialen  Verhaltens,  ästhetischen  Gestaltens  und  endlich  die  Religiosität  selbst 
als  tätige  Zurückbeziehung  der  einzelnen  zersplitterten  Erlebniswerte  auf  den 
totalen  Sinn  und  Wert  des  Lebens.  Während  also  die  Gefühlsbildung 
sich  der  Aufstellung  des  jeweils  werthaltenden  Ideals  auf  der  Gefühlsgrund- 
lage als  des  notwendigen  inneren  Bindemittels  zwischen  Erkennen  und  Wollen 
widmet  (ideale  Ethik),  strebt  der  andere  Teil  der  axiologisch- normativen 
Problemseite:  die  Willensbildung  nach  Erweckung  des  sittlichen  Strebens, 
den  Kulturprozeß  im  Rahmen  seines  innerlichen  Zusammenhangs  (konvergente 
Ethik)  zu  fördern,  aber  nicht  nur  mit  dem  Ziele  eines  mathematisch  regu- 
lierten Maß  Verhältnisses  der  einen  Wertklasse  zu  den  anderen ,  sondern  in 
erster  Linie  von  der  Absicht  geleitet,  sich  mit  dem  in  den  Komplex  der 
individuellen  Entscheidung  eintretenden  moralisch-kollektiven  Wert- 
bewußtsein auseinanderzusetzen  (also  im  Sinne  einer  Zusammenfassung  von 
E.  Sprangers  sekundärer  und  tertiärer  Wertung).  Die  Rechtfertigung  dieser 
strengen  Zerlegung  der  axiologisch-normativen  Problemseite,  kurz  gesagt :  der 
ethischen  Sphäre  in  Gefühls-  und  Willensbildung  in  Idealwerte  und  Konvergenz- 
werte liegt  dann  in  der  Auffassung  (ganz  abstrakt  gefaßt),  daß  die  Gesinnung 
sich  von  der  Rücksicht  auf  praktische  Kulturbetätigung  selbst  freimacht,  der 
Wille  aber  ''„die  geschichtlich  und  gesellschaftlich  überlieferte  Moral  mit 
ihren  typischen  Situationen  und  Urteilen"  mit  eingeschlossen)  darnach  strebt, 
mit  dieser  kulturellen  Betätigung  untrennbar  verwachsen  zu  sein,  und  dafür 
jenen  absolut-unbedingten  Gültigkeitsanspruch  einer  gewissen  Relativierung  aus- 
liefert. —  Das  Wesen  des  ethischen  Fortschritts  von  der  rein  innersittlichen 
Werthaltung  zur  praktischen  Kulturbetätigung  endlich  liegt  demnach  in  jener 
resignierten  Beschränkung,    zu   der  sich  Goethes  Wilhelm  Meister  hindurch- 

')  Es  liegt  durchaus  fern,  hier  etwas  wie  ein  eigeaes  „System"  zu  versuchen;  die  Auffassung 
ist  also  nur  kategorial  verschieden  von  der  der  genannten  Philosophen  und  auf  die  diesem 
Aufsatze  gesteckten  Ziele  zui^eschnitten. 

2)  Über  den  sehr  wesentlichen  Unterschied  in  der  Höhe  dieser  Werte,  der  in  ihrer  Vorzugs- 
bedeulung  für  die  individuelle  Persönlichkeit  oder  andererseits  fiir  eine  größere  generell-über- 
persönliche Einheit  gesellschaftlichen  Charakters  liegt  und  somit  die  ökonomisch-politischen 
Wertgruppen  von  den  abstrakten  grundlegend  ablöst,  vgl.  M.  Scheler:  Jahrb.  I,  S.  505  u.  512  f. 
und  (ergänzend)  W.  Stern  a.  a.  0„  S.  50  f. 


Bildsamkeit  und  Persönlichkeit  293 


ringt:  „daß  die  Bestimmung  des  Menschen  nur  im  Berufe  zu  suchen  ist. 
Entsagen  soll  er  jenem  Schwelgen  im  Allgemeinen,  in  Fühlen  und  Sehnen  — 
die  Welt  soll  er  erkennen  lernen  und  darin  seinen  Platz  sich  suchen  durch 
Arbeit  und  nützliche  Tätigkeit.  Aus  der  Selbstbespiegelung,  aus  der  weichen 
Pflege  individueller  Beziehungen  heraus,  soll  er  in  die  harte  Wirklichkeit 
gestellt  werden  und  in  tätigem  Zusammenhange  seinen  Mann  stellen".^)  — 
Natürlich  sind  gerade  jene  beiden  Gebiete  des  ^.Wertfühlens"  und  „Zweck- 
strebens"  2)  aufs  innigste  miteinander  verwachsen :  gleichsam  die  beiden  Seiten 
einer  in  uns  aus  dem  Erkennen  und  dem  Erleben  des  Kulturganzen  empor- 
quellenden ethischen  Kraft,  die  ein  leuchtendes  Ideal  aus  dem  Kullurganzen 
herauszulösen  sich  bemüht  (soweit  es  nicht  aus  metaphysischen  Höhen  stammt), 
um  es  dann  als  lebenerweckende  Kraft  und  als  emporhelfenden  Führer  durch 
die  engen  Maschen  des  dichten  Kulturgewebes  hindurchstrahlen  zu  lassen. 
Kein  Wunder,  wenn  es  dabei  an  seinem  starken,  reinen  Glänze  Einbuße 
erleiden  muß,  je  tiefer  es  nach  dem  Boden  der  Kulturvertlechtung  hinab- 
strebt, und  doch  lebt  es  fort  als  empfangende  und  gebende  Einwirkung,  mit 
der  der  Erkenntnis  sich  darbietenden  materiellen  und  geistigen  Umwelt 
nicht  minder  eng  verkettet  als  mit  der  aus  den  Individuen  strömenden 
Kraft  eines  freien  Willens. 

III. 
Das  innerliche  Zusammentreffen  und  Aufeinanderbezogensein  der  geschil- 
derten drei  Funktionen  führt  von  selbst  auf  die  Forderungen  einer  schärferen 
(theoretischen)  Differenzierung  des  ganzen  Bildungsprozesses  inner- 
halb der  individuellen  Persönlichkeit  in  eine  vorphilosophische 
und  in  eine  philosophische  Stufe.  Als  Zielforderurg  steillt  sich  hiervon 
selbst  die  völlige  Angleichung  an  die  lebendige  Entwicklung  ein ,  die  von 
den  „vorphilosophisch  -  halbbewußten  Bewußtseinsinhalten  durch  fortschrei- 
tende Reflexion  der  Selbstverständigung  des  Bewußtseins"  (Windelband: 
Präludien  I,  5,  S.  27)  zu  der  philosophischen  Stufe  sich  emporringt,  ebenso 
yne  etwa  entsprechend  —  nur  spezieller  gefaßt  —  die  vorwissenschaftlichen 
Erkenntnistriebe  durch  Philologie  (Wortkunde  auf  sprachwissenschaftlicher 
Grundlage,  Interpretation  der  Texte),  zu  reinwissenschaftlichen  Erkenntnissen 
gefördert  werden.  Infolgedessen  kam  die  oben  festgelegte  zu  strenger 
Trennung  führende  Definition  von  Gesinnung  •  Werthaltung)  und  Willens- 
stellung erheblich  gemildert  werden,  indem  —  absichtlich  unter  schärferer 
terminologischer  Differenzierung  —  eine  Scheidung  von  wertfrei-unref lek- 
tierter  Erkenntnis,  Gefühl  und  Willen  und  wertbezogen-wissens- 
bestimmter  Erkenntnis,  Gesinnung  und  Willen  andererseits  statuiert  wird. 
Dies  wird  umso  klarer,  wenn  man  sich  noch  einmal  zusammenfassend  des 
Aufstiegs  der  drei  wertfrei-vorphilosophischen  Kräfte:  des  Erkenntnistriebes, 
freispielenden  Gefühls  und  ungebundenen  Willens,  zu  der  höheren  philoso- 
phischen, d.  h.  wertbezogen-wissensbestimmten  Stufe  (kraft  ihres  Zusammen- 
treffens und  Aufeinanderbezogenseins)  möglichst  deutlich  bewußt  wird. 

')  8.  Windelband:  Präludien  I -^  (Tübingen  1915)  S    182. 

■-)  Nach  der  Terminologie  Wilh.  Diltheys,  für  den  sie,  zusammen  mit  den  grundlegenden 
Vorstellungen  den  auf  alle  BUdungsvorgänge  einwirkenden  „erworbenen  Zusammenhang  unseres 
Seelenlebens  darstellen"  (vgl.  u.  a.  in  Philos.  Abhdl.  für  Ed.  Zeller  [Leipz.  1887]  S  366;  be- 
sonders auch  die  Abhandlung:  ^.Über  die  Möglichkeit  einer  allgemeingültigen  pädagogischen 
Wissenschaft"  in  .Sitzungsber    d.  Preuß.  Akadem.  d.  Wissensch.  1SS8). 


294  Waltlier  Saupe 


Aus  dem  Erkenntnistrieb  entsteht  die  umfassende  kritische  Er- 
kenntnis selbst,  in  der  sich  jene  drei  Grundkräfte:  Erkenntnisfähigkeit, 
Gefühl  für  den  Wert  der  Erkenntnis  i)  und  —  daraus  entspringend  —  Wille 
zur  Erkenntnis  {Xöyog)  verknüpfen  zum  gvvoqöv  (geistige  üvvO-eaig).  —  Aus 
dem  freispielenden  Gefühl  entsteht  ein  seelischer  Organismus,  in 
welchem  sich  kritische  Durchleuchtung  und  umfassende  Analysierung  des 
Gefühls,  Glaube  an  den  Idealwert  des  Gefühls  und  endlich  der  Wille  zu 
dessen  Setzung  und  unbedingter  Anerkennung  verbinden  zu  einer  kritischen 
Idealsetzung 2)  —  wenn  sie  nicht  metaphysisch  ist  —  vor  dem  als  höhere 
Macht  hereinragenden  Forum  des  Gewissens  in  seiner  Grundbedeutung  des 
AU-wissens,  in  welchem  Freiheit  und  Notwendigkeit  eines  frei  anerkannten 
Gehorsams  innerlich  zum  sittlichen  Problem  zusammenfallen.  —  Aus  dem 
ungebundenen  Willenstrieb  entsteht  der  kulturbedingte  organisierte 
Willen,  in  welchem  inneres  ki'itisches  Bewußtwerden  über  seine  Ziele  und 
Mittel,  Verantwortungsgefühl  für  Umfang  und  Konsequenzen  der  jeweihgen 
Willenshandlung  und  unbeirrbarer  Willensentschluß  zum  Handeln  sich  ver- 
knüpfen zur  organisierten  Tat.  —  So  wird  im  Zusammenwachsen  und 
im  damit  zugleich  emporstrebenden  und  sich  ausbreitenden  Wachstum  dieser 
Kräfte  ihr  innerer  Ausgleich  innerhalb  ihrer  chaotischen  Komplexion  stetig 
gesucht  (Wurzel  des  Organismusgedankens),  und  zwar  aus  dem  Grunde 
und  mit  Hilfe  einer  im  Innern  eines  jeden  Menschen  zu  verlebendigenden, 
idealsetzenden  Kraft  überpersonal-göttUchen  Charakters  (Wurzel  des  Indivi- 
dualitätsgedankens), welche  aus  der  Erkenntnis  ihre  sachliche  Be- 
reicherung und  formallogische  Regulierung  empfängt  (Primat  des  reinen 
Intellekts  und  Wurzel  der  Seinsfragen)  und  welche  andererseits  dem 
Willen  zum  Handeln  die  aus  den  ewigen  und  allgemeingültigen  Idealwerten  3) 
gewonnene  wahrhaft  sittliche  Bestimmung  erst  aufprägt.  Man  könnte  dies  — 
in  Analogie  zum  Vorhergehenden —  als  Primat  einer  praktischen  Ver- 
nunft in  ihrer  Erweiterung  von  kulturfrei-idealer  zu  kulturbedingt-konver- 
genter Ethik  bezeichnen,  welche  kein  Ausleseprinzip  mehr  darstellt,  sondern 
ein  Kampfprinzip,  mag  nun  die  Auseinandersetzung  die  Autoritäten  der 
gesellschaftlichen  und  geistigen  Umgebung  zum  Angriffsobjekt  haben  oder 
den  innersittlichen  Charakter  einer  autonomen  Selbstentscheidung  und  Zu- 
stimmung zu  eigenen  sittlichen  Erlebnissen  (PfUchtenkonflikte,  Verzicht  oder 
Nichtverzicht  auf  Frefiheit)  an  sich  tragen.  Hier  wurzeln  dann  das  sittliche 
Verantwortungsgefühl  und  die  Wertfragen. 

IV. 
Th.  Litt   hat  sodann  in  einer  Anmerkung  (zu  S.  147),   die  ihrem  Gehalte 
nach  zu  dem  Wertvollsten  seines  ganzen  Aufsatzes  gehört  und  zwar  gerade 

')  „Bereits  die  noetischea  Probleme  haben  übrigens  etwas  von  dem  Wesen  der  axiologischen 
an  sich  und  stellen  deshalb  den  Übergang  von  den  theoretischen  zu  den  praktischen  dar* 
(Windelband:  Einleitung  S.  255). 

2j  Ähnlich  urteilt  über  den  Charakter  dieser  „sittlichen  Erkenntnis"  M,  Scheler:  Jahrbuch  1 
S.  468. 

3)  Sie  sind  von  der  Persönlichkeit  selbst  entweder  aus  ihren  Auseinandersetzungen  mit  den 
konkreten  sittlichen  Situationen  und  Kulturlorderungen  herausgearbeitet  worden  oder  haben  sich 
selbst  im  historischen  Entwicklungsprozeß  der  Kultur  zu  Allgemeingültigkeit  und  Ewigkeitswert 
emporgerungen. 


Bildsamkeit  und  Persönlichkeit  295 


wegen  ihrer  „erschreckend  abstrakten  Systematik  und  strengen  Terminologie'', 
den  inneren  Bildungsprozeß  selbst  untersucht  und  in  eine  gewisse  Kon- 
vergenz zu  den  Forderungen  der  pädagogischen  Lehr-  und  Er- 
ziehungsmethoden gebracht,  wobei  sich  sofort  eine  Trennung  der  ethischen 
von  der  fremdsprachlichen  Fächergruppe  auch  in  dieser  Hinsicht  ergeben 
hat.  Vielleicht  ließe  sich  aber  —  es  geschieht  hier  auf  Grund  eigener  prak- 
tischer Untersuchungen  —  dieser  Bildungsprozeß  in  seiner  engen  Beziehung 
zu  den  einzelnen  Bildungsfächern  noch  schärfer  differenzieren  und  damit 
die  Zahl  der  Ansatzpunkte  für  eine  Persönlichkeitsbildung  erheblich  vermehren, 
was  hier  jedoch  nur  im  allgemeinen  versucht  werden  soll.  Litt  hat  mit  Recht 
den  Umfang  der  Aktualisienmg  der  Potentialitäten  des  Bildungsprozesses  zum 
funktionellen  Mittelpunkt  der  Beziehungen  zwischen  Bildner,  Zögling  und 
ßildungsgut  als  den  beteiligten  Faktoren  gemacht. 

1.  Ein  eigener  Aufbau l)  würde  nun  unter  der  ersten  Kategorie:  Tätigkeit 
des  Erziehers,  noch  vor  dem  (ersten)  Nachschaffen  in  und  durch  die 
i^ehrpersönlichkeit  eine  rein  grammatisch-logische  Worterklärung  des 
Textes  (Lektüre  oder  Lehrbuch)  einschalten,  um  in  ihm  eine  feste  Grand- 
basis  für  „die  Zusammenstimmung  dieser  drei  Potentiahtätengruppen"  zu 
schaffen.  —  Die  erkenntnisbildende  Seite  des  Lehr-  und  Erziehungs- 
prozesses verlangt  auf  jener  Grundlage  für  das  erste  Nachschaffen  in 
der  Lehrpersönlichkeit  eine  AktuaHsierung  von  material-sachlichen 
Erkenntniswerten  (inhaltliche  Belehrung)  und  andererseits  von  formal- 
logischen Erkenntniswerten,  über  deren  untereinander  differenziale 
Strukturen  weiter  unten  noch  zu  handeln  sein  wird.  —  Zur  Erkenntnisbildung 
tritt  nun  die  Erziehung  als  axiologisch-normalives  Problemgebiet  (dem 
systematischen  Aufbau  in  den  vorangehenden  Abschnitten  entsprechend):  sie 
fordert  die  Aktualisierung  von  ethischen  Idealwerten  einerseits  (s.  S.  14ff) 
und  ethischen  Konvergenzwerten  andererseits,  den  Ansprüchen  der 
Gefühls-  und  Willensbildung  entsprechend. 

Zunächst  sei,  vor  näherer  Erklärung  des  Vorhergehenden,  die  Tätigkeit 
des  Zöglings  angeschlossen.  Auch  hier  ist  die  Vorstufe  des  rein  gramma- 
tischen Wortverständnisses  nicht  zu  entbehren,  auf  der  sich  unmittelbar 
jenes  (zweite)  Nachschaffen  in  und  durch  die  Lernpersönlichkeit 
erheben  kann  und  zwar  in  seiner  analogen  Zergliederung  in  die  AktuaUsie- 
rung  der  der  Erkenntnisbildung  dienenden  material-sachlichen  und 
formal-logischen  Erkenntniswerte  und  in  die  Aktualisierung  der  die  Er- 
ziehung (oder  Selbsterziehung)  fördernden  ethischen  Ideal-  und  Kon- 
vergenzwerte. 

2.  Das  starre  Gerüst  bedarf  zu  seiner  Ausfüllung  nach  der  konkreten  Seite 
hin  einer  Reihe  wichtiger  Zusätze.  Die  auch  hier  zugrundeliegende  Drei- 
teilung des  Wertgebiets  findet  ihre  Rechtfertigung  vor  allem  in  der  einer 
jeden  Wertgruppe  zukommenden  Akzentuierung  ihrer  Beziehungen  auf 
die  drei  Träger  (s.  S.  23)  des  Bildungsprozesses:  liegt  für  die  material- 
sachliche Wertgruppe  der  Hauptton  auf  ihrer  Werthaftigkeit  für  die 
Sache  (Bildungsgut),  so  für  die  formallogische  Wertgruppe  auf  ihrer 
Werthaftigkeit  für  die  Lerngeraeinschaft,   so  für  die  beiden  ethischen 


')  Vgl.  darüber  die  Ansicht    von   J.   Cchn   im   Logos   Bd.  VU    (1917/18)   S.  90,  Anm.   1  (zu 
Schelers  Buch). 


296  Walther  Saupe 


Wertsysterae  auf  Ihrer  Werthaftigkeit  für  die  Lehrpersönlichkeit.  Nur 
muß  unter  Werthaftigkeit  —  um  Mißverständnissen  zu  entgehen  —  der  Wert- 
gewinn verstanden  werden,  welcher  der  einzelnen  Wertgruppe  für  die 
Wechselwirkung  zwischen  ihr  und  dem  besonders  akzentuierten  Träger  aus 
diesem  selbst  zuströmt:  aus  dem  Bildungsgut  das  Wahrheitsstreben,  aus  der 
Gemeinschaft  der  Lernenden  die  dialektisch -logische  Schulung;  von  selten 
der  Lernpersönlichkeit  das  vorbildliche  Ethos  der  Belehrung  und  Erziehung 
schlechthin. 

3a.  Auch  der  Doppelprozeß  des  Nachschaffens  verlangt  nach  kon- 
kreter Ausfüllung:  Litt  und  Stern  legen  hierbei  den  Hauptakzent  auf  den 
Vorgang  der  Auslese,  die  freihch  —  ihrer  psychologischen  Herleitung  und  Be- 
schaffenheit nach  —  für  das  vorliegende  Problem:  Bildsamkeit  und  Persönlich- 
keit gleichfalls  einer  eingehenderen  Differenzierung  zu  bedürfen  scheint.  Von 
Erzieher  und  Schüler  hat  hier,  wenn  auch  in  wesentlicher  Verschiebung  zu- 
gunsten des  ersteren,  wobei  nicht  unmöghche  Ausnahmen  nach  beiden  Seiten 
hin  die  Regel  nur  bestätigen  können,  zu  gelten,  daß  zur  (unbewußten)  Ver- 
kürzung ergänzend  eine  organische  Auslese  treten  kann  und  daß  zu 
ihnen  beiden  in  entsprechenden  Gegensatz  eine  (vorwiegend  unbewußte)  Ver- 
mehrung  und  andererseits  eine  (wiederum)  organische  Erweiterung!) 
sich  einstellen  darf. 

b.  Zur  rein  logischen  Gliederung  folge  die  psychologische  Recht- 
fertigung. Mit  Absicht  stehen  grammatische  Worterklärung  und  Wort- 
verständnis außerhalb  des  werterfüllten  Nachschaffensprozesses,  da  hier  der 
vorliegende  Text  und  andererseits  die  gestellte  Zielforderung  eine  eng  um- 
grenzte Aufgabe,  fast  einer  mechanischen  Reproduktion  gleich,  umschreiben. 
Aus  diesen  Fesseln  nur  muß,  wenn  er  das  Ganze  des  Nachschaffenspro- 
zesses in  sich  erfüllt  sehen  will,  der  fremdsprachliche  Unterricht  in  erster 
Linie  befreit  werden,  während  die  Auslösung  der  formal-logischen  Erkenntnis- 
werte aufs  entschiedenste  einer  höheren  Wertstufe  zuzuweisen  sein  wird. 
Denn  sie  fiihren  schon  in  den  Prozeß  des  Nachschaffens  selbst  tiefer  hinein. 

c.  Es  liegt  sodann  auf  der  Hand,  daß  unbewußte  und  unorganische  Ver- 
kürzung2)  auf  der  einen,  unbewußte  und  unorganische  Vermehrung  auf 
der  anderen  Seite  gegenüber  den  organischen  Prozessen  der  Auslese  und 
Erweiterung  eine  tiefe,  oft  sogar  nur  vorbereitende  Stufe  im  Verlaufe  jenes 
geistigen  Geschehens  bedeuten,  da  hier  die  Willensbetätigung  innerhalb  der 
vorgenommenen  Erkenntnishandlung  ihre  Kräfte  aus  einer  breiten  Gefühls- 
grundlage zieht:  Lust  und  Interesse  des  Lernfenden  an  der  Sache  lassen 
die  reine  Erkenntnis  sich  vermischen  mit  Phantasie  und  egozentrischen  Ge- 
fühlen allerart,  so  daß  die  Auslese  unbewußt  oder,  wenn  bewußt,  so  doch 


1)  Die  Lempersönlichkeit  hat  hierbei  naturgemäß  eine  vorzugsweise  passive  Rolle  zu  spielen 
Ähnliches  bei  Stern:  a.  a.  0.  S.  162  f. 

2)  Dies  trifft  freilich  vorwiegend  für  die  ethische  Fächergruppe  (Litt  a.  a.  0.  S.  137,  143  ff) 
zu,  wenngleich  auch  der  fremdsprachliche.  Unterricht  reiche  Gelegenheit  an  Situationen  bietet, 
wo  der  kontinuierliche  Zusammenhang  der  zu  aktualisierenden  Bildungspotentialitäten  durch 
Lücken  unterbrochen  wird  (Wiedererzählung,  Besprechung  an  und  ohne  Text,  Fachaufsatz  usw.). 
Man  könnte  hier  den  Satz  prägen:  Je  entfernter  der  Text  und  das  Lehrbuch,  umso  stärker  die 
Betätigung  von  Verkürzung  und  Vermehrung,  von  organischer  Auslese  und  Erw^eiterung,  nur 
mit  dem  wesentlichen  Unterschiede,  daß  das  „Organische"  eine  doppelte  feste  Hand  des  Er- 
ziehers verlangt,  um  seine  Ansprüche  an  die  geistige  Betätigung  des  Zöglings  im  vollsten  Um- 
fange geltend  machen  zu  können. 


Bildsamkeit  und  Persönlichkeit         •  297 


durch  Überwiegen  des  Emotionalen  den  Prozeß  des  Nachschaffens  mehr  oder 
weniger  willkürlich  gestaltet,  d.h.  die  Sache  selbst  umgestaltet.  Die  Betäti- 
gung der  organischen  Auslese  (im  eigentlichen,  engeren  Sinne)  und  der 
organischen  Erweiterung,  die  doch  mindestens  von  gleicher  Wichtigkeit 
ist,  erweist  sich  hingegen  als  eine  vom  Willen  erzeugte  Tatliandlung,  deren 
Kraftquellen  viel  weniger  im  Grunde  des  Gefühlslebens  als  \aelmehr  auf  dem 
Kampffelde  scharfer  Denkarbeit  an  der  Sache  liegen.  Hier  wurzelt  jene 
von  Litt  so  streng  und  unerbittlich  geforderte  „Hingabe  an  die  Sache  selbst" 
am  tiefsten ;  hier  entspringt  auch  ein  Strom  von  Lebensmächten,  der  sich  in 
die  der  Erkenntnisbildung  dienenden  material-sachlichen  und  formal-logischen 
Werte  kaum  kräftiger  ergießt  als  in  die  der  Erziehung  dienenden  ethischen 
Ideal-  und  Konvergenzwerte.  Sicherlich  ist  die  Willensbetätigung  auf  der  Ge- 
fühlsgrundlage von  unleugbarer,  unerläßlicher  Bedeutsamkeit  für  das  Gebiet 
der  (ethischen)  Idealwerte ;  und  das  Genie,  insbesondere  das  ethische,  findet 
das  Neue,  das  Eigentümliche  seiner  Schöpfung,  nur  „als  Werkzeug  über- 
individueller Zielstrebigkeiten"  (Stern  a.  a.  0.  S.  60  u.  87  f),  so  stark  und  un- 
beirrbar auch  die  autotele  Selbstbestimmung  des  genialen  Menschen  in  jene 
Heterotelien  eingeht. 

Aber  die  Grundlegung  durch  das  Denken  vermag  erst  die  Basis  für  den 
Prozeß  einer  Ethisierung  der  Bildung  zu  schaffen,  durch  die  ihr  allein 
eigentümliche  Möglichkeit  einer  logisch,  allgemeiner  gesagt:  wissenschaft- 
lich fundierten  Rechtfertigung  oder  Selbstrechtfertigung,  was  jene  emotionale 
Grundlage  niemals  wird  erzielen  können.  Denn  dann  erheUt  sich  auch  jenes 
Siebengestirn  von  Fragen,  in  das  sich  die  gesamte  Bildungsarbeit  gleichsam 
auf  eine  starre  Formel  bringen  läßt,  und  stellt  jedes  Bildungsobjekt,  dem 
unsere  Arbeit  gilt,  in  ein  klares  und  deutliches  Licht:  was  (es)  ist  und  wie 
es  ist;  warum  es  so  ist,  und  warum  es  so  für  uns  ist;  was  sein  soll  und 
wie  es  sein  soll;  endlich  aber:  warum  es  gerade  so  sein  muß.  Zünden  wir 
in  solcher  Weise  in  unserer  Jugend  die  Fackel  der  Wahrheit  an,  auf  daß  sie 
die  Welt  in  ihrem  restlosen  Eigenleben  und  ihren  Forderungen  an  die  mensch- 
liche Persönlichkeit  nicht  ruhig  hinnehme,  sondern  erst  wahrhaftig  entdecke 
und  erkennen  lerne,  was  sie  ist,  was  sie  sein  kann  und  was  sie  sein  soll. 
Sokrates  und  Piaton  reichen  hier  einander  d*  Hände:  ich  weiß,  daß  ich 
nichts  weiß,  aber  ich  will  und  werde  wissen,  weil  ich  es  kann  und  der 
Umwelt  und  mir  selbst  schuldig  bin.  — 

Diese  vielverzweigte,  das  gewaltige  Meer  menschlichen  Lebens  umfassende 
Aufgabe,  die  von  dem  Menschen  in  seiner  geistigen  und  sittlichen  Entwick- 
lung ihre  Bewältigung  fordert,  kann  aber  kein  Selbstbildungsprozeß  (auch 
nicht  an  der  Hand  gedruckten  Materials,  von  den  rein  empirischen  Erfah- 
rungen des  menschlichen  Lebens  ganz  abgesehen,  deren  Bewußtwerden  ja 
auch  einer  mehr  oder  minder  zufälligen  „Auslese"  unterliegt)  leisten.  Sie 
verlangt  für  unsere  Jugend  Führer,  die  der  Größe  jener  Aufgaben  gewachsen, 
also  Persönlichkeiten  sind  und  in  ihrer  Brust  die  niemals  verlöschende  Sehn- 
sucht tragen  nach  unaufhörlicher  Vollendung  durch  ewiges  Lernen  am  Leben, 
aus  den  Werken  der  Literaturen  und  nicht  zum  wenigsten  von  der  lernen- 
den Jugend  selbst.  Und  in  unserer  Jugend  liegt  nun  einmal  der  gleiche, 
heiße  Drang,  Persönlichkeit i)  zu  werden,  den  eine  gütige  Natur  mit  den  auf 

')  Vgl.  dazu  die  Ausführungen  des  Verfassers  in  llbergs  Neuen  Jahrbüchern,  1917.  II.  Ab- 
teilung (Bd.  40),   S.  282  ff.     Man  möchte  sich  verpflichtet  fühlen,    auch  angesichts  der  letzten 


298  Walther  Saupe 


Entfallung  an  der  Kulturbewältigung  hindrängenden  Anlagen  funktionellen 
Charakters  ausgestattet  hat,  und  so  fordert  sie  von  ihren  Führerpersönlich- 
keiten die  Erfüllung  oder  die  Mitwirkung  an  der  Selbsterfüllung  eigenen 
inneren  Strebens.  Damit  stehen  wir,  freilich  hoffnungsfreudiger  als  Litt, 
wiederum  und  endgültig  vor  dem  urewigen  Problem:  Bildsam keit  und 
Persönlichkeit. 


Hatte  Litt  die  Persönlichkeit  von  der  „Gnade"  abhängig  gemacht  und  an- 
dererseits eine  werthaltige  Heranbildung  des  Zöglings  von  dem  Vorhandensein 
einer  Lehrpersönlichkeit,  so  soll  hier  dagegen,  auf  der  Grundlage  der 
vorangehenden  Ausführungen  und  Resultate,  der  doppelte  Nachweis  versucht 
werden,  daß  jeder  Erzieher  —  mag  ihn  auch  die  „Gnade"  nicht  zur  „Per- 
sönlichkeit" geschaffen  haben  —  sein  Erziehungsamt  nach  bestem  Wissen 
und  Gewissen  in  negativer  und  positiver  Hinsicht  vertreten  kann  und  muß: 
negativ  durch  Behütung  des  anvertrauten  Kindes  vor  falschen  Wegen  und  ihren 
Gefahren!),  positiv  durch  Anstoß  zur  Selbstbeteiligung  und  durch  mithelfende 
Lenkung  des  Zöglings  auf  diesem  Wege.  Es  sei  gestattet,  hier  nur  in  groben 
Umrissen  die  wichtigsten  Ansatzpunkte  und  Umgrenzung  dieser  Aufgabe  an 
ZögHng,  Bildungsgut  und  Erzieher  herauszuheben.  — 

Jedes  heranwachsende  Kind  hat  bestimmte  Interessen 2),  die  ihm  zunächst 
wahllos  zuströmen  und,  je  nach  der  Größe  seines  Einheitsbewußtseins,  un- 
geordnet, oft  geradezu  chaotisch  in  ihm  sich  neben-  und  durcheinander 
lagern.  Hier  hat  der  Erzieher,  aus  der  Fülle  eigener  Erfahrungen  schöpfend, 
keinesfalls  nur  neue  Interessen  zu  erwecken,  sondern  die,  in  denen  sich 
der  Keim  besonderer  Begabung  bemerkbar  macht,  zu  einer  notwendigen, 
wertvollen  Einheit  (oft  durch  Erzeugung  neuer,  wertvoller  Interessen)  zu  ver- 
binden und  zu  lenken,  ohne  vor  der  Notv\'^endigkeit  einer  strengen  Zurück- 
drängung ablenkender,  am  Triebleben  fest  haftender  Interessen  zurückzu- 
schrecken. Dreifach  ist  schon  hier  die  Stufenfolge  des  Gegebenen:  von  der 
Analyse  über  die  kritische  Prüfung  zur  synthetischen  Vereinheitlichung  ihrer 
Erfassung  und  Verwertung.  —  Erst  auf  und  an  diesen  Fundamenten  kann 
Vk'^ahre  Begabung,  deren  Ej^tenz  freilich  auf  „Gnade"  angewiesen  ist,  ent- 
wickelt werden  aus  einer  Anlage  rein  konservativen  Charakters  (einem 
ruhenden  Schatze  vergleichbar)  zur  organischen,  d.  h.  bewußten  und  organi- 
schen „Energie".^)  In  das  Gebiet  des  Reinsittlichen  aber  führt  drittens  die 
Ausdeutung  der  Begabung  als  ethischer  Verpflichtung  und  Grundlage  einer 
Ethisierung  der  Bildung  schlechthin :  der  Zögling  soll  erkennen,  daß  er  einer 
Bildungsgemeinschaft  angehört  (Schule,  Klasse,  auch  Eltern)  und  doch  indi- 
viduelle Persönlichkeit  ist,  deren  Förderung  er  nicht  minder  verpflichtet  ist 


Ereignisse  in  Jena  und  Spandau,  die  Schärfe  jener  Ausführungen  zu  mildern,  wenn  man  die 
wundervollen,  aus  der  Mitte  dieser  Jugendbewegung  stammenden  Worte  des  ehrenvollst,  nur 
allzu  früh  dahingegangenen  Eisenacher  Dichters  Walter  Flex  in  seinem  „Der  Wanderer  zwischen 
beiden  Welten"  (1918  S.  43  f.)  tiefbewegt  liest. 

')  Litt  scheint  das  vollständig  übersehen  zu  haben, 

^)  Vieles  in  den  folgenden  Ausführungen  wird  dem  obengenannten  Buche  von  W.  Stern 
verdankt;  da  sich  Litt  darauf  beruft,  ist  es  hier  stärker  herangezogen  worden. 

3)  Stern  (S.  88)  hat  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  ein  Zusammenwirken  von  Interesse 
und  Begabung  sogar  die  Kraft  habe,  „aus  ursprünglichen  Schwächen  hochwertige  Fähigkeiten 
zu  entwickeln'-. 


Bildsamkeit  und  Persönlichkeit  299 


in  Gesinnungshaltung  und  Aibeitsleistung.  In  der  Darlegung  gerade  dieser 
ins  ethische  und  soziologische  Gebiet  hinübergreifenden  Probleme  hat  der 
Lehrer  seine  ganze  Persönlichkeit  einzusetzen,  durch  die  Überzeugungskraft 
seines  Wissens  und  seiner  Rede  und  durch  die  Vorbildlichkeit  seines  Han- 
delns und  andererseits  durch  unerbittliche  scharfe  Kritik  (d.  h,  Ausdeutung) 
an  der  Begabungsrichtung  seines  Zöghngs  und  ihrer  verschiedenartigen,  oft 
noch  kaum  entdeckbaren  Ausstrahlungen.  So  führt  der  Weg  vom  Zögling 
selbst  zu  seinem  Vorbild  und  Führer,  dem  Erzieher.  Stern  (a.a.O.  S.  174f) 
hat  für  ihn  mit  Recht  tiefe  Verb^autheit  mit  einer  aus  dem  oben  erwähnten 
Konvergenzgrundsatz  abgeleiteten  „Anthropotechnik"  gefordert:  die  äußeren 
Erziehungsmittel  (Unterricht,  Erziehung  u.  a.}  sollen  „geeicht  werden  durch 
die  Beziehungen  auf  die  inneren  Mittel  der  Anlagen,  mit  denen  sie  kon- 
vergieren". Ihr  inneres  Zentrum  besitzt  die  „Anthropotechnik"  in  der  schar- 
fen Erfassung  der  Gesetze,  welche  die  "innere  Beeinflussung  des  Zöglings 
unter  Berücksichtigung  seiner  Individualität  gewährleisten  und  gleichfalls 
eine  weit  schärfere  Differenzierung  fordern  und  auch  verdienen,  als  sie  Stern 
i,a.  a.  0.  S.  120)  getroffen  hat.  Die  indirekte  Beeinflussung  —  ob  absichtlich 
oder  unabsichtlich,  macht  keinen  Unterschied  aus  —  stützt  sich  zur  Ver- 
mittlung auf  eine  Verlebendigung  der  Kultur-  und  Naturwerte,  deren  sich 
der  Zögling  zu  bemächtigen  hat.i)  Anders  die  direkte  Beeinflussung 
als  Fühlungnahme  von  Mensch  zu  Mensch,  wo  sich  absichthch  und  unab- 
sichtlich streng  scheiden:  verläuft  sie  unabsichtlich,  so  wurzelt  sie  in  der 
einfachen  Tatsache,  daß  das  Eigenleben  des  Erziehei-s  in  seiner  unbewußten 
MenschUchkeit  sich  als  notwendiger  Bestandteil  des  Gesamtmilieus  darstellt; 
verläuft  sie  aber  absichtlich,  so  fällt  dem  Bildner  die  Rolle  des  absichts- 
vollen Erziehers  zu,  der  seinerseits,  ist  er  vorwiegend  dogmatisch  veranlagt, 
das  Bildungsgut  selbst  als  komplexes  Gebilde,  sachlich  analysiert  und  logisch 
geordnet,  dem  Schüler  zur  kritiklosen  Annahme  vorlegt,  oder,  ist  er  —  ich 
möchte  sagen:  idealistisch  veranlagt,  durch  Auflösung  des  Bildungsguts  in 
Probleme  ihn  selbst  diese  Probleme  erleben  und  zum  Ganzen  und  zur  Lö- 
sung der  es  umschließenden  Fragen  durch  selbständige  kritische  Arbeit  und 
ethische  Bewertung  gelangen  läßt.  Ich  möchte  behaupten,  daß  hierin  sich 
erst  das  Wesen  einer  wahren  Erziehungsgemeinschaft  erschließt:  in  der 
geistigen  und  ethischen  Fortbildung  von  Erzieher  und  Zögling  auf  Grund 
gemeinsamen  Schaffens^);  und  wenn  auch  unleugbar  der  Erzieher,  weil  er 
über  ein  weit  höheres  Maß  von  aus  seiner  Erfahrung  bereitliegenden  (gei- 
stigen und  ethischen)  „Einstellungsformen"  verfügt  als  jener,  in  der  Erkennt- 
nis von  dessen  innerer  Struktur  und  Beeinflussung  ihm  unendhch  überlegen 
ist,  so  weiß  er  nur  zu  oft  dem  ZögUng  Dank  für  die  unbefangene  Betrach- 
tung und  naive  Erkenntniskritik,  mit  der  der  ahnungslose  Zögling  an  den 
Problemkomplex  herantritt.  Beide  MögUchkeiten  der  direkten  Beeinflussung 
freihch  werden,  da  nicht  voneinander  ableitbar,  in  der  Praxis  auf  wechsel- 
seitige Unterstützung  und  Ergänzung  angewiesen  sein,  wobei,  je  nach  der 
psychologischen  Konstitution  von  Lehrer  oder  ZögUng,  der  eine  oder  andere 
Standpunkt  prävaliert.    Ist  der  Erzieher  mehr  sb-enger  Lehrer  als  freundhcher 

')  Hier  stellt  der  Erzieher  seine  Persönlichkeit  vollständig  hinter  das  Werk  und  läßt  es  ganz 
aus  und  durch  sich  selbst  wirken. 

*)  Schon  ol)en  erschien  dies  sein  Wesen  als  ,^ingabe  an  die  Sache  selbst"  aul  dem  „Kampf- 
felde scharfer  Deukarljeit  au  der  Sache". 


300  Walther  Saupe,  Bildsamkeit  und  Persönlichkeit 


Führer  —  ich  lasse  die  Fülle  von  Zwischenstufen  beiseite  — ,  so  wird  sich 
das  neue  Gebiet  (Lehrstoff)  als  fremde  Macht  dem  Zögling  gegenüberstellen, 
eine  Schranke,  welche  der  Erzieher,  wenn  er  Persönlichkeit  ist,  seinen  Zög- 
ling durch  psychologische  Ableitung  des  Neuen,  also  auf  induktiv- em- 
pirischem Wege,  überwinden  lassen  wird.  Der  entgegengesetzte  Charakter 
der  Lehrpersönlichkeit  wird  den  Schüler  gar  nicht  zu  der  Empfindung  einer 
fremden  Macht  kommen  lassen  und  kann  dann  zunächst  unter  freudiger 
Zustimmung  des  Schülers  das  Bildungsobjekt  in  seinen  Grundzügen  dedu- 
zieren. Läßt  er  dem  dann  noch  die  psychologische  Ableitung  folgen,  so 
findet  jener  in  ihr  die  Bestätigung  des  durch  Deduktion  Gelernten,  und 
daß  somit  sein  Interesse  und  die  Erinnerung  verstärkt  wird,  bedarf  nicht 
erst  weiterer  Betonung.  So  wird  die  Entscheidung  i)  zwischen  Induktion 
und  Deduktion  in  der  Pädagogik  psychologisch  erledigt,  wobei  eine  andere 
rein  logische  Lösung  dieser  Fragen  immer  noch  möghch  bleibt. 

Zwischen  Lehrer  und  Zögling  steht  endhch  das  Bildungsgut  selbst,  und 
auch  an  ihm  gibt  es  nun  Ansatzpunkte  für  eine  Persönlichkeitsbildung  zu 
suchen.  Als  Hauptproblem  darf  sich  hier  wohl  betrachten  die  Forderung 
des  Bildungsgutes,  die  in  ihm  eingeschlossenen  Zwecke  und  Werte  mit  der 
Autoteile  des  Zöglings  zu  seiner  geistigen  und  sittlichen  Selbstentfaltung 
verschmolzen  zu  sehen,  auf  daß  rückwirkend  sich  ihre  Förderung  durch 
den  heranwachsenden  Menschen  ergeben  kann.2)  Stern,  der  hier  von  „An- 
leitung des  Zöglings  zur  Introzeption  der  Fremdzwecke  in  seine  Eigenzwecke 
(die  der  Lehrer  natürlich  aufspüren  muß)  spricht,  hat  auch  hier  neben  dieser 
direkten  Methode  den  indirekten  schon  erwähnten  Weg  außer  acht  gelassen : 
die  vorbildliche  Selbstdarstellung  der  Introzeption  der  Fremdzwecke  in 
Eigenzwecke  durch  den  Erzieher  (vgl.  die  Anmerkung!).  Hier  ist  wenig 
tun  oft  unendlich  mehr  als  lange  reden,  wenn,  imi  nur  einiges  zu  erwäh- 
nen, der  Erzieher  dem  Zöghng  seine  und  seiner  Kollegen  (als  richtig  an- 
erkannte) Abhängigkeit  nicht  nur  von  überindividuell-überpersonalen  Wesen- 
heiten und  Forderungen  geistigen  und  gesellschaftlichen  Charakters,  sondern 
auch  von  den  übergeordneten  Behörden  zeigt  und  —  nach  der  anderen 
Seite  hin  —  ihn  hinweist  auf  die  freiwillige  Herabstimmung  und  das  Ein- 
gehen des  Erziehers  auf  die  kindlichen  Wünsche  und  Bedürfnisse,  auf  sein 
väterliches  Verständnis  und  die  ihm  entgegengebrachte  Geduld,  wie  sie 
etwa  einer  ganzen  Klasse  gegenüber  (als  einem  ganz  anderen  soziologischen 
Phänomen)  niemals  von  rechtem  Werte  sein  dürfte.  So  erscheint  denn  doch 
das  von  Stern  (a.  a.  0.  S.  59  ff.)  geforderte  Ziel  der  Persönlichkeitsbil- 
dung: die  Erweiterung  des  Ich  ins  Mikrokosmische,  oder  wie  es  hier  ge- 
nannt werden  soll :  die  Heranbildung  des  Individuums  zum  produktiven  Teil- 
haben an  den  Werten  aus  zielstrebiger,  persönlicher  Einheit  heraus  und  im  Sinne 
einer  Freiheitstat,  in  dem  freundlichen  Lichte  einer  möghchen  VerwirkHchung, 


')  Vgl.  auch  die  sehr  berechtigten  Einwände  gegen  die  Induktion  in  der  Pädagogik  iu 
M.  Siebourg's  „Handbuch  für  höhere  Scliulen"  (Ziele  u.  Wege  d.  Unterrichts",  Lpz.  1918,  S.  97f). 

^)  Seelisch  schiebt  sich  hier  noch  als  schwer  kompliziertes  Problem  die  Tatsache  ein,  daß 
diesem  Ausgleich  der  Forderungen  des  Bildungsgutes  mit  der  Autoteile  des  Zöglings  ein  solcher 
zwischen  jenen  Forderungen  und  der  Autoteile  des  Erziehers  vorausgehen  muß,  von  dem  wei- 
teren Gegensatze  der  Autoteile  des  Erziehers  und  des  Zöglings  noch  ganz  zu  schweigen.  Doch 
gehört  dies  in  das  Kapitel  „Heranbringung  des  Stoffes  an  den  Zögling"  und  damit  zu  dem  um- 
fassenderen Thema:  „Vorbereitung  des  Erziehers  auf  den  Unterricht",  das  sich  hier  nicht  mehr 
erledigen  läßt. 


Martha  Muchow  u.  Wilh.  Höper,  Beobachtungsbogen  u.  Schülerauslese      301 

wenn  man  ihre  beiden  Hauptrichtungen  scharf  im  Auge  behält:  die  Heran- 
bildung des  Menschen  zum  Werkzeug  überindividueller  Zielstrebigkeiten, 
und  zugleich  zu  einer  starken,  unbestechlichen  Selbstbestimmung.  Damit 
aber  verliert  der  Persönlichkeitsbegriff  und  seine  Realisierung  den  substan- 
tiellen Charakter,  den  ihm  Litts  „Gnaden"vorstellung  gibt,  wird  aber  dafür 
zur  funktionellen  Veranlagung  —  von  Anfang  an  hat  sich  ja  eine  Fülle  von 
Ansatzpunkten  für  den  Erzieher  als  Bildner  von  Persönlichkeiten  aufweisen 
lassen  —  und  ewigem  Kampfprinzip,  dem  ein  „Paradies  voll  ewiger  Har- 
inonie"  (Stern,  S.  63)  nichts  anderes  als  ein  Danaergeschenk  bedeuten  würde. 
An  seine  Stelle  setzt  es  die  Forderung,  die  Umwelt  und  das  Ich  immer  tie- 
fer zu  erfassen  und  sein  Denken  und  Tun  der  Entwicklung  der  Kultui*  und 
ihrer  Werte  zu  weihen,  zu  deren  Förderung  wir  berufen  sind. 

Trotz  seines  Skeptizismus  hat  Litt  den  Sprung  aus  dem  theoretischen  ins 
praktische  Gebiet  gewagt.  Doch  soll  ihm  in  diesem  Zusammenhang  nicht 
dorthin  gefolgt  werden,  zumal  da  Litt  m.  E.  jenes  Problem  eigenthch  gerade 
nur  bis  dahin  verfolgt  hat,  wo  eine  neue  Welt  der  Fragen  sich  auf  tut,  die 
sich  am  schärfsten  durch  die  Beziehung :  Lehrfach,  Lehrplan  und  Werttheorie, 
umschreiben  läßt.  Litt  hat  sie  nicht  betreten,  w^ohl  gehindert  durch  seine 
pessimistische  Stellung  zu  Wesen  und  Begriff  der  Persönlichkeit  und  ihrer 
Heranbildung;  wer  jedoch  hier  optimistisch  fühlt  und  denkt,  wird  sich  mit 
ihr  und  ihren  Probiemkomplexen  schon  um  seiner  eigenen  Bildungs-  und 
Selbstbildungsarbeit  willen  befassen  dürfen  und  auch  sollen. 


Beobachtungsbogen  und  Schülerauslese. 

Zwei  Berichte  aus  dem  Psycholog.  Laboratorium  der  Hamburgischen  Universität. 
Von  Martha  Muchow  und  Wilhelm  Höper. 

Vorbemerkung.  Mehr  und  mehr  setzt  sich  die  Überzeugung  durch,  daß  sich  die  Auslese 
begabter  Schüler  gründen  muß  auf  eine  Verbindung  experimenteller  Prüfungsmethoden  mit  den 
Methoden  einer  systematischen  Beobachtung.  Um  diese  letztere  herbeizuführen,  sind 
, Beobachtungsbogen'  ausgearbeitet  worden,  die  den  Lfehrern  die  psychologischen  Gesichts- 
punkte zur  Beobachtung  der  Schüler  darbieten  sollen.  Die  umfangreichsten  Erfahrungen  mit 
Beobachtungsbogen  liegen  bisher  in  Hamburg  vor,  wo  in  den  Jahren  1918/19  bei  der  Auslese 
10  jähriger  Volksschüler  und  Volksschülerinnen  etwa  zwei  Tausend  solcher  Bogen  ausgefüllt 
worden  sind.  Aus  den  Hamburger  Erfahrungen  sind  die  beiden  folgenden  Berichte  hervor- 
gegangen, die  über  Bedeutung,  Methodik  und  Ergebnisse  des  Beobachtungsbogens  aufklären  sollen. 

Der  Hamburger  Beobachtungsbogen  des  Jahres  19!  8  ist  im  Psychologischen  Laboratorium  von 
Fräulein  Martha  Muchow  mit  Unterstützung  des  Unterzeichneten  und  anderer  Seminarteilnehmer 
ausgearbeitet  worden;  er  findet  sich  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  19  S.  138  ff.  abgedruckt.  Das  eben 
erschienene  Buch:  R.  Peter  und  W.  Stern,  „Die  Auslese  befähigter  Volksschüler  in  Hamburg" 
(Hamburger  Arbeiten  zur  Begabungsforschung  Nr.  1,  Leipzig,  Barth  1919)  enthält  einen  aus- 
führlichen Bericht  über  ihn  von  Martha  Muchow. 

Auf  Grund  der  bei  der  ersten  Anwendung  gemachten  Erfahrungen  wurde  für  1919  eine  z.  T. 
abgeänderte  Form  des  Beobachtungsbogens  gewählt;  diese  Fassung  enthält  Fragen  und  Beob- 
achtungsanweisungen aus  folgenden  psychischen  Gebieten: 

1.  Anpassungsfähigkeit  7.  Denken 

2.  Aufmerksamkeit  8.  Sprachlicher  Ausdruck 

3.  Ermüdbarkeit  9.  Arbeitsart 

4.  Wahrnehmung  und  Beobachtungsfähigkeit        10.  Gemüts-  und  Willensleben 

5.  Gedächtnis  H    Besondere   Interessen    und  Talente. 

6.  Phantasie 


302  Martha  Muchow 

Der  neue  Bogen  ist  der  umseitig  genannten  Schrift  von  Peter  und  Stern  als  Anhang  bei- 
gegeben; außerdem  ist  er  als  Sonderdruck  im  Buchhandel  erschienen  unter  dem  Titel 
„Psychologischer  Beobachtungsbogen  für  Schulkinder  1919".     Leipzig,  Barth  1919. 

Die  ausgefüllten  Bogen  des  Jahres  1919  sind  für  die  Zwecke  der  Auslese  von  Martha  Muchow, 
Rudolf  Peter  und  Dr.  Höper  durchgearbeitet  worden.  Stern. 

Notwendigkeit  und  Möglichkeit  der  Heranziehung  des  Lehrerurteils 

bei  der  Begabtenauslese. 

Von  Martha  Muchow. 

Das  Problem  der  Zuweisung  der  richtigen  Schüler  an  die  richtigen  Schul- 
gattungen ist  ohne  Zweifel  eins  der  schwierigsten,  die  in  dem  gesamten 
Problemkomplex  der  Einheitsschule  auftauchen.  Wenn  aber  die  von 
der  Lehrerschaft  mit  zäher  Ausdauer  errungene  neue  Schulform  kein  bloßer 
Name  sein  soll,  so  muß  es  gelingen,  gerade  für  diese  Frage  eine  möglichst 
einwandfreie  Lösung  zu  finden.  Freilich  ein  absolut  sicheres  Bestimmungs- 
maß für  die  Aufnahmefähigkeit  in  diesen  oder  jenen  höheren  Zug  gibt  es 
überhaupt  nicht,  wird  es  nie  geben.  Kennen  wir  doch  alle  jene  Glanzschüler 
der  Elementarklassen,  die  nachher  an  einer  gewissen  Grenze  anfangen  zu 
versagen,  die  langsam  in  der  Rangordnung  der  Klasse  immer  tiefer  und 
tiefer  sinken  und  schließlich,  sogar  mit  dem  Durchschnitt  nicht  mehr  Schritt 
haltend,  sitzen  bleiben ;  oder  jene  Sorgenkinder  der  Unterklassen,  die  in  den 
letzten  Schuljahren,  oft  erst  in  der  Fortbildungsschule,  mit  dem  Übergang 
zur  Pubertät  und  Reife  plötzlich  einen  ungeahnten  Reichtum  an  Gaben  ent- 
falten. Aber  die  Methode,  bei  welcher  die  Gefahr,  daß  echte  Begabungen 
niedergehalten,  unechte  blendende  emporgehoben  werden,  auf  das  geringste 
mögliche  Maß  beschränkt  wird,  zu  suchen,  dürfen  wir  uns  dennoch  nicht 
verdrießen  lassen. 

Bei  der  Schaffung  unserer  neuen  Schulgattungen  tritt  mit  größter  Deutlich- 
keit der  Fähigkeitsgesichtspunkt  hervor.  Bei  der  Zuweisung  der  Schüler 
zu  den  Oberzügen  der  Einheitsschule  darf  daher  keineswegs  der  Kenntnis- 
und  Wissensgesichtspunkt  ausschlaggebend  sein.  Wir  müssen  versuchen, 
an  die  Fähigkeiten  und  Begabungen  selber  heranzukommen,  wenn  wir  über 
die  Aufnahmefähigkeit  entscheiden  wollen. 

Darin  aber  liegen  in  zwiefacher  Hinsicht .  bedeutende  Schwierigkeiten. 
Einerseits  erschwert  die  Art  der  Arbeit  im  Unterbau  die  Diagnose  der 
für  die  Oberzüge  erforderlichen  Fähigkeiten  ganz  wesentlich  dadurch,  daß 
eben  diese  Fähigkeiten  durch  sie  nur  sehr  wenig  ins  Spiel  gesetzt  werden, 
sich  also  in  den  Leistungen  der  Elementarschüler  nur  sehr  selten  dokumen- 
tieren. Das  Ergebnis  der  Elementarbildung  darf  deshalb  keineswegs  allein 
darüber  entscheiden,  ob  ein  Kind  eine  höhere  Bildungsanstalt  und  welche  es 
zu  besuchen  habe.  Auch  für  den  Fall  der  Ausgestaltung  des  Unterbaus  nach 
den  Grundsätzen  der  Arbeitsschule  würde  diese  Schwierigkeit  bestehen  bleiben. 
Das,  was  die  höheren  Züge  verlangen,  wird  stets  die  Neigung  und  Veran- 
lagung zur  geistigen  Arbeit  in  den  Formen  mehr  wissenschaftlichen  Denkens 
sein.  Diese  Fähigkeit  bei  einem  Schüler  in  der  Arbeit  der  Grundschule  ein- 
wandfrei und  mit  Sicherheit  nachzuweisen,  wird  immer  sehr  schwierig  sein 
und  nur  feinster  psychologischer  Analyse  und  hervorragender  pädagogischer 
Einfühlung  gelingen. 


Das  Lehrerurteil  bei  der  Begabtenauslese  303 

Damit  kommen  wir  zu  der  zweiten  Schwierigkeit,  die  nicht  in  der  Natni- 
des  Elementarunterrichts  Hegt,  sondern  beim  Lehrer.  Es  wird  hier  etwas 
vom  Lehrer  verlangt,  was  er  gewiß  bis  zu  einem  bestimmten  Grade  teils  als 
natürliches  Gut  besessen,  teils  im  Lauf  der  Jahre  auf  dem  Erfahnmgswege 
erworben  hat,  aber  was  er  doch  noch  nie  für  so  schwerwiegende  Entschei- 
dungen wie  die  über  den  Lebensweg  eines  jeden  seiner  Schüler  anzuwenden 
nötig  hatte. 

Er  soll  außer  zu  der  pädagogischen  Einstellung,  die  in  der  Haupt- 
sache eine  solche  auf  Wirken  ist,  zu  einer  psychologischen,  passiv 
beobachtenden  Einstellung  fähig  sein.  Er  soll  nicht  nur  die  äußeren 
Leistungseffekte  seiner  Schüler  sehen,  sondern  die  dahinter  stehenden  Fähig- 
keiten und  Anlagen  erkennen  und  in  ihrem  Anteil  an  der  Leistung  bestimmen 
können.  Er  soll  sogar  imstande  sein,  eine  ziemlich  sichere  Prognose  für  die 
spätere  Entwicklung  dieser  Anlagen  zu  stellen.  Kurz,  er  soll  ein  solches 
Maß  von  jugendpsychologischem  Verständnis  und  psychologischer  Schulung 
beweisen,  wie  es  die  große  Mehrzahl  unserer  Pädagogen  heute  noch  nicht 
besitzt,  auch  nicht  besitzen  kann,  weil  es  eine  Unterweisung  in  praktischer 
Jugendpsychologie  in  unseren  Lehrerbildungsanstalten  nicht  gegeben  hat. 

So  würden  denn  die  Schüler,  welche  in  den  zahlreichen  Schlußklassen  der 
Grundschule  von  sehr  verschiedenen  Lehrern  ausgesondert  worden  sind,  wohl 
niemals  ein  homogenes  Material  für  einen  Oberzug  darstellen.  Der  eine  Lehrer 
wählt  nach  diesen,  der  andere  nach  jenen  Gesichtspunkten  aus.  Von  einer 
exakten  Vergleichbarkeit  könnte  keine  Rede  sein.  In  den  meisten  Fällen 
wird  sich  der  Lehrer  kaum  darüber  klar  sein,  welche  Einzelbeobachtungen, 
welche  Symptome  ihn  eigentlich  zu  seinem  Urteil  geführt  haben.  Die  Zuord- 
nung bestimmter  Anlagen  zu  den  einzelnen  Symptomen  ist  ja  überhaupt 
außerordentlich  schwankend,  und  subjektiven  Einflüssen  und  Deutungen 
ist  hier  Tür  und  Tor  geöffnet.  Eine  sehr  bedeutende  Rolle  spielt  in  dieser 
Hinsicht  z.  B.  der  psychologische  Typ,  dem  der  Lehrer  angehört.  Ganz  ohne 
dessen  Absicht  gibt  er  den  Maßstab  ab  für  die  Art  des  Schülers,  und  zwar 
zumeist  in  dem  Sinne,  daß  sein  eigener  Typ  dem  Lehrer  auch  als  der  normale 
erscheint.  An  ihm  mißt  er,  nach  ihm  bestimmt  er  den  Wert  oder  Unwert 
des  Kindes.  Andersartige  Kinder  kommen  dabei  natürlich  sehr  häufig  nicht 
zu  ihrem  Recht. 

Ein  ganz  wesentUches  Hemmnis  für  die  Auslese  nach  Fähigkeiten  ist,  wie 
schon  angedeutet,  die  pädagogische  Einstellung  des  Lehrers.  Sie  kann 
eine  richtige  psychologische  Beobachtung  und  Beurteilung  empfindlich  stören, 
ja  geradezu  durch  eine  einseitige  Werteinstellung  gegenüber  manchen  Eigen- 
schaften, wie  sie  in  der  Pädagogik  von  Alters  her  gang  und  gäbe  ist,  un- 
möglich machen.  Wie  oft  wird  z.  B.  das  Phlegma  eines  Jungen  verurteilt, 
ohne  daß  man  daran  denkt,  daß  ihm  vielleicht  nur  die  geistige  Nahrung 
fehlt,  welche  er  braucht. 

Aber  wenn  auch  die  psychologische  Schulung  der  Lehrerschaft  eine  andere, 
bessere,  mehr  an  der  Praxis  orientierte  wäre,  als  sie  es  heute  ist,  so  würde 
dennoch  die  Verantwortung  für  die  Auslese  bei  der  ungeheuren  Tragweite, 
welche  sie  für  das  Lebensschicksal  des  einzelnen  sowohl  als  auch  für  das 
Wohl  der  Allgemeinheit  hat,  kaum  von  ihr  allein  getragen  werden  können. 
Es  muß  für  die  Begabtenaussonderung  ein  Mindestmaß  von  Exaktheit,  eine 
gewisse    Vergleichsmöglichkeit    für    die    Auszulesenden    gefordert   und    eine 


304  Martha  Muchow 

Methode,  die  das  gewährleistet,  gesucht  werden.  Diese  zu  linden,  konnte 
nur  die  Aufgabe  der  systematischen  Zusammenarbeit  von  Pädagogik  und 
wissenschaftlicher  Psychologie  sein. 

Es  ist  bekannt,  daß  bei  dem  ersten  Versuch  einer  Anwendung  der  Psycho- 
logie bei  der  Schaffung  von  Begabtenklassen  (Berlin,  im  Herbst  1917)  die 
Intelligenzprüfungsmethode  als  einziges  Auslesemittel  benutzt  worden 
ist.  Das  Lehrerurteil  wurde  so  gut  wie  gar  nicht  berücksichtigt.  Es  kam  nur 
insofern  zum  Ausdruck,  als  den  Schulen  das  Vorschlagsrecht  für  die  Prüfungen 
überlassen  blieb. 

Den  Mitgliedern  des  Hamburger  Psychologischen  Laboratoriums  erschien, 
als  Ostern  1918  auch  ihnen  die  Mitarbeit  an  der  Begabtenauslese  zur  Auf- 
gabe gestellt  wurde,  dieser  Weg  als  einseitig,  als  eine  zu  starke  Belastungs- 
probe für  eine  so  junge  Methode,  wie  die  Testprüfung  sie  darstellt.  Die 
alleinige  Verantwortung  für  die  Auslese,  welche  die  Lehrerschaft  nicht  tragen 
konnte  und  wollte,  sollte  damit  wiederum  einseitig  der  experimentellen  Psycho- 
logie zugemutet  werden.  Sie  konnte  und  wollte  sie  aber  ebensowenig  aliein 
tragen  wie  jene. 

Kann  doch  das  Experiment  auch  bei  der  geschicktesten  und  viel- 
seitigsten Zusammensetzung  der  Testserien  nicht  die  Gesamtheit  der 
intellektuellen  Eigenschaf  ten  erfassen,  geschweige  denn  der  seelischen 
überhaupt.  Für  die  Zwecke  unserer  Einheitsschule  oder  der  Begabten- 
klassen genügt  es  aber  durchaus  nicht,  daß  wir  den  hohen  Grad  dieser 
oder  jener  einzelnen  Fähigkeit  (z.  B.  zur  Bildung  von  Analogien,  zum  Defi- 
nieren, Kombinieren  usw.)  feststellen.  Wir  erwarten  von  den  Schülern  unserer 
zukünftigen  höheren  Schulgattungen  ja  nicht  nur  überdurchschnittliche  Schul- 
leistungen und  die  Bewältigung  umfangreicherer  Lehrpensen ;  sie  sollen  sich 
auch  im  späteren  Leben  durchsetzen,  sich  ihren  Platz  als  Führer  und  Vor- 
bilder erringen  und  ihre  Begabung  für  den  Fortschritt  und  die  Wohlfahrt  der 
Allgemeinheit  fruchtbar  machen.  Dazu  aber  gehört  mehr  und  anderes  als 
nur  eine  höhere  Intelligenz,  als  eine  besondere  Begabung  für  die  wichtigen 
Denktätigkeiten.  Der  Kampf  um  die  führende  Stellung  erfordert  Individuen 
von  ganz  bestimmter  Beanlagung  des  Gemüts-  und  Willenslebens,  von  festem 
Charakter;  er  fordert  Beharrlichkeit,  Ausdauer,  Selbständigkeit,  Initiative, 
organisatorisches  und  Führertalent.  Alle  diese  Eigenschaften  lassen  sich  aber 
nicht  experimentell  ermitteln.  Das  Tiefste,  Beste,  Wertvollste  der  menschlichen 
Persönlichkeit  erschließt  sich  doch  eben  nicht  dem  technisch-exakten  Ver- 
fahren. 

Ein  weiterer  Mangel  des  Experiments  liegt  in  seiner  Lebensferne.  Der 
Versuchsleiter  legt  dem  Kinde  einzelne  konstruierte  und  künstlich  isolierte 
Aufgaben  vor,  die  in  dieser  Nacktheit  im  Leben  wohl  nie  vorkommen.  Und 
gerade  den  Anforderungen  des  Lebens  soll  sich  der  auszulesende  Schüler  doch 
nachher  gewachsen  zeigen!  Der  Experimentator  sieht  außerdem  das  ihm 
sonst  völlig  fremde  Kind  nur  unter  ganz  außergewöhnlichen  Bedingungen, 
unter  dem  Druck  von  Prüfungsangst  und  Scheu.  Er  gründet  sein  Urteil  auf 
die  Analyse  der  wenigen  kurzen  Prüfungsergebnisse,  die  ihm  meistens  nur 
in  schriftlich  fixierter  Form  vorliegen.  Bei  Massenuntersuchungen  wird  er 
zwischen  sich  und  die  Kinder  eine  große  Zahl  von  sehr  verschiedenartig  be- 
gabten und  geschulten  Helfern  treten  lassen  müssen.  Selbst  bei  sorgfältigster 
Instruktion  wird  ein  vöUig  gleichartiges  Arbeiten  in  den  einzelnen  Gruppen 


Das  Lehrerurteil  bei  der  Begabtenauslese  305 

kaum  erzielt  werden.  Durch  die  verschiedene  Veranlagung,  besonders  durch 
das  verschiedene  Temperament  der  Prüfer  werden  stets  für  den  einen  Prüfling 
günstigere,  für  den  anderen  ungünstigere  Bedingungen  geschaffen  werden, 
deren  Einfluß  unkontrollierbar  ist. 

Alle  diese  Mängel  des  Experiments  zeigen,  daß  seine  Resultate,  die  uns  zwar 
den  großen  Vorteil  einer  exakten  Meßbarkeit  und  Vergleichbarkeit  ge- 
währen, doch  nicht  sicher  genug  sein  können,  um  die  Begabtenauslese  einzig 
und  allein  darauf  zu  gründen.  Die  Testprüfung  bedarf  dringend  der  Er- 
gänzung, und  zwar  der  Ergänzung  durch  ein  auf  breiterer  Grundlage 
ruhendes  Urteil.  Die  Lehrerschaft  muß  und  wird  daher  den  Anspruch  er- 
heben, neben  den  Prüfungsergebnissen  auch  ihre  Erfahrungen  zu  deren  Er- 
gänzung und  Deutung  geltend  zu  machen. 

Die  wiederholte  Betonung  des  Fähigkeitsgesichtspunktes  entkräftet  sofort 
einen  Einwurf,  der  hier  vielleicht  gemacht  werden  könnte:  daß  ja  das  Lehrer- 
urteil in  den  üblichen  Schulzeugnissen  vorhanden  sei  und  verwendet 
werden  könne.  Das  ist  aber  keineswegs  möglich ;  denn  einerseits  enthalten 
die  Schulzeugnisse  nur  Urteile  über  Leistungen,  nicht  aber  über  Anlagen 
und  Fähigkeiten.  Andererseits  sind  die  in  den  Zeugnissen  verschiedener 
Lehrer  bemerkbaren  Unterschiede  äußerst  unzuverlässig,  da  erfahrungs- 
gemäß die  zahlenmäßige  Bewertung  einer  Leistung  durch  verschiedene  Lehrer 
außerordentlich  verschieden  und  subjektiv  und  ferner  stark  durch  das  Niveau 
der  Leishmgsfähigkeit  der  betreffenden  Klasse  bestimmt  ist. 

Es  ist  deshalb  mit  Recht  von  Stern  von  vornherein  gefordert  und  von  den 
verschiedensten  Schulmännern  bei  Begabtenauslesen  praktisch  versucht  worden, 
das  Lehrerurteil  über  die  Schüler  in  einer  anderen  Form  heranzuziehen.  Für 
die  Auslese  begabter  Volksschüler  in  Hambujg  1918  ist  zu  dem  Zwecke  zum 
erstenmal  die  Methode  einer  nach  psychologischen  Gesichtspunkten  orientier- 
ten, dmch  ein  systematisches  detailliertes  Schema  geleiteten  Beobachtung  der 
Schüler  durch  den  Lehrer  ausgearbeitet  und  neben  dem  experimentellen  Ver- 
fahren angewendet  worden. 

Dieser  neuen,  inzwischen  vielfach  angewendeten  Metiiode  erschließt  sich 
das  meiste  von  dem,  was  in  dem  Prüfungsergebnis  und  den  Schulzensuren 
nicht  zum  Ausdruck  kommen  kann,  besonders  die  Beanlagung  des  Gemüts- 
und Willenslebens.  Ihre  Ei*gebnisse  stehen  auf  einer  viel  breiteren  und  natür- 
licheren Grundlage  als  das  Urteil  des  Prüfers.  Sie  stützen  sich  auf  eine  viel- 
seitige Bekanntschaft  mit  dem  Schüler.  Der  Lehrer  hat  Gelegenheit  gehabt, 
das  Kind  zu  beobachten  bei  seinem  Verhalten  in  den  verschiedensten  Lebens- 
lagen, bei  mündlichen  und  schriftlichen  Aufgaben  der  verschiedensten  Art; 
er  kennt  sein  Fragen  und  Antworten,  seine  Gleichgültigkeit  und  Anteilnahme 
bei  verschiedenen  Stoffen,  seine  Ausdauer  und  Beharrlichkeit  bei  Schwierig- 
keiten, seine  Selbständigkeit  oder  sein  Anlehnungsbedürfnis  beim  Arbeiten, 
seine  Umsicht  und  Tatkraft  oder  seine  Unbeholfenheit  und  Energielosigkeit, 
sein  soziales  Verhalten  und  vieles  mehr.  Er  hat  mit  ihm  in  der  gleichen 
Lebensgemeinschaft  gestanden,  und  während  dem  Experimentator  für  seine 
Feststellungen  nur  eine  sehr  kurze  Zeitspanne  zur  Verfügung  steht,  gründet 
sich  das  Urteil  des  Lehrers  auf  eine  Fülle  von  Beobachtungen,  die  in  monate-, 
ja  jahrelanger  Arbeitsgemeinschaft  mit  dem  Schüler  gesammelt  wiu-den. 

Es  ist  vielfach  von  Lehrern  gegen  unsere  Methode  der  durch  einen  Frage- 
bogen gebundenen  Beobachtung  eingewendet  worden,   sie  lasse  der  freien 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  20 


306  Martha  Muchow 


schöpferischen  Individualitätenbeschreibung  so  wenig  Spielraum  und  verleite 
zur  Verwischung  der  individuellen  Differenzen  der  Schüler,  Freilich  würde  es 
für  eine  spätere  differentiell-psychologische  Verarbeitung  wertvoller  sein,  wenn 
wir  über  jeden  Schüler  einen  Bericht  in  Form  eines  freien  Resumes  erhalten 
könnten;  aber  doch  nur  in  dieser  einen  Hinsicht.  Die  Vergleichbarkeit 
der  Berichte  wäre  in  diesem  Falle  doch  sehr  schwer  zu  erzielen,  wenn  nicht 
überhaupt  unmöglich.  In  den  meisten  Fällen  würde  auch  wohl  diese  Art 
von  Urteilen  kaum  etwas  anderes  sein  als  eine  Wiederholung  der  Schulnoten 
in  Worten.  Auf  die  psychologisch  wichtigen,  zur  Ergänzung  und  Unter- 
stützung der  Testprüfung  erforderlichen  Fragen  würden  wir  wohl  oft  keine 
Antworten  erhalten,  weil  es  der  Mehrzahl  der  Lehrer  an  der  dazu  nötigen 
psychologischen  Schulung  mangelt. 

Diese  Schulung  allmählich  zu  erreichen,  wird  aber  vielleicht  gerade  durch 
die  Bindung  an  einen  ausführlichen  Fragebogen  gelingen.  Es  gilt  jedoch, 
bei  der  Schaffung  eines  solchen  Schemas  zunächst  alle  diejenigen  Dinge  fort- 
zuräumen, die  den  Lehrern  die  Aufgabe  zu  schwierig  machen  könnten.  Wir 
faßten  aus  diesem  Grunde  z.  B.  unseren  Hamburger  Beobachtungsbogen  damals 
nicht  in  Stichworten  ab,  sondern  stellten  vollständige,  möglichst  ganz  eindeutige 
Fragen,  die  zugleich  zu  der  erforderlichen  Beobachtung  anleiteten.  Oft  ver- 
langten wir  vom  Lehrer  nur  ganz  objektive  Feststellungen,  ohne  daß  er  eine 
psychologische  Deutung  vorzunehmen  brauchte.  (Z.  B.  Stellt  das  Kind  selb- 
ständig sinnvolle  Fragen?  Äußert  es  eigene  Gedanken?)  Besondere  Vor- 
sicht wird  bei  der  Herstellung  eines  solchen  Schemas  immer  nötig  sein  bei 
der  Formulierung  der  Fragen.  Psychologische  Ausdrücke,  die  in  der  naiven, 
volkstümlichen  Psychologie,  im  alltäglichen  Sprachgebrauch  oft  etwas  ganz 
anderes  bedeuten  als  in  der  wissenschaftlichen  Terminologie,  müssen  streng 
vermieden  werden.  Um  möghchst  genau  anzuleiten,  haben  wir  in  unserem 
Hamburger  Bogen  fast  überall  Alternativfragen  verwendet.  Die  Erfahrungen 
mit  dem  Bogen  zeigten  jedoch,  daß  trotz  aller  Vorsicht  bei  der  Formulierung 
der  Fragen  eine  Suggestiv  Wirkung  der  Fragestellung  nicht  ganz  zu  vermeiden 
gewesen  war  und  daß  vor  allem  alles  mehr  abseits  der  Fragen  Liegende  oft 
unbeobachtet  blieb.  Aus  diesem  Grunde  soll  zu  Ostern  ein  Versuch  mit 
einem  Stichwortschema  gemacht  werden.  Ein  weiteres  methodisches  Hilfs- 
mittel war  die  Angabe  von  recht  zahlreichen  Gelegenheiten  zur  Beobachtung 
der  erfragten  Eigenschaften  im  Schulbetrieb.  Zur  Einführung  in  die  neu- 
artige Arbeit  werden  außerdem  kurze,  übersichtliche  gedruckte  Erläutenmgen, 
die  das  Mindestmaß  dessen  enthalten,  was  der  Lehrer  vor  der  Ausfüllung 
wissen  muß,  und  eine  ausführlichere  mündliche  Aufklärung  nötig  sein. 

Die  Anwendung  eines  solchen  Beobachtungsschemas  denken  wir  uns  etwa 
so,  daß  der  Bogen  ein  oder  mehrere  Jahre,  bevor  die  eigentliche  Auslese 
erfolgen  soll,  in  der  Hand  des  Klassenlehrers  ist,  so  daß  er  an  seiner  Leitung 
seine  täglichen  Beobachtungen  klären,  sichten,  nachprüfen  und  auf  ferner 
liegenden  Gebieten  zu  neuen  angeregt  werden  kann.  Am  besten  sollte  jedes 
auffallende  Kind  von  dem  Augenblick  an  systematisch  an  der  Hand  des  Schemas 
beobachtet  werden,  wo  es  beginnt  aufzufallen.^)  Es  kommt  ja  nicht  nur 
darauf  an,    daß    das   Vorhandensein    einer  Eigenschaft  behauptet  wird;    es 


*)  Hermann  Rebhuhn,  Entwurf  eines  psychologischen  Beobachtungsbogens  für  begabte  Volks- 
Bchüler,  Ztschr.  f    ang.  Psych.  13,  416—428,  1918  (auch  separat:  Leipzig,  J.  A.  Barth.) 


I 


Das  Lehrerurteil  bei  der  Begabtenauslese  30  7 

müssen,  damit  das  Urteil  von  Wert  ist,  auch  Belege  gesammelt  sein  und  an- 
gegeben werden.  Sehr  wünschenswert  wäre  es  daher,  wenn  solche  Beob- 
achtungen —  und  zwar  am  besten  Tatsachen  und.  Deutungen  getrennt  — 
in  einem  Tagebuch,  nur  ganz  grob  rubriziert,  aufgezeichnet  würden  und  erst 
nach  längerer  Zeit,  wenn  zu  dem  betreffenden  Punkte  mehr  gesammelt  worden 
ist,  das  Urteil  gefaßt  und  in  den  Bogen  eingetragen  würde.  Der  Vorzug 
dieser  Methode  wäre  ein  doppelter:  einerseits  würde  der  Lehrer  am  Zeitpunkt 
der  notwendigen  Einlieferung  der  Bogen  Material  in  Fülle  haben,  das  sein 
Gedächtnis  sonst  gar  nicht  festgehalten  haben  würde;  andererseits  würden 
die  Urteile  viel  z  uverlässiger  sein  als  bei  sofortiger  Eintragung.  Man  durch- 
schaut nämlich  oft  genug  gar  nicht  sofort,  welche  Dinge  sich  eigentlich  hinter 
diesem  oder  jenem  Symptom  verbergen.  Man  deutet  sehr  häufig  im  Anfang 
falsch,  und  erst  nach  längerer  Zeit  erkennt  man  dann  deutlicher,  welche 
Motive  ein  Kind  zu  irgendeiner  Verhaltungsweise  gebracht  haben. 

Bei  den  beiden  Anwendungen  des  Hamburger  Beobachtungsbogens  konnte 
dieser  Weg  von  den  Lehrern  aus  Zeitmangel  noch  nicht  eingeschlagen  werden. 
Die  Erfahrungen  der  beiden  Jahre  1918  u.  19  geben  daher  niu*  ein  unvoll- 
kommenes Bild  von  dem,  was  durch  diese  Methode  zu  erreichen  möglich  ist. 
Immerhin  sind  sie,  gerade  wegen  der  ungünstigen  Verhältnisse,  unter  denen 
die  Bogen  ausgefüllt  werden  mußten,  sehr  lehrreich.  So  wiesen  z.  B.  1918, 
als  die  Beobachtungszeit  nur  4  Wochen  betrug,  die  weitaus  meisten  Fragen 
trotzdem  75— 980/o  Antworten  auf,  ein  Beweis,  daß  in  den  alltäglichen  Er- 
fahrungen der  Lehrer  ein  reicher  Schatz  von  psychologischen  Beobachtungen 
vorhanden  ist,  der  nur  durch  ein  richtiges  Fragen  gehoben  zu  werden  braucht. 
1919  blieb  das  zahlenmäßige  Bild  der  Antworten  bei  einer  4  Monate  langen 
Beobachtungszeit  ungefähr  das  gleiche,  aber  die  Qualität  der  Aussagen,  die 
Menge  der  Begründungen  und  konkreten  Belege  steigen  in  einer  ganz  über- 
raschenden Weise,  so  daß  wir  es  in  diesem  Jahre  schon  versuchen  zu  dürfen 
glauben,  die  Angaben  der  Lehrer  einer  wissenschaftlichen  Untersuchung  der 
Begabungstypen  zugrunde  zu  legen. 

Der  Umfang  der  Lehreraussagen  über  die  Schüler  trotz  der  Kürze  der  Zeit 
entkräftet  übrigens  auch  den  Einwand,  der  von  Pädagogen  am  häufigsten 
gegen  den  Bogen  gemacht  worden  ist:  den,  daß  er  zu  lang  sei  und  dadurch 
die  Ausfüllung  unmöglich  mache.  Das  Resultat  der  ca.  3000  vorliegenden 
Ausfüllungen  widerlegt  das  ganz  deutlich.  Ein  umfangreicher  Bogen  ist 
nämlich  auch  durchaus  nicht  schwerer  zu  beantworten  als  ein  kurzer.  Im 
Gegenteil,  je  kürzer  ein  Schema  ist,  desto  allgemeiner  müssen  naturgemäß 
seine  Fragestellungen  werden;  desto  weniger  weiß  man  damit  anzufangen, 
desto  mehr  Arbeit  und  Überlegung  erfordert  seine  Ausfüllung  —  und  desto 
weniger  ist  nachher  aus  seinen  Angaben  zu  entnehmen.  Werden  z.  B.  statt 
einer  allgemeinen  Frage  nach  der  Denkbegabung  des  Schülers  mehrere 
Teilfragen  nach  der  SchneUigkeit  der  Auffassung,  der  Neigung  zu  selbstän- 
digem sinnvollen  Fragen,  zum  Äußern  eigener  Gedanken  usw\  gestellt,  so 
weiß  der  Lehrer  sofort,  was  er  anführen  soll.  Außerdem  sind  Einzelheiten 
stets  leichter  zu  beobachten  als  Komplexe.  Es  ist  ja  auch  keineswegs  nötig, 
daß  alle  Fragen  beantw^ortet  werden;  wenn  sie  nur  zu  weiteren  Beobachtungen 
anleiten  und  anregen,  so  erfüllen  sie  doch  schon  einen  sehr  wichtigen  Zweck, 
dem  unser  Bogen  neben  der  eigentlichen  Auslese  immer  dienen  will:  der 
Förderung  des  Verständnisses   und  des  Interesses  des  Lehrers  für  die  Indi- 

20* 


308  Martha  Muchow,  Das  Lehrerurteil  bei  der  Begabtenauslese 

vidualitäten  seiner  Schüler  zum  Nutzen  seiner  erzieherischen  und  didaktischen 
Arbeit. 

Die  hauptsächhchste  Aufgabe  des  Bogens  bei  der  eigentlichen  Auslese 
in  Hamburg  bestand  darin,  daß  er  eine  individuah'sierende  Behandlung  jedes 
einzelnen  Schülers  ermöglichte.  Besonders  in  den  Fällen,  wo  zwischen  dem 
Schulzeugnis  und  dem  Testergebnis  Widersprüche  bestanden,  gab  das  Lehrer- 
urteil im  Beobachtungsbogen  den  endlichen  Ausschlag.  Ein  Zahlenbeispiel 
aus  dem  Jahi'e  1918  möge  zeigen,  wie  wichtig  die  Heranziehung  des  Lehrer- 
urteils gewesen  ist.  Da  etwa  2/3  der  angemeldeten  Schüler  aufgenommen 
werden  konnte,  wurde  die  Grenzzahl  der  erforderlichen  Testpunkte  so  fest- 
gelegt, daß  ein  Drittel  der  Schüler  darunter  stand.  Hätten  wir  nun  das 
Berliner  Verfahren  angewendet,  so  wären  alle  diese  Kinder  ohne  weiteres 
durchgefallen.  An  ein  Individualisieren  wäre  nicht  zu  denken  gewesen.  Nun 
trat  aber  der  Beobachtungsbogen  mit  seinen  Erklärungen  auf.  Eine  nach- 
trägliche Statistik  der  zweifelhaften  Fälle,  d.  h.  der  eigentlich  in  der  ft-üfung 
durchgefallenen  Schüler,  zeigte,  daß  unter  diesen  28,8  0/0  solcher  Kinder  waren, 
bei  denen  der  Lehrer  über  ein  langsames  Arbeitstempo  berichtete.  Stichproben 
unter  ihren  Testarbeiten  zeigten  in  der  Tat  auffallend  viele  unvollendete  und 
darum  geringer  bewertete  Leistungen.  Anscheinend  war  also  die  Versuchs- 
zeit für  sie  zu  kurz  gewesen.  Ihnen  wäre  ohne  Zweifel  großes  Unrecht 
geschehen,  wenn  sie  darum  nicht  aufgenommen  worden  wären,  zumal 
erfahrungsgemäß  oft  Langsamkeit  und  Gründlichkeit  Hand  in  Hand  gehen. 
Nur  das  Lehrerurteil  konnte  hier  korrigierend  eingreifen.  Eine  weitere 
Statistik  der  Aufgenommenen  unter  den  langsamen  Arbeitern  zeigte,  daß 
das  in  36  <>/o  der  Fälle  geschehen  war. 

Haben  somit  die  Hamburger  Versuche  die  Notwendigkeit  und  die  Möglich- 
keit der  Heranziehung  des  Lehrerurteils  in  systematischer  Form  erwiesen,  so 
gilt  es  nun,  sobald  die  Organisation  der  Einheitsschule  einigermaßen  klare 
Form  gewonnen  hat,  das  für  den  Übergang  aus  der  Grundschule  in  die  ver- 
schiedenen höheren  Züge  erforderliche  Beobachtungsschema  zu  gestalten.  Daß 
es  sich  von  unserem  Hamburger  Bogen  in  manchem  unterscheiden  wird,  ist 
wohl  selbstverständlich.  Es  wird  sich  ja  dabei  einerseits  vermutlich  um  eine 
andere  zu  beobachtende  Altersstufe  und  andererseits  wegen  der  fachhchen 
GHederung  der  Oberzüge  weit  mehr  um  eine  Scheidung  von  Begabungs typen 
als  um  die  Kennzeichnung  der  Grade  handeln  wie  bei  der  Aussonderung  für 
unsere  bisherigen  Begabtenklassen.  Aus  dem  letzten  Grunde  wird  es  vielleicht 
auch  geraten  sein,  die  durch  die  Fragestellung  bedingte  besonders  straffe 
Bindung  ein  wenig  zu  lockern  und  dem  Lehrer  durch  die  Angabe  von 
Beobachtungsgesichtspunkten  in  Form  von  Stichworten  mehr  Freiheit  zur 
eingehenden  Schilderung  der  besonderen  Veranlagungen  der  Schüler  zu 
gewähren. 

Erfahrungen  mit  dem  Hamburger  Beobachtungsbogen  1919. 

Von  Wilhelm  Höper. 

Um  die  Entscheidung  bei  der  Auswahl  von  Begabten  für  die  höher  führen- 
den Züge  der  Einheitsschule  streiten  sich  die  psychologische  Wissenschaft 
und  die  praktische  Pädagogik.  In  jeder  der  beiden  Richtungen  gibt  es  Ver- 
treter, die  den  Anspruch  erheben,  das  Problem  selbständig,  ohne  Mitwirkung 


Höper,  Erfahrungen  mit  dem  Hamburger  Beobachtungsbogen  1919       809 


der  andern,  zu  lösen.  Daß  der  Anspruch  unberechtigt  ist,  hat  der  Vergleich 
zwischen  psychologischer  Auslese  und  Verlauf  des  Unterrichts  in  einer  Ber- 
liner Begabtenklasse  gezeigt  —  wenn  man  auch  annehmen  darf,  daß  eine 
vollkommene  Ausschließung  von  Irrtümern  niemals  erreicht  werden  wird. 
Auch  in  der  modernen  Pädagogik  gibt  es  eine  Strömung,  die  den  Anspruch 
erhebt,  aut  Grund  von  „künstlerischen  Charakteristiken"  der  Kinder  zu  ent- 
scheiden, welches  Kind  für  eine  höhere  Bildung  in  Betracht  kommt  und 
welches  nicht.  Bei  der  Hamburger  Auslese  der  Begabten,  die  auf  ziemlich 
breiter  Grundlage  ausgeführt  wurde  und  darum  viel  eher  ein  Bild  davon 
geben  kann,  wie  der  Aufstieg  der  Begabten  aus  der  Grundschule  in  Zukunft 
aussehen  wird,  ist  man  bestrebt  gewesen,  beiden,  der  Psychologie  und  der 
pädagogischen  Praxis,  einen  Einfluß  auf  die  Entscheidung  einzuräumen. 
Über  die  vorjährige  Auswahl  hat  das  Psychologische  Laboratorium  in  Ham- 
burg einen  ausführlichen  Bericht  herausgegeben.')  Dieses  hat  auch  die  Ver- 
arbeitung des  diesiährigen  Materials  übernommen.  Ein  kleiner  Ausschnitt 
daraus  sei  schon  hier  mitgeteilt. 

Es  handelte  sich  in  Hamburg  in  diesem  wie  im  vorigen  Jahre  um  die 
Auswahl  von  Kindern  für  fremdsprachliche  („F-")- Klassen  der  Volksschule. 
Das  Urteil  der  Schule  machte  sich  dabei  in  vierfacher  Weise  geltend: 

1.  Auswahl  innerhalb  der  Klasse  von  Kindern,  die  für  die  Anmeldung  in 
Betracht  kamen; 

2.  Erteilung  einer  Gesamtzensur  für  die  Leistungen  jedes  angemeldeten 
Kindes ; 

3.  Hervorhebung  einiger  nach  Meinung  der  Lehrkraft  besonders  befähigter 
Kinder  durch  Unterstreichen  der  Namen  in  der  Anmeldeliste; 

4.  Ausfüllung  eines  ausführlichen,  nach  psychologischen  Gesichtspunkten 
geordneten  Fragebogens  („Beobachtungsbogen"). 

Das  Urteil  in  dem  letzteren  ist  naturgemäß  am  ausführlichsten,  und  eine 
Zusammenstellung  und  Übersicht  über  die  Ergebnisse  der  Bogen  ist  darum 
besonders  interessant,  weil  in  diesen  ausführlichen  Bericht  über  das  einzelne 
Kind  alles  hineingearbeitet  werden  konnte,  was  von  der  Lehrkraft  an  Beob- 
achtungen und  Belegen  während  der  ganzen  Unterrichtsarbeit  gesammelt 
worden  war.  Unter  gewissen  Voraussetzungen  konnten  also  die  Antworten 
in  den  Bogen,  wenn  ihre  Sichtung  und  Zusammenstellung  in  der  Behörde 
von  geeigneten  Personen  erfolgte,  die  Grundlage  bilden  für  „künstlerische 
Charakteristiken"  der  Kinder  —  oder  es  gar  selbst  sein.  Nachteilig  wirkte 
der  Umstand,  daß  wegen  der  Kriegsverhältnisse  die  Lehrkräfte  in  den  Klassen 
oft  gewechselt  und  daß  manche  Lehrer  nach  ihrer  Heimkehr  aus  dem  Felde 
die  Klasse  erst  im  Januar  übernommen  hatten.  (Der  Beobachtungsbogen  war 
in  der  Hand  der  Lehrkräfte  seit  November,  die  Ausfüllung  hatte  bis  zum 
5.  März  zu  erfolgen.)  Außerdem  ist  es  auch  vorgekommen,  daß  bei  den  in 
der  Großstadt  besonders  häufigen  Umschulungen  ein  angemeldetes  Kind  frisch 
zugeschult  und  danmi  wenig  b'ekannt  war. 

Wie  hat  man  sich  nun  das  Zustandekommen  des  Urteils,  das  in  den  Ant- 
worten zusammengefaßt  ist,  zu  denken? 

1.  Durch  fleißige  Arbeit  im  Unterricht  und  Fühlungnahme  mit  den  Kindern  und 
ihren  Eltern  außerhalb  der  Schule  wird  ein  Überblick  über  die  Klasse  gewonnen; 

')  Die  Auslese  befähigter  Volksschtiler  in  Hamburg.  Herausgg.  v.  Peter  u,  Stern,  Beiheft  18 
Zeitschr.  f.  angew.  Psychol. 


310  Wilh.  Höper 

2.  durch  Einfühlung  in  die  Seelen  der  Kinder  werden  die  einzelnen  Kin- 
desnaturen intuitiv  erkannt; 

3.  für  individuelle  Behandlung  der  Kinder  genügt  in  vielen  Fällen  der 
pädagogische  Takt;  für  ausführlichen  Bericht  über  ein  Kind  ist  außerdem 
ein  bewußtes  Erkennen  der  Kindesnatur  nötig,  eine  Analyse  der  „Meinung" 
über  das  Kind; 

4.  die  Beobachtungen  über  die  einzelnen  Kinder  werden  gesammelt  (im 
Gedächtnis  oder  schriftlich); 

5.  über  Anlage  und  Zweck  des  Beobachtungsbogens  wird  Klarheit  gewonnen ; 

6.  die  vorhandenen  Beobachtungen  werden  gesichtet,  so  daß  sie  ein  mög- 
lichst klares  und  vollständiges  Bild  von  dem  Kinde  geben ; 

7.  schließlich  erfolgt  für  die  endgültige  Festlegung  des  Urteils  die  sprach- 
liche Fassung,  auch  diese  individuell,  dem  einzelnen  Falle  angemessen. 

Die  Punkte  1 — 4  können  oder  sollen  erledigt  sein,  bevor  die  Arbeit  am 
Beobachtungsbogen  in  Angriff  genommen,  ja  bevor  seine  Art  bekannt  wird. 
Denn  bei  der  Zusammenstellung  des  Bogen s  von  selten  der  Verfasserin  be- 
stand die  Kunst  darin,  nach  allem  Nötigen  zu  fragen  (und  danach  diese 
Fragen  unter  psychologische  Gesichtspunkte  zu  bringen);  was  aber  für  Be- 
urteilung eines  Kindes  zu  wissen  nötig  ist,  sollte  der  Lehrer  von  sich  aus 
auch  entscheiden  können.  So  ist  die  Lehrerarbeit  am  Beobachtungsbogen 
nicht  eine  solche,  die  aus  der  Art  des  Bogens  erst  hervorgeht,  sondern  Zu- 
sammenstellung des  Bogens  und  Vorbereitung  der  Lehrerarbeit  an  ihm  sind 
zwei  Arbeiten,  die  einander  parallel  gehen.  (Daß  eine  Auswahl  von  Kindern 
nötig  werden  würde,  war  nach  der  vorjährigen  Einrichtung  von  F-Klass  en  bekannt.) 

Der  Gang,  wie  er  oben  durch  die  sieben  Punkte  dargelegt  ist,  ist  so  klar, 
daß  man  annehmen  kann,  es  dürfte  keiner  von  ihnen  fehlen,  wenn  das 
Urteil  Wert  beanspruchen  soll.  Andererseits  kann  man  wieder  sagen:  die 
Forderung  dieses  Ganges  hat  normativen  Wert,  und  allen  Punkten  wird  nur 
der  vorzügliche,  wenn  nicht  der  ideale  Erzieher  entsprechen  können. 

Zu  1.:  Es  ist  schon  der  Umstand  angeführt,  daß  manche  Lehrer  die  Klasse 
erst  eben  bekommen  hatten.  So  finden  sich  unter  den  Bogen  manchmal 
Bemerkungen,  wie:  „Da  ich  die  Klasse  erst  seit  Januar  1919  führe,  ist  es 
mir  unmöglich,  die  Charakteristik  der  Schüler  entsprechend  festzulegen",  aller- 
dings hier  mit  dem  Zusatz:  „umsomehr  als  mir  derartige  Bestrebungen  bis 
vor  kurzem  unbekannt  waren*  (54,  a).  Oder:  „Ich  habe  die  Klasse  seit 
Ostern,  die  Besetzung  der  Fächer  hat  vielfach  gewechselt,  und  ich  kann 
meine  Beobachtungen  fast  nur  auf  die  Ergebnisse  in  Deutsch  und  Rechnen 
stützen"  (26,  b).  Oder:  „Ich  habe  die  Klasse  erst  seit  Dezember  1918;  die 
Beobachtungen  sind  daher  unvollkommen"  (17,  a).  Allerdings  finden  sich 
auch  höhere  Ansprüche  an  Zeit  zur  Erkennung  der  Kinder,  wie  folgende 
Nachschrift  beweist:  „Die  Angaben  machen  keinen  Anspruch  auf  absolute 
Richtigkeit.  Sollen  sie  wirklich  erschöpfend  und  genau  gemacht  werden,  so 
muß  die  betreffende  Lehrperson  die  Klasse  von  unten  herauf  geführt  haben, 
und  die  Bogen  resp.  die  Fragen  müssen  bei  der  Einschulung  der  Kinder  be- 
kannt gegeben  werden"  (6,  b). 

Zu  2.:  Die  Frage,  ob  objektive  Menschenkenntnis  möglich  ist,  ist  zu  ver- 
neinen. Sehr  interessant  ist  es  aber,  dem  Grunde  dafür  nachzugehen.  Wenn 
wir  mit  einem  Menschen  reden,  so  schwingen  bei  beiden  nicht  alle  Saiten 
mit,  sondern  nur  die,  die  bei  beiden  gleichartig  gestimmt  sind.    Eine  hübsche 


Erfahrungen  mit  dem  Hamburger  Beobachtungsbogen  1919  311 

Ausmalung  dieses  Gedankens  bringt  Paul  Göhre  in  seinem  neuen  Buch  „Der 
unbekannte  Gott":  ein  Bekannter  von  ihm  hat  das  Bild  eines  gemeinsamen 
Freundes  gemalt.  Göhie  erblickt  aber  in  dem  Bilde  andere  Züge,  als  er  am 
Freunde  kennt,  wohingegen  einige  ihm  bekannte  fehlen.  —  So  können  wir 
zwar  von  einem  Kinde  intuitiv  feststellen,  daß  es  diese  oder  jene  Fähigkeit 
hat  —  wenn  wir  sie  selbst  bis  zu  einem  gewissen  Grade  besitzen.  (Welche 
Folgerungen  man  daraus  für  die  Auswahl  der  werdenden  Lehrer  zu  ziehen 
hat,  gehört  in  ein  anderes  Kapitel.)  Den  ganzen  Menschen  aber  werden 
wir  immer  nur  nach  uns  selbst  beurteilen. 

Zu  3. :  Für  die  individuelle  Behandlung  des  Kindes  kommt  es  auf  die  Fäden 
an,  die  zwischen  ihm  und  dem  Erzieher  gesponnen  sind,  und  bei  der  Durch- 
bildung und  Gewissenhaftigkeit  unserer  Lehrerschaft  wird  das  in  den  aller- 
meisten Fällen  genügend  sein,  damit  dem  Kinde  sein  Recht  wird.  Fragt 
man  sich  aber,  warum  man  dieses  Kind  so  und  nicht  anders  behandelt,  so 
kommt  man  zur  Analyse  der  „Meinung"  über  das  Kind.  Diese  Art  zu  in- 
dividualisieren ist  natürlich  in  unseren  vollen  Klassen  nur  sehr  schwer  durch- 
zuführen, und  manche  Lehrkraft  mag  auch  nicht  die  Fähigkeit  haben,  sich 
über  die  sämthchen  Faktoren  der  „Meinung"  bewußt  zu  werden.  Dieses  hat 
-  vielleicht  neben  mangelndem  Verständnis  oder  nicht  genügender  Vertiefung 
in  die  Anlage  des  Bogens  —  mitgewirkt  bei  solchen  Bogen,  die  nichtssagend 
sind  und  in  den  Antworten  keine  klare  Differenzierung  der  verschiedenen 
Kinder  ergeben.  Unter  dem  Bogen  aber  stehen  dann  manchmal  als  Zusam- 
menfassung und  Ergänzung  sehr  wertvolle  Notizen,  die  ein  helles  Licht  werfen 
auf  die  Eigenart  der  betreffenden  Kindesnatur.  Eine  Lehrkraft  der  Schule  71 
beantwortet  von  den  52  Fragen  bei 

Kind  1:  nur  10  Fragen  in  37  Wörtejn 

»     ^  •     »       "        r?        "^    "'^         ■^ 
«     4:     „     10        „        „30 

Da  die  Antworten  noch  dazu  häufig  den  Wortlaut  der  Frage  wiederholen 
(eine  Gefahr  für  den  Beobachtungsbogen !),  so  ist  natürUch  eine  Differenzierung 
der  Kinder  danach  nicht  möglich.  Als  Zusammenfassung  aber  stehen  unter 
dem  Bogen  kurze  Bemerkungen: 

Bei  Kind  1 :  „Fleiß,  Ehrgeiz  lassen  alle  Schwierigkeiten  überwinden.  Es 
genügt,  daß  der  Knabe  einen  Mangel  an  sich  klar  erkennt,  um  ihn  dann 
bald  und  sicher  auszumerzen.  Fröhliches,  frisches  Zugreifen  auch  in  prak- 
tischen Dingen." 

Bei  Kind  2:  „Nicht  immer  gleichmäßig  in  den  Leistungen;  Zeiten,  daß  man 
sowohl  nach  der  einen  als  nach  der  anderen  Seite  staunt,  lösen  einander  ab. 
Gute  sprachliche  Begabung.     Schalkhafte,  übermütige  Veranlagung." 

Bei  Kind  4:  „Sehr  begabt  besonders  für  Auffassung  alles  konkret  Gegebenen. 
Auch  steht  der  selbstverständlich  einfache  sprachliche  Ausdruck  unmittelbar 
zur  Verfügung.  Es  fehlt  oft  an  Fleiß  bei  eigenem  Arbeiten,  wenn  der  Schüler 
sich  selbst  überlassen  ist,  z.  B.  bei  häuslichen  Arbeiten.  Bedeutende  Spann- 
kraft, die  nie  Ermüdung  zeigt." 

Sieht  man  sie  nicht  klar  vor  sich,  den  praktischen,  frisch  Strebenden,  den 
kleinen  Schwerenöter,  den  sachlichen  und  Tatmenschen,  der  doch  immer  An- 
trieb braucht?     Und  so  könnte  man  noch  mehr  Beispiele  aufzählen. 

Zu  4.:  Für  derartige  ausführliche  Berichte,  w^ie  sie  im  Beobachtungsbogen 
verlangt  werden,  ist  eigentlich  die  systematische  (schriftHche)  Sammlung  von 


312  Wilh.  Höper 

Notizen  unerläßlich;  nur  ein  ganz  vorzügliches  Gedächtnis  kann  alle  die 
Kleinigkeiten  festhalten  und  im  rechten  Augenblick  reproduzieren,  diese 
Dinge,  die  im  Schulleben  täglich  vorkommen  und  in  ihrer  scheinbaren  Be- 
deutungslosigkeit doch  ein  so  helles  Licht  werfen  auf  die  Eigenart  unserer 
Kinder.  Das  Ideale  für  diesen  Zweck  wäre  die  Führung  von  Tagebuchblättern 
für  alle  Kinder,  mit  Rubriken,  die  am  Kopf  Stichworte  tragen,  ungefähr  ent- 
sprechend den  größeren  Abteilungen  des  Beobachtungsbogens,  nur  in  lockererem 
Aufbau  und  weiterem  Rahmen.  Ich  glaube,  es  würde  nicht  unmöglich  sein, 
am  Schluß  jedes  Unterrichtstages  charakteristische  kleine  Vorfälle  aus  dem 
Schulleben  zu  notieren  und  so  allmählich  für  jedes  Kind  eine  Reihe  von 
Notizen  zu  sammeln,  die  in  ihrer  Zusammenstellung  ein  einigermaßen  klares 
Bild  geben  würden.  Selbstverständlich  werden  nicht  alle  Kinder  gleich- 
mäßig Gelegenheit  zu  solchen  Notizen  geben,  und  auch  nicht  alle  Rubriken 
des  Fragebogens  werden  gleichmäßig  davon  betroffen  werden  können.  Es 
hat  z.  B.  fast  niemand  versäumt  zu  betonen,  daß  das  geschilderte  Kind  eine 
gute  Beobachtungsgabe  hat,  und  in  sehr  vielen  Fällen  sind  Beispiele  dafür 
genannt  worden.  Die  Fragen  aber:  „lernt  das  Kind  verstandesmäßig  oder 
mechanisch?"  und  „erholt  das  Kind  sich  schnell  nach  der  Ermüdung?"  sind 
oft  unbeantwortet  geblieben.  Ein  wenig  aufmerksames  Sammeln  von  Beob- 
achtungen würde  da  geholfen  haben.  Andererseits  sind  vielfach  Belege  ge- 
geben, wie  Aufsätze,  Zeichnungen,  auch  Gedichte  der  Kinder,  manchmal  mit 
sehr  feinen  Bemerkungen  über  den  Wert  solcher  Dokumente.  Deren  indi- 
vidualisierender Wert  ist  natürlich  verschieden,  aber  immer  sind  sie  von  der 
Lehrkraft  hinzugefügt  in  individualisierender  Absicht.  So  begründet  eine 
Lehrkraft  einmal  die  Mitteilung  von  kleinen,  feinen  Beobachtungen  außerhalb 
des  Bogens  damit:  „Ich  kann  nicht  recht  beurteilen,  ob  man  aus  den  Ant- 
worten auf  die  Fragen  wirklich  ein  rechtes  Bild  von  dem  Kinde  bekommt". 
Eine  andere  legt  einen  Aufsatz  oder  Stücke  daraus  von  den  von  ihr  beur- 
teilten Kindern  bei,  und  zwar  von  allen  Kindern  über  dasselbe  Thema  - 
ein  Verfahren,  das  natürlich  für  einen  Vergleich  zwischen  den  Kindern  sehr 
fördernd  ist.  Eine  Lehrkraft  bemerkt  unter  einem  Bogen,  der  Knabe,  der 
angebHch  vom  Singen  „eine  trockene  Kehle"  bekäme  und  darum  die  Ge- 
sangsstunde nicht  liebte,  wäre  nicht  etwa  halsleidend,  sondern  musikalisch 
unbegabt,  und  mehr  von  daher  und  von  der  Zensur  3  als  von  der  „trockenen 
Kehle"  rühre  die  Abneigung.  Ein  Lehrer  legt  eine  bunte  Karte  von  der 
Umgebung  Hamburgs  bei  (Schwarze  Berge  bis  Sachsenwald)  und  gibt  an, 
daß  der  kleine  Künstler  diese  im  3.  Schuljahr  von  der  Wandkarte  abgezeichnet 
habe.  Oft  sieht  man  auch  an  den  Proben,  wie  die  Individualität  der  Lehr- 
kraft auf  das  Kind  abgefärbt  hat.  Z.  B.  berichtet  144,  b,  daß  ein  Kind  von 
unwiderstehlichem  Drange  zum  Dichten  getrieben  wird,  mitten  in  der  Stunde 
sein  Schreibheft  herauszieht  und  schreibt.  Das  Gedicht,  das  mitgeteilt  wird 
(vom  Kinde  selbst  geschrieben),  weist  den  Wesenseinfluß  der  Lehrkraft  auf, 
wie  sie  sich  in  der  Ausfüllung  der  Bogen  zeigt:  künstlerische  Charakteristiken, 
die  sehr  subjektiv  gefärbt  sind  und  nicht  gerade  ein  klares  Bild  der  einzelnen 
Kinder  geben. 

Zu  5.:  Die  Klarheit  über  Anlage  und  Zweck  des  Bogens  ist  nicht  immer 
vorhanden  gewesen  bei  der  diesjährigen  Ausfüllung.  Woran  Hegt  das?  Zu 
einem  großen  Teil  ohne  Zweifel  daran,  daß  die  Lehrerschaft  mehr  praktisch- 
pädagogisch als  psychologisch  eingestellt  ist,  daß  es  ihr  daher  Mühe  macht, 


Erfahrungen  mit  dem  Hamburger  Beobachtungsbogen  1919  313 

die  Analyse  bis  zu  dem  gewünschten  Punkte  durchzuführen.  Selbstverständ- 
lich kann  auch  nicht  nur  die  Einstellung,  sondern  der  Mangel  an  psycholo- 
gischer Befähigung  den  Grund  dafür  geben,  wenngleich  das  in  unserer 
Lehrerschaft  wohl  kaum  sehr  häufig  vorkommen  dürfte.  Von  Unklarheit  über 
den  Zweck  des  Bogens  mag  aber  eine  Erscheinung  herrühren,  die  sich  ver- 
schiedentlich gezeigt  hat:  da  waren  die  Bogen  teils  ziemlich  einsilbig  ausge- 
füllt (\ielleicht  hatte  es  der  Lehrkraft  an  Zeit  gefehlt),  teils  auch  etwas  breiter, 
aber  alle  Bogen  der  Lehrkraft  ergaben  dasselbe  Bild  (meist  das  eines  Muster- 
schülers), ohne  wesentlich  differenziert  zu  sein.  Die  Ausfüllung  des  Bogens 
hat  doch  den  Sinn  und  Zweck,  der  Schule  einen  ausreichenden  Einfluß  auf 
die  Entscheidung  über  Aufnahme  oder  Ablehnung  des  Kindes  zu  gewähren. 
Dieser  Zweck  wird  aber  nicht  erreicht,  wenn  alle  Kinder  einer  Lehrkraft  mit 
den  gleichen  schmückenden  Beiwörtern  belegt  sind,  so  daß  eine  Auswahl 
zwischen  ihnen  unmöglich  ist.  Ebensowenig  kann  da  von  Klarheit  über 
Anlage  und  Zweck  des  Bogens  die  Rede  sein,  wo  von  den  52  Fragen  z.  B. 
nur  13  beantwortet  sind.  Gewiß  beansprucht  die  Ausfüllung  eine  große 
Aufwendung  an  Kraft  und  Zeit  von  selten  der  Lehrkraft,  aber  ist  nicht  der 
Zweck  gut?  Wir  tun  es  für  die  beste  Förderung  unserer  Kinder,  der  ein- 
zigen Hoffnung  in  dieser  schweren  Zeit.  Gibt  es  nicht  praktische  Gesichts- 
punkte, die  hier  eine  Anspannung  der  Kräfte  fordern  ?  Wir  tun  es  für  unser 
eigenstes  Arbeitsgebiet,  die  Schule,  wir  tun  es  fiu-  die  Unabhängigkeit  unseres 
Standes.  Und  da  darf  es  einfach  nicht  vorkommen,  daß  die  Möglichkeiten, 
die  tler  Schule  sich  bieten,  an  der  Auswahl  der  Begabten  mitzuarbeiten, 
wegen  irgendwelcher  persönlichen  Interessen  dahingegeben  werden,  daß  z.  B. 
eine  Lehrkraft,  die  ihre  Klasse  3  Jahre  hat,  ohne  einen  besonderen  Grund 
die  Bogen  vollständig  unausgefüllt  abgeliefert. 

Zu  6.:  Beim  Durchlesen  von  sehr  vielen  Bogen  hat  man  das  Vergnügen, 
die  Kinder  in  plastischer  Gestaltung  zu  erkennen,  so  wie  sie  sich  geben  in 
Arbeit  und  Spiel,  in  der  Schule  und  auf  der  Straße,  unter  sich  und  dem 
Lehrer  gegenüber.  Da  sieht  man  sie  richtig  vor  sich  und  hat  Freude  an 
beiden,  der  Art  des  Kindes  und  der  Klarheit  in  der  Darstellung  der  Lehr- 
kraft. Es  muß  aber  ausgesprochen  werden,  daß  auch  eine  ganze  Anzahl 
Bogen  vorhanden  sind,  bei  denen  das  nicht  der  Fall  ist.  Einiges  davon 
(NichtausfüUung  des  Bogens  usw.)  wurde  schon  beim  vorigen  Punkte  be- 
sprochen. Aber  das  waren  eigentlich  Ausnahmefälle.  Häufiger  ist  es  vor- 
gekommen, daß  zwar  quantitativ  die  Bogen  in  durchaus  genügender  Weise 
ausgefüllt  sind,  daß  aber  trotzdem  sich  kein  klares  Bild  von  dem  so  ge- 
kennzeichneten Kinde  gewinnen  läßt.  Woran  liegt  das?  Einmal  wahrschein- 
lich an  der  Art  der  Sammlung  und  Sichtung  des  Beobachtungsmaterials: 
Nicht  die  wirklich  charakteristischen  Züge  eines  Kindes  waren  festgehalten, 
sondern  mehr  die  Nebensachen,  die  dazu  noch  in  epischer  Breite  erzählt 
wurden.  Auch  die  Ausdeutung  solcher  Beobachtungen,  wo  sie  gegeben  wurde, 
war  manchmal  anzuzweifeln,  da  sie  in  V/iderspruch  stand  zu  anderen  An- 
gaben. Vor  allem  aber  waren  es  die  Widersprüche  in  den  Antworten  selbst, 
die  den  Wert  des  darin  niedergelegten  Lehrerurteils  oft  stark  herunterdrückten. 
So  z.  B.  wird  von  einem  Kind  berichtet,  es  sei  langsam  und  schwerfällig; 
an  anderer  Stelle,  es  sei  sehr  rege  und  möchte  gern  immer  antworten,  außer- 
dem, es  habe  seine  ehr  gewandte  mündliche  und  schriftliche  Darstellung. 
(Hier  ist  wohl  für  schwerfällig    zu    setzen :  vorsichtig.     Außer  dieser  termi- 


314        Höper,  Erfahrungen  mit  dem  Hamburger  Beobachtungsbogen  1919 

nologischeii  Unsicherheit  der  Lehrkraft  »st  auch  noch  ein  Bestieben  erkenn- 
bar, das  Kind  herauszustreichen.)  Von  einem  andern  heißt  es:  „Ist  oft 
flüchtig,  übersieht  leicht",  aber:  „führt  seine  schriftlichen  Arbeiten  sorg- 
fältig aus";  „lernt  schnell",  aber:  „arbeitet  etwas  langsam".  Ein  anderes: 
„Pflichtgefühl  bestimmt  sein  Handeln";  danach  aber  wird  angegeben,  daß 
es  „Schulen  gelaufen"  ist.  Auch  unvollkommene  Auffassung  der  Frage- 
stellung ist  bemerkbar;  z.  B.  in  einem  Bogen,  der  für  das  Kind  sehr  (viel- 
leicht reichlich)  günstig  ist,  schreibt  die  Lehrkraft  in  Frage  6:  „Nicht  sehr 
phantasiebegabt,  sondern  bei  aller  Wiedergabe  sehr  korrekt".  Oder:  auf  die 
Frage,  ob  die  Aufmerksamkeit  des  Kindes  leicht  zu  erregen  ist,  wird  die 
Antwort  gegeben,  es  habe  zu  3  oder  4  früher  gelernten  Gedichten  auf  An- 
regung hin  eine  eigene  Melodie  erfunden. 

Zu  7.:  Die  Gewissenhaftigkeit  der  Lehrkraft  dokumentiert  sich  oft  in  sehr 
feiner  Weise  in  der  Art  der  sprachlichen  Formulierung  der  Antworten.  Die 
quantitativen  Unterschiede  sind  natürlich  sehr  groß.  Im  allgemeinen  sind 
die  Antworten  der  weiblichen  Lehrkräfte  wortreicher,  die  der  männlichen 
kürzer,  ohne  doch  darum  weniger  scharf  zu  sein.  Oft  läuft  eine  wortreiche 
Antwort  auf  Umschreibungen  hinaus,  meist  aber  bringen  die  langen  Antworten 
auch  Belege  für  die  Angaben.  Am  wenigsten  war  mit  den  Bogen  anzufangen, 
in  denen  die  Fragen  nur  mit  ja  oder  nein  beantwortet  waren.  Was  nützt 
es,  zu  wissen,  daß  ein  Kind  längere  Zeit  aufmerksam  bleibt,  Beobachtungen 
gesammelt  hat,  eigene  Gedanken  äußert  usw.;  das  Maß  alles  dessen  erst 
differenziert  die  Kinder  voneinander  und  macht  die  Scheidung  in  Geeignete 
und  Ungeeignete  für  den  vorgesehenen  Zweck  möglich.  Noch  ein  anderer 
Punkt  machte  die  Verwertung  der  in  den  Bogen  niedergelegten  Urteile 
schwierig:  viele  Antworten  wiederholten  einfach  den  Wortlaut  der  Frage  in 
positivem  oder  negativem  Sinne,  so  daß  sie  wenig  überzeugend  wirkten  und 
kaum  mehr  differenzierten  als  das  bloße  Ja  oder  Nein.  (Hier  haben  wohl 
die  Frageform  und  die  manchmal  vorgedruckten  Antworten  etwas  suggestiv 
gewirkt.)  SchließUch  ist  noch  ein  Letztes  zu  erwähnen:  wenn  man  sich  bei 
der  Ausfüllung  des  Bogens  nicht  zu  sehr  von  dem  Wortlaut  der  Frage  be- 
einflussen läßt,  sondern  sich  die  Natur  des  zu  schildernden  Kindes  recht 
vorstellt,  wird  man  meistens  bei  verschiedenen  Kindern  zu  verschiedener 
Formulierung  der  Antworten  kommen.  Auch  dieses  ist  in  einer  Anzahl  von 
Fällen  zu  vermissen,  und  es  zeigt  sich  dann  meist  bei  gleichmäßig  formulierten 
Antworten  für  dieselbe  Frage  bei  verschiedenen  Kindern  eine  recht  geringe 
Differenzierung  der  Kinder. 

Die  Folgerungen,  die  aus  dem  allen  zu  ziehen  sind,  betreffen:  a)  den  Be- 
obachtungsbogen, b)  die  Lehrerschaft,  c)  die  Vergleichung  der  Bogen. 

a)  Einige  Forderungen,  die  an  den  Bogen  zu  stellen  sind,  sind  schon  er- 
wähnt. Zu  erwägen  ist,  ob  nicht  die  Anlage  als  Fragebogen  aufgegeben 
wird  zugunsten  einer  Anlage  in  Stichwoiten.  Die  Anleitung  zur  Ausfüllung 
des  Bogens  müßte  dann  ausführlicher  sein  und  vielleicht  auch  in  anderer 
Weise  erfolgen.  Unbedingt  nötig  ist,  daß  die  leeren  Bogen  den  Schulen  früh 
genug  übersandt  werden  und  daß  ihnen  mindestens  ein  Halbjahr  vorher  mit- 
geteilt wird,  daß  und  zu  welchem  Zweck  eine  Auswahl  der  Kinder  stattfindet, 
damit  eine  systematische  Vorarbeit  der  Lehrkräfte  möglich  ist. 

b)  Die  Gesichtspunkte  für  Zusammenstellung  des  Beobachtungsbogens 
werden  zwar  von  Vertretern  der  psychologischen  Wissenschaft  ausgearbeitet. 


Judith  Lichtenstein,  Psychol.  Ermittlungen  im  Kindergarten  315 

Die  Lehrerschaft  muß  sich  aber  klar  darüber  sein,  daß  sie  mit  der  Arbeit 
und  der  Verantwortung  dafür,  die  sie  übernimmt,  auch  einen  außerordent- 
lichen Einfluß  auf  die  Auswahl  der  Kinder  gewinnt.  Eifer  und  Interesse  für 
die  Sache  sind  umsomehr  zu  fordern,  als  es  sich  um  wohlberechtigte  Interessen 
des  Lehrerstandes  handelt,  die  sich  nicht  wahren  lassen  durch  Kritik  ohne 
Arbeit.  Wo  die  psychologische  Einstellung  und  das  psychologische  Ver- 
ständnis fehlen,  -  und  sie  haben  vielfach  gefehlt  -  da  ist  für  eine  weitere 
psychologische  Ausbildung  der  Lehrerschaft  zu  sorgen.  Auch  das  sollte  die 
Lehrerschaft,  die  dieses  Bedürfnis  fühlen  muß,  selbst  in  die  Hand  nehmen. 
Der  jetzt  von  vielen  Seiten  geforderte  Schulpsychologe  ist  heute  notwendig, 
aber  dieser  Zustand  wird  ein  Übergang  sein.i)  Das  Ideal  ist  und  bleibt  es,  daß 
ein  jeder  Lehrer  genügend  geschult  ist,  um  sein  eigener  Schulpsychologe  zu  sein. 
c)  Selbst  bei  bestem  Willen  und  reifstem  psychologischen  Verständnis  wird 
der  Lehrer  für  die  Aufnahme  eines  Kindes  in  eine  „höhere"  Schule  immer 
nur  vorschlagen,  nicht  endgültig  entscheiden  können.  Das  verbieten 
die  Verschiedenheiten  in  Anforderungen  an  das  Kind  und  in  der  persönlichen 
Stellung  zu  ihm,  in  Gründlichkeit  und  Verständnis  bei  der  Ausfüllung  des 
Bogens.  Es  muß  vielmehr  eine  Zentralstelle  vorhanden  sein,  bei  der  alle 
Bogen  zusammenkommen  und  nach  festen  Gesichtspunkten  verarbeitet  werden 
von  Personen,  die  pädagogisch  wie  psychologisch  geschult  sind  und  genügend 
praktische  wie  Lebenserfahrung  besitzen,  um  auf  Grund  der  gegebenen  Urteile 
die  Kinder  zu  vergleichen  und  —  unter  Heranziehung  weiterer  Hilfsmittel  — 
auszuwählen.  (Der  Gesichtspunkt  der  Vergleichbarkeit,  der  durch  feste  Anlage 
des  Bogens  soweit  überhaupt  mögUch  gewährleistet  wird,  würde  fortfallen 
bei  frei  gestalteten  „künstlerischen  Charakteristiken",  ganz  abgesehen  davon, 
daß  nicht  jede  Lehrkraft  in  der  Lage  sein  dürfte,  solche  aufzustellen.)  Bei 
dem  Umfang  des  Materials  würde  eine  solche  Zentralstelle,  zumal  wenn  sie 
auch  die  andern  Faktoren,  die  bei  der  Auslesearbeit  in  Betracht  kommen 
(psychologische  Prüfungen,  Verarbeitung  von  vorliegendem  Material,  Aus- 
arbeitung von  Anweisungen,  schulorganisatorische  Arbeiten),  berücksichtigen 
will,  nicht  nur  zeitweilig,  sondern  das  ganze  Schuljahr  zu  arbeiten  haben. 
Nur  bei  einer  solchen  Zusammenfassung  der  Aibeiten  auf  psychologischem 
und  pädagogischem  Gebiete  kann  es  gelingen,  das  Problem  der  Begabten- 
auswahl  zu  lösen,  das  die  Grundlage  bildet  zu  allen  Fragen  der  in  ihrer 
MögUchkeit  und  Gestaltung  so  viel  umstrittenen   „Einheitsschule". 


Fragebogen 
zu  psychologischen  Ermittlungen  im  Kindergarten. 

Von  Judith  Lichtenstein. 
Es  bedarf  dringend  der  Feststellung,    ob  der  Kindergarten,    wie  er  heute 
geführt   wird,    der  Eigenart    des   Kindes   entspricht,    ob    er  kindgemäß   ist. 
Dieser  Aufgabe  will  der  nachstehende  Fragebogen  dienen.  Die  Ordnung  seiner 

1)  Der  Leiter  der  Zentralstelle  (vielleicht  „Bezirkspsychologe"?/  würde  natürlich  nie  über- 
flüssig werden  können.  Ich  halte  es  für  eine  schon  in  absehbarer  Zeit  zu  erfüllende  not- 
wendige Forderung,  daß  jedes  ausgebaute  Schulsystem  seinen  Schulpsychologen  hat  (psycho- 
logisch geschulter  Lehrer  mit  verringerter  Stundenzahl  und  event.  höherem  Gehalt),  der  die  Be- 
gabungsauswahl an  seiner  Schule  zu  regeln  hätte.    Nur  auf  diesen  bezieht  sich  das  oben  Gesagte. 


316  Judith  Lichtenstein 


Fragegruppen  ergab  sich  ungezwungen  dadurch,  daß  wir  die  Einwirkungen, 
die  das  Kind  im  Kindergarten  von  seinem  Eintritt  an  bis  zu  seinem  Austritt 
empfängt,  verfolgten. 

Von  der  für  möglichst  viele  Kinder  anzustrebenden  gründlichen  und 
kritischen  Beantwortung  des  Fragebogens  erwarten  wir  ein  Tatsachenmaterial, 
das  weitere  Auskunft  gibt  über  die  Fragen: 

1)  wie  sich  das  Kind  in  den  Kindergarten  eingewöhnt, 

2)  wie  sich  das  Kind  spontan  zu  den  Fröbelschen  Gaben  stellt, 

3)  ob  die  technischen  Arbeiten  dem  beim  kleinen  Kinde  tatsächlich  schon 
vorhandenen  Drange  nach  ernsthafter  Betätigung  Befriedigung  geben, 

4)  ob  Bewegungsspiele  ein  glückliches  Mittel  sind,  die  Phantasie  des  Kindes 
planvoll  zu  betätigen, 

5)  wie  sich  die  Kinder  zu  Besprechungen  stellen, 

6)  wie  die  Kinder  den  Einheitsgedanken  (Monatsgegenstand)  in  sich  auf- 
nehmen und  verarbeiten  (schließlich  auch,  wie  sich  die  verschiedenen  Kinder 
in  alledem  unterscheiden). 

Natürlich  ist  der  folgende  Frageb.ogen  der  Ergänzung  bedürftig.  Viele 
Fragen,  z.  B.  die,  ob  die  individuelle  Eigenart  des  Kindes  im  Kindergarten 
zu  ihrem  Rechte  kommt,  konnten  nur  gestreift  werden.  Denn  wir  wollten 
die  Arbeit  nicht  allzuweit  ausdehnen  und  so  die  Veröffentlichung  immer 
wieder  hinausschieben.  Wir  werden  aber  nicht  aufhören,  weiter  an  dem 
Bogen  zu  arbeiten  und  bitten  auch  die,  die  den  Bogen  benützen  werden, 
Lücken  aufdecken  und  füllen  zu  helfen.  ^  Allerdings  ist  dazu  eine  gewisse 
psychologische  Vorbildung  nötig.  2) 

Bei  der  Benutzung  des  Fragebogens  ist  noch  folgendes  zu  beachten:  Bei 
der  Beantwortung  der  einzelnen  Fragen  sind  Tatsachen  anzugeben,  nicht 
etwa  bloß  Urteile  oder  Eigenschaftswörter.  Jeder,  der  aus  dem  ausgefüllten 
Fragebogen  seine  Schlüsse  zu  ziehen  hat,  muß  in  der  Lage  sein,  sich  aus 
den  angegebenen  Tatsachen  selbst  ein  Urteil  bilden  zu  können. 

Der  Fragebogen  enthält  drei  Spalten.  In  der  ersten  Spalte  stehen  die  Fragen. 
Die  zweite  Spalte  enthält  Hinweise,  wie  man  sich  das  zur  Beantwortung  not- 
wendige Material  beschafft.  In  der  dritten  Spalte  habe  ich  Antwortbeispiele 
angeführt.  Dabei  habe  ich,  um  möglichst  sprechende  Beispiele  bringen  zu 
können,  die  Angaben  meinen  Notizen  über  verschiedene  Kinder  entnommen. 
Es    ist    aber    notwendig,    daß    nun    der    Versuch    gemacht    wird,    möglichst 


*)  Hinweise  sowie  Beantwortungen  des  Fragebogens  bitten  wir  zu  senden  an  Dr.  Alfred  Mann, 
Breslau  XVI,  Maxstr.  16.  Die  Materialien  werden  an  einer  Zentralstelle  zur  wissenschaftlichen 
Bearbeitung  zusammengestellt  und  später  ernsthaften  Interessenten  leihweise  überlassen  werden. 

*)  Ich  erhielt  sie  im  Breslauer  psychologischen  Universitätsseminar  bei  Herrn  Professor  W. 
Stern  und  im  Jugendleiterinnenkursus  durch  Herrn  Dr.  Alfred  Mann,  dem  auch  diese  Arbeit 
viele  Anregungen  und  Verbesserungen  verdankt.  —  Und  dann  braucht  mau  dazu  auch  Zeit.  Die 
beobachtende  Jugendleiterin,  oder  wer  es  auch  immer  sei,  darf  von  Betriebssorgen  nicht  erdrückt 
werden.  Und  hier  möchte  ich  nicht  verfehlen,  der  Seminarleiterin  Fräulein  Gertrud  Laßwitz, 
die  mir  vor  1  V»  Jahren  die  Einrichtung  und  Leitung  eines  Volkskindergartens  übergab,  meinen 
besonderen  Dank  auszusprechen.  Denn  sie  hat  trotz  der  ungünstigen  Zeitverhältnisse  stets  dafür 
gesorgt,  daß  mir  Zeit  und  Lust  blieb,  meine  im  Jugendleiterinnenkursus  gefaßten  Vorsätze  und 
Ideen  auszuarbeiten  und  fortzubauen. 


Psychologische  Ermittlungen  im  Kindergarten 


317 


alle  Fragen  für  ein  Kind  zu  beantworten. 

merkungen  J) 


Angefügt   sind   besondere   Be- 


Frage 


Beobachtungs- 
gelegenheit 


Antwortbeispiel 


l)  Kommt  das  Kind  in  den 
Kindergarten  aus  eigenem  An- 
trieb oder  wird  es  geschickt 
(anfänglich  und  dann  weiter)? 


2)  Wenn  das  Kind  aus 
eigenemAntrieb  in  den  Kinder- 
garten kommt,  hat  es  dann 
t)estimmte  Erwartungen  und 
Wünsche,  die  ihm  im  Kinder- 
garten erfüllt  werden  sollen  ? 


3)  Wenn  es  geschickt  wird, 
aus  welchen  Gründen  ge- 
schieht dies  dann? 


4)  Fällt  es  ihm  leicht  oder 
schwer,  sich  in  die  neue  Um- 
gebung zu  finden?  (Genaue 
Beschreibung  des  Verhallens 
des  Kindes!) 


5)  Findet  sich  das  Kind 
überhaupt  leicht  oder  schwer 
in  eine  neue  Lebenslage? 


L  Eingewöhnung. 

Festzustellen  durch  Befra- 
gen der  Angehörigen  und  vor- 
sichtiges Befragen  des  Kindes. 


In  entsprechenden  Lebens- 
lagen zu  beobachten. 

Experiment :  Man  gebe  dem 
Kinde  fremdartiges  Spielzeug 
oder  bringe  es  mit  fremden 
Kindern  oder  Erwachsenen 
zusammen  und  beobachte 
dann  sein  Verhalten. 


Festzustellen  durch  Befra- 
gen der  Angehörigen,  vor- 
sichtiges Befragen  des  Kindes ; 
auch  spontanen  Äußerungen 
des  Kindes  zu  entnehmen. 


Festzustellen  durch  Befra- 
gen der  Angehörigen. 


Zu  beobachten  an  einem 
Kinde,  das  zum  ersten  Male 
einen  Kindergarten  besucht. 


Von  Günther  (4  J  )  erzählt  das 
Dienstmädchen,  daß  er  überall 
gleichaltrige  Kinder  aufsuchte, 
um  mit  ihnen  zu  spielen.  Er  bat 
die  Eltern,  ihn  in  einen  Kinder- 
hort zu  schicken.  Er  kam  zu 
uns  jeden  Tag  mit  neuer  Freude 
und  war  traurig,  als  Krankheit 
ihn  hinderte. 

Emsts  (5  J.)  Kusine  Eva  geht 
schon  längere  Zeit  in  den  Kin- 
dergarten und  erfreut  Bekannte 
und  Verwandte  durch  Hersagen 
kleiner  Verschen.  Ernst  läßt  nun 
seinen  Eltern  keine  Ruhe.  Er 
will  gleichfalls  in  den  Kinder- 
garten gehen,  um  auch  so  viel  wie 
Eva  zu  lernen. 

Erich  (4  J.)  wird  geschickt, 
weil  die  Mutter  durch  ein  Ge- 
schäft verhindert  ist,  auf  ihn  acht- 
txigehen. 

Solange  die  Mutter  dabei  ist, 
ist  Erwin  (3  J.)  ganz  ruhig.  Kaum 
ist  sie  fort,  überwältigt  ihn  der 
Schmerz.  Er  weint  und  will  ihr 
nachlaufen.  Um  zu  vermitteln, 
nehme  ich  ihn  auf  den  Arm  und 
sage :  , Wir  wollen  sehen,  wo  sie 
hingeht."  Er  ist  am  Fenster  und 
erzählt  in  atemloser  Hast:  „Da 
wohnen  wir.  Da  läuft  eine  Maus 
am  Haus.  Nu  macht  sie  muh." 
Diese  letzten  Vorstellungen  schei- 
nen Macht  über  ihn  zu  gewinnen. 
Nach  ein  paar  Minuten  geht  er 
ruhig  zu  den  Kindern. 

Beobachtungen  fehlen  mir. 


1)  Eine  vierte  Spalte  sollte  l>esondere  Bemerkungen  enthalten ;  aus  drucktechnischen  Schwierig- 
keiten konnten  diese  aber  nicht  neben  die  Einzelfragen,  zu  denen  sie  gehören,  gesetzt  werden, 
sondern  wurden  fortlaufend  am  Schlüsse  des  Bogens  angefügt. 


318 


Judith  Lichtenstein 


Frage 


Beobachtungs- 
gelegenheit 


Antwortbeispiel 


6)  Wird  dem  Kinde  erst 
nach  einiger  Zeit  bewußt,  daß 
es  sich  in  fremder  Umgebung 
befindet?  Falls  das  Kind  im 
Kdg.  Bangigkeit  nach  Hause, 
Furcht  u.  dgl.  zeigt  —  treten 
diese  Erscheinungen  bald  auf 
oder  erst  später  ?  (Schreit  das 
Kind,  wenn  es  gebracht  wird  ?) 


7)  a)  Möchte  das  Kind  lieber 
allein  sein  oder  liebt  es  die 
Gesellschaft  (anderer  Kinder, 
Erwachsener)  ? 


b)  Bevorzugt  das  Kind  Ein- 
zel- oder  Sozialspiele?  (a  und 
b  sind  zu  beantworten  sowohl 
für  die  Zeit  des  Eintritts  in  den 
Kdg.  als  auch  nach  längerem 
Aufenthalt!) 


8)  Empfindet  das  Kind  die 
anderen  (Erwachsene,  Kinder) 
als  Störung  ?  Wie  äußert  sich 
da»?  Ändert  es  sich,  wenn 
das  Kind  schon  längere  Zeit 
den  Kdg.  besucht  hat  ?  (Ge- 
nnue  Zeitangaben !) 


S.  Nr.  4. 

Hier  muß  die  beobachtende 
Person  so  diskret  wie  mög- 
lich sein,  um  nicht  Schmerz- 
ableiter  zu  werden. 


a)  Beim  Freispiel  der  Kin- 
der zu  beobachten. 


b)  'Bei  den  meisten  Kindern 
wird  es  schwer  sein,  ein  Über- 
wiegen nach  einer  Seite  fest- 
i  zustellen.  Vielleicht  kann 
j  man  dem  Kinde  Spielzeug 
j  geben  (Experiment!),  das  zu 
!  ruhiger,  einsamer  Vertiefung 
I  einlädt,  z.  B.  ein  Zusammen- 
j  setzspiel,  und  nun  beobachten, 
I  ob  sich  das  Kind  trotzdem 
1  Spielgefährten  herbeiholt.  — 
!  Hier  sind  auch  die  Angehöri- 
!  gen  zu  befragen,  denn  es  wäre 
I  wichtig,  festzustellen,  ob  Kin- 
I  der,  die  zu  Hause  immer  allein 
I  spielen,  im  Kdg.  besonders 
j  eifrig  Spielgefährten  suchen. 
Es  empfiehlt  sich,  ein  Zim- 
I  mer  im  Kdg.  zu  haben,  in 
I  das  sich  das  Kind,  falls  es 
!  Verlangen  darnach  hat,  zu- 
1   rückziehen  kann. 


9)  Wie  lange  dauert  es,  bis 
das  Kind  die  anderen  kennt 
und  mit  Namen  rufen  kann  ? 


Alle  paar  Tage  kann  man 

das   Kind    nach   den  Namen 

j   der    anderen,    auch  Erwach- 

1)  Die  Beobachtung  des  kindlichen  Spiels   kann  vielleicht 
wichtig  werden!     Beispiel  oben! 


Hilde  (5  J.)  kam  sehr  selb- 
ständig in  den  Kdg.  Sie  war 
einen  Tag  vorher  durch  ihre 
Mutter  angemeldet  worden,  so  daß 
weder  ich  sie,  noch  sie  mich 
kannte.  Sie  nannte  deutlich  ihren 
Namen,  setzte  sich  zu  den  an- 
deren Kindern.  Gegen  11  Uhr 
nahm  sie  plötzlich  ihre  Brottasche 
und  erklärte,  sie  ginge  jetzt.  Wir 
durften  sie  natürlich  nicht  gehen 
lassen,  und  nun  trat  der  Tren- 
nungsschmerz hervor.  Sie  hieb 
und  biß  um  sich,  wollte  weder 
essen  noch  sich  schlafen  legen. 
Dieser  Zustand  dauerte  ungefähr 
*/i  Stunde,  bis  sie  vor  Müdigkeit 
einschlief.  Nach  dem  Schlafen 
war  sie  wieder  ganz  ruhig. 

a)  Ich  suche  Alfred  (4  J.)  und 
finde  ihn  schließlich  in  einem  klei- 
nen Zimmer  ruhig  in  einer  Ecke 
sitzen.  Auf  meine  Frage,  warum 
er  nicht  mit  den  anderen  Kindern 
spiele,  sagt  er:  „Hier  ist  es  feiner." 

b)  Fritz  (6  J.)  bevorzugt  So- 
zialspiele. Die  Kinder  haben 
Spielzeug  erhalten,  Fritz  den  Roll- 
wagen, Rudi  den  Kaufmanns- 
laden. Zwischen  diesem  bezie- 
hungslosen Spielzeug  fand  er  die 
Brücke:  Von  dem  Wagen  wird 
Zucker  abgeladen,  der  im  Laden 
verkauft  wird.  In  dieser  Weise 
zog  er  auch  das  andere  Spiel- 
zeug in  sein  Bereich,  so  daß  er 
bald  mit  einer  Reihe  von  Kindern 
spielte.  (Anzeichen  von  organi- 
satorischem Talent?  •) 


Liese  (5  J.)  kennt,  möchte  man 
sagen,  seit  ihrer  Geburt  nichts  als 
Anstaltsleben.  (Krippe,  Kinder- 
garten). Aber:  sie  spielt  in  einer 
Ecke  ,, Mutter  und  Kind"  und 
singt;  sowie  ich  hereinkomme, 
verstummt  sie  und  schreit  mich 
an:  „Sollst  weggehen!" 

Beobachtungen  fehlen  mir 


für  die  Lebens-  (Berufs-)  Prognose 


Psychologische  Ermittlungen  im  Kindergarten 


319 


Frage 


Beobachtungs- 
gelegenheit 


Antwortbeispiel 


(Genaue    Angaben    der 
Sachen  und  der  Zeit!) 


Tat- 


1 0)  Befreundet  sich  das  Kind 
zuerst  mit  Kindern  oder  Er- 
wachsenen ? 


11)  Ist  das  Kind  zuerst  he- 
sonders  anhänglich  an  einen 
bestimmten  Erwachsenen,  ein 
bestimmtes  Kind  oder  Tier? 
Schwindet  diese  Anhänglich- 
keit mit  der  Zeit  ?  (innerhalb 
welcher.au»  welchemGrunde  ? 
Tatsachenangabe !)  oder  bleibt 


12)  Wie  lange  dauert  es, 
bis  das  Band  am  Spiel  oder 
an  der  Beschäftigimg  der  an- 
deren teilnimmt? 


senen,  fragen.  Nur  muß  man 
sich  hüten,  daß  daraus  nicht 
ein  Oben,  ein  Lernen  für  da.« 
Kind  wird,  —  Ob  das  Kind 
die  anderen  kennt,  läßt  sich 
am  besten  beim  Freispiel 
beobachten. 

Am  besten  t)eim  Freispiel 
zu  beobachten,  da  ja  hier  das 
Kind  ganz  seinen  Neigungen 
folgen  kann. 

S.  Xr.   lö. 


Hier  ist  genau  zu  t)eob- 
achten.  ob  das  Kind  zuerst 
nur  zusehen  mag,  ob  es  dann 
nur  an  bestimmten  Beschäf- 
tigungen teilnimmt,  ob  die 
Auswahl  der  Beschäftigung 
etwa  mit  der  Bevorzugung 
einer  besonderen  Technik  zu- 
sammenhängt oder  ob  das 
Kind  nur  nach  rein  persön- 
lichen Gesichtspimkten  aus- 
wählt. 


Ursel  (5  J.)  beachtet  die  an- 
deren Kinder  nicht  und  flüchtet 
immer  in  den  Schutz  eines  Er- 
w^achsenen.  Da  öffnet  sich  dann 
ihr  Mund,  und  sie  kann  erzählen. 

In  den  ersten  14  Teigen  klam- 
merte sich  Erwin  (3  J.)  sehr  fest 
an  mich  an.  Die  Freundlichkeit 
meiner  Gehilfin  gewann  ihn  aber, 
so  daß  er  die  Richtung  wech- 
selte imd  ihr  treuer  Begleiter 
wurde.  Meine  Gehüfin  erkrankte 
und  konnte  längere  Zeit  nicht  in 
den  Kindergarten  kommen.  Er 
war  nun  allein  und  schwebte 
hilflos  im  Räume.  Er  pendelte 
tatsächlich  die  ersten  Tage  her- 
um, ohne  zu  wissen,  was  be- 
ginnen. Dann  freundete  er  sich 
mit  den  anderen  Kindern  an  und 
verteilte  gleichmäßig  seine  Gunst 
Als  meine  Gehilfin  nach  6  Wochen 
wiederkam,  hatte  sie  fönihn  die 
Bedeutung  verloren. 

Beobachtungen  fehlen  mir. 


n.    Beschäftigung  mit  Fröbelsehen  Gaben. 


13)  Wählt  das  Kind  lieber 
selbst  seine  Beschäftigung, 
öder  braucht  es  Bestimmung 
durch  andere? 


Festzusteüeu  durch  ein 
kleines  Experiment: 

Man  lasse  einige  Male  hin- 
tereinander das  Kind  selbst 
wählen  und  teile  dann  an 
den  nächsten  Tagen  die  Be- 
schäftigung selbst  zu.  Durch 
Beobachten  und  vorsichtiges 
Befragen  stelle  man  fest,  was 
dem  Kinde  lieber  war. 


Beobachtungen  fehlen  mir. 


320 


Judith  Lichtenstein 


Frage 


Beobachtungs- 
gelegenheit 


Antwortbeispiel 


14)  Weiß  das  Kind  von  vorn- 
herein, was  es  mit  der  Gabe 
anfangen  soll,  oder  muß  es 
ihm  von  Erwachsenen  vor- 
gezeigt werden?  (Vorbauen 
usw.) 


15)  Verwendet  das  Kind  die 
Gaben  in  Fröbels  Sinne?  Be- 
nutzt es  z.  B.  Täfelchen  wirk- 
lich dazu,  einen  Gegenstand 
daraus  zu  legen,  Bausteine 
zum  Bauen? 

1 6)  Wie  lange  hält  das  Kind 
bei  demselben  Beschäf  tigungs- 
mittel  aus?  Zeigen  sich  zu 
verschiedenen  Zeiten  bei  ver- 
schiedenen Gelegenheiten  sehr 
große  Unterschiede  ?  (Tat- 
sachenangabe !  Beschreibung 
des  Beschäftigungsmittels !) 


17)  Welche  Gabe  wählt  das 
Kind,  wenn  es  Gelegenheit 
zur  Wahl  hat? 


1 8)  Wählt  es  jedesmal  die- 
selbe Gabe?  Schließt  es  jedes- 
mal dieselbe  Gabe  aus? 


19)  Fall«  das  Kind  bei  der 
Auswahl  wechselt,  nach  wel- 
cher Gabe  greift  es  oft,  nach 
welcher  selten? 

20)  WUl  sich  das  Kind 
lieber  mit  Spielzeug  als  mit 
einer      Gabe      beschäftigen? 


Man  gebe  dem  Kinde,  das 
noch  nicht  mit  den  Gaben 
vertraut  ist,  eine  Gabe  und 
achte  darauf,  daß  von  keiner 
Seite  eine  Beeinflussung  er- 
folgt. Wichtig  ist,  festzustellen, 
ob  das  Kind  geradezu  um 
Hilfe  bhtet. 

Man  gebe  dem  Kinde  Gaben, 
die  es  noch  nie  in  der  Hand 
gehabt  hat,  vielleicht  Stäb- 
chen oder  Täfelchen. 


Dies  festzustellen ,  wird 
längere  Zeit  in  Anspruch  neh- 
men. Die  verschiedenen  Ge- 
legenheiten undZeiten  ergeben 
sich  einfach.  Man  lasse  das 
Kind  einmal  in  einem  ruhi- 
gen Zimmer  sich  mit  den 
Gaben  beschäftigen,  ein  an- 
deresmal,  wenn  die  anderen 
Kinder  um  es  herumspielen, 
einmal  bei  Beginn  des  Kinder- 
gartens, dann  wieder  am 
Schluß,  vor  dem  Frühstück, 
nach  dem  Frühstück,  nach 
dem  Miitagsschlafe,  nach  dem 
Spaziergange  usw. 

Damit  das  Kind  bewußt 
wallten  kann,  muß  es  die 
Gaben  natürlich  vorher  genau 
kennen.  Man  führe  das  Kind 
vor  den  Schrank,  zeige  genau, 
was  in  jedem  Kasten  ist, 
überzeuge  sich,  daß  das  Kind 
das  nun  weiß,  und  lasse  wäh- 
len. Dadurch  vermeidet  man 
die  Gefahr,  daß  das  Kind  bei 
der  ersten  besteuGabe  zugreift. 

Man  gebe  dem  Kinde  meh- 
rere Male  Gelegenheit  zur 
Wahl,  möglichst  zur  selben 
Zeit,  unter  denselben  Um- 
ständen. 

S.  Nr.  18. 


Man  lasse  das  Kind  selbst 
Spielzeug  und  Gaben  auf 
einem   Tische  aufbauen  und 


Beobachtungen  fehlen  mir. 


Lotte  (4  J.)  hat  Täfelchen  und 
stellt  sie  hintereinander  auf.  Sie 
spielt  mit  ihnen  Eisenbahn,  statt 
aus  ihnen  einen  Gegenstand  zu 
legen. 

Beobachtungen  fehlen  mir. 


Wir  hatten  Stäbchen,  Bausteine. 
Kugel,  Würfel,  Walze  gescheuert. 
Dies  alles  lag  nun  in  der  Küche 
zum  Trocknen.  Frieda  (3  .1.) 
wählt  Bausteine  und  Stäbchen. 
Sie  legt  die  Bausteine  nebenein- 
ander („das  ist  eine  Eisenbahn"), 
stellt  ein  Spieltöpfchen  herauf 
und  tut  Stäbchen  hinein.  Die 
Stäbchen  stellen  den  Rauch  dar. 

Beobachtungen  fehlen  mir. 


Beobachtungen  fehlen  mir. 


Beobachtungen  fehlen  mir. 


Psychologische  Ermittlungen  im  Kindergarten 


321 


Frage 


Beobachtungs- 
gelegenheit 


Antwortbeispiel 


(Wählt    das    Kind    jedesmal 
dasselbe  ?) 

21)  Richtet  sich  die  Wahl 
des  Kindes  nach  der  des 
Kameraden?  Wählt  das  Kind 
dasselbe  oder  das  ergänzende 
Spielzeug,  dieselbe  oder  die 
ergänzende  Gabe? 


22)  Will    das  Kind  lieber 
arbeiten  als  frei  spielen? 


23)  Will    das  Kind   lieber 
Spielzeug  haben  als  arbeiten  ? 


24)  Will  das  Kind  lieber 
arbeiten,  als  sich  mit  Gaben 
beschäftigen  ? 


25)  Welche  technische  Be- 
schäftigung wählt  das  Kind, 
falls  ihm  Gelegenheit  zurWahl 
gegeben  wird? 

26)  Wählt  es  jedesmal  die- 
selbe technische  Beschäf- 
tigung, schließt  es  jedesmal 
die  gleichen  technischen  Be- 
schäftigungen aus? 


27)  Falls  das  Kind  bei  der 
Wahl  wechselt,  nach  welcher. 
Arbeit    greift    es    oft,    nach 
welcher  selten? 

28)  Wählt  das  Kind  die  Be- 
schäftigung, für  die  es  beson- 
dere Geschicklichkeit   zeigt? 

29)  Richtet  sich  die  Wahl 
des  Kindes  nach  der  des 
Kameraden? 

30)  Ist  es  dem  Kinde  lieber, 
wenn  es  seine  Arbeitwählt,  od. 
wenn  sie  ihm  zugeteilt  wird? 


achte  dann  darauf,  daß  das 
Kind  auch  wirklich  wählt. 

Man  lasse  einen  besonders 
befreundeten  Spielkameraden 
mitwählen. 

Beispiel  für  sich  ergän- 
zendes Spielzeug:  A.  wählt 
den  Pferdestall,  B.  die  Pferde. 

in.  Technische  Arbeiten. 

Durch  Befragen  des  Kindes, 
dem  beides  bekannt  ist,  fest- 
zustellen, bei  Beginn  des  Frei- 
spiels  imd  nach  einer  Stunde 
Freispiels.  (Feststellung  bei 
demselben  Kinde  öfters  nach 
längeren  Zeiträumen  wieder- 
holen !) 

Man  lasse  das  Kind  selbst 
(unter  Anleitung)  Spielzeug 
n.  Material  zur  .\rbeit  aufbauen 
und  achte  dann  darauf,  daß 
das  Kind  auch  wirklich  wählt. 

Man  lasse  das  Kind  selbst 
(unter  Anleitung)  Gaben  und 
Material  zur  Arbeit  aufbauen 
und  achte  dann  darauf,  daß 
das  Kind  auch  wirklich  wählt. 

Man  gehe  mit  dem  Kinde 
die  Beschäftigungsmöglich- 
keiten  durch  und  lasse  dann 
wählen. 

S.  Nr    25. 

Ich  schlage  vor,  sich  hier 
einmal  auf  die  rein  Fröbel- 
schen  Beschäftigungen  zu  be- 
schränken, da  sonst  eine  Über- 
einstimmung in  der  Versuchs- 
anOrdnimg  unmöglich  ist. ') 

S.  Xr.  25. 


Durch  Vonmtersuchungen 
muß  man  darüber  unterrichtet 
sein,  auf  welchem  Gebiete  die 
Geschicklichkeit  besteht. 

Man  lasse  einen  besonders 
befreundeten  Spielkameraden 
mitwählen. 

S.  Nr.  13. 


Feststellungen  fehlen  mir. 


Hardi  (6  J.)  will  lieber  arbeiten. 


Kurt  (5  J.),  arm  an  Erfindungs- 
geist, will  flechten. 


Gerhard  (5  J.)  ist  empört,  daß 
wir  heute  nicht  arbeiten.  Er  be- 
ruhigt sich  erst,  als  ich  ihm  klar 
mache,  daß  auch  Stäbchenlegen 
eine  Arbeit  sei. 

Ernst  (5  J.)  will  flechten. 


Feststellungen  fehlen  mir. 


Feststellungen  fehlen  mir. 

Feststellungen  fehlen  mir. 

Feststellungen  fehlen  mir. 
Feststellungen  fehlen  mir. 


')  .\l8o  auf  Falten,  Flechten,  Ausschneiden,   Ausnähen,  Zeichnen  nach  Fröbelschem  System 
Zeitschrift  f.  padagog.  Psychologie.  21 


322 


Judith  Lichteiistein 


Frage 


Beobachtungs- 
gelegenheit 


31)  Hat  das  Kind  Freude 
an  der  Arbeit  selbst,  oder 
brennt  es  darauf,  den  Gegen- 
stand ferligznstellen,  um  ihn 
dann  aufzubewahren  oder 
damit  zu  spielen  usw.  V 


32)  Findet  das  Kind  be- 
sondere Genugtuung  darin, 
technische  Schwierigkeiten  zu 
überwinden,  oder  hemmen  im 
Gegenteil  Schwierigkeiten  den 
Arbeitsmut? 


Dies  ist  beim  Flechten  gut 
zu  beobachten,  auch  beim 
Ausnähen  usw.  Es  gibt  Kin- 
der, die  bei  jedem  Stich  aufs 
Ende  blicken  und  überlegen, 
ob  sie  wohl  heute  noch  fertig 
werden  können,  und  andere, 
die  aus  ruhiger  Freude  an 
ihrer  Tätigkeit  arbeiten.  Auch 
nach  Fertigstellung  des  Ge- 
genstandes ist  dies  festzu- 
stellen. Manchen  Kindern  ist 
der  Gegenstand,  sobald  er 
fertig  ist,  vollständig  gleich 
gültig.  Sie  zerstören  ihn  oder 
werfen  ihn  achtlos  herum. 

Dies  ist  gut  bei  den  Fröbel- 
schen  Ausnäh-  oder  Flechl- 
mustern  festzustellen.  —  Man 
wähle  vielleicht  ein  Muster, 
das  besondere  Schwierigkei- 
ten birgt,  bei  dem  es  dann 
klar  zutage  tritt,  ob  das  Kind 
davon  gefördert  oder  gehemmt 
wird. 


Antwortbcispiel 


Ernst  (5  J.)  sagt  bei  jedem 
Stich:  „Wenn  ich  fertig  bin, 
schenk'  ich  die  Karte  meiner 
Mutti."  —  Fritz  (6  J.)  hebt  sich 
alle  seine  Sachen  hinter  dem 
Spiegel  auf 


Feststellungen  fehlen  mir. 


IV.   Bewegungsspiele. 


33)  Spielt  das  Kind,  sich 
selbst  überlassen,  Spiele,  die 
formal  dem  Bewegungsspiele 
gleichen,  die  also  auch  feste 
Gesetze  und  straffe  Organi- 
sation zeigen? 

34)  Spielt  das  Kind,  sich 
selbst  überlassen,Rollenspiele, 
die  den  Rollenspielen  im  Be- 
wegungsspiele gleichen  ? 


35)  a)  Stellt  das  Kind  spon- 
tan Erlebnisse  durch  Bewe- 
grmgen  dar? 


b)  Macht  es  Bewegungen 
zu  seinen  Phantasievorstel- 
lungen? (Hantiert  es  mit  dem 
Nichts  ?)  (s.  Stern,  Psychologie 
der  frühen  Kindheit,  S.  194.) 


Beim 
achten. 


Freispiel    zu    beob- 


Beim  Freispiel  festzustellen. 


Beim  Freispiel  festzustellen. 


Beim 
achten. 


Freispiel    zu    beob- 


Günther  (6  J.)  erklärt:  „Das 
ist  das  Dienstmädchen,  die  Frie- 
de! das  Kind.  Mutter  ist  gestor- 
ben. Wenn  der  Nikolaus  kommt, 
kriechen  sie  unter  den  Tisch  und 
ich  verdresch'  ihn.  (Planmäßiges 
zielbewußtes   Spiel  in   der  Tat!) 

Günther  (6  J.);  „Ich  bin  der 
Putzer."  Er  steht  auf  der  Schau- 
kel des  Schaukelpferdes  und 
streicht  die  Wand  entlang  mit  dei- 
Hand.  Dann  klettert  er  noch 
höher  auf  das  Geländer  und  putzt 
weiter.- 

Rudi  (5  J.)  erzählt;  „Einmal 
hat  es  geblitzt,  daß  in  der  Küche 
alles  licht  war.  Der  Blitz  kommt 
ganz  schnell,  erst  bums,  dann 
bums  (Aufhauen  auf  den  Tisch), 
dann  blitzt's  ganz  schnell  (Hände 
gehen    schnell    durch   die  Luft). 


Psychologische  Ermittlungen  im  Kindergarten 


323 


Frage 


Beobachtungs- 
gelegenheit 


Antwortbeispiel 


36)  Bindet  das  Kin9,  sich 
selbst  überlassen,  ein  Spiel 
logisch  an  das  andere,  oder 
bricht  es  ein  Spiel  ab  und 
fängt  frisch  von  vorne  wieder 
an,  flattert  es  also? 


37j  Spielt  das  Kind,  sich 
selbst  überlassen,  Bewegungs- 
spiele? 

38)  Welche  Spiele  spielt  es 
in  diesem  Falle?  Spielt  es 
solche,  bei  denen  dieBewegung 
die  Hauptsache  ist,  also  Tanz- 
spiele, oder  solche,  in  denen 
die  Kinder  bestimmte  RoUen 
darstellen,  z.  B.  „Vöglein  singt 
im  Walde"  oder  .Handwerker- 
Bpiel*^  ? 

39)  Wie  sind  die  Bewe- 
gungen des  Kindes?  Ahmt 
es  mechanisch  nach  oder  ent- 
stammen die  Bewegungen 
innerer  Anschauung,  ist  also 
das  Spiel  zum  inneren  Erleb- 
nis geworden?  (Tatsachen 
imd  Äußerungen  sind  genau 
anzugeben !) 

iO)  Baut  das  Kind  die  Spiel- 
gesetze, die  im  Spiele  ent- 
halten sind,  durch  eigene 
Ideen  aus? 


^ 


Beim  Freispiel  festzustellen. 


41)  Gestaltet  das  Kind  selb- 
ständig ein  Lied  oder  eine 
Geschichte  zum  Bewegungs- 
spiel  ? 


42)  Wird  das  Kind  in  der 
Darstellung  seines  Spielerleb- 
nisses durch  die  Herumspie- 
lenden gestört?  (Tatsachen- 
angaben 1) 


Man  lerne  mit  den  Kindern 
ein  Lied  oder  erzähle  eine 
Geschichte,  die  dazu  einlädt, 
dargestellt  zu  werden. 


Beim  Spiel  in  der  Ge- 
meinschaft und  beim  ein- 
zelnen Spiel  zu  beobachten. 
Vorsichtige  Fragen  geben 
hierüber  vielleicht  auch  Auf 
schlußi 


Beim  Freispiel  festzustellen. 


Beim  Freispiel  festzustellen. 
Falls  es  zu  lange  dauert,  ehe 
man  zu  Ergebnissen  kommt, 
kann  man  ein  Kind  zum 
Spielleiter  machen  und  ab- 
warten, welche  Spiele  es  spielt. 
(Expei-iment !) 


Dies  ist  sehr  schwer  fest- 
zustellen. Immerhin  werden 
wir  während  des  Spiels  Tat- 
sachen und  Äußerungen  be- 
obachten können,  die  darauf 
hindeuten. 


Beim   Bewegungsspiele  zu 
beobachten. 


Rudi.  (5  J.)  streut  Sand:  »Es 
regnet.  Da  muß  ich  mir  eine 
Krone  aufsetzen."  Er  setzt  sich 
eine  Sandform  auf  den  Kopf.  Er 
vergräbt  seine  Füße :  „Nun  kann 
ich  nicht  mehr  laufen."  (Ansätze 
zum  zusammenhängenden  Spiel 
sind  vorhanden!) 

Magda(5J.)  und  Ruth  (6  J.)  spie- 
len fast  bei  Jedem  Freispiel  Bewe- 
gungsspiele. „Rira  rutsch",  „Klein 
Häschen  wollt'  spazieren  gehen." 

Beobachtimgen  fehlen  mir. 


Wir  spielen  das  Wäschespiel 
und  plätten  gerade.  Gerhard 
(5  J.)  plättet  mit  Eifer,  fährt  plötz- 
lich schmerzhaft  mit  der  Hand 
zurück  und  sagt;  „Ich  hab*  mich 
aber  gebrannt." 


Wir  spielen  das  nicht  gerade 
schöne  Spiel  „Von  den  Neger- 
lein", die  immer  weniger  wer- 
den. Gerhard  (5  J.)  ist  das  fünfte, 
das  zuviel  Bier  trinkt.  Ohne  daß 
es  ihm  angedeutet  worden  ist, 
tut  er,  als  ob  er  trinke,  seine 
Faust  ist  das  Glas,  taumelt  hin 
und  her,  fällt  zur  Erde  imd  stirbt 

Magda  (6  J.)  gestaltet  „Klein 
Häschen  wollt"  spazieren  gehn" 
zu  einem  Kreisspiel.  Ein  Kind 
ist  die  Mutter  eines  Häschens. 
Das  Häschen  fällt  ins  Wasser, 
macht  einen  großen  Sprung,  läuft 
schnell  nach  Haus,  die  Mutter 
schlägt  es. 

Beobachtungen  fehlen  mir 


324 


Judith  Lichtenstein 


Frage 


Beobachtungs- 
gelegenheit 


Antwortbeispiel 


V.  Einheitsgedanke  (Monatsgegenstand). 


43)  Wird  das  Handeln  des 
Kindes  oft  längere  Zeit  hinter- 
einander von  bestimmten  Vor- 
stellungen und  Ideen  be- 
herrscht ?  Spielt  das  Kind  z.  B. 
tage-  oder  wochenlang  die- 
selben Spiele? 


44)  Ist  dem  Kinde  der  Ein- 
heitsgedanke der  Gedanke 
geworden,  mit  dem  es  sich 
längere  Zeit  hintereinander 
spontan  beschäftigt? 


45)  Wie  findet  sich  das  Kind 
mit  dem  Einheitsgedanken  ab, 
wenn  es  nicht  Anlage  dazu 
hatte,  sich  längere  Zeit  mit 
demselben  Gegenstand  zu  be- 
schäftigen? Wird  das  Kind 
vielleicht  durch  den  Einheits- 
gedanken dazu  gebracht,  daß 
es  sich  nun  auch  längere  Zeit 
hintereinander  mit  demsel- 
ben Gegenstand  beschäftigen 
kann?  Oder  beharrt  das  Kind 
bei  seiner  Anlage,  ist  ihm 
also  der  Einheitsgedanke  nur 
ein  Erlebnis  neben  anderen 
geworden  ? 

46)  Ist  der  Einheitsgedanke 
dem  Kinde  überhaupt  zum 
Erlebnis  geworden? 


Wir  müssen  uns  bemühen, 
jede  Beeinflussung  vom  Kinde 
fernzuhalten,  damit  die  Vor- 
stellungen und  Ideen,  die  wir 
aus  Äußerungen  des  Kin- 
des erschließen,  nicht  vorher 
durch  unsere  Einwirkung  ent- 
standen sind. 

Aus  freien  Äußerungen  des 
Kindes,  wie  Freispiel,  Frei- 
zeichnen, Freibauen  zu  ent- 
nehmen. 


S.  Nr.  44. 

Man  beobachtet  das  Kind 
während  der  Zeit,  in  der  man 
einen  Einheitsgedanken  streng 
durchführt,  und  während  der 
Zeit,  die  man  ohne  Einheits- 
gedanken hinbringt. 


Am  besten  und  klarsten, 
beim  Zeichnen  festzustellen. 
Man  gebe  Ma'erial  zum  Zeich- 
nen und  lasse  die  Kinder 
zeichnen,  was  sie  wollen.  Falls 
das  Kind  spontan  Stoffe  des 
Einheitsgedankens  darstellt, 
kann  man  vorsichtig  darauf 
schließen,  daß  der  Einheita- 
gedanke  zum  Erlebnis  ge- 
worden ist. 


Gerhard  (5  J.)  spielt  immer 
wieder  Eisenbahn.  Ich  solle 
mitfahren,  meint  er.  Ich  mag 
aber  nicht,  da  ich  zu  müde  bin. 
Wir  könnten  ja  etwas  anderes 
spielen,  denke  ich.  Er  belehrt 
mich  aber:  „Ich  kann  bloß  Eisen- 
bahn. Ich  kann  weiter  nichts 
als  Lokomotive." 

Einheitsgedanke:  „vor  Weih- 
nachten". Gerhard  (6  J.)  spielt 
bereits  den  3.  Tag  Weihnachts- 
mann. Er  holt  sich  einen  Stock, 
kommt  stampfend  und  klopfend 
die  Treppe  herunter.  Die  ande- 
ren Kinder  müssen  unter  den 
Tisch  kriechen. 

Exakte  Beobachtungen  fehlen 
mir. 


Da  ich  hier  keine  Zeich- 
nungen bringen  kann,  verzichte 
ich  auf  die  Antwort. 


47)  Hat  das  Kind  Freude 
an     Besprechungen?      Oder  |  festzustellen 


VL  Besprechimgen. ') 
Während  der  Besprechung 


Aus  dem  Ver- 


Herbert   (6   J.)    ist    ein    sehr 
ruhiges  Kind,  aber  Besprechun- 


•)  Da  die  Besprechungen  im  Kdg.  nach  keiner  Richtung  hin  festbegrenzt  sind  —  sie  erstrecken 
sich  auf  Bilder,  Gaben,  Gegenstände,  Erlebnisse  —  so  konnte  ich  bloß  wenige  allgemeine  Fragen 
formulieren.     Hier  ist  Arbeit  für  meine  Mitarbeiter! 


Psychologische  Ermittlungen  im  Kindergarten 


325 


Frage 


Beobachtungs- 
gelegenheit 


Äntwortbeispiel 


zeigt  es  Abneigung  dagegen  ? 
Vielleicht  weil  es  sich  nicht 
genug  dabei  betätigen  kann  ? 


halten  des  Kindes,  besonders 
der  Aufmerksamkeit,  zu  er- 
sehen. —  Wir  können  das 
Kind  auch  fragen,  ob  wir 
uns  vielleicht  wieder  ein  Bild 
ansehen  wollen. 


gen  langweilen  ihn  so,  dafi  er 

nicht  einen  Augenblick  ruhig  auf 
seinem  Platz  sitzen  kann,  die  an- 
deren stört  usw. 


Vn.  Sehlofifragen. 


48)  Liegen  Anzeigen  dafür 
vor,  daß  die  Eindrücke  des 
Kdg.  das  Kind  tiberreizen? 


49)  Welche  Momente  des 
Kindergartenlebens  haben  die 
tiefsten  Spuren  beim  Kinde 
zurückgelassen  ? 


Sehr  gut  ist  dies  festzu- 
stellen, wenn  das  Kind  Kin- 
dergarten spielt.  Denn  das 
Kind  wird  nur  dies  aus  dem 
Kindergartenleben  heraus- 
greifen und  darstellen,  was 
den  tiefsten  Eindruck  hinter- 
i   lassen  hat. 

austeilen  Lothar,  Tassen  Erika,  Taschen  kann  austeilen  der  Horst. 

die  richtigen  Taschen  der  Kinder)'.    Ruth:    „Noch  nicht  essen. 


Friedel  (4  J.)  und  Ruth  (6  J.) 

organisieren  das  Spiel.  Friedel 
l)eginnt  mit  dem  Kreisspielen,  wie 
wir  jeden  Morgen.  Sie  läßt  aber 
bloß  das  Morgenlied  singen  .Es 
geh'n  viel  Englein  durch  die 
Welt",  dann  läßt  sie  hinsetzen. 
Sie  bestimmt:  „Brettchen  kann 
Aber  nicht  richtig  (d.  h.  nicht 
erst  Hände  auf  den  Rücken*. 


Friedel  sagt  zu  Rudolf:  „Geh  a  mal  raus,  wir  müssen  die  Bank  abrücken*.  Sie  fängt  noch 
einmal  an  auszuteilen.  Sie  hebt  jetzt  die  Hand  (diese  Bewegung  verstärkt  die  Illusion,  daß  sie 
die  Tasche  in  der  Hand  hält).  Sie  fängt  an  zu  zählen:  „1  .  .  .  2  .  .  .  3  .  .  ."  Ruth:  „Wir  haben 
ja  schon  ausgeteilt".  Friedel  läßt  sich  nicht  stören,  sondern  fährt  fort :  „Danke  schön  dem  Horst 
und  dem  Rudolf.  Nu  laßt's  euch  gut  schmecken*.  Erika  bewegt  den  Mund,  als  ob  sie  äße. 
Friedel  genügt  es  jetzt  aber  nicht  mehr,  nur  so  zu  tun.  Sie  holt  rosa  Florpapier  aus  dem  Papier- 
korb und  teilt  es  aus.  Rudolf  steckt  das  Papier  in  den  Mimd  und  ißt  wirklich.  Plötzlich  ist 
das  Papier  Faltblatt,  und  Friedel  kommandiert:  „Ecke  auf  Ecke  .  .  ."'  (Ich  muß  ein  paar  Minuten 
fortgehen.  Als  ich  wiederkomme,  ist  das  Spiel. etwas  vorgerückt.)  Friedel:  „Anstellen,  in  den 
Garten  gehen!"  Die  Kinder  müssen  beim  Marschieren  singen:  „Ein  scheckiges  Pferd".  Sie  läßt 
den  Kreis  zumachen  und  wieder  ein  Morgenlied  singen  „Recht  frisch  imd  munter  aufgewacht" 
(keine  strenge  Spielhierarchie).!)  Sie  spielt  weiter  „Fädchen,  Fädchen  wie  am  Rädchen"  und 
zieht  die  Kinder  in  das  Nel)enzimmer.  „Hinsetzen,  Lothar,  hierher".  Sie  fängt  das  Fingerspiel 
an  „Wir  spielen,  wir  spielen  und  fangen  lustig  an".  Sie  teUt  wieder  Brettchen  aus.  Ruth: 
„Nein,  jetzt  ist  Mittag.  Jetzt  schlafen  die  Kinder".  Friedel:  „Miltagskinder  bleiben  sitzen,  die 
anderen  stellen  sich  an.  Tante  Lene  bleibt  über  Mittag,  die  anderen  gehen  fort".  (Das  erste 
Mal  bewußte  Anlehnung  an  die  Wirklichkeit.  —  Den  weiteren  Verlauf  konnte  ich  nicht  mehr 
beobachten). 

Vorsichtige  Folgerungen:  Friedel  ist  besonders  die  Technik  des  Kindergarienlebens  zum  Er- 
lebnis geworden,  die  äußeren  Linien,  die  Form,  wenig  der  geistige  Inhalt.  Das  Kommandieren 
ist  ein  Teil  ihrer  Seele,  so  daß  das  Kommandieren  im  Kindergarten  die  größte  Resonanz  ge- 
funden hat.  Für  unseren  Kindergarten  spricht,  daß  Friedel  nicht  eine  Person,  sondern  die  Ge- 
setze des  Kindergartens  nachbildete.  Das  ist  ja  auch  unser  Wunsch.  Wir  sind  Diener  unserer 
Sache.  Gegen  unseren  Kindergartenbetrieb  spricht,  daß  bei  Friedel  nicht  einmal  vom  Geiste,  der  die 
Beschäftigungen  veranlaßt,  vom  Einheitsgedanken  etwas  zu  merken  war.  Wir  sagen  z.  B.  immer 
„Wir  falten  Sterne,  um  dem  Christkind  beim  Schmücken  zu  helfen".  Aber  dies  schließt  ja 
nicht  aus,  daß  ihr  diese  Ideen  nicht  zum  Erlebnis  geworden  sind.  Wir  sind  ja  nicht  solche 
Realisten,  d£iß  wir  alles  Innere  dargestellt,  veräußerlicht  sehen  wollen.  Wir  haben  den  Glaubenl 


')  Vgl.  A.  Mann,   Zur  Psychologie  und  Psychographie  der  Aufmerksamkeit, 
angewandte  Psychologie  IX,  Seite  446/447.) 


(Zeitschrift  fflr 


t 
326  Judith  Lichtenstein 


Bemerkungen  zu  den  Fragen. 

Zu  2)  Hieraus  können  wir  ersehen,  was  dem  Kinde  anfangs  am  Kindergarten  wesent- 
lich erscheint,  was  es  von  ihm  erwartet.  Zu  3)  Wichtig  z.  B.  in  Fällen,  in  denen  Kinder 
wegen  unerquicklicher  häuslicher  Verhältnisse  geschickt  werden.  Wenn  sich  solche  Kinder 
leicht  eingewöhnen,  so  braucht  dies  nicht  für  die  Kindgemäßheit  des  Kindergartens,  son- 
dern ■  kann  unter  Umständen  bloß  gegen  elende  häusliche  Verhältnisse  sprechen.  Zu  4 )  Wenn 
es  erwiesen  wäre,  daß  es  den  meisten  Kindern  sehr  schwer  fällt,  sich  in  die  neue  Umgebung 
ru  finden,  so  ergäbe  sich  vielleicht  daraus,  daß  das  Kindergartenleben  Momente  enthält,  die  der 
kindlichen  Seele  nicht  entsprechen.  Zu  5)  Falls  das  Kind  sich  überhaupt  schwer  in  jede  neue 
Situation  findet,  so  braucht  sein  schweres  Eingewöhnen  in  den  Kindergarten  nicht  gegen  den 
Kdg.  zu  sprechen.  Zu  6)  Wenn  die  starken  Gefühle  der  Bangigkeit,  Furcht  usw.  erst  sehr  spät 
auftreten,  so  muß  doch  der  Kdg.  der  kindlichen  Seele  so  viel  Reizvolles  bieten,  daß  sie  ihren 
Schmerz  eine  Zeitlang  vergißt.  Zu  7}  a)  Die  Kinder,  die  immer  wieder  sich  zurückziehen,  sind 
besonders  sorgfältig  zu  beobachten.  Es  ist  leicht  möglich,  daß  zart  organisierten  Kindern  das 
Gemeinschaftsleben  im  Kdg.  zur  Qual  und  zum  Schaden  an  Körper  und  Seele  wird .  b)  Höchst 
wahrscheinlich  werden  Kinder,  die  Sozialspiele  bevorzugen,  sich  leicht  in  den  Kdg.  einfügen  und  nach 
den  Spielgefährten  im  Kdg.  verlangen.  Zu  8)  s.  Nr.  7  a)  Liegen  hier  einmal  Beantwortungen  von 
vielen  Kindern  vor,  so  wird  es  interessant  sein,  festzustellen,  ob  dies  Verhalten'  etwa  über- 
wiegend Mädchen,  und  auch  diese  wieder  nur  in  einem  bestimmten  Alter,  haben.  Vielleicht 
lehnen  diese  Kinder  den  Kdg.  aber  auch  nur  in  einer  plötzlichen  Laune  ab.  Zu  9)  Von  dem  Kinde, 
das  bald  die  anderen  kennt  und  mit  Namen  rufen  kann,  läßt  sich  vielleicht  (nicht  unbtedingt) 
annehmen,  daß  seine  Seele  sich  eifrig  mit  ihnen  beschäftigt,  daß  sie  geöffnet  war  und  nach  neuen 
Menschen  verlangte.  Zu  10)  Dies  hängt  auch  von  den  häuslichen  Verhältnissen  ab.  Kinder,  die 
EU  Hause  wenig  von  Mutterliebe  spüren,  werden  sich  vielleicht  im  Kdg.  sehr  an  Erwachsene  klammem, 
Kinder  aus  liebevollem  Hause  wenig.  Zu  11)  s.  Nr.  10.  Zu  12)  Es  würde  vielleicht  gegen^den 
Kdg.  sprechen,  wenn  es  sehr  lange  dauert,  ehe  sich  ein  Kind,  das  sich  sonst  schnell  anschließt, 
zur  Teilnahme  entschließt.  Zu  13)  In  fast  allen  Kindergärten  werden  die  Be.schäftigungen  dem 
Kinde  zugeteilt.  Wenn  sich  nun  herausstellte,  daß  die  meisten  Kinder  lieber  selbst  wählen, 
80  würde  unsere  bisherige  Darbietungsart  nicht  kindgemäß  sein.  Zu  14)  In  fast  allen  Kdg.  wird 
vorgebaut,  vorgelegt,  besprochen  usw.  Falls  das  Kind  nun  ganz  von  selbst  die  Verwendungs- 
möglichkeiten der  Gabe  erkannte,  würden  wir  auf  unser  Eingreifen  verzichten  müssen,  denn  es 
ist  doch  selbstverständlich,  daß  wir  nur  dann  dem  Kinde  den  Weg  zeigen  dürfen,  wenn  es  diese 
Hilfe  braucht.  Zu  15)  Fröbel  hat  immer  betont,  daß  seine  Baugaben  dem  Zerstörungstrieb  der 
Kinder  entgegenarbeiten.  Muß  nicht  aber  das  Kind  auf  einer  Altersstufe  zerstören?  —  Der  schlimmste 
Vorwurf  gegen  Fröbels  Beschäftigungsmittel  ist  der,  daß  er  sich  ja  alles  sehr  schön  ausgedacht 
und  nach  mathematischen  und  philosophischen  Gesichtspunkten  klar  geordnet  habe,  daß  er  aber 
nicht  die  geringste  Rücksicht  auf  die  kindlichen  Bedürfnisse  genommen  habe.  Wenn  sich  nun 
herausstellte,  daß  das  Kind  spontan  die  Gaben  in  der  Weise  anfaßt,  wie  Fröbel  gewollt  hat,  so 
wäre  dies  eine  Rechtfertigung  für  Fröbel.  Zu  16)  In  den  meisten  Kindergärten  ist  ein-  für  alle- 
mal die  Zeit  festgelegt,  innerhalb  derer  das  Kind  sich  mit  den  Gaben  beschäftigt.  Wir  müssen 
nun  erst  feststellen,  ob  diese  Zeit  wirklich  dem  Bedürfnis  des  Kindes  entspricht.  Zu  17)  Es  ist 
möglich,  daß  eine  Reihe  von  Kindern,  unbeeinflußt  voneinander,  dieselben  Gaben  wählt.  Man 
wird  dann  mit  äußerster  Vorsicht  beurteilen  können,  welche  Gaben  sehr,  welche  wenig  und  welche 
gar  nicht  kindgemäß  sind.  Zu  18)  Sollte  das  Kind  immer  wieder  dieselbe  Gabe  auslassen,  so 
müßte  versucht  werden,  den  Grund  dafür  zu  erforschen,  der  in  irgendeiner  äußeren  Kleinigkeit 
liegen  kann.  Es  braucht  also  nicht  in  jedem  Falle  gegen  die  Gabe  zu  sprechen,  wenn  sie 
vom  Kinde  nicht  gewählt  wird.  Zu  19)  Sollte  das  Kind  besonders  häufig  gerade  zu  einer  be- 
stimmten Gabe  greifen,  so  kann  dies  auch  an  einer  bloß  akuten  Einstellung  der  Persön- 
lichkeit liegen,  die  oft  wochenlang  dauern  kann.  Es  braucht  also  nicht  unter  allen  Umständen 
gegen  eine  Gabe  zu  sprechen,  wenn  sie  selten  gewählt  wird.  Die  Beobachtungen  müssen  dem- 
nach lange  fortgesetzt  werden.  Zu  20)  Es  braucht  nicht  für  die  Gaben  zu  sprechen,  wenn  sie 
vom  Kinde  jedesmal  wieder  gewählt  werden.  Dies  kann  daran  liegen,  daß  das  Kind  zu  Hause 
mit  bestimmtem  Spielzeug  überfüttert  ist.  Zu  21)  Die  Beantwortung  dieser  Frage  erschließt 
ein  besonders  wichtiges  Gebiet  im  Kindergartenleben.  Wir  streifen  hier  das  Problem  der  Ge- 
meinschaftserziehung und  ihrer  Bedeutung  für  das  Kind.  Wenn  sich  herausstellt,  daß  die  Kinder 
sich  untereinander,  stark  beeinflussen,  so  werden  wir  daraus  schließen,  daß  das  Kind  sich  be- 
einflussen lassen  wiU,  daß  es  Beeinflussung  —  passiv  oder  aktiv  —  braucht.  Für  Kinder,  die 
80  miteinander  und  ineinander  spielen,  daß  sie  immer  die  sich  ergänzenden  Dinge  heraussuchen, 
würde  es  vi^leicht  eine  Verkümmerung  bedeuten,  wenn  sie  diesen  Trieb  nicht  ausleben  können, 


Psychologische  Ennittiungen  im  Kindergarten  327 


d.  h.  wenn  ihnen  das  Leben  in  Gemeinschaft  mit  Kameraden  nicht  gewährt  wird.  Vgl.  dazu 
im  Gegensatz  Nr.  6,  7,  8,  9,  10,  12.  Zu  22)  ^Aj-beilen''  nennen  wir  alle  die  Tätigkeiten,  die 
fremdzwecklich  (Spielen  ist  Selbstzweck)  sind.  —  Da  das  Arbeiten  im  Kdg.  sehr  stark  be- 
trieben wird  ist  es  wichtig,  einmal  zu  erlahren,  ob  das  Kind  darnach  verlangt,  und  wann  es 
am  meisten  darnach  verlaugt.  Zu  23)  Viele  Kinder  können  sich  nicht  beim  Freispiel  beschäf- 
tigen und  greifen  deshalb  sofort  nach  bestimmter  Tätigkeit  Wir  wollen  nun  feststellen,  ob  das 
Kind,  auch  wenn  es  durch  sein  Spielzeug  voll  ausgefällt  ist,  nach  Arbeit  verlangt,  d.  h.  ob  es 
unter  allen  Umständen  technische  Arbeiten  braucht.  Zu  24)  s.  Nr.  23.  Wir  können  auch  vor- 
sichtig urteilen,  ob  das  Kind  Gaben  oder  technische  Arbeiten  braucht.  Zu  25)  Es  ist  möglich, 
daß  eine  Reihe  von  Kindern  unbeeinflußt  voneinander  dieselben  Beschäftigungen  wählt.  Man 
wird  dann  mit  äußerster  Vorsicht  beurteilen  können,  welche  technische  Beschäftigimg  kindgemäß, 
welche  wenig  und  welche  gar  nicht  kindgemäß  ist.  Zu  26)  s.  Nr  25.  Zu  27)  s.  Nr.  ü5.  Zu  28) 
Aus  dieser  Frage  ersieht  man,  wie  vorsichtig  man  im  Urteil  über  die  Kindgemäßheit  einer  tech- 
nischen Beschäftigung  sein  muß.  Zu  29)  s.  Nr.  21.  Zu  30)  s.  Nr.  13.  Zu  31)  Viele  Kinder- 
gartenreformer fordern,  daß  wir  nur  solche  Gegenstände  arbeiten  lassen  sollen,  „von  denen  das 
Kind  auch  wirklich  etwas  hat".  Sollte  es  sich  herausstellen,  daß  dem  Kinde  weit  mehr  am 
Arbeitsweg  als  am  Arbeitsziel  liegt,  so  dürften  wir,  um  kindgemäß  zu  handeln,  jenen  Reformern 
nicht  folgen.  Zu  32)  Jeder  Kindergärtnerin  sind  die  Fröbelschen  Schulen  bekannt,  die  Beschäf- 
tigungen mit  steigender  Schwierigkeit  bringen.  Sollte  es  sich  zeigen,  daß  das  Kind  immer  neue 
Schwierigkeiten  sucht  oder  wegwerfend  z.  B.  darüber  urteilt,  daß  es  dasselbe  Flechtmuster  immer 
wieder  flechten  soll,  so  hätte  Fröbel  in  seinen  Schulen  wirklich  einem  Bedürfnis  des  Kindes  ent- 
sprochen. Zu  33)  Wenn  wir  feststellen  müßten,  daß  die  meisten  kleinen  Kinder  (2 — 6  J.)  in  ihren 
spontanen  Spielen  weder  feste  Gesetze  noch  straffe  Organisation  zeigen,  daß  wir  ihnen  also  im  Be- 
wegungsspiel etwas  ganz  Fremdes  bieten,  so  müßten  wir  Bedenken  gegen  das  Bewegungsspiel 
tragen.  Verschärft  würden  diese  Bedenken,  wenn  die  meisten  Kinder  trotz  häufigem  Bewegungs- 
spiel nichts  davon  im  Freispiel  zeigten.'  Wir  müßten  dann  sagen,  daß  das  Kind  diese  Momente 
im  Bewegungsspiel  ablehnt.  Zu  34)  Wenn  wir  feststellen  müßten,  daß  die  meisten  kleinen 
Kinder  keine  Rollenspiele  spielen,  so  müßten  wir  gegen  die  Rollenverteilungen  im  Bewegungs- 
spiel große  Bedenken  haben.  S.  weiter  Nr.  33.  Zu  35)  Der  Reiz  aller  Bewegungsspiele  beruht 
auf  der  Idee,  daß  alles,  was  gesagt  oder  gesungen  wird,  sofort  getan  wird.  Wir  müssen  nun 
feststellen,  in  welchem  Maße  das  Kind,  unbeeinflußt  von  uns,  Bewegungen  zu  seinen  Vorstel- 
lungen macht.  Zu  36)  In  den  meisten  Kdg.  werden  die  Bewegungsspiele  an  den  Faden  einer 
Erzählung  gereiht.  Sollte  es  sich  herausstellen,  daß  die  meisten  Kinder  zusammenhangslos  ein 
Spiel  an  das  andere  binden,  so  wäre  jene  Spiel  weise  zu  verwerfen.  Zu  37)  Kinder,  die  so  gern 
Bewegungsspiele  spielen,  daß  sie  in  ihrem  Freispiele  darnach  greifen,  müssen  doch  Anlagen 
und  Triebe  haben,  die  zu  ihrer  Entfaltung  Bewegungsspiele  brauchen  Zu  38)  Sollte  es  sich 
zeigen,  daß  immer  dieselben  Spiele  hervorgesucht,  immer  dieselben  ausgelassen  werden,  so 
könnten  wir  einige  Spiele  als  mehr,  einige  als  weniger  kindgeniäß  bezeichnen.  Zu  39)  Be- 
wegungsspiele, deren  Bewegungen  den  Kindern  so  fremd  sind,  daß  sie  nicht  nacherlebt  werden 
können,  sind  nicht  kindgemäß.  Zu  40)  Auch  dies  ist  ein  Maßstab  für  die  Kindgemäßheit  eines 
Bewegungsspieles.  Zu  41)  Wenn  wirklich  viele  Kinder  selbständig  Bewegungsspiele  schaffen, 
die  unseren  gleichen,  so  ist  diese  Tatsache  ein  Beweis  dafür,  daß  wir  wirklich  einem  Bedürfnis 
des  Kindes  entgegengekommen  sind  und  es  befriedigt  haben.  Zu  42)  Hier  berühren  wir  wieder 
die  Frage  der  Gemeinschaftserziehung.  Es  ist  möglich,  daß  ein  Kiad  Schaden  leidet,  wenn  von 
ihm  verlangt  wird,  daß  es  sich  über  sein  Erlebnis  äußert.  Denn  manche  Kinder  haben  ein  sehr 
stark  entwickeltes  Schamgefühl.  Für  diese  Kinder  wäie  das  Kindergartenleben  jedenfalls  nicht 
geeignet.  Wenn  das  Kind  ganz  ohne  unsere  Einwirkung  seine  Handlungen  durch  feste  Vor- 
stellungen und  Ideen  eint,  ist  unsere  Methode  des  Eiuheitsgedankens  aus  der  Seele  des  Kindes 
herausgeboren.  Zu  44)  Nur  wenn  der  Einheitsgedanke  die  Kraft  besitzt,  .die  die  ohne  unser 
Einwirken  entstandenen  Vorstellungen  und  Ideen  haben,  ist  er  kindgemäß.  Zu  45)  Sollte  es 
sich  herausstellen,  daß  auch  die  Kinder  zum  Einheitsgedanken  greifen,  die  sonst  ohne  einigen- 
den Gedanken  lebten,  so  könnten  wir  sagen,  daß  das  Kind  den  Einheitsgedanken,  den  wir  bieten, 
unbewußt  wünscht,  daß  es  ihn  braucht.  Zu  46)  Nur  diejenigen  Stoffe  werden  wir  als  einigende 
Gedanken  wählen  dürfen,  die  das  Kind  als  Erlebnis  verarbeiten  kann.  Zu  47)  Sollte  es  sich 
herausstellen,  daß  die  meisten  Kinder  Besprechungen  ablehnen,  so  müßten  wir  sie  streichen. 
Allerdings  wird  viel  an  der  Geschicklichkeit  des  Besprechenden  liegen,  ob  das  Kind  Freude  daran 
hat  oder  nicht.  Zu  49)  Nachdem  wir  die  einzelnen  Darbietungen  des  Kdg.  auf  ihre  Kindgemäß- 
heit hin  geprüft  haben,  schauen  wir  noch  einmal  die  einzelnen  Blumen  zu  einem  Strauße  zu- 
sammen, halten  ihn  dem  lächelnden  Kinde  hin,  das  voU  Freude  eich  Blumen  heraussucht  und 
selbst  einen  Strauß  nun  windet. 


328  Max  Brahn 


Besinnliches  zur  Begabungsprüfung. 

Von  Max  Brahn. 

Weit  über  den  Kreis  der  Fachleute  erstreckt  sich  die  Anteilnahme  an  den 
Fragen  der  Begabungs-  und  der  damit  zusammenhängenden  Berufswahlprüfung. 
Die  Schule  wird  Einheitsschule,  und  der  Aufstieg  in  die  höheren  Schulformen 
soll  immer  mehr  in  die  Hände  der  Lehrer  gelegt  werden.  Die  Arbeit  im 
Beruf  soll  bei  dem  schrecklichen  Zustande  unserer  Wirtschaft  immer  ertrag- 
reicher gestaltet  werden,  und  die  im  Staate  entscheidenden  Parteien  legen 
Wert  darauf,  diese  Erhöhung  unter  anderem  durch  Einführung  des  Taylor- 
systems zu  erreichen.     Auch  hier  Begabtenprüfung  und  Berufsauslese. 

Auf  beiden  Seiten  aber  gibt  es  Menschen  genug,  die  sich  mit  dem  Gedanken 
solcher  experimenteller  Prüfungen,  wie  man  sie  nennt,  nicht  recht  befreunden 
können  und  weiterhin  den  gesunden  Menschenverstand  und  die  Lebens- 
erfahrung entscheiden  lassen  wollen.  Der  Streit  nimmt  häufig  unerfreuliche 
Formen  an,  die  der  SachHchkeit  schaden,  und  wie  es  immer  geschieht,  wird 
auf  beiden  Seiten  durch  Übermaß  gesündigt.  Darum  scheint  es  mir  nötig, 
einmal  in  eine  ruhige  Abwägung  des  Vorhandenen  und  des  Möglichen  ein- 
zutreten. 

Vorhanden  sind  zunächst  die  Methoden,  die  von  Binet  ausgegangen  sind 
und  die  es  ermöglichen  sollen,  etwa  bis  zum  12.  Jahi*  festzustellen,  ob  ein 
Schüler  dem  Durchschnitt  der  Begabung  seines  Lebensalters  entspricht, 
darunter  oder  darüber  steht.  Bevor  der  Krieg  ausbrach,  war  man  nach 
einigen  Jahren  des  Streites  in  ein  recht  ruhiges  Fahrwasser  gekommen;  man 
begann  bei  uns  und  besonders  in  Amerika,  jede  Einzelheit  der  Methode 
kritisch  zu  prüfen,  entfernte  Untaugliches,  variierte  die  Untersuchungen  nach 
allen  Seiten  und  verglich  sie  mit  den  Erfahrungen  der  Schule.  Es  hatte 
sich  in  Deutschland  ein  Ausschuß  gebildet,  der  die  einzelnen  Tests  unter 
sich  verteilte,  lun  jeden  einzelnen  genau  auf  seine  Brauchbarkeit  zu  prüfen. 
Dieser  Weg  muß  jetzt  neu  beschritten  werden.  Daß  die  Methoden  nicht 
unbrauchbar  sind,  die  Auswahl  der  unbegabten  oder  minderwertigen  Schüler 
sehr  erleichtern  und  zum  Teil  sicherer  gestalten,  scheint  mir  außer  Zweifel. 
Wie  weit  man  sich  auf  sie  völhg  verlassen  kann,  das  wird  nicht  durch  lautes 
Schreien  über  ihre  Taughchkeit  und  Untaughchkeit,  sondern  diu-ch  vieltausend- 
fache Erfahrung  entschieden  werden. 

Nun  wurde  neulich  gesagt,  daß  Wundt  in  einem  Brief  sich  dem  Sinne 
nach  so  ausgedrückt  habe,  daß  er  die  Begabungsprüfungen  als  Schwindel 
ansähe.  Ich  bin  nicht  in  der  Lage,  nachzuprüfen,  ob  das  der  Wortlaut  war, 
habe  aber  auch  gar  kein  Interesse  daran,  es  zu  tun.  Wundt  ist  der  Be- 
gründer der  rein  theoretischen  experimentellen  Psychologie,  und  seine  Ver- 
dienste werden  darin  stets  unvergessen  bleiben.  Er  hat  sich  von  Anfang 
an  der  angewandten  Psychologie  nach  seiner  ganzen  Sinnesart  zweifelnd 
gegenübergestellt,  er  hat  ihre  Entwicklung  nirgends  sichtbar  verfolgt,  er  hat 
—  so  bin  ich  überzeugt  —  in  seinem  Leben  nie  eine  Begabungsprüfung  an 
einem  Kinde  gesehen,  und  man  kann  von  ihm  auch  nicht  verlangen,  daß  er 
in  seinem  hohen  Lebensalter  die  Gesichtspunkte  aufgibt,  die  ihn  gerade  zum 
berufenen  Führer  der  rein  theoretischen  Seelenlehre  gemacht  haben.  Man 
hat  darum  aber  keinen  Grund,  den  geringsten  Wert  auf  seine  Äußerungen 
über  die  Begabungsprüfungen  zu  legen:  nichts  ist  gefährlicher  und  unwissen- 


Besinnliches  zur  Begabungsprüfung  329 


schaftlicher,  als  die  Autorität  eines  Menschen  auf  einem  Gebiete  auf  andere 
Gebiete  zu  übertragen.  Darum  kann  man  über  Wundts  Äußerungen  zur 
Begabungsprüfung  ruhig  zur  Tagesordnung  übergehen. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  sich  diese  Äußerung  auch  auf  die  zweite  jetzt  im 
Vordergrunde  stehende  Methodik  der  Begabungsprüfungen  bezieht,  wie  sie 
in  Berlin  bei  der  Auswahl  der  Begabten  angewandt  worden  ist.  Da  ich 
Gelegenheit  hatte,  solche  Untersuchungen  in  erheblichem  Umfange  im  Auf- 
trage der  Stadt  Hannover  auszuführen,  so  kann  ich  auch  aus  Erfahrung 
darüber  sprechen. 

Zunächst  sei  anerkannt,  daß  die  beiden  Begründer  dieser  Methoden  sieh 
durch  ihr  kühnes  Zupacken  ein  Verdienst  erworben  haben.  Sie  haben  zu 
einer  Einheit  zusammengefaßt,  was  sonst  schon  im  ganzen  vorhanden  war, 
haben  Lücken  ergänzt  und  den  ersten  Versuch  gemacht,  praktische  Folgerungen 
zu  ziehen.     Das  wird  ihr  Verdienst  bleiben. 

Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  die  einzelnen  Methoden,  die  sie  dabei 
anwenden,  in  ihrem  Werte  recht  verschiedenartig  sind.  Teils  sind  es  alte 
experimentelle  Methoden,  die  sowohl  in  der  Ausführung  wie  in  den  Ergeb- 
nissen eine  große  Genauigkeit  zeigen,  teils  sind  es  neu  eingeführte,  die  sich 
auf  sehr  zusammengesetzte  Vorgänge  des  Seelenlebens  beziehen  und  darum 
sowohl  unerprobt  -wie  grundsätzlich  schwierig  sind. 

Nun  ist  es  ohne  Frage  nicht  zu  billigen,  daß  man  neue  schwierige  Methoden 
in  die  Gesamtheit  der  Untersuchungen  als  wesenthch  aufnimmt,  ohne  daß 
man  sie  zunächst  einzeln  aufs  gründhchste  durchgeprüft  hat.  So  kommt  es 
dann,  daß  den  Ergebnissen  dieser  neuen  schwierigsten  Methoden  eine  Un- 
sicherheit und  Ungenauigkeit  anhaftet,  die  nicht  klein  zu  bewerten  ist.  Wenn 
zum  Beispiel  Definitionen  von  Worten  verlangt  und  diese  als  sehr  gut,  gut  usw. 
gewertet  werden,  so  gestehe  ich,  daß  es  weder  meinen  Mitarbeitern  noch 
mir  in  Hannover  immer  geglückt  ist,  die  Wertungen  in  der  gleich  sicheren 
Weise  vorzunehmen  wie  in  BerUn.  Hier  wäre  es  am  Platze  gewesen,  diese 
Methoden  als  solche  erst  aufs  genaueste  durchzuarbeiten  und  ihre  Schwierig- 
keiten allmähhch  zu  überwinden,  wie  das  etwa  in  späteren  Arbeiten  in  Ham- 
burg für  andere  Methoden,  zum  Beispiel  als  Bindewortmethode,  geschehen 
ist.  Das  Gleiche  gilt  für  eine  Reihe  von  Methoden,  die  sich  auf  die  Begriffs- 
bildung und  auf  die  Einfühlung  in  ein  Bild  beziehen,  bei  denen  mir  stets 
die  Schwierigkeit  der  Beurteilung  so  groß  erschienen  ist,  daß  nur  mit  einem 
gewissen  Zwange  ein  zahlenmäßiger  Ausdruck  für  die  Güte  der  Leistung 
möglich  war. 

Dauerd  unmögUch  sind  solche  Methoden  durchaus  nicht,  und  ihre  Wertung 
kann  durch  lange  sorgfältige  Arbeit  bis  zu  einem  hohen  Grade  sicher  gestaltet 
werden.  Piorkowski  hat  in  seiner  ersten  Arbeit  über  die  Kombinations- 
fähigkeit der  Kinder  (Päd.-psychol.  Arbeiten,  Bd.  IV)  auf  meine  Anregung 
die  Ergebnisse  einer  Methode  von  einigen  zwanzig  Leuten  bewerten  lassen. 
Dabei  stellt  sich  dann  heraus,  daß  für  gewisse  Aufgaben  eine  Übereinstim- 
mung der  Bewertung  in  weitgehendem  Maße  möghch  ist,  für  andere  dagegen 
nicht.  Diese  müssen  weggelassen  werden.  Es  bedarf  also  für  jede  einzelne 
Aufgabe  einer  methodischen  Vorarbeit,  nicht  für  ihre  Ausfühiung,  sondern 
auch  für  die  Bewertung  selbst. 

Wie  weit  es  dabei  möglich  sein  wird,  die  höheren  Geistesvorgänge  zahlen- 
mäßig zu  fasseil,   das  läßt  sich  nicht  durch  allgemeine  Urteile  entscheiden. 


330  Max  Brahn 

Man  verfolge  darin  die  Entwicklung  der  Kinderpsychologie,  bei  der  es  auch 
zunächst  einen  Sturm  dagegen  gab,  daß  man  an  Kindern. außer  durch  Ein- 
fühlung wesentlich  Neues  finden  könne.  Und  trotzdem  läßt  sich  behaupten, 
daß  selbst  diejenigen,  welche  die  Anwendung  genauer  Methoden  auf  die 
Kinderseelenlehre  leugneten  und  auch  heut  noch  leugnen,  in  ihrer  Darstellung 
derselben  gern  und  umfangreich  auf  die  Ergebnisse  solcher  Methoden  zurück- 
greifen, die  sie  theoretisch  verdammen.  Und  auch  da,  wo  das  strenge  Experi- 
ment versagte,  hat  es  uns  oft  genug  Anregungen  zu  neuartigen  systematischen 
Beobachtungen  gegeben,  die  in  ihrer  Anlage  besser,  in  ihren  Ergebnissen 
ertragreicher  waren  als  die  früheren  Methoden.  Es  ist  ein  Unglück,  daß  man 
das  Wort  Experiment  auf  alle  diese  Methoden  übertragen  hat,  während  es 
gar  nicht  mehr  zureicht,  die  Art  der  Methoden  wirklich  zum  Ausdruck  zu 
bringen.  Es  handelt  sich  vielfach  um  eine  neuartige  Einstellung,  die  darauf 
ausgeht,  gegenüber  dem  rein  persönlichen  Urteil,  das  auf  Einfühlung  beruht, 
ein  auf  Sammlung  von  Tatsachen  beruhendes,  unter  wissenschaftlichen  Ge-. 
Sichtspunkten  gewonnenes,  von  persönlichen  Urteilen  möglichst  unabhängiges 
Ergebnis  zu  zeitigen. 

An  den  Begabungsuntersuchungen  ist  ferner  zu  tadeln,  daß  die  Art,  wie 
man  die  Ergebnisse  h)erechnet,  noch  häufig  etwas  sehr  Willkürliches  hat. 
Wenn  —  um  ein  einfaches  Beispiel  zu  geben  —  das  Durchstreichen  von 
Buchstaben  gewertet  wird  nach  der  Anzahl  der  richtig  durchstrichenen ,  der 
falsch  durchstrichenen  und  der  ausgelassenen  Buchstaben,  so  bedarf  es  sehr 
langer  Vorarbeiten,  um  festzustellen,  wie  hoch  man  etwa  den  Wert  eines 
falsch  durchstrichenen  und  eines  ausgelassenen  Buchstabens  einzusetzen  hat. 
Wenn  eine  Geschichte  vorgelesen  und  gleichzeitig  gerechnet  wird,  so  muß 
man  die  Bedeutung,  die  man  der  einzelnen  ausgeführten  Rechnung  und  dem 
einzelnen  behaltenen  Teil  der  Geschichte  zuerteilt,  an  vielen  Beispielen  durch- 
versuchen und  mathematisch  sehr  sorgfältig  behandeln.  Ein  Beispiel,  wie 
man  da  vorzugehen  hat,  liegt  in  dem  9.  Bande  der  „Pädagogisch-psycho- 
logischen Arbeiten"  vor,  in  denen  ich  Leipziger  Lehrer  anregte,  zunächst 
einmal  nur  dieser  Frage  nachzugehen,  wie  man  die  Berechnungen  nach 
langen  Erfahrungen  und  Überlegungen  ausgestalten  soll.  Ehe  solche  Arbeiten 
nicht  abgeschlossen  und  von  vielen  Seiten  unter  verschiedenen  Verhältnissen 
wiederholt  sind,  wird  immer  wieder  eine  starke  Unsicherheit  den  Ergeb- 
nissen anhaften. 

Dann  ist  es  die  schwere  Aufgabe  derer  gewesen,  die  solche  Untersuchungen 
begonnen  haben,  festzustellen,  wie  viele  verschiedene  Geistesvorgänge  sie 
untersuchen  wollen.  Sie  haben  sechs  Grundformen:  Aufmerksamkeit,  Ge- 
dächtnis, Begriffsbildung  usw.  ausgewählt  und  jeder  dieser  sechs  Funktionen 
die  gleiche  Bedeutung  für  die  Gesamtbegabung  zugeschrieben.  Darin  liegt 
natürlich  eine,  wenn  auch  nicht  so  leicht  zu  begleichende  Willkürlichkeit. 
Das  wünschenswerte  Vorgehen  wäre  es,  erst  einmal  solche  Untersuchungen 
in  sehr  großer  Zahl  anzustellen,  denen  man  noch  keine  praktische  Bedeutung 
zuschreibt.  Dann  müßte  man  nach  den  Vorschriften  der  Korrelationsrechnung 
in  sehr  vielen  Fällen  feststellen,  ob  es  nicht  einzelne  Funktionen  gibt,  die 
in  der  Gesamtbegabung  eine  größere  Rolle  spielen  wie  andere  als  gleich- 
wertig angesetzte.  Es  könnte  sich  dann  herausstellen,  daß  zum  Beispiel  die 
Begriffsuntersuchung  bei  den  vorliegenden  Methoden  sehr  wenig  mit  der  All- 
gemeinbegabung zusammenhängt.  Nun  wäre  zu  untersuchen,  ob  das  der  Wirk- 


Besinnliches  zur  Begabungsprüfung  33 1 


lichkeit  entspricht,  oder  ob  die  vorliegenden  Methoden  noch  unzm-eichend  sind, 
weil  sie  die  wirkliche  Fähigkeit,  Begiiffe  zu  bilden,  nicht  ernstlich  feststellen. 
Nur  im  Zusammenarbeiten  mit  den  Lehrern  und  stets  weitergeführten  theo- 
retischen Erwägungen  wäre  eine  solche  Frage  zu  lösen.  Sie  wird  aber  nicht 
gelöst,  wenn  Inan  einfach  hunderte  Fälle  untersucht  und  die  Richtigkeit  der 
Unternehmung  als  gegeben  annimmt.  Die  Lösung  der  Fragen  würde  große 
Fortschritte  machen,  wenn  man  nicht  nur  die  Gesamtergebnisse  der  Unter- 
suchung, sondern  die  Einzelergebnisse  sowohl  mit  den  früherem  Lehrern  der 
Schüler  wie  mit  denen,  die  sie  aus  den  Begabten-Klassen  kennen,  bespräche, 
genau  zerlegte  und  besonders  solche  Fälle  aufzuklären  versuchte,  in  denen 
Schüler,  die  als  begabt  erklärt  sind,  in  den  Begabten-Klassen  nicht  mitkommen. 
Daß  solche  Fälle  häufig  sind,  hat  ja  einer  der  Lehrer  der  Begabten-Klassen 
neulich  in  einem  Vortrage  ausführlich  dargelegt.  Darin  liegt  ein  Material  vor, 
das  uns  praktisch  ebenso  fördern  wird  wie  wissenschaftUch. 

So  kann  man  gegen  die  einzelnen  Versuchsanordnungen  ebenso  Bedenken 
erheben  wie  gegen  die  Zusammenstellung  und  gegen  die  Gleichstellung  der 
Werte  jeder  einzelnen  Methode.  Wird  ja  in  Berlin,  wie  ich  weiß,  dauernd 
an  der  Weiterbildung  der  Untersuchungen  gearbeitet,  und  das  Verdienst  der 
Erfinder  wird  noch  größer  werden,  wenn  sie  in  jahrelanger  kritischer  Arbeit 
dauernd  ausschalten  und  ergänzen  werden.  Auch  von  anderer  Seite  werden 
neue  Methoden  ersonnen ,  die  in  ruhiger  steter  Arbeit  zum  Ziele  führen  ■• 
werden.  Es  ist  vielleicht  gar  zu  schnell  in  weiten  Kreisen,  besonders  der 
Lehrer,  das  Bestehende  auch  als  das  schon  sachhch  Zutreffende  angesehen 
worden,  wie  überhaupt  eine  gewisse  Gefahr  vorliegt,  unter  dem  Drange  des 
praktischen  Bedürfnisses  die  Ergebnisse  der  psychologischen  Wissenschaft  zu 
schnell  als  für  die  Praxis  maßgebend  anzusehen,  statt  sie  zunächst  in  der 
Praxis  eine  Reihe  von  Jahren  zu  ei-proben  und  auszugestalten.  Damit  ist 
aber  gegen  die  schließliche  Erfüllbarkeit  der  Forderungen  nichts  gesagt  wie 
gegen  ihre  heutige  Benutzung  unter  den  nötigen  kritischen  Vorbehalten. 

Gegen  den  Einwurf,  daß  die  einmalige  Untersuchung  nicht  zuverlässig  sei 
und  leicht  zufällige  Ergebnisse  bringt,  läßt  sich  mancherlei  sagen.  Wohl 
kann  es  vorkommen,  daß  ein  Kind  bei  einer  Untersuchung  gerade  krank  ist 
und  dadurch  schlechte  Ergebnisse  hat;  auch  ein  hoher  Grad  von  Mißstimmung 
oder  z.  B.  von  Unterernährung  kann  in  dieser  Weise  wirken.  Darum  scheint 
es  in  der  Tat  angebracht,  daß  man,  wo  irgend  möglich,  solche  Untersuchungen 
nicht  ein  einziges  Mal  macht,  sondern  sie  mindestens  zwei-,  am  besten  dreimal 
wiederholt.  In  den  Schulen  z.  B.  müßten  nicht  erst  am  Abschluß  einmalige 
Versuche  gemacht  werden,  sondern  in  den  letzten  zwei  oder  drei  Schuljahren 
wiederholte,  so  daß  man  zugleich  sehen  könnte,  ob  die  gleichen  Anlagen 
sich  jedesmal  in  gleicher  Weise  zeigen.  Aber  wenn  die  Methoden  gut  aus- 
gebildet werden,  dann  zeigt  sich,  daß  im  ganzen  wirklich  scharf  ausgebildete 
Anlagen  nicht  gar  zu  sehr  in  den  Ergebnissen  von  einander  abweichen,  wenn 
man  sie  mehrfach  prüft.  Ich  konnte  z.  B.  feststellen  lassen,  daß  bei  den 
Schall meß-Trupps  die  Geschwindigkeit,  mit  der  die  einzelnen  Menschen  auf 
Reize  antworten,  selbst  in  der  Reihe  von  Monaten  keine  sehr  großen  Ver- 
änderungen durchmacht  und  daß  'nur  bei  ganz  bedeutenden  Einwirkungen 
von  außen  oder  innen  wesentliche  Verschiebungen  stattfinden.  Durch  vor- 
herige Erhebungen  und  Befragungen  wird  man  in  jedem  Einzelfalle  fest- 
zustellen   haben,    ob    am  Tage    der   Untersuchung    eine    solche  wesentliche 


332  Max  Brahn 


Störung  vorliegt.  Außerdem  erfordert  auch  das  Leben,  daß  man  bis  zu 
einem  hohen  Maße  imstande  ist,  selbst  unter  nicht  besonders  günstigen  Ver- 
hältnissen Arbeiten  zu  leisten;  ja,  es  gibt  Berufe,  in  denen  es  darauf  außer- 
ordentlich ankommt.  Jedenfalls  ist  eine  grundsätzliche  Schwierigkeit,  die  zu 
einer  Ablehnung  dieser  Methoden  führen  könnte,  hier  nicht  zu  finden.  Denn 
Wiederholung  ist  ja  stets  möglich. 

Ebensowenig  kann  man  die  Versuche  ablehnen,  weil  bei  ihnen  eine  ge- 
wisse Befangenheit  des  Prüflings  eintritt.  Bei  einigen  hundert  Untersuchungen 
dieser  Art  ist  es  mir  noch  nicht  ein  einziges  Mal  begegnet,  daß  wesentliche 
Befangenheit  sich  zeigte.  Weder  bei  unbegabten  Schülern  der  Hilfsschule, 
noch  bei  Hochbegabten  hat  die  Befangenheit  großen  Einfluß  ausgeübt.  Freilich 
ist  dabei  vorausgesetzt,  daß  der  Untersuchende  einigermaßen  auf  den  Prüf- 
ling eingeht  und  ihn  nicht  durch  harten  Ton  oder  ungeschickte  Äußerungen 
abstößt. 

Nun  hört  man  häufig  den  Einwand,  die  Anwendung  dieser  Methoden  sei 
„Rationalismus",  sei  eine  Bevorzugung  der  bloßen  Verstandesbegabung.  Wenn 
man  sich  unter  Ausschaltung  aller  anderen  Erfahrungen  über  einen  Menschen 
ganz  allein  auf  die  Versuchsergebnisse  stützt,  so  begeht  man  allerdings  den 
Fehler,  seine  Verstandesanlagen  allein  als  ausschlaggebend  anzusehen.  Daß 
im  Leben  noch  ganz  andere  Eigenschaften  wesentlich  mitsprechen,  liegt  so 
*  sehr  auf  der  Hand,  daß  es  wohl  als  neue  Erkenntnis  nicht  bezeichnet  werden 
kann.  Aber  es  ist  sehr  wohl  berechtigt,  Menschen,  die  nicht  zunächst  den 
geistigen  Anforderungen  entsprechen,  die  ein  Beruf  oder  die  höhere  Schule 
stellt,  auszuscheiden,  womit  nicht  gesagt  ist,  daß  jeder,  der  ihnen  entspricht, 
auch  für  einen  höheren  Beruf  oder  eine  höhere  Schule  geeignet  ist.  Wohl 
sind  Eigenschaften  des  Charakters  und  des  Gefühls  wichtig,  aber  sie  können 
die  Verstandesanlagen  niemals  für  die  Berufe  ersetzen,  die  hier  in  Frage 
kommen.  Bloße  Willensstärke,  Fleiß,  Sorgsamkeit,  Gefühlstiefe  geben  an 
sich  noch  keinen  Menschen,  der  zum  Führer  des  Volkes  auf  irgendeinem 
Gebiete  sich  eignet.  Verstandesanlagen  allein  tun  es  ebensowenig,  sind  aber 
eine  Voraussetzung,  ohne  die  jene  Übersicht  über  Dinge  nicht  zu  erreichen 
ist,  die  nun  einmal  die  Voraussetzung  weitreichenden  verantwortlichen  Schaffens 
ist.  Niemand,  der  an  den  Begabungsuntersuchungen  beteiligt  ist,  würde  die 
Möglichkeit  ablehnen,  auch  Willens-  und  Gefühlseigenschaflen  zu  untersuchen, 
um  ein  ganzes  Bild  der  Persönlichkeit  zu  bekommen.  Es  ist  nicht  der 
Rationalismus,  der  uns  vorläufig  nur  die  Verstandeseigenschaften  untersuchen 
läßt,  sondern  die  Unmöglichkeit,  den  anderen  Vorgängen  des  Seelenlebens 
mit  genauen  Methoden  bisher  beizukommen.  Hier  wird  an  der  Ergänzung 
unablässig  gearbeitet  werden  müssen;  wie  weit  man  auf  diesem  Gebiete  zum 
Ziel  kommen  wird,  läßt  sich  nicht  von  vornherein  sagen.  Daraus  folgt  nur, 
daß  man  sich  der  bisherigen  Grenzen  bewußt  sein  muß  und  daß  Schüler, 
die  zwar  den  Anforderungen  des  Versuches  genügen,  nach  Ansicht  der  Lehrer 
aber  moralisch  sonst  für  den  Aufstieg  nicht  geeignet  sind,  nicht  in  die  höheren 
Schulen  gelassen  werden  sollen.  Und  daraus  wiederum  folgt,  daß  es  drin- 
gend, ja  unerläßhch  notwendig  ist,  sich  nicht  auf  die  Versuche  allein  zu 
stützen,  sondern  das  Urteil  des  Lehrers  mit  heranzuziehen. 

Allen  denen  aber,  die  sich  grundsätzhch  gegen  diese  Versuche  wenden, 
kann  man  nur  die  Frage  entgegenhalten,  was  sie  denn  eigentUch  Besseres 
an  deren  Stelle  zu  setzen  haben.     Nichts  weiter  —  wenn  ich  recht  sehe  — 


Besinnliches  zur  Begabungsprüfung  333 

als  die  Erfahrung  des  Lehrers  und  des  Lebens,  und  diese  weiden  ja  seit 
Urzeiten  immer  angewandt,  ohne  daß  sie  bisher  Befriedigendes  erreicht  haben. 
Jede  Art  der  Ergänzung  der  bisherigen  praktischen  Erfahrungen  muß  will- 
kommen geheißen  werden.  Aber  es  ist  nicht  abzusehen,  woher  denn  eigent- 
lich auf  dem  Gebiete  der  Einfühlung  und  bloßen  Beobachtung  irgend  et^vas 
Neues  kommen  soll.  Was  auf  diesem  Wege  an  Erkenntnis  gewonnen  werden 
kann,  das  haben  tiefblickende  Philosophen  und  Künstler  wie  Männer  des 
praktischen  Lebens  seit  Jahrtausenden  zusammengesucht  und  uns  kundgetan. 
Die  Verfeinerung  unseres  gesamten  wirtschaftlichen  und  geistigen  Lebens  hat 
dazu  geführt,  daß  gerade  die  erfahrenen  Praktiker,  nicht  zufrieden  mit  dem, 
was  ihnen  gewöhnliche  Erfahrung  gibt,  nach  irgendwelchen  genaueren 
Methoden  suchen  und  sich  an  uns  wenden  in  einer  solchen  Fülle  und  immer 
von  neuem  wieder,  daß  ich  stets  erstaunt  bin  zu  sehen,  wie  stark  das  Be- 
dürfnis nach  feinerer  Auswahl  der  Menschen  und  wie  schwach  die  Fähigkeit 
ist,  dasselbe  mit  den  bisherigen  Mitteln  zu  befriedigen.  Darum  sollte  sieh 
niemand  von  der  bloßen  Theorie  her  grundsätzlich  gegen  diese  Untersuchungen 
wenden,  sondern  er  sollte  ins  Leben  herausgehen  und  dort  sehen,  wie  not- 
wendig irgend  etwas  Neues  auf  diesem  Gebiete  ist,  und  unter  Zurückweisung 
von  Voreiligkeiten  mitarbeiten  daran,  irgend  etwas  Neues  zu  schaffen.  Wenn 
die  amerikanische  Industrie  auf  derartige  Untersuchungen  ungeheuere  Summen 
ausgibt,  wenn  bei  uns  immer  mehr  sich  die  Überzeugung  Bahn  bricht,  daß 
auch  wir  eine  feinere  Menschenauswahl  treffen  müssen,  so  werden  alle  diese 
rein  theoretischen  Einwendungen  höchstens  Verwirrung  schaffen,  aber  sie 
werden  den  Lauf  der  Dinge  nicht  aufzuhalten  vermögen.  Haben  sie  etwas 
Neues  und  Gutes  an  Stelle  des  unvollkommenen  Alten  zu  setzen,  so  mögen 
sie  damit  heraustreten  und  schaffende  Arbeit  leisten.  Sonst  mögen  sie  wohl 
Kritik  an  Voreiligkeiten,  an  Einzelheiten  üben,  wozu  aber  nötig  ist,  daß  sie 
sich  eine  genügende  Kenntnis  der  Dinge  verschaffen;  sonst  aber  wird  ihre 
Kritik  wertlos  sein,  weil  sie  etwas  bloß  Verneinendes  ist.  Wir  aber  brauchen 
neue  schaffende  Arbeit  auf  allen  Gebieten.  « 

Darum  ist  es  eine  wichtige  Aufgabe  unserer  Regierungen,  sich  dieser  Dinge 
anzunehmen  und  dafür  zu  sorgen,  daß  Mittel  und  geeignete  Menschen  bereit 
gestellt  werden,  um  endlich  einmal  mit  Kritik  in  großem  Umfange  alle  diese 
Fragen  grundlegend  zu  behandeln.  Die  Ministerien  für  den  Unterricht  müßten 
sich  ebenso  stark  daran  beteihgen,  wie  die  neugegründeten  Arbeits-  und 
Wohlfahrtsministerien.  Eine  Konferenz  von  Männern  der  Schule,  des  in- 
dustriellen Lebens  und  von  erfahrenen  Pädagogen  müßte  die  Formen  fest- 
stellen, in  denen  über  ganz  Deutschland  ein  Netz  solcher  Arbeit  zu  werfen 
ist.  Dann  würden  wir  sicher  in  wenigen  Jahren  Fortschritte  zu  verzeichnen 
haben,  denen  gegenüber  alle  nur  verneinende  Kritik  in  kurzer  Zeit  ver- 
stumnjen  würde. 


334  Aloys  Fischer 


Sprachpsychologische   Untersuchungsmethoden   im   Dienst 
von  Erziehung  und  Unterricht. 

Von  Aloys  Fischer. 

1. 

Die  Untersuchung  der  Sprach  ent  Wicklung  im  individuellen  Leben 
ist  eine  Aufgabe  von  größter  wissenschaftlicher  Bedeutung;  sie  liefert  nicht 
nur  dem  Linguisten  Anhaltspunkte,  um  die  Entstehung  und  Entwicklung  der 
Sprachen  und  der  Sprache  überhaupt  zu  deuten,  sie  ist  vor  allem  eine  Fund- 
grube für  den  Seelenforscher  und  den  Pädagogen.  Es  ist  bekannt,  daß  das 
höhere  Geistesleben  in  weiter  Ausdehnung  an  Sprechen  und  Sprache  ge- 
bunden ist;  der  Geistesaustausch  zwischen  den  Individuen  einer  Gesellschaft 
vollzieht  sich  überwiegend  auf  sprachlichem  Wege;  das  Maß  der  Teilnahme 
an  dem  gemeinsamen  geistigen  Besitz  eines  Volkes  hängt  mit  von  der  Ent- 
wicklung des  Sprachverständnisses,  der  Höhe  des  Sprachbewußtseins  ab,  die 
Rückwirkung  auf  die  Anderen,  die  Überlieferung  und  Fortbildung  des  geistigen 
Erbgutes  von  den  sprachschöpferischen  Fähigkeiten. 

Diese  Einsichten  sind  wohl  allgemein  verbreitet,  aber  eine  wichtige  Kon- 
sequenz derselben  hat  noch  nicht  die  ihr  gebührende  Beachtung  gefunden. 
So  gewiß  sich  die  individuelle  Sprachentwicklung  nur  in  der  Wechselwirkung 
des  aufwachsenden  Menschen  mit  seiner  Umgebung  vollzieht,  so  wenig  ist 
doch  die  Mitwirkung  des  Sprechenlernenden  am  Spracherwerb  zu  übersehen, 
und  so  wenig  darf  man  voraussetzen,  daß  die  Verwendung  einer  Vokabel, 
Redensart  oder  Sprachform  in  jedem  Fall  den  geistigen  Besitz  der  usuell 
damit  verbundenen  Bedeutung  oder  darin  liegenden  logischen  Beziehung  ge- 
währleistet. Sprache  ist  immer  individuelle  Sprache;  oft,  vielleicht  in  den 
meisten  Fällen  führt  die  Sprachentwicklung  bei  den  Individuen  einer  Gesell- 
schaft zur  inhaltlichen  Gleichheit  der  in  der  Sprache  eingeschlossenen  Bedeu- 
tungen und  geistigen  Funktionen;  aber  ebenso  gewiß  ist,  daß  dieses  Ziel 
vielfach  gar  nicht,  oft  nur  hinsichtlich  eines  Teiles  des  Sprachbesitzes,  bei- 
nahe immer  in  verschiedenem  Tempo  erreicht  wird.  Wenn  Sprache  nur  als 
individuelle  real  ist,  und  als  solche  von  der  jedes  anderen  Individuums  in 
dieser  oder  jener  Hinsicht  abw^eichen  kann,  und  wenn  Sprache  (wie  oben  voraus- 
gesetzt) Kleid  und  Symbol  des  geistigen  Wesens  ist,  dann  ist  die  Erforschung 
der  individuellen  Sprache  eine  gi'undlegende  Aufgabe  jener  Psychologie,  die 
als  Individualitätenforschung  den  größten  Wert  wie  den  größten  Reiz  besitzt. 
Die  unersetzliche  Bedeutung  der  echten  Philologie  als  eines  Teiles  der  all- 
gemeinen Kulturforschung  besteht  eben  in  dieser  Erkenntnis  der  Sprache  als 
des  Schlüssels  zum  Verständnis  der  Individualitäten,  auch  der  Volksindivi- 
dualitäten. Und  wenn  auch  die  Allgemeinheit  der  Menschen  geläirfig  die 
„Sprache  Goethes"  oder  die  „Sprache  Ulilands"  hervorhebt,  so  bekennt  sie 
sich  zur  gleichen  Auffassung;  Sprache  ist  ihr  dabei  Ausdruck  und  Symbol 
des  geistigen  Wesens,  der  Persönlichkeiten  Goethes  und  Uhlands. 

Es  wäre  ein  kurzsichtiger  Intum,  zu  glauben,  daß  die  Sprache  etwa  nur 
bei  Dichtern,  Schriftstellern  und  ähnlichen  Persönhchkeiten,  die  vorzugsweise 
in  der  Sprache  sich  ausgelebt  haben,  den  Wert  eines  psychologischen  Quellen- 
materials besitze,  bei  anderen  Menschen  nicht.    Ist  die  Sprache  in  einem  Fall 


Sprach  psychologische  Untersuchungsmethoden  335 


ein  Seelendeuter,  so  ist  sie  es  überhaupt,  und  die  arme,  verstümmelte,  teil- 
weise flexionslose  Sprache  des  geistig  Zurückgebliebenen,  sein  Wortschatz 
und  seine  Lieblingswendungen  sind  für  ihn  und  seinen  Geisteszustand  ebenso 
gültige  Belege  wie  der  Stil  Goethes  für  Goethe. 

Die  psychologische  Individualitätsforschung  muß  aber  Ernst  machen  mit 
dem  Studium  der  individuellen  Sprache;  ein  ungefährer  Eindruck  von  der 
Sprechweise,  der  mündlichen  und  schriftlichen  Ausdrucksbreite  einer  Person 
genügt  natürlich  nicht,  um  daraus  Schlüsse  zu  ziehen;  die  feinsten  Eigentümlich- 
keiten und  Abweichungen  von  der  Norm  der  Umgebung  müssen  erfaßt  werden, 
die  Deskription  der  Sprachentwicklung  muß  systematisch,  vollständig  und  so  weit 
als  möglich  genetisch,  wenigstens  unter  Berücksichtigung  der  wesentlichen 
Einflüsse,  durchgeführt  werden,  die  nachweisbar  an  der  Gestaltung  einer  be- 
stimmten individuellen  Sprache  mitgearbeitet  haben. 

Ich  möchte  das  Gesagte  einmal  am  konkreten  Beispiel  verdeutlichen.  Wenn 
ich  nur  weiß,  daß  mein  Dienstmädchen  das  Wort  „Delikatesse**  kennt  und 
vei"wendet,  so  könnte  ich  mich  leicht  zu  dem  Glauben  verleiten  lassen,  daß 
es  dieses  Wort  in  genau  dem^gleichen  Sinn  verwendet  wie  ich;  mit  der 
gleichen  Einsicht  in  seine  Herkunft  wie  der  fremdsprachlich  Gebildete. 
Wenn  ich  aber  herausbringe,  daß  es  dieses  Wort:  „Delikat — Essen"  ausspricht 
und  auch  so  ableitet,  so  ist  mir  diese  Abweichung  von  dem  Sinn  und  der 
Heiieitung,  in  der  ich  dieses  Wort  verstehe  und  verwende,  viel  wertvoller, 
aufschlußreicher.  Und  wenn  dasselbe  Mädchen  konsequent  „grafentätisch" 
im  Sinne  von  „gravitätisch",  „Kindermatograph"  im  Sinne  von  Kinematograph 
gebraucht,  so  wird  mir  klar,  A\äe,  in  welcher  Weise  es  sich  Fremdworte  an- 
eignet und  zurechtleg-t :  Klangähnlichkeiten  lassen  es  an  ein  ihr  völlig  bekanntes 
und  geläufiges  Wort  denken;  mit  diesem'  wird  das  Fremdwort  ganz  oder  teil- 
weise kontaminiert;  dabei  wird  der  Bestandteil,  der  dem  bekannten  Wort 
klangähnlich  ist,  als  bedeutungsverleihender  verwendet.  Die  Probe  aufs 
Exempel  müssen  jene  Fälle  liefern,  in  denen  diese  Art  der  Aneignung  von 
Fremdwörtern  zu  einem  Sinn  führt,  der  von  der  eigenthchen  Bedeutung  ver- 
schieden, ihr  vielleicht  sogar  entgegengesetzt  ist.  Natürlich  ist  der  geschilderte 
Vorgang  zunächst  noch  nicht  individuell  charakteristisch ;  er  ist  ein  Fall  einer 
Gesetzmäßigkeit  der  VolksetjTnologie.  Aber  wenn  ich  nun  weiter  beobachte, 
wenn  ich  den  Wortschatz  des  Dienstmädchens,  die  Unterschiede  desselben 
in  der  mündlichen  Rede  und  in  allem  Geschriebenen  (Briefen,  Haushaltbüchern), 
den  durchschnittlichen  Satzumfang,  Formfehler  und  Formrichtigkeiten  fest- 
stelle, die  Grenze  des  Verständnisses  für  gehörte  (gelesene)  Sprache  usw.,  so 
individualisiere  ich  immer  stärker;  und  schließlich  gewinne  ich,  lediglich  durch 
die  Aufnahme  der  Sprachdeutungen,  einen  sehr  genauen  Einblick  in  die  Vor- 
stellungswelt, die  richtigen,  halbfalschen,  falschen,  klaren,  verworrenen  Be- 
griffe, in  das  Bild,  das  es  sich  von  der  Welt  macht,  in  die  Lücken,  die  es  hat 
(verglichen  sei  es  mit  meinem  eigenen  Weltbild,  sei  es  mit  einem  als  „normal* 
vorausgesetzten  Weltbild) ;  ich  gewinneEinblick  in  die  form.aleArt  seinerGedanken- 
bewegung,  Gedankenverknüpfung,  in  den  Mechanismus  der  logischenFunktionen; 
ja  ich  kann  sichere  Schlüsse  ziehen  auf  die  Hintergedanken  und  Hintergründe 
ihres  seelischen  Lebens,  die  ich  mit  anderen  psychologischen  Hilfsmitteln  gar 
nicht  oder  nur  nach  langen  Untersuchungen  erhoffen  kann. 

Es  scheint  mir  eine  sehr  wichtige  und  vordringliche  Aufgabe  der  Metho- 
dologie der  Individualitiitsforsr^hung  zu  sein,    einmal  die  Fragen  und  Grund- 


336  Aloys  Fischer 


Sätze  zu  präzisieren,  nach  denen  die  Aufnahme  und  Interpretation  der  indi- 
viduellen Sprache  zu  erfolgen  hat.  Ich  darf  nicht  den  Anspruch  erheben,  in 
dieser  Frage  schon  klar  zu  Ende  zu  sehen ;  was  ich  im  folgenden  an  metho- 
dischen Vorschlägen  entwickle,  bitte  ich  deshalb  nur  als  Vorarbeit  gelten 
lassen  zu  wollen.  Auch  die  methodologischen  Winke  der  psychanalytischen 
Schule,  die  sehr  wertvolle  Momente  enthüllen,  reichen  noch  nicht  hin,  das  ganze 
Gebiet  der  individuellen  Sprache  dem  Psychologen  zu  erschließen. 

Steht  die  Bedeutung  des  Studiums  der  individuellen  Sprache  für  den  Psycho- 
logen fest,  so  ist  damit  auch  ein  gutes  Stück  ihrer  pädagogischen  Bedeutung 
schon  erwiesen.  Erziehung  ist  in  jedem  Falle  auch  seelische  Formung;  diese 
setzt  voraus,  daß  man  den  psychischen  Zustand,  in  den  eingegriffen  werden 
soll,  kennt,  daß  man  fähig  ist,  seine  allmähliche  Veränderung  zu  beobachten, 
daß  man  ein  Bild  von  dem  erstrebten  Endzustand  besitzt  und  mit  den  Phasen 
des  der  Erziehung  unterworfenen  Individuums  vergleichen  kann.  Zu  all 
diesen  Leistungen  ist  aber  die  Deutung  der  Sprache  Hilfsmittel.  Dazu  kommt 
ein  zweites:  Sprache  und  Sprachleben  sind  selbst  Unterrichts-  und  Erziehungs- 
gebiete. Wir  müssen  wünschen,  daß  des»  erzogene  und  gebildete  Mensch 
auch  in  seiner  Sprache  und  Sprechweise  als  solcher  kenntUch  sei,  und  wir 
wissen,  daß  Sprachgewöhnungen  unterrichtlicher  und  erziehlicher  Beeinflussung 
zugänglich  sind.  Die  Didaktik  des  Sprachunterrichts  ruht  also  in  doppeltem 
Sinn  auf  der  Psychologie  und  Psychogenesis  der  Sprache.  Sprache  und  Schrift- 
tum bilden  endlich  in  Unterricht  und  Erziehung  eines  der  Hauptmittel,  man 
darf  sagen,  das  einzige  allen  Kindern  zugängliche  Mittel,  um  am  geistigen 
Leben  des  Volkes  teilzunehmen.  Auch  aus  diesem  Grunde  muß  die  Beschäf- 
tigung mit  Sprechen  und  Sprache  pädagogisch  hoch  gewertet  werden. 

Mit  Sprechen  und  Sprache,  mit  Sprachen  kann  man  sich  nun  in  verschie- 
dener Absicht  beschäftigen ;  je  nach  dem  Gesichtspunkt,  den  man  hauptsäch- 
lich verfolgt,  sind  immer  andere  Seiten  wichtig  und  wechseln  die  Methoden. 
Ich  möchte  im  folgenden  ausschließlich  solche  Verfahren  charakterisieren, 
durch  die  sich  Lehrer  und  Erzieher  (und  alle,  die  deren  Amt  verwalten)  be- 
fähigen, über  den  Stand  der  sprachlichen  Entwicklung  eines  einzelnen  Kindes 
sich  zu  orientieren  und  aus  der  Sprache  des  Kindes  alle  Schlüsse  zu  ziehen, 
die  auf  das  geistige  Leben  gezogen  werden  dürfen.  Damit  ist  gesagt,  daß 
der  individualpsychologische  Gesichtspunkt  allein  für  die  Auswahl  maßgebend 
ist,  und  daß  die  Methoden  in  zwei  Gruppen  zerfallen,  in  solche  der  Erhebung 
des  Sprachbestandes  an  sich  und  solche  der  Deutung  desselben,  der  Auswertung 
für  die  Erkenntnis  anderer,  nicht  mehr  sprachlicher  Züge  der  Individualität. 

2. 

Die  Frage,  wie  man  sich  über  den  Sprachbesitz  und  die  sprachlichen  Fähig- 
keiten einen  Überblick  verschaffen  kann,  hängt  von  der  Beantwortung  einer 
Vorfrage  ab,  von  der  Überlegung  nämUch,  was  man  an  der  Sprache  eigent- 
lich erfassen  will.  Zugleich  muß  berücksichtigt  werden,  welches  Alter  das 
Kind  besitzt,  dessen  Sprache  „erhoben"  werden  soll.  Ich  bemerke  nun,  daß 
ich  von  den  Problemen  der  Lautentwicklung,  ebenso  von  den  Vorstufen 
der  Sprachentwicklung  vollständig  absehe,  von  Schrei,  Lallmonolog,  Schall- 
nachahmung, von  den  Etappen  der  Entdeckung  der  Zeichenfunktion  der  Sprach- 
laute, vom  Erwerb  der  ersten  Wortbedeutungen  und  den  Anfängen  des  echten 
Sprachverständnisses  wie  des   ersten   aktiven  Sprechens.     Der  grundlegende 


Sprachpsychologische  Untersuchungsmethoden  337 

Spracherwerb  der  ersten  2 — 3  Lebensjahre  ist  uns  heute  sehr  gut  bekannt^).  Die 
Sprache  des  Kindes  der  sozial  gehobenen  Stände  kann  als  ziemlich  voll- 
ständig erforscht  gelten,  die  offenen  Fragen,  die  es  auf  ihrem  Gebiete  noch  gibt, 
berühren  vorzugsweise  das  theoretische  Interesse,  für  die  Sprachpädagogik  des 
Elternhauses  besitzen  wir  alle  erforderlichen  Grundlagen.  Der  kindliche  Sprach- 
erwerb in  den  einfachen  und  niederen  Ständen  ist  zwar  weniger  vollständig 
bekannt,  aber  die  vorhandenen  Grundlagen  und  Methoden  dürfen  als  aus- 
reichend gelten,  wenn  sich  die  Kräfte  finden,  die  mit  ihnen  das  erforderliche 
Massenmaterial  beschaffen  wollen.  Weshalb  ich  hier  die  Darstellung  der  drei 
ersten  Lebensjahre  ausschließe,  das  hängt  mit  meiner  auf  die  öffentliche 
Erziehung  gerichteten  Endabsicht  zusammen.  Die  Sprachentwicklung  soll 
erst  von  dem  Zeitpunkt  an  ins  Auge  gefaßt  werden,  in  dem  die  früheste  außer- 
häusliche Beeinflussung  der  Kinder,  der  Kindergarten  beginnen  kann.  So- 
weit die  öffentliche  Säuglingspflege  in  Findeihäusern,  Säuglingsheimen,  Be- 
ratungsstellen und  in  der  Hauspflege  Kenntnisse  des  Sprachmaterials  und  der 
Methoden  zu  ihrer  Erforschung  nicht  entbehren  kann,  glaube  ich  allen  Be- 
dürfnissen durch  die  vorhandene  Literatur  genügt. 

Denken  wir  also  an  das  Kind  im  Spiel-  und  Schulalter,  auf  den  Stufen  der 
höheren  Schule  und  an  die  sogenannte  reifere  Jugend,  so  können  wir  die 
Frage,  was  wir  an  sei  nerSprache  und  Sprachentwicklung  erforschen 
wollen,  mit  folgenden  Problemgebieten  beantworten:  Wir  wollen  Einsicht  1.  in 
den  Wortschatz  und  sein  Wachstum,  2.  in  die  Struktur  des  Sprachbaues,  also 
in  die  Grammatik,  Formenlehre  und  Syntax  dieser  werdenden  Sprache,  3.  in  das 
werdende  Verhältnis  der  Kinder  und  Jugendlichen  zu  den  Daseins  weisen 
der  Sprache  (als  geschriebener,  gedruckter,  gehörter,  gesprochener  usw.),  also 
insbesondere  die  Differenzen  zwischen  Sprechsprache  und  schriftlichem  Aus- 
druck, zwischen  Sprachverständnis  (im  Hören  und  Lesen)  und  aktivem  Selbst- 
sprechen, 4.  in  die  Anfänge  des  persönlichen  Gepräges  in  der  Sprache,  insbe- 
sondere des  schriftlichen  Ausdrucks,  des  Stiles,  5.  in  die  Faktoren,  welche 
auf  die  Sprachentwicklung  Einfluß  üben,  und  in  ihre  relative  Dynamik. 

Natürlich  zerlegt  sich  jeder  dieser  Problemkreise  in  eine  mehr  oder  minder 
gi'oße  Zahl  von  Einzelfragen,  die  später  dargelegt  werden.  So  z.  B.  wird  man 
über  die  Verbindung  der  Hauptsätze  in  der  zusammenhängenden  Rede  wie 
im  Aufsatz  ganz  sicher  gesonderte  Beobachtungen  und  Erhebungen  machen 
können  und  müssen,  ebenso  über  die  Entwicklung  des  Verständnisses  und 
des  Gebrauches  von  Nebensätzen.  Gerade  für  den  Einblick  in  die  Genesis 
der  Gedankenbildung  ist  diese  Erforschung  der  sozusagen  logischen  Gelenke 
des  Sprachkörpers  von  größter  Bedeutung,  Aber  man  darf  die  sprachpsycho- 
logische Untersuchung  trotz  der  methodischen  Arbeitsteilung  nicht  in  Einzel- 
fragen zerfallen  lassen;  deshalb  habeich  hier  die  Problemgruppen  vorangestellt. 

Auch  die  Methoden  der  Erhebung  nehmen  an  dieser  Zweiteilung  zwischen 
Allgemeinen  und  Speziellen  teil;  wir  müssen  Methoden  ziu-  Gewinnung  von 
Dokumenten  der  Sprachentwicklung  überhaupt  unterscheiden  von  solchen, 
die  zur  Lösung  eines  konkreten  Einzelproblems  eigens  ausgedacht  sind.  Die 
ersten  liefern  uns  die  größere  Menge  des  Materials,  helfen  uns,  die  wirkliche 
Sprache  zu  erfassen,  die  letzteren  gewähren  uns  intimere  Einblicke  in  Einzel- 

')  Die  reiche  Literatur  über  die  Spracbaniän^e  des  Kindes  besitzt  namentlich  in  Deutschland 
vorzügliche  Zusammenfassungen. 

Zeitsclirift  f.  pädagog.  Psychologie.  22 


338  Aloys  Fischer 

heiteii,  müssen  aber  dafür  mit  den  Gefahren  einer  Verkünstelung  der  Sprache 
durch  die  Bedingungen  des  Versuches  und  der  Erhebung  rechnen. 

Ich  gUedere  die  Darstellung  so,  daß  ich  mit  den  allgemeinen  Methoden  be- 
ginne, dann  die  speziellen  Methoden  m  i  t  den  Problemen,  denen  sie  zugeordnet 
sind,  folgen  lasse,  und  mit  den  allgemeinen  Gesichtspunkten  der  wissenschaft- 
lichen Deutung  und  Verwertung  des  gesamten  Materials  abschließe. 

3. 

Allgemeine  Methoden  zur  Gewinnung  von  Dokumenten  der  Sprach - 

entwicklung  bei  Kindern  und  Jugendlichen. 

Sieht  man  von  jeder  Rücksicht  auf  eine  Spezialfrage  der  Sprachentwicklungs- 
psychologie  ab,  will  man  allgemeine  Grundlagen  für  die  Charakterisierung 
der  Sprache  von  Kindheit  und  Jugend  gewinnen,  so  muß  man  sich  bewußt 
bleiben,  daß  direkt  und  unmittelbar  jeweils  nur  die  Sprache  einzelne)-  Kinder, 
die  Sprache  von  Kinderindividuen,  erfaßt  werden  kann.  Alle  Aufzeichnungen 
müssen  demnach  genau  und  vollständig  das  Alter  des  Kindes,  seine  Her- 
kunft, eine  Charakteristik  des  Sprachgebrauches  seiner  Umgebung,  die  Umstände 
der  Erhebung  mitverzeichnen.  An  allgemeinen  Methoden  stehen  uns  dann 
zur  Verfügung: 

1.  Das  Protokoll  des  Lebensgespräches.  Dabei  ist  zu  unterscheideji 
das  Gespräch  des  Kindes  und  Jugendlichen  mit  einem  Erwachsenen  von  dem 
Gespräch  mit  kindlichen  und  jugendlichen  Altersgenossen;  ebenso  zu  unter- 
scheiden, ob  die  Aufzeichnung  unmittelbar  nach  dem  Gespräch  stattfindet 
oder  als  Niederschrift  eines  absichthch  oder  zufällig  belauschten  Gespräches 
während  des  Gespräclies  selbst  erfolgt,  wie  im  Kammerstenogramm.  Damit 
das  Protokoll  auch  für  dritte  benutzbar  ist,  müssen  alle  Umstände  des  Ge- 
spräches dazu  notiert  werden. 

Die  Niederschrift  selbst  muß  den  Anteil  aller  am  Gespräch  beteiligten  Per- 
sonen im  genauen  Wortlaut  festhalten. 

Gerade  diese  Forderung  ist  schwer  erfüllbar,  und  darum  äußerst  selten  er- 
füllt. Die  Mehrzahl  der  Aufzeichnungen  begnügte  sich  damit,  das  Auffällige 
zu  notieren,  fast  alle  ließen  die  Gesprächsteile,  die  erwachsene  Personen 
beisteuern,  unbeachtet.  Es  ist  verständlich,  daß  so  verfahren  wurde  und  wird; 
man  will  ja  doch  Dokumente  der  Kindersprache,  glaubt  also  bei  der  Proto- 
kolUerung  auch  nur  zur  Niederschrift  der  Kindesäußerung  verpflichtet  zu  sein. 
Man  übersieht  dabei  vollständig,  wie  stark  die  kindliche  Ausdrucksweise  durch 
die  erwachsenen  Mitunterredner  beeinflußt  wird,  wie  viele  vom  Erwachsenen 
als  solche  gar  nicht  mehr  gespürte  Hilfen  es  dem  Munde  desselben  entnimmt. 
Es  existieren  einzelne  Aufzeichnungen  in  der  Literatur,  nach  denen  4-  und 
5jährige  Kinder  über  einen  Wortschatz,  eine  Ausdrucksgeläufigkeit  verfügen, 
die  so  außerordentlich  sind,  daß  bei  mir  dei-  Verdacht  sich  regt,  ob  es  sich  nicht 
um  einfache  gesprächsweise  Übernahme  von  erwachsenen  Partnern  handelt, 
um  jenes  momentan  aufblitzende  und  mit  dem  Moment  wieder  erlöschende 
Halbverständnis,  das  jeder  aus  der  Erfahrung  kennt  und  das  doch  niemand 
als  auffallende  Kindeileistung  bezeichnen  würde;  ohne  diesen  Hintergrund 
der  erwachsenen  Mithilfe   muß  sie  jedoch   notwendig  als  solche  erscheinen. 

Wenn  das  Protokoll  des  Lebensgespräches"  allen  diesen  Ansprüchen  genügt, 
dann  stellt  es  die  beste  Materialquelle  für  das  Studium  der  Sprech  spräche  von 


Sprachpsychologische  Untersuchungsmethoden  339 

Kindern  und  Jugendliehen  dar:  es  übertrifft  alles  an  Lebensnähe,  denn  es 
fixiert  einfach  einen  Ausschnitt  aus  dem  Leben  selbst. 

Die  Technik  der  Protokollierung  muß  freilich  erlernt  sein;  die  Beherrschung 
einer  Stenographie  ist  unerläßlich,  die  größte  Gewissenhaftigkeit  bei  nach- 
ti'äglicher  Niederschrift  Pflicht;  es  muß  alles  Unsichere,  vom  Gedächtnis 
nicht  genau  Festgehaltene  als  solches  gekennzeichnet  werden;  es  muß  jede 
Deutung  als  vom  Erwachsenen  vollzogene  notiert  sein.  Manchmal  wird  der 
Führer  des  Protokolls  auf  Deutungen  nicht  verzichten  können,  weil  nur  er 
aus  der  Anschauung  der  konkreten  Situation  die  Bedeutung  zu  erraten  ver- 
mag; aber  auch  noch  so  unentbehrliche  Deutungen  müssen  als  solche  be- 
zeichnet und  belegt  werden. 

Zur  Aufnahme  von  Lebensgesprächen  haben  Eltern,  Kindergärtnerinnen, 
Hortkräfte  und  Lehrer  eine  abnehmende  Menge  von  Gelegenheiten;  wertvoll 
wird  namentlich  das  zufällig  erlauschte  Gespräch  von  Kindern  und  Jugend- 
lichen unter  sich  sein,  auch  wenn  wir  nicht  allzu  viele  davon  haben  und  haben 
werden,  die  meisten  überdies  nur  in  nachträglicher  Niederschrift  festgehalten 
werden  können. 

Weniger  natürlich,  weil  schon  durch  den  Erwachsenen  provoziert  und  in 
jedem  Fall  sowohl  durch  seine  Art  der  Frage  wie  durch  die  im  Kinde  und 
Jugendüchen  gleich  wirksam  werdende  Rücksicht  auf  ihn  beeinflußt,  ist  nun 

2.  das  Protokoll  eines  abgeforderten  Berichtes  über  ein  Erlebnis, 
einen  Eindruck,  eine  Person  oder  Sache,  eine  eigene  Handlung  und  Unter- 
lassung. 

Der  Veranstalter  läßt  sich  „erzählen";  natürhch  leitet  er  ein,  gibt  zu  mindest 
den  Anstoß,  hütet  sich  aber  ängstlich  zu  suggerieren  und  zu  helfen.  Frei- 
lich sind  die  Hilfen,  die  ein  Kind  namentlich  benutzt,  oft  so  fein,  daß  der 
Erwachsene  selbst  sie  nicht  bemerkt;  jeder  Lehrer  weiß,  daß  ein  Kind  in  der 
Schule  unter  den  Augen  des  Lehrers  mehr  leistet  als  zu  Hause;  die  ganze 
Schulatmosphäre  hilft  mit;  das  Kind  hest  aus  den  Zügen  des  Ei-wachsenen 
ab.  ob  es  recht  oder  falsch  arbeitet,  wie  es  weiter  fortfahren  soll.  Uns  Erwachsenen 
geht  es  noch  ähnlich;  außer  Zusammenhang  mit  Raum  und  Stimmung  ver- 
mögen auch  wir  oft  nur  schlechter  zu  arbeiten.  Hier  liegen  noch  unerforschte 
Grundlagen  der  assoziativ-reproduktiven  und  besonders  der  produktiven  Seelen- 
tätigkeit vor. 

Auch  der  umgekehrte  Fall  ist  möglich:  die  Aufforderung,  etwas  zu  er- 
zählen, kann  das  Kind  verwirren,  ja  geradezu  zum  Sprechen  unfähig  machen. 
Natürlich  leidet  in  solchen  Fällen  der  Ausdruck  erheblich;  wir  erhalten  höchstens 
eine  durch  Befangenheit  und  innere  Hemmung  getrübte,  durch  die  Rücksicht 
auf  die  erwachsene  Autoritätsperson  mitbestimmte  Leistung. 

AUe  diese  Umstände  sind  in  erhöhtem  Maße  bei  dem  vom  Lehrer  in  der 
Schule  abgeforderten  mündlichen  Bericht  (und  mutatis  mutandis  auch  schrifl- 
Uchen)  Bericht  zu  bedenken. 

Auf  der  anderen  Seite  hat  der  abgeforderte  Bericht  seine  besonderen  Vor- 
züge. Er  ist  eine  ergiebige,  leicht  anwendbare  Methode,  läßt  sich  unschwer 
zu  Massenversuchen  verwenden,  und  wenn  uns  der  Gegenstand  bzw.  Sach- 
verhalt genau  bekannt  ist,  auf  den  er  sich  bezieht,  vermögen  wir  gerade  aus 
ihm  die  Prägnanz  und  Treffsicherheit  bzw.  Vagheit  des  Ausdrucks  zu  erfassen. 

Die  Protokollierung  des  abgeforderten  Berichtes  kann  in  zweifacher  Weise 
erfolgen:  entweder  wird  der  Bericht  unmittelbar  nach  seiner  Erstattung  nieder- 

22* 


340  Aloys  Fischer 

geschrieben,  mit  allen  Umständen,  Fragen  und  Hilfen,  oder  er  wird  von  einer 
dritten  Person  unauffällig  mitgeschrieben.  In  diesem  Fall  ist  natürlich  pein- 
lichst für  die  Unwissentlichkeit  Sorge  zu  tragen.  Wo  es  möglich  ist,  hat  das 
unwissentliche  Zwei-Männer- Verfahren  natürlich  große  Vorteile. 

Ist  das  Protokoll  des  Berichtes  aufgenommen,  so  hat  sogleich  die  Nachtrags- 
arbeit zu  beginnen;  die  Feststellungen  über  Richtigkeit  und  Falschheit,  VoD- 
ständigkeit  und  Unvollständigkeit  des  Berichtes  müssen  sofort  gemacht  werden ; 
vom  Standpunkt  der  Ergiebigkeit  für  die  Sprachentwicklungs  psychologie  muß 
aber  vor  allem  notiert  werden,  was  über  Tonfall  und  Modulation,  Sprachtempo 
und  erläuternde  bzw.  begleitende  Geste  beobachtet  wurde.  Es  ist  unzweifel- 
haft auf  der  Stufe  desKindesund  vielfach  auch  noch  bei  den  Jugend- 
lichen das  sprachliche  Moment  nur  Teil  eines  Gesamtausdruckes, 
ohne  andere  Komponenten  oft  nicht  einmal  verständlich,  meistens  nicht  prägnant. 

Zur  Bezeichnung  der  Tonstufen,  der  Tempi  und  Pausen  kann  man  sich  die 
von  den  Sprachforschern,  besonders  den  Phonetikern  und  Germanisten  aus- 
gebildeten Zeichen  zurechtlegen;  die  Schreibung  der  Dialekte  wird  außerdem 
noch  auf  das  KindUch- Mundartliche  achten  müssen,  für  die  Gesten  ist  ein 
Schema  der  Bezeichnung  schwer  möglich.  Soweit  die  unwissentliche  Photo- 
graphie verwendet  werden  kann,  ist  sie  zu  benützen. 

Eine  kurze  Gesamtcharakteristik  des  sprechenden  Kindes  (wie  es  sich  hält, 
dreht  und  wendet  beim  Sprechen  usw.)  ist  als  Abschluß  der  Aufnahme  nach- 
zutragen; der  Eindruck,  den  der  Erwachsene  gewinnt,  ist  ein  Fingerzeig  für 
die  nachträgliche  Synthesis  der  protokollierten  Einzelheiten  durch  dritte  wissen- 
schaftUche  Bearbeiter. 

Zu  den  künstlicheren,  damit  einerseits  stärker  von  der  unre flektierten  Sprach- 
norm abgebogenen,  anderseits  eindeutigeren  Methoden  gehen  wir  über  mit 

3.  dem  Protokoll  der  geforderten  Nacherzählung. 

Die  kindhche  und  jugendliche  Leistung  der  Wiederholung  bzw.  Wiedergabe 
eines  Redezusammenhangs  ist  sehr  komplex ;  hier  kommt  sie  lediglich  als  Beleg 
für  den  Stand  der  Sprachentwicklung  in  Betracht. 

Die  Durchführung  des  scheinbar  einfachen  Versuches  ist  sehr  selten  richtig 
geschehen ;  für  gewöhnlich  wird  schon  übersehen,  denWortlautdesOriginal- 
textes  zu  fixieren.  Das  ist  unbedingt  erforderlich.  Ob  er  dann  vom  V.-L. 
memoriert  und  wie  eine  eigene  Rede  gesagt  oder  formell  vorgelesen  wird,  ist 
ein  bedeutungsvoller  Unterschied  in  der  Durchführung,  der  notiert  werden  muß. 
Jedenfalls  muß  aber  der  Wortlaut  selbst  in  einer  den  nachträglichen  Zwe":l 
und  die  allmähliche  gedächtnismäßige  Umbildung  ausschließenden  Weise 
fixiert  sein. 

Der  fixierte  Originaltext  darf  ferner  seinem  sachlichen  Inhalt,  seiner  Be- 
deutung nach  der  Auffassung  und  dem  Verständnis  keine  Schwierigkeiten 
bieten.  Tut  er  es,  so  ist  er  wohl  geeignet  zur  Analyse  des  Denkens  und  der 
Kritik  von  Gedanken,  aber  nicht  für  sprachpsychologische  Arb  eiten.  Der  Text 
muß  so  sein,  daß  der  sachliche  Inhalt  in  jedem  Falle  aufgefaßt,  verstanden 
wird;  denn  was  wir  wissen  wollen,  ist  nur  dies:  wie  wirkte  ein  Text  auf  den 
Versuch  des  Kindes  und  Jugendlichen  ein,  den  im  Text  behandelten  Sachzu- 
sammenhang selbst  nochmal  auszudrücken? 

Damit  ist  zugleich  ein  drittes  Anfordernis  an  den  Text  klar  geworden:  er 
muß  im  ganzen  den  Umfang  des  unmittelbar  Behaltbaren  überschreiten,  je 
nach  der  Altersstufe  erhebUch  überschreiten.   Täte  er  dies  nicht,  so  bestünde 


Sprachpsychologische  Untersuchungsmethoden  341 

Gefahr,  daß  an  Stelle  eines  eigenen  Formulierungsversuches  die  glatte  Re- 
produktion des  Originaltextes  erfolgt.  Der  Text  muß  so  lang  sein,  daß  ein 
wörtliches  Behalten  auf  Grund  einmaligen  Hörens  ausgeschlossen  ist. 

Ich  möchte  in  meinen  Forderungen  noch  einen  Schritt  weiter  gehen:  der 
Aufbau  des  Textes  aus  Sätzen  muß  gleichfalls  auf  die  Spanne  des  sprachlichen 
AuffassuDgsumfangs  Rücksicht  nehmen;  es  müssen  auch  die  Teile  in  der  Länge 
wechseln,  teilweise  über  die  Spanne  des  unmittelbaren  Gedächtnisses  hinaus- 
gehen; sonst  besteht  die  Gefahr  der  wörtlichen  Reproduktion  von  Teilen. 

Man  darf  von  einem  Text  zur  Prüfung  sprachlicher  Fähigkeiten  nicht  ver- 
langen, was  ein  solcher  für  andere  Zwecke  an  sich  tragen  müßte.  Die  Nach- 
erzählung an  sich  können  wir  auch  benutzen,  um  das  Verständnis,  die  Unter- 
scheidungsfähigkeit für  Wesentliches  und  Nebensächliches  zu  prüfen;  selbst- 
verständlich müßten  dafür  die  Texte  anders  gewählt  und  gestaltet  werden. 
Man  hat  nun  bei  derartigen  Versuchen  der  Nacherzählung  meist  den  Fehler 
des  „Zuviel  auf  einmal*  begangen,  Texte  gewählt,  die  schon  dem  Verstäftdnis 
Schwierigkeiten  bereiteten  oder  in  jedem  Sinn  zu  umfangreich  waren,  um 
überhaupt  auch  nur  im  allgemeinen  Aufbau  behalten  zu  werden.  Die  Aus- 
wertung solcher  Versuche  für  sprachpsychologische  Probleme  ist  natürhch  kaum 
möghch.  Das  Experiment,  die  künstliche  Methode  muß  spezialisieren;  hier 
sind  nur  d  i  e  Gesichtspunkte  hervorgehoben,  die  für  die  Nacherzählung  als 
Hilfsmittel  zur  Untersuchung  sprachlicher  Kenntnisse  und  Fähigkeiten  gelten. 

Das  Protokoll  über  eine  abgeforderte  Nacherzählung  wird  sich  sachlich  oft 
nicht  von  einem  anderen  unlerscheiden,  das  ich  aber  doch  getrennt  als  vierte 
Quelle,  Belege  für  die  Sprachentwicklung  zu  sammeln,  hervorheben  möchte, 
ich  meine 

4.  die  Wiederholu^ng  einer  Erzählung  mit  eigenen  Worten.  Aus 
der  Praxis  der  Schule  ist  allbekannt,  daß  Kindern  und  Jugendlichen  immer 
wieder  die  Aufgabe  gestellt  wird,  das  vom  Lehrer  Erläuterte,  in  einem  Buch 
Gelesene  „mit  eigenen  Worten"  zu  wiederholen.  Diese  Maßnahme  verfolgt 
den  Zweck,  den  Lehrer  über  den  Grad  und  die  Grenze  des  Verständnisses 
aufzuklären,  den  Schüler  in  eigentätigem  Ausdruck  sich  etwaigen  Selbst- 
täuschungen zu  entziehen.  Alle  derartigen,  für  die  Psychologie  des  Denkens 
wertvollen  Nebenabsichten  scheiden  in  diesem  Zusammenhang  aus;  die  Wieder- 
holung mit  eigenen  Worten  soll  lediglich  als  Grundlage  zu  Schlüssen  auf  die 
Sprache  dienen.  Damit  dies  möghch  ist,  muß  das  sachliche  Verständnis  über 
allen  Zweifel  erhaben  sein;  wir  werden  also  zu  Texten  greifen  müssen,  die 
eher  unter  als  über  der  Altersreife  des  Kindes  liegen. 

Mit  der  5.  Methode,  dem  Formulierungsversuch,  betreten  wir  das  Ge- 
biet der  nach  strengen  Anforderungen  experimentell  ausgestalteten  Erhe- 
bung. Der  Grundgedanke  der  Formulierungsversuche  besteht  darin,  den  Kindern 
und  Jugendlichen  die  sachlichen  Elemente  eines  Gedankens  zu  geben  — 
\e  nachdem  in  Stichworten,  fragmentierten  Sätzen,  Bildern  usw.  —  und  von 
ihnen  die  Formulierung  des  Gedankens  zu  verlangen,  nichts  als  dies,  daß  sie 
den  Gedanken,  den  Sachverhalt  sprachhch  ausdrücken. 

Der  Formuherungsversuch  ist  das  grundlegende  sprachpsychologische  Ex- 
periment in  pädagogischem  Zusammenhang;  jede  Aussage,  jeder  Aufsatz  stellt 
auch  einen  solchen  dar.  Für  die  wissenschaftlichen  Zwecke  muß  er  gleich- 
wohl erst  methodisiert  werden,  und  wir  werden  bei  dem  Cberbhck  über  die 
speziellen  Methoden   viele  Varianten  kennen  lernen.     Hier  sollte  er  nur  als 


342  Aloys  Fischer 


eine  allgemeine  Fundgrube  für  sprachpsychologisches  und  sprachpädagogisches 
Material  genannt  sein. 

Neben  diesen  ersten  fünf  Methoden  treten  solche,  bei  denen  die  Sprache 
der  Kinder  und  Jugendlichen  von  ihnen  selbst  aufgezeichnet  ist.  Dem  Pro- 
tokoll des  Lebensgespräches  am  nächsten  stehen  6.  Brief  und  Tagebuch- 
aufzeichnung der  Jugend. 

Freilich  müssen  bei  ihrer  Verwertung  als  Denkmäler  der  Sprache  ganz  be- 
hutsame, feine  Überlegungen  mitsprechen.  In  erster  Linie  beruht  ihr  psycho- 
logischer Wert  auf  dem  Inhalt.  Die  sprachliche  Form  ist  bei  Briefen  und 
Tagebucheinträgen  selten  der  unreflektierte  Ausdruck,  wie  er  im  Lebens- 
gespräch belauscht  werden  kann.  Bei  den  Briefen  schiebt  sich  die  Rücksicht 
auf  den  Adressaten,  beim  Tagebuch  die  der  Jugend  (namentlich  der  Jugend, 
die  Tagebücher  schreibt)  so  geläufige  Schriftstellerpose  zwischen  Erlebnis  und 
Ausdruck,  Gedanken  und  Form.  Es  gibt  nur  sehr  wenige  Kinder  und  Jugend- 
liche*und  nur  sehr  wenige  Gelegenheiten,  die  vollständig  aufrichtig,  unbefangen 
schreiben,  wie  sie  denken  und  sprechen.  Jeder  Brief  ist  eine  Bemühung,  das 
Tagebuch  sogar  ein  „Werk". 

Mögen  sie  aus  diesen  Gründen  nicht  mehr  die  naive,  unreflektierte  Sprache 
bieten,  so  lehren  sie  uns  anderseits  die  Art  des  Sprachbewußtseins  kennen, 
die  bewußt  gebilligten  Vorbilder,  die  Höhe  sprachlicher  Leistung,  bis  zu  der 
sich  willentliche  Konzentration  und  Besinnung  erheben  kann. 

Außerdem  stellt  die  geschriebene  Sprache  eine  der  Existenzweisen  der  Sprache 
dar;  sie  müssen  wir  ebenso  erfassen  wie  die  Sprechsprache ^).  Es  ist  ein  äußerst 
wichtiges  Problem,  zu  finden,  wie  sich  beim  einzelnen  Menschen  Sprechsprache 
und  schriftlicher  Ausdruck  berühren,  fördern,  hemmen,  beziehungslos  neben- 
einanderstehen. Es  gibt  prachtvolle  Redner,  die  äußerst  mäßige  Schriftsteller 
sind,  große  Stilkünstler,  die  kaum  sprechen  konnten.  Es  ist  wichtig,  zu  wissen, 
ob  ein  Mensch  sozusagen  seine  gewöhnliche  normale  Einstellung  verläßt,  so- 
bald er  schreiben  muß,  ob  es  ihm  völlig  einerlei  ist,  vor  Hörern  seine  Ge- 
danken zu  entwickeln  oder  mit  der  Feder  in  der  Hand. 

Diese  auf  der  Stufe  des  Erwachsenen  stark  fühlbaren  Unterschiede  haben 
ihre  Vorläufer,  ihre  Anfänge  schon  in  der  Zeit  der  Kindheit  und  Jugend. 
Für  manche  Kinder  hört  die  Ausdrucksfähigkeit  geradezu  auf,  sobald  sie  schreiben 
(nicht  sollen,  sondern  auch  nur)  wollen,  während  andere  mit  einer  naiven 
Selbstgefälligkeit  sich  gar  nicht  genug  tun  können,  dritten  der  Unterschied 
überhaupt  nicht  spürbar  wird. 

Aus  Briefen  und  Tagebüchern  werden  wir  sowohl  den  Stand  der  schrift- 
lichen Ausdrucksfähigkeit  wie  das  Verhältnis  zur  geschriebenen  Sprache  selbst 
erfahren  können.  Aber  die  Benutzung  dieser  Dokumente  ist  in  weitem  Maße 
davon  abhängig,  daß  wir  in  die  Entstehungsweise  und  En  tstehungsumstände 
der  Briefe  und  Tagebuchaufzeichnungen  Einblick  erhalten.  So  wenig  ein  vom 
Lehrer  diktierter,  aus  einem  Musterbuch  abgeschriebener  Glückwun  schbrief  an 
Vater  oder  Mutter  etwas  für  die  Pietät,  Dankbarkeit  und  Liebe  des  Kindes 
beweist,  so  wenig  oder  womöglich  noch  weniger  beweist  er  etwas  für  seine 
Beherrschung  der  schriftlichen  Sprachform.    Im  ersten  Fall  kann  wenigstens 


»)  Das  Verhältnis  von  .Dialekt*  und  „Schriftform  der  Sprache*  hat  aa  sich  nichts  zu  tun  mit 
dem  Verhältnis  zwischen  „mündlichem"  und  „schriftlichem"  Ausdruck;  man  kann  auch  Dialekt 
(ichreiben. 


Sprachpsychologische  Untersuchungsmethoden  343 


eine  zufällige  Deckung  zwischen  dem  fremden  Muster  und  dem  eigenen  Ge- 
fühl des  Kindes  sein,  im  zweiten  Fall  ist  es  eher  wahrscheinlich,  daß  sich 
die  sprachliche  Unfähigkeit  und  Urteilslosigkeit  gerade  das  ihr  unmöglichste 
Vorbild  aussucht.  Vielfach  aber  sind  in  der  Literatur  kinderpsychologische 
Schlüsse  aus  solchem  Material  gezogen  worden.  Nur  die  reine  Kinderleistung, 
nur  die  selbständige,  du-ekt  nicht  mehr  beeinflußte  Kinderschrift  hat  größten 
Wert.  Damit  ist  zugleich  gesagt,  dai3  die  ergiebigste  Stoff  quelle  7.  der  Schul- 
aufsatz bzw.  der  Aufsatz  im  Zusammenhang  mit  Schulleben  und  Unterricht 
auch  noch  Belege  für  die  Sprachentwicklung  bietet,  aber  die  größte  Behut- 
samkeit in  der  Deutung  und  Benutzung  verlangt. 

Was  ist  alles  aus  Aufsätzen  der  Kinder  und  Schüler  schon  herausgelesen 
worden!  Oft  sind  die  gröbsten  Unterschiede  zwischen  der  fast  wörtlichen 
Übernahme  eines  Musteraufsatzes  und  einer  völlig  freien  Niederschrift  ignoriert 
worden,  beinahe  immer  blieben  die  entfernteren  Einflüsse  der  schulischen 
Vorbereitung,  der  Lehrerpersönlichkeit,  ihrer  Sprache  und  ihres  literarischen 
Geschmacks  ungefaßt  und  unfaßbar  außer  Betracht;  es  bedeutete  schon  viel, 
als  auf  den  guten  Toder  meist  schlechten)  Einfluß  der  in  den  Schullesebücheni 
gesammelten  literarischen  „Vorbilder"  aufmerksam  gemacht  wurde. 

Mag  füi"  pädagogische  Schlußfolgerungen  eine  derartige  Behandlung 
der  Aufsätze  weniger  gefährlich  sein,  für  ihre  Benutzung  zu  psychologischen 
Schlüssen  ist  die  peinlichste  Unterscheidung  zwischen  Aufsatz  und  Aufsatz 
unerläßlich.  Stehen  doch  Leistungen,  deren  Schuld  oder  Verdienst  ausschließ- 
lich dem  Kinde  zufällt,  neben  solchen,  für  die  es  gar  keine  Verantwortung 
trägt,  die  nicht  sein  Werk  sind,  so  gewiß  seine  Feder  die  Worte  niederschrieb, 
aus  denen  sie  bestehen.  Was  vom  Inhalt  und  Aufbau  der  Sätze  gilt,  ist  auch 
bei  der  Beurteilung  ihrer  sprachlichen  Seite  nicht  zu  vergessen. 

Eine  Gruppe  der  Aufsätze,  die  nicht  nur  so  genannten,  sondern  wirkhch 
so  entstandenen  freien  Aufsätze ij  bilden  die  Überleitung  zur  letzten  Quelle 
von  Dokumenten  der  Sprachentwicklung,  8.  zu  den  Produkten  des  freien 
literarischen  Schaffens  der  Kinder  und  Jugendlichen. 

Die  Sammlung  von  literarischen  Erzeugnissen  der  Jugend  ist  oft  angeregt, 
durch  F.  Giese^}  bisher  im  größten  Stile  wenigstens  einmal  durchgeführt  worden. 
Alle  Probleme  sind  aber  mit  dieser  Sammlung  noch  lange  nicht  gelöst,  viel- 
leicht nicht  einmal  gestellt;  deshalb  ist  es  nicht  überflüssig,  an  dieser  Stelle 
die  freie  literarische  Produktion  nochmals  hervorzuheben  und  auf  sie  als  Be- 
leg für  die  Sprachentwicklung  aufmerksam  zu  machen. 

Von  vornherein  ist  wahrscheinlich,  daß  nur  bei  Kindern  mit  ausgesprochener 
Sprachbegabung,  literarischer  Interessenrichtung  und  in  literarisch  angeregter 
Umgebung  der  literarische  Versuch  früh,  relativ  häufig  und  erfolgreich  auf- 


1)  Unter  diesem  Gesichtspunkt  wären  auch  die  Foi-schungen  von  Th.  Valentiner  über  die 
Entwicklung  der  Phantasie  im  Lichte  freier  Aufsätze  (Beihefte  zur  Zeitschrift  für  angewandte 
Psychologie  und  psychologische  Sammelforschung  Heft  13,  Leipzig,  Barth)  noch  auszuweiten  bzw. 
zu  ergänzen. 

2)  Von  der  Literatur  über  das  dichtende,  allgemeiner  das  schriftstellemde  Kind  verdienen  Her- 
vorhebung die  älteren  Werke;  Adolf  Dyrotf:  Über  das  Seelenleben  des  Kindes.  Bonn  1911, 
Seite  83 — 189.  Bemard  Perez:  L'art  et  la  poesie  chez  l'enfant.  Paris  1S88.  Sie  überlrifft  an 
Gründlichkeit  der  Fragestellung  und  namentlich  an  Reichtum  des  beigebrachten  Materials  bei 
weitem  Fritz  Giese:  Das  freie  literarische  Schaffen  bei  Kindern  und  Jugendlichen  (Beihefte  zur 
Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  und  psychologische  Sammellorschung,  HeftVII.  Leipzig  1914). 


34-t  Aloys  Fischer 

tritt;  diese  Wahrscheinlichkeit  ist  durch  die  bisherigen  Forschungen  auch  be- 
stätigt worden. 

FreiUch  wird  wohl  eine  größere  Anzahl  von  Kindern  Reim-  und  Dichtversuche 
machen,  aber  es  geschieht  nur  gelegentlich  oder  (wie  in  den  höheren  Schulen 
einzelner  Bundesstaaten)  auf  ausdrückliches  Verlangen  der  Schule;  die  Ver- 
suche fallen  für  die  meisten  offenbar  so  wenig  befriedigend  aus,  daß  sie 
keine  Fortsetzung  erfahren.  Es  wäre  interessant  und  ist  eine  noch  zu  leistende 
Aufgabe,  zu  ermitteln,  wie  viele  Kinder  und  Jugendliche  überhaupt  keinen 
Versuch  machen,  wie  viele  nur  „gelegentlich"  dichten,  es  wenigstens  ver- 
suchen und  dann  wieder  aufgeben,  wie  viele  während  längerer  Zeit  hterarischen 
Neigungen  und  Plänen  nachgehen,  wie  viele  das  nur  in  der  Jugend  getan 
haben,  während  sie  in  der  Reife  und  Berufsarbeit  nicht  nur  jeden  literarischen 
Ehrgeiz  einbüßen,  sondern  sogar  die  Teilnahme  am  literarischen  Schaffen 
anderer  zurücktritt  oder  verloren  geht.  Nicht  die  Prozentzahlen  an  sich  sind  das 
Wissenswerte,  sondern  der  Einblick  in  die  Gründe  und  bestimmenden  Erleb- 
nisse; Grenzen  des  Sprachbewußtseins  werden  uns  dabei  faßbar. 

Auch  bei  den  Kindern  und  JugendHchen,  die  „dichten",  genauer  gesagt, 
die  längere  Zeit,  nicht  selten  während  der  ganzen  Schullaufbahn,  Ausarbeitungen 
machen,  die  ihnen  selbst  und  ihren  Kameraden,  vielleicht  sogar  ihrem  Lehrer 
als  „Literatur"  imponieren,  wenigstens  als  Frühforraen  und  Anfänge  solcher, 
geht  das  freie  Schaffen  sehr  oft  weder  aus  sprachkünstlerischer  Begabung  noch 
aus  dichterischer  Problemstellung  hervor,  sondern  entspringt  einem  allgemeinen 
Ehrgeiz,  einem  brennenden  Willen,  sich  zu  unterscheiden  und  auszuzeichnen, 
der  aus  Mangel  an  anderen  Gelegenheiten  und  Möglichkeiten  auf  das  literarische 
Gebiet  verschlagen  wird.  Das  „schwierigere"  Gedicht  reizt  den  Ehrgeiz  mehr 
als  der  „leichtere"  Prosaaufsatz,  die  „erfundene"  Erzählung  mehr  als  die  durch 
stoffliche  Anhaltspunkte  geregelte  Beschreibung.  Dabei  hat  natürlich  das  Kind 
eine  sachverständige  Vorstellung  weder  vom  einen  noch  vom  andern,  es 
entnimmt  diese  Art  der  Wertschätzung  einfach  dem  (hierin  ebenso  falschen) 
Vorbild  der  Erwachsenen.  Weil  sie  diese  „Gedichte"  „schwerer"  finden  als 
Prosaausarbeitungen,  wird  der  jugendliche  Ehrgeiz  auch  auf  sie  hingedrängt. 

Nur  ein  kleiner  Teil  gewinnt  allmählich  ein  innerliches  Verhältnis  zur  Literatur 
und  fühlt  sich  zur  literarischen  Produktion  gedrängt  von  dichterischer  oder 
sprachkünstlerischer  Problemstellung  aus;  sie  pflegen  ihr  Talent  mit  einer 
gewissen  Konsequenz,  versuchen  sich  in  immer  neuen  Aufgaben,  studieren 
Vorbilder,  erleben  alle  Freuden  und  Enttäuschungen  des  Schöpfertums,  natür- 
lich in  jener  Verkleinerung  und  Gewichtslosigkeit,  die  für  das  Jugendleben 
allgemein  charakteristisch  ist. 

Noch  wichtiger,  aber  zugleich  noch  schwieriger  zu  ermitteln  als  bei  Briefen 
und  Aufsätzen  sind  9.  die  Anlässe  und  Umstände  der  Entstehung  bei  Ge- 
dichten und  literarischen  Versuchen.  Wenn  wir  z.  B.  bei  einem  jungen  Gymnasial- 
schüler feststellen  können,  daß  seine  private  Lektüre  ausschließUch  Heine 
ist,  werden  uns  bestimmte  lyrische  Gedichte  aus  seiner  Feder  vielleicht  gar 
nicht  überraschen,  die  uns  ohne  solche  Kenntnis  der  stillschweigend  wirksamen 
Muster  in  ganz  anderem  Licht  erscheinen  müßten. 

Erforderlich  für  die  Interpretation  und  Bewertung  der  Leistung  ist  auch 
die  Kenntnis  der  Vorarbeiten,  ersten  Notizen,  des  Brouillons,  der  Skizze,  die 
Kenntnis  der  Verbesserungen  und  der  Gründe  für  sie.  Aber  haben  wir  schon 
bei  den  Werken  der  großen  Literatur  nur  ausnahmsweise  noch  die  Vorarbeiten, 


Sprachpsychologische  Untersuchungsmethoden  345 


so  pflegt  der  jugendliche  Schriftsteller  mit  Absicht  alles  zu  vernichten,  was 
er  auf  dem  Weg  bis  zur  Vollendung  hinter  sich  gelassen  hat. 

Endlich  sollte  ein  literarisches  Produkt  nur  im  Zusammenhang  mit  anderen 
Sprachzeugnissen  seines  Urhebers  gewürdigt  werden.  Ohne  jede  Ahnung 
seiner  Sprechsprache,  seines  Briefstiles,  seiner  Schulaufsätze  muß  der  fremde 
Beurteiler  in  vielen  Fällen  zu  irriger  Einschätzung  kommen. 

An  der  literarischen  Produktion  haben  Jugendpsychologie  und  Pädagogik 
ein  vielfaches  Interesse,  vor  allem  an  ihrem  Inhalt,  den  seehschen  Dimensionen, 
in  denen  er  sich  bewegt.  In  diesem  Zusammenhang  ist  jedoch  von  ihnen 
ausschließlich  als  Sprachzeugnissen  die  Rede.  Daß  sie  das  auch  sind,  unter- 
Uegt  keinem  Zweifel,  ohne  daß  deshalb  hier  schon  alle  Gesichtspunkte  klar- 
gelegt zu  werden  brauchen,  denen  die  Auswertimg  gerecht  werden  muß. 

Das  Protokoll  des  Lebensgespräches,  der  spontane  Bericht,  der  abgeforderte 
Bericht,  die  Wiederholung  mit  eigenen  Worten,  der  Formulierungsversuch, 
der  Brief,  der  Aufsatz  und  der  literarische  Versuch  sind  Hilfsmittel,  mn  uns 
ganz  allgemein  Belege  über  die  aktive  Seite  der  Sprache  von  Kindern  und 
Jugendlichen  zu  unterrichten,  liefern  Materialien,  aus  denen  wir  auf  den  Stand 
seiner  sprachlichen  Ausdrucksfähigkeit  schließen  können.  Wir  müssen  wo- 
möglich Belege  jeder  Art  für  das  einzelne  Kind  heranziehen  und  dürfen  sicher 
keine  Generahsation  über  die  Sprache  der  Kinder  und  der  Jugend  überhaupt 
ableiten,  die  nicht  auf  alle  diese  Materialquellen  basiert  sind. 

Über  die  rezeptive  Seite  des  Sprachbewußtseins,  über  Sprach  auf fassung, 
Sprachverständnis,  Sprachgeschmack  und  Sprachkritik  müssen  wir  uns  teilweise 
noch  auf  anderen  Wegen  informieren.  Gewiß  zeigen  z.  B.  das  Lebensgespräch 
oder  auch  die  Wiedergabe  den  Grad  des  Verständnisses  an,  aber  es  ist  eine 
durch  die  Forschung  viel  bestätigte  Beobachtung,  daß  das  Sprach  Verständ- 
nis an  Umfang  und  Feinheit  das  aktive  Selbstsprechen  weit  übertrifft;  jeder 
versteht  mehr  Worte  als  er  selbst  gebraucht,  Redewendungen  und  Ver- 
bindungen, die  er  nicht  anwendet;  das  Sprachverständnis  ent«'ickelt  sich 
auch  früher  als  das  aktive  Selbstsprechen,  anders  als  das  aktive  Sprechen. 
Wenn  wir  also  nm-  das  im  aktiven  Ausdruck  steckende  Sprach  Verständnis 
prüfen,  könnten  wir  dies  nicht  in  seiner  ganzen  Entwicklung  fassen. 

Von  den  Hilfsftiitteln,  die  uns  zur  Prüfung  des  Sprachverständnisses  zur 
Verfügung  stehen,  und  die  sich  leichter  experimentell  gestalten  lassen,  ver- 
dienen Hervorhebung:  10.  Die  sprachlichen  Auffassungserhebungen. 

Meistens  sind  sie  bisher  in  quantitativer  Absicht  ausgebaut  worden;  man 
wollte  den  Umfang  der  Sätze  ermitteln,  den  Kinder  dieses  oder  jenes  Alters 
auf  Grund  einmaligen  Hörens  gerade  noch  behalten  können.  Nichts  hindert 
jedoch,  diese  Versuche  auch  zu  quahtativen  Feststellungen  über  Art  und  Grenze 
des  Verständnisses  auszubauen. 

Ich  erwähne  z.  B.  den  einfachsten  Versuch  dieser  Art,  der  ermittelt,  ob  ein 
Kind,  das  ausschließüch  das  Patois  seiner  Gegend  gehört  hat  und  nm-  Dialekt 
sprach  (also  vor  dem  Schuleintritt),  einen  hochdeutschen  Satz  versteht,  der 
inhalthch  einem  längst  verstandenen  Dialektsatz  ganz  genau  entspricht.  Andere 
Varianten  des  Versuches  ergeben  sich,  wenn  man  einen  Gedanken  auf  ver- 
schieden sch\sierige  Weise  ausdrückt,  wenn  man  schließlich  Sätze  wählt,  die 
ihrem  Inhalt  und  Bau  nach  sicher  über  den  Horizont  des  Kindes  oder  Jugend- 
lichen hinausgehen.  Gerade  dabei  wird  es  interessant  sein ,  festzustellen, 
welche  Einzelheiten  etwa  noch  verstanden,  wie  das  übrige  geraten,  ergänzt, 


346  Aloys  Fischer,  Sprachpsychologische  Untersuchungsmethoden 

erfunden,  schließlich  mißverstanden  wird.  Wir  erhalten  in  die  Psychologie 
der  Mißverständnisse  und  falschen  Auffassungen  wertvolle  Einblicke. 

Der  Auffassungsversuch  kann  auch  zum  Leseversuch  umgeändert  werden, 
bei  dem  der  aufzufassende  und  zu  verstehende  Text  ohne  die  Hilfen  des 
lebendig  sprechenden  Menschen,  ohne  Unterschied  der  Betonung  dargeboten 
•\-7ird  und  die  Versuchsperson  selbst  sich  erst  (nach  Überwindung  des 
mechanischen  Teils  der  Leseschwierigkeit^n)  in  den  Sinn  und  Zusammen- 
hang einfühlen  muß,  bis  ihr  das  Verständnis  aufgeht. 

Aus  der  Lesestunde  der  Kinder  wissen  wir,  daß  ein  inhaltlich  unbekanntes 
Lesestück  viel  schlechter  gelesen  wird  als  ein  vei-wandtes,  dessen  Inhalt  voi* 
her  besprochen  wurde,  daß  isolierte  Sätze  von  einiger  Länge  zu  mehr  Ver- 
lesungen Anlaß  geben  als  Sätze  in  einem  zusammenhängenden  Stück,  weil 
die  Verständnishilfen  hier  größere  sind,  sich  allmählich  summieren,  das  ge- 
lesene Stück  schon  auf  das  erstfolgende  vordeutet.  Alle  diese  Verhältnisse 
legen  uns  den  Gedanken  nahe,  die  Methodik  der  Untersuchung  des  Sprach- 
verständnisses in  dieser  Richtung  auszubauen. 

11.  Die  Interpretationvon  vorgetragenen  oder  gelesenen  Zusammenhängen 
ist  ein  weiteres,  freilich  unter  dem  Einfluß  von  schulischen  Hilfen  stehendes 
MitteL  Ob  die  Interpretation  so  einfach  ist,  wie  bei  der  Bedeutungserklärung 
eines  "Wortes  oder  so  kompliziert,  wie  bei  der  Analyse  einer  Dichtung,  macht 
innere  Unterschiede  in  der  Handhabung  der  Methode  aus,  ist  aber  kein  Ein- 
wand gegen  ihre  Verwendung  zur  Prüfung  des  Sprachverständnisses.  Auf 
frühkindlicher  Stufe  freilich  wird  man  sich  mit  der  einfachsten  Form  von 
Interpretation  zufrieden  geben  z.  B.  mit  einer  Reaktion,  die  zeigt,  daß  das 
fragliche  Wort,  der  fragliche  Ausdruck  ungefähr  verstanden  ist,  mit  einem  Satz, 
in  dem  es  richtig  verwendet  wird.  Je  länger  die  Schuleinflüsse  wirken,  je 
mehr  die  Art  der  Schule  ein  Interpretieren  übt,  desto  höhere  Anforderungen 
dürfen  wir  an   das   in  Interpretation  auswirkbare  Sprachverständnis  stellen. 

An  letzter  Stelle  dürften  12.  statistische  Ermittelungen  über  die 
Privatlektüre  zu  nennen  sein.  Solche  liegen  schon  vielfach  vor,  in  päda- 
gogischem Interesse  gemacht,  um  Anhaltspunkte  zur  Bekämpfung  der  kind- 
lichen und  jugendlichen  Neigung  zum  Schund  zu  finden,  aus  psychologischen 
Gründen,  um  der  Interessenverteilung  in  der  Kinderwelt  auf  die  Spur  zu 
kommen  oder  um  zu  ennitteln,  ob  Kinder  lieber  selbst  lesen  oder  sich  lieber 
vorlesen  lassen,  lieber  laut  oder  leise  lesen  und  andere  teils  wertvolle,  teils 
müßige  Fragen  zu  beantworten.  Auch  für  die  Prüfung  der  rezeptiven  Sprach- 
fähigkeiten kann  die  Lektüre  herangezogen  werden.  Man  denke  nur  z.  B. 
an  den  Vergleich  zwischen  der  Höhe  des  mündlichen  und  schriftlichen  Aus- 
drucks eines  Schülers  auf  der  einen,  der  Stilhöhe  seiner  Lieblingslektüre  auf 
der  anderen  Seite,  oder  an  die  Fragen  der  Beeinflussung  der  Ausdrucksfähig- 
keit durch  die  Lektüre,  die  man  in  pädagogischen  Kreisen  so  gern  betont, 
obgleich  sie  noch  niemals  mit  einwandfreien  Methoden  und  in  umfassender 
Weise  zum  Gegenstand  einer  Untersuchung  gemacht  worden  ist. 

Zu  allen  diesen  Quellen,  die  uns  für  die  Masse,  den  Durchschnitt  zur  Ver- 
fügung stehen,  ungleich  ergiebig  und  verschieden  zuverlässig,  aber  zusammen 
v^ohl  iinstande,  uns  zu  belehren,  treten  nun  13.  die  Ausnahmefälle  der 
Sprach  entwickln  ng,  sowohl  jene  an  der  untersten  wie  an  der  obersten 
Grenze,  pathologische  Verkümmerung  und  Unentwickeltheit  der  sprachlichen 
Fähigkeiten  wie  auffallende  Frühreife  und  Sonderbegabung  für  sprachlichen 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  347 


Ausdruck;  es  müssen  herangezogen  werden  14.  die  Sprachfehler  und 
Sprachdefekte,  auch  die  in  der  Breite  der  Norm  liegenden,  im  Laufe  der 
Entwicklung  sich  bessernden  oder  durch  Unterricht  und  Übung  heilbaren,  und 
15.  stellt  das  Verhältnis  zu  fremden  Sprachen  eine  letzte  Möghchkeit 
dar,  sich  über  Sprachbe\\nißtsein  und  Sprachentwicklungsstand  zu  informieren. 
Man  denke  nur  an  die  psychologisch  so  ungemein  wertvollen  Einblicke,  die 
wir  bei  der  Übersetzung  aus  fremden  Sprachen  in  uns  selber  tun  können, 
die  in  den  Finessen  einer  Synonymik  stecken,  und  an  die  geradezu  über- 
raschende Verschiedenheit  unserer  Schüler  im  Hinblick  auf  die  verschiedenen 
Einzelleistungen  des  fremdsprachlichen  Unterrichts,  etwa  an  den  auffallenden 
Unterschied  der  Leistung  bei  der  Übersetzung  ins  Lateinische  im  Vergleich 
zur  Leistung  bei  der  Version,  den  wir  gerade  bei  intelligenten,  sprachbegabten 
Schülern  nicht  selten  finden.  Sprechen  wird  nicht  rational  erlernt,  durch  ein 
Mosaik  von  Regeln  und  bewußten  Anwendungen,  sondern  durch  Einfühlung 
in  den  Geist  einer  Sprache.  Und  diese  Fähigkeit  kann  noch  als  Komponente 
des  Sprachbewußtseins  und  der  Sprachbegabung  (wenn  man  von  einer  solchen 
reden  darf)  analysierend  herausgehoben  werden. 

Dieser  Überblick  soll  nichts  als  zeigen,  auf  wie  vielen  und  w^ie  verschiedenen 
Wegen  man  das  Studium  der  individuellen  Sprache  in  Angriff  nehmen  kann, 
in  Angriff  genommen  hat.  Es  ist  erklärlich,  daß  die  Forschung  nicht  immer 
zu  einstimmigen  Ergebnissen  kam,  selbst  wenn  direkte  Fehler  und  Nachlässig- 
keiten ihre  Arbeit  nicht  außerdem  geschädigt  haben.  Wenn  die  Wiederkehr 
derselben  vermieden  werden  soll;  dann  muß  die  Methodik  selbst  neu  durch- 
dacht und  durchgebildet  werden.  Das  kann  aber  nicht  mehr  „im  allgemeinen" 
geschehen  —  es  gibt  für  sprachpsychologische  Forschung  so  wenig  eine  Universal- 
methode wie  für  andere  Wissenschaftsgebiete  —  sondern  nur  im  Hinblick  auf 
präzis  gestellte  und  scharf  abgegrenzte  Einzelprobleme.  Mit  der  Darstellung 
der  dafür  heute  möglichen  oder  gar  schon  erprobten  Methoden  sind  wir  beim 
Kern  unserer  Aufgabe  angelangt.  Daß  sie  alle  Einzelprobleme  gefunden  habe, 
darf  die  folgende  Übersicht  nicht  behaupten;  aber  weil  mit  jedem  neuen 
Problem  auch  die  Methodenfrage  neu  auftaucht  und  alle  Spezialisierung  der 
Methodik  doch  von  einem  allgemeinen  Boden  erfolgt,  durch  Fortbildung,  Ab- 
änderung, Anpassung  vorher  schon  gebrauchter  ungefährer  Verfahren,  so  war 
der  vorstehende 'Überblick  geboten  und  unvermeidlich.         (Fortsetzung  folgt.) 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Die  Schulforderungen  des  Deutschen  Lehrervereins  haben  nach  den 
Beschlüssen  der  27.  Vertreterversammlung  am  10.,  11.  und  12.  Juni  1919 
nunmehr  die  folgende  Fassung  erhalten: 

L  Wesen  und  Aufgabe  der  Schule. 

1.  Der  Volksstaat  beruht  auf  der  Erziehung  aller  Staatsbürger  zur  höchsten 
Leistungsfähigkeit  und  vollen  sittlichen  Verantwortlichkeit.  Die  öffentliche 
Schule  muß  daher  der  gesamten  Volksjugend  die  Möglichkeit  bieten,  alle 
Anlagen  und  Kräfte  des  Körpers  und  des  Geistes  auszubilden. 

2.  Damit  dem  Bildungserwerb  keinerlei  Hindemisse  und  Beeinträchtigungen 
entgegenstehen,  muß  die  öffentliche  Schule  eine  einheitlich  aufgebaute  und 


348  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


nach  den  Grundsätzen  der  Selbstverwaltung  einheitlich  verwaltete  Volks- 
bildungsanstalt sein,  deren  Zweige  und  Stufen  unter  sich  eng  verbunden  sind, 
3.  Das  Berechtigungswesen  in  seiner  heutigen  Gestalt  ist  aufzuheben.  Der 
Zugang  zu  bestimmten  Berufen  und  Berufsschulen  darf  nicht  vom  Besuch 
bestimmter  Schularten  und  Schulstufen  abhängig  gemacht  werden,  sondern 
muß  allen  Anwärtern  offen  stehen,  die  ihre  Eignung  durch  tatsächhche 
Leistungen  bekunden.  Zu  den  Berufsschulen  in  diesem  Sinne  sind  auch  die 
Hochschulen  zu  rechnen. 

II.  Schulpflicht. 

1.  Die  Schulpflicht  beginnt  frühestens  mit  dem  vollendeten  6.  Lebensjahre 
und  endet  mit  dem  vollendeten  18.  Lebensjahre.  Mindestens  8  Jahre  hindurch 
ist  ihr  in  Schulen  mit  vollem  Tagesunterricht  zu  genügen,  weiterhin  entweder 
in  solchen  oder  in  den  für  beide  Geschlechter  verbindlichen  Fortbildungs- 
schulen, die  als  Erziehungsschulen  auf  beruflicher  Grundlage  auszubauen  sind. 

2.  Für  Kinder  vom  vollendeten  3.  Lebensjahre  an  sind  öffentliche  Kinder- 
gärten einzurichten,  deren  Besuch  im  allgemeinen  freiwillig,  aber  für  Kinder, 
denen  eine  geordnete  häusliche  Erziehung  nicht  zuteil  wird,  pflichtgemäß  ist. 

3.  Der  Erfüllung  der  Schulpflicht  dienen  die  öffentlichen  Bildungsanstalten, 
'deren  Besuch  völlig  unentgeltlich  ist.     Über  das  schulpfUchtige  Alter  hinaus 

sind  vom  Staat  Bildungsmöglichkeiten  zu  schaffen. 

4.  Alle  privaten  Schulunternehmungen,  die  die  Kinder  nach  Stand,  Ver- 
mögen und  Bekenntnis  der  Eltern  absondern,  sind  abzulehnen.  Nicht- 
öffentliche Schulen  als  Ersatz  für  die  Schule  der  allgemeinen  Schulpflicht 
sind  nur  ausnahmsweise  für  besondere  Fälle  aus  ernsten  erzieherischen  Be- 
dürfnissen und  sachlich  zwingenden  Gründen  zuzulassen.  Sie  unterstehen 
wie  die  öffentlichen  Schulen  der  staatlichen  Beaufsichtigung.  Privatschulen, 
die  als  Ersatz  für  öffentliche  Schulen  gelten  sollen,  dürfen  nicht  aus  öffent- 
lichen Mitteln  unterstützt  werden, 

m.  Aufbau. 

1.  Da  sich  die  Anteilnahme  am  Leben  und  Schaffen  des  Volkes  grund- 
sätzlich nach  Befähigung  und  Neigung  entscheiden  muß,  so  kann  auch  die 
Zulassung  zu  den  öffentlichen  Bildungsanstalten  nur  nach  diesen  Grundsätzen 
erfolgen.  Das  gesamte  öffentliche  Bildungswesen  muß  darum  nach  dem 
Plan  der  Einheitsschule  aufgebaut  werden,  der  Unentgeltlichkeit  des  Unterrichts 
und  der  Unterrichtsmittel  für  alle  Zöglinge  und  erhöhte  Fürsorge  durch 
Unterhaltsbeihilfen  für  Unbemittelte  zur  Voraussetzung  hat, 

2.  Für  blinde,  schwachsichtige,  taubstumme,  schwerhörige,  sprachleidende, 
schwach  befähigte,  krankhaft  veranlagte,  sittlich  gefährdete  sowie  für  Krüppel- 
kinder ist  erzieherisch  und  unterrichtlich  besonders  zu  sorgen. 

4.  Schulen  der  verschiedenen  Arten  und  Grade  sind,  entsprechend  den 
tatsächhchen  Bedürfnissen,  in  ausreichender  Zahl  einzurichten  und  auf  das 
Staatsgebiet  zu  verteilen. 

IV.  Schule  und  Religionsunterricht. 

1.  Die  öffentlichen  Schulen  sind  gi-undsätzUch  für  Kinder  aller  Bekenntnisse 
gemeinsam. 

2.  Die  Schule  erblickt  in  der  Erziehung  zur  sittUchen  Persönlichkeit  ihre 
höchste  Aufgabe  und  sucht  diese  durch  das  gesamte  Schulleben  zu  pflegen. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  349 


3.  Der  Religionsunterricht  als  besonderes  Lehrfach  ist  Sache  der  religiösen 
Gemeinschaften. 

4.  Der  Staat  und  die  Gemeinden  überlassen  den  Religionsgemeinschaften 
auf  Antrag  die  Schulräume  zu  den  für  die  Schule  geeigneten  Zeiten. 

5.  Die  Lehrer  haben  das  Recht,  sich  an  der  religiösen  Unterweisung  durch 
freien  Vertrag  mit  den  religiösen  Gemeinschaften  zu  beteihgen. 

6.  Kein  Kind  darf  gegen  den  Willen  der  Erziehungsberechtigten  zur  Teil- 
nahme am  Religionsunterrichte  gezwungen  werden. 

V.  Hilfseinrichtungen  der  Schule. 

1.  In  der  Schulkinderfürsorge  ist  der  Einfluß  der  Schule   sicherzustellen. 

2.  Die  gesamte  schulpflichtige  Jugend  ist  schulärztlich  zu  überwachen. 

3.  Die  bestehenden  Einrichtungen  zur  Ergänzung  und  Verbesserung  der 
Ernährung,  Bekleidung,  Unterbringung  und  Beschäftigung  der  Kinder  in 
Kleinkinderbewahranstalten,  Kindergärten,  Kinderhorten,  Heimschulen,  Schüler- 
werkstätten, Lehrlingsheimen,  Ferienkolonien,  Waldschulen,  auf  Schulwan- 
derungen, im  Landaufenthalt  usw.  sind  zu  erweitern  und  zu  vervollkommnen. 

4.  Darüber  hinaus  sind  je  nach  Bedarf  mit  den  öffentlichen  Schulen  Ein- 
richtungen (Schülerheime)  zur  teilweisen  oder  völligen  Verpflegung,  Bekleidung 
und  Unterbringung  besonders  der  auswärtigen  Schüler  zu  verbinden,  deren 
Benutzung  für  unbemittelte  Schüler  ganz  oder  teilweise  unentgeltlich  ist. 

5.  Für  abgehende  Schüler  ist  unter  Mitwirkung  der  Schule  eine  sachgemäße 
Berufsberatung  zu  schaffen. 

VI.  Lehrerbildung. 

1.  Die  Lehrerbildung  ist  im  Geiste  und  nach  den  Anforderungen  der  Ein- 
heitsschule einheitlich,  aber  den  mannigfachen  Anforderungen  der  einzelnen 
Bildungszweige  und  Bildungsstufen  entsprechend  im  einzelnen  vielseitig  und 
mannigfaltig  zu  gestalten. 

2.  Die  grundlegende  Vorbildung  wird  darum  auf  den  zur  Hochschule 
führenden  allgemeinen  und  Berufsschulen  gemeinsam  mit  den  Anwärtern 
anderer  wissenschaftlicher  und  technischer  Berufe,  keinesfalls  auf  gesonderten 
Anstalten  vermittelt. 

3.  Die  erziehungswissenschafthche  Fachbildimg  erfolgt  auf  der  durch  eine 
erziehungswissenschaftliche  Abteilung  (Fakultät)  erweiterten  Universität. 

4.  Die  für  Ober-  und  höhere  Berufsschulen  erforderliche  fachwissenschaft- 
Uche,  künstlerische  und  berufstechnische  Bildung  wird  durch  entsprechende 
Hochschulstudien  erlangt,  kann  aber  auch  durch  Selbstbildung  erworben 
werden. 

5.  Die  erziehungswissenschaftliche  Abteilung  der  Universität  ist  so  einzu- 
richten, daß  neben  der  Einführung  in  die  Erziehungswissenschaft  die 
praktische  Vorbereitung  für  den  Lehrerberuf  in  vielseitiger  und  den  einzelnen 
Schulverhältnissen  entsprechender  Weise  erfolgt.  Innerhalb  der  erziehungs- 
wissenschaftlichen Abteilung  bestehen  darum  auch  besondere  Einrichtungen 
für  die  Ausbildung  der  technischen  sowie  der  Lehrer  an  Heilerziehungs- 
und an  Berufsschulen. 

6.  Für  die  Fortbildung  aller  Lehrer  sind  Schulsammlungen,  Büchereien 
und  erziehungswissenschaftliche  und  fachwissenschaftliche  Vorlesungen  und 
Übungen    einzurichten    und    bestehende    Einrichtungen    durch    ausreichende 


360  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


staatliche  Unterstützung  zu  entwickeln.  Jeder  Lehrer  erhält  von  Zeit  zu 
Zeit  einen  Urlaub  Zum  Besuch  dieser  Einrichtungen  sowie  zum  Besuch 
anderer  Schulen  und  Erziehungsanstalten. 

VII.  Förderung  und  Pflege  der  Erziehungswissenschaft. 

1.  Auf  der  Hochschule  muß  die  Erziehungswissenschaft  nicht  nur  Gegen- 
stand der  Lehre,  sondern  auch  der  Forschung  sein,  besonders  nach  ihrer 
Beziehung  zu  Staat,  Gesellschaft  und  Wirtschaft. 

2.  Zur  Prüfung  und  Verbesserung  aller  inneren  und  äußeren  Schulver- 
hältnisse, der  Erziehung,  des  Lehrverfahrens,  der  Auswahl  und  Gestaltung 
der  Unterrichtsstoffe,  der  Lehrmittel,  der  Schulgebäude  usw.,  zur  erziehungs- 
wissenschaftlichen  Bearbeitung  der  Schulzählungen,  zur  Beobachtung  der 
Entwicklung  des  Schul-  und  Erziehungswesens  im  Auslande  ist  in  jedem 
Lande  ein  ständiger  Ausschuß  aus  Lehrern  aller  Schulgattungen  und  Nicht- 
schulmännern  der  verschiedensten  Lebensgebiete  und  Gesellschaftsschichten  ein- 
zusetzen, der  sich,  je  nach  dem  Beratungsgegenstande,  durch  Sachkundige  ergänzt. 

3.  Diesem  Ausschuß  liegt  es  auch  ob,  neue  Vorschläge  in  erziehungs- 
wissenschaftlichen Schriften  zu  behandeln  sowie  ihre  Erprobung  in  Schul- 
versuchen, Versuchsklassen  und  Versuchsschulen  im  Rahmen  der  öffentUchen 
Schuleinrichtungen  anzuregen,  insbesondere  auch  alle  von  anderer  Seite 
kommenden  Vorschläge  zu  prüfen. 

Vin.  Anstellung,   Besoldung    und   Amtsbezeichnung  der  Lehrer. 

1.  Die  Anstellung  der  Lehrer  erfolgt  durch  den  Staat,  die  Amtsübertragung 
unter  Mitwirkung  der  Selbstverwaltungskörper  und  unter  Berücksichtigung 
der  Wünsche  der  Lehrenden. 

2.  Für  alle  Lehrer  und  Lehrerinnen  des  Staates  besteht  eine  einheitliche 
Besoldungsordnung.  Die  Lehrer  und  Lehrerinnen  sind  unter  gerechter 
Würdigung  ihrer  Vorbildung  und  ihrer  Arbeit  in  den  Gesamtplan  der  staat- 
lichen Besoldungen  einzuordnen. 

3.  Für  den  Lehrerstand  werden  einheitliche,  die  Ajntsstellung  einfach  und 
schlicht  angebende  Amtsbezeichnungen  eingeführt. 

IX.  Freiheit  und  Selbständigkeit  des  Lehrerstandes. 

1.  Mit  dem  Lehi-amt  dürfen  kirchHche  und  sonstige  Dienstleistungen  nicht 
a  ratsgemäß  verbunden  werden. 

2.  Alle  das  Gewissen  bedrückenden,  die-Freiheit  der  Lehre  und  die  staats- 
bürgerliche Betätigung  der  Lehrer  einschränkenden  Bestimmungen  und  Ein- 
richtungen sind  zu  beseitigen.  Auch  darf  die  Berufung  eines  Lehrers  in 
Ämter  der  Schulverwaltung  oder  Schulaufsicht  nicht  von  seiner  Parteistellung 
abhängig  gemacht  werden. 

X.  Schulgesetzgebung,  Schulverwaltung  und  Schulaufsicht. 

1.  Die  Schule  ist  eine  Veranstaltung  des  Staates,  die  Lehrer  und  Lehrerinnen 
sind  Staatsbeamte. 

2.  Das  Reich  hat  unter  Trennung  der  Schule  von  der  Kirche  und  unter 
Anerkennung  der  notwendigen  Selbständigkeit  der  Schule  ein  Reichsschul- 
gesetz zu  erlassen,  das  die  Einheitlichkeit  des  deutschen  Erziehungswesens 
und  ein  Mindestmaß  von  Bildung  gewährleistet. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  361 

3.  Eine  oberste  Reichsbehörde  für  das  Bildungswesen,  der  ein  aus  er- 
ziehungskundlichen  Fachleuten  und  Vertretern  der  verschiedenen  Berufs- 
stände zusammengesetzter  Reichserziehungsrat  zm*  Seite  steht,  sorgt  für  die 
Wahrung  der  notwendigen  Einheitlichkeit  der  Bildungs-  und  Erziehungs- 
einrichtungen. 

4.  Die  Landesschulgesetzgebung  dmch  die  gesetzgebenden  Körperschaften 
hat  sich  auf  ein  Rahmengesetz  mit  allgemeinen  Richtlinien  zu  beschränken. 
Die  Durchführung  im  einzelnen  ist  Sache  der  Selbstverwaltung.  Ohne  Zu- 
stimmung der  obersten  Selbstverwaltungsstellen  soll  keine  Änderung  der 
Schulgesetze  möglich  sein, 

5.  Die  Schulverwaltung  ist  nach  den  Grimdsätzen  der  Selbstverwaltung 
einheitlich  für  alle  Schulgattungen  zu  gestalten.  Sie  geschieht  auf  allen 
Stufen  durch  Verwaltungskörper,  die  aus  gewählten  Lehrern  aller  beteiligten 
Schularten  und  aus  Vertretern  aller  Volkskreise  zusammengesetzt  sind,  im 
Zusammenwirken  mit  Behörden  des  Staates.  Fachbeiräte  müssen  ihnen  zur 
Seite  stehen. 

6.  Die  mehrklassige  Schule  leitet  und  verwaltet  der  Lehrkörper  unter  dem 
Vorsitz  eines  von  ihm  auf  Zeit  gewählten  Schulleiters  (Obmannes).  Das 
Schulleitungsamt  ist  ein  Ehrenamt.  Besondere  Prüfungen  sind  vom  Schul- 
leiter nicht  zu  fordern.  Der  Schulleiter  ist  nicht  der  Vorgesetzte  der  übrigen 
Lelu-er.     Jeder  festangestellte  Lehrer  ist  in  seiner  Arbeit  selbständig. 

7.  Die  Schulaufsicht  ist  ausschüeßlich  Sache  des  Staates.  Sie  ist  durch 
Fachleute  auszuüben,  die  vom  Staat  unter  Mitwirkung  der  Lehrerschaft  in 
ihr  Amt  berufen  werden.  Die  Berufung  in  den  Aufsichtsdienst  ist  nur  von 
der  Bewährung  im  Amte  abhängig  zu  machen. 

8.  An  den  einzelnen  Schulen  sind  Elternbeiräte  zu  bilden,  die  als  Vertreter 
der  Schulgemeinde  an  der  Verwaltung  der  äußeren  Angelegenheiten  teil- 
nehmen. Den  Elternveitretungen  und  sonstigen  fachkundigen  Staatsbürgern 
ist  auch  auf  den  verschiedenen  Stufen  der  Schulverwaltung  ein  angemessener 
Einfluß  zu  sichern. 

Allgemeine  Grundsätze  zur  Neugestaltung  des  Schulwesens  sind  vom  päda- 
gogischen Ausschuß  des  Zentralinstitutes  für  Erziehung  und  Unter- 
richt aufgestellt  worden.  Sie  sind  hervorgegangen  aus  Verhandlungen,  zu 
denen  Verti-eter  der  wichtigeren  Lehrerverbände  und  der  Hochschullehrer- 
schaft hinzugezogen  waren,  und  sie  sollen  Vorschläge  bieten  für  die  vom  Reichs- 
ministerium in  Aussicht  genommene  Reichsschulkonferenz.  Man  einigte  sich 
auf  eine  Reihe  von  Leitgedanken,  aus  denen  folgende  hervorgehoben  seien: 

„Das  gesamte  öffentliche  Schulwesen  soll  auf  einer  gemeinsamen  Grund- 
schule aufgebaut  und  vom  Geiste  der  Selbstv^erwaltung  und  Selbsh-egierung 
durchdrungen  sein." 

„Die  neue  Schulorganisahon  muß  alle  die  mannigfachen  Schularten,  die 
sie  den  Begabungen  und  Berufen  gemäß  einzurichten  hat,  in  stufen\veiser 
Abzweigung  aufbauen,  in  ein  einheitliches  System  mit  tunUchst  zahlreichen 
Übergangsmöglichkeiten  bringen  und  unter  einheitliche  behördliche  Leitung 
stellen." 

„Alle  Schulgesetze  dürfen  nur  Rahmengesetze  sein,  innerhalb  deren  die 
Freiheit  der  einzelnen  Schulträger  nicht  beeinträchtigt  werden  darf." 


352  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


Von  Einzelheiten  der  Neugestaltung,  über  die  man  sich  mit  großer  Mehr- 
heit verständigte,  seien  folgende  erwähnt: 

„Die  gemeinsame  Grundschule  muß  mindestens  vierjährig  sein;  es  soll  aber 
den  Schulträgern  gestattet  sein,  den  gemeinsamen  Unterricht  bis  zu  sechs 
Jahren  weiter  auszubauen.  Versuche  mit  der  weiterausgebauten  Grundschule 
sind  in  möglichst  weitem  Umfang   ohne  Verzug  zuzulassen." 

„Als  geradlinige  Weiterführung  der  Volksschulen  sollen  Aufbauschulen 
als  neue  Form  der  höheren  Schulen  eingerichtet  werden." 

„Die  Aufbauschule  ist  vornehmlich  als  Sammelschule  einzurichten  zur  Auf- 
nahme der  besonders  beanlagten  Schüler  und  Schülerinnen  vom  Lande  und 
aus  kleinen  Städten." 

Über  den  Ausbau  der  einzelnen  Schularten,  insbesondere  der  Aufbauschule 
und  der  Mittelstufe  des  Gesamtschulwesens  mit  Einschluß  des  Fortbildungs- 
und Fachschulwesens,  sowie  über  die  Fragen  der  Lehrerbildung  und  der 
Schülerauslese  sollen  noch  besondere  Ausschußberatungen  stattfinden. 

Eine  Neuordnung  der  Niederösterreichischen  Landeslehrerakademie  ist  im 

Gange.  Gegenwärtiger  Leiter  der  Anstalt  ist  Prof.  Dr.  Willibald  Kammel,  der 
dort  das  pädagogisch-psychologische  Laboratorium  seinerzeit  begründet  und 
bisher  geleitet  hat  —  eine  Arbeitsstätte  die  immer  mehr  in  ein  Institut  für 
Jugendkunde  umgewandelt  werden  soll  und  als  solches  die  Aufgabe  erhält, 
besonders  die  Begabungsforschung  und  Berufspsychologie  zu  betreiben.  Neu 
geschaffen  werden  an  der  Akademie  eine  Reihe  Seminare,  so  für  Heimat- 
kunde, Deutschkunde,  Arbeitsschulbewegung,  Kunstpädagogik  und  Heil- 
pädagogik. In  der  deutschkundlichen  Abteilung  soll  u.  a.  auch  das  Jugend- 
schriftenwesen eine  besondere  Pflege  finden.  Dem  Seminar  für  Arbeits- 
schulbewegung werden  Werkstätten  angegliedert.  Zur  Verwertung  der  in  den 
einzelnen  Instituten  erzielten  Forschungsergebnisse  ist  eine  neue  Zeitschrift 
„Die  pädagogische  Akademie"  begründet  worden;  sie  wird  Beiträge  zur  theo- 
retischen und  praktischen  Pädagogik  und  deren  Hilfswissenschaften  bringen. 

Begabtenschulen  in  Deutschösterreich  sind  die  drei  staatlichen  Erziehungs- 
anstalten Wien-Breitensee,  Wiener  Neustadt  und  Traiskirchen.  Sie  verfügen 
über  die  besten  Lehrmittel  und  über  besonders  geeignete  Lehrkräfte.  Unter- 
richt und  Verpflegung  im  Schulheim  (Internat)  sind  kostenfrei.  Für  das 
kommende  Schuljahr  wurden  180  Stiftungsplätze  in  den  ersten  Klassen  aus- 
geschrieben. Etwa  verbleibende  Plätze  werden  gegen  Bezahlung  vergeben. 
Die  Aufnahme  erfolgt  nach  dem  vierten  Volksschuljahr.  Gefordert  wird, 
daß  im  Rechnen  und  in  der  Sprache  das  Zeugnis  „gut"  erlangt  ist.  Die 
Leitung  der  Schule,  der  das  Kind  vorher  angehörte,  ist  verpflichtet,  beim 
Unterrichtsamte  einen  Schülerbeschreibungsbogen  einzusenden. 

Die  amtliche  Einführung  des  pädagogisch-psychologischen  Aufnahmever- 
fahrens in  Deutsch -Österreich  ist  durch  Erlaß  des  Unterstaatssekretärs  für 
Unterricht  Otto  Glöckel  angeordnet  worden.  Es  wird  darnach  für  den  Über- 
gang der  Volksschüler  und  -Schülerinnen  in  die  unterste  Klasse  der  höheren 
Schulen  ein  pädag.-psych.  Verfahren  angewandt,  das  der  in  Deutschland  ein- 
geführten Begabungsauslese  ähnelt.  Unter  ausdrücklichem  Hinweis  auf  die 
Ergebnisse   der   modernen  Psychologie  fordern  die  Bestimmungen: 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  353 


„Die  Auswahl  der  sich  zur  Aufnahme  in  die  unterste  Mittelschulklasse 
meldenden  Schüler  (Schülerinnen)  hat  zu  erfolgen 

a)  auf  Grund  von  Schülerbeschreibungen,  die  über  die  beim  Schüler  während 
des  Volksschulunterrichtes  gemachten  Wahrnehmungen  Aufschluß  geben; 

b)  auf  Giiind  einer  Aufnahmeprüfung,  durch  die  nicht  bloß  das  Ausmaß 
der  erworbenen  Kenntnisse,  sondern  hauptsächlich  die  Begabung  des 
Schülers  festgestellt  werden  soll." 

Für  die  Schülerbesctu-eibung  wird  ein  Schema  vorgelegt,  das,  wie  es  scheint, 
dem  Hamburger  Beobachtungsbogen  nachgebildet  ist,  doch  haben  Kürzungen 
und  Änderungen  stattgefunden.  Über  die  Aufnahmeprüfung,  die  von  den 
Lehrern  der  aufnehmenden  Schule  abzuhalten  ist,  heißt  es: 

„Da  sich  die  Aufnahmeprüfung  nicht  bloß  auf  die  Feststellung  eines  be- 
stimmten Ausmaßes  von  durch  den  Volksschulunterricht  erworbenen  Kennt- 
nissen beschränken,  sondern  die  für  den  Eintritt  in  die  Mittelschulstudien 
ausreichende  Begabung  des  Schülers  feststellen  soll,  sind  bei  der  Aufnahme- 
prüfung einerseits  die  Aufgaben  und  Fragen  nach  psychologischen  Gesichts- 
punkten auszuwählen  und  andererseits  die  Leistungen  der  Prüflinge  entspre- 
chend dem  gegenwärtigen  Stande  der  Begabungsdiagnostik  zu  beurteilen. 

Es  kommen  daher  in  erster  Linie  Aufgaben  und  Fragen  in  Betracht,  die 
in  ihren  Lösungen  Art  und  Grad  der  Begabung  (Auffassung,  Gedächtnis, 
Arbeitsart,  sprachUche  Ausdrucksfähigkeit  usw.)   deutlich   erkennen  lassen." 

Die  genauen  Anweisungen  findet  man  abgedruckt  in  dem  amtlichen  Teil 
der  „Volkserziehung;  Nachrichten  des  deutsch- österreichischen  Unterrichts- 
amtes" 1919,  Stück  11.  Im  pädagogischen  Teil  desselben  Heftes  sind  eine 
Reihe  erläuternder  Aufsätze  über  Begabungsproblem,  Begabungsprüfung  und 
Schülerbeschreibung  enthalten. 

ErstmaUg  soll  diese  Aufnahmeform ,  die  eine  psychologisch  gut  geschulte 
Lehrerschaft  voraussetzt,  bereits  im  Herbst  1919/20  zur  Anwendung  kommen. 

Eine  Warnung  vor  dilettantischer  Anwendung  von  Testprüfungen  geht 
von  dem  Hamburger  psychoFogischen  Laboratorium  aus.  Es  laufen  dort  jetzt 
fast  täglich  Anfragen  und  Bitten  mn  Testmaterial  ein.  Auch  andere  Institute 
berichten  von  solchem  Eifer,  ebenso  die  Schriftleitungen  einiger  Fachzeit- 
schriften. Daß  sich  hierin  eine  Gefahr  für  die  päd.  Psychologie  wie  auch 
für  die  Schule  auftut,  ist  von  Fachmännern  \siederholt  nachdrücklich  betont 
worden.  Das  Hamburger  psychologische  Laboratorium  warnt  erneut  vor  ge- 
fährhchem  Übereifer,  indem  es  den  Beantwortungen  der  Anfragen  die  folgende 
„Mitteilung"  beilegt. 

Angeregt  durch  die  Veröffentlichungen  des  psychologischen  Laboratoriums  in  Hambui^, 
ergehen  in  letzter  Zeit  an  dieses  Institut  viele  Fragen  über  die  Anstellung  von  Teslprüfungen 
Die  Fragesteller  haben  meist  den  Wunsch,  diese  Methoden  selbst  praktisch  anzuwenden. 

So  erfreulich  das  rege  Interesse  für  dieses  Gebiet  der  experimentellen  Psychologie  ist  und 
60  wünschenswert  es  ist,  daß  die  in  der  Praxis  stehenden  Pädagogen  sich  durch  eigenes  Erproben 
experimenteller  Metboden  ein  Urteil  über  sie  bilden,  so  notwendig  erscheint  es  doch,  auf  die 
folgenden  Punkte  nachdrücklich  hinzuweisen : 

1.  Jede  Testprüfimg  ist  ein  psychologisches  Experiment  und  unterscheidet  sich  in  wesent- 
lichen Punkten  von  irgendwelchen  Maßnahmen  und  Aufgabestellungen  des  praktischen  Unter 
richts  und  der  Erziehung. 

2.  Jedes  Experiment  unterliegt  also  den  Forderungen,  die  von  der  Methodik  der  psycholo- 
gischen Wissenschaft  aufgestellt  werden.  Diese  Forderungen  sind  nicht  so  leicht  zu  erfüllen 
als   es  auf  den  ersten  Blick  scheint     Jedenfalls  ist  vollkommenes  Vertrautsein  mit  der  Arbei's- 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  23 


354  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

weise  experimentell-psychologischer  Forschung  und  mit  der  Deutung  psychologischer  Ergebnisse 
vor  der  Ausführung  von  Experimenten  durchaus  notwendig.  Der  durchschnittliche  im  Seminar 
empfangene  Psychologieunterricht  reicht  hierzu  nicht  aus;  auch  durch  bloße  Lektüre  ist  die 
erforderliche  Schulung  und  Technik  nicht  einwandfrei  zu  erwerben, 

3.  Ungenügend  vorbereitete,  ohne  die  nötige  Sach-  und  Methodenkenntnis  angestellte  Experi- 
mente, sowie  die  von  falschen  Gesichtspunkten  aus  durchgeführten  Betrachtungen  über  wirkliche 
oder  vermeintliche  Ergebnisse  solcher  Arbeiten  können  nicht  nur  den  Ruf  der  wissenschaftlichen 
Psychologie  schädigen,  sondern  auch  der  gerechtfertigten  Anwendung  der  Psychologie  auf  prak- 
tisch-pädagogische Fragen  bedauerlichen  Eintrag  tun. 

Das  Bremer  Institut  für  Jugendkunde, ')  unter  dem  Vorsitz  von  Dr.  Theodor 
Valentiner  stehend,  hat  auch  über  die  letzte  schwierige  Zeit  hinaus  seine 
Tätigkeit  fortgeführt.  Die  Reihe  der  veranstalteten  Vorträge  befaßte  sich, 
abgesehen  von  den  sechs  Vorlesungen,  die  Prof.  Dr.  W.  Stern  aus  Hamburg 
über  das  Begabungsproblem  hielt,  nicht  mit  jugendkundlichen  Fragen,  Da- 
gegen lagen  die  wissenschaftlichen  Arbeiten  im  engeren  Gebiet  der 
pädagogischen  Psychologie.  Von  einem  Ausschuß  ist  ein  neues  Auslesever- 
fahren für  die  Aufnahme  der  Schüler  in  höhere  Schulen  bearbeitet  und  der 
Schulbehörde  vorgelegt  worden.  Es  bedient  sich  eines  Beobachtungsbogens, 
der  —  wie  seine  Bearbeiter  meinen  —  wesentliche  Fortschritte  bringt.  Eine 
psychologisch  statistische  Untersuchung  befaßt  sich  mit  dem  Religionsunter- 
richte. Sie  bediente  sich  des  Weges  der  Umfrage.  Über  die  Ergebnisse  soll 
demnächst  berichtet  werden.  Im  kommenden  Jahre  müssen  zunächst  die 
begonnenen  Arbeiten,  insbesondere  die  Behandlung  der  Auslese  der  tüchtigen 
Schüler  ihre  Fortführung  erfahren.  Daneben  soll  den  Fragen  des  Jugend- 
schriftenwesens besondere  Mühe  zugewandt  werden.  —  Das  Institut  war 
bisher  wirtschaftlich  nur  auf  die  Zuwendungen  von  selten  seiner  Mitglieder 
und  Freunde  gestellt.  In  seinem  Weiterbestehen  bedarf  es  aber  dringend  der 
erbetenen  staatlichen  Unterstützung. 

Die  Abteilung  für  Jugendkunde  in  Chemnitz  wurde  Mitte  1911  als  Abteilung 
für  experimentelle  Psychologie  und  Pädagogik  im  Chemnitzer  Lehrerverein 
gegründet. 

Sie  verfolgt  den  Zweck,  in  die  experimentelle  Psychologie  und  Pädagogik 
einzuführen  und  zugleich  Anregung  und  Gelegenheit  zu  selbständigen  wissen- 
schaftlichen Arbeiten  auf  diesen  Gebieten  zu  geben.  Dazu  dienen  Vorträge 
in  regelmäßigen  Wochenversammlungen,  wissenschafthche  Kurse  und  Aus- 
führung wissenschaftlicher  Untersuchungen,  Den  Mitgliedern  steht  eine 
Bücherei  der  wichtigsten  pädagogisch-psychologischen  Schriften  zur  Verfügung, 
Vor  dem  Kriege  beschäftigte  sich  die  Abteilung  vorwiegend  mit  den  psycho- 
logischen Grundlagen  des  Rechnens,  besonders  der  Zahlauffassung,  und  mit 
Untersuchungen  über  die  „Beliebtheit  der  Unterrichtsfächer",  Die  erste  Arbeit 
kam  nicht  zum  Abschluß,  während  die  zweite  als  Ergebnis  zwei  Arbeiten 
von  Artur  Lode  zeitigte:  1.  „Die  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  der  Unterrichts- 
fächer" und  2.  „Experimentelle  Untersuchung  über  die  Urteilsfähigkeit  der 
Schulkinder". 

Eine  umfassende  Untersuchung  über  Kinderideale,  die  zugleich  Material 
zur  Bewertung  der  Aussageversuche  liefern  sollte,  konnte  nicht  abgeschlossen 


^)  Vergl.  Bremer  Schulblatt  1919,  Nr,  10,  S.  78:  Institut  für  Jugendkunde  (Jahresbericht  vom 
Schriftführer  Fritz  Heeger). 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  355 

werden,  da  die  Bearbeiter  im  Kriege  blieben  und  das  reiche  Material  verloren 
ging.  Nicht  zum  Abschluß  gelangten  leider  auch,  durch  den  Krieg  ver- 
schuldet, die  „Nachprüfungen  der  Binet- Simon -Bobertagschen  Tests"  an 
Chemnitzer  Kindern.  Seit  Ostern  arbeitet  die  Abteilung,  die  nun  ihren  Namen 
in  „Abteilung  für  -Jugendkunde"  umänderte,  mit  meigt  neuen  Mitgliedern 
(jetzt  etwa  45  Damen  und  Herren).  Arbeitsgebiet  ist  zur  Zeit  das  „Be- 
gabungsproblem". In  einem  längeren  Kursus  wurde  die  Entwicklung  dieses 
Fragengebietes  behandelt.  Neben  der  theoretischen  Behandlung  ging  eine 
Durchprüfung  neuer  Tests  her.  Den  Abschluß  brachte  kürzlich  die  „Be- 
arbeitung eines  Individualbogens".  In  Angriff  genommen  wurde  zuletzt  das 
Arbeitsthema:  „Intelligenzprüfung  nach  Rossolimo". 

Die  Leitung  der  Abteilung  liegt  in  den  Händen  der  Herren  Oberlehrer 
Dr.  Hans  Keller  und  Artur  Lode.  Mitglieder  der  Abteilung  können  alle 
Damen  und  Herren  werden,  die  sich  für  das  psychologisch-pädagogische 
Arbeitsgebiet  interessieren.  Die  wissenschaftlichen  Kurse  'sind  auch  Nicht- 
mitgliedern  gegen  Entrichtung  eines  Beitrages  zugänghch. 

Das  pädagogisch-psychologische  Laboratorium  an  der  Niederösterreichi- 
schea  Landeslehrerakademie  in  Wien  versendet  den  Bericht  über  sein  6.  Ar- 
beitsjahr. Es  kennte,  wenn  auch  beeinträchtigt  durch  widrige  Zeitumstände, 
seine  Tätigkeit  erfreulich  fortführen.  An  der  bei  der  Gründung  gestellten 
Aufgabe  festhaltend,  hat  es  auch  in  dem  Jahr  1918/19  die  Erziehungswissen- 
schaft in  empirischen  Untersuchungen  gepflegt  und  hat  weiterhin  durch  Ver- 
anstaltungen mannigfacher  Art  neben  der  Forschung  auch  der  Lehre  gedient. 
Von  dem  Staatsamt  für  Unterricht  ist  der  verdienstvolle  Leiter  des  Labora- 
toriums, Professor  Dr.  Willibald  Kammel,  mit  seinem  Assistenten  wiederholt 
zu  Sitzungen  beigezogen  worden,  in  denen  jugendkundliche  Fragen  zu  ver- 
handeln waren.  Ebenso  zeigten  andere  höhere  Amtsstellen  reges  Interesse  für 
die  sich  in  stetem  Fortschritte  entv^ickelnde  Arbeitsstätte.  Die  Zuwendungen, 
die  das  Laboratorium  von  der  Niederösterreichischen  Landesverwaltung  erhält, 
gestatteten    einen   weiteren  Ausbau  des  Instrumentariums  und  der  Bücherei. 

Die  Reihe  der  Gegenstände,  die  in  einzelnen  Untersuchungen  von  dem 
Institute  behandelt  wurden,  zählt  auf:  Messungen  zur  Beobachtung  der  kör- 
perliehen Enhvicklung  der  Wiener  Schulkinder  —  Die  Ideale  der  Wiener 
Schulkinder  —  Behebtheit  und  Unbeliebtheit  der  Unterrichtsfächer  —  Experi- 
mentelle Untersuchungen  über  die  mimischen  und  pantomimischen  Ausdrucks- 
symptome der  Aufmerksamkeit  in  ihrer  didaktischen  Wertigkeit  —  Die 
Periodizität  der  psychophysischen  Energie  —  Bestimmung  der  Schulbahn 
von  verfrüht  in  die  Schule  eingetretenen  Kindern  —  Prüfung  der  Unterrichts- 
ergebnisse im  elementaren  Rechnen  auf  Grund  der  Läyschen  Zahlbilder  und 
der  Russischen  Rechenapparate  —  Prüfung  des  heimatkundlichen  Vorstel- 
lungskreises von  Wiener  Schulkindern  —  Leseapparate  zur  Feststellung  der 
schnellsten  und  zugleich  sichersten  Lesbarkeit  der  im  öffentlichen  Leben  am 
häufigsten  vorkommenden  Farbenzusammenstellungen  —  Untersuchung  der 
Beziehungen  zwischen  Schädelumfang  und  Intelligenzgrad  —  Analyse  des 
Bewußtseinsinhalts  neu  eintretender  Schüler  —  Psychologische  Analyse  des 
Traumes  bei  Kindern  —  Die  Psychologie  des  Gerüchtes  —  Vorversuche  zur 
Neugestaltimg  der  Aufnahmeprüfung  an  Mittelschulen  —  Untersuchungen  über 
die  Psychologie  des  Wunderkindes. 

23* 


356  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


Aus  diesen  Untersuchungen  und  Verhandlungen  ist  wie  in  früheren  Jahren 
auch  diesmal  wieder  eine  Anzahl  Veröffentlichungen  hervorgegangen;  andere 
Abhandlungen  sind  für  den  Druck  vorbereitet. 

An  Kursen  veranstaltete  das  Laboratorium  u.  a.  Vorlesungen  an  der  Lehrer- 
akaderaie  über  „Experimentelle  Pädagogik"  (Akademiedirektor  Dr.  W.  Kam- 
mel)  und  über  „Schülerkunde"  (Assistent  Professor  L.  Battista),  ferner  die 
Urania-Lehrkurse  über  „Erziehungslehre  unter  Berücksichtigung  der  experimen- 
tellen Pädagogik"  und  über  „Ausgewählte  Kapitel  aus  der  Kinderpsychologie", 
schließlich  einen  Lehrgang  über  „die  Psychologie  und  Pädagogik  des  Spieles" 
zur  Heranbildung  von  Horterzieherinnen  und  Kindergärtnerinnen.  Auch 
eine  sehr  rege  Vortragstätigkeit  in  Vereinen  und  wissenschaftlichen  Ge- 
sellschaften wurde  entfaltet. 

Die  Neuregelung  des  deutsch-österreichischen  Schulwesens  stellt  nach  den 
uns  vorliegenden  amtlichen  Schriftstücken  hohe  Anforderungen  an  die  psycho- 
logische Schulung  der  Lehrerschaft.  Man  setzt  dabei  offenbar  auch  große 
und  gewiß  berechtigte  Hoffnungen  auf  das  psychologisch-pädagogische  Labo- 
ratorium. 

Das  Laboratorium  für  industrielle  Psychotechnik  an  der  Technischen 
Hochschule  zu  Charlottenburg.  Auf  Anregung  von  Prof.  Schlesinger, 
ord.  Professor  für  Betriebswissenschaft  und  Werkzeugmaschinen  an  der  Tech- 
nischen Hochschule  Charlottenburg,  wurde  von  der  Forschungsgesell- 
schaft für  betriebswissenschaftliche  Arbeitsverfahren  an  derTech- 
nischen  Hochschule  zu  Charlottenburg  die  erste  Hochschulforschungsstelle  für 
industrielle  Psychotechnik  geschaffen.  Das  Laboratorium  ist  als  eine  beson- 
dere Abteilung  dem  Versuchsfeld  für  Werkzeugmaschinen  und  Be- 
triebslehre eingegliedert  und  wird  von  dem  Privatdoz.  Dr.  Walter  Moede 
geleitet.  Die  Betriebswissenschaft  umfaßt  an  der  Technischen  Hochschule 
einen  technischen  Teil,  der  sich  mit  der  Einrichtung  der  Fabriken  befaßt, 
einen  kaufmännischen  Teil,  der  die  kaufmännischen  Organisationen  behandelt 
und  einen  psychotechnischen  Teil,  der  sich  auf  die  Menschen  bezieht,  ihre 
Eignung  für  bestimmte  Arbeitsposten  sowie  ihre  Arbeitsverrichtungen,  deren 
günstigster  Ablauf  ebenfalls  durch  psychotechnische  Studien  zu  gewährleisten  ist. 

Die  beiden  Hauptarbeitsgebiete  des  Laboratoriums  sind  daher  Eignungs- 
forschung sowie  Rationalisierung  der  Arbeit  auf  Grund  von  Bewegungs-, 
Zeit-  und  Ermüdungsstudien. 

Die  Hochschulvorlesungen  umfassen  die  Fabrikorganisation,  ein  Spezial- 
gebiet, das  Prof.  Schlesinger  vorträgt,  und  Psychotechnik  der  industriellen 
Arbeit,  die  von  Dr.  Moede  abgehalten  wird  und  Eignungsprüfung  und  Ra- 
tionalisierung der  Arbeits-,  Anlern-  und  Absatzverfahren  behandelt.  Die 
Psychologie  der  Reklame  wird  in  der  Absatztechnik  kurz  gewürdigt. 

Zur  Ergänzung  der  Vorlesung  dienen  Einführungskurse  für  Studierende 
sowie  Übungen  für  Fortgeschrittene.  Außerdem  ist  ein  großes  psychotech- 
nisches  Praktikum  eingerichtet  für  Ausführung  selbständiger  Arbeiten.  Psy- 
chotechnische Arbeiten  in  dem  Laboratorium  berechtigen  zur  Promotion  an 
verschiedenen  Universitäten  gemäß  besonderen  Vereinbarungen,  sowie  an  der 
Technischen  Hochschule,  wo  der  Dr.  ing.  erworben  werden  kann. 

Neben  diesen  für  die  Hochschüler  berechneten  Kursen  finden  von  Zeit  zu 
Zeit  Spezialkurse   statt  für  praktische  Berufsberater  und  Betriebsingenieure 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  357 

Der  Erlaß  der  vereinigten  Ministerien  vom  19.  März  1919  wünscht  die  Mit- 
arbeit des  Psychologen  bei  allen  größeren  Berufsberatungsämtern,  und  die 
Beschlüsse  des  10.  Kongresses  der  deutschen  Gewerkschaft  fordern  die  Ein- 
führung der  Eignungsprüfung  bei  aUen  angeschlossenen  Organisationen.  Bei- 
spielsweise findet  Anfang  Oktober  ein  Kurs  für  Betriebsingenieure  zur  Aus- 
bildung in  der  Eignungsprüfung  des  industriellen  Lehrlings  statt,  an  dem  vor 
allem  die  Leiter  der  industriellen  Werkschulen  teilnehmen  werden.  Im  An- 
schluß daran  wird  die  Eignungsprüfung  für  Fahrerberufe  gelehrt,  wofür 
zahlreiche  Anmeldungen   der  Vertreter  von  Verkehrsgesellschaften  vorliegen. 

Die  eigentliche  Forschung  und  Begutachtungstätigkeit  des  Laboratoriums 
richtet  sich  nach  den  Aufträgen  der  Industrie.  Als  erste  Aufgabe  wurde  die 
experimentelle  Eignungsprüfung  des  industriellen  Lehrhngs  behandelt.  Die 
Bewährung  der  Methoden  in  der  Praxis  ergab  sich  auf  Grund  einer  mehr- 
fachen Eichung  in  Berliner  Werkschulen.  Die  psychotechnische  Eignungs- 
prüfung des  industriellen  Lehrlings  ist  z.  Zt.  eingeführt  in  der  A.  E.  G.,  bei 
Loewe,  bei  Siemens  &  Halske,  im  Borsig-Werk,  bei  Fritz  Werner,  im  Riebe- 
Werk,  bei  Frister  A.  G.  u.  a.,  die  teils  in  eigenen  Laboratorien  prüfen,  teils 
die  Lehrhnge  ins  Laboratorium  schicken  oder  diesem  die  ganze  Auswahl 
überlassen,  die  dann  gemeinsam  mit  den  Schulen  der  einzelnen  Bezirke  vor- 
genommen wird. 

Von  Behörden  senden  Prüflinge:  das  Jugendamt  der  Stadt  Berlin,  das  Be- 
rufsamt, das  besonders  Handwerksstellen  vermittelt,  und  die  Deputation  für  das 
höhere  Schulwesen,  die  technisch  Hochbefähigte  schickt.  Außerdem  wird  in 
der  Sprechstunde  jeder  Ratsuchende  geprüft  und  beraten.  Für  die  Prüfungen 
sind  feste  Tarife  festgesetzt. 

Andere  Aufträge  beziehen  sich  auf  Spezialarbeiter  und  -arbeiterinnen  der 
Fabriken.  Außerdem  \\airden  Vorstudien  abgeschlossen  für  den  Telephondienst 
und  das  Maurerhandwerk.  Andere  Aufträge  wurden  von  Verbänden,  Innungen 
und  anderen  Vereinigungen  erteilt  und  ausgeführt. 

Über  die  Arbeiten  des  Laboratoriums  wird  laufend  berichtet  in  der  Monats- 
schrift „Praktische  Psychologie",  die  das  gesamte  Gebiet  der  ange- 
wandten Psychologie  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Berufsberatung  und 
industriellen  Psychotechuik  behandelt.  Im  Anschluß  hieran  wird  eine  psycho- 
technische Bibliothek  herausgegeben,  von  der  Band  1  die  Betriebswissenschaft 
und  Psychotechnik  erörtert,  Band  2  der  Lehrlingsprüfung  gewidmet  ist,  wäh- 
rend Band  3  die  Prüfung  und  Ausbildung  des  Straßenbahners  auf  psycho- 
technischer  Grundlage  darstellt  und  schließlich  Band  4  der  Leistungssteige- 
rung durch  Übungstherapie  ge\^^dmet  ist,   (Verlag  Hirzel,  Leipzig.) 

Dem  Laboratorium  stehen  Institutsräume  (mit  Forschungs-  und  Übungs- 
apparaten souie  einer  Handbibliothek)  in  Charlottenburg,  Rosinenstr.  5  zur 
Verfügimg,  außerdem  wird  die  frühere  große  Schießhalle  der  militärtech- 
nischen Akademie  benutzt,  sofern  die  Untersuchungen  große  Räume  und 
besondere  technische  Einrichtungen,  z.  B.  Kinematographen,  Sand-  und  Stein- 
massen und  ähnliches  erfordern.  Als  Assistenten  sind  am  Laboratorium  tätig 
der  Fachpsychologe  Dr.  R.  W.  Schulte  und  die  Dipl.-Ingenieure  W.  Rinne, 
Schilling,  Hamburger,  sowie  cand.  rer.  pol.  Meinhold,  neben  denen  eine 
Reihe  von  Mitarbeitern  und  Praktikanten  weitere  Assistenzdienste  leisten. 

Das  Gebiet  der  industriellen  Psychotechnik  wird  durch  diese  innige  syste- 
matische Zusammenarbeit  von  Fachpsychologen   und  praktischem  Ingenieur 


368  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


Schritt  für  Schritt  erschlossen  werden.  Die  Erfolge  des  hiesigen  Hochschul- 
laboratoriums haben  Veranlassung  gegeben  zur  Einrichtung  ähnlicher  Institute 
an  anderen  Hochschulen. 

Das  Leipziger  Prüf amt  beschäftigt  sich  mit  Eignungsprüfungen.  Es  ist 
als  privates  Unternehmen  gegründet  worden  von  Rudolf  Schulze,  dem 
wissenschaftlichen  Leiter  des  Institutes  für  experimentelle  Pädagogik  und 
Psychologie  im  Leipziger  Lehrerverein,  in  Gemeinschaft  mit  dem  Assistenten 
dieses  Institutes,  Dr.  Johannes  Hand r ick,  und  dem  als  Herausgeber  des 
Pädagogischen  Jahresberichtes  bekannten  Leipziger  Lehrer  Paul  Schlager, 
dem  1.  Schriftführer  des  Institutes.  Prüfamt  und  Institut  arbeiten  in  steter 
Verbindung.  Für  wissenschaftliche  Untersuchungen  stehen  dem  Prüfamt  die 
Apparate  der  Sammlung  Schulzes  zur  Verfügung.  Unter  anderem  befinden 
sich  darunter  das  von  Schulze  für  Berufseignungsprüfungen  konstruierte 
Chronoskop  mit  Schlaghammer  und  Hilfsapparaten  zur  Untersuchung  der 
Willensvorgänge;  ein  Ergograph  nach  Dubois  und  ein  Dynamometer  nach 
Collin  zum  Studium  des  Arbeitsvorganges;  Ästhesiometer  nach  Spearman; 
Farbkreisel,  Reizhaare,  Kälte-  und  Wärmekolben  und  ähnhche  Apparate  zur 
Prüfung  der  Sinnesempfindlichkeit;  für  Massenuntersuchungen  ein  besonders 
geeigneter  Gedächtnisapparat  und  ein  Tachistoskop  zu  Aufmerksamkeitsprü- 
fungen (beide  Apparate  von  Schulze  konstruiert);  ein  Schallschlüssel  nach 
Römer  für  die  genaue  Messung  von  Lese-  und  Rechenzeiten  und  für  andere 
komplizierte  Reaktionen;  zur  Untersuchung  der  Gefühlsvorgänge  die  bei 
Anwendung  der  Ausdrucksmethode  üblichen  Apparate:  Pneumograph  (mit 
Mareyschem  Tambour)  für  Atraungsprüfungen  und  Sphygmograph  zu  Puls- 
untersuchungen usw.;  ein  Tremometer  zur  Untersuchung  der  Eignung  für 
die  Lenkerberufe  (Fheger,  Kraftwagen-  und  Straßenbahnführer  usw.);  für 
die  Prüfung  einfacher  geistiger  Akte  und  für  die  Untersuchung  der  Dauer- 
spannung der  Aufmerksamkeit  werden  die  im  Verlag  der  Dürrschen  Buch- 
handlung herausgegebenen  Schulzeschen  Rechenhefte  und  Buchstabentafeln 
benutzt;  für  die  Untersuchung  höherer  geistiger  Vorgänge  die  vom  Institut 
des  Leipziger  Lehrervereins  hergestellten  Lückentexte  nach  Ebbinghaus  usw. 

Das  Prüf  amt  hat  zunächst  als  Hauptaufgabe  ins  Auge  gefaßt,  über  die 
Eignungsprüfungen  aufzuklären.  Das  geschieht  durch  Führungen  und  Vorträge 
in  denen  die  Vertreter  der  Arbeiterschaft  und  der  Unternehmerkreise  mit  den 
Methoden  der  Eignungsprüfungen  unter  Vorführung  von  Versuchen  bekannt 
gemacht  werden.  So  hielten  die  Leiter  des  Prüfamtes  Vorträge  vor  der  Be- 
ruf sgenossenschaft  der  Bauunternehmer  Leipzigs,  den  Vertretern  der  großen 
Firmen  der  Schwerindustrie,  des  Buch-  und  Verlagshandels,  vor  Angestellten- 
verbänden und  Arbeiterkörperschaften,  vor  Vertretern  von  Versicherungsan- 
stalten und  Transportgesellschaften. 

Später  sollen  in  Verbindung  mit  Unternehmern  und  Arbeitern  in  einzelnen 
Betrieben  Einzeluntersuchungen  über  die  Eignung  für  die  Betätigung  an  be- 
sonderen Maschinen  ausgeführt  werden,  unter  anderem  über  die  Eignung  der 
Arbeiter  für  den  Farbendruck.  Zur  Zeit  ist  eine  Untersuchung  über  Arbeits- 
typen im  Gange,  die  sich  auf  körperhche  und  geistige  Arbeit  erstreckt  und 
über  Arbeitsqualität  und  Arbeitsfähigkeit  des  Prüflings  Aufschluß  geben  soll. 

Eine  Köhier  Arbeitsgemeinschaft  für  normale  und  pathologische  Psychologie 

ist  auf  Anregungen    aus    der  Lehrerschaft  begründet  worden.      Der  wissen- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  359 


schaftliche  Rückhalt  des  Vereins  ist  durch  Zusammenarbeit  mit  dem  Provin- 

zialinstitut  für  klinische  Psychologie  und  mit  deren  Übungsschule  für  Hirn- 
verletzte gesichert.  Als  Aufgaben  verfolgt  die  Vereinigung  nach  einer  Mitteilung 
in  der  Zeitschrift  „Die  neue  Erziehung": 

1.  Wissenschaf thche  Fortbildung  der  Mitglieder  im  Gebiete  der  pädagogisch- 
psychologischen Probleme. 

2.  Besprechung  der  Methoden  der  Begabtenauslese  und  der  Zuweisung 
in  die  Sonderklassen  für  Schwachbefähigte. 

3.  Ergreifung  von  Maßnahmen  zur  Errichtung  eines  Instituts  für  pädago- 
gische Psychologie  in  Köln. 

4.  Allgemeine  Werbung  für  die  Pflege  und  Wertung  der  pädagogischen  Psy- 
chologie in  der  Presse  und  an  maßgebenden  Stellen. 

Eine  Deutsche  Gesellschaft  für  soziale  Pädagogik  ist  unter  dem  Vorsitz 
von  Universitätsprofessor  Dr.  Paul  Natorp  in  Marburg  begründet  worden. 
Sie  setzt  sich  das  doppelte  Ziel,  die  Beziehungen  zwischen  Erziehung  und 
Gemeinschaft  und  die  Gestaltung  einer  Gemeinschaftserziehung,  getragen  vom 
Geiste  wechselseitiger  Hilfsbereitschaft  in  geistigen  Dingen  und  strengster 
sozialer  Gerechtigkeit,  zu  pflegen.  Die  Gesellschaft  wird  eine  Vierteljahrs- 
zeitschrift  für  soziale  Pädagogik  begründen,  als  deren  Herausgeber  Professor 
Natorp,  Stadtschulrat  Dr.  Buchenau   und  Direktorin  Lili  Droescher  zeichnen. 

Aus  der  Materialsammiung  zur  Schülerbewegung  sei  als  neuartiges  Stück 
folgendes  Schreiben  vorgelegt,  das  der  Leitung  der  Berliner  Schulen,  die  von  der 
Korporation  der  Kaufmannschaft  unterhalten  werden,  zugegangen  ist:  „Laut 
der  Massenversammlung  vom  27.  v.  Mts.  treten  hiermit  alle  Pflichtfortbildungs- 
und Fachschüler  in  den  Streik  (Schulstreik).  Wir  Fachschüler  (Korporation 
der  Kaufmannschaft)  erklären  uns  mit  unsern  Genossen  solidarisch.  Der 
Streik  soll  mit  dem  30.  Juni  beginnen  und,  sollten  unsere  Forderungen  nicht 
bewilligt  werden,  noch  nach  den  Ferien  fortsetzen.  Forderungen  der  Fach- 
schüler: 1.  Die  Verlegung  der  Schulzeit  in  die  Arbeitszeit  (vormittags),  2,  Ver- 
staatlichung aller  Privatschulen,  3.  Mitbestimmungsrecht  der  Schülerräte  in 
Schulfragen,  Lehrplänen,  Stundenplan  usw.,  4.  Abschaffung  der  Schulgelder, 
5.  Einrichtung  von  Sportstunden  sowie  von  Spielabenden,  6.  Herausweisung 
der  Prügel-  und  Schimpfpädagogen.  Wir  bitten  von  dem  Schulstreik  und 
seinem  Zweck  Kenntnis  zu  nehmen  und  dies  sämtlichen  Leitern  bekannt- 
zumachen. Es  soll  sich  kein  Lehrer  wagen,  unsere  Streikposten  wegzujagen, 
sonst  müssen  wir  mit  andern  Mitteln  eingreifen. 

Freie  Jugend  Groß-Berlin.  Die  Schülerräte. 

Eine   Auskunftsstelle    für  Kinderfürsorge    hat    das    Zentralinstitut    für 

Erziehung  und  Unterricht  durch  den  Ausbau  der  Abteilung,  die  sich 
bisher  der  Kleinkinderfürsorge  widmete,  geschaffen  und  damit  sein  Auf- 
gabengebiet mn  einen  wichtigen  Arbeitszweig  erweitert.  Neben  der  älteren 
Schwesterabteilung  wird  die  neue  Stelle  die  Entwicklung  der  Schulkinder- 
fürsorge sammelnd,  registrierend  und  "anregend  verfolgen.  Hier  wie  dort 
werden  Auskünfte  auf  Grund  des  sorgfältig  gesammelten  Materials  unentgelt- 
lich an  Behörden,  Vereine  und  Persönlichkeiten  erteilt,  die  aus  den  Erfah- 
rungen oder  der  wissenschaftlichen  Arbeit  auf  dem  Gebiete  der  Kinderfür- 


360  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

sorge  Rat  und  Anregung  schöpfen  wollen.  Eine  Auswahl  wertvoller  Berichte, 
Richtlinien  und  Beschreibungen  werden  in  Form  von  Leihmappen,  Abbildungen 
vorbildlicher  Einrichtungen  als  Glasbilder  erhältlich  sein. 

Die  Auskunftsstelle  für  Kinderfürsorge  ist  bestrebt,  unter  Vermeidung  von 
Doppelarbeit  mit  allen  auf  verwandten  Gebieten  arbeitenden  Körperschaften 
und-  Persönlichkeiten  zusammenzugehen,  den  Austausch  von  Erfahrungen 
und  ganz  besonders  die  Fühlung  zwischen  Schule  und  Jugendfürsorge  zu 
fördern  und  somit  am  Ausbau  einer  planmäßigen  Kinderfürsorge  mitzuwirken. 

Ein  Spreehlehrerseminar  beabsichtigt  das  Zentralinstitut  für  Erzie- 
hung und  Unterricht  in  Berhn  im  Herbst  dieses  Jahres  zu  eröffnen.  Es 
besteht  Bedürfnis  nach  Fachleuten  des  gesprochenen  Wortes,  die  in  allen 
einschlagenden  Fragen  beraten  und  unterrichten  können,  also  befähigt 
sind,  körperliche  und  psychische  Sprachhemraungen  zu  heilen,  die  An- 
gehörigen von  Sprechberufen  zu  zweckmäßiger  Handhabung  der  Sprach- 
werkzeuge zu  erziehen,  in  die  Kunst  des  Vortrages  und  der  öffentlichen  Rede 
einzuführen.  An  vielen  dieser  Fragen  ist  insbesondere  das  Schulwesen 
dringend  interessiert.  Das  Sprechlehrerseminar  soll  darum  solche  sehr  begehrte, 
aber  kaum  vorhandene  Sachverständige  in  einem  wissenschaftlich  und  praktisch 
gegründeten  Lehrgang  heranbilden.  Als  Dozenten  siud  erste  Fachkräfte, 
als  Fachleiter  der  Lektor  an  der  Universität  Berlin  Dr.  Drach  in  Aussicht  ge- 
nommen; der  Psychologe,  Arzt,  Stimmbildner,  der  Schulmann,  der  Vortrags- 
künstler und  der  Parlamentarier  werden  jeder  den  Sprachvorgang  von  seinem 
Gesichtspunkt  aus  darstellen  und  zugehörige  Übungen  veranstalten.  Das 
Seminar  wird  Teilnehmern  beiderlei  Geschlechts  ohne  Vorbedingung  zugäng- 
lich sein;  Anfragen  und  Anmeldungen  sind  an  die  Geschäftsstelle  des  Zentral- 
instituts (W  35,  Potsdamerstr.  120j  zu  richten. 

Nachrichten.  1.  Dr.  Eduard  Spranger,  Professor  für  Pädagogik  und 
Philosophie  in  Leipzig,  hat  den  Ruf  an  die  Berhner  Universität  angenommen. 

2.  Der  Göttinger  Professor  Dr.  David  Katz  ist  als  außerordentlicher 
Professor  für  Pädagogik  und  Philosophie  nach  Rostock  berufen  worden. 

3.  Akademieprofessor  Dr.  Willibald  Kammel  hat  sich  an  der  Wiener 
Universität  als  Dozent  für  experimentelle  Pädagogik  und  pädagogische 
Psychologie  habilitiert. 

4.  Privatdozent  Dr.  Nohl  in  Jena  geht  als  a.  o.  Prof.  für  Philosophie  und 
Pädagogik  an  die  Universität  Göttingen. 

5.  Dr.  med.  Fritz  Chotzen  in  Breslau  hat  daselbst  einen  Lehrauftrag  für 
sexuale  Hygiene  und  sexuale  Pädagogik  an  der  Universität  erhalten. 

6.  Der  Weimarische  Landtag  hat  einstimmig  beschlossen,  an  der  Universität 
Jena  an  Stelle  von  Wilhelm  Reins  persönhchem  Ordinariate  einen  ordent- 
lichen Lehrstuhl  für  Pädagogik  zu  schaffen  und  das  pädagogische  Uni- 
versitätsseminar zu  erweitern. 

7.  Durch  Verordnung  vom  19.  Sept.  1919  ist  in  Preußen  allen  Volks- 
schullehrern  der  Zugang  zum  vollen  Studium  an  den  preußischen 
Universitäten  geöffnet  worden, 

8.  Eine  internationale  Konferenz  für  Erziehung  beabsichtigt  das 
Genfer  „Institut  J.  J.  Rousseau"  im  Jahre  1920  zu  veranstalten. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  361 


9.  Ein  psychologischer  Ausbildungskursus  für  Hilfsschullehrer 
wird  von  der  städtischen  Schuldeputation  Berlin  ')  veranstaltet.  Taubstummen- 
anstaltsdirektor Schorsch  hält  eine  zwölfstündige  Vorlesungsreihe  über  „Die 
heilpädagogische  Behandlung  von  Sprachstörungen";  Professor  Dr.  Stier 
spricht  in  acht  Stunden  über  „Psychische  und  nervöse  Störungen  im  Kindes- 
alter";  Professor  Dr.  Schäfer  handelt  in  Vorlesungen  (30  Std.)  über  „All- 
gemeine Psychologie,  Kinderpsychologie  und  Sprachstörungen".  Die  Teilnahme 
für  Berliner  Lehrkräfte  ist  unentgeltlich. 

10.  In  den  Akademischen  Ferienkursen  an  der  Universität  Leipzig, 
veranstaltet  vom  Sächsischen  Lehrer\'erein  in  der  Zeit  vom  6.-25.  ökt. 
1919,  sind  Psychologie  und  Pädagogik  folgendennaßen  bedacht: 
Psychologische  Übungen  (Rud.  Schulze,  Paul  Schlager,  Dr.  Job.  Hand- 
rick), Begabungsforschung  (Dr.  Handrick),  Praktikum  zur  Begabungsforschung 
(Job.  Schlag),  Unterrichtslehre  der  Arbeitsschule  (Otto  Scheibner),  Schulprak- 
tische Probleme  (Paul  Vogel  und  Otto  Erler),  Grundfragen  der  ethischen  Er- 
ziehung iProf.  Dr.  Eduard  Spranger),  Vergangenheit  und  Zukunft  des  Moral- 
unterrichtes (Prof.  Dr.  Paul  Barth),  Wirtschaf thche  und  politische  Grundlagen 
der  Pädagogik  (Privatdozent  Dr.  Max  Brahn). 

11.  In  den  wissenschaftlichen  Vorlesungen  des  Berliner  Lehrer- 
vereins (91.  Halbjahr:  Winter  1919 — 20)  finden  sich  Philosophie,  Er- 
ziehungswissenschaft und  Seelenkunde  folgendermaßen  vertreten: 
Prof.  Dr.  A.  Siebert:  Ethik,  ihre  Probleme,  Gesetze  und  Hauptrichtungen, 
unter  Bezugnahme  auf  einschlägige  Fragen  der  Pädagogik  (Willens-,  Gefühls- 
und Verstandesbildung).  —  A.  Bogen:  Über  Organisation  der  geistigen  Arbeit 
(mit  Übungen).  —  Stadtschulrat  Dr.  A.  Buchenau:  Einfülirung  in  die  Pi;dagogik 
als  Wissenschaft ;  Pädagogisch-psychologisches  Seminar  (Systematische  Übungen 
über  Natorps  „Pestalozzi").  —  Rektor  Seinig:  Fortsetzung  der  Untersuchung 
für  die  Erziehung  bewußten  Denkens  in  der  Volksschule  (mit  Lehrproben  auf 
der  Unter-,  Mittel-  und  Oberstufe).  —  Unterstaatssekretär  a.  D.  Dr.  M.  H. 
Baege:  Gehirn  und  Seele  (Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie).  — 
Rektor  H.  Rebhuhn:  Einführung  in  die  exakte  Erziehungswissenschaft  (Me- 
thoden und  Ergebnisse  der  experimentellen  Seelenkunde,  angewandt  auf  Un- 
terricht und  Erziehung). 

12.  Ein  Ausbildungskursus  für  die  Eignungsprüfung  industrie- 
eller  Lehrlinge  wird  in  der  Zeit  vom  13. — 18.  Oktober  in  der  Tech- 
nischen Hochschule  zu  Gl  arlottenburg  veranstaltet.  Er  wird  dort  in  dem 
von  Dr.  Moede  geleiteten  Laboratorium  für  industrielle  Psychotechnik  statt- 
finden. Neben  Vorlesungen  und  Kursen,  in  denen  die  Teilnehmer  unter 
fachmännischer  Leitung  selbständige  Prüfungen  nach  bestimmten  Methoden 
vornehmen  sollen,  sind  auch  Besichtigungen  Berliner  Werkschulen  vorgesehen. 
Das  Progiamm  nennt  folgende  Gebiete:  Betriebswissenschaft  und  Psycho- 
technik; Psychologie  der  Jugendlichen;  Prüfung  der  Sinnestüchtigkeit  sowie 
des  räumhchen  Vorstellungsvermögens;  Krankhafte  Störungen  im  Seelen- 
leben der  Jugendlichen;  Übungen  in  der  Untersuchung  von  industriellen 
Lehrlingen  im  Laboratorium  für  industrielle  Psychotechnik;  Prüfung  der  Auf- 


')  Das  Berliner  Hilfsscbulwesen  umfaßte  zu  Beginn  des  Sommerhalbjahres  168  Klassen  mit 
rund  3400  Schülern,  darunter  befanden  sich  etwa  100  Schwerschwachsinnige  in  sechs 
Sammelklassen. 


362  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


merksamkeit  und  der  Reaktionsleistung ;  Prüfung  der  Denkprozesse ;  Prüfung 
des  technischen  Verständnisses  und  konstruktiven  Denkens ;  Eignungsprüfung 
des  Straßenbahnführers  (im  Psychotechnischen  Laboratorium  der  Großen  Ber- 
Uner  Straßenbahn). 

13.  Einen  Lehrgang  für  Studienreferendare  veranstaltet  die  päda- 
gogische Abteilung  des  Zentralinstitutes  (Berlin)  in  der  Zeit  vom  21.  Okt. 
bis  12.  Dez.  1919;  er  bringt  die  folgenden  psychologischen  Darbietungen: 
Die  Bildungs-  und  Erziehungsideale  in  Vergangenheit  und  Gegenwart  (in 
philosophischer  und  psychologischer  Beleuchtung)  (Dr.  Müller  v.  Freien- 
fels) —  Jugendkunde  auf  psychologischer  Grundlage  (Realgymnasialdirektor 
Dr.  Otto)  —  Psychologisches  Praktikum  (Dr.  Bobertag). 


Literaturbericht. 

Dr.  Kurt  Sternheim,  Einlührung  in  die  Philosophie  vom  Standpunkte  des  Kritizis- 
mus. Sammlung  „Wissen  und  Forschen".  Bd.  VIII.  Leipzig  1919.  Meiner,  291  S.  7,00  M. 
Systematisch  orientiert  behandelt  das  Buch  im  ersten  Abschnitte  zureichend  ausführlich  „Das 
Problem  der  Philosophie",  sehr  gründlich  sodann  „Die  Erkenntnis  des  Wahren",  weiter  dann 
weniger  eingehend  die  Ethik.  Der  befremdende  Wegfall  der  Ästhetik  wird  aus  dem  äußeren 
Zwange,  den  Umfang  zu  beschränken,  erklärt.  Geschichtliche  Betrachtungen  sind  in  die  syste- 
matische Darstellung  vielfach,  besonders  bei  den  theoretisch  entscheidenden  Problemen,  ein- 
geflochten. —  Sternheim  bemüht  sich,  den  schwierigen  Zugang  zum  Kritizismus  diu-ch  mancherlei 
Mittel  der  äußeren  und  inneren  Prägung  seiner  gedanklichen  Entwicklungen  gangbarer  zu  ge- 
stalten. In  dem  von  uns  gelesenen  logischen  und  erkenntnistheoretischen  Teile  gelingt  dies  so 
weit,  als  es  eben  ohne  Aufgabe  streng  wissenschaftlicher  Haltung  noch  möglich  ist.  Den  Mut, 
in  einer  philosophischen  Darstellung  wenigstens  solche  Fremdwörter,  die  nicht  zur  wissen- 
schaftlichen Fachsprache  gehören,  möglichst  zu  vermeiden,  bringt  er  nicht  auf.  Tr. 

Dr.  Artur  Buchenau,  Pestalozzis  Sozialphilosophie.  Eine  Darstellung  auf  Grund  der 
„Nachforschungen  über  den  Gang  der  Natur  in  der  Entwicklung  des  Menschengeschlechts". 
Sammlung  „Wissen  imd  Forschen".     Bd.  IX.     Leipzig  1919.     183  S.     5,00  M. 

Durch  diese  Schrift  wird  nach  hundert  Jahren  einem  Wunsche  Herders,  dessen  Gesamt- 
urteil über  Pestalozzis  , Nachforschungen*  die  vernichtende  Selbstkritik  seines  Verfassers  auf 
ein  gerechteres  Maß  brachte,  zu  günstiger  Stunde  die  späte  Erfüllung  —  dem  Wunsche,  es 
möchte  sich  eine  geschickte  und  freundliche  Hand  des  schwer  verständlichen  Werkes,  das  so 
ganz  „die  Geburt  des  deutschen  philosophischen  Genius"  sei,  annehmen.  Buchenau  durfte  sich 
zu  dieser  Aufgabe  berufen  fühlen.  Er  ist  Schüler  Natorps,  der  wie  keiner  sonst  in  den  „sozialen 
Pestalozzi'  eingedrungen  ist,  und  er  hat  die  „Nachforschungen"  jahrelang  in  Übungen  und  Vor- 
lesungen vor  Lehrern  behandelt.  Daß  er  in  seiner  Wertung  des  Buches  m.  E.  zu  hoch  geht, 
ist  der  begreifliche  häufige  Fehler  des  Forschers,  der  seinen  Gegenstand  mit  besonderer  Liebe 
umfängt.  Jedenfalls  bleibt  es  dankenswert,  daß  Buchenau  den  Weg  in  die  schwierigen,  oft 
dunkel  liegenden  und  krausen,  oft  wunderbar  tiefen  und  schönen  Gedankengänge  der  „Nach- 
forschungen" zu  einer  Zeit  gangbar  macht,  in  dem  Pestalozzis  heiße  Sehnsucht  nach  einem 
neuen  Menschentum,  das  selbsteigene  Sittlichkeit  adelt,  den  schweren  Atem  des  beklommenen 
deutschen  Volkes  noch  belebt.  Seh. 

A.  Hunzinger,  Das  Christentum  im  Weltanschauungskampfe  der  Gegenwart. 
3.  Aufl.     Leipzig  1919.     Quelle  &  Meyer.     122  S.     2,50  M. 

In  der  Sehnsucht  und  dem  Ringen  weitester  Kreise  nach  einer  Weltanschauung  ist  Hunzingers 
fesselnde  Auseinandersetzung  mit  den  philosophischen  Richtungen,  die  das  Christentum  be- 
kämpfen oder  abseits  von  ihm  nach  allgemeinerer  Anerkennung  streben,  rasch  zu  dem  Ansehen 
einer  viel  empfohlenen  Schrift  gekommen.  Von  einer  Darstellung  der  Gegenwartskrisis  in  der 
Frage  der  Welt-  und  Lebensanschauung  ausgehend,  zeigt  er  die  christliche  Auffassung  in  Gegen- 
überstellung zur  exakten  Naturwissenschaft  und  zu  den  Ausprägungen,  die  der  Monismus  in 
seiner  natur^istischen,  spiritualistischen  und  konkreten  Form  gefunden  hat.   Ein  Schlußabschnitt 


Literaturbericht  363 


behandelt  schließlich  das  ChristeDtum  und  die  moderne  historische  Denkweise.  Gegenüber  ihrer 
Vorgängerin  sind  in  der  neuen  Auflage  nur  kleine  Verbesserungen  im  Äußeren  notwendig  ge- 
worden.    Wir  wiederholen  unsere  frühere  Empfehlung  der  scharfsinnigen  Schrift.  Tr. 

Johannes   Volkelt,    Professor  der   Philosophie   an  der  Universität  Leipzig,   Religion    und 
Schule.     Leipzig  1919.     Meiner.     64  S.     2,70  M. 

Volkelt  will  der  deutschen  Schule  die  religiöse  Unterweisung  erhalten  wisäten.  Freilich  soll 
sie  deu  Lehrer  nicht  in  innerste  Not  werfen  und  darf  für  ihn  darum  kein  auferlegter  Zwang 
sein.  (S.  54.)  Es  ist  nach  seiner  Überzeugung  auch  unmöglich,  einen  festen  unterrichtlichen 
Gang  wie  in  anderen  Fächern  festzulegen.  „Weder  das  Bejahen  noch  das  Verneinen  des  aus- 
gebildeten, kirchlich  festgelegten  Dogmas  dürfte  als  zum  Kern  der  Religion  gehörig  behandelt 
werden.  Etwas  von  Lessing-Kantischem  Geiste  müßte  in  dem  Religionsunterrichte  walten.'*  (S.  57.) 
„Sodann  aber  ist  es  unerläßlich,  daß  der  Religionsunterricht  die  Fragen  der  Lebensgestaltung 
und  Sittlichkeit  in  seinen  Umkreis  ziehe  und  daß  dies  in  einer  die  moderne  Kultur  berücksich- 
tigenden Weise  geschehe."  (S.  59.)  ,.Ein  reiner  Moralunterricbt  in  der  Volksschule  wird  die  Ge- 
fahr der  Trivialität  und  schulmeisterlichen  Verständigkeit  nur  schwer  vermeiden  können."  (S.  60.) 
Volkelt  entwickelt  diese  Anschauungen  aus  tiefführenden  Darlegungen  über  das  Wesen  der 
Religion,  aus  Erörterungen  über  die  Religion  als  Kulturmacht  und  aus  Aufdeckungen  ihres  Ver- 
hältnisses zu  Wissenschaft,  Kunst  und  Sittlichkeit.  Auch  psychologische  Sachverhalte  sucht  er 
heranzuziehen.  Aber  der  Abschnitt  über  „Religion  und  das  Seelenleben  des  Kindes  (S.  32 — 35) 
geht  vorbei  an  den  neuen  kinderpsychologischen  Forschungen  und  führt  nicht  über  die  Ein- 
fühlungen hinaus,  wie  sie  etwa  in  dichterischer  Schönheit  bekannt  sind  aus  Pestalozzis 
Schriften:  so  in  der  ,, Abendstunde  eines  Einsiedlers"  und  dem  wundervollen  13.  und  14.  Briefe  in 
„Wie  Gertrud  ihre  Kinder  lehrt".  Seh. 

Dr.  Paul  Barth,  ordentlicher  Honorarprofessor  an  der  Universität  zu  Leipzig,  Ethische  Jugend- 
führung. Grundzüge  zu  einem  systematischen  Moralunterricht.  Leipzigl919.  Dürr.  103  S.  5,00  M. 

Paul  Barth  hat  es  für  nicht  zu  gering  erachtet,  dem  deutschen  Volksschüler  für  den  Sitten- 
unterricht einen  Leitfaden  —  „Lebensführung"  betitelt  —  darzureichen,  und  er  —  der  Univer- 
sitätslehrer —  hat  selbst  die  Gestaltung  des  neuen  Schulfaches,  das  neben  oder  an  den  Platz 
der  herkömmlichen  Religionslehre  einrücken  wird,  mit  Fortbildungsschülern  versucht.  Nun 
bietet  er  hier  als  Fr.icht  seiner  Erprobung  eine  für  Eltern  und  Lehrer  bestimmte  Begleitschrift 
zu  seinem  Schülerbuch.  Sie  will  den  Gedankenkreis  der  „Lebensführung"  in  systematischen 
Zusammenhang  bringen.  In  den  begrifflichen  Aufbau  wird  gleichzeitig  Historisches  eingeführt 
und  zur  Belebung  sind  aus  Dichtungen  solche  Stücke  eingeflochten,  die  den  moralischen  Er- 
örterungen stimmungsvolles  Leben  zu  geben  vermögen.  • 

Es  ist  ein  anderes,  aus  einer  Wissenschaft  heraus  den  Schulstoff  auszuwählen,  als  ihn  didak- 
tisch dann  weiterhin  zu  formen.  Barth  meistert  beides.  Daß  er  aus  eigener  Berufstätigkeit  die 
Wirklichkeit  des  Unterrichts  kennt  und  daß  er  als  Verfasser  der  heute  angesehensten  „Unter- 
richts- und  Erziehungslehre",  die  auch  in  mehrere  Sprachen  übersetzt  worden  ist,  im  unter- 
richtswissenschaftlichen Forschen  und  Denken  Bedeutendes  geleistet  hat,  tut  seine  besten  Wir- 
kungen auch  in  diese  kleine  Schrift  hinein:  sie  ist  in  ihren  stofflichen  Entwicklungen  reichlich 
durchsetzt  mit  unterrichtstechnischen  Ratschlägen,  deren  Wichtigkeit  nur  der  ermessen  wird,  der 
selbst  einmal  didaktisches  Neuland  bearbeitet  hat.  Über  den  Erfolg  des  systematisch  betriebenen 
MoralunteiTichtes  ist  dabei  Barth  mit  uns  darin  einig,  daß  nur  dann  eine  treibende  Kraft  ent- 
wickelt wird,  wenn  außer  der  Belehrung  zugleich  die  Persönlichkeit  des  Lehrers,  durchdrungen 
von  einem  tiefsten  Gefühle  für  die  sittlichen  Werte,  ihren  stillen,  mächtigen  Einfluß  ausübt  und 
wenn  das  Gemeinschaftsleben  der  Klasse  in  sich  die  erkannten  Tugenden  betätigt.  „  .  .  .  nieder- 
ziehend wirken  wird  ihn  (den  Schüler)  die  wirtschaftliche  Armut,  die  uns  bevorsteht.  Aber  ge- 
rade sie  kann  ihn  auch  emporheben,  wenn  er  sie  mit  festem  Willen  bekämpft.  Niederziehend 
wirkt  noch  mehr  ein  Teil  der  öffentlichen  Meinung,  der  zu  viel  von  Rechten,  zu  wenig  von 
Pflichten  spricht.  Umso  fester  gilt  es,  der  Jugend  das  Pflichtgefühl  einzuprägen,  vertrauend, 
daß  es  dann  unzerstörbar  werde.  Denn  Goethe  hat  recht:  Niemand  glaube,  die  ersten  Ein- 
drücke der  Jugend  verwinden  zu  können*. 

Es  hätte  sich  wohl  empfohlen,  das  Kapitel  über  das  Seelenleben  ausführlicher  auszugestalten. 
Penn  wir  haben  die  gleiche  Erfahrung  wie  Barth  machen  können,  daß  es  ganz  überraschend  ist, 
wieviel  Verständnis  und  Freudigkeit  reifere  Schüler  den  psychologischen  Fragen  entgegenbringen. 
Um  dieses  natürlichen  Interessenzuges  willen  und  wegen  der  Vertiefung,  die  durch  see  len  kund- 
liche Betrachtungen  den  verschiedensten   Sthulstoffen  möglich  wird,  vertreten  wir  die  alte 


364  Literaturboricht 


Forderung  der  Philanthropen,  daß  auch  in  den  Volksschulen  —  in  den  höheren  Lehranstalten  wird 
Psychologie  als  Fach  nicht  länger  mehr  entbehrlich  sein  können  —  die  Einführung  in  das 
menschliche  Seelenleben  nicht  bloß  so  zufällig,  sondern  bewußt  und  planmäßig  bei  geeigneten 
Gelegenheiten  betrieben  wird.  Der  Moralunterricht  ist  ein  solcher  didaktischer  Ort.  Wir  hätten 
von  Barth,  auch  wenn  wir  heule  bei  der  guten  psychologischen  Vorbildung  der  Lehrer  ihrer 
Fälligkeit  zu  eigener  Gestaltung  ganz  gewiß  sind,  doch  gern  gesehen,  wie  er  im  Einzelnen 
seinen  moralischen  Unterweisungen  die  unerläßlichen  psychologischen  Einschläge  gibt. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Wilhelm  Wundt,  Logik.  Eine  Untersuchung  der  Prinzipien  der  Erkenntnis  und  der 
Methoden  wissenschaftlicher  Forschung.  L  Bd.  Allgemeine  Logik  und  Erkenntnistheorie. 
4.  neubearbeitete  Auflage.     Stuttgart  1919.    Ferdinand  Enke.    654  S.     3<',00  M. 

Ehrfürchtig  wie  einem  Wunderbaren  schaut  die  wissenschaftliche  Welt  dem  Schaffen  des 
hochbetagten  Wundt  an  seinem  literarischen  Werk  zu.  Die  neue  Auflage  seiner  Logik  ist  nicht 
ein  bequemer,  wenig  veiänderter  Abdruck,  sondern  sie  läßt  beim  ersten  Zublicken  erkennen, 
wie  die  Hand  des  87jährigen  neugestaltend  und  weiterführend  an  ihr  gearbeitet  hat.  Nicht 
so  freilich,  daß  Wundt  sich  weitläufij^  mit  den  neueren  einflußreichen  Richtungen  kritisch  aus- 
einandersetzte. Aber  er  arbeitet  den  Grundgedanken  seines  Werkes,  dem  er  seit  dem  Erscheinen 
der  ersten  Auflage  im  Jahre  1879  treu  geblieben  ist,  vielfach  noch  entschiedener  und  gründ- 
licher heraus.  Unbefangen  von  den  Vorurteilen  einer  tausendjährigen  Überlieferung,  will  er 
seine  Logik  auf  den  wirklichen  Tatbestand  des  Denkens  begründen.  Quellen  logischer  Erkennt- 
nis sind  ihm  darum  einmal  die  Sprache,  als  das  lebendige  Zeugnis  dafür,  wie  talsächlich  ge- 
dacht wird,  und  die  gesicherten  und  erfolgreichen  Verfahrungsweisen,  deren  sich  die  wissen- 
schaftliche Forschung  im  Dienste  des  Erkennens  bedienen.  Dabei  verwahrt  sich  Wundt  auf 
das  entschiedenste  dagegen,  daß  seine  Anschauungen,  wie  es  u.  a.  Husserl  in  seiner  Beurteilung 
Wundts  tat,  in  die  Richtungen  einer  psychologislischen  Logik  eingereiht  werden.  In  der  Tal  weist 
Wundt,  was  er  auch  u.  a.  in  einer  Abhandlung  dieser  Zeitschrift  ')  scharf  auseinandergesetzt 
hat,  der  Psychologie  und  der  Logik  ganz  und  gar  verschiedene  Aufgaben  zu,  die  unter  anderen  Vor- 
aussetzungen und  anderen  Methoden  zu  erfüllen  sind.  Befaßt  sich  die  psychologische  Unler- 
suchung  mit  dem  Gesamtbereich  unseres  Seelenlebens  in  seiner  unmittelbaren  Wirklichkeit  imd 
ohne  Rücksicht  auf  seinen  Erkenntnisinhalt,  so  soll  die  Logik  auf  eigenartigem  Wege  die  Vor- 
gänge des  Erkennens  erforschen,  die  eine  Bedeutung  für  unser  praktisches  Denken  und  für  die 
Wissenschaft  besitzen.  „Während  die  Psychologie  uns  lehrt,  wie  sich  der  Verlauf  unserer  Ge- 
danken wirklich  vollzieht,  will  die  Logik  feststellen,  wie  er  sich  vollziehen  soll,  damit  er  zu 
wissenschaftlichen  Erkenntnissen  führe."  Damit  weisen  freilich  die  Aufgaben  der  Logik  gebie- 
ten^ auf  die  psychologische  Untersuchung  zurück.  „Sollen  die  Gesetze  des  logischen  Denkens 
nicht  als  gegebene  unerklärba^e  Tatsache  gellen,  so  werden  sie  vor  allem  bei  ihrem  Ursprung 
in  der  inneren  Erfahrung  aufgesucht  werden  müssen."  Neben  der  Darstellung  der  logischen 
Normen  verlangt  darum  eine  wissenschaftliche  Darstellung  der  Logik  eine  „psychologische  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Denkens".  Wie  diese  in  dem  ersten  Band  der  Logik,  der  sonst  noch 
die  Formen  des  Denkens,  dann  die  Entwicklung  und  die  Prinzipien  des  Denkens  bringt,  in  Kürze 
abgehandelt  wird,  ist  ein  Meisterstück  Wundtscher  Darslellungsknnst.  Seh. 

Dr.  Paul  Schuster,  Universitätsprof.  in  Berhn,  Das  Nervensystem  und  die  Schädlich- 
keiten des  täglichen  Lebens.  (Sammlung  „Wissenschaft  und  Bildung".)  Zweite,  neu 
bearbeitete  Auflage.     Leipzig  1918.     Quelle  &  Meyer.     137  S.  mit  16  Abb.     1,50  M. 

Der  Schwerpunkt  dieser  trefflichen  Schrift,  die  bald  nach  ihrem  ersten  Erscheinen  auch  ins 
Russische  übersetzt  worden  ist,  liegt  in  Darlegungen  über  Schädlichkeiten,  die  unser  Nerven- 
system treffen  können,  und  in  Belehrungen  zur  Erhaltung  seiner  Gesundheit.  Nur  einleitend 
wird  einiges  Unerläßliche  über  Bau  und  Funktionen  geboten.  Es  wird  durch  diese  Beschränkung 
Raum  gewonnen  für  eine  um  so  weiter  ausgreifende  und  umfassendere  Darstellung  des  Gebietes 
in  ärztlicher  Betrachtung.  Erstaunlich  ist  es,  welch  reiche  Beziehungen  der  Verfasser  von  seinem 
Gegenstande  aus  zu  den  verschiedensten  Erscheinungen  des  persönlichen  und  kulturellen  Lebens 
aufzudecken  vermag  und  wie  er  so  im  besten  Sinne  aufklärend  und  volkserzieherisch  wirkt.  Als 
Beispiel  sei  aus  vielem  herausgehoben,  wie  die  Ausführungen  über  die  mannigfachen  Gifte  sich 
mit  gesellschaftlichen  Sitten  und  Gebräuchen  beschäftigen  und  wie  die  Darstellung  über  die 
Wirkungen  von  Unfällen  hinführen  zu  Betrachtungen  über  das  Versicherungswesen.    Ein  beson- 

')  Logik  und  Psychologie.    Jahrgang  X,  S.  Iff. 


Literaturbericht  365 


deres  Kapitel  ist  den  psychischen  Einflüssen  auf  das  Xervensystem  gewidmet.  Unter  anderem 
behandelt  Schuster  auch  die  Erscheinung  der  psychischen  Ansteckung  und  der  geistigen  Epidemien. 
Für  die  heute  so  überaus  wichtige  Frage  der  Berufswahl  wird  das  Buch  wertvoll  durch  die  Ab- 
schnitte über  Berufsschädlichkeiten  und  über  besonders  gefährdete  Berufsarten,  zu  denen  vor  allem, 
wie  statistisch  von  Schuster  belegt  und  aus  der  Eigenart  der  Unterrichtsarbeit  und  aus  der 
Lebenslage  erklärt  wird,  der  Lehrberuf  zählt  (S.  114).  Schulpädagogisch  bedeutsam  ist  das 
Schlußkapitel  des  Buches.  Es  behandelt  die  Frage  der  Anstrengung  und  wendet  sich  dabei 
auch  den  nervösen  Erscheinungen  bei  Prüflingen  und  der  Frage  der  Schülerüberbürdung  zu.  Die 
abschließenden  Darlegungen  beschäftigen  sich  mit  der  Erziehung  durch  die  Eltern.  Nachdrück- 
lich wird  das  Haus  hier  auf  die  Schädigungen  aufmerksam  gemacht,  die  der  Gesundheit  der 
Nerven  durch  Überhitzung  der  Phantasie  und  durch  Überspannung  des  Ehrgeizes  drohen. 

Wir  wünschten,  daß  dieses  volkserzieherische  Buch  in  weitesten  Kreisen  seine  guten  Wir- 
kungen ausüben  könnte. 

Zschopau.  Paul  Ficker. 

A.  Meinong,  Beiträge  zur  Pädagogik  und  Dispositionstheorie.  Eduard  Martinak  zur 
Feier  seines  60.  Geburtstages  dargebracht  von  Fachgenossen,  Schülern  und  Freunden.  Leip- 
zig 1919.    A.  Haase.    165  S.    12.50  M. 

Die  drei  Beiträge,  die  den  Eingang  dieser  Festschrift  bilden  und  von  Meinong,  Höfler  und 
einer  Schülerin  Maitinaks  verfaßt  sind,  würdigen  die  Persönlichkeit,  der  die  nachfolgende  wissen- 
schaftliche Gabe  gewidmet  ist.  Sie  reicht  vorerst  eine  Reihe  kürzerer  Abhandlungen  dar, 
die  in  das  Gebiet  der  Dispositionstheorie  führen.  Meinong  selbst  gibt  eine  klare  Ana- 
lyse des  Begriffes  der  Disposition  und  definiert  sie  als  Zweckkönnen.  Prof.  Richard  Meister 
untersucht  dann  die  pädagogische  Bedeutlang  des  Dispositionsgedankens.  Er  stellt  dar,  wie  jedes 
Unterrichtsfach  als  ein  Dispositionssystem  zu  erfassen  ist  und  in  eine  Kette  von  dispositions- 
bildenden didaktischen  Grundakten  aufgelöst  werden  muß.  Es  schließt  sich  eine  Abhandlung  über 
die  Begabungsforschung  an.  Besonders  wichtig  war  uns  dann  eine  Untersuchung  des  Privatdozenten 
Dr.  Otto  Tumlirz,  die  darauf  abzielt,  die  Unterschiede  zwischen  Wissens-  und  Fragebegehren 
herauszuarbeiten.  Ebenso  bringt  der  Aufsatz,  in  dem  Ernst  Mally  sich  mit  der  Begriffsbildung 
beschäftigt,  nicht  unbeträchtliche  wissenschaftliche  Ausbeute.  Eine  weitere  Folge  von  Arbeiten 
bewegt  sich  im  Felde  der  pädagogischen  Theorie  und  Praxis.  Diese  uns  zum  Teil  femerliegenden 
und  darum  überschlagenen  Beiträge  behandeln  die  Prüfung  der  Reife,  die  Didaktik  des  physi- 
kalischen Schulunterrichtes,  den  Werteausgleich  im  Schulleben  und  das  Thema:  Intuition  und 
Jugend. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

K.  Bühler,  Die  geistige  Entwicklung  des  Kindes.  Jena  1918.  Fischer.  378  S,  10  M. 
K.    Reumuth,     Die     logische     Beschaffenheit     der     kindlichen     Sprachanfänge. 

Sammlung    von    Abhandlungen,    herausgegeben    von    E.    Spranger    Nr.    III,      Leipzig    1919. 

Dürr.     68  S.     3,00  M. 

Die  beiden  Schriften  sind  an  Umfang  und  allgemeiner  Bedeutung  recht  verschieden ;  aber 
ihre  gemeinsame  Besprechung  rechtfertigt  sich,  weil  in  beiden  eine  neue  Wendung  der  Kindes- 
psychologie zum  endgültigen  Durchbruch  kommt,  die  sich  in  früheren  Werken  dieses  Gebiets 
bereits  vorbereitet  hatte.  Es  handelt  sich  um  die  Anwendung  der  modernen  Denkpsychologie 
auf  die  ersten  Anfänge  des  Seelenlebens. 

Als  die  Kindespsychologie  ihre  ersten  wissenschaftlichen  Schritte  tat,  hatte  sie  sich  zunächst 
gegen  einen  falschen  Intellektualismus  zu  wehren,  der  die  seelischen  Frühstadien  kritiklos  nach 
der  Analogie  des  entwickelten  Seelenlebens  deutete  und  von  „Schlüssen",  „Allgemein-Begriffen" 
usw.  sprach,  wo  rein  assoziative  Mechanismen  oder  Äußerungen  bloßer  Affekte  vorlagen.  Aber 
dies  Bestreben,  die  Anfänge  so  primitiv  wie  möglich  zu  fassen,  ging  nun  nach  der  andern 
Seite  zu  weit;  und  da  setzt  jetzt  die  neue  Denkpsychologie  als  wohltätige  Reaktion  ein.  Diese 
Richtung  ist  bekanntlich  durch  die  Phänomenologie  Husserls  einerseits,  durch  die  Würzburger 
Schule  Külpes  andererseits  bestimmt;  sie  hat  allmählich  unsere  Auffassung  des  Seelenlebens 
wesentlich  umgewandelt,  freilich  zunächst  des  reifen,  erwachsenen  Seelenlebens,  welches  der 
phänomenologischen  Innenschau  und  der  experimentellen  Selbstbeobachtung  zugänglich  ist.  Sie 
hat  uns  davon  überzeugt,  daß  der  Versuch,  das  geistige  Leben  allein  aus  Vorstellungen  und 
ihren  mechanischen  Verknüpfungen  zu  verstehen,  gänzlich  in  die  Irre  geht,  daß  die  eigentlichen 
Denkinhalte  (unanschauliche  Gedanken,  Bewußtsein  der  Gewißheit,  Relationsbewußtsein  usw.) 
neben  den  Vorstellungen  eine  eigene  Gruppe  von  seelischen  Erscheinungen  darstellen  und  daß 


366  Literaturbericht 


die  Denkakte  (das  Erfassen  eines  objektiven  Sachverhalts,  das  Fällen  eines  Urteils,  das  Lösen 
einer  Aufgabe)  in  ihrer  sinnvollen  Zielstrebigkeit  niemals  in  blol3  assoziative  Vorstellungs- 
verknüpfung aufgelöst  werden  können. 

Nun  gilt  es,  diese  neuen  Gesichtspunkte  auf  die  ersten  Stadien  der  seelischen  Entwicklung 
zu  übertragen.  Groos  und  ich  selbst  hatten  in  unsern  Werken  über  Kindheitspsychologie  bereits 
die  grundsätzliche  Bedeutung  der  Denkpsychologie  auch  für  die  Entwicklungsprobleme  betont  und 
in  einer  Reihe  von  Einzelanwendungen  von  ihr  Gebrauch  gemacht.  Aber  die  Probleme  sind 
so  schwierig,  die  Fülle  der  neuen  Aufgaben  und  Gesichtspunkte  so  groß,  daß  die  Hauptarbeit 
erst  noch  zu  leisten  ist.  Und  für  diese  liefern  die  beiden  heute  zu  besprechenden  Bücher 
wertvolle  Beiträge. 

Bühlers  stattliches  Werk  ist  hervorgegangen  aus  einem  kleinen  1911  veröffentlichten 
Beitrag  zu  einem  medizinischen  Handbuch,  ist  aber  von  Grund  aus  neu  geschrieben.  Der 
Krieg  hat  bewirkt,  daß  Abfassung  und  Druck  sich  durch  eine  Reihe  von  Jahren  hinzogen, 
so  daß  nicht  immer  der  neueste  Stand  der  Forschung  berücksichtigt  werden  konnte  und  manches 
vom  Verfasser  als  noch  nicht  gelöst  und  geleistet  genannt  wird,  was  inzwischen  bereits  Be- 
arbeitung gefunden  hatte.  B,  gehört  bekanntlich  zu  den  führenden  Forschern  der  Würzburger 
denkpsychologischen  Schule,  und  deshalb  ist  der  hierauf  bezügliche  Teil  des  Buches  der  weitaus 
bedeutendste.  Aber  der  Rahmen  des  Buches  ist  weiter  gespannt;  es  will  die  gesamte  geistige 
Entwicklung  umfassen.  (Gemüt  und  Willensleben  treten  zurück.)  Und  so  werden  denn  die 
Anfänge  des  Seelenlebens,  die  Entwicklung  der  Raum-  und  Zeitauffassung,  des  Sprechens, 
Zeichnens,  Vorstellens  behandelt,  ehe  das  Denken  selbst  zur  Besprechung  kommt.  Während 
sich  einige  Kapitel  referierend  an  die  Darstellung  des  schon  Bekannten  halten  (z.  B.  bei  der 
Sprache),  bringen  andere  sehr  fruchtbare  neue  Gesichtspunkte,  so  besonders  das  Kapitel  über 
das  Zeichnen,  in  welchem  die  Ähnlichkeits-  und  Gegensatz-Beziehungen  des  Zeichnens  zum 
Sprechen  herausgearbeitet,  die  besonderen  seelischen  Bedingungen  der  übernormalen  zeichnerischen 
Begabung  und  die  Parallelen  der  Kinderzeichnung  zu  den  prähistorischen  Höhlen-Zeichnungen 
besprochen  werden  —  ferner  die  Ausführung  über  Märchenalter  und  Märchenphantasie,  wobei 
sich  B.  auf  eingehende  literatur-psychologische  Studien  seiner  Gattin  stützen  konnte'). 

War  schon  bei  den  bisher  genannten  Kapiteln  fortwährend  auf  den  Einschlag  von  denk- 
psychologischen  Momenten  in  die  Auffassungs-,  Darstellungs-  und  Phantasietätigkeit  Bezug 
genommen,  so  beschäftigt  sich  nun  das  7.  Kapitel  ausschließlich  mit  der  Entwicklung  des 
Denkens.  Hierbei  holt  Bühler  zum  Teil  weit  aus,  gibt  allgemeine  psychologische  Betrachtungen 
und  Analysen  wertvoller  Art,  deren  Anwendung  auf  das  Kind  zum  Teil  erst  als  Anregung  und 
Aufgabe  für  künftige  Forschungen  hingestellt  wird,  setzt  sich  mit  andersartigen  Standpunkten 
{7.  B,  mit  G.  E.  Müllers  Lehre  von  der  Erinnerungsgewißheit)  auseinander,  kurz,  läßt  uns  die 
ganze  Schwierigkeit  der  Problematik,  aber  auch  den  ganzen  Reichtum  dessen,  was  schon  im 
frühen  Seelenleben  des  Kindes  an  Denkhandlungen  vollzogen  wird,  ahnen.  Dabei  ist  B.  stets 
sehr  vorsichtig;  er  sucht  zunächst  überall  mit  einfacheren  Erklärungen  auszukommen,  läßt  den 
Vorstellungs-Assoziationen  und  Gedächtnisspuren,  den  Gewöhnungen  und  Übungen  weitgehendes 
Recht,  zeigt  aber  überall,  wie  in  dem  Anerkennen  von  Sachverhalten,  im  Fällen  echter  Urteile, 
in  der  Namengebung,  im  Erfassen  kausaler  Beziehungen  usw.  die  Grenzen  des  bloßen  Assoziations- 
spiels endgültig  überschritten  werden.  Sehr  wertvoll  waren  hierbei,  insbesondere  für  die  Er- 
forschung des  vorsprachlichen  Denkens,  Analogien  aus  der  tierischen  Intelligenz.  Liegt  doch 
seit  kurzem  in  den  Untersuchungen,  die  W.  Köhler'^)  in  der  Affenstation  auf  Teneriffa  an 
Schimpansen  angestellt  hat,  eine  nach  Inhalt  und  Methodik  geradezu  klassische  Studie  über 
tierisches  Denken  vor,  die  mit  Recht  von  Bühler  herangezogen  wird.  Köhler  hat  gezeigt,  daß 
Affen  imstande  sind,  bei  neuartigen  Situationen  (z.  B.  wenn  eine  begehrte  Frucht  nicht  auf 
einem  der  eingeübten  Wege  erreichbar  ist)  sich  zu  helfen,  indem  sie  Erfindungen  machen,  sich 
Werkzeuge  verschaffen  und  schaffen,  Kisten  herbeiholen  und  hinaufklettern  usw.  Diese 
Handlungen  machen  durchaus  den  Eindruck  des  Sinnvollen,  und  es  ist  nur  die  Frage,  ob  es 
sifh  dabei  um  wirkliche  „Einsicht",  Überlegung,  Urteilsfähigkeit  handelt,  was  Köhler  auf  Grund 
seiner  persönlichen  Beobachtung  mit  Bestimmtheit  behauptet,  oder  ob  man  nur  von  „Einfällen* 
sprechen  darf,  wozu  Bühler  neigt.  Von  welch  entscheidender  Wichtigkeit  solche  Tieranalysen 
für  die  Frage  sein  können,  ob  und  in  welcher  Weise  ein  wirkliches  Denken  ohne  Sprache  auch 
beim  Menschen  möglich  sei,  ergibt  sich  von  selbst. 

*)  Vgl.  das  inzwischen  erschienene  Buch :  Charlotte  Bühler,  Das  Märchen  und  die  Phantasie 
des  Kindes.     Beiheft  17  zur  Zeitschrift  für  Angewandte  Psychologie.     Leipzig  1918. 

^  Intelligenzprüfungen  an  Anthropoiden  I.  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  der 
Wissenschaft.     1917.     Physik.-math.  Klasse  Nr.  1. 


Literaturbericht  367 


Die  Schlußabschnitte  des  bedeutenden  Bühler' sehen  Buches  behandeln  biologische  Probleme, 
die  Ursachenfrage  der  geistigen  Entwicklung  und  die  Bedeutung  des  Spiels.  — 

Viel  enger  ist  die  Aufgabe,  die  sich  Reumuth  gestellt  hat  und  mit  Scharfsinn  zu  lösen 
versucht.  Er  beschränkt  sich  auf  die  Anfangsstadien  des  kindlichen  Sprechens,  deren  „logischen" 
Gehalt  er  festzustellen  unternimmt.  Er  fragt:  Was  meint  das  Kind  mit  seinen  ersten  sprach- 
lichen Ausdrücken?  —  und  sieht  in  diesem  „Meinen*  bereits  ein  logisches  Verhalten  in 
Husserl'schera  Sinne.  Denn  sobald  die  Sprache  mehr  als  ein  bloßes  Lallen  oder  Nachahmung 
ist,  sobald  sie  etwas  ausdrücken  will,  ist  dieses  , Etwas"  ein  transsubjektiver  Gegenstand,  kein 
bloßes  Traumwirrsal  von  Vorstellungen.  Dieser  „Objektivierungsprozeß"  wird  nun  ausführlich 
im  Anschluß  an  Husserls  Lehre  von  den  intentionalen  Akten  besprochen,  aber  auch  die  Lehre 
anderer  Logiker  und  Denkpsychologen,  insbesondere  auch  Erdmanns  Scheidung  zwischen 
formuliertem  (sprachlichem)  und  intuitivem  (nicht  sprachlichem)  Denken  wird  herangezogen. 

R.  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  bereits  vor  dem  Beginn  des  sinnvollen  Sprechens  zwei 
logische  Leistungen  vom  kindlichen  Geist  vollbracht  werden:  das  Herausheben  einzelner 
Empfindungen  aus  dem  verworrenen  psychischen  Gesamtzustand  und  das  Herstellen  einzelner 
transsubjektiver  Beziehungen.  Mit  der  Sprache  selbst  beginnt  sich  dann  allmählich  das 
Begriffsbewußtsein  zu  entwickeln;  zunächst  beschränken  sich  die  Bedeutungen  auf  individuelle 
Gegenstände,  die  als  identische  immer  wiedererkannt  werden  („Eigennamen");  erst  langsam 
und  mit  Zwischenstufen  kommt  die  Erkenntnis  des  Gemeinsamen  und  Allgemeinen  zustande. 

Zum  Schluß  betrachtet  R.  kritisch  die  Lehren  anderer  Psychologen  über  die  Sprachanfänge 
(darunter  auch  des  Referenten),  denen  er  eine  zu  geringe  Berücksichtigung  des  Logischen  und 
eine  zu  starke  Betonung  des  reinen  Vorstellungsmechanismus  vorwirft. 

Sicherlich  hat  R.  mit  dieser  Kritik  in  manchen  Punkten  recht:  aber  nun  geht  er  seinerseits 
in  der  Logisierung  der  kindlichen  Sprachanfänge  zu  weit.  Freilich,  wenn  man  alles,  was  über 
das  bloße  Haben  und  Verknüpfen  von  Vorstellungen  hinausgeht,  „Logik"  nennt,  mag  er  recht 
haben;  aber  wird  durch  solche  Erweiterung  nicht  die  scharfe  Bedeutung  des  „Logischen"  ver- 
gewaltigt? Ist  es  fruchtbar,  die  Leistungen  der  „unterscheidenden  und  vergleichenden  Auf- 
merksamkeit' im  ersten  Lebensmonat,  welche  einzelne  Empfindungen  und  Erapfindungsgruppen 
aus  dem  diffusen  Gesamtzustand  herauslöst,  als  „Denkleistungen"  zu  bezeichnen?  R.  nennt 
„Denken"  jeden  Akt  des  Subjekts,  der  auf  einen  transsubjektiven  Gegenstand  gerichtet  ist, 
unabhängig  davon,  wie  weit  bei  dieser  Zielstrebigkeit  Bewußtsein  beteiligt  ist;  ich  halte  es  für 
zweckmäßiger,  von  Denken  nur  dort  zu  sprechen,  wo  eine  dem  Bewußtsein  vorschwebende 
Aufgabe  eine  Richtung  gebende  Kraft  auf  Einstellung  und  Ablauf  des  seelischen  Verhaltens 
ausübt.  Darum  ist  auch  der  Ausdruck  „unterscheidende"  Aufmerksamkeit,  den  ich  eben 
zitierte,  so  zweideutig.  Im  ersten  Lebensmonat  gibt  es  zwar  schon  ., unterschiedliche"  Auf- 
merksamkeit (d.  h.  eine  solche,  die  einzelne  Teilinhalte  herausgreift,  andere  abgleiten  läßt  und 
auf  verschiedene  Reize  verschieden  reagiert);  aber  von  einem  Akt  des  Unterscheidens  in 
logischem  Sinne  ist  noch  lange  keine  Rede  (S.  44  sagt  R.  selbst:  „Unterscheiden  kann  das 
Kind  schon  sehr  früh;  aber  erst  spät  taucht  die  Kateg-orie  des  Unterschiedes  selbst  als 
intentionaler  Gegenstand  auf."  Wäre  es  nicht  richtiger,  bloß  im  letzten  Falle  von  Unterscheiden 
als  „logischem"  Akt  zu  sprechen?)  —  Ein  anderes  Beispiel  für  zu  weit  gehende  Logisierung 
scheint  mir  die  Behauptung  des  Verfassers  zu  sein,  daß  die  ersten  Wortbedeutungen  den 
Charakter  von  „Eigennamen"  haben.  Das  Kind  meine  mit  Puppe  immer  dieselbe  eine  Puppe. 
Hier  wird  eine  Identifikation  des  gegenwärtigen  Eindrucks  mit  früheren  vorausgesetzt,  zu  denen 
das  Kind  noch  gar  nicht  fähig  zu  sein  braucht.  Die  ersten  Wortbedeutungen  haben  weder 
Eigennamen-,  noch  allgemein  begrifflichen  Charakter:  das  Kind  meint  den  eben  gegenw^ärtigen 
Gegenstand,  ohne  auf  frühere  —  sei  es  identifizierend  oder  verallgemeinernd  —  Bezug  zu  nehmen. 
R.'s  Schrift  zeigt  einerseits,  welche  Hilfe  eine  tief  schürfende  Analyse  der  Denkprozesse 
der  Kindespsychologie  leisten  kann,  andererseits  aber  auch  die  Gefahr,  die  entsteht,  wenn  mau 
die  abstrakte  logische  Arbeit  nicht  ständig  an  dem  vollen,  reichen  Erleben  primitiv  kindlichen 
Tuns  prüft  und  mißt. 

Hamburg.  William  Stern. 

Anweisungen  für  die  psychologische  Auswahl  der  jugendlichen  Begabten.  Bd.  IX 
der  „Pädag.-psychol.  Arbeiten".  Hrsg.  von  Max  Brahn.  Leipzig  1919.  Dürr.  90  S.  3,60  M. 
Im  Institut  des  Leipziger  Lehrervereins  besteht  ein  Ausschuß  iür  Begabungsforschung,  aus 
dessen  gemeinsamer  Arbeit  die  vorliegende  Schrift  hervorgegangen  ist.  Es  handelt  sich  im 
wesentlichen  um  eine  methodische  Untersuchung:  eine  Reihe  Tests  wurden  ausgeprobt,  ihre 
für  die  Prüfung  geeignetste  Form  mit  genauer  Anweisung  für  den  Prüfer  festgelegt,  das  Wertungs- 
verfahren  ausgearbeitet.    Eine   praktische  Verwendung  der  Tests   zu   wirklichen  Begabungsprü- 


368  Literaturbericht 


fangen  hat  noch  nicht  stattgefunden;   doch  sind  durch  sie  künftige  Ausführungen  solcher  Prü- 
fungen in  sehr  dankenswerter  Weise  vorbereitet  worden. 

Die  Tests  sind  im  allgemeinen  für  die  gleiche  Altersstufe  gedacht,  die  auch  Moede  und 
Piorkowski  prüften,  also  für  13— lö-jährige.  Auch  in  der  Art  der  Tests  findet  eine  bewußte 
Anlehnung  an  die  beiden  Berliner  Psychologen  statt;  doch  werden  manche  umgeändert,  einige 
neue  hinzugefügt.  Die  Tests  sollen  folgende  psychische  Gebiete  prüfen:  Aufmerksamkeit,  Be- 
obachtungsfähigkeit, Gedächtnis,  sprachliche  Kombination,  Begriffsbildung,  Urteilsfähigkeit. 

Zu  einigen  Tests  seien  kurze  Anmerkungen  gemacht. 

Aufmerksamkeit.  Hier  wird  als  neuer  Test  das  Rechnen  in  einem  nicht  dekadischen 
System  empfohlen.  Ich  halte  diese,  bekanntlich  von  Voigt  in  Leipzig  zuerst  angewandte  Prüf- 
methode für  recht  wertvoll ;  aber  ob  sie  gerade  geeignet  ist,  ein  Bild  von  dem  Grade  der  Auf- 
merksamkeit zu  geben?  Denn  andere  Faktoren,  insbesondere  allgemeine  Intelligenz  und  mathe- 
matische Sonderbegabung  scheinen  bei  diesen  Leistungen  so  stark  mitzusprechen,  daß  es  mir 
sehr  bedenklich  erscheint,  den  Ausfall  als  Symptom  der  Aufmerksamkeit  anzusehen.  Mit  einem 
anderen,  von  Moede-Piorkowski  übernommenen  Aufmerksamkeitstest  kann  ich  mich  gleichfalls 
nicht  recht  befreunden,  mit  der  sog.  „Mehrfachhandlung"  (gleichzeitiges  Rechnen  und  Anhören 
einer  vorgelesenen  Geschichte).  Denn  ein  solches  Zerteilen  der  Aufmerksamkeit  auf  zwei  dis- 
parate  Aufgaben  ist  ein  ganz  gekünsteltes  Verhalten,  das  zum  mindesten  für  die  Leistungen 
in  der  Begabtenschule  garnicht  in  Betracht  kommt  (denn  wir  wollen  doch  nicht  wissen,  ob  ein 
Junge  imstande  ist,  auf  den  Unterricht  aufzupassen  und  zugleich  unter  dem  Tisch  Indianer 
ge schichten  zu  lesen);  die  freilich  sehr  wichtige  Distributionsfähigkeit  der  Aufmerksamkeit 
bezieht  sich  fast  stets  auf  gleichzeitige  Teilziele  einer  einheitlichen  Handlung;  und  durch 
diese  teleologische  Einheit  wird  der  ganze  psychische  Prozeß  ein  anderer. 

Inder  Abteilung  Kombination  begegnet  uns  als  neue  Methode  der  Test  „Wirre  Gedanken". 
Die  einzelnen  Sätze  einer  Geschichte  werden  auf  Zettel  geschrieben,  die  durcheinandergemischt 
vorgelegt  werden  und  vom  Prüfling  geordnet  werden  müssen.  Nach  den  Erfahrungen,  die  wir 
in  Hamburg  mit  ganz  ähnlichen  „Ordnungstests"  gemacht  haben,  verdient  eine  solche  Methode 
Beachtung. 

Mit  besonderer  Sorgfalt  ist  in  dem  Abschnitt  Begriffsbildung  das  „Finden  des  Wesent- 
lichen" bearbeitet  worden.  In  der  Tat  ist  die  Fähigkeit,  aus  einem  größeren  Vorstellungs- 
komplex das  tragende  Bedeutungsskelett  herauszufinden,  so  wichtig,  daß  wir  besonderen  Wert 
auf  deren  Feststellung  legen  müssen.  Die  Leipziger  haben  Geschichten  und  naturwissenschaft- 
liche Beschreibungen  so  umgearbeitet,  daß  der  Wesenskern  durch  mancherlei  Beiwerk  und  Ab- 
schweifungen verhüllt  ist;  gefordert  wird,  daß  bald  von  der  gesamten  Geschichte,  bald  von  ein- 
zelnen Abschnitten  ein  möglichst  kurzer  und  treffender  Auszug  gegeben  wird.  Als  eine  glück- 
liche Idee  erscheint  mir  ferner  der  ,, Telegrammtest":  Umwandlung  eines  Briefinhalts  in  ein 
Telegramm;  denn  hier  kann  man  den  Zwang  zur  Verdichtung  des  Inhalts  auf  die  wesentlichen 
Begriffe  besonders  anschaulich  machen. 

Auch  für  die  Prüfung  der  Kritikfähigkeit  gibt  es  eine  neue  Schattierung :  mögliche  und 
unmögliche  Reihenaufgaben  werden  durcheinandergemischt  vorgelegt;  die  unsinnigen  sollen 
herausgefunden  werden. 

Die  Beschreibung  der  Tests  ist  eingerahmt  von  einer  allgemeinen  Einleitung  über  Wert  und 
Bedeutung  der  Begabungsprüfungen  und  einem  Schlußabschnitt  über  Beobachtungsbogen.  In 
der  Einleitung  von  Brahn  steht  das  Wort:  „Die  Begabungsforschung  hat  das  Glück  oder  Un- 
glück') gehabt,  schnell  Bedeutung  für  die  Praxis  zu  gewinnen".  In  der  Tat,  wenn  aus  jener 
plötzlichen  praktischen  Verwertung  psychologischer  Methoden  kein  Unglück  werden  soll,  dann 
müssen  wir  mit  allem  Nachdruck  dafür  sorgen,  daß  nicht  übereifriger  Dilettantismus  sich  dieses 
Verfahrens  bemächtigt  und  es  damit  binnen  kurzem  in  Grund  und  Boden  ruiniert.  Dazu  aber 
ist  es  nötig,  daß  die  ganze  Schwierigkeit  der  Methodik  und  ihrer  Anwendung  ungeschminkt 
und  rücksichtslos  dargelegt  wird.  Dies  ist  in  der  weitverbreiteten  Berliner  Schrift  von  Moede 
und  Piorkowski  nicht  geschehen,  um  so  mehr  sind  wissenschaftlich-methodische  Arbeiten  wie 
die  vorliegende  Leipziger  Schrift  und  die  gleichzeitige  Veröffentlichung  über  die  Hamburger 
Auslese  ein  dringendes  Erfordernis. 

Hamburg,  William  Stern. 


*)  Von  mir  gesperrt. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (A.  Pries;  in  Leipzig. 


Zur  Ethik  und  Psychologie  der  Pflicht,  besonders 
der  Beamtenpflicht. 

Von  Paul  Sickel. 
I.    Theorien  der  Pflicht. 

Die  ethischen  Untersuchungen  der  letzten  Jahrzehnte  waren  beherrscht  von^ 
dem  Gegensatze  der  normativen  und  der  genetisch-empirischen  Richtungen. 
Während  die  normative  Ethik  absolut  allgemeingültige  Normen  des  Handelns 
aufstellen  will,  die  von  den  zeitlichen  Vorstellungs-  und  Willensrichtungen 
ganz  unabhängig  sind,  sieht  die  genetisch -empirische  Ethik  die  Sittlichkeit 
als  ein  geschichtliches  Entwicklungserzeugnis  an.  Es  ist  klar,  daß  beide  Auf- 
fassungsweisen als  wissenschafthche  Methoden  nebeneinanderbestehen  können: 
denn  die  geschichtliche  Entwicklung  des  ethischen  Sinnes  schließt  die  Gel- 
tung absoluter  Normen  oder  Werie  keineswegs  aus.  Der  Gegensatz  entstand 
erst  daraus,  daß  die  genetisch -empirische  Ethik  die  absolut  geltenden  sitt- 
lichen Normen  überhaupt  leugnete  und  durch  zeitlich  bedingte,  stets  wech- 
selnde Vorstellungen  ersetzen  wollte.  Gibt  sie  diesen  Anspruch  auf,  so  ist 
ihr  als  einer  psychologisch-historischen  Lehre  voUe  Berechtigung  neben  der 
normativen  Moralphilosophie  zuzuerkennen. 

Die  verschiedenen  Ansichten  über  Aufgabe  und  Wesen  der  Ethik  müssen 
sich  auch  in  dem  Begriffe  der  Pflicht  widerspiegeln. 

Als  Vertreter  der  normativen  Richtung  ist  an  erster  Stelle  Kant  zu  nennen. 
Nach  ihm  beruht  das  Pfhchtgefühl  auf  dem  Bewußtsein  eines  inneren  Sollens, 
das  absolut  gebietet,  ganz  unabhängig  von  irgendwelchen  anderen  Beweg- 
gründen, wie  Erfolg  oder  Neigung.  Ob  ich  etwas  gern  oder  ungern  tue,  ob 
mein  Handeln  Erfolg  oder  Mißerfolg  hat,  Nutzen  oder  Schaden  bringt,  ist  für 
seine  sittliche  Bewertung  ganz  gleichgültig.  Zwecke  dürfen  mein  Wollen  in 
keiner  W' eise  bestimmen.  Ich  habe  dem  inneren  „Du  sollst",  dem  kategorischen 
Imperativ  unweigerlich  zu  folgen.  Man  sieht,  daß  dies  ein  rein  formaler 
Begriff,  eine  ideale  Konstruktion  ist,  der  die  Wlrkhchkeit  nur  annäherungs- 
weise entsprechen  kann.  In  diesem  rein  formalen  Charakter  des  Kantischen 
Pflichtbegriffes  liegt  seine  Stärke,  aber  auch  seine  Schwäche. 

Im  Gegensatz  zu  dieser  formalen  Ethik  verlegt  die  materiale  den  Sinn  und 
das  Motiv  der  Pflichterfüllung  in  den  Zweck  oder  den  Gegenstand  meines 
Wollens.  Das  zu  schaffende  Werk,  der  erstrebte  Erfolg  bestimmen  hier  die 
Richtung  meines  Handelns.  Es  ist  meine  Pfhcht,  Werte  zu  verwirklichen  und 
Leistungen  zu  vollbringen,  die  ich  aus  irgendeinem  Grunde  als  notwendig 
oder  nützlich  erkannt  habe.  In  ihrer  niedrigsten  Form  sinkt  diese  Lehre  zur 
Erfolgsethik  hinab,  nach  der  letzthin  der  Erfolg  eine  Handlung  rechtfertigt. 
In  verfeinerter  Ausprägung  findet  sie  sich  als  teleologische  Morallehre  (z.  B. 
bei  Paulsen),  wonach  zwar  der  sittliche  Wert  einer  Person  in  ihrem  impera- 
tiven Pflichtgefühl  beruht,  das  Handeln  selbst  aber  durch  wertvolle  Zwecke 
gelenkt  werden  muß.    Neuerdings  ist  (von  Max  Scheler)  der  bemerkenswerte 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  .14 


370  Paul  Sickel 

Versuch  unternommen  worden,  eine  absolute  Ethik  auf  materialer  Grundlage 
aufzubauen,  die  von  der  Anerkennung  absolut  geltender  sittlicher  Werte  aus- 
geht. Ihre  Bedeutung  liegt  darin,  daß  sie  den  schroffen  Gegensatz  von  Kantischer 
und  Nützlichkeitsmoral  zu  überwinden  sucht.  Für  uns  ist  jedoch  die  materiale 
Ethik  vor  allem  in  der  krassen  Form  der  Erfolgsmoral  wichtig,  weil  sie  die  An- 
schauungen und  die  Praxis  des  Durchschnittslebens  in  weitem  Maße  beherrscht. 

Während  die  genannten  Theorien  eine  Norm  der  Pflicht,  sei  sie  nun  formal 
oder  material,  aufstellen,  suchen  die  genetisch-empirischen  Lehren  den  Pflicht- 
begriff aus  seiner  historischen  oder  auch  individuellen  Entwicklung  zu  ver- 
stehen. Sie  wollen  zeigen,  wie  das  Pflichtbewußtsein  allmählich  aus  anderen 
psychischen  Elementen  entstanden  ist.  So  führt  Herbert  Spencer  das  „ab- 
strakte Pflichtbewußtsein"  auf  zwei  Elemente  zurück:  1.  auf  die  Unterordnung 
unter  die  Autorität  allgemein  geltender  Gefühle,  wie  Ehrlichkeit,  Wahrhaftig- 
keit, Fleiß  usw.,  deren  Autorität  stärker  ist  als  die  unmittelbaren  Gefühls- 
antriebe; und  2.  auf  den  Zwang,  sei  er  politischer,  sozialer  oder  rehgiöser 
Art,  der  mit  dem  Gefühl  der  Furcht  vor  Strafe  im  Falle  der  Verletzung  ver- 
knüpft ist.  Dieses  Gefühl  der  Furcht  verwandelt  sich  allmählich  in  das  Ge- 
fühl der  Verpflichtung.  Man  sieht,  ■  daß  hier  das  Pflichtbewußtsein  auf  etwas 
anderes,  was  nicht  eigenthch  „Pflicht"  ist,  zurückgeführt  wird  und  der  Be- 
griff der  Pflicht  seine  Selbständigkeit  und  wesenhafte  Ursprünglichkeit  ver- 
liert. In  das  Innere  der  sittlichen  Persönlichkeit,  in  den  transzendentalen 
Grund  der  Pflicht  dringen  solche  Lehren  nicht. 

Dasselbe  gilt  auch  von  Guyaus  „Moral  ohne  Pflicht",  so  anregend  seine 
Ausführungen  auch  sein  mögen.  Auch  nach  Guyau  ist  Pflicht  nicht  ein  un- 
bedingt Forderndes  und  Gebietendes  in  mir;  vielmehr  ist  sie  wesentlich  ein 
Lebens-  und  Kraftüberschuß,  der  nach  Äußerung  und  Verwendung  verlangt. 
Dieser  naturalistische  und  vitalistische  Pflichtbegriff  trifft  ebenfalls  nicht  den 
Kern  des  Problems.  Denn  es  handelt  sich  doch  gerade  um  die  richtige  Len- 
kung des  natürlichen  Lebenstriebes.  Welche  Äußerung  der  Lebensenergie 
ist  sitthch?  welche  unsittlich?  —  das  ist  die  Frage.  Die  Pflicht  schränkt 
doch  gerade  den  totalen  Lebensdrang  ein.  Hatte  Kant  die  Pfhcht  wesentlich 
negativ  als  Hemmung  der  Triebe  aufgefaßt,  so  stellte  Guyau  (ähnlich  wie 
Nietzsche)  einen  mehr  positiven  und  in  gewissem  Sinne  höheren  Pflichtbegriff 
auf:  Pflicht  ist  es,  das  zu  leisten,  was  in  meiner  Kraft,  in  meinem  Können 
steht.  Damit  macht  Guyau  jedenfalls  auf  einen  Punkt  aufmerksam,  den  die 
Ethik  bisher  wenig  beachtet  hatte.  Aber  was  sittlich  und  unsittlich  ist,  er- 
klärt seine  Theorie  nicht,  auch  nicht  durch  die  anderen  „Äquivalente",  die 
er  für  das  Pflichtgefühl  einsetzt,  wie  z.  B.  das  wachsende  Gemeinschafts- 
gefühl und  die  Freude  am  Wagnis. 

n.  Psychologische  Pflichttypen. 

Neben  die  beiden  genannten  Methoden  läßt  sich  nun  noch  eine  dritte  stellen, 
die  weder  Normen  begründen  noch  historische  Entwicklung  geben  will,  son- 
dern die  zu  einer  bestimmten  Zeit,  etwa  in  der  Gegenwart  herrschenden 
sittlichen  Vorstellungen,  Triebe  und  Willensrichtungen  psychologisch  zu  er- 
forschen, zu  beschreiben  und  zu  verstehen  sucht.  Sie  hat  es  mit  dem  empi- 
rischen sittUchen  Bewußtsein  in  seiner  ganzen  sozusagen  unreinen,  d.  h.  mit 
heterogenen,  unethischen  Elementen  vermischten  Tatsächlichkeit  zu  tun,  ins- 


Zur  Ethik  und  Psychologie  der  Pflicht,  besonders  der  Beamtenpflicht     37 1 


besondere  auch  mit  der  Verschiedenheit  der  ethischen  Auffassung,  wie  sie  durch 
die  besondere  Lebenslage  der  Menschen  bedingt  ist.  Man  hat  es  längst  als 
einen  Mangel  der  herkömmlichen  Ethik  erkannt,  daß  sie  die  individuellen 
Unterschiede  des  sittlichen  Bewußtseins  vernachlässigt.  Eine  solche  „diffe- 
renzieUe"  Behandlung  der  ethischen  Phänomene  mag  zwar  eher  der  Psycho- 
logie angehören;  ihre  Bedeutung  wird  dadurch  nicht  verringert.  Sie  kann 
neben  der  eigentlichen  Ethik,  die  ja  mit  Recht  einen  sozialen  Charakter  an- 
genommen hat,  bestehen.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  die  Erkenntnis  des 
herrschenden  Ethos  auch  für  die  Pädagogik.  Wir  sind  dadurch  nämlich  in 
der  Lage,  den  Abstand  der  Durchschnittsmoral  einer  Zeit  von  den  als  geltend 
angenommenen  Normen  zu  messen,  woraus  sich  dann  ergibt,  in  welcher  Rich- 
tung eine  pädagogische  Einwirioing  erforderlich  und  durch  welche  Mittel  sie 
zu  erreichen  ist. 

Der  Pflichtbegriff  erscheint  nun  besonders  geeignet,  um  die  Bedeutung  einer 
solchen  psychologisch  verstehenden  Behandlung  ethischer  Probleme  ins  rechte 
Licht  zu  setzen. 

Wir  haben  demnach  zu  fragen :  Wie  ist  das  Pflichtgefühl  der  heutigen  Men- 
schen tatsächlich  beschaffen?  Und  dazu  stellen  wir  vier  Haupttypen  des 
Pfhchtbewußtseins  auf,  aus  denen  sich  die  Pflichtcharaktere  einzelner  Menschen 
oder  Gruppen  zusammensetzen  wie  chemische  Stoffe  aus  ihren  Elementen. 
Wenn  wir  dabei  wieder  auf  jene  oben  angeführten  Theorien  der  Pflicht  stoßen, 
so  darf  das  nicht  verw-undern,  da  jeder  Ethiker  aus  dem  komplexen  Pflicht- 
bewußtsein ein  einzelnes  Element  heraushebt,  das  ihm  persönlich  oder  für 
seine  Zeit  als  besonders  wesentlich  erscheint. 

Die  psychologischen  Pflichttypen  scheiden  wir  zunächst  in  solche  allgemein 
formaler  Art,  denen  ein  allgemein  gültiges  Gesetz  oder  Gebot  zugrunde  liegt, 
und  solche,  die  eine  individuell  besondere  Bestimmung  enthalten.  Die  for- 
malen Typen  sind  1.  der  rein  sittliche  Imperativ  oder  die  Pfhchterfüllung  „aus 
Pfhcht";  2.  das  äußere  Gebot  oder  die  Pflichterfüllung  aus  Zwang  (oder 
Autorität).  Individuell  bestimmt  kann  die  Art  der  Pflichterfüllung  werden 
1.  durch  die  Person,  2.  durch  die  Sache,  den  Gegenstand  der  Tätigkeit. 

1.  Der  reine  Pflichtbegriff,  Kants  kategorischer  Imperativ,  kennt  als  Motiv 
des  Handelns  nur  das  autonome  innere  „Du  soUst",  ohne  jede  Rücksicht  auf 
andere  Beweggründe,  sei  es  persönliche  Neigung  oder  sachliches  Interesse. 
Verkörpert  ist  er  in  dem  Typus  des  idealen  Beamten,  der  nichts  als  seine 
Pflicht  tut,  diese  aber  mit  strengster  Gewissenhaftigkeit.  Dieser  Pflichtbegriff 
zeigt  nüchterne  Kälte  und  Starrheit,  aber  in  seiner  Freiheit  von  jedem  außer- 
sittMchen  Einflüsse  eine  Erhabenheit,  die  bekanntlich  Kant  zu  seinem  be- 
geisterten Preise  der  Pflicht  anregte. 

2.  In  vollem  Gegensatz  hierzu  steht  die  Pflichterfüllung  aus  Zwang.  Auch 
hier  herrscht  ein  Imperativ,  aber  statt  des  freien  inneren  „Du  sollst"  das 
äußere,  erzwungene  „Du  mußt".  Die  bloß  zwangsweise  Pflichterfüllung  ist 
an  sich  ohne  jeden  sittlichen  Wert.  Sie  ist  „Dienst"  und  ihr  Typus  der  Sklave. 
Sie  stellt  die  tiefste  Stufe  menschlicher  Leistung  dar  und  ist  in  sittlich-geistiger 
Beziehung  entwürdigend.  Man  findet  sie  daher  nur  in  der  genetischen  Ethik  als 
frühe  Entwicklungsstufe  des  moralischen  Bewußtseins  vertreten,  so  bei  Spencer. 

Die  beiden  genannten  Typen  werden  nun  trotz  ihrer  absoluten  begriffüchen 
Gegensätzlichkeit  im  wirklichen  Leben  durch  eine  Reihe  von  Zwischenstufen 
verbunden,  die  sich  imter  den  Begriff  der  Autorität  fassen  lassen,  indem  wir 

24* 


372  Paul  Sickel 


von  der  rein  äußeren  Autorität  allmählich  zur  inneren  Autorität  des  Sitten- 
gesetzes übergehen.  Auf  diesem  Wege  liegen  z.  B,  die  Stufen  der  staatlichen 
Autorität,  der  Sitte  und  der  Religion. 

3.  Individuell  kann  die  Pflicht  bestimmt  werden  zunächst  von  selten  der 
Person.  Es  ist  der  Schaffensdrang,  der  Überschuß  der  Lebenskraft,  das  Be- 
wußtsein des  Könnens,  was  hier  zur  Leistung  treibt.  Nicht  ein  Sollen  oder 
Müssen  liegt  hier  zugrunde,  sondern  ein  „Du  willst",  dem  erst  als  Folge  das 
„Du  sollst"  hinzutritt.  Es  ist  ein  Schaffen  und  Erzeugen  aus  persönlichem 
Antrieb.  Verkörpert  ist  es  im  Künstler.  Und  wenn  dem  rein  sittlichen  Impe- 
rativ Starrheit  und  Erhabenheit  anhaftet,  so  zeichnet  diesen  Typus  Wärme 
und  Begeisterung  aus.  Theoretisch  ist  er  vertreten  durch  Nietzsche  und  Guyau. 

4.  Endlich  kann  die  Pflichterfüllung  auch  von  der  Sache  her  bestimmt 
werden.  Maßgebend  ist  dann  der  Trieb  zum  Werke  als  Erfolg  der  Tätigkeit, 
die  Herstellung  eines  irgendwie  wertvollen  oder  nützlichen  Dinges.  Der  Arbei- 
tende geht  in  seinem  Werke  auf,  ordnet  sich  dem  Gegenstande  unter  und 
läßt  seine  Persönhchkeit  zurücktreten.  Man  kann  hier  von  „Werkleistung" 
oder  „Arbeit"  im  eigentlichsten  Sinne  sprechen.  Dagegen  bietet  sich  kaum 
ein  bezeichnender  Ausdruck  für  die  Persönlichkeit,  die  diesen  Typus  verkörpert. 
Vielleicht  könnte  man  —  mit  der  nötigen  Dehnung  des  Begriffes  —  schlecht- 
hin vom  „Arbeiter"  sprechen.  Doch  kann  natürlich  jede  Art  geistiger  oder 
körperlich-geistiger  Tätigkeit  diesem  Typus  zufallen.  Theoretisch  spiegelt  er 
sich  in  der  materialen  Ethik,  besonders  der  Erfolgsethik. 

Für  die  Berufspflichten,  d.  h.  die  Leistungen,  die  sich  täglich  in  gewisser 
Gleichförmigkeit  wiederholen,  kommt  nun  noch  ein  sehr  einflußreiches  Moment 
in  Betracht:  die  Macht  der  Gewohnheit.  Sie  kann  in  doppelter  Weise  wirken: 
einmal,  indem  sie  die  anfangs  mit  Widerstreben  (sei  es  „aus  Pflicht"  oder 
„aus  Zwang")  geleistete  Tätigkeit  allmählich  erleichtert  und  angenehmer  macht; 
dann  aber  auch  umgekehrt,  indem  sie  gegen  eine  zuerst  mit  (persönlichem 
oder  sachlichem)  Interesse  ausgeführte  Arbeit  abstumpft  und  sie  langweilig 
und  lästig  erscheinen  läßt.  Im  ersteren  Falle  wird  die  Pflichterfüllung  mecha- 
nisch ;  das  Pflichtgefühl,  falls  es  zuerst  den  Ausschlag  gab,  wird  gleichgültig. 
Im  zweiten  Falle,  wo  das  ursprüngliche  Interesse  durch  die  Gewöhnung  ab- 
nahm, kann  ebenfalls  mechanische  Tätigkeit  die  Folge  sein ;  es  kann  aber 
auch,  da  die  Arbeit  nun  gegen  die  eigene  Neigung  fortgesetzt  wird,  der 
kategorische  Imperativ  des  „du  sollst"  geweckt  und  die  ursprünghch  aus 
Interesse  begonnene  Tätigkeit  nun  aus  reinem  Pflichtgefühl  fortgesetzt  werden. 
Welche  Entwicklung  eintritt,  hängt  ganz  von  der  psychischen  Eigenart  des 
einzelnen  ab. 

Besonders  zu  beachten  ist  ferner,  daß  in  der  WirMichkeit  des  seehschen 
Lebens  niemals  reine  Typen  —  höchstens  annähernd  als  Grenzfälle  —  vor- 
kommen, sondern  immer  Mischungen,  in  denen  meist  alle  vier  Typen  in 
verschiedenen  Stärkegraden  miteinander  vereinigt  sind.  So  wird  der  Künstler 
neben  dem  inneren  Schaffensdrange  auch  Interesse  am  Gegenstande  haben; 
auch  wird  das  Gefühl  der  Pflicht,  das  innere  „du  sollst"  und  selbst  ein  ge- 
wisser äußerer  Zwang  (etwa  die  Notwendigkeit  des  Geldverdienens)  selten 
ganz  fehlen.  Beim  Kaufmann  wird  am  stärksten  das  Interesse  am  Erfolg 
sein,  ohne  daß  dabei  die  anderen  Typen  völlig  zurücktreten. 

Ja  man  kann  sogar  sagen,  daß  jeder  einzelne  Pflichttypus  für  sich  als 
schöpferisches   Prinzip   unfruchtbar    ist    und   keine  vollwertige  Lebensarbeit 


Zur  Ethik  und  Psychologie  der  Pflicht,  besonders  der  Beamtenpflicht     373 


begründen  kann.  Daß  bloßer  Zwang  keine  hohen  Leistungen  hervorbringt, 
ist  selbstverständhch.  Das  Interesse  am  sachlichen  Erfolge  allein  wird  bei 
sehr  vielen  Tätigkeiten,  die  unser  Kulturleben  erfordert,  versagen.  Der  innere 
Schaffensdrang  genügt  nicht,  um  eine  fortlaufende,  gleichmäßige  Aufgabe 
zu  eriedigen  und  bringt  die  Gefahr  mit  sich,  zu  einem  egoistischen  persön- 
Mchen  Ausleben  zu  verführen.  Der  reine  Pfhchtstandpunkt  ist  natürhch  als 
abstraktes  ethisches  Prinzip  unantastbar;  aber  Paulsen  übertreibt  wohl  kaum, 
wenn  er  sagt:  „Pfhchtgefühl  mag  in  der  Welt  viel  Schhmmes  verhindert 
haben,  aber  das  Schöne  und  Große  ist  nie  aus  dem  Pflichtgefühl  (ich  würde 
hinzusetzen:  allein)  gekommen,  sondern  aus  den  Trieben  des  lebendigen 
Herzens".  Erst  eine  Vereinigung  mehrerer,  unter  Umständen  aller  Motive 
kann  wertvolle  Leistungen,  insbesondere.  Dauerleistungen  ergeben.  Sie  wird 
übrigens  schon  dadurch  befördert,  daß  jeder  Mensch  die  verschiedenen  Motive 
als  Stufen  seiner  sittMchen  Entwicklung  durchläuft.  Denn  die  Erziehung  des 
Kindes  beginnt  mit  Zwang  und  Autorität  und  bedient  sich  vor  allem  der 
allmählichen  Gewöhnung.  Dann  treten  der  persönliche  Tätigkeitsdrang  (be- 
sonders beim  Spiel)  und  die  Lust  am  Werke  hinzu,  während  das  eigenthche 
Pflichtgefühl  als  bewußte  Autonomie  sich  erst  nach  und  nach  aus  den  „un- 
reinen" Pflichtmotiven  herauslöst.  Jedenfalls  aber  bleiben  auch  die  niederen 
Stufen  der  sittlichen  Entwicklung  noch  bestehen,  wenn  die  höheren  schon 
erreicht  sind;  und  man  mag  es  als  eine  weise  Einrichtung  der  geistigen 
Ökonomie  ansehen,  daß  sie  zur  Erreichung  der  notwendigen  Zwecke  des 
menschhchen  Lebens  die  verschiedensten  Motive  bereithält,  so  daß,  wenn 
das  eine,  etwa  das  autonome  Pflichtgefühl,  versagt,  ein  anderes,  sei  es  auch 
der  „wohltuende"  Zwang,  eintritt. 

Das  Pflichtgefühl  des  einzelnen  Menschen  ist  also  ein  sehr  verwickeltes 
Gebilde,  das  nur  zum  Teil  im  eigentlichen  Sinne  „sittlich"  ist.  Abzuweisen 
ist  die  oberflächlich  rationalistische  Auffassung,  als  ob  ein  (etwa,  angeborenes) 
rein  formales  Pflichtgefühl  des  sich  jeweils  ihm  bietenden  empirischen  Inhaltes 
bemächtigte,  ihn  sozusagen  ergriffe  und  dann  durchsetzte.  Vielmehr  ist  die 
Art  des  Pfhchtgefühls  jedesmal  individuell  durch  den  Inhalt,  an  dem  es  er- 
scheint, bestimmt.  Wenn  man  auch  von  einem  durchgehenden  persönlichen 
Pflichtgefühl  des  einzelnen  Menschen  als  Bestandteil  seines  Charakters 
sprechen  kann,  so  wird  doch  das  Pflichtbewußtsein  je  nach  der  auszu- 
führenden Handlung  sehr  verschieden  sein.  Derselbe  Mensch,  der  gewissen 
Zwecken  gegenüber  eine  sehr  lebhafte  Verpfhchtung  fühlt,  bleibt  bei  andern 
Aufgaben,  die  objektiv  ebenso  wichtig  sind,  gleichgültig.  So  etwa,  wenn 
Eltern,  die  auf  die  sitthche  und  gesellschaftliche  Erziehung  ihrer  Kinder  aUe 
Mühe  verwenden,  die  intellektuelle  Bildung  vernachlässigen.  Also:  die 
Inhalte  bestimmen  das  Pflichtgefühl  wesentlich  mit. 

in.  stärke  und  Umfang  des  Pflichtgefühls. 

Man  kann  beim  PfUchtgefühl  Stärke  (Intensität)  und  Umfang  unterscheiden, 
obwohl  beide  von  einander  abhängig  sind.  In  ersterer  Hinsicht  handelt  es 
sich  um  die  Kraft  des  Willens  und  Gefühls,  mit  der  die  gegebenen  Inhalte 
gerade  als  sittlich  gefordert  erlebt  werden,  wie  sie  von  dem  Bewußtsein 
des  sittlichen  SoUens  umfaßt  und  durchdrungen  werden,  im  Gegensatz  zu 
äußeren  Nötigungen  und  A.nbrieben,   die   unter  Umständen  ja  denselben  ob- 


374  Paul  Sickel 


jektiven  Erfolg  haben  können.  Dieselbe  amtliche  Tätigkeit  kann  von  dem 
einen  mit  dem  tiefen  Bewußtsein  einer  sittlichen  Verpflichtung,  von  dem 
anderen  (äußerlich  vielleicht  ebenso  gut)  als  eine,  nun  einmal  notwendige 
Arbeit  verrichtet  werden.  Bei  wem  das  ethische  Bewußtsein  eine  bedeutende 
innere  Kraft  und  Tiefe  hat,  dem  wird  alles,  was  ihm  überhaupt  als  erstrebens- 
wert und  geboten  erscheint,  zu  einer  verantwortungsvollen  sittlichen  Aufgabe. 
Es  gibt  eine  Stufe  ethischer  Gesinnung,  wo  das  Leben  als  Ganzes  mit  Ein- 
schluß aller  Einzelheiten  als  eine  hohe  sittliche  Forderung  aufgefaßt  wird. 
—  Was  nun  aber  alles  in  den  sittlichen  Gesichtskreis  tritt,  das  hängt  einer- 
seits von  individuellen  Faktoren,  nämlich  der  geistigen  und  ethischen 
Eigenart  des  Menschen  ab,  andrerseits  auch  von  seiner  sozialen  Stellung. 
In  letzterer  Hinsicht  ließe  sich  —  wenigstens  theoretisch  —  für  jeden  Stand, 
ja  für  jeden  einzelnen  Menschen  ein  normaler  Pflichtenkreis  denken,  an  dem 
der  tatsächliche  Umfang  seines  individuellen  Verantwortlichkeitsbewußtseins 
zu  messen  wäre.  Dabei  kommt  neben  der  Stärke  und  Lebhaftigkeit  des 
ethischen  Gefühles  besonders  auch  die  sitthche  Einsicht  in  Betracht.  Diese 
Einsicht  ist  „sitthch"  nicht  nur,  insofern  sie  sich  auf  Gegenstände  des 
ethischen  Bereiches  bezieht,  sondern  sie  ist  auch  in  gewissem  Grade  sittlich 
gefordert.  Der  Mensch  muß  und  soll  wissen,  was  er  entsprechend  seiner 
Lage  zu  tun  hat  und  was  er  eben  vermöge  seiner  gesellschaftlichen  Stellung 
auch  wissen  kann.  Wenn  der  sokratische  Satz,  daß  Tugend  ein  Wissen 
sei,  irgendwie  zu  recht  bestehen  soll,  so  muß  er  jedenfalls  dahin  ergänzt 
werden,  daß  das  Wissen  um  den  mir  angemessenen  Pflichtenkreis  eben  mit 
zu  den  sittlichen  Aufgaben  gehört.  Hier  liegt  wieder  einer  jener  unentrinn- 
baren Zirkel  vor,  wie  sie  unser  Geistesleben  so  viel  zeigt:  wir  können  nur 
das  als  unsere  Pflicht  anerkennen  und  ausführen,  was  unser  Wissen,  unser 
Gewissen  uns  als  sittliches  Gebot  erkennen  läßt;  aber  wir  sollen  wissen, 
was  gemäß  unserer  Lebenslage  unsere  Pflicht  ist. 

Der  Umfang  des  Pflichtenkreises  erstreckt  sich  auf  die  Mitwelt  und  die 
Nachwelt,  indem  er  sich  in  beiden  Fällen  vom  „Nächsten"  zum  Entfernteren 
und  Fernsten  ausweiten  kann  —  wobei  wir  von  dem  problematischen  Be- 
griffe der  Pflicht  gegen  sich  selbst  absehen.  Das  Pflichtgefühl  gegen  die 
Mitlebenden  hängt  wesenthch  von  der  Ausbildung  des  Sohdaritätsgefühles 
ab.  Die  strenge  Abgeschlossenheit  des  einzelnen  und  der  Familien  der  Groß- 
stadt gegen  die  übrigen,  z.  B.  auch  gegen  die  Nachbarn  (ein  Begriff,  der 
beinahe  veraltet  ist!)  und  überhaupt  die  Vereinzelung  der  Menschen  im 
modernen  Leben,  die  sog.  Atomisierung  der  Gesellschaft  hat  zu  einer  festen, 
fast  starren  Umgrenzung  des  sozialen  Pflichtenkreises  geführt,  wozu  auch 
die  schematische  Bestimmtheit  der  Berufs-,  besonders  der  Beamtenpflicht 
beigetragen  hat.  Jeder  hat  seine  genau  umschriebene  Aufgabe  und  hat  sich 
nicht  in  fremde  Angelegenheiten  zu  mischen.  Dadurch  hat  das  allgemeine 
VerantwortHchkeitsbewußtsein  sehr  gelitten.  In  der  freilich  engeren  Welt 
unserer  Vorfahren  fühlte  sich  jeder  mehr  oder  weniger  mitverantwortlich 
für  das  Wohl  und  Wehe  auch  des  Fernerstehenden.  Mit  der  Ausweitung 
unseres  Lebens  und  der  Zunahme  der  Beziehungen  nach  allen  Seiten  hat 
das  teilnehmende  Pflichtgefühl  nicht  gleichen  Schritt  gehalten.  An  seine 
Stelle  ist  der  wirtschaftliche,  berechnende  Sinn  getreten,  der  im  anderen  in 
erster  Linie  den  Konkurrenten  und  Gegner  sieht.  Vor  allem  fehlt  das  Be- 
wußtsein,   daß  jede  private  Handlung  zugleich  eine  öffenthche  Bedeutung 


Zur  Ethik  und  Psychologie  der  Pflicht,  besonders  der  Beamtenpflicht     375 


hat.  Die  Kriegswirtschaft  hat  es  deutlich  genug  gezeigt,  daß  die  Art  meine 
Ernährimg  auch  eine  öffentliche  Angelegenheit  ist.  Schon  Ruskin,  der  hierin 
recht  unenglisch  dachte,  hat  auf  die  Unsittlichkeit  des  Luxus  und  den  Mangel 
an  Verantv\'ortlichkeitsgefühl  bei  den  wohlhabenden  Kreisen  hingewiesen. 
Wenn  jemand  überflüssigen  Luxus  für  sich  fordert,  dessen  Herstellung  den 
Arbeiter  nicht  wie  echte  Kunst  als  Menschen  sittlich  hebt,  sondern  zum 
Sklaven  und  Werkzeug  erniedrigt,  so  begeht  er  Raub  an  der  Arbeitskraft 
und  schädigt  das  sittliche  Gefühl  der  Menschheit.  Bei  wahrem  sozialen 
Gemeinschaftsgefühl,  das  sich  bis  zum  Menschheitsgefühle  steigern  kann, 
kennt  auch  das  Pfhchtbeuiißtsein  keine  Grenzen;  es  bleibt  nicht  beim 
„Nächsten"  stehen,  sondern  erstreckt  sich  bis  zum  „Fernsten". 

Ebenso  bedarf  das  Pfüchtgefühl  zeitlich  der  Ausdehnung.  Die  Einsicht, 
daß  schlechthin  jede  meiner  Handlungen  Folgen  hat,  die  sich  in  unabseh- 
barer Reihe  in  die  Zukunft  erstrecken  und  meinem  Machtbereich  später 
meistens  völlig  entzogen  sind,  muß  das  Verantwortlichkeitsgefühl  gewaltig 
steigern.  Wie  wenig  aber  sind  z.  B.  Eltern  bei  ihrer  Erziehung,  zumal  bei 
dem  ihren  Kindern  vorgelebten  Beispiele  sich  beuiißt,  daß  sie  nicht  nur 
dieses  eine  Kind,  sondern  in  ihm  eine  ganze  Reihe  von  Nachkommen  er- 
ziehen. Auf  diesem  Gebiete  hat  das  PfUchtgefühl  der  sozialen  Gruppen 
wie  der  Gemeinde  oder  des  Staates  einen  Vorsprung;  je  umfassender  die 
Gemeinschaft  ist,  desto  weiter  erstreckt  sich  die  Vorsorge  in  die  ferne  Zukunft, 
während  die  individuelle  Moral  noch  ganz  auf  das  Nächste  eingestellt  ist. 
Die  Ausweitung  des  PfUchtenkreises  hängt  im  allgemeinen  davon  ab,  daß 
ich  über  meine  persönhchen,  egoistischen  Zwecke  auch  fremde  und  über- 
persönUche  Zwecke  nicht  nur  erkenne  und  anerkenne,  sondern  sie  auch  als 
meine  Zwecke  in  mein  ethisches  Bewußtsein  aufnehme,  daß  ich  die  Auf- 
gaben der  Gemeinschaft,  des  Staates,  ja  der  Menschheit  zu  meiner  eigenen 
Angelegenheit  mache.  Derjenige  Grand,  der  ethisch  am  stärksten  zugunsten 
der  Demokratie  spricht,  ist  zweifellos  der  Übergang  der  sittMchen  Verantwort- 
hchkeit  von  wenigen,  die  sie  auf  die  Dauer  für  die  Gesamtheit  nicht  tragen 
können,  auf  möglichst  \iele,  auf  alle.  Die  demokratische  Ausdehnung  der 
Rechte  und  damit  der  Pflichten  auf  alle  setzt  also  zugleich  die  Ausdehnung 
des  individuellen  Pflichtenkreises  wie  auch  die  Stärkung  des  Pfüchtgefühles 
voraus.  Sie  kann  daher  nur  dann  zum  HeUe  gereichen,  wenn  das  Volk 
schon  eine  ziemlich  hohe  Stufe  der  SittUchkeit  erklommen  hat. 

IV.  Die  Beamtenpflicht. 

Wenden  wir  unseren  Blick  von  diesen  allgemeinen  Erörterungen  auf  die 
Eigenart  der  heute  herrschenden  Auffassung  der  Pfhcht,  so  können  wir  als 
deren  typische  Gestalt  wohl  die  BeamtenpfUcht  ansehen,  wobei  das  Wort 
Beamter  im  weitesten  Sinne  für  alle  diejenigen  gebraucht  ist,  denen  ihre 
Aufgabe  von  einer  Organisation  bzw.  einem  Vorgesetzten  gestellt  wird  — 
im  Unterschiede  von  den  selbständigen  Berufen  des  Kaufmanns,  Unterneh- 
mers, Künstlers  usw.  Zwischenstufen  gibt  es  natürhch  auch,  wie  etwa  der 
staatliche  Lehrer,  der  im  Dienste  eines  Verlegers  arbeitende  Schriftsteller, 
oder  auch  der  Arzt,  insofern  seine  Pfhcht  durch  Bestimmungen  der  Organi- 
sation eingeschränkt  wird. 

Die  besondere  soziale  und  psychologische  Lage  des  Beamten  hat  einen 
eigenartigen  , modernen"  Pfhchtbegriff  erzeugt.    Was  der  Beamte  (und  der 


.376  Paul  Sickel 

Arbeiter)  zu  tun  hat,  steht  nicht  in  seinem  Belieben;  ja  vielfach  ist  auch 
die  Art  und  Weise,  wie  er  es  zu  tun  hat,  ihm  von  außen  vorgeschrieben. 
In  großen  Organisationen,  besonders  im  gesamten  Verwaltungswesen  kann 
der  Beamte  oft  den  Sinn  und  Zweck  der  ihm  gestellten  Aufgabe  ebenso 
wenig  begreifen  wie  der  Arbeiter  im  industriellen  Großbetriebe  den  Zweck 
des  einzelnen  Maschinenteils,  den  er  anzufertigen  hat.  Ja  es  kann  vor- 
kommen, daß  der  Beamte  die  rein  praktische  oder  sogar  die  sittUche  Be- 
rechtigung der  von  ihm  geforderten  Tätigkeit  nicht  anzuerkennen  vermag, 
so  daß  ein  Widerstreit  zwischen  Beamtenpfhcht  und  persönlicher  sittlicher 
Überzeugung  entsteht.  Da  indes  die  Lebensstellung  meist  von  der  „treuen'* 
Erfüllung  der  Beamtenpflicht  abhängt,  so  wird  man  es  selten  zum  offenen 
Widerstand  kommen  lassen.  Die  gewöhnliche  Haltung  des  Beamten  ist  viel- 
mehr derart,  daß  er  eine  reinliche  Scheidung  zwischen  Amtsmoral  und  per- 
sönlicher Sittlichkeit  macht  und  die  Verantwortung  für  das  amtlich  Gelei- 
stete eben  auf  den  Vorgesetzten  oder  schließlich  den  Staat  abschiebt,  die  ja 
in  dieser  Hinsicht  breite  Schultern  haben.  Es  entsteht  demnach  ein  Dualis- 
mus der  Moral,  wie  er  z.  B.  für  die  Auffassung  des  deutschen  Luthertums 
maßgebend  geworden  ist :  innere  Persönlichkeitsethik  und  unpersönliche 
Amtspflichtmoral.  Auch  Bismarck  vertrat  wohl  diesen  Standpunkt.  Daß  da- 
bei große  äußere  Leistungen  möghch  sind,  steht  außer  Frage.  Aber  im 
Grunde  ist  es  doch  ein  unerträglicher  Widerspruch,  wenn  der  überwiegende 
Teil  der  Beruf sleistungen,  was  ihren  Inhalt  und  Zweck  angeht,  dem  persön- 
lichen ethischen  Verantwortlichkeitsgefühl  entzogen  und  in  dieser  Hinsicht 
sittlich  gleichgültig  ist.  Dazu  kommt,  daß  bei  sehr  vielen  Berufen  die 
Arbeit  auch  ihrem  sachlichen  Gehalte  nach  gleichgültig  ist  oder  es  durch 
stete  Wiederholung  allmählich  wird,  so  daß  sie  gewohnheitsmäßig  und  mecha- 
nisch abgeleistet  wird.  Das  persönliche  und  sachliche  Interesse  sinkt  also 
ebenfalls  stark  herab.  Ja  es  fehlt  selbst  der  ganz  äußere  (und  sittlich  frei- 
lich wertlose)  Antrieb  des  größeren  finanziellen  Gewinnes  durch  verstärkte 
Leistung,  wie  es  bei  den  selbständigen  Berufen  der  Fall  ist.  Da  das  Gehalt 
und  dessen  regelmäßige  Steigerung  ein  für  allemal  feststehen,  so  liegt  für 
sittüch  nicht  sehr  starke  Persönlichkeiten  die  Versuchung  nah,  sich  auf  ein 
Mindestmaß  der  Leistung  zu  beschränken.  Man  tut  eben  nicht  mehr  als 
seine  „Pflicht",  würdigt  dabei  den  Begriff  der  Pflicht  so  sehr  herab,  daß  ihm 
kaum  noch  etwas  von  der  Bedeutung  des  freien  inneren  SoUens  bleibt. 
Pflicht  ist  dann  dasjenige,  was  man  tun  muß,  um  den  Anforderungen  der 
Vorgesetzten  eben  noch  zu  genügen.  Nietzsche  sieht  mit  Recht  darin  Leicht- 
sinn und  Harmlosigkeit  in  sittlicher  Beziehung  und  meint:  „Wer  seinem 
höheren  Selbst  nicht  angehört  hat,  sondern  der  Gesellschaft  dient  oder  einem 
Amte  oder  seiner  Familie,  der  spricht  immer  von  „Pflichterfüllung"  —  damit 
sucht  er  sich  zu  beschwichtigen".  Tatsächlich  wird  mit  dem  Worte  Pflicht 
arger  Mißbrauch  getrieben. 

Es  ergibt  sich  also,  daß  der  Beamtentätigkeit  jene  wirksamen  Stützen  des 
eigenthchen  PfUchtgefühls,  das  persönliche  und  sachliche  Interesse,  in  wei- 
tem Maße  fehlen,  daß  dagegen  die  Gewohnheit  und  das  Bewußtsein  der 
äußeren  Autorität  das  echte  sittUche  Gefühl  stark  überdecken.  Andererseits 
ist  es  aber  auch  klar,  daß  bei  dem  geschilderten  Charakter  der  Beamten- 
tätigkeit nur  ein  wahrhaft  ethisches  Pflichtgefühl  im  Kantischen  Sinne  auf 
die   Dauer  ein   Herabsinken   der  Beamtenleistungen  verhindern  kann,    eben 


Zur  Ethik  und  Psychologie  der  Pflicht,  besonders  der  Beamtenpflicht     37^1 


weil  die  anderen  Antriebe  zur  Einsetzung  aller  Kräfte,  die  etwa  beim  Künst- 
ler, beim  Kaufmann  und  Unternehmer  wirksam  sind,  hier  meist  versagen. 
Wir  stehen  damit  wieder  vor  einem  scheinbar  unvermeidbaren  Zirkel:  die 
Beamtentätigkeit  bringt  leicht  eine  Schwächung  und  Auflockerung  des  Gesamt- 
Pflichtbewußtseins  mit  sich ;  aber  gerade  sie  fordert  doch  wieder  ein  starkes 
ethisches  Pfhchtgefühl.  Oder:  die  ethische  Persönlichkeit  wird  durch  die 
mechanische  Pfichterfüllung  erstickt;  sie  ist  aber  andererseits  unentbehrMch 
für  die  Erhaltung  eines  sitthch  hochstehenden  Beamtentums.  Die  Lösung 
dieser  Schwierigkeit  kann  nur  auf  pädagogischem  Gebiete  liegen. 

Bevor  wir  uns  ihr  zuwenden,  muß  noch  einer  mittelbaren  sittlichen  Stütze 
des  Beamtenpfüchtgefühls  gedacht  werden,  nämlich  der  Berufs  ehre.  In 
früheren  Zeiten  war  sie  besonders  ausgeprägt  bei  dem  „ehrbaren"  Handwerk 
und  bildete  die  Hauptgrundlage  für  die  ethische  und  bürgerliche  Schätzung 
dieses  Standes.  Sie  ist  dann  mehr  und  mehr  auf  den  Beamten  übergegangen, 
der  sich  seiner  Bedeutung  als  „Staatsdiener"  bewußt  wurde.  Es  zeigt  sich 
nun  die  merkwürdige  Tatsache,  daß  bei  den  heutigen  Ständen  das  Gefühl 
für  die  Berufsehre  im  umgekehrten  Verhältnis  zu  dem  unmittelbar  erlebten 
geistig-sittlichen  Werte  der  Berufstätigkeit  steht.  Denn  bei  den  selbständigen 
und  freien  Berufen,  wo  der  einzelne  seine  Tätigkeit  selbst  bestimmt,  ihren 
Sinn  und  Zweck  erkennt  und  aus  eigenem  Antriebe  schafft  (wie  besonders 
t)eim  Geistesarbeiter  und  Künstler,  aber  auch  beim  Kaufmann)  ist  die  Berufs- 
ehre bei  weitem  nicht  so  ausgeprägt  wie  bei  den  abhängigen  Berufen.  Am 
deutlichsten  zeigt  sich  das  ja  beim  Offiziersstande,  wo  die  Berufsleistung  auf 
der  Skala  der  geistigen  Tätigkeiten  doch  recht  niedrig  steht,  während  die 
Berufs-  und  Standesehre  ein  Maximum  erreichte.  Damit  ist  aber  auch  schon 
der  Grund  für  dieses  Mißverhältnis  klar.  Gerade  wo  die  Pflichtleistung  an 
sich  selbst  nur  geringe  geistig-sittliche  Werte  darstellt,  bedarf  sie  zu  ihrer 
Stütze  und  Rechtfertigung  einer  von  außen  hergeholten  Bewertung,  Und  so 
muß  dem  Beamten  besonders  viel  an  der  Schätzung  seines  Tuns  durch  die 
Gesellschaft  liegen,  Täghche  Schreibarbeit  über  mir  im  Grunde  ganz  gleich- 
gültige Dinge  (wie  etwa  Rechtsstreitigkeiten)  kann  unmöglich  ein  Hochgefühl 
von  dem  Werte  meiner  Beschäftigung  erzeugen.  Auch  das  Bewußtsein,  ein 
Ghed  einer  großen  Organisation  zu  sein,  wiegt  nicht  allzu  schwer,  da  mit 
ihm  doch  das  Gefühl  der  Abhängigkeit  eng  verknüpft  ist.  Was  hier  den 
einzelnen  aufrichtet,  ist  eben  die  Berufsehre,  die  übrigens  von  subalternem 
Bürokratendünkel  und  Beamtenstolz  wohl  zu  scheiden  ist.  Ihre  ethische 
Bedeutung  aber  beruht  darauf,  daß  sie  die  wichtigste  Stütze  des  reinen 
Pflichtgefühls,  des  strengen  kategorischen  Imperativs  ist,  der  für  die  Beamten- 
tätigkeit mehr  als  für  andere  Berufe  notwendig  ist.  Was  der  Pflichterfüllung 
des  Beamten  an  sachlicher  Teilnahme  und  persönhchem  Schaffensdrange 
abgeht,  das  wird  ihm  zum  Teil  ersetzt  durch  das  Bewußtsein,  daß  seiner 
Tätigkeit  als  Gesamtheit  von  der  Gesellschaft  eine  Anerkennung  gezollt 
wird,  die  von  dem  Werte  seiner  Einzelleistung  mehr  oder  weniger  unab- 
hängig ist  und  die  er  eben  in  der  Berufsehre  mittelbar  erlebt. 

V.  Zur  Pädagogik   des  Pflichtbewußtseins. 

AUe  erwähnten  Stützen  und  Ersatzmittel  können  freilich  das  eigenthch 
ethische  Pflichtgefühl  nicht  entbehriich  machen.   Seine  Entwicklung  ist  daher 


378     Paul  Sickel,  Zur  Ethik  und  Psychologie  der  Pflicht,  bes.  der  Beamtenpflicht 

eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  Erziehung.  Man  hat  in  der  frühzeitigen 
Gewöhnung  an  strenge  PfHehterfüllung  einen  besonderen  Ruhmestitel  der 
deutschen  Schule  gesehen;  er  soll  ihr  nicht  bestritten  werden.  Und  doch 
glaube  ich,  daß  man  nicht  immer  den  richtigen  Weg  eingeschlagen  hat  und 
die  Pflichterziehung  der  Schule  sich  im  späteren  Leben  nicht  überall  bewährt. 
Der  Grund  hierfür  liegt  darin,  daß  man  den  starren  Kantischen  Imperativ 
allzu  einseitig  zugrunde  legt  und  die  Zwischenstufen  der  persönhchen  und 
sachlichen  Anteilnahme  vernachlässigt.  Offenbar  muß  jede  Erziehung  zur 
PfUcht  von  Zwang  und  Gewöhnung  ausgehen,  um  daraus  erst  allmählich 
das  eigentlich  sittliche  Pfichtbewußtsein  zu  entwickeln.  Im  allgemeinen  wird 
in  der  häuslichen  Erziehung  wohl  mehr  das  Verbieten  geübt  als  eine  positive 
Entwicklung  des  ethischen  Gefühls  erstrebt.  Vor  der  Schulzeit  wird  das 
Leben  der  Kinder  hauptsächlich  vom  Spiel  beherrscht;  nur  wenige  Eltern 
werden  planmäßig  einen  allmählichen  Übergang  zu  pflichtmäßigen  Aufgaben 
herstellen.  Um  so  schroffer  wirkt  dann  der  Gegensatz  zwischen  dem  freien 
Phantasie-  und  Spielleben  der  behaglichen  Familienstube  und  dem  kahlen, 
nüchternen  Schulraum,  wo  nun  plötzlich  der  kategorische  Imperativ  in  seiner 
unerbittlichen  Strenge  auftritt.  Die  Pflicht  der  Schule  erscheint  daher  sehr 
oft  von  Anfang  an  als  etwas  Hartes,  UnfreundHches,  Feindliches,  als  bloßer 
Zwang.  Daß  dies  für  die  Enstehung  eines  persönlichen,  schaffensfreudigen 
Pflichtgefühls  nicht  günstig  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Zumal  nun  auch  die 
allmähliche  Höherentwicklung  des  Pflichtbewußtseins  während  der  langen 
Schuljahre  nicht  genügend  gefördert  wird.  Bis  in  die  Oberstufe  der  höheren 
Lehranstalten  bleibt  oft  das  Zwangssystem  herrschend.  Viele  Pädagogen,  be- 
sonders der  älteren  Richtung,  sehen  gerade  in  der  gegen  die  eigene  Neigung 
erfüllten  Aufgabe  ein  besonders  erziehUches  Moment.  Zum  Teil  mit  Recht. 
Nur  darf  dieses  Verfahren  nicht  zur  Einseitigkeit  ausarten.  Jedenfalls  übte 
die  Schule  bisher  viel  zu  wenig  die  Pfhcht  aus  eigenem  Tätigkeitsdrange 
und  aus  Interesse  an  der  Sache.  Dagegen  tritt  das  Streben  nach  Erfolg  in 
verhängnisvoller  Weise  hervor.  Bei  dem  jetzigen  Erziehungs-  und  Unterrichts- 
system wird  die  Tätigkeit  des  Durchschnittsschülers  wesentlich  von  dem 
Streben  beherrscht,  durch  ein  Minimum  von  Arbeit  ein  Maximum  von  Erfolg 
zu  erzielen  oder  auch  durch  möglichst  wenig  Anstrengung  noch  eben  das 
äußere  Ziel,  nämlich  die  Versetzung  zu  erreichen.  Das  persönliche  Pflicht- 
gefühl kommt  nicht  zur  Entfaltung,  und  daher  wird  auch  das  Bewußtsein 
des  Sollens  nur  selten  aus  dem  der  äußeren  Autorität  in  das  der  freien 
Selbstbestimmung  übergehen.  Paulsen  spricht  den  schweren  Vorwurf  aus : 
„Die  Schulen  mit  ihrer  durchgeführten  Klasseneinteilung  und  ihren  Verset- 
zungsängsten richten  jetzt  den  Sinn  von  klein  auf  auf  das  Karrieremachen. " 
Tatsächlich  leisten  sie  jener  oberflächhchen  und  sittUch  bedenklichen  Pflicht- 
auffassung Vorschub,  die  oben  als  Hauptgefahr  der  BeamtenpfUcht  gekenn: 
zeichnet  wurde.  Es  ist  pädagogisch  falsch,  die  Erziehung  des  jugendhchen 
Pflichtbevmßtseins  einseitig  auf  den  Kantischen  Imperativ  des  reinen  Sollens 
aufzubauen.  Man  verleidet  dadurch  der  Jugend  die  Pfhchterfüllung  von  vorn 
herein.  Gerade  das  heranwachsende  Alter  hat  noch  wenig  Verständnis  für 
das  rein  Formale  des  Sittengesetzes,  haftet  vielmehr  mit  allen  Sinnen  am  In- 
halt, an  der  Sache.  Zugleich  ist  es  von  einem  Drang  nach  Selbstbetätigung, 
einer  Schaffensfreude  erfüllt,  die  leicht  erlahmt,  wenn  man  ihr  allzu  früh 
mit   dem  starren  Gebote  der  unpersönlichen  Pflicht  entgegentritt.    Das  Kind 


Adalbert  Gregor,  Über  den  Einfluß  von  Kriegs-  u.  Zeitkomplexen  usw.     379 

soll   die  Pflicht  lieben   lernen;    und   dazu  sind  die  Vorstufen  Freude  am 
Werke  und  persönliche  Schaffenslust. 

Die  Auffassung  der  Pflicht  aber,  die  sich  dem  jugendliehen  Geiste  einprägt, 
ist  entscheidend  für  die  spätere  sittliche  Entwicklung.  Und  wenn  man  be- 
denkt, daß  sich  auf  der  Grundlage  der  Beamtenpflicht  das  ganze  sittliche 
Leben  des  Staates  aufbaut,  der  seiner  Organisation  nach  Beamtenstaat  ist, 
so  ist  es  klar,  welche  Bedeutung  für  unsere  nationale  Zukunft  die  Erziehung 
zu  einem  freien,  lebendigen  Pflichtgefühl  hat,  einem  Pfhchtgefühl,  in  dem 
sich  rein  sittliche  Antriebe,  Schaffensdrang  und  Freude  am  Werke  innerhch 
durchdringen. 


Ober  den  Einfluß  von  Kriegs-  und  Zeitkomplexen  auf  die 
Definitionsleistung  bei  Kindern. 

Von  Adalbert  Gregor. 

Kurz  vor  Kriegsausbruch  habe  ich  eine  zuerst  in  meinem  Leitfaden  der 
experimentellen  Psychopathologie  1)  entworfene  Methode  zur  Intelligenzprüfung 
ausgebaut-),  die  im  wesenthchen  darin  besteht,  daß  der  Versuchsperson  eine 
Reihe  ausgewählter  Begriffe  verschiedener  Quahtäten  zur  Definition  aufge- 
geben werden.  Um  Material  für  die  Beurteilung  der  Leistungen  normaler 
Individuen  zu  gewinnen,  xsiirden  dank  der  BereitAxnUigkeit  des  Leipziger 
Lehrervereins  mit  dieser  Methode  in  zahlreichen  Knaben-  und  Mädchenklassen 
Massenversuche  angestellt,  die  ich  in  meinen  „Untersuchungen  über  die  Ent- 
wickelung  einfacher  logischer  Leistungen"  3)  veröffentlicht  habe.  Die  Vollen- 
dung dieser  Versuche  wurde  durch  den  Kriegsausbruch  verhindert,  und  ein- 
zelne Klassen  blieben  damals  ungeprüft,  was  aber  für  den  von  mir  zunächst 
verfolgten  Zweck  ohne  besonderen  Belang  erschien.  Als  ich  jedoch  nach 
Kriegsende  an  die  Aufgabe  schritt,  die  Definitionsmethode  auch  quantitativ 
zu  verwerten^),  um  aus  den  Leistungen  das  Intelligenzalter  zu  bestimmen, 
sah  ich  mich  genötigt,  die  1914  gebUebenen  Lücken  zu  ergänzen:  dabei 
wurde  ich  auf  eigentümliche  Definitionen  gelenkt,  welche  lediglich  durch  die 
seither  veränderten  Zeitverhältnisse  zu  erklären  waren.  Da  diese  Erscheinung 
sowohl  psychologisches  als  auch  wesentlich  sozial-ethisches  und  pädagogisches 
Interesse  beansprucht,  so  unirden  über  die  ursprüngliche  Absicht  hinaus  zu 
den  vor  dem  Kriege  unternommenen  Versuchen  Parallelversuche  angestellt, 
für  deren  Durchführung  ich  dem  Leiter  der  30.  Volksschule  zu  Leipzig- 
Stötteritz,  Herrn  Direktor  Pritsche  zu  Danke  verpflichtet  bin.  Das  hier  ver- 
arbeitete Material  setzt  sich  sonach  aus  Normalversuchen  1914  und  Vergleichs- 
versuchen  1919  zusammen.  Beide  Versuchsreihen  erstreckten  sich  auf  Knaben 
und  Mädchen  und  zwar  je  auf  die  II. — VI.  Klasse  (7. — 3.  Schuljahr). 

Die  zur  Untersuchung  der  Denkleistung  von  mir  im  Definitionsverfahren 
verwendeten  Begriffe  waren  von   vornherein  so  gewählt,    daß   verfängliche 

'■)  Berlin  (S.  Karger)  1910. 

^)  IntelUgenzuntersuchungen  mit  der  Deünitioosmethode.     Mft  f.  Psych,  u.  Neorolog.  1914. 

■>)  Zft.  f.  angewandte  Psychologie  Bd.  10.  S.  339  ff.  1915. 

^>  Die  Arbeit  soll  in  der  Zft.  f.  Kinderforschung  veröffentlicht  werden. 


380 


Adalbert  Gregor 


Worte,  welche  sich  bei  den  bekannten  Assoziationsversuchen  als  komplex- 
auslösend erwiesen  hatten,  vermieden  wurden,  da  die  Berührung  von  Kom- 
plexen die  intellektuelle  Leistung  beeinträchtigen  konnte.  Natürlich  war  es 
klar,  daß  diese  Aufgabe,  Komplexe  auszuschließen,  überhaupt  nicht  lösbar 
sei,  wie  denn  auch  in  meinen  Versuchen,  die  in  ausgedehnter  Weise  an  Ver- 
wahrlosten i)  angestellt  wurden,  einzelne  Reaktionen  z.  B.  auf  Arbeit,  Ver- 
gehen, Urteil  in  stark  verlängerter  Reaktionszeit  und  im  Inhalt  der  Aussage 
Komplexwirkungen  erkennen  ließen.  Als  Komplexreaktionen  sind  auch  die 
im  folgenden  zu  besprechenden  Definitionsleistungen  normaler  Volksschüler 
aufzufassen,  obzwar  das  affektive  Moment,  da  es  sich  um  Massenversuche 
in  der  Schule  handelte,  nicht  feststellbar  war. 

Da  bei  der  Auslösung  von  Komplexen  der  Zusammenhang,  in  dem  das 
Stichwort  gegeben  wird,  von  Bedeutung  ist,  lasse  ich  die  in  diesen  Versuchen 
verwendeten  Wörter  in  der  dabei  stets  beobachteten  Ordnung  folgen  und  setze 
ein  bis  mehrere  +  Zeichen  daneben,  je  nach  dem  Grade,  in  dem  sie  sich 
wirksam  zeigten,  Komplexe  auszulösen. 


Stuhl 

Schrank 

Tisch 

Mantel 

Rohr 

Grenze 

Arm 

Bein 

Mund 

Zunge 

Auge 

Gehirn 

Haus 

Laube 


+  + 


Zelt 

Schiff 

Tür 

Arbeit 

Tausch 

Pfand 

Ordnung 

Pacht 

Bündnis 

Kolonie 

Gemeinde 

Gesetz 

Obrigkeit 


+  +  + 
+ 

+ 

+  +  + 


+  +  + 

++ 

++ 

+ 

+ 

+ 


6.  Erklärung 

— 

Absicht 

Ursache 

— 

Widerspruch 
Urteil 

7.  Laster 

Mut 

Gerechtigkeit 

Mitleid 

+ 

Sitte 

1 

Vergehen 

Irrtum 

Rache 

Die  Tatsache,  welche  zu  diesen  Ausführungen  Anlaß  gab,  kann  durch  die 
Gegenüberstellung  je  zweier  Tabellen  veranschaulicht  werden,  von  denen 
die  ersten  beiden  (Tabelle  1  u.  3)  sämtliche  Definitionen  einer  III.  Mädchen- 
klasse für  die  Begriffe  Mut  und  Tausch  aus  den  im  Frühjahr  1914  ange- 
stellten Versuchen  enthalten.  In  den  beiden  anderen  Tabellen  (2  u.  4)  sind 
die  analogen  Leistungen  einer  Mädchenklasse  gleicher  Ordnung  nach  den 
Versuchen  des  Frühjahrs  1919  zusammengestellt.  Der  Vergleich  beider 
Gruppen  läßt  auffällige  Unterschiede  erkennen.  Die  1914  für  Mut  gegebenen 
Erklärungen  gehen  mehr  ins  allgemeine,  verschiedentlich  werden  abstrakte 
Namen  Zorn,  Tapferkeit,  Wagen  gebraucht.  Einigemale  kommen  auch  indi- 
viduelle Reaktionen  vor,  wobei  anzunehmen  ist,  daß  die  Stellung  der  eigenen 
Persönlichkeit  zu  dem  Begriffe  Mut  die  Aussage  bestimmte  (vgl.  Nr,  1,  2,  3, 
15,  26,  28,  31).  Dagegen  zeigen  die  Definitionen  aus  dem  Jahre  1919  Tab.  2. 
ohne  weiteres  die  Beziehungen  zum  Kriege.  Sie  sind  im  ganzen  viel  kon- 
kreter, der  Mut  wird  als  spezifische  Eigenschaft  des  Soldaten  im  Kriege  ge- 
faßt. Einen  wesentlich  andern  Komplex  verrät  die  Definition  Nr.  36.  Man 
muß  hier  wohl  an  den  Einfluß  unserer  jetzigen  Zeitverhältnisse  denken,  der 


')  Gregor-Voigtländer,  Die  Verwahrlosung,   ihre   klinisch-psychologische  Bewertung  und 
ihre  Bekämpfung.     Berlin  1918. 


über  den  Einfluß  von  Kriegs-  und  Zeitkomplexen  usw. 


381 


Tabelle  1. 
Versuche  1914.     III.  Mädchenklasse. 


Mut 


9. 
10. 
11. 

12. 
13. 

U. 

15. 

16. 


Wenn  man  sich  vor  niemand  fürchtet. 
Ist  wenn  sich  anspornt  und  sich  vor 
nichts  fürchtet. 
Mut  ist,  wenn  man  keine  Angst  hat. 

Mut 

Mut  ist  Zorn. 

Ein  Held,  der  sich  alles  wagt. 

Kraft,  ein  starker  Wille,  eine  feste 

Zuversicht  auf  eine  Hülfe. 

Die  Angst  ist  von  diesen  Menschen 

gewichen. 

Ein  furchtloses  Wagen. 

Ist  eine  Ehre. 

Wenn  jemand  mutig  ist,  er  fürchtet 

sich  vor  keinem  Menschen. 

Mut  ist,  wenn  man  sich  nicht  fürch- 
tet und  tapfer  ist. 
Mut  ist  ein  Ding,  das  sich  anfeuert 
im  Kampf. 

Mut   ist,  wenn  man  sich  vor  nichts 
fürchtet. 

Wenn  jemand  gegen  ein  wüdes  Tier 
geht,  ist  es  Mut. 


17. 
18. 

19. 

20. 
21. 
22. 

23. 
24. 
25. 
26. 

27. 
28. 


29. 
30. 
31. 
32. 
33. 
34. 


Die  !>fenschen  haben  Mut. 

Wenn  man  verloren    hat   und    man 

faßt  immer  wieder  Mut. 

Mut  ist,  wenn  man  tapfer  auf  einen 

los —  der  ein  Unrecht  getan  hat. 


Mut  ist,  wenn  man  sich  —  — 

Mut    ist    Kraft    die    man    im 

braucht. 

Mut  ist  Tapferkeit. 

Die  Kraft  des  Menschen. 


Krieg 


Wenn  man  wo  zögert,  da  muß  man 

sich  den  Mut  nehmen. 

Tapfer  sein,  mutig  sein,  kräftig. 

Mut  ist,  wenn  man  keine  Angst  hat 

und  ist  beherzt,  wenn  auch   etwas 

Schlimmes  zufügt. 

Einen  Willen. 

Man  hat  keine  Angst. 
Der  Mut  ist  ein 

Mut  ist 


Tabelle  2. 
Versuche  1919.     III.  Mädchenklasse. 


Mut. 


1. 

2.  ist  ohne  Furcht. 

3.  kühn,  nicht  ängstlich  sein. 

4.  zeigt  der,  der  etwas  kann. 

5.  muß  jeder  Deutsche  haben. 

6.  hat    der    Soldat,    wenn    er    in    den 
Ivrieg  zieht. 

7.  In  dem  jetzigen  Kriege  haben  man- 
che Soldaten. 

8.  Wenn    ein    Mann    Mut    besitzt,    so 
kennt  er  keine  Furcht. 

9.  den  Mut  hat  der  Krieger. 

10.  ist  wenn  man  der  Gefahr  entgegen- 
sieht vmd  nicht  zurückweicht. 

11.  ist,  wenn  jemand  für  nichts  Angst  hat. 

12.  ist  Waghalsigkeit. 

13.  Mut  der  Soldaten  war  1914  groß. 

14.  Mut  braucht  der  Soldat   im  Kriege. 

15.  ist,  wenn  einer  recht  tapfer  kämpft. 

1 6.  DerMann  hat  denMut  mit  in  denKrieg. 

17.  Der  Soldat  hat  Mut. 

18.  Die  Soldaten  haben  Mut. 

19.  muß  man  haben. 

20.  Mut  ist,  wenn   man  einen 

21.  Der  Soldat  hatte  Mut  im  Kriege. 


22.  Mut  zum  Kämpfen  hat  er. 

23.  dazuspringen. 

24.  Ich  habe  heute  frischen  Mut. 

25.  Mut  ist  die  Tapferkeit. 

26.  Das  Kind  hat  Mut. 

27.  darf  den  Menschen  nicht  verlassen. 

28.  Der  Soldat  hat  Mut. 

29.  Der  Krieger  hat  frischen  Mut. 

30.  ich    habe    den  Mut    ins   Wasser    zu 
springen. 

31.  Mut  ist,  wenn  ein  tapfer  streitet 

32.  wenn  er  tapfer  kämpft. 

33.  wenn  er  tapfer  kämpft. 

34.  hat  der  Ivrieger. 

35.  ist,  wenn  er  sich  alles  wagt. 

36.  wenn  er  Mut  liat,  etwas  zu  st«hlen. 

37.  haben  die  deutschen  Soldaten. 

38.  braucht  der  Soldat  im  Kriege. 

39.  ich  hatte  Mut. 

40.  Mut  die  Soldaten. 

41.  der  Soldat  hat  Mut. 

42.  gegen  den  Feind. 

43.  Der  Knabe  hat  Mut. 

44.  hat  der  Soldat. 

45.  Mut  zeigt  der  etwas  kann. 


382  Adalbert  Gregor 

Tabelle  3. 

Versuche  1914.     UI,  Mädchenklasse. 

Tausch. 

2.  Die  Kinder  haben  etw.  die  einen  möchten  dieses  gern  haben,  d.  andern  das, 
so  tauschen  sie. 

3.  Ein  Tausch  ist,  wenn  man  jem.  etw.  gibt  und  der  gibt  uns  etw.  anderes  dafür. 

4.  Einen  Gegenstand  jemand  geben  und  sie  geben  uns  einen  andern. 

5.  Ein  Tausch  ist  ein  Wechseln. 

6.  Die  Germanen  vertauschten  für  kein  Geld  ihre  Haare. 

7.  Ein  Wechseln. 

8.  Damit  tauscht  man  eine  Sache  für  eine  andere  ein. 

9.  Wechsel. 

10.  Die  alten  Deutschen  vertauschten  ihr  Vieh  für  Schmucksachen. 

11.  Ein  Tausch  ist,  wenn  man  mit  noch  jem.  für  etw.  anderes  tauscht. 

12.  Wenn  man  sich  einen  Ring  für  ein  Armband  gibt,  das  ist  ein  Tausch. 

13.  Ein  Tausch  ist,  wenn  man  etw.  hat  und  tauscht  es  für  etwas  anderes. 

14.  Ein  Tausch  ist  ein  Ding,  womit  man  etwas  anderes  eintauscht. 

15.  Ein  Tausch   ist,  wenn  man  etw.  hat  und   ein  andrer  auch,  und  ich  gebe  es 
den  andern  u.  er  gibt  mir  d.  andere. 

16.  Wenn  zwei  Leute  mit  einem  Gegenstand  tauschen,  so  ist  es  ein  Tausch. 

17.  Man  verwechselt  etwas. 

18.  Man  verwechselt  etwas. 

19.  Ein  Tausch  ist,  wenn  man  eine  Uhr  gegen  eine  Kette  vertauscht. 
20. 

21.  Der  Tausch  ist  — 

22.  Ein  Wechsel  — 

23.  Ein  Tausch  ist,  wenn  —  von   einem  Kinde   ein  Bild  bekomme  und  ich  gebe 
auch  eins,  d.  ist  Tausch. 

24.  Der  Tausch  ist,  da  gibt  —  etwas  und  man  bekommt  etw.  anderes  dafür. 

25.  Ein  Tausch  ist,  was  nicht  so  schön  ist,  so  kommt  eine  Frau,  was  sie  kaufen 
kann,  so  bekommen  wir  Geld  dafür. 

26.  Ein  Tausch  ist,  ein  um  den  andern  etwas  Anderes  zu  geben. 

27.  Ein  Handeln. 

28.  Ein    Tausch    ist,    wenn    ein  Mädchen   dem    andern   eine  Feder  gibt  und   das 
andere  ein  Löschblatt. 

29.  Wenn  man  etwas  falsch  gebracht  hat,   so   kann  man  es  wieder  umtauschen. 

30.  Ein  Tausch  ist,  wenn  man  mit  jemanden  tauscht, 
31. 

32. 

33.  Ein  Tausch  ist  da,  wenn  man  was  sieht,   nnd  man  möchte   es  auch  haben, 
da  tauscht  man. 

34.  Wenn  wir  etwas  vertauschen,  das  ist  Tausch. 

Tabelle  4. 

Versuche  1919.     III.  Mädchenklasse. 

Tausch. 

1.  Der  Tausch  ist  eine  gegenseitige  Wechselung. 

2.  Die  Leute  tauschen  wegen  Lebensmittel  beim  Bauern. 

3.  Jeder  Tausch  ist  ein  gegenseitiges  Wechseln. 

4.  Ein  Tausch  wird  durch  ein  gegenseitiges  Wechseln  der  Gegenstände  vollbracht. 

5.  Tausch  ist  wenn  ich  jemand  um  etwas  anderes  gebe. 

6.  Ein  Tausch  tut  man  wenn  man  nicht  hat. 

7.  Tausch  heißt,  wenn  andere  Leute  mit  einander  etwas  tauschen. 

8.  Ein  Tausch  ist,  wenn  man  mit  einem  anderen  etwas  wechselt. 


über  den  Einfluß  von  Kriegs-  und  Zeitkomplexen  usw.  383 


9.  Ein  Tausch  ist  wenn  man  etwas  anderes  haben  will,  so  tauscht  man  mit  an- 
deren Leuten. 

10.  Tauschen   tun  viele   Leute   sie   geben   Stoff  und  dafür  bekommen  die  Leute 
Lebensmittel. 

11.  Die  Bauern  tauschen  mit  Zucker  und   die  Leute  bekommen  Kartoffeln  oder 
Eier. 

12.  Manche  Leute  machen  einen  Tausch,  sie  tauschen  mit  etwas. 

13.  Wenn    ich    etwas   gekauft    habe    und   will    es    nicht  haben,  so  tausche  ich  es 
wieder  um. 

14.  Manche  Leute  tauschen  mit  Sachen. 

15.  Es  tauschen  viele  Leute  mit  Eßware. 

16.  Viele  Leute  tauschen  mit  etwas  andern. 

17.  Viele  Leute  tauschen  mit  Lebensmittel. 

18.  Die   Länder   tauschen   um   was   wir   nicht   haben   bekommen   wir   von  einem 
anderen  Land,  und  sie  von  uns  was,  was  sie  nicht  haben. 

19.  Die  Leute  tauschen  jetzt  mit  den  Lebensmitteln. 

20.  Tausch  ist,  wenn  dir  jemand  was  gibt  und  du  gibst  ihm  wieder  was. 

21.  Wir  tauschen  mit  anderen  Ländern  Ware  ein. 

22.  Tausch  ist  ein  Ding,  welches  wir  im  Kriege  viel  getan  haben. 

23.  Tausch  heißt  wenn  die  Leute  sich  gegenseitig  mit  Nahrungsmitteln  aushelfen 
oder  mit  sonstigen  Gegenständen. 

24.  Der   Tausch   ist,   wenn    man    etwas   vertauscht  und  etwas  anderes  davor  be- 
kommt. 

25.  Manche  Leute  machen  einen  Tausch   mit  einander   da  geben  sie  Zucker  und 
wollen  Kleidung  dafür  haben. 

26.  Wir   Deutschen   tauschen   mit   den  Franzosen,   wir  geben   ihnen  Zucker,   sie 
geben  uns  weißes  Mehl. 

27.  Die  Leute  tauschen  Sachen  mit  Lebensmittel   ein  um  etwas  zu  essen  haben. 


in  viel  deutlicherer  Weise  in  der  Definition  des  Begriffes  Tausch  zutage 
tritt.  Wenn  in  den  Versuchen  aus  dem  Jahre  1914  (Tab.  3)  dieser  Begriff 
exemplifiziert  werden  sollte,  so  wurde  auf  die  Germanen  zurückgegriffen 
Nr.  6,  10;  oder  es  lieferten  die  kleinen  Tauschhändel  der  Schulkinder  den 
Stoff.  Die  Definitionen  von  1919  (Tab.  4)  führen  uns  mitten  ins  reale 
Leben  und  bedürfen  keiner  Erläuterung. 

Mit  den  beiden  Beispielen  haben  wir  bereits  auf  die  wesentüchen  in  un- 
seren Definitionsversuchen  wirksamen  Komplexe  hingewiesen.  Im  folgenden 
sei  noch  auf  die  weiteren  Reaktionen  eingegangen,  die  in  ähnlicher  Weise 
von  dem  Typus  der  1914  gewonnenen  Leistungen  abwichen. 

Der  Kriegskomplex  wurde  ebenfalls  diu-ch  Arm  und  Bein,  ferner  durch 
Grenze,  ganz  besonders  aber  durch  Zelt  angeregt.  Arm  und  Bein  weckten 
die  Vorstellung  verletzter  GHedmaßen:  „der  Arm,  das  Bein  ist  zerschossen, 
—  der  Soldat  hat  ein  Holzbein".  Der  Begriff  Grenze  wnirde  1914  in  mehr 
oder  weniger  guter  Formulierung  meist  mit  Landesende  definiert.  Einzelne 
brachten  auch  das  Moment  der  Zollrevision  herein;  Grenzschutz  wurde  als 
Merkmal  nur  selten  genannt.  1919  rückt  diese  Seite  stark  in  den  Vorder- 
grund: „Die  Grenze  wird  überwacht,  —  an  der  Grenze  stehen  Posten,  — 
an  unserer  Grenze  marschieren  Soldaten"  usw.  In  noch  stärkerem  Maße 
erweist  sich  der  Kriegskomplex  beim  Begriff  Zelt  wirksam.  Auch  hier  wurde 
1914  die  Beziehung  zum  Soldaten  gelegentlich  erwähnt.  Jetzt  werden  der- 
artige Definitionen  geradezu  stehend:  „Zelt  haben,  brauchen  die  Soldaten,  — 
das  war  den  Kriegern  ihre  Wohnung — "  zuweilen  kommen  dabei  technische 


384  Adalbert  Gregor 


Ausdrücke    in    falscher    Anwendung    vor:    „Zelt    ist    ein    Gegenstand    unter 
welchem  die  Feinde  decken." 

Von  den  abstrakten  Begriffen  wird  der  Kriegskomplex  durch  Bündnis,  Er- 
klärung, Mitleid,  Rache  ausgelöst.  Bei  Bündnis  werden  die  bekannteren 
des  Vierbundes  und  der  Ententestaaten  genannt.  Als  inhaltlich  auffällige 
Aussagen  sind  Definitionen  aus  der  III.  Knabenklasse  zu  erwähnen:  „der 
Feind  schließt  mit  Deutschland  ein  Bündnis"  und  in  der  Umkehrung:  „Deutsch- 
land hat  mit  dem  Feinde  ein  Bündnis  geschlossen".  Derartige  Denkfehler 
müssen,  zumal  da  es  sich  um  ältere  Schüler  handelt,  vom  Pädagogen  be- 
achtet werden.  „Erklärung  ist  wenn  der  Krieg  losgeht"  in  diesem  Falle 
(V.  Knabenklasse)  erschöpft  Kriegserklärung  den  Begriff.  Gewöhnlich  äußert 
sich  der  Komplex  aber  in  der  Exemphfikation:  „Die  Franzosen,  Engländer 
erklären  uns  den  Krieg".  Mitleid  erweckt  wieder  die  Vorstellung  verwun- 
deter Krieger,  gelegentlich  auch  gefallener  Familienmitglieder.  Rache  wird 
teils,  und  zwar  von  jüngeren  Kindern,  den  Soldaten  im  allgemeinen,  häufiger, 
meist  von  älteren  Schülern,  Franzosen  und  Engländern,  einmal  auch  den 
Deutschen  zugeschrieben. 

Die  Komplexwirksamkeit  des  Wortes  Obrigkeit  erweist  sich  dadurch,  daß 
im  Gegensatz  zu  1914,  wo  Kaiser  und  König  meist  als  Inbegriff  der  Obrig- 
keit erschienen,  jetzt  bei  der  Exemplifizierung  des  Begriffes  militärische 
Chargen  genannt  werden.  Mehrfach  wird  aber  auch  schon  der  Ausdruck 
Präsident  gewählt. 

Nach  beiden  Richtungen  zielen  die  Begriffe  Kolonie  und  Schiff.  Letz- 
teres wird  ganz  selten  als  Kriegsmittel  gefaßt,  viel  häufiger  wird  1919  da- 
durch einer  unserer  Zeitkomplexe  angeregt;  nämlich  das  Interesse  an  der 
Lebensmittelversorgung:  „Ein  Fahrzeug  auf  dem  Lebensmittel  befördert  wer- 
den" bildet  in  höheren  Klassen  geradezu  eine  stehende  Definition.  Primitiver 
wird  der  gleiche  Gedanke  in  den  Mädchenklassen  ausgedrückt:  „ist  sehr 
nützlich,  denn  es  bringt  uns  Lebensmittel".  Der  Hungerkomplex  tritt  uns 
beim  Begriff  Kolonie  entgegen.  Tatsächlich  kann  man  sich  die  sehr  ge- 
läufigen Definitionen  „da  gibt  es  Milch,  —  da  gibt  es  etwas  zu  trinken", 
heute  kaum  anders  als  einen  Ausruf  des  Entzückens  denken.  Bei  älteren 
Schülern  spielt  in  die  Definitionen  von  Kolonie  auch  der  Kriegskomplex 
hinein.  Zunächst  werden  häufiger,  als  es  1914  der  Fall  war,  z.  T.  fälschlich 
deutsche  Kolonien  aufgezählt.  Ganz  unzweideutig  tritt  der  Komplex  jedoch 
hervor,  wenn   vom  Raube  der  Kolonien  durch  die  Engländer  die  Rede  ist. 

Eine  lediglich  quantitative  Differenz  ergaben  1919  die  Definitionen  von 
Pacht.  Feld-  und  Gartenpacht  werden  jetzt  in  einzelnen  Klassen  damit 
förmlich  identifiziert. 

Zum  Abschlüsse  sind  noch  einzelne  individuelle  Reaktionen  von  besonderer 
Eigenart  zu  erwähnen,  die  eine  bemerkenswerte  Stellungnahme  zu  den  Zeit- 
verhältnissen erkennen  lassen.  Die  meisten  der  folgenden  Begriffe  ergaben 
vielfach  auch  typische  Definitionen  mit  deutlicher  Komplexwirkung.  Es  seien 
hier  aber  die  Reaktionen  hervorgehoben,  die  einen  tendenziösen  Anstrich 
zeigen. 

Gesetz:  ist  was  von  den  Räten  veranlaßt  ist  (II.  MädchenkL), 
Eine  Verfassung  von  Räten  (II.  Knabenkl.). 
Einhalten  eines  Vertrages  gegen  das  Volk  (II.  Knabenkl.). 
Daß  die  Herrscher  nichts  machen  können  mit  dem  Volk  (11.  Knabenkl.). 


über  den  Einfluß  von  Kriegs-  und  Zeitkomplexen  usw.  385 

Gemeinde:  ist  ein  Dorfrat  (V.  Knabenkl.). 

(jerechtigkeit:  um  die  Menschen  nicht  zu  empören  wenn  die  Armen 
genau  so  viel  Brot  zugeteilt  bekommen,  wie  die  Reichen. 

Vergehen:  es  sind  jetzt  viele  Vergehen  begangen  worden. 

Rache:  wenn  einer  1  C.  Kohlen  hat  und  einer  nicht,  so  übt  er  am  Kohlen- 
händler R.  aus  (n.  Knabenkl.). 

Sitte:  das  Stehlen  ist  jetzt  Sitte  (UI.  Knabenkl.). 

Da  diese  Aussagen  von  älteren  Schülern  (II. — III.  Kl.)  gemacht  werden, 
so  sind  sie  nicht  einfach  als  Reproduktionen  mißverstandener  Wortverbin- 
dungen aufzufassen,  vielmehr  als  Ausdruck  tatsächhcher  Anschauungen,  die 
pädagogisch  ernst  genommen  werden  müssen. 

Über  die  Häufigkeit,  in  welcher  Kcmplexreaktionen  in  unseren  Versuchen 
vorkamen,  gibt  nachstehende  Tab.  5  Aufschluß,  in  welcher  die  Zahl  der 
Schüler,  in  deren  Definitionen  Kcmplexwiikung  festzustellen  war,  mit  +, 
die  Zahl  jener,  bei  denen  Komplexreaktionen  fehlten,  mit  —  bezeichnet  wurde. 

Tabelle  5. 


Knaben 

Mädchen 

Klassen 

+ 

.  — 

+ 

— 

II  ' 

25 

10 

38 

7 

in 

35 

2 

26 

9 

IV 

35 

1 

40 

7 

V 

24 

14 

10 

38 

VJ 

26 

11 

8 

25 

Das  Ergebnis  unserer  vergleichenden  Untersuchung  von  Definitionsleistungen 
vor  und  nach  dem  Kriege  hat  nach  verschiedenen  Richtungen  Interesse: 

1.  Zunächst  sind  die  hier  gemachten  Beobachtungen  für  die  Verwendung 
der  Methode  selbst  wichtig,  da  sie  eine  Bestätigung  ihres  Grundprinzips  er- 
bringen. Sie  sollte  ein  Verfahren  bilden,  welches  die  Denkleistungen  unab- 
hängig vom  Schulwissen  zum  Ausdruck  bringt;  hier  finden  wir  einen  deut- 
lichen Bew-eis,  daß  die  Lebenserfahrungen  des  Kindes  bestimmend  auf  den 
Ausfall  des  Versuches  sind. 

2.  Ist  es  psychologisch  von  Interesse,  daß  Kriegs-  und  Zeitkomplexe  das 
Bewußtsein  des  Kindes  derart  erfüllen,  daß  eine  durch  sie  besonders  be- 
tonte Seite  des  Begriffes  für  sein  Wesen  gehalten  wird. 

3.  Ist  es  vom  sozial-ethischen  Standpunkt  bemerkenswert,  wie  sich  Vor- 
gänge der  jüngsten  Zeit  im  kindMchen  Geiste  reflektieren,  seine  Anschauungs- 
weise bestimmen  und  Einfluß  auf  sein  moralisches  Urteil  gewinnen. 

4.  Glauben  wir  aus  unseren  Versuchen  einen  Hinweis  und  eine  Mahnung 
für  die  Pädagogik  entnehmen  zu  müssen.  Es  ist  ja  sicher  nicht  gleichgültig, 
welchen  Niederschlag  die  Zeitverhältnisse  im  jugendlichen  Gemüt  finden,  und 
es  ist  Sache  der  Pädagogik,  falsche  und  moralisch  bedenkliche  Ideenverbin- 
dungen zu  lösen. 

Es  könnte  vielleicht  als  ein  Umweg  erscheinen,  von  dem  hier  betretenen 
Wege  Anregungen  zu  pädagogischem  Handeln  zu  holen.     Allein  es  ist  doch 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  25 


386      Adalbert  Gregor,  Über  den  Einfluß  von  Kriegs-  u.  Zeitkomplexen  usw. 

zu  erwägen,  ob  die  tatsächliche  Denkungsweise  des  Kindes  in  solchen  un- 
gezwungenen Versuchen  nicht  reiner  zum  Ausdruck  kommt  als  in  den  üb- 
lichen pädagogischen  Besprechungen,  bei  denen  gleich  von  vornherein  eine 
bestimmte  moralische  Einstellung  gegeben  ist,  welche  das  eigentliche  Urteil 
des  Kindes  in  den  Hintergrund  drängt.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  erscheint 
die  Durchführung  derartiger  Versuche  zu  rein  pädagogischen  Zwecken  er- 
wägenswert. 


Über  das  logisch-rechnerische  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzig- 
jährigen au!  Grund  experimenteller  Untersuchungen. 

Von  Woldemar  Voigt. 

Die  im  folgenden  besprochenen  Untersuchungen  bilden  die  Fortsetzung 
einer  im  Jahre  1913  veröffentlichten  Arbeit  „Über  die  Anlage  zum  Rechnen".') 
Der  große  zeitliche  Zwischenraum  erklärt  sich  aus  der  Teilnahme  des  Ver- 
fassers am  Feldzuge.  Währenddessen  ist  die  Arbeit  von  Meumann  besprochen 
worden  2),  und  das  Institut  für  experimentelle  Pädagogik  und  Psychologie  des 
Leipziger  Lehrervereins  hat  die  von  mir  ausgebildete  Methode  —  das  Rechnen 
in  fremden  Systemen  —  als  Test  für  die  „psychologische  Auswahl  der  jugend- 
lichen Begabten"  verwendet. 3) 

Die  Einflüsse  der  Kriegszeit  auf  die  physiologisch -psychologische  Grund- 
lage der  Untersuchungen  bilden  ein  Problem  für  sich,  sie  sind  im  vorliegenden 
Falle  aber  ohne  Belang,  da  —  bis  auf  einen  Sonderfall  —  im  großen  ganzen 
die  Einwirkungen  auf  alle  Versuchspersonen  die  gleichen  sind.  Besondere 
Schwierigkeiten  ergeben  sich  nur  in  der  Verknüpfung  der  diesmaligen  Er- 
gebnisse mit  denen  von  1912,  einmal  wegen  der  eben  erwähnten  Einwirkungen 
des  Krieges  in  der  Zwischenzeit  und  sodann  wegen  der  notwendig  gewor- 
denen Verschiedenheit  der  Aufgaben.  Die  Schwierigkeiten  erweisen  sich 
jedoch  nicht  als  unüberwindlich.^) 

Die  Versuche. 

1.  Lektion  und  Aufgaben.  Die  1912  verwendete  Lektion »)  ist  in  allen 
Fällen  in  der  gleichen  Weise  wieder  gehalten  worden,  nach  Möglichkeit 
wörtlich  und  im  übrigen  so,  daß  die  geringste  Abschweifung  oder  unerwünschte 
Weiterführung  sofort  und  durchaus  unterbunden  wurde.  Das  war  nach  Lage 
der  Sache  in  der  höheren  Mädchenschule  begreiflicherweise  nicht  immer  ganz 
leicht.  In  den  Lehrerbildungsanstalten  ging  es  ohne  Schwierigkeit  so,  daß 
sie  als  „Probelektion"  dargeboten  wurde.  Jedenfalls  kann  die  Lektion  kein 
Hindernis  für  die  Vergleichung  und  Verknüpfung  der  früheren  und  jetzigen 
Ergebnisse  bilden. 

Als  Aufgaben  für  die  Umrechnungen  habe  ich  dieselben  genommen  wie 
früher  c),  bei  den  Rechnungen  sind  Subtraktion,   Multiphkation  und  Division 


1)  ßrahn  u.  Döring,  Archiv  für  Pädagogik,  Abt.  II:   Die  pädagog.  Forschung,  Jalirgang   I, 
Heft  2,  Leipzig  1913,  S.  129—197. 

2)  Meumann,  Vorlesungen  z    Einf.  in  die  exp.  Päd.,  Leipzig  19U,  Bd.  in,  S.  819. 

^  Erahn,  Pädagogisch-psychologische  Arbeiten  des  L.  L.  V.,   Leipzig  1919,  IX.  Bd.,  S.  41> 
*)  Siehe  S.  405.  s)  Voigt,  a.  a.  0.,  S.  132ff.  «)  Voigt,  a.  a.  0.,  S.  135ff. 


W.  Voigt,  Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw.     337 

hinzugekommen.  Die  eine  Wurzel  war  nur  als  Zeitfüllsel  für  schnelle  Rechner 
gedacht;  sie  ist  übrigens  von  keiner  Vp.  in  Angriff  genommen  worden.  Von 
einigen  älteren  Vpn.  habe  ich  sofort  nach  Schluß  des  Experiments  eine  ganz 
kurze,  ungekünstelte  Schilderung  ihres  seehschen  Erlebens  verlangt. 

Es  waren  niu*  zweimal  je  zwei  verschiedene  Aufgabenreihen  nötig,  da  ich 
diesmal  zur  gleichen  Zeit  benachbarte  Schüler  in  verschiedenen  Systemen 
habe  rechnen  lassen. 

1.  Aufgabenreihe. 

Umrechnungen  im  Achtersystem  (U  VIII). 
274.        316,        407,        100,        53,        10,        1234,        1000,        20400,        275036- 

Umrechnungen  im  Sechsersystem  (U  VI). 
351,        444,        302,        100,        34,        10,        2054,        1000,        14302,        404302. 


2.  Aufgabenreihe. 
Rechnungen  im  Achtersystem  (R  VIII). 


a)  365  -^  754 

b)  35  -  43 

c)  235  +  7257  -  67 

d)  547-256 

e)  7006-5325 

f)  517  .  6 

g)  53  .  76   . 
h)  56&4:7 

i)  1005:57 
k)  36366:713 

1)  &43456 :  306 
m)  V333141 


a)  365 

754 

1341 


b)  35 

43 

100 


c)  235 
7257 

67_ 

7603 


d)  547  e)  7006 
256  5325 
271      1461 


f)  517  .6 
3732 


g)  53  .  76 


h)  5664:7  =  654 

54 

46 

43 

34 


i)  1005:57=13 
57_ 

215 
215 


k)  36366  :  713  -  42  1)  643456  :  306  =  2075  m)  1/333141  =  517 
3454  614  31 


1626 
1626 


2745 
2552 

1736 


12  231 
121 

122  11041 
11041 


Rechnungen  im  Sechsersystem  (R  VI). 


a)  425  +  354 

b)  23  +  33 

c)  235  +  4124  -  55 

d)  435  -  243 

e)  5004-3142 

f)  315  .  4 
g)  31  .  54 
h)  2445:5 

i)  504:35 
k)  25332:514 

1)  434042 :  205 
m)  ]/303121 


425 

354 

1223 


b) 


23 
_33 

100 


c)  235 

4124 

55 

4502 


d) 


g)  31  .54   h) 
204 
235 


2554 


2445:5 
23 

14 
14 

5 
5 


435 
243 

152 
321 


e) 


5004 
3142 
1422 


504:35 
35 
114 
114 


f)  315  .4 
2112 


12 


k) 


25332 :  514 
2350 

1432 
1432 


32     1) 


434042  :  205  -  2054  m)  y303121  =  415 

414  24 

2004  12'  231 

1441  121 

1232  122  11021 

1232  11021 

2.    Ort,   Zeit,  Personen.     Die   Untersuchungen    sind  mit  Erlaubnis  des 
Herrn  Oberschulrat  Prof.  Dr.  Gaudig  an  der  II.  höheren  Mädchenschule  und 


v^8« 


Woldemar  Voigt 


dem  Lehrerinnenseminar  zu  Leipzig  und  mit  Erlaubnis  des  Herrn  OberscjJulrat 
Dr.  Hözel  am  Lehrerseminar  zu  Frankenberg  i.  Sa.  angestellt  worden,  und 
zwar  in  den  Monaten  Mai  und  Juni  1919  jeweils  in  den  frühen  Vormittags- 
stimden  außerhalb  der  planmäßigen  Unterrichtszeit.  Die  Lektion  erforderte 
je  20 — 22  Minuten,  die  erste  Aufgabenreihe  9,  die  zweite  13  Minuten,  der 
ganze  Versuch  somit  42 — 44  Minuten. 

Für  die  männlichen  Vpn.  waren  die  Vorbedingungen  insofern  etwas  un- 
günstiger, als  immer  drei  Klassen  gleichzeitig  arbeiten  mußten,  und  zwar 
im  Singsaale  des  Frankenberger  Lehrerseminars,  der  nicht  mit  Schreibtischen 
ausgestattet  ist.  Eine  einfache  Pappunterlage  auf  dem  Knie  mußte  die 
Schreibplatte  darstellen;  ich  nehme  aber  an,  daß  diese  kleine  Unbequem- 
lichkeit ohne  wesentlichen  Einfluß  auf  die  Ergebnisse  des  Experiments  ge- 
blieben ist.  Herrn  Seminardirektor  Oberschulrat  Dr.  Hözel  sei  gleich  an 
dieser  Stelle  für  die  gütige  Mithilfe  bei  der  Anordnung  und  Beaufsichtigung 
des  Experiments  —  an  einem  wunderschönen  Festtagsmorgen!  —  ergebenst 
gedankt. 

Es  sind  —  von  Vor-  und  Einzelversuchen  abgesehen  —  im  ganzen  359  Per- 
sonen untersucht  worden,  und  zwar  110  männhche  und  249  weibhche.  Sie 
verteilen  sich  wie  folgt: 


Geboren 

Durchsch 

.-Alter 

männl. 

weibl. 

Bezeichnung 

1.7.05  —  31.6.06 

14.  Leb.- 

Jahr 



291) 

XIV  a 

1.7.05  —  31.6.06 

14.      „ 

— 

222) 

XIV 

1.7.04  —  31.6.05 

15.     „ 

15 

392) 

XV 

1.7.03-31.6.04 

16.     „ 

24 

262) 

XVI 

1.7.02  —  31.6.03 

17.      „ 

]8 

29 

XVII 

1.7.01  —  31.6.02 

18.     „ 

21 

21 

XVIII 

1.7.00-  31.6.01 

19.     „ 

16 

20 

XIX 

bis  31.  6.  00 

20.-22. 

„ 

163) 

63 

XX 

110 


249 


Für  die  Gruppierung  ist  der  Klassenverband  nicht  maßgebend  gewesen,  son- 
dern nur  das  Alter.  Da  die  einzige  Vorbedingung  für  die  Möglichkeit  der 
Lösung  der  Aufgaben  die  ist,  daß  die  Schüler  die  vier  Grundrechnungsarten 
kennen  und  können,  so  erscheint  diese  Art  der  Gruppenbildung  zum  min- 
desten unbedenkhch.  Zur  Gewinnung  von  verwendbaren  Vergleichswerten  war 
sie  zweifellos  notwendig. 

Schließlich  ist  hier  noch  darauf  hinzuweisen,  daß  für  den  Vergleich  der 
Geschlechter  nur  die  Gruppen  XV — XIX  in  Frage  kommen  können,  ganz 
besonders  wenn  es  sich  um  Durchschnittswerte  handelt;  es  stehen  sich  dann 
94  und  135  Vpn.  gegenüber. 

Die  Ergebnisse. 

Es  war  zunächst  notwendig,  Gruppentafeln  anzulegen,  auf  denen  jede  ein- 
zelne Schülerin  mit  ihren  Einzelleistungen  verzeichnet  ist.  Hierbei  ergab  sich 
übrigens,  daß  nicht  alle  Schülerinnen  bei  Umrechnungen  und  Rechnungen 
ungefähr  gleichwertige  Leistungen  aufweisen.  Eine  ganze  Anzahl  schneidet 
bei  den  Rechnungen  erheblich  besser  ab  als  bei  den  Umrechnungen,  und  — 
was  noch   sonderbarer  ist   —  mehrere  Schülerinnen  erledigen  die  Umrech- 


')  Volksschülerinnen. 


2)  Höhere  Mädchenschsile. 


')  Kriegsteilnehmer. 


Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw.       389 

nungen  glatt  und  versagen  bei  den  nachfolgenden  Rechnungen  fast  voll- 
ständig. Das  läßt  im  ganzen  genommen  auf  drei  Typen  logisch-rechnerischen 
Denkens  schließen',  zu  deren  genauer  Charakterisierung  jedoch  ausführliche 
Einzelprüfungen  erforderlich  sind.  Ferner  gewinnt  man  aus  diesen  Tafeln 
den  Eindruck,   daß    im    allgemeinen   bei   den   einzelnen  weiblichen  Vpnen. 

richtige  (r),  halbrichtige  (^,  ^)  und  falsche  (f)  Lösungen  in  bunterem  Wechsel 

nebeneinanderstehen  als  bei  den  einzelnen  männlichen  Vpnen.,  und  dieser 
Eindruck  wird  sich  im  folgenden  als  Tatsache  erweisen. 

Sodann  mußte  für  jede  Gruppe  festgelegt  werden,  wie  viele  der  überhaupt 

gestellten  Einzelaufgaben  (a)   r,  ^,  j,  f  und  gar  nicht  gelöst  worden  waren. 

Und  diese  Tafeln  galt  es  dann  zum  Zwecke  des  Vergleichens  in  Prozent- 
tabellen umzurechnen  (Tafeln  B  und  C)').  Hier  beziehen  sich  die  senkrechten 
Reihen  auf  die  einzelnen  Aufgaben,  die  wagerechten  auf  die  einzelnen 
Gruppen.  A  bedeutet  Addition,  S  Subtraktion  usf.,  im  übrigen  sei  auf  die 
Abkürzungen  der  vorigen  Arbeit  hingewiesen.  -)  Die  Tafel  II  ist  die  einfache 
Fortsetzung  der  Tafeln  B  und  C  insofern,  als  die  Zahlen  von  II  den  Durch- 
schnitt der  wagerechten  Reihen  von  B  und  C  darstellen.  Allerdings  sind  die 
Durchschnittswerte  wegen  der  vielen  Nullen  bei  den  Divisionen  direkt  aus 
den  ursprünglichen  absoluten  Ergebnissen  errechnet  worden,  also  nicht  als 
Mittel  der  Einzelprozent  zahlen.  Das  D  auf  den  Tafeln  I,  II,  in,  IV  und  VI 
bedeutet  immer  das  Mittel  aus  den  zugehörigen  senkrechten  oder  wagerechten 
Reihen;  in  diesem  zweiten  Falle  ist  das  Mittel  freihch  nur  aus  den  Gruppen 
XV— XIX  gewonnen.  3)  Die  Tafeln  I,  HI,  IV,  V  und  VI  sind  ähnhch  II  die 
Zusammenfassung  ausfülirlicher  Tabellen,  die  wie  alle  übrigen  bisher  ange- 
deuteten aus  naheliegenden  Gründen  nicht  abgedruckt  werden  können.  Sie 
werden  mit  dem  gesamten  Material  in  dem  Institut  für  experimentelle  Päda- 
gogik an  der  Universität  Leipzig  aufbewahrt  und  stehen  gegebenenfalls  zur 
Dm-chsicht  zur  Verfügung. 

Ich  habe  aüe  Tafeln,  auch  die  ausführlichen,  unter  Anwendung  farbiger 
Tuschen  graphisch  dargestellt.  Die  Ergebnisse  springen  dann  mit  außer- 
ordentlicher Klarheit  sofort  ins  Auge.  Wenn  im  folgenden  also  gelegenthch 
die  Ausdrücke  höher  und  tiefer  auftreten,  so  erklärt  sich  das  aus  der  Zu- 
grundelegung dieser  graphischen  Darstellungen,  die  übrigens  auch  in  dem 
genannten  Universitätsinstitut  zur  Einsicht  bereit  liegen. 

1.    Die  Quantität  der  Leistucigen. 

a)  Gesamtzahl  der  Lösungen.  Den  330  Fünfzehn-  bis  Zwanzigjährigen, 
um  deren  Untersuchung  es  sich  im  wesentlichön  handelt,  sind  im  ganzen 
6930  Aufgaben  gestellt  w^orden,  von  denen  sie  4752,  d.  h.  69  o/o  in  Angi-iff 
genommen  haben.  Es  sind  also  im  allgemeinen  wesentlich  mehr  als  die 
Hälfte  aller  gestellten  Aufgaben  auch  gerechnet  worden.  Nur  in  einem  ein- 
zigen Falle  (siehe  Tafel  I  XVI  w  VI-S)  sinkt  die  Beteiligungsziffer  ein  wenig 
unter  50 "/o.  Die  Ergebnisse  düi-ften  demnach  auf  genügend  breiter  Grund- 
lage ruhen,  wenn  auch  die  Beteiligung  an  der  Lösung  der  überaus  schwierigen 
Divisionsaufgaben  naturgemäß  ziemlich  gering  ist.    Ich  habe  diesem  Umstände 

!  Aus  technischen  Gründen  nicht  abgedruckt.      -)  Voigt,  a.  a.  0..  Seite  140.      ^  Siehe  S.  388. 


390  Woldemar  Voigt 

Rechnung  getragen,  indem  ich  bei  der  Feststellung  der  Durchschnittswerte 
entweder  die  unsicheren  Zahlen  weggelassen  oder  einen  ganz  anderen  Rech- 
nungsmodus gewählt  habe.  1)  Die  unsicheren  Zahlen  selbst  habe  ich,  auch 
wenn  sie  ganz  unwahrscheinlich  erschienen,  ohne  jegliche  Veränderung  in 
die  ausführhchen  Tabellen  gesetzt,  denn  die  Tabellen  bilden  das  unanfecht- 
bare Fundament  der  Erklärungen,  an  dem  man  selbst  nicht  unter  Hinweis 
auf  die  Erfahrungen  der  Klassenlehrer  rütteln  darf,  wenn  nicht  das  Gefüllt 
des  unsicheren  Tappens  aufkommen  soll.  Die  Bewertung  der  Sicherheit 
der  einzelnen  Tabellenzahlen  ist  eine  Sache  für  sich. 2)  Immerhin:  Ich  habe 
im  Jahre  1912  bei  Versuchen  in  der  Frauenhochschule  3)  Werte  erhalten,  die 
ich,  weil  sie  mir  zu  unnatürlich  erschienen,  damals  mit  allem  Vorbehalt 
angegeben  habe.  Heute  weiß  ich,  daß  sie  durchaus  kein  wertloses  Zufalls- 
ergebnis waren;  denn  sie  werden  durch  die  vorliegenden  Untersuchungen 
ausnahmslos  bestätigt.  Die  exakt  gewonnene  Zahl  kann  eben  nur  durch 
ebenso  exakt  gewonnene  andere  bestätigt  oder  gegebenenfalls  widerlegt  werden, 
und  die  auf  sogenannter  praktischer  Erfahrung  beruhende  spekulative  Er- 
klärung ist  nur  mit  größter  Vorsicht  zu  verwenden,  weil  sie  unverhältnismäßig 
stark  modifiziert  wird  durch  hervorstechende  Ausnahmen,  die  beim  Kollektiv- 
versuch genügend  kompensiert  werden.  Zudem  habe  ich  ja  —  wie  schon 
gesagt  —  bei  der  Gruppenbildung  den  Klassenverband  zerrissen,  sodaß  bei 
den  Erklärungen  der  sogenannte  Habitus  der  Klasse  nur  eine  ganz  bescheidene 
Rolle  spielen  darf.  Ich  verweise  an  dieser  Stelle  gern  auf  die  ganz  kurzen, 
aber  treffenden  Anmerkungen  Lays')  über  das  Wesen  der  experimentellen 
Pädagogik. 

Die  Beteiligung  der  männlichen  Vp.  bewegt  sich  im  Durchschnitt 
zwischen  74  und  880/0,  dabei  vom  15.  bis  zum  18.  Lebensjahre  ungefähr 
auf  gleicher  Höhe,  aber  mit  immerhin  erkennbarem  Abfall  der  Sechzehn-  und 
Siebzehnjährigen  bei  allen  Versuchen.  In  die  Augen  fallend  ist  das  überall 
deutliche  Hervorstechen  der  über  18  Jahre  alten  Schüler,  nur  bei  den  Rech- 
nungen erreichen  diese  lediglich  dieselbe  Beteihgungszahl  wie  die  Fünfzehn- 
jährigen. Die  zwischen  diesen  Punkten  liegende  Senkung  der  Kurve  läßt 
vermuten,  daß  die  Naivität  in  der  Beurteilung  der  Schwierigkeit  der  Aufgaben 
allmähhch  der  bewußten  Abschätzung  der  Schwierigkeiten  und  der  vor- 
handenen Fähigkeiten  Platz  macht.  Die  Beteiligung  an  den  Umrechnungen 
ist  auf  allen  Altersstufen  wesentlich  größer  als  die  an  den  Rechnungen;  die 
Durchschnittszahlen  für  die  fünf  vergleichbaren  Stufen  sind  85  und  71.  Das 
mag  an  der  Schwierigkeit  der  Division  liegen,  kann  aber  auch  zunächst  nicht 
erkennbare  Gründe  haben.  Merkwürdigerweise  ist  die  Beteiligung  an  den 
Aufgaben  des  nicht  besprochenen  Sechsersystems  zum  mindesten  dieselbe 
wie  im  besprochenen  Achtepsystem,  meist  sogar  größer,  wie  auch  die  Durch- 
schnittswerte in  der  3.  Spalte  ausweisen.  Eine  Ausnahme  machen  nur  die 
Fünfzehnjährigen  und  —  die  Kriegsteilnehmer:  diese  beiden  Gruppen  finden 
in  der  sofortigen  Verwendung  des  nichtbehandelten  VI.  Systems  eine  wesent- 
liche Schwierigkeit. 

Die  weiblichen  Vp.  Die  Beteiligungsziffer  der  Vierzehnjährigen  liegt 
merkhch  höher  als   die  aller  anderen  Altersstufen  und  wird   von  diesen  in 


»)  Siehe  S.  389.  -)  Voigt,  a.  a.  0.,  S.  158.  ^^  Voigt,  a.  a.  O.,  S.  188. 

*)  Lay,  Experimentelle  Pädagogik,  Leipzig  1912,  S.  8. 


Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw.        391 

keinem  Falle  wieder  ganz  erreicht,  auch  von  den  Zwanzigjährigen  nicht.  Der 
Vorteil  des  naiven  Herangehens  an  die  Tätigkeit  wird  also  anscheinend  nach  der 
Pubertät  verloren  und  kann  durch  die  Entwicklung  des  rechnerischen  Verständ- 
nisses nie  ganz  wett  gemacht  werden,  eine  gewisse  Hilflosigkeit  wird  im  allgemei- 
nen nie  wieder  vöHig  überwunden.  Auf  den  Vergleichsstufen  ist  die  Beteiligung 
im  ganzen  gleich,  bei  den  Umrechnungen  fast  durchweg  aufsteigend  zwischen 
54  und  68,  bei  den  Rechnungen  dagegen  abfallend  von  65  bis  53.  Die  Um- 
rechnungen werden  also  allmähhch  als  leichter,  die  Rechnungen  mit  zu- 
nehmendem Alter  als  schwieriger  empfunden.  Die  Durchschnittswerte  der 
Vergleichsgruppen  (XV — XIX)  liegen  für  die  1.  und  2.  Rubrik  dicht  beiein- 
ander auf  61  und  58,  im  Sechsersystem  sogar  umgekehrt  auf  55  und  57.  ^ 
Überhaupt  arbeiten  die  weiblichen  Vp.  im  Durchschnitt  ohne  jede  Ausnahme 
im  Sechsersystem  mit  geringerer  Beteiligung  als  im  Achtersystem.  Das  Nicht- 
besprochene  erscheint  somit  den  Mädchen  durchweg  schwieriger  als  das 
Besprochene;  es  ist,  als  fehle  ihnen  der  Mut,  neue  Bahnen  geistiger  Betätigimg 
ungeleitet  zu  beschreiten. 

Tafel  I. 

Überhaupt  gerechnete  Aufgaben  (1 :  a) 

Durchschnittswerte. 

Umrechnungen  Rechnungen  Durchschnitt  (U  +  R) 

XIV  XV  XVI XVII XVIII XIX  XX  D  I XR'  XV  XVI XVII  xvm  XIX  xxü  D  I  xrv  XV  XVI  xvn  xvm  xix  xx  d 

Die  männlichen  Versuchspersonen 


Vin-S  —   89    77    74   84   99   99   85 

VI-S   —    80   81    86   83    97    91    85 

D  —   85    79    80   83    98   95    85 


76   67   67   66   70  83   69 .  —   80   72   71    76   85   91    77 
—  77    71    67    73   83    71    73 !  —   79    76   77    78   90   81    79 


77    69   67    70   77    77    71  1  —  80  74  74  77  88  86    78 

Die  weiblichen  Versuchspersonen 

VIII-S  84   51    68   69    71    74   84    66  :  65  58   66   55    57    55    60   58 :  75  55  67  62  64  65  72    62 

VI-S  80   57   47    54    64    54    78   55     68  53    64    61    57    50   58   57  i  74  55  56  58  61  52  68   56 

D  82    54    58    62    68    64   81    61     67  56    65    58   57    53    59    58    75  55  61  60  63  59  70   59 

Vergleichen  wir  die  männlichen  und  weiblichen  Vp.!  Die  jungen 
Männer  haben  im  Durchschnitt  IS^'o  aller  Aufgaben  gerechnet,  die  Mädchen 
nur  590  0;    das  ist   eine  ganz  beträchthche  Spannung.     Sie  ist  am   größten 

—  85  —  55  =  30  — ,  wenn  man  nur  die  Umrechnungen  im  Sechsersystem, 
am  kleinsten  —  69  —  58  =  11  — ,  wenn  man  nur  die  Rechnungen  im  Achter- 
system berücksichtigt.  Hiermit  bestätigt  sich  das  bereits  Gesagte,  daß  näm- 
lich die  jungen  Männer  nicht  nur  aggressiver  sind  in  der  Aufnahme  der 
Arbeit,  sondern  daß  sie  sich  auch  im  allgemeinen  durch  die  Notwendigkeit, 
schnell  entschlossen  neue  Wege  einzuschlagen,  nicht  stören  lassen.  Daß  die 
männhchen  Vp.  im  einzelnen  fast  durchgehends  im  Sechsersystem  mehr 
arbeiten  als  im  Achtersystem,  während  für  die  weibhchen  Vp.  gerade  das 
Umgekehrte  gilt,  wurde  schon  erwähnt. 

b)  Die  richtigen  Lösungen.  Von  den  beiden  Vergleichsgruppen  zu- 
sammen sind  ungefähr  40  Vo  aller  gestellten  Aufgaben  richtig  gelöst  worden. 
Das  ist  mit  Rücksicht   auf  die  unverhältnismäßig  große  Zahl  der  verlangten 

—  schwierigen !  —  Divisionen  ein  recht  brauchbarer  Wert,  der  sich  übrigens 
noch  erhöht,  wenn  man  die  Leistungen  der  Vierzehnjährigen  und  der  Zwanzig- 
jährigen mit  in  Betracht  nimmt.     In  methodischer  Hinsicht  ist  es  sogar  ein 


392  Woldemar  Voigt 


Vorteil,  daß  er  nicht  zu  hoch  hegt;  denn  sonst  wäre  er  ein  Zeugnis  für  zu 
große  Leichtigkeit  der  Aufgaben,  und  es  könnten  sich  keine  brauchbaren 
Unterschiede  ergeben. 

Tafel  IL 

Völlig  richtige  Lösungen  (r  :  a) 
Durchschnittswerte. 

Umrechnungen  Rechnungen  Durchschnitt  (U  +  K) 

XIV  XV  XVI  XVII  XVm  XIX  XX    D  |  XI V  XV  XVI  XVII  XVIU  XIX  XX    D  I  XIV  XV  XVI  XVII XVIII XIX  XX    D 
Die  männlichen  Versuchspersonen 
Vni-S  —  59   56   54   61    88   91    63   j  —  34   36   33   29   45   45   36 1  —   47   46   44   45   67   68   50 
VI-S  —    45   28    72    53   79   40   52   j  —  35   37   40   38   51    32   40    —   40   33   56   46   65    36   46 
D  —   52   42   63   57   84   66   58  I  —  35   37   37   34   48   39   38 !  —  43   39   50  46   66   52   48 

Die  weiblichen  Versuchspersonen 

23  29  39  28  24  31  35  30 
18  25  19  24  16  23  35  22 
21  27    29*26    20   27    35    26 


VIII-S  62   34   43   52   51    63   66   46 
VI-S  54   33    17   34   25   29   58   28 


D  58  34  30  43  38  46  62  37 


43  32  41  40  38  47  51  38 
36  29  18  29  21  26  47  25 


40  30  29  35  29  37  49  32 


Die  männlichen  Vp.  Den  charakteristischen  Verlauf  der  Entwicklung 
der  rechnerischen  Anlage  deuten  neben  allen  Rechnungen  die  Kombinations- 
werte für  das  Achtersystem  am  besten  an  (Tafel  II,  3.  Längsspalte).  Danach 
tritt  während  des  15.  bis  18.  Lebensjahres  ein  gewisser  Stillstand  der  rech- 
nerischen Leistungsfähigkeit  ein,  der  mit  Beginn  des  19.  Jahres  durch  einen 
ganz  gewaltigen  Ruck  nach  vorwärts  abgelöst  wird.  Die  Einzelziffern  für 
die  Subtraktionen,  Multiphkationen  und  Divisionen   auf  Tafel  B,   sowie   die 

entsprechenden  Werte  für  die  richtigen  plus  halbrichtigen  (r  +  yj  Lösungen 

auf  den  nichtabgedruckten  Tafeln  bestätigen  den  Ruck  ganz  besonders.  In 
diesen  Zusammenhang  gehört  auch  die  aus  Tafel  B  in  der  3.  Querspalte  erkenn- 
bare merkwürdige  Erscheinung,  daß  die  15-  bis  18  jährigen  und  die  Kriegs- 
teilnehmer bei  der  ersten  Multiplikation  weniger  richtige  Lösungen  aufzuweisen 
haben  als  bei  der  zweiten,  während  allein  die  19jährigen  für  beide  Multi- 
phkationen die  gleiche  Leistungszahl  —  57  —  erreichen.  Wie  aus  Einzel- 
versuchen zu  erkennen  war  und  die  Selbstbeobachtung  bestätigt,  läßt  sich 
die  zweite  Multiplikation  mechanischer  lösen  als  die  erste,  weil  im  Rechen- 
unterrichte schriftliche  Multiphkationen  bei  weitem  am  häufigsten  mit 
mehrstelhgem  Multiphkator  vorkommen.  So  arbeiten  also  erst  die  Neunzehn- 
jährigen im  allgemeinen  unabhängiger  von  der  mechanischen  Grundlage, 
gewissermaßen  prinzipieller  als  die  Jüngeren.  Bei  den  Subtraktionen  lösen 
ganz  entsprechend  die  Neunzehnjährigen  die  zweite  Aufgabe,  die  das  Prin- 
zipielle schärfer  hervortreten  läßt,  etwas  besser  als  die  erste,  während  bei 
den  Jüngeren  und  den  Kriegsteilnehmern  im  allgemeinen  das  Gegenteil  der 
FaU  ist.  Sehr  interessant  sind  die  Leistungswerte  füi;  die  Umrechnungen 
zweisteüiger  Zahlen  in  der  3.  Querspalte  von  Tafel  B.  Diese  sind  nämlich 
wesentlich  höher  als  bei  den  benachbarten  Exempeln  in  den  jüngeren  Gruppen 
(XV  z.  B.  44—95—69),  merkhch  niedriger  dagegen  in  den  älteren  (XVIII  z.  B. 

67—42  -  67).     Die  Zahlen  der  r  -h  ^-Tabellen  sprechen  übrigens  noch  deut- 

hcher.    Mir  ist  diese  Erscheinung  wiederum  ein  Beweis  für  die  mechanischere 


Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw,       393 

Art  des  Rechen-Denkens  der  Jüngeren  gegenüber  der  prinzipielleren,  sach- 
licheren der  Älteren.  Vielleicht  kommt  auch  die  anschauliche  Grundlage 
der  Lektion  den  Jüngeren  bei  den  Umrechnungen  zu  Hilfe,  während  sie  für 
die  abstrakter  denkenden  Älteren  fast  als  Hemmung  wirkt.  Jedenfalls  ist 
das  Rechnen  der  niederen  Gruppen  ein  wesentlich  anderes  als  das  der 
oberen,  und  die  Werte  für  das  VI-S.  in  der  3.  Längsspalte  von  Tafel  II 
können  diese  Ansicht  nur  bekräftigen.  Sie  illustrieren  nämlich  nach  meiner 
Auffassung  eine  gewisse  qualitative  Umgruppierung  innerhalb  der  im  ganzen 
quantitativ  gleichen  Leistungsfähigkeit  der  Gruppen  XV— X\TI1.  Kurz  nach 
der  Pubertät  tritt  ein  geringes  Erschlaffen  der  selbständigen  Gedankenführung 
ein,  von  dem  sich  der  junge  Mann  aber  binnen  Jahresfrist  völlig  erholt,  und 
zwar  so,  daß  die  selbständigen  Leistungen  die  bloßen  Nachahmungen  ganz 
beträchtlich  übertreffen.  Man  vergleiche  die  Zahlen  40—33—56  mit  den 
darüberstehenden  47 — 46 — 44.  Noch  deutlicher  erkennbar  ist  das  eben  Ge- 
sagte aus  den  Umrechnungen  im  Vl-System  (1.  Längsspalte).  Auf  den  eigen- 
tümlichen Zickzackverlauf  dieser  Kurve  und  der  von  ihr  beeinflußten  möchte 
ich  nur  hinweisen.  Vielleicht  ist  es  nicht  falsch,  den  Verlauf  der  Entwicklung 
des  logisch-rechnerischen  Denkens  nach  dem  14.  Lebensjahre  in  zweijährige 
Perioden  zu  zerlegen,  in  denen  Aufstieg  und  Erschlaffung  aufeinander  folgen, 
doch  immerhin  so,  daß  ein  kleiner  Fortschritt  übrig  bleibt.  Da  es  sich  bei 
den  Erschlaffungen  aber  um  verhältnismäßig  geringe  Werte  handelt,  so 
könnten  zufällige  KonsteUalionen  innerhalb  der  Versuchsgruppen  zur  Er- 
klärung ausreichen.  Ganz  übergehen  möchte  ich  aber  die  immerhin  inter- 
essante Erscheinung  nicht.  Zu  ihrer  befriedigenden  Deutung,  \^^e  überhaupt 
zur  Deutung  der  meisten  bisherigen  Ergebnisse  sind  noch  zahlreiche  ausführ- 
liche Einzeluntersuchungen  erforderlich.  Bei  den  Rechnungen  sind  die 
Leistungen  im  Vl-S.  durchweg  höher  als  die  im  VIII-S.  Eine  Ausnahme 
machen  nur  die  Kriegsteilnehmer,  deren  Leistungen  hier  —  übrigens  auch 
bei  den  Umrechnungen  —  noch  unter  die  der  Fünfzehnjährigen  sinken.  Bei 
den  Umrechnungen  tritt  mit  dem  17.  Lebensjahre  ein  immerhin  erkennbarer 
Wechsel  ein.  Die  jungen  Männer  lösen  also  neuartige  Aufgaben,  an  die  sie, 
wie  schon  ausgeführt,  ohne  Scheu  herangehen,  mit  besserem  Erfolge  als 
bekannte.  Daß  dieser  bessere  Erfolg  bei  den  Umrechnungen  zunächst 
ausbleibt,  möchte  ich  wiederum  auf  die  anschauliche  Grundlage  der  Lektion 
zurückführen,  die  hier  bei  den  jüngeren  Männern  hemmend  wirkt,  weil  sie 
zu  Umständlichkeiten  im  Denken  verleitet. 

Die  Kriegsteilnehmer  geben  mit  dem  starken  Abfall  ihrer  Leistungen  im 
VI-S.  Beweise  von  dem  ungünstigen  Einflüsse  der  Kriegserlebnisse  auf  die 
Produktivität.  Jeder  geistige  Arbeiter  unter  den  Heimgekehi-ten  wird  mir 
diese  Erscheinung  auch  für  sich  bestätigen  können.  Einfache  Reproduktion 
von  einstmals  Gelerntem,  einfache  Fortführung  vorgezeichneter  Gedanken- 
gänge erschienen  uns  kurz  nach  unserer  Rückkehr  von  der  Front  ziemlich 
leicht,  selbständige  Produktion,  selbständiges  Bearbeiten  bisher  unbekannter 
Materie  war  ungeheuer  schwer,  ja  unmöglich.  Offiziersaspiranten,  die  zum 
Kursus  kamen,  erklärten  mir  seinerzeit  zu  ihrer  Entschuldigung  überein- 
stimmend, daß  die  vielen  technischen  Ausdrücke  der  M.-G.-Waffenlehre  und 
der  M.-G.- Schießlehre  ihnen  ganz  außerordentliche  Schwierigkeiten  böten. 
„Für  mich  ist  das  Wort  Splint  schon  ein  Studium  für  sich",  sagte  einer 
ganz  treffend. 


394  Woldemar  Voigt 


Die  weiblichen  Vpn.  Die  Mädchen  im  Alter  von  fünfzehn  bis  neunzehn 
Jahren  leisten  im  Durchschnitt  sämtlich  Geringeres  als  die  Vierzehniährigen, 
und  die  Zwanzigjährigen  nicht  viel  mehr  als  diese  (Tafel  II,  3.  Spalte:  40-^>49). 
Das  ergibt  sich  noch  deuthcher  aus  den  Umrechnungen  allein,  wo  die  ent- 
sprechenden Zahlen  58  und  62  lauten.  Zwischen  diesen  Endpunkten  liegt 
eine  tiefe  Senkung,  die  übrigens  wiederum  das  charakterische  zweijährige 
Zickzack  erkennen  läßt.  *)  Bei  den  Rechnungen  bewegen  sich  die  Leistungs- 
zahlen sechs  Jahre  lang  zwischen  20  und  29,  und  für  die  Zwanzigjährigen 
ist  auch  nur  35  verzeichnet.  Die  niedrigsten  Zahlen  werden  im  VI-S.  erreicht, 
und  zwar  in  den  Umrechnungen  von  Gruppe  XVI  17,  in  den  Rechnungen 
von  Gruppe  XVIII  16.  Überhaupt  liegen  die  Kurven  für  das  VI-S.  ohne  jede 
Ausnahme  unter  denen  für  das  VIII-S.,  am  beträch tUchsten  bei  den  16-  bis 
19jährigen.  Die  Lust  und  Fähigkeit  zu  selbständiger  Betätigung  ist  also 
in  diesen  Jahren  am  geringsten,  steigt  mit  dem  20.  Jahre  etwas  an,  ohne 
aber  die  Lust  und  Fähigkeit  zu  angeleiteter  Betätigung  ganz  zu  erreichen. 
So  scheint  mit  dem  Eintritt  der  Pubertät  die  rechnerische  Anlage  des  weib- 
lichen Geschlechts  auf  dem  Höhepunkt  angelangt  zu  sein,  und  die  Pubertät 
selbst  kennzeichnet  sich  als  eine  Zeit  erregter  Überproduktion  von  Energie, 
der  notwendig  eine  Periode  der  Entspannung  folgen  muß. 

Aus  den  Einzelleistungen  in  der  Subtraktion  und  Multiplikation  ergibt 
sich  jedoch  ein  erkennbarer  Vorteil  für  die  Zwanzigjährigen,  die  hier  eine 
ähnliche  Sonderstellung  einnehmen  wie  die  19  jährigen  Männer  (Tafel  C). 
Während  nämlich  ihre  jüngeren  Geschlechtsgenossinnen  die  1.  Multiplikation 
durchweg  weniger  richtig  lösen  als  die  2.,  ist  bei  Gruppe  XX  für  beide  M. 
die  gleiche  Leistungszahl  —  42  —  verzeichnet.  Die  2.  Subtraktion,  also  die 
prinzipiellere,  lösen  alle  Mädchengnippen  schlechter  als  die  1.,  sie  ähneln 
in  dieser  Erscheinung  den  jüngeren  Männergruppen.  Dasselbe  gilt  für  die 
Umrechnung  der  zweistelligen  Zahl;  diese  bietet  keiner  Mädchengruppe  be- 
sondere Schwierigkeiten.  Sie  rechnen  eben  alle,  wie  ich  auch  aus  spon- 
tanen Äußerungen  entnehmen  konnte,  anschaulich  und  mechanisch.  Der 
Vorteil  der  Zwanzigjährigen,  wie  er  sich  am  besten  bei  den  schwierigen 
Einzelleistungen  (S.,  M.,  V-stelHge  und  Vl-stellige  U.)  erkennen  läßt,  ist  also 
doch  im  wesentlichen  nur  quantitativer  Art.  Mit  diesem  Jahre  hat  sich  eben 
das  weibhche  Geschlecht  von  den  Erschlaffungen  im  Gefolge  der  gewaltigen 
geschlechtUchen  Umformung  so  weit  erholt,  daß  der  Geist  wieder  freier  wird 
zur  Ausführung  umfangreicherer  rechnerischer  Gedankengänge.  Groß  ist  der 
Fortschritt  nicht,  man  vergleiche  nur  die  Gruppen  XIV  und  XX  in  den  Um- 
rechnungen auf  Tafel  C  genauer  miteinander!  Ich  erlebe  eine  Bestätigung 
dessen,  was  man  aus  diesem  Vergleiche  erkennen  kann,  fast  jede  Woche 
beim  Übungsunterricht  im  Rechnen,  wo  sich  zwanzigjährige  Lehrerinnen  und 
vierzehnjährige  Schülerinnen  hinsichtlich  der  gesamten  rechnerischen 
Gewandtheit  oder  Ungewandtheit  kaum  merklich  voneinander  unterscheiden. 

Es  ist  auch  keineswegs  anzunehmen,  daß  nach  dem  20.  Jahre  ein  stetiges 
Fortschreiten  eintreten  könnte.  Ich  verweise  nur  auf  die  Versuche  in  der 
Frauenhochschule  zu  Leipzig  im  Jahre  1912.2) 

Der  Leistungsturz  von  XIV  nach  XV,  wie  er  sich  besonders  bei  den  Um- 
rechnungen auf  den  Tafeln  C  und  II  erkennen  läßt,  ist  so  gewaltig,  daß  er 


')  Siehe  S.  393.  ^)  Voigt,  a.  a.  O.,  S.  191  f. 


Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw.       395 

fast  unnatürlich  anmutet.  Er  wird  aber  gemildert  durch  die  Werte  von  S  und  M 
in  der  3.  Querspalte  von  Tafel  C  (26—13—7—23  gegenüber  34— 31— 23— 21!), 
die  eine  quantitative  Änderung  und  Besserung  andeuten.  Man  ist  versucht, 
das  Bild  von  der  Umlagerung  der  Atome  in  der  Molekel  zu  gebrauchen.  In 
der  Befürchtung,  daß  der  außerordentliche  Leistungssturz  sich  aus  groben 
Zufälligkeiten  ergeben  haben  könnte,  hat  mich  eine  Fünfzehnjährige  etwas 
beruhigt,  die  gelegentlich  ganz  spontan  erklärte:  „Voriges  Jahr  waren  wir 
die  beste  (!)  Klasse  in  der  Mathematik,  und  dieses  Jahr  können  wir  aber 
auch  rein  gar  nichts."     Lehrerurteile  stimmen  mit  dieser  Äußerung  überein. 

Männliche  und  weibliche  Vpn.  Trotz  ihrer  Sonderstellung  innerhalb 
der  weiblichen  Versuchsgruppen  haben  die  zwanzigjährigen  Mädchen  noch 
nicht  den  Leistungsstandpunkt  der  siebzehnjährigen  jungen  Männer  und  der 
Kriegsteilnehmer  erreicht;  von  den  neunzehnjährigen  Männern  werden  sie 
um  mehr  als  300;'o  übertroffen  (Tafel  11,  3.  Längsspalte:  49:66).  Überhaupt 
sind  die  Durchschnittswerte  für  die  männlichen  bzw.  weiblichen  Vpn.  48*^/o 
bzw.  320/0;  die  untersuchten  jungen  Männer  leisten  also  genau  50  ^  0  mehr 
als  die  gleichalterigen  Mädchen.  Daß  dieser  ganz  außerordentliche  Unter- 
schied aus  der  weiblichen  Unselbständigkeit  erwächst,  ergibt  sich  mit  beson- 
derer Deutlichkeit  aus  den  Rechnungen  im  Sechsersystem.  Hier  sind  die 
Durchschnittszahlen  für  die  männlichen  und  weiblichen  Vpn.  40  und  22, 
d.  h.  jene  übertreffen  diese  um  fast  100"  0.  Interessant  ist  es,  daß  die  Kriegs- 
teilnehmer gerade  im  VI-S.  in  allen  Fällen  trotz  des  eben  Festgestellten  ganz 
beachtlich  hinter  ihren  Altersgenossinnen  zurückbleiben.  Der  Krieg  hat  also 
in   dem  vorliegenden   Falle    „in   überhohem  Maße  verweibhchend"   gewirkt. 

Besonders  lehrreich  für  den  Vergleich  der  Geschlechter  sind  die  Tafeln  B 
und  C,  soweit  sie  sich  auf  die  Divisionen  beziehen.  Die  Gesamtleistungs- 
zahlen der  3.  Querspalte  bewegen  sich  hier  für  die  männlichen  Vpn.  zwischen 
7  und  44,  für  die  weiblichen  zwischen  0  und  7.  Bis  zur  4,  Division  sind 
nur  die  jungen  Männer  vorgedrungen  (Gruppe  XV!);  die  weibhchen  kommen 
nirgends  über  eine  Divisionsaufgabe  hinaus.  Die  Sonderstellung  der  neun- 
zehnjährigen   jungen    Männer    wird    durch    die    Divisionen    besonders    gut 

illustriert.    Auch  die  nichtgedruckten  r  -\-  ^  -Tabellen  widersprechen  in  keinem 

Falle  dem  eben  Gesagten,  bestätigen  es  vielmehr  und  zeugen  noch  deutücher 
für  die  Überlegenheit  der  männlichen  Vpn.  So  sind  beispielsweise  deren 
Zahlen  für  die  Additionen  durchweg  so  gut,  daß  sich  eine  einzelne  Gruppe 
überhaupt  nicht  herausheben  kann  (84 — 100  o'o).  Die  Mädchen  sinken  da- 
gegen schon  bei  der  2.  Addition  auf  51 0  0  (Männer  91 0/0). 

Im  ganzen  genommen  ergeben  sich  für  die  männhchen  und  weiblichen 
Vpn.  bei  Berücksichtigung  der  halbrichtigen  Lösungen  die  Prozentzahlen  59 
und  43,  d.  h.  die  weiblichen  Vpn.  haben  einen  wesenthch  größeren  Zuwachs 
an  halbrichtigen  Lösungen  aufzuweisen.     Das  Gesamtbild  der  rechnerischen 

Entwicklung  können  diese  r  -\-  —-Tabellen  im  übrigen  jedoch  nicht  verändern, 

sie  bieten  aber  eine  gute  Handhabe,  um  auch  die  QuaUtät  der  Leistungen 
zahlenmäßig  zu  charakterisieren. 

Vorher  ein  Wort  zu  der  Schwierigkeit  der  Operationen;  denn  auch 
die  vorliegenden  quantitativen  Versuche  können  Fingerzeige  für  die  Beant- 
wortung dieser  Frage  geben,  obwohl  es  sich  im  Grunde  nicht  um  Additionen, 


396 


Woldemar  Voigt 


Subtraktionen,  Multiplikationen  und  Divisionen  im  'gebräuchlichen  Sinne 
handelt,  sondern  um  logisch-rechnerische  Denkübungen  an  diesen  elemen- 
taren Rechenoperationen  und  mit  ihrer  Hilfe.  Die  folgende  Übersicht  be- 
zieht sich  in  ihren  senkrechten  Reihen  auf  die  einzelnen  Aufgaben,  in  ihren 
wagrechten  entweder  nur  auf  die  völlig  richtigen  Lösungen  oder  auf  die 
richtigen  plus  halbrichtigen  zusammengenommenen.  Es  handelt  sich  um 
Durchschnittswerte  für  alle  Vpn.  ohne  Rücksicht  auf  das  Lebensalter. 


Männliche  Versuchspersonen 


Weibliche  Versuchspersonen 


r+: 


A 

A 

A 

s 

S 

I\I 

M 

D 

D 

D 

D 

A  A 

A 

S  S 

M  M 

D 

D 

D 

73 

77 
73 

68 

54 
5 

54 
4 

35 

4 

44 
0 

11 

3  3 
6 

1 

63  53 
56 

51 

40  32 
36 

21  29 
25 

3 

0 

0 

93 

96 
93 

90 

59 
6 

64 
2 

69 
6 

65 

7 

14 

9  1  5 
9 

1 

92  182 
82 

72 

48|58 
49 

47  143 
45 

3 

2 

0  ! 
1 

Männliche  und  weibliche  Versuchspersonen 


r 
^+2 


65 


45 
£6 


32 
56 


Es  ist  zunächst  unverkennbar,  daß  der  Divisionsvorgang  ein  besonders 
schwieriger,  vielleicht  sogar  ein  ganz  besonderer  Prozeß  ist*).  Sodann  er- 
gibt sich  aus  den  Zahlen,  daß  die  Additionen  die  geringsten  Schwierigkeiten 
geboten  haben.  Das  liegt  einmal  daran,  daß  2  Additionen  in  der  Lektion 
vorgerechnet  worden  sind,  erklärt  sich  andererseits  aber  auch  aus  dem  Wesen 
des  Additionsvorganges  selbst,  der  mit  Sicherheit  weniger  Energieaufwand 
erfordert  als  der  Multiplikationsprozeß,  soweit  dieser  nicht  völlig  mechanisiert, 
sondern  regelbedingte  Tätigkeit  ist-).  Nach  der  letzten  Zeile  der  Übersicht 
zu  schließen,  scheinen  Multiplikationen  und  Subtraktionen  gleich  „schwer" 
zu  sein,  vielleicht  letztere  sogar  etwas  schwerer,  weil  sie  später  auf  dem 
Aufgabenzettel  auftreten.  Bei  den  Multiphkationen  finden  •  sich  viel  mehr 
halbrichtige  Lösungen  als  bei  den  Subtraktionen;  die  Halbheiten  erklären 
sich  zumeist  aus  dem  Zurückfallen  in  das  gewohnte  Zehnersystem,  ein  Be- 
weis, wie  verlockend  ausgefahren  die  Multiplikationsgleise  sind,  d.  h.  wie 
außerordentlich  mechanisch  das  gewöhnliche  Multiplizieren  vor  sich  geht  2). 
Einzelversuche  geben  dieser  Ansicht  recht.  Die  weiteren  Einzelheiten  der 
Tabelle  sind  nicht  uninteressant;  da  es  sich  aber  nur  um  je  2  bis  4  Rechen- 
beispiele handelt,  haben  die  Zahlen  zu  geringe  Beweiskraft^). 


2.  Die  Qualität  der  Leistungen. 

a)  Das  Verhältnis  der  halbrichtigen  Lösungen  zu  den  richtigen. 
Die  männlichen  Vpn.  Durchschschnittlich  machen  die  halbrichtigen  Lösungen 
der  jungen  Männer  25  o/o  der  richtigen  Lösungen  aus,  für  die  Umrechnungen 
bezw.  Rechnungen  heißen  die  entsprechenden  Werte  16  o/o  und  34  "/o.  (Tafel 
III.)  Dieser  beträchtliche  Unterschied  ist  nicht  verwunderlich;  denn  bei  den 
U.  handelt  es  sich  in  allen  Aufgaben  um  einheithch  gestaltete  Gedankenreihen. 


')  Meumann  III,  S.  652.  (Andere  Meinung.) 

-)  Meumann,  Vorl.  III,  Seite  652. 

■';  Vergl.  auch  Seite  392.  *)  Vergl.  auch  Seite  387,  389,  390. 


Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw.        397 

die  im  allgemeinen  nur  in  einer  Richtung  verschoben  werden  können,  bei 
den  R.  dagegen  können  in  vier  verschiedenen  Operationen  die  verschiedensten 
Entgleisungen  vorkommen.  Die  größere  Möglichkeit  ist  die  Ursache  der 
größeren  Tatsächlichkeit,  ein  einfaches  Beispiel  der  Wahrscheinhchkeitslehre 
(Strafgesetz). 

In  allen  Fällen  wahrt  sich  das  19.  Lebensjahr  seine  günstige  Sonderstellung, 
am  deuthchsten  aber  eben  bei  den  Rechnungen.  Überhaupt  ist  das  Bild, 
das  die  Umrechnungen  bieten,  etwas  verworren;  die  Zahlen  sind  eben  hier 
zu  günstig,  d.  h.  zu  klein,  sodaß  sie  auf  einer  zu  geringen  Anzahl  von  Einzel- 
ergebnissen ruhen  und  in  erhöhtem  Maße  Zufälligkeiten  unterliegen.  Ein 
Widerspruch  zu  .der  Gruppierung  XV  bis  XVIII  —  XIX,  XX  ist  jedenfalls  nicht 
aus  ihnen  zu  entnehmen.  Auch  in  dieser  Tabelle  bilden  die  Rechnungen 
im  VI-S.  keine  besondere  Schwierigkeit  für  die  männlichen  Vpn.;  mit  Be- 
ginn des  18.  Jahres  werden  die  Leistungen  in  diesem  System  sogar  sicherer 
und  exakter  als  im  besprochenen  Achtersystem.  Um  so  mehr  muß  daher 
die  Sonderstellung  der  Kriegsteilnehmer  auffallen,  bei  denen  ein  ganz  ge- 
waltiger Unterschied  zu  Ungunsten  des  Sechsersystems  zu  konstatieren  ist. 

Tafel  m. 

Verhältnis  der  halbrichtigen  zu  den  richtigen  Lösungen  ( ^  :  r  ] 

Durchschnittswerte. 

Umrechnungen  Rechnungen  Durchschnitt  (U  —  K) 

;av  xvxvixviixvraxixxx   d  i  xiv  xv  xvi  xvn  x\Tn  xix  xx  d  ixrvxvxvTXvnxvmxixxx  d 
Die  männlichen  Versuchspersonen 

Vin-S  —     6     0   21    13     8     3     9  !  —  41    36   31    -15    20   31    34 1  —    24    18   26   29    14    17    22 

VI-S   —    19   69    10   27     5    53   23  i  —  43   39   32   40    13    59   33 ;  —    31    54   21    34     9   56   28 

D  —    13    35    16   20     7    28   16  I  —  42   38   32   43    17   45   34 '  —   28   36   24   32    12    37    25 

Die  weiblichen  Versuchspersonen 

YIll-S     9     5   30   30   24   18   15   22  !  81  40   46   50   66   38   36   43 :  45   23   38  40  45   28   26   33 

VI-S   28   29   48    39    75   61    20   44  j  81  48   87    65    79    cO   32   62 1 55    39   68   52    77   56   26   54 

D  19   17   39   35   50   40   18   33  181  44   67   58   73   44   34   53  [  50   31    53   46   61    42   26   43 

Die  weiblichen  Vpn.  Im  ganzen  genommen  ist  die  Exaktheit  der  Mäd- 
chen vom  14.  bis  zum  19.  Lebensjahre  gleich  gut  bezw.  schlecht,  nur  die 
Zwanzigjährigen  heben  sich  ein  wenig  hervor,  auch  insofern,  als  bei  ihnen 
allein  die  Aufgaben  im  Sechsersystem  ebenso  sicher  gelöst  werden  wie  im 
Achtersystem,  gelegentlich  sogar  ein  wenig  sicherer.  Alle  andern  weibHchen 
Gruppen  rechnen  im  VI-S.  ganz  erheblich  unsicherer,  unexakter,  man  möchte 
beinahe  sagen  liederhcher  und  gewissenloser  als  im  VIII-S.  Sehr  interessant 
sind  bei  den  Vierzehnjährigen  die  Zahlen  für  die  Umrechnungen  verglichen 
mit  denen  für  die  Rechnungen.  Die  Spannung  beträgt  nämhch  im  Durch- 
schnitt 62  (!),  im  VIII-S.  sogar  72.  Das  ist  nur  ein  Beweis  dafür,  daß  die 
Mädchen  im  14.  Lebensjahre  in  der  Anschauimg  noch  eine  sehr  erwünschte 
Stütze  suchen  und  finden.  Die  Abstraktion,  wie  sie  bei  den  Rechenopera- 
tionen verlangt  wird,  bietet  ihnen  dagegen  große  Schwierigkeiten  und  ver- 
leitet sie  zu  halbgewalkter,  „ungefährer"  Arbeit.  In  der  Folgezeit  erweist 
sich  —  wie  auch  gelegentliche  Äußerungen  bestätigen  —  die  Anschaulich- 
keit immer  mehr  als  Hindernis  zu  völlig  richtiger  Tätigkeit  (1.  Längsspalte), 


398  Woldemar  Voigt 


und  selbst  die  Zwanzigjährigen  gewinnen  mit  ihrer  besseren  abstrakten  Er- 
fassung der  Sachlage  kaum  die  fröhliche  Sicherheit  des  14.  Lebensjahres 
wieder.  Naturgemäß  zeigt  sich  aber  ihre  Überlegenheit  über  die  Jüngsten  in 
den  Rechnungen  dafür  um  so  erkennbarer. 

Die  männlichen  und  weiblichen  Vpn.  Durchschnittliche  Maßzahlen 
für  die  Unexaktheit  der  rechnerischen  Tätigkeit  sind  43  und  25,  d.  h.  die 
Mädchen  rechnen  fast  noch  einmal  so  —  bewußt  oder  unbewußt  —  unsicher 
wie  ihre  männlichen  Altersgenossen.  Die  größte  Spannung  findet  sich  wie- 
derum bei  den  Rechnungen  im  VI-S.;  hier  liegen  die  Durchschnittswerte  auf 
33  und  62,  und  die  Vergleichs  werte  der  Einzelgruppen  fallen  dementsprechend 
natürlich  ebenso  ungünstig  für  die  Mädchen  aus.  Das  Erfordernis  größerer 
Selbständigkeit  und  ausgedehnterer  Abstraktion  zwingt  die  männlichen  Vpn. 
zu  umso  energischerem  Kraftaufwand,  größerer  Konzentration  und  damit 
vorzüglicherer  rechnerischer  Exaktheit,  verleitet  aber  die  Mädchen  —  im  all- 
gemeinen! —  zu  Flüchtigkeiten,  Halbheiten,  d.  h.  zu  großer  Unexaktheit. 
Im  15.  Lebensjahre  arbeiten  junge  Mädchen  und  Jünglinge  noch  gleichmäßig 
gut  oder  schlecht,  von  da  an  trennen  sich  die  Wege  immer  mehr.  Trotz 
alledem  rechnen  die  Kriegsteilnehmer  unexakter  als  ihre  Altersgenossinnen, 
was  wiederum  beim  VI-S.  ganz  besonders  deutlich  erkennbar  wird. 

b)  Das  Verhältnis  der  falschen  Lösungen  zu  den  richtigen.  Es 
^sind  durchschnittlich  halb  soviel  Aufgaben  falsch  gerechnet  worden  wie 
richtig  {430/0  +  540/..) :  2  =  48  0/0,  siehe  Tafel  IV.  Dabei  ist  aber  zu  bemerken, 
daß  bei  den  Divisionen  ganz  außerordentlich  viele  Falschlösungen  auftreten, 
so  daß  im  allgemeinen  ein  geringerer  Prozentsatz  in  Frage  kommt.  Somit 
sind  die  Versuchsergebnisse  —  wiederum  methodisch  genommen  —  auch  in 
dieser  Hinsicht  als  recht  brauchbar  zu  bezeichnen. 

Tafel  IV. 

Verhältnis  der  falschen  zu  den  richtigen  Lösungen  (f :  r) 
Durchschnittswerte. 

Umrechnungen  Rechnungen  Durchschnitt  (U  +  K) 

XIV  XV  XVI  XVII  XVm  XIX  XX     D  1 XIV  XV  XVI X VII XVUI XIX  XX    D  I  XrV  XV  XVI XVII XVIII XIX  XX   D 

Die  männlichen  Versuchspersonen 

VIII-S  —   27   38   19   25     5     5   25 }  —  80   38   72   79   33   51    57 

VI-S  —    59  121  10   30    18   75    39     —  78   53    36   54   51    59   52 

D  —   43   80   15   28    12   40   32 1  —  79   46   54   bl   42   55   55 

Die  weiblichen  Versuchspersonen 

VIII-S  25    53    30     4   23     0    12    22 1  97  57   40   45    69    38   33    50 1  61  55    35    25    46    19  23    36 

VI-S   21    44  136  22    80    24    16   49!  194  67  152  86  179  59   32    93    108  56  144  54  130  42  24   71 

D  23    49    83    13    52    12    14    36  1146  62    96   66  124  49    33    72 1  85  56   89   40   88   31  21   54 


—  54   38   46   52   19   28   41 

—  69   87    23   42   35   67    46 

—  61    62    35   47    27   48   44 


Die  männlichen  Vpn.  Bei  den  jungen  Männern  tritt  unverkennbar 
ganz  allmählich  ein  Sinken  der  Zahl  der  fehlerhaften  Lösungen  ein  (3.  Längs- 
spalte), die  19- jährigen  stehen  durchweg  am  günstigsten  da,  und  die  Kriegs- 
teilnehmer fallen  nicht  auffallend  ab.  Das  ist  ein  Zeichen  für  eine  gewisse 
Stetigkeit  und  Ruhe  im  Denken  und  für  eine  klare  Einsicht  in  die  eigenen 
Fähigkeiten.  Dabei  unterscheiden  sich  VI-S.  und  VIU-S.  nicht  wesentlich; 
bei   den   Rechnungen    fallen   die  Zahlen  für  das  neuartige  VI-S.   sogar  ein 


Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw.       399 


wenig  besser  aus.  Das  im  vorigen  Abschnitte  Gesagte  wird  somit  ergänzt: 
die  männlichen  Vpn.  lassen  sich  durch  die  Neuartigkeit  der  Anforderungen 
auch  nicht  zum  Fehlermachen  verleiten. 

Die  weiblichen  Vpn.  In  den  Vergleichsgruppen  ist  keineriei  Auf- 
stieg zu  fehlerfreierer  Arbeit  zu  spüren,  man  verwische  nur  bei  den  D-Werten 
der  3.  Längsspalte  den  charakteristischen  Zickzackverlauf  der  Kurve  durch 
Bildung  von  Mittelwerten  für  je  2  benachbarte  Versuchsgruppen.  Und  die 
Zwanzigjährigen  sind  kaum  sicherer  als  die  Neunzehnjährigen.  Auffallend 
sind  aber  die  enormen  Werte  im  VI-S.  —  sie  reichen  teilweise  bis  an  200 
heran  —  und  die  gewaltigen  Schwankungen  zwischen  den  einzelnen  Alters- 
gruppen. Zudem  werden  im  Sechsersystem  ohne  Ausnahme  mehr  Fehler 
gemacht  als  im  Achtersystem. 

Die  männlichen  und  weiblichen  Vpn.  So  kommt  es,  daß  männ- 
liche und  weibhche  Vpn.  sich  besonders  im  VI-S.  imterscheiden :  Die  Maß- 
zahlen sind  52  und  93,  d.  h.  die  Mädchen  arbeiten  fast  noch  einmal  so 
fehlerhaft  wie  die  jungen  Männer.  Im  Achtersystem  dagegen  ereignet  es 
sich  sogar,  daß  die  Mädchen  hier  und  da  um  ein  geringes  fehlerfreier 
arbeiten  als  die  jungen  Männer.  Nach -Ahmen,  Nach -Denken:  das  ist  die 
Stärke  des  weibhchen  Geschlechts  in  der  Welt  der  Zahlen.  Wo  es  geführt 
und  angeleitet  wird,  macht  es  innerhalb  dessen,  was  es  leistet,  prozentual 
wenigstens  nicht  mehr  ausgesprochene  Fehler  als  das  männliche. 

c)  Charakteristische  Lösungen,  Halbheiten  und  Fehler.  Wie 
schon  ausgeführt  wurde*)  und  wie  besondere  aus  Einzelbeobachtungen  und 
Einzeläußerungen  hervorgeht,  ist  die  Division  allen  Vpn.  als  eine  ungemein 
schwierige  Leistung  erschienen.  Und  gerade  hier  rechnen  die  jungen  Männer 
genau  doppelt  soviel  richtig  wie  die  Mädchen  —  wenn  man  die  halbrichtigen 
Lösungen  mit  betrachtet,  sogar  sechsmal  soviel-),  —  und  während  die  Mäd- 
chen sich  nur  ganz  vereinzelt  an  die  leichtesten  Divisionen  heranwagen, 
führt  schon  ein  Fünfzehnjähriger  alle  4  Divisionen  glatt  und  ohne  Umwege 
durch.  Der  Sprung  in  der  Entwicklung  vom  18.  zum  19.  Lebensjahre  ist 
auch  bei  der  Division  deutlich  erkennbar;  die  Mädchengruppen  dagegen 
unterscheiden  sich  nicht  wesentlich:  ihre  beiden  jüngsten  Gruppen  leisten 
gar  nichts,  und  im  übrigen  handelt  es  sich  um  kaum  nennenswerte  Zahlen. 
Jedenfalls  heben  sich  die  Zwanzigjährigen  in  keiner  Weise  hervor,  und  ein 
mathematisches  Talent  ist  in  keiner  Gruppe  zu  erkennen  3). 

Bei  den  männhchen  Vpn.  treten  gelegentlich  aus  der  schriftlichen  Dai*- 
stellung  deutlich  erkennbar  Lösungswege  hervor,  die  von  klarster  Erfassung 
der  rechnerischen  Probleme  und  von  erfreulichster  Selbständigkeit  zeugen. 
So    rechnet    beispielsweise    ein   Neunzehnjähriger    im    VI-S.:  3^    54 

Elegant  ist  diese  Lösung  nicht,  und  man  fühlt  ordentlich  den  beson-      4 

deren  Energieaufwand,   den  sie  erfordert  hat,  aber  der  junge  Mann  -200 

hat  sich  die  richtige  Lösung  erzwungen.    Ein  Sechzehnjähriger  führt  ^ 

die  Aufgabe  315  •  4  auf  die  Addition  315  -h  315  -\-  315  -h  315  zurück.        ^^ 

Ähnliche  Lösungen  oder  gar  die  Ausführung  einer  Proberechnung, 
die  die  neunzehn-  und  zwanzigjährigen  jungen  Männer  häufig  anwenden,  wird 
man  bei  den  Mädchen  vergebüch  suchen.    Wenn  diese  bei  der  Anwendung  des 
aus  dem  Zehnersystem  bekannten  Lösungsweges  auf  Schwierigkeiten  stoßen. 


*)  Siehe  Seite  396.         -)  Aus  Einzeltabellen  zusammengestellt.  ^)  Vergl.  auch  Seite  403. 


400  Woldemar  Voigt 

ist  —  soweit  ich  sehe  —  der  Fall  für  sie  erledigt.  Der  rechnerische  Prozeß 
verläuft  bei  ihnen  eben  meistens  mechanisch.  Wie  können  sonst  noch 
Zwanzigjährige  für  20400  im  VIII-S.  435200  im  X-S.  gewinnen,  wo  doch  aus 
den  voraufgehenden  —  richtigen!  —  Lösungen  zu  entnehmen  war,  daß  der 
neue  Wert  ziffernmäßig  kleiner  als  20400  sein  mußte! 

Von  Größenbewußtsein  ist  beim  weiblichen  Geschlechte  auf  allen  Stufen 
beinahe  nichts  zu  spüren,  dagegen  findet  man  bei  den  männhchen  Vpn. 
unwahrscheinlich  große  Zahlen  nur  auf  den  Zetteln  der  Fünfzehnjährigen. 
Es  war  mir  interessant,  bei  einer  gleichzeitigen  Untersuchung  eines  Herrn 
u  nd  einer  Dame  hinsichtlich  des  Vorhandenseins  einer  Art  Größenbewußtsein 
—  im  fremden  System  kann  es  sich  ja  nur  um  ein  vages  Ungefähr,  um  ein 
gewisses  Ortsgefühl  handeln  —  Entsprechendes  feststellen  zu  können. 

In  den  Umrechnungen  verschieben  alle  Mädchengruppen  häufig  die  Stellen- 
werte; sie  erhalten  bei  verschiedenen  Aufgaben  gleiche  Lösungen,  sie  ver- 
wechseln bei  der  Addition  die  zu  merkende  und  die  zu  schreibende  Zahl, 
sie  gewinnen  Differenzen,  die  größer  sind  als  der  Minuend,  Quotienten,  die 
bei  ganzzahligem  Divisor  größer  sind  als  der  Dividend:  das  alles  findet  man 
bei  den  jungen  Männern  nicht  oder  nur  ganz  vereinzelt  auf  der  Unterstufe 
und  —  bei  den  Kriegsteilnehmern.  Und  wo  sich  das  Größenbewußtsein  doch 
einmal  regt,  da  hilft  sich  das  Mädchen  durch  irgendeine  Division  mit  5 
oder  mit  2,  mit  36,  mit  64,  manchmal  auch  abwechselnd,  oder  es  läßt  ganz 
einfach  eine  Null  oder  einen  Bruch  oder  ein  Komma  weg  und  schreibt  bei- 
spielsweise auf  den  Zettel  302  =  27,0,5  =  2705!  Man  wird  sich  vergeblich 
bemühen,  diese  Lösung  psychologisch  zu  deuten.  So  zeugen  die  falschen 
Lösungen  der  Mädchen  von  einer  rechnerischen  Gewissenlosigkeit,  die  bei 
den  jungen  Männern  nirgends  zu  erkennen  ist. 

Weil  bei  der  Umrechnung  von  10  sich  8  bzw.  6  ergibt,  werden  von  vielen 
Mädchen  alle  gegebenen  Zahlen  einfach  mit  ^/ö  oder  ^/ö  multipliziert,  was 
falsch  bleibt,  auch  wenn  die  Zwanzigjährigen  ihre  Fehler  in  das  schillernde 
Gewand  einer  Proportion  mit  x  kleiden.  Weil  bei  den  vorgeführten  Addi- 
tionen zufällig  an  viertletzter  Stelle  eine  Eins  erschien,  wird  noch  von  neun- 
zehnjährigen Mädchen  bei  allen  Lösungen  eine  1  vorgesetzt  usw.  Solche 
voreilige  Verallgemeinerungen  eines  einzigen  Falles  führen  die  Mädchen 
zuweilen  zu  den  sonderbarsten  Regeln,  die  teils  so  komphziert  sind,  daß  ich 
und  die  betreffende  Vpn.  nach  einigen  Tagen  sie  nicht  mehr  herausfinden 
konnten,  teils  so  verblüffend  einfach,  daß  mir  die  Arbeiten  schon  nach 
wenigen  Minuten  triumphierend  in  die  Hand  gegeben  wurden.  Gewiß  kommen 
solche  Verallgemeinerungen  auch  unter  den  Fehlern  der  männlichen  Vpn. 
vor,  aber  wi  ederum  nur  einige  Male  bei  den  Fünfzehnjährigen.  Zwar  rechnet 
^uch  ein  Achtzehnjähriger  beispielsweise  274  ==128  +  56 -f- 5  und  verändert 
bei  sonst  richtigem  Lösungsverfahren  durchgängig  die  Einer  durch  Multi- 
plikation mit  ^jö,  aber  dieser  Fehler  zeugt  m.  E.  nicht  von  leichtfertiger  Ver- 
allgemeinerung. 

Interessant  ist  für  die  Rechentätigkeit  der  Mädchen  noch  die  folgende 
Lösung  einer  Fünfzehnjährigen:  53  =  5  •  18  +  3  •  8.  Das  Kind  gehört  sicher 
zum  akustischen  Typ,  hält  sich  an  die  Achten,  die  im  Ohre  nachklingen 
und  bringt  nun  rein  gefühlsmäßig  eine  Lösung  zustande,  ohne  sich  im 
übrigen  wegen  des  rechnerischen  Problems  irgendwelche  Ungelegenheiten  zu 
machen. 


Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw.       40I 


Eine  andere  Fünfzehnjährige  schreibt  bei  der  Umrechnung  von  274  aus 
dem  Vm-S.  ins  X-S.:        ^  . 


2  Händen 

2  . 

10=    20 

2 

2 

8=    16 

10 

10 

8=    80 

20 

20 

8-160 

30 

30 

8  =  240 
34 

auf 

274 
4  Hände  gehen  32,  bleiben  2  Finger  übrig.     Bei  274  sind  234. 

Das  ist  ein  Kleben  am  Anschauhchen,  das  bei  den  männlichen  Vpn.  nirgends 
mehr  zu  finden  ist,  das  aber  bei  den  Zehn-  bis  Dreizehnjährigen  beiderlei 
Geschlechts  naturgemäß  häufiger  anzutreffen  war.  Solche  Anklänge  an  das 
kindUch  anschauliche  Rechnen  finden  sich  aber  auch  noch  bei  den  zwanzig- 
jährigen Mädchen:  In  einer  7.  Klasse  der  höheren  Mädchenschule,  wo  ich 
die  Anwendungsmöglichkeit  des  Versuchs  für  dieses  Alter  feststellen  wollte, 
rechneten  eine  ganze  Anzahl  im  Achtersystem  35  4-43  =  71,  und  dieser 
doch  ganz  charakteristische  Fehler  findet  sich  noch  bei  der  Gruppe  XX! 

So  beweisen  die  Fehler  das  bereits  Gewonnene  und  bekräftigen  die  Ver- 
mutung, daß  nach  dem  20.  Lebensjahre  bei  dem  weiblichen  Geschlechte 
keinerlei  Höherentwicklung  der  Anlage  zum  Rechnen  erfolgt  ^). 

Rein  mechanisches  Verfahren,  mangelndes  Größenbewußtsein,  mathematische 
Gewissenlosigkeit,  vorschnelles  Verallgemeinern,  gefühlsmäßiges  Arbeiten, 
Kleben  am  Anschauhchen:  das  sind  die  Schlagworte,  mit  denen  man  —  im 
allgemeinen!  —  die  rechnerische  Tätigkeit  der  Mädchen  von  14  bis  20  Jahren 
kennzeichnen  kann. 

Die  jungen  Männer  machen  sich  im  Laufe  der  Entwicklung  von  allen  diesen 
Fehlern,  soweit  sie  sie  überhaupt  besitzen,  völlig  frei. 

Wenn  man  nun  aber  bei  den  Kriegsteilnehmern  wiederum  Stellenverschie- 
bungen, Multiplikation  mit  ^/s,  unmotiviertes  Anhängen  einer  Null  beim  Ad- 
dieren, Hilflosigkeit  in  der  Behandlung  der  Zahlen  unter  8  —  ebenfalls  bei 
der  Addition  —  vorfindet  und  daneben  die  besonders  guten  Leistungen  in 
dem  anschauhch  dargebotenen  Achtersystem  in  Betracht  zieht,  so  erkennt 
man,  wie  verwildernd  der  Krieg  auf  das  abstrakte  Denken  eingewirkt  hat, 
wie  wenig  er  dagegen  dem  anschaulichen  Denken  hat  anhaben  können. 
Dieses  anschauliche  Denken  ist  eben  das  natürhche  und  natürlich  bleibende. 

3.  Individuelle  Verschiedenheiten'innerhalb  der  Versuchsgruppen. 

Stellt  man  die  Vpn.  nach  der  Zahl  ihrer  richtigen  Lösungen  —  von  Cr 
bis  21  r  —  zu  Gruppen  zusammen,  so  ergibt  sich  innerhalb  der  Vergleichs- 
gruppen 2)  je  eine  ziemlich  gleichmäßig  verlaufende  Prozentkurve,  die  sich 
beim  männlichen  Geschlechte  von  8r  bis  20 r,  beim  weiblichen  von  Or  bis 
18r  erstreckt,  also  hier  bezeichnenderweise  um  ein  bedeutsames  Stück  nach 
der  ungünstigen  Seite  verschoben  erscheint.  Das  Studium  der  Kurven  läßt 
es  als  zweckmäßig  erscheinen,  Vpn.  mit  Or  bis  5r,  6r  bis  13r,  14r  bis  17r, 
mehr  als  17r  zu  je  einer  Gruppe  zusammenzufassen,  um  verwendbare  Ver- 
gleichswerte zu  erhalten  (Tafel  V,  II).  Die  3  Additionen  und  die  ersten 
beiden  Umrechnimgen  stellen  nämhch  nur   eine  einfache  Anwendung   des 

')  Siehe  Seite  395.  ^)  Siehe  Seite  387. 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  26 


402 


Woldemar  Voigt 


in  der  Lektion  Besprochenen  dar  und  erfordern  keinerlei  Selbständigkeit 
(0  bis  5);  die  fehlenden  8  Umrechnungen  sind  eine  einfache  Fortführung 
der  begonnenen  Gedankenreihe,  die  geringe  Selbständigkeit  erfordert  und  in 
der  anschaulichen  Grundlage  der  Lektion  eine  wesentUche  Stütze  finden 
kann  (6  bis  13);  die  4  Subtraktionen  und  Multiphkationen  erscheinen  den 
Vpn.  —  nach  schriftlichen  Äußerungen  —  als  etwas  wesentlich  Neues,  das 
ohne  selbständige  Erfassung  des  Sachganzen  nicht  zu  bearbeiten  ist,  wenn 
die  Selbständigkeit  auch  nur  in  mechanischer  Analogiebildung  zu  den  Ver- 
fahren des  Zehnersystems  bestehen  kann  (14 — 17);  die  Divisionen  dagegen 
bieten  den  meisten  Vpn.  unüberwindliche  Schwierigkeiten,  die  sie  übrigens 
auf  die  verschiedenste  Weise  zu  umgehen  suchen.  Es  ist  natürlich  nicht  an- 
zunehmen, daß  durchweg  die  genannten  Exempelgruppen  genau  so,  wie  eben 
besprochen,  bei  den  einzelnen  Vpn.  auftreten. 


Tafel  V. 

Individuelle  Verschiedenheiten 

I.  innerhalb  der  Vergleichsgruppen 


Or 


Ir 


2r 


3r   4r   5r   6r 


7r  8r 


9r 


lOrllr 


12rl3r 


14rl5r 


16rl7rl8rl9r 


20r  21  r 


männl.  Vpn. 
weibl.  Vpn. 


13 


5     3     6 
8     4     3 


3     11 
6      6 


6     9 
5     4 


4     4 
7  i  7 


5    12 
4  I    4 


8     6     4 

3     4     1 


n.  innerhalb  der  Einzelgruppen 


männliche  Versuchspersonen 

0-5r    6-13r  14-17r  >17r 


XIV 

— 

— 

— 

— 

XV 

13 

53 

27 

7 

XVI 

8 

71 

21 

0 

XVII 

17 

33 

50 

0 

XVIII 

24 

38 

29 

10 

XIX 

0 

38 

31 

31 

XX 

19 

25 

4-1 

13 

XV-XIX  / 

13 

48 

31 

9 

weibliche  Versuchspersonen 
0~5r    6-13  r  14-17  r  >17r 


14 

64 

23 

0 

XIV 

36 

54 

10 

0 

XV 

46 

38 

15 

0 

XVI 

34 

48 

17 

0 

XVII 

33 

52 

14 

0 

XVIII 

45 

30 

20 

5 

XIX 

19 

30 

51 

0 

XX 

39 

46 

15 

1 

f  XV-XIX 

Die  Tabelle  läßt  wiederum  die  neunzehnjährigen  jungen  Männer  besonders 
hervortreten:  Unter  ihnen  allein  ist  keiner,  der  weniger  als  6r  hat,  und  31  ^/o 
können  18  und  mehr  richtige  Lösungen  aufweisen.  Das  ist  nicht  Zufalls- 
erscheinung  oder  Ergebnis  besonderer  mathematischer  Erziehung;  denn 
einerseits  decken  sich  Gruppen  und  Klassen  nicht,  und  andererseits  ist  aus 
den  Zahlen  der  Achtzehnjährigen  deutlich  die  Vorbereitung  zu  dem  einsetzen- 
den Sprunge  zu  erkennen  (lOO/o  haben  hier  mehr  als  17r).  Zudem  ist  ja 
eben  irgendwelche  spezielle  Übung  so  gut  wie  völlig  ausgeschlossen. 

Die  Sechzehnjährigen  ballen  sich  in  der  2.  Längsspalte  zusammen:  die 
Fähigkeit  zu  selbständigen  Leistungen  ist  also  allgemein  vorhanden,  aber 
noch  schwach  entwickelt  *).  Ein  ähnliches  Zusammenballen  erkennt  man  in 
geringerem  Grade  schon  bei  den  Fünfzehnjährigen,  deutlicher  noch  —  bei 
den  vierzehnjährigen  Mädchen. 


»)  Vergl.   Seite  390. 


Losisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw.        403 


So  wirft  die  einsetzende  Pubertät  die  Mädchen  mit  elementarer  Wucht  über 
die  Schranken  des  Kindlichen  hinaus,  um  sie  recht  bald  —  allerdings  inner- 
lich verändert  —  an  diese  Schranken  zurückfallen  zu  lassen  O-  Die  Kurven 
der  fünfzehnjährigen  bis  neunzehnjährigen  Mädchen  sind  nämhch  der  der 
vierzehnjährigen  ähnlich,  hegen  aber  sämthch  ungünstiger  als  diese  und 
ungünstiger  als  alle  Kurven  der  männhchen  Vpn.  Nur  die  zwanzigjährigen 
Mädchen  erringen  in  der  3.  Längsspalte  eine  beträchthche  Zahl.  Ilire  Kurve 
gleicht  frappierend  der  der  IT-jährigen  jungen  Männer,  die  noch  weit  von 
dem  zweiten  Ruck  in  der  Entwicklung  entfernt  sind. 


Geburtstag 

11.         12.        13.         n.        15.        16.        17.         18.        19. 


ope'j 

u: 

HI 

m 

M 

w 

M 

m 

IM 

M 

z 

W 

,-1 

■'^ 

60 

50 

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i  i 

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30 

i 

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1   r— ' 
j    i 

' 

1 
i 

i                       1 

1  1 

1 

i 

i    1 

10 

1       i 

1       1 

!    1    i 

1    1 

1 

1 

!     1 

i     i 

Ein  einziges  unter  220  Mädchen  hat  mehr  als  17  Aufgaben  richtig  gelöst, 
nämlich  18,  von  den  109  männlichen  Vpn.  haben  es  10  auf  teilweise  sogar 
20  richtige  Lösungen  gebracht!  Auf  20  rechnerisch  zweifellos  über  den 
Durchschnitt  begabte  junge  Männer  kommt  ein  einziges  annähernd  gleich  be- 
fähigtes junges  Mädchen! 

So  ist  naturgemäß  auch  die  Durchschnittskurve  der  Vergleichsgruppen  bei 
den  Mädchen  schmaler  als  bei  den  jungen  Männern;  die  geringere  Entwick- 
lungsfähigkeit der  Mädchen  bedingt  eine  größere  Gleichförmigkeit  in  der 
rechnerischen  Anlage.  Dabei  ballen  sich  die  Mädchen  in  der  1.  und  2.  Längs- 
spalte noch  besonders  zusammen,  während  die  jungen  Männer  höchste  Werte 
in  der  2.  und  3.  (!)  Längsspalte  aufweisen:  die  Variationsbreite  ist  beim 
männlichen  Geschlecht  somit  gerade  in  der  günstigen  Richtung  wesent- 
lich größer. 

Die  Kriegsteilnehmer  gleichen  in  der  Form  der  Kurve  am  deutlichsten  ihren 
siebzehnjährigen  Geschlechtsgenossen,  stehen  jedoch  in  den  ersten  drei  Zahlen 


M  Vergl.  Seite  395. 


26" 


404  Woldemar  Voigt 


etwas  ungünstiger  da  als  diese;  dafür  reicht  aber  ihre  Variation  bis  in  die 
Gruppe  der  18  Lösungen  hinein,  sodaß  auch  bei  ihnen  der  charakteristische 
Unterschied  vom  weibhchen  Geschlechte  deutlich  zu  erkennen  ist.  Minimale 
Leistungen  treten  häufiger  auf  als  bei  den  zwanzigjährigen  Mädchen  und 
seltener  als  bei  den  anderen  weiblichen  Versuchsgruppen,  soweit  diese  in 
das  Versuchsgebiet  gehören. 

4.  Verknüpfung  der  vorliegenden  Untersuchungen 

mit  denen  von  1912. 

Kriegseinflüsse.    Volksschülerinnen  und  „höhere"  Schülerinnen. 

Um  die  Verbindung  mit  den  Ergebnissen  von  1912  i)  herstellen  zu  können, 
habe  ich  die  vorliegenden  Untersuchungen  auch  mit  Mädchen  des  14.  Lebens- 
jahres vorgenommen  2).  Deren  Beteihgung  an  der  Lösung  der  Aufgaben  ist 
nur  wenig  geringer  als  die  der  fünfzehnjährigen  Knaben  —  Maßzahlen  75 
bzw.  80,  Tafel  I,  Seite  391  —  und  eben  so  groß  wie  die  der  sechzehnjährigen 
und  siebzehnjährigen  jungen  Männer,  sowohl  bei  den  Umrechnungen  wie 
bei  den  Rechnungen.  Das  will  nicht  allzu  viel  besagen,  ist  aber  immerhin 
bemerkenswert.  Wichtiger  ist,  daß  auch  bei  den  richtigen  Lösungen  — 
Tafel  II,  Seite  392  —  fast  gleiche  MaßzahJen  für  die  vierzehnjährigen  Mäd- 
chen und  die  fünfzehnjährigen  Knaben  vorliegen,  nämlich  40  und  43.  Im 
einzelnen  liegt  hier  die  Sache  so,  daß  die  Mädchen  die  Knaben  hei  den  Um- 
rechnungen, wo  die  anschauliche  Denkweise  zweifellos  ein  Vorteil  ist,  über- 
treffen, daß  sie  den  Knaben  aber  in  den  Rechnungen  merklich  nachstehen; 
denn  hier  ist  der  Denkvorgang  notwendig  abstrakterer  Natur.  Daher  ist 
denn  auch  hier  der  Prozentsatz  an  halbrichtigen  Lösungen  bei  den  Mädchen 
ganz  besonders  hoch  (Tafel  III,  Seite  397).  Trotz  allem  wird  aber  das  Ergebnis 
der  Untersuchung  von  1912  bestätigt;  denn  die  Mädchen  sind  um  die  Zeit 
des  14.  Lebensjahres  den  Knaben  quantitativ  immer  noch  um  fast  ein  Jahr 
in  der  Entwicklung  der  rechnerischen  Anlage  voraus,  wenn  sich  auch  der 
nunmehr  einsetzende  Umschwung  schon  vorbereitet.  Es  ist  nicht  ohne  Reiz, 
zur  genaueren  Beleuchtung  des  eben  Gesagten  die  Einzelwerte  auf  den 
Tafeln  B  und  C  (nicht  abgedruckt)  zu  vergleichen. 

Die  Verknüpfung  der  obengenannten  Ergebnisse  mit  denen  der  vorliegen- 
den Arbeit  stößt  nunmehr  jedenfalls  auf  keinerlei  Schwierigkeiten,  und  die 
Entwicklungskurve  kann  vom  10.  bis  zum  20.  Lebensjahre  ohne  Unter- 
brechung verfolgt  werden. 

Die  einzelnen  Maßzahlen  von  1912  sind  natürlich  mit  den  vorliegenden 
nicht  vergleichbar,  schon  weil  es  sich  teilweise  um  andere  Aufgaben  handelt. 
Aber  selbst  wenn  durchweg  dieselben  Aufgaben  hätten  gestellt  werden  können, 
bestünden  schwere  Bedenken  gegen  den  Einzelvergleich;  denn  der  gesamte 
psychische  und  physische  Habitus  der  Jugend  von  1919  scheint  ein  anderer 
zu  sein  als  der  von  1912.  Diese  Vermutung  läßt  sich  zahlenmäßig  recht 
gut  stützen: 

Ich  habe  nämlich  die  vorliegenden  Untersuchungen  auch  in  einer  durchaus 
normal  befähigten  Volksschulklasse  3)  vorgenommen,  und  da  die  Umrechnungs- 
aufgaben dieselben  waren  wie   1912,  können  wenigstens  die  durschschnitt- 

>)  Voigt,  a.  a.  0.,  Seite  166  ff.  ^)  Vergl.  Seite  387.  ^)  Vergl.  Seite  388. 


Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjährigen  usw.       405 

liehen  Maßzahlen,  soweit  sie  sich  auf  das  Achter-  und  Sechsersystem  zu- 
sammengenommen beziehen,  nebeneinandergestellt  werden.  Sie  sind,  was 
Beteiligung  betrifft, 

88')  für  1912,  662)  für  1919 
was  die  richtigen  Lösungen  betrifft, 

6-j3)    „    1912,  40*)    ,.    1919 
r 


T  + 


100 


73*) 


1912,  59 


1910 


79^ 


1912,  46 


1910 


100 


87,5*) ..     1912,  69       ..    1919 


^  f 


Man  sieht,  daß  die  Volksschülerinnen  von  1919  quantitativ  und  qualitativ 
ganz  beträchtlich  viel  weniger  leisten  als  die  von  1912.  Zufallsergebnisse 
können  so  große  Zahlenunterschiede  nicht  sein,  haben  doch  die  Vierzehn- 
jährigen von  1912  beispielsweise  63  0  0  mehr  richtige  Lösungen  zustande 
gebracht  als  ihre  —  auch  normal  befähigten  —  Altersgenossinnen  von  1919, 
die  kaum  mit  den  12^2- jährigen  von  1912  auf  gleicher  Stufe  sich  befinden. 
So  hat  das  Kriegselend  die  geistige  Entwicklung  unserer  Jugend  geschädigt! 
Ich  wage  es  nicht,  auf  die  Einzelheiten  näher  einzugehen,  dazu  ist  das  vor- 
liegende Material  leider  nicht  umfangreich  genug.  Es  handelt  sich  aber 
zweifellos  um  eine  Frage,  die  —  trotzdem  die  Tatsachen  so  traurig  sind  — 
besondere  Untersuchungen  dringend  erfordert. 

Der  obengenannte  Versuch  bietet  auch  zugleich  Gelegenheit,  die  Leistungen 
der  höheren  Schülerin  mit  denen  der  Volksschülerin  zu  vergleichen  (Tafel  VI). 


Tafel  VI. 

Leistungen  gleichalteriger  Volksschülerinnen  und  Schülerinnen   der  höheren 

Mädchenschulen. 


Durchschnittswerte . 


Volksschule 

l:a 

r:  a 

r 
2=^ 

VIII-S 

VI-S 

D 

63 
69 
66 

42 
38 
40 

22 

8 

15 

VIII-S 

VI-S 

D 

61 
67 
64 

17 
25 
21 

100 
56 

78 

VIII-S 

VI-S 

D 

62 
68 
65 

30 
32 

31 

-L 

61 
32 
47 

höhere  Schule 


f:r 


I:a 


f:r 


Umrechnungen 

35  &4 

76  80 

56  82 

Rechnungen 
148  65 

111  68 

130  67 

Durchschnitt  (U  -f  R) 

92  75 
94  74 

93  75 


62 

9 

25 

54 

28 

21 

58 

19 

23 

23 

81 

97 

18 

81 

194 

21 

81 

146 

43 

45 

61 

36 

OD 

108 

40 

50 

85 

')  Voigt,  a.  a.  0.,  Seite  148,  Tafel  A  c. 
3_)  Voigt,  a.  a.  0.,  Seite  152,  Tafel  B  c. 


-)  Vergl.  Tafel  VI,  Seite  405. 

*)  Voigt,  a.  a.  0..  Seite  153,  Tafel  C,  D,  E  c. 


406  Woldemar  Voigt 

Fast  volle  Übereinstimmung  der  zwei  Klassen  zeigt  sich  in  den  Rechnungen: 
beide  haben  21  ^jo  aller  Aufgaben  völlig  richtig  gelöst.  Quantitativ  sind 
gleiche  Halbheiten  —  auf  100  richtige  Rechnungen  kommen  78  bzw.  81  halb- 
richtige —  und  gleiche  Fehler  —  130  bzw.  143  —  sind  vorhanden.  Und 
da  ferner  die  Volksschülerinnen  im  Sechsersystem  sogar  etwas  besser  sind 
als  die  „höheren"  Schülerinnen,  so  kann  man  wohl  behaupten,  daß  die 
logisch-rechnerischen  Fähigkeiten  in  den  mittleren  und  einfachen  sozialen 
Schichten  gleichmäßig  verteilt  sind. 

Ich  betrachte  das  eben  Ausgeführte  zugleich  als  Beweis  für  die  Brauch- 
barkeit der  Untersuchungsmethode,  die  sich  damit  wiederum  völlig  unab- 
hängig vom  Lehrplane  zeigt  und  somit  die  Vergleichung  auch  ganz  ver- 
schieden vorgebildeter  Vpn.  gestattet,  wenn  diese  nur  die  vier  elementaren 
Rechenoperationen  beherrschen. 

Sonderbarerweise  schneiden  aber  in  den  Umrechnungen  die  Volks- 
schülerinnen ganz  erheblich  schlechter  ab  als  ihre  Altersgenossinnen  in  der 
höheren  Mädchenschule,  wenigstens  soweit  es  sich  um  die  Quantität  der 
Leistungen  handelt  —  40:58  — ;  besondere  Unterschiede  in  den  Fehlern 
habe  ich  nämlich  nicht  feststellen  können,  und  das  Verhältnis  der  halb- 
richtigen  zu  den  richtigen  Lösungen  ist  bei  den  Volksschülerinnen  sogar  noch 
eine  Kleinigkeit  besser  als  in  der  höheren  Schule  —  15  :  19  — .  Da  es  sich 
nun  bei  den  Umrechnungen  im  wesentlichen  um  Analogiebildungen  handelt, 
um  genaues  Erfassen  eines  Systems,  kann  ich  mir  das  quantitative  Versagen 
der  Volksschülerinnen  im  Gegensatz  zu  dem  vorhin  Gesagten  nur  aus  dem 
Lehrplan  erklären,  der  in  der  höheren  Schule  im  ganzen  und  im  einzelnen 
mehr  Gelegenheit  zur  Übung  des  systematischen  Denkens  bietet.  So  kenn- 
zeichnen sich  die  Umrechnungen  als  eine  Methode,  die  möglichst  gleich- 
mäßig vorgebildete  Vpn.  erfordert  und  deren  Ergebnisse  bei  Vergleichungen 
nur  mit  der  nötigen  Vorsicht  zu  verwerten  sind. 

Zusammenstellung  der  Ergebnisse. 

Indem  ich  wiederholt»)  auf  Sterns  Kanteten 2)  hinweise,  fasse  ich  die  Er- 
gebnisse der  Versuche  in  folgende  Sätze  zusammen; 

1.  Die  Entwicklung  des  rechnerischen  Denkens  erfolgt  zwischen  dem 
10.  und  20.  Lebensjahre  nicht  stetig,  sondern  sprunghaft,  und  zwar  zeigt 
sich  beim  männlichen  Geschlechte  zweimal  —  zur  Zeit  der  Pubertät  und 
beim  Beginn  des  19.  Lebensjahres  3)  — ,  beim  weiblichen  Geschlechte  einmal 
— '  zur  Zeit  der  Pubertät  —  ein  deutlich  rasches  Ansteigen  der  Rechenfähigkeit. 

2:  Die  Pubertät,  die  beim  weiblichen  Geschlechte  reichlich  ein  Jahr  früher 
einsetzt,  bedeutet  in  der  Entfaltung  der  Anlage  zum  Rechnen  für  beide  Ge- 
schlechter eine  Überproduktion  an  Energie,  die  einen  Rückschlag  zur  Folge 
hat,  der  sich  beim  männlichen  Geschlechte  in  einem  mehrjährigen  Stillstande 
der  Entwicklung,  beim  weiblichen  in  unzweifelhaftem  Nachlassen  der  Rechen- 
fähiffkeit  äußert.  Diese  Erschlaffung  ist  erst  bei  Beginn  des  20.  Lebensjahres 
völlig  überwunden. 

3.  Die  rechnerischen  Leistungen  des  männlichen  Geschlechts  sind  vor  der 


1)  Voigt,  a.  a.  0.,  S.  168. 

2)  Stern,  Differentielle  Psychologie,  Leipzig  1911,  S.  33.  ^  Lay,  a.  a.  0.,  S.  83. 


Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  biß  Zwanzigjährigen  usw.        407 


Pubertät  merklich  geringer  als  die  des  weiblichen,  übersteigen  aber  diese 
nach  der  Pubertät  immer  beträchtUcher. 

4.  Der  Verlauf  der  Entwicklung  und  die  vergleichsweise  Größe  der 
Rechenfähigkeit  lassen  sich  ungefähr  durch  die  Kurven  i)  S.  403  charakteri- 
sieren. 

5.  Die  individuelle  Variation  hinsichtlich  der  Entwicklung  der  rechnerischen 
Anlage  ist  beim  männlichen  Geschlechte  wesenthch  breiter  als  beim  weib- 
lichen und  hegt  im  ganzen  günstiger  als  bei  diesem. 

6.  Die  Arbeitsweise  ist  vor  der  Pubertät  bei  beiden  Geschlechtem  im 
wesenthchen  gleichartig  2).  Zwischen  dem  14.  und  20.  Jahre  ist  die  rech- 
nerische Tätigkeit  des  männlichen  Geschlechts  charakterisiert  durch  zu- 
nehmende Selbständigkeit,  Sicherheit,  Konstanz  eines  dauernd  korrigierenden 
Größen-  und  Regelbewußtseins 3)  und  das  Streben  nach  klarer,  abstrakter 
Erfassung  der  Probleme  (Aktivität).  Beim  weibhchen  Geschlechte  lassen 
sich  in  dieser  ganzen  Zeit  —  wenn  auch  allmählich  abnehmend  —  der 
Wunsch  nach  Führung,  das  Streben  nach  Mechanisierung,  das  Haften  am 
Anschaulichen,  die  Neigung  zu  vorschnellem  Verallgemeinern  und  gefühls- 
mäßiger Erledigung  der  Probleme,  sowie  mangelndes  Größenbewußtsein  und 
häufiges  Versagen  des  Regelbewußtseins  erkennen  (Rezeptivität). 

7.  Die  Rechenfähigkeit  der  Kriegsteilnehmer  ist  quantitativ  und  quahtativ 
bedeutend  geringer,  als  ihrer  Entwäcklungsstufe  entsprechen  würde.  Ihre 
Arbeitsweise  ähnelt  in   vielen  Beziehungen   der  naiven  und  der  weibhchen. 

8.  Das  Kriegselend  hat  bei  Volksschülerinnen  stark  hemmend  auf  die 
Entfaltung  der  rechnerischen  Fähigkeiten  eingewirkt. 

9.  Gleichalterige  Volksschülerinnen  und  Schülerinnen  der  höheren  Mädchen- 
schule zeigen  im  wesenthchen  gleiche  rechnerische  Fähigkeiten. 

Als  nächstUegende  praktische  Folgerungen  sind  zu  erwähnen: 

1.  Der  Unterricht  im  Rechnen  muß  den  Mädchen  auf  allen  Stufen 
durch  weitestgehende  Veranschauhchung ,  durch  Herausstellung  und  Übimg 
von  Normalverfahren  ^),  sowie  durch  fortgesetztes  Abschätzen  der  gegebenen 
und  zu  errechnenden  Größen  entgegenkommen.  Der  übergroßen  Neigung 
zum  Mechanisieren  ist  durch  häufige  Erarbeitung  eleganter  Lösungen  zu 
begegnen. 

2.  Die  Koedukation  ist  nach  dem  14.  Lebensjahre  für  den  Unterricht 
in  der  Arithmetik  abzulehnen.  Das  durchschnittsbegabte  Mädchen  muß  diesen 
Unterricht  in  einer  altersgleichen  Knabenklasse  unverhältnismäßig  stark  hemmen. 

Koirelationen. 

Da  bei  den  Versuchen  nicht  die  gebräuchlichen  Rechenbuchaufgaben  ver- 
wertet worden  sind,   erhebt  sich   die  Frage,   ob  sie  denn  auch  wirklich  das 


')  Die  Darstellung  fußt  im  wesentlichen  auf  den  Maßzahlen  der  Tafel  II*)  dieser  und  der 
Tafel  B*)  jener  Arbeit.  Die  Zahlen  der  letzteren  mußten  folgerichtig  durchweg  mit  ^/s  multi- 
pliziert werden;  denn  die  Verknüpfung  erfolgt  durch  Vermittlung  der  Gruppe  XIV  (Im),  für 
die  diesmal  40 "/o,  1912  aber  64°/'o*)  vermerkt  sind.  Das  gesamte  übrige  Zahlenwerk  beider  Ar- 
beiten ist  zur  Ergänzung  und  Abrundung  berücksichtigt  worden. 

^)  Voigt,  a.  a.  0.,  S.  167,  Pkt.  5.  ')  Damm,  Korrelative  Beziehungen  zw.  elementaren 

Vergleichsleistungen,  Zeitschr,  f.  ang.  Psych.,  Leipzig  1914,  S.  76. 

*)  Kühnel,  Neubau  des  Rechenunterrichts,  Leipzig  1916,  II,  S.  1.    (Gegenteilige  Ansicht,) 


')  Vgl.  S.  392.  *)  Voigt,  a.  a.  O.,  S.  152.  *)  Ebenda,  S.  152  u.  153,  Absch.  c. 


408     W.  Voigt,  Logisch-rechnerisches  Denken  der  Zehn-  bis  Zwanzigjähr.  usw. 

erfassen,  was  man  im  landläufigen  Sinne  als  Rechnen  bezeichnet.  Um  der 
Beantwortung  dieser  Frage  praktisch  nahe  zu  kommen,  habe  ich  bei  vier 
Klassen  die  Ergebnisse  des  Versuchs  mit  den  Einzelzensuren  für  Rechnen 
bzw.  Arithmetik,  übrigens  auch  mit  denen  für  Begabung  und  Gesamtleistung 
(ohne  technische  Fächer)  in  Beziehung  gesetzt.  Es  handelt  sich  um  neun- 
zehnjährige und  fünfzehnjährige  Seminaristen,  deren  Zensuren  mir  Herr  Ober- 
schulrat Dr.  Hözel  gütigst  mitgeteilt  hat,  und  um  Seminaristinnen  der  ersten 
Klassen,  die  von  den  Herren  Oberschulrat  Dr.  Gaudig  und  Oberlehrer 
Scheibner  geleitet  werden  und  bei  denen  sich  die  Zensuren  durchweg  auf 
mindestens  fünfjährige  Beobachtung  gründen.  Die  Sicherheit  aller  Zensuren 
beruht  ferner  wesenthch  mit  darauf,  daß  die  Klassen  teilweise  von  Grund 
auf  durchgeführt  worden  sind;  dabei  hat  man  individuelle  Einseitigkeiten 
der  Beurteilung  durch  häufige  Zensurenkonferenzen  zu  vermeiden  gesucht. 
Es  bestehen  in  den  genannten  vier  Klassen  folgende  Korrelationen  (Tafel  VII) : 

Tafel  Vn. 


Korrelationen 

zwischen  Versuchsergebn 

Rechenzensur     (Begabungs- 
j       Zensur 

is  und 

Gesamt- 
leistungsz. 

1.  männl.  Vpn. 

Gruppe  XIX 
Gruppe     XV 

2.  weibl.  Vpn. 
Klasse     G.  \  Gruppe 
Klasse  Seh./    XX 

n         r 

14  0,63 

15  0,37 

16  0,67 
15     0,61 

w.F. 

0,09 
0,14 

0,08 
0,09 

r       w.F. 

0,44    0,13 
0,40    0,14 

0,78    0,05 
0,70    0,07 

r       w.F. 

0,44    0,13 
0,39    0,14 

0,71     0,07 
0,71     0,07 

Die  Werte  sind,  da  sich  die  extremen  Korrelationen  mit  4- 1  bzw.  —  1 
ausdrücken  i),  für  die  weiblichen  Vpn.  durchweg  außerordentlich  günstig,  für 
die  männlichen  nur  insofern,  als  sie  sich  auf  das  Rechnen  der  Neunzehn- 
jährigen beziehen,  wo  dieselbe  Korrelation  wie  bei  den  weiblichen  Vpn.  auf- 
tritt (-^- 0,63).  Die  meisten  Zahlen  sprechen  also  für  die  Sicherheit  der  Ver- 
suchsergebnisse, der  Rest  jedenfalls  nicht  dagegen. 

Es  fällt  ferner  sofort  ins  Auge,  daß  die  Korrelation  zwischen  Allgemein- 
begabung und  Versuchsergebnis  in  den  beiden  Seminaristinnenklassen  merk- 
lich höher  ist  als  die  zwischen  Rechenzensur  und  Versuchsergebnis.  Hiernach 
wäre  zu  schließen,  daß  der  Versuch  das  gesamte  logische  Denken  des 
Menschen  erfaßt  und  die  Art  der  Entwicklung  der  Gesamtintelligenz  2)  zu 
illustrieren  vermag  3),  und  die  vorsichtige  Betonung,  daß  es  sich  um  logisch- 
rechnerisches  Denken  handle,  wäre  zwar  einerseits  nicht  falsch,  anderer- 
seits aber  absolut  überflüssig.  Die  Gesamtheit  der  geistigen  Veran- 
lagungen entwickelte  sich  dann  eben  in  der  dargelegten  Weise, 
und  die  aufgezählten  Unterschiede  in  der  Arbeitsweise  der  Geschlechter  gälten 
allgemein.  Damit  wäre  über  die  Intelligenz  des  weiblichen  Geschlechts  nicht 
der  Stab  gebrochen;  denn  was  für  die  Arbeit  mit  Zahlen  zum  Fehler  werden 
muß   —  gefühlsmäßiges  Verfahren,   rasches  Verallgemeinern,   anschauliches 


^)  Damm,  a.  a.  0.,  S.  18ff.  und  Schulze,  Aus  der  Werkstatt  der  exp.  Psychologie  u.  Päd., 
Leipzig  1909,  S.  264.  '^)  Lay,  a.  a.  O.,  S.  93. 

'')  Vgl.  auch  Meumann.  a.  a.  0.,  III,  S.  809. 


Ernst  Lentz,  Zum  psychol.  Problem  der  „Fremdsprachen  und  Muttersprache"     409 

Denken  usw.  — ,  kam?  bei  anderer  geistiger  Betätigung  zu  einer  gewissen 
Überlegenheit  des  weiblichen  Geschlechtes  führen.  Doch  alle  diese  Fragen 
gehören  nicht  in  den  vorliegenden  —  tatsächlichen  —  Teil  der  Arbeit,  sie  werden 
den  Gegenstand  des  zweiten  —  theoretischen  —  Teiles  bilden,  der  sich  mit  der 
not^vendigen  1)  genaueren  Deutung  und  Analyse  der  Erscheinungen  befassen 
\\ird  und  dessen  Bearbeitung  zugleich  mit  der  Nachprüfung  des  gesamten 
Materials  Herr  Assistent  Dr.  Damm-),  Leipzig,  freundlichst  mit  übernommen 
hat.  Hierin  werden  auch  die  Einzelzahlen  und  kleinen  Differenzen  mehr  zu 
ihrem  Rechte  kommen  können,  die  in  einem  rein  tatsächhchen  Teile  nur 
gelegentUch  herangezogen  werden  dürfen,  wenn  man  nicht  den  Vorwurf  der 
Überschätzung  des  Zahlenwerkes  auf  sich  ziehen  will. 


Zum  psychologischen 
Problem  „Fremdsprachen  und  Muttersprache'*. 

Von  Ernst  Lentz. 

Was  W.  Stern  über  Epstein  „La  Pensee  et  la  Polyglossie'*  kürzUch  in  dieser 
Zeitschrift  3)  berichtet,  bestätigt  im  allgemeinen  meine  Ansichten,  die  ich  bei 
verschiedenen  Gelegenheiten  geäußert  habe,  und  zwar  1.  in  dem  Aufsatz 
über  das  lateinische  Extemporale  in  der  Reifeprüfung  der  Gymnasien,  Pädag. 
Archiv  1895;  2.  in  der  Zeitschrift  für  die  Reform  der  höheren  Schulen, 
1897  unter  dem  Titel  „Die  geistige  Verfassung  des  Gymnasiasten";  3.  ebenda 
1897  in  einem  Vortrage,  gehalten  auf  der  Generalversammlung  des  Vereins 
für  Schukeform  zu  Braunschweig.  „Gegenv/art  und  Zukunft  des  lateinischen 
Unterrichts  auf  den  Gymnasien";  4.  ebenda  1898  unter  dem  Titel  „Die 
Erfolge  der  lateinischen  Lektüre  unter  den  neuen  Lehrplänen" ;  5.  in  meinem 
Aufsatz  der  „Deutschen  Welt"  1905  „Für  die  Muttersprache";  6.  in  einem 
Buche  „Die  Vorzüge  des  gemeinsamen  Unterbaues  aller  höheren  Lehranstalten", 
3.  Aufl.,  BerMn  1904;  7.  in  einem  Schulprogramm  des  Königl.  Gymnasiums 
zu  Danzig  „Ein  Lehrgang  der  lateinischen  Kasussyntax  in  Quarta"  1907. 
Nr.  1,  3,  4  und  5  sind  wiederabgedruckt  in  meiner  Aufsatzsammlung  „Pädagog. 
Neuland",  Berlin,  Salle  1907.  Auch  der  Anhang  dieses  Buches  enthält 
Äußerungen  zu  denselben  Fragen. 

Als  ich  1879  ins  altphilologische  Lehramt  trat,  war  ich  durchaus  von 
gegenteiligen  Ansichten  beherrscht  und  zwar  von  der  unter  den  Philologen 
seit  Fr.  Aug.  Wolf  traditionellen  Einschätzung  der  Fremdsprachen  und 
besonders  der  alten  als  des  besten  Bildungsmittels  für  die  männhche  Jugend 
ohne  Unterschied  der  Veranlagung.  ^)     Der  üniversitätsunterricht,  der  oft  auf 


'(  Damm,  a.  a.  O.,  S.  78. 

-)  Außer  den  im  Texte  genannten  Herren  und  allen  Vpn.  bin  ich  noch  Herrn  Privatdozenten 
Dr.  Brahn,  Leipzig.  Herrn  O.-Postass.  Voigt,  Plauen,  Herrn  stud.  Zenker,  FrL  J.  Rothmann, 
Leipzig,  Frl.  Lehrerin  C.  Ruthenberg.  Bel'hn,  und  Frl.  Lehrerin  Et.  Weinhold.  Leipzig,  zu 
besonderem  Danke  verpflichtet. 

^)  Die  Erlernung  und  Beherrschung  fremder  Sprachen.     Bd.  20  (3/4)  S.  104.     1919. 

''l  Die  Wolfsche  Lobpreisung  der  einzigartigen  Wirkimg  des  altklassischen  Studiums  beschließt 
seine  , Darstellung  der  Altertumswissenschaft"  v.  J.  1807,  in  der  Hoffmannschen  Ausgabe  von 
1833,  S.  50 — 75.  Es  ist  ein  Glaubensbekenntnis,  keine  wissenschaftliche  ITntersachung.  Der 
Geist  der  Jugend  wird  nach  dem  des  gelehrten  Altsrs  vorgestellt. 


410  Ernst  Lentz 

Wolf  sich  zu  beziehen  Gelegenheit  hatte,  hatte  zwar  niemals  seine  Empfehlung 
der  Altertumswissenschaft  berührt,  aber  wir  jungen  Philologen  brachten  diese 
Anschauungen  schon  von  der  Schule  mit  und  bestärkten  uns  gegenseitig 
darin.  Danach  war  die  Grammatik  angewandte  Logik,  ihre  Beherrschung 
in  den  produktiven  (expressiven  nach  Epstein)  Leistungen  der  sicherste 
Beweis  logischen  Denkens,  eine  Bürgschaft  auch  für  das  Verstehen  der 
Schriftwerke  und  die  beste  Grundlage  muttersprachlicher  Schulung.  Leider 
entsprachen  die  Erfahrungen  des  Lehramts  diesen  Anschauungen  in  keiner 
Weise:  Der  allgemeine  geistige  Zustand  der  Schüler  sank  von  Klasse  zu 
Klasse,  die  große  Frische  der  Sextaner  war  auf  der  Mittelstufe  oft  einer 
entsetzlichen  Schwerfälligkeit  gewichen,  ihr  quickes  Sinnesleben  war  ertötet, 
und  logisches  Denken  wiesen  viele,  darunter  auch  gute  Grammatiker,  als 
unbequeme  Zumutung  zurück  (Nr.  2).  Die  muttersprachlichen  Leistungen 
litten  an  Latinismen  und  einem  Mangel  lebenswarmen  Sprachempfindens, 
die  Übersetzungen  in  die  Muttersprache  (Herübersetzungen)  waren,  wenn 
aus  dem  Stegreif  verlangt,  eine  Stümperei,  auch  in  den  Reifeprüfungen,  und 
die  Grammatik  haftete  nicht.  Die  Extemporalien  waren  meistens  eine  schwere 
Not,  weil  hinter  dem  Ganzen  keine  Freudigkeit  wohnte,  kein  Gefühl  des 
geistigen  Fortschritts,  des  geistigen  Lohnes  für  alle  Mühen.  Schüler,  die  ich 
in  Quarta  nach  Nr.  7  mit  gutem  Erfolg  unterrichtet  hatte,  wußten  grund- 
legende sprachliche  Gesetze  dieses  Pensums  in  Sekunda  mit  wenigen  Aus- 
nahmen nicht  mehr.  Es  kam  nun  darauf  an  festzustellen,  ob  diese  Er- 
fahrungen Anspruch  auf  Allgemeingültigkeit  hatten.  Das  darf  man  wohl 
behaupten,  nach  den  Äußerungen  so  vieler  Schulmänner,  die  Paulsen  in 
seiner  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  wiedergibt.  Auch  vmrde  mir, 
wenn  ich  bei  Amtsgenossen  anderer  Gymnasien  nachfragte,  nirgends  recht 
widersprochen.  Aber  man  tröstete  sich,  indem  man  die  Schuld  dem  „Ballast" 
zuschob,  den  die  höhere  Schule  mitschleppe,  wobei  man  nicht  bedachte, 
daß  fast  die  ganze  Ladung  dahin  gerechnet  werden  müßte.  Mir  schien  die 
Lehre  der  Schulpraxis  den  Beweis  dafür  zu  erbringen,  daß  die  oben  ge- 
nannten Grundanschauungen  der  gymnasialen  Pädagogik  einer  Nachprüfung 
auf  ihre  psychologische  Berechtigung  unterzogen  werden  müßten.  Ich  habe 
sie  unternommen  und  in  den  genannten  Schriften  darüber  Rechenschaft  gelegt. 

Zunächst  wurde  mir  der  Irrtuip-  offenbar,  mit  der  Methode  der  expressiven 
Arbeiten  auch  die  der  impressiven  erledigt  zu  sehen.  An  der  Hand  von 
Rothfuchs'  bekannten  didaktischen  Weisungen  legte  ich  mir  für  die  Herüber- 
setzungen eine  Lehrart  zurecht,  die  die  Eigenart  des  impressiven  Sprach- 
könnens berücksichtigte  und  habe  damit  gute  Erfolge  erreicht,  auch  in  der 
Reifeprüfung,  auch  bei  Schülern  mit  schwächeren  Fremdsprachkenntnissen, 
aber  guter  muttersprachlicher  Bildung.  Überraschend  war,  was  der  Unter- 
richt Erw^achsener  erzielte,  die  ich  in  den  letzten  Jahren  gelehrt  habe. 
Manchem  fiel  es  wie  Schuppen  von  den  Augen.  So  kann  die  von  Epstein 
stark  betonte  Unterscheidung  impressiver  und  expressiver  Leistungen  der 
sprachlichen  Methodik  nicht  dringend  genug  empfohlen  werden. 

Indem  ich  weiter  nach  der  Ursache  des  gekennzeichneten  geistigen  Nieder- 
ganges auf  der  Mittelstufe  forschte,  begnügte  ich  mich  nicht  damit,  die 
Schuld  dem  „Ballast"  zuzuschieben.  Denn  ich  fand  die  ScWimmsten  gar 
nicht  einmal  auf  den  untersten  Bänken,  vielmehr  in  dem  geistigen  Mittel- 
gut,   das,    ganz    von    den   Aufgaben   der  Schule    beherrscht,    seine    geistige 


/ 


Zum  psychologischen  Problem  „Fremdsprachen  und  Muttersprache«      411 


Nahrung    nur    aus    den  Büchern    und    hauptsächlich   den    sprachlichen    zog 
(Type  erudit  Binets).    Dagegen  erfreute  mich  mancheiner,  an  dem  der  Fremd- 
sprachenunterricht verzweifelte,  der  aber  Zeit  gefunden  hatte,  offenen  Auges 
sich  in  Straße  und  Flur   zu  tummeln,  mit  Antworten  auf  Verstandesfragen, 
vor  denen  auch  Musterschüler  verstummten.    Diese  Erfahrung  war  die  Grund- 
lage, auf  der  meine  Beobachtungen  und  Studien  sich  verdichteten   zu  der 
Erkenntnis,   daß  der  gymnasiale  Lehrplan   auf  der  Unterstufe  dem   Grund- 
gesetze  geistigen  Werdens   widerspricht,  wonach   Ausbau  des  Vorstellungs- 
schatzes und  seine  Einkleidung  in  die  Muttersprache  die  Hauptaufgabe  des 
Unterrichts   ist,    also   der  Muttersprach-  und  der  Sachunterricht  die  wahren 
Quellen  der  Geistesschuiung  sind.    (Nr.  3,  5,  6.)    Es  ist  das  ja  alte  Weisheit. 
Sie  findet  sich    schon  in  des  Comenius  Rufe    nach   Sachbildung  und  rein 
muttersprachlicher  Schulung  bis  zum  12.  Lebensjahre,   ist  scharf  ausgeprägt 
bei  John  Locke,  erfährt  eine  plastische  Darstellung  in  Herders  Wort :  „In  die 
IMuttersprache    ist    unser  Denken   gepflanzt,    und    unsere   Seele    und    unser 
.johr    und    unsere  Organe    der  Sprache    sind  mit  ihr  gebildet"   —   tritt   bei 
Herbart  herv-or  in  seiner  Absage   an   die  gegensätzliche  philologische  Spe- 
kulations-Pädagogik und  ist  doch  auch  durch  die  Arbeiten  der  experimentellen 
Pädagogik  bereits    zum    unverlierbaren    Gut    jeder    ernsthaften    Erziehungs- 
wissenschaft geworden.     Damit  erwächst  uns  die  Verpflichtung,  auf  die  der 
Muttersprache  durch   den  fremdsprachlichen  Unterricht  drohenden  Gefahren 
zu  ac^fen,'^  wie"'srg~atrch'-atts  ^steins  Untersuchungen  klar   zutage   treten. 
Ich"  habe  auf  sie  wiederholt  hingewiesen,  besonders  in  Nr.  3  u.  5.     Es  heißt 
doft-tmgefähr:  Dieselben  Gedanken   erhalten  vom   10.  bis  zum  13.  Lebens- 
jahre auf  den  alten  Schulen  vier  verschiedene  Einkleidungen.     Es  wäre  auf- 
fallend,   wenn   der  Sprechende   sich    da    nicht  vergriffe,    zumal  die   fremd- 
sprachlichen Formen    mit    größtem  Nachdruck   dem    BewTißtsein   eingeprägt 
und  empfohlen  werden,  sie,  deren  Beherrschung  das  Fortkommen  auf  der 
Schule  bestimmt.     In  wenigen  ist  das  heimische  Sprachgefühl   so  mächtig, 
um   sich  siegreich  zu  behaupten.     Das  Deutsch  unserer  Gelehrten  und  Be- 
hörden,  die  Angst  und  Unfähigkeit   des  gebildeten   Mannes,   öffentlich  frei 
zu  sprechen,  beweisen  das  zur  Genüge.     Ein  Widerspruch  aber  ist   es   zui 
allem  vorurteilslosen  Denken,  daß  gerade  im  Gegenteil  eine  Förderung  des! 
deutschen  Sprachgefühls  von  dem  frühzeitigen  Fremdgprachenbetiiebe  erwartet 
wird.     Wenn    Sprachfertigkeit   eine    schnelle    und    sichere    Verbindung    der 
Gedanken    mit    ihren    lautlichen    Abbildern    in    bestimmten,    einer    Sprache 
eigentümlichen  Satzformen   bedeutet,   so   wird   diese  Sicherheit  am  ehesten 
erreicht,  wenn   nur  eine  Verbindung  geübt  wird.  .  Gelangen  wir  doch  zu 
der  zuverlässigsten,  a.  n.  zur'UllCeWüßteri  Betätigung  jeder  Gewohnheit  nur/ 
dann,  wenn  unser  Tun  nur  eine  Art  des  Geschehens  kennt.     So  verdanken 
wir  die  unfehlbare  Sicherheit  der  Bewegungen,  die  auch  dem  Nachtwandler 
iioch    zu  Gebote  steht,  dem  Umstände,  daß  wir  mu-  eine  Möglichkeit  des 
fcrehens  kennen  und  üben.     Sprechen  ist  al)er  auch  nichts  anderes  als  eine 
Gewohnheitssache,  die  demselben  Ziele  zustrebt,  wie  jede  andere  Gewöhnung, 
dem  des  unbewußten  Könnens.     Und  zu  demselben  Ziele  führt  auch  der- 
selbe Weg:   stetige  Übung  der   stets   gleichen  Willensantriebe   zu   gleichem 
Tun,  d.  i.   beim  Sprechenlernen    zu    den    stets  gleichen  Verbindungen    von 
Gedanken  und  Worten.     Selbst  in  vorgeschrittenem  Alter  lockern  diese  Ver- 
bindungen  sich,   wenn   eine  andere  Sprache  die  Umgangssprache  wird,  wie 


/ 


412  Ernst  Lentz 


u.  a.  Schliemann  an  sich  nach  dreimonatigem  Aufenthalt  in  London  bemerkte. 
Kinder  verlernen  (auch  nach  Meumann)  ihre  Muttersprache  unter  solchen 
Verhältnissen  ganz.  Sollte  es  danach  wirklich  einen  andern  Weg  zur  Aus- 
bildung der  Muttersprache  geben,  als  den  von  dieser  theoretischen  Erwägung 
und  solcher  Erfahrung  gewiesenen:  Gut  sprechen  hören  und  gut  sprechen 
üben,  Gutes  lesen  und  das  Aufgefaßte  niederschreiben,  kurz  den  Ablauf  der 
Assoziationen  zwischen  Gedanken  und  Muttersprache  und  umgekehrt  fördern 
und  ungestört  erhalten?  Wenn  der  Schöpfer  dieses  Wunderwerk  der  Ge- 
dankenbildung und  Gedankenprägung  geschaffen  und  dem  Menschen  ohne 
dessen  besondere  Beschwerde  zu  unbewußtem  Gebrauch  gegeben  hat,  sollte 
man  irgend  etwas  erdenken  können,  das  besser  wäre  als  der  Weisung  der 
Natur  zu  folgen,  als  das  freie  Spiel  des  Wunderwerkes?  Sollte  es  irgendwo 
von  besonderer  Weisheit  zeugen,  wenn  man  Transmissionen  ohne  Not.  unter- 
bricht oder  dieselbe  Welle  mit  mehreren  Räderweirken  zusammenschließt 
Muß  es  dabei  nicht  Störungen  geben  hier  und  dort? 

Damit  stehen  wir  allerdings  im  schärfsten  Gegensatz  zur  gekennzeichneten 
philologischen  Pädagogik,  die  die  Unterbrechung  der  unbewußten  Assoziation 
zum  Zwecke  bewußten  Vergleichs  mit  anderen  Sprachformen  und  zwar  mit 
möglichst  verschieden  gearteten  auch  für  ein  vorzügliches  Mittel  der  mutter- 
sprachlichen Schulung  erklärt.    Steckt  vielleicht  doch  ein  gesunder  Kern  darin? 

Man  könnte  ihn  darin  finden,  daß  in  der  Tat  die  unbewußte  Sprach- 
erlernung nicht  bei  allen  Menschen  ausreicht  und  zwar  aus  dem  von  Epstein 
und  mir  gekennzeichneten  Grunde  der  Sprachhemmung  durch  andere  sprach- 
liche Einflüsse.  Kinder,  auch  die  gebildeter  Eltern,  sprechen  in  der  Regel 
nicht  die  Mundart  ihres  Vaterhauses,  sondern  die  der  Umgebung,  von  der  sie 
Klang-  und  Tonfarbe,  mundartliche  Ausdrücke  und  auch  Sprachfehler  über- 
nehmen. Sie  werden  daher  öfter  zu  sprachlicher  Besinnung  angehalten 
werden  müssen.  Auch  unterliegen  alle  Menschen  den  Einwirkungen  der 
sprachumbildenden  Kräfte,  vor  allem  der  Bequemlichkeit  und  der  falschen 
Analogie,  der  Verwechslungen  infolge  ähnlichen  Klanges  sich  anreihen  (s.  unten). 
Treten  nicht  starke  Widerstände  von  selten  der  guten  sprachlichen  Über- 
lieferung und  ihrer  Wächter  ein,  dann  entartet  die  Sprache,  was  die  Gram- 
matik und  die  Wortgeschichte  aller  Sprachen  lehren.  Aber  solche  Wächter 
sind  doch  vor  allen  Dingen  neben  gebildeten  Eltern  die  Lehrer  der  Mutter- 
sprache, nicht  einer  fremden.  Wie  viel  Tausende  von  Gelegenheiten  bieten 
sich  dem  deutschen  Lehrer,  bei  sprachlichen  Entgleisungen  den  Sünder  auf 
die  rechte  Bahn  zu  lenken !  Man  denke  an  eine  mit  der  Rückgabe  von  Auf- 
sätzen ausgefüllte  Stunde !  Dabei  vergesse  man  nicht,  daß  der  muttersprach- 
liche Unterricht  bisher  nur  mit  den  Brocken  der  Lehrzeit  hat  vorlieb  nehmen 
müssen,  die  die  wohlgenährten  fremden  Herren  ihm  übrig  gelassen  hatten. 
Was  wird  er  schaffen  können  an  liebevoller  Einführung  in  die  Geschichte 
der  Sprache  und  der  Wörter,  an  sprachpsychologischen  und  etymologischen 
Betrachtungen,  an  Deutungen  sinnverwandter,  ähnlich  klingender,  abstrakter 
und  seltener  Wörter,  in  der  Sonderung  der  verschiedenen  Bedeutungen  des- 
selben Wortes,  wenn  man  ihn  als  gleichberechtigt  mit  jenen  anerkennen  und 
ihm  etwa  eine  Lehrstunde  täglich  zuweisen  wird!  Auch  der  fremdsprach- 
liche Unterricht  gibt  Gelegenheit,  einige  dieser  Aufgaben  gelegentlich  zu  er- 
füllen, aber  es  ist  Gefahr  vorhanden,  daß  seine  Guttaten  mehr  als  aufgewogen 
werden  durch  folgende  Schädigungen: 


Zum  psychologischen  Problem  „Fremdsprachen  und  Muttersprache"     413 

1.  Der  fremdsprachliche  Unterricht  wendet  das  Hauptinteresse  der  fremden/ 
Sprachform  zu,  die  daher  sich  schärfer  eindrückt  als  die  muttersprachliche.' 

2.  Bei  Abweichungen  der  Muttersprache  von  der  Fremdsprache  erscheint 
aus  demselben  Grunde  die  fremdsprachliche  Form  leicht  als  die  vollkommenere. 
Im  lateinischen  Unterricht  wenigstens  pflegt  die  Muttersprache  als  die  „un- 
genauere" bezeichnet  zu  werden.  Und  doch  könnte  man  wohl  begreifen, 
daß  es  ungenaue  Sprachen  überhaupt  nicht  geben  kann,  weil  Genauigkeit  der 
Mitteilung  dringendes  Bedürfnis  ist.  Freilich  birgt  die  Mehrdeutigkeit  der 
Wörter  die  Möglichkeit  eines  Mißverständnisses  in  sich,  aber  diese  ist  in  allen 
Sprachen  gegeben  und  kann  durch  Vorsicht  vermieden  werden.  Die  S\Titax 
ist  so  wenig  Ursache  von  Mißverständnissen,  daß  der  Depeschenstil  in  der 
Regel  sogar  mit  einem  Bruchteil  von  ihr  verständlich  bleibt.  Daß  vdr  in 
unserer  Muttersprache  infolge  mangelhafter  sjTitaktischer  Formen  uns  nicht 
genau  genug  ausdrücken  könnten,  ist  also  eine  ungeheuerliche  Behauptung, 
und  wenn  sie  das  Ergebnis  des  Unterrichts  bei  allen  Lateinschülem  ist,  wie 
meine  Erfahrung  mich  gelehrt  hat,  dann  rede  man  nicht  von  Verdiensten 
dieses  Lehrfaches  mn  unsere  Muttersprache.  Denn  jede  Minderung  der 
Achtung  vor  ihr  bedeutet  eine  Minderung  der  Liebe  zu  ihr  und  des  Willens 
zu  ihrer  Pflege.  Die  Schule  spricht  übrigens  Solche  Behauptimgen  auch  zu 
dem  Zwecke  nach,  um  den  Schülern  die  dürre  Kost  der  Hinübersetzungen 
die  kAi'npnfTPf^^nlfPnyiiyachs  bringen,  schmackhaft  zu  machen. 

3.  Dazu  kommt,  daß  der  Lehrer  oft  als  Brücke  z\\ischen  den  verschieden 
gearteten  Sprachen  den  Schülern  Z\vischenformen  empfehlen  muß,  also  fremde 
Sprachformen  in  muttersprachlichem  Gewände.  Willst  du  wissen,  ob  ,wer' 
,qui'  oder  ,quis'  heißen  muß,    so  setze  ,derjenige   welcher'  dafür  ein,   ein 

[bewährtes  Mittel,  so  bewährt,  daß  das  undeutsche  .derjenige  welcher'  fast 
Idas  muttersprachliche  ,wer  verdrängt  hat.  .Die  Verschworenen  fanden  sich 
i zusammen  zur  Ermordung  Caesars'  bedarf  erst  der  Umformung  in:  ,sie  kamen 
zusammen  zu  dem  zu  ermordenden  Caesar*,  um  ,ad  Caesarem  necandmn 
convenerunt'  zu  ermöglichen.  Der  im  pajrfernen  Stil  so  häufige  Gebrauch 
des  Gerundivs  hat  daher  seinen  Ursprung.  Und  nun  vergegenwärtige  man 
sich  das  fürchterliche  Deutsch  der  Übersetzungsbücher,  die  wir  als  Schüler 
und  Lehrer  gebrauchen  mußten!  (Nr.  4,  5,  6,  7.)  Wie  konnte  sich  da  ein 
gesundes  deutsches  Sprachgefühl  entwickeln?  Wie  haben  wir  kämpfen 
müssen,  um  die  lateinischen  Schlacken  vom  Guß  der  muttersprachlichen 
Gedankenform  zu  entfernen !  Dies  schlechte  Deutsch  war  eben  die  Zwischen- 
form, die  das  Übersetzen  erleichterte,  und  wenn  es  sich  in  neueren  Büchern 
auch  verbessert  hat,  so  \^ird  der  Schüler  immer  noch  die  Brückenform  in 
Gedanken  bilden  und  dadurch  nach  wie  vor  sein  muttersprachliches  Gefühl 
beeinträchtigen  oder  gar  töten.  Es  ist  klar,  daß  die  geschilderten  Gefahren 
desto  größer  sind,  je  verschiedener  die  Fremdsprache  von  der  Muttersprache  ist- 
Nun  könnte  maiTein  wen  den,  ich  sähe  zü"schwarz,  das  neunjährige  Kind' 
sei  doch  schon  hinreichend  im  Gebrauch  der  Muttersprache  gefestigt,  um  die 
angestrengte  Beschäftigung  auch  mit  einer  wesentlich  anders  gearteten  Sprache 
ohne  Schädigung  zu  vertragen.  Damit  vergleiche  man  meine  Angaben  in 
Nr.  7.  Ich  habe  noch  auf  Quinta  80  v.  H.  aller  in  einer  Klassenarbeit  von 
der  ganzen  Klasse  gemachten  Fehler  auf  mangelhaftes  Verständnis  der  Mutter- 
sprache zurückführen  können,  ich  habe  auf  Quarta  50  v.  H.  festgestellt.  Ich 
habe  beobachtet,  wie  leicht  ähnlich  lautende  Wörter  und  Sprachformen  ver- 


:/ 


414     Ernst  Lentz,  Zum  psychol.  Problem  der  „Fremdspraclien  und  Muttersprache'- 

wechselt  werden:  nennen  und  ernennen,  bitten  und  erbitten,  schmähen  und 
verschmähen,  sich  erinnern  und  erinnern,  lernen  und  lehren,  rauben  und 
berauben,  brauchen  (nötig  haben)  und  gebrauchen,  entscheiden  und  sich 
unterscheiden,  kommen  und  bekommen,  fahren  und  erfahren,  auch  Gefahren 
(wir  haben  erfahren  periculosi  habemus),  hören  und  gehören,  legen,  hegen 
und  sich  legen,  wähnen  und  erwähnen,  stellen  und  sich  stellen,  erlangen 
und  gelangen,  zählen  und  erzählen,  zweifeln  und  verzweifeln,  sorgen  und 
besorgen,  beschweren  und  sich  verschwören  (noch  auf  der  Prima),  verteilen 
und  mitteilen  (ebenda),  züchten  und  züchtigen,  gereichen  und  erreichen, 
Scham  und  Schmach  (auf  Prima),  hören  und  erhören,  erwähnen  und  erwägen 
(auf  Prima),  raten  und  verraten,  befehlen  und  befehhgen  (auf  Prima),  kaufen 
und  verkaufen,  weder — noch  und  entweder — oder  (noch  auf  Oberprima),  so- 
gleich und  zugleich,  zugleich  und  zuviel,  sobald  als  und  so  lange  als,  jeder 
und  jener,  wenig  und  zuwenig,  denn  und  wenn  und  dennoch,  wer  von  beiden 
und  jeder  von  beiden,  kluger  und  klüger,  ich  habe  Überfluß  und  ich  habe 
Überfluß  gehabt,  ich  werde  lieben  und  ich  werde  geliebt,  ich  habe  und  ich 
hatte  geliebt,  du  sollst  kommen  (Befehl)  und  du  sollst  gekommen  sein  u.  a.  m. 
Ich  gebe  zu,  daß  der  ältere  Schüler  den  Sinn  der  Übersetzungsvorlage  meistens 
richtig  erfaßt  haben  wird  und  nur  sein  Gedächtnis  sich  geirrt  hat,  aber  das 
wäre  nicht  der  Fall  gewesen,  wenn  er  beim  Lernen  des  lateinischen  Wortes 
stets  ein  hinreichendes  Verständnis  der  Wortbedeutung  gehabt  hätte.  Ich 
könnte  es  mir  nicht  denken,  daß  ich  beim  Erlernen  einer  Sprache  ,erwähnen' 
und  ,erwägen'  verwechselte,  erinnere  mich  auch  nicht  solcher  Fehler  bei 
Sprachstudien  im  Mannesalter.  Der  ältere  Schüler  büßt  die  Schwäche  seiner 
Kindheit.  Bei  dem  jüngeren  Alter  kann  aber  auch  ein  Übersetzen  ohne  Er- 
fassen des  Inhalts  angenommen  werden,  wobei  lediglich  Wort  mit  Wort,  also 
auch  das  mißverstandene  Wort  mit  seinem  Deckwort  getauscht  wurde.  Es 
war  nun  gewiß  gut,  daß  die  lateinische  Arbeit  Veranlassung  bot,  die  mutter- 
sprachhchen  Irrtümer  festzustellen  und  zu  berichtigen,  aber  dies  könnte  doch 
auch,  wie  oben  schon  gesagt,  der  muttersprachhche  Unterricht  leisten,  wenn 
er  sich  diese  Aufgabe  stellte  und  Zeit  hätte,  sie  zu  lösen.  Auch  unbewußt 
klärt  sich  der  Wortvorrat,  denn  unseren  Volksgenossen  verständhch  zu  werden 
und  ihre  Gedanken  richtig  zu  deuten,  ist  ja  dringendes  Bedürfnis,  ist  ja  ein 
Mittel  der  Selbsterhaltung,  und  der  Verkehr  arbeitet  unausgesetzt  daran,  dieses 
Mittel  immer  mehr  zu  verbessern.  Oder  ist  es  denkbar,  daß  jemand  sein 
Leben  hindurch  ein  Dutzend  der  oben  genannten  Wortpaare  verwechselte? 
Dasselbe  gilt  auch  von  der  Unterscheidung  sinnverwandter  Begriffe,  von  denen 
manche  in  der  Fachvorbereitung  geschieden  werden  müssen,  wie  die  juristischen 
„Eigentum"  und  „Besitz";  „Verbrechen,  Vergehen,  Übertretung";  „Verwandt- 
schaft" und  „Verschwägerung",  die  philologischen  „Wurzel"  und  „Stamm", 
die  physiologischen  „Arterien"  und  „Venen"  usw.  Von  der  sachhchen  Be- 
lehrung empfängt  die  sprachliche  auch  hierbei  das  hellste  Licht,  wenn  auch 
hier  und  da,  wie  bei  „affinitas"  und  „cognatio",  die  Synonymik  anderer 
Sprachen  lehrreich  sein  kann,  aber  doch  in  höherem  Grade  die  gleichaltriger 
Kulturvölker,  deren  Gedankenschatz  dem  unserigen  näher  steht. 

Daß  die  Herübersetzung  die  geistige  Tätigkeit  kräftig  anregt,  indem  sie 
durch  mannigfaltige  Gedankenoperationen  das  Verhüllte  zu  entschleiern  sucht 
(Nr.  4),  soll  nicht  bestritten  werden,  wohl  aber,  daß  dies  in  einem  bei  anderen 
Aufgaben  nicht  erreichten  Maße  geschieht.    Dasselbe  gilt  auch  für  den  sprach- 


Johannes  Prüfer,  Vom  Kulturwert  des  Kinderspiels  415 

liehen  Gewinn.  Der  Übersetzer  hat  in  der  Tat  Gelegenheit,  bei  dem  Tausche 
der  Worte  die  sprachlichen  Münzen  seines  eigenen  Besitzes  näher  zu  be- 
trachten, unter  ihnen  die  passendste  auszusuchen  und  sich  seines  Besitzes 
zu  freuen.  Aber  nur  der  sprachlich  Vorgeschrittene,  der  eben  über  einen 
gewissen  sprachlichen  Reichtum  verfügt.  Er  ist  auch  allein  der  freudige  Mit- 
arbeiter des  Lehrers  bei  der  Festlegung  einer  guten  Übersetzung,  während 
der  sprachlich  Arme  im  Gefühl  dieser  Armut  sich  bedrückt  fütilt  und  sich 
nur  eifrig  bemüht,  die  Frucht  der  Lehrstunde  schwarz  anf  weiß  nach  Hause 
zu  tragen.  Ob  jener  aber  in  einer  Stunde  gehaltvoller  muttersprachlicher 
Lektüre  nicht  größere  Förderung  erfährt  bei  dem  ungleich  reichhcheren  Ge- 
winn an  wertvollen  Gedanken,  ist  doch  die  Frage. 

Es  gibt  meines  Erachtens  keinen  stichhaltigen  Grund  dafür,  von  der  Be- 
schäftigung mit  Fremdsprachen  eine  anders  nicht  zu  erreichende  För- 
Iderung  der  Muttersprache  und  damit  der  geistigen  Bildung  zu  erhoffen, 
dagegen  manchen  dafür,  ihre  schwere  Schädigung  zu  fürchten.  Das  Volk 
der  Griechen  darf  wohl  als  klassisches  Beispiel  für  die  Wirkung  einsprachiger/ 
Bildung  im  Gegensatz  zu  der  Erfahrung  unserer  vielsprachigen  Schüler/ 
dienen.  Daß  die  Entlastung  der  Unterstufe  unserer  höheren  Schulen  vom 
lateinischen  Unterricht  muttersprachliche  Bildung  und  geistige  Frische  ge- 
fördert hat,  ist  auch  nicht  mehr  zu  leugnen  (Nr.  6).  Ich  selbst  kann  es  aus 
meiner  Tätigkeit  an  einer  Reformschule  bezeugen. 

Die  alten  Sprachen  werden,  von  Verpflichtungen  befreit,  denen  sie  nicht 
gerecht  werden  können,  erlesenen  Schülern  in  reiferem  Alter  geboten  und 
als  Träger  einer  großen  Gedankenwelt  in  einer  schnell  in  sie  hineinführenden, 
dasJV  er  stehen  in  erster  Linie  bezweckenden  Lehrart  behandelt,  auch  femer 
einen  Ehrenplatz  in  der  Jugend bildung  beanspruchen  dürfen.  Von  einer 
psychologisch  richtigen  Unterweisung  des  jüngeren  Alters  und  im  besonderen 
von  einer  besseren  muttersprachhchen  Bildung  wird  auch  der  altphilologische 
Unterricht  wie  das  gesamte  Geistesleben  der  Jugend  den  größten  Gewinn 
haben  (Nr.  7). 


Vom  Kulturwert  des  Kinderspiels. 

Von  Johannes  Prüfer. 

Die  Kräfte  der  Seele  entwickeln  sich  nur  durch  angemessene  Tätigkeit. 
Trägheit  und  Ruhe  ist  Gift  für  die  Seele.  Nur  wo  die  Seele  tätig  ist,  herrscht 
Leben,  Entwicklung,  Entfaltung.  Je  vielseitiger  und  intensiver  die  Tätigkeit, 
umso  mannigfaltiger  und  höher  die  Entwicklung.  Der  innerlich  reiche  Mensch, 
der  sich  von  klein  auf  vor  immer  neue  Notwendigkeiten  gestellt  sieht,  ent- 
faltet sich  daher  am  besten. 

In  den  frühesten  Kinderjahren  ist  jede  normale  Seele  tätig,  rege.  Man 
hat  diese  innere  Regsamkeit  nicht  mit  Unrecht  als  das  wertvollste  Gut  der 
Kindheit  bezeichnet.  Je  länger  der  Mensch  sich  dieses  Gut  bewahrt,  umso 
reicher  wird  seine  Entwicklung  sein.  Ein  guter  Kenner  afrikanischer  Ver- 
hältnisse hat  einmal  gesagt,  daß  die  Frühreife  der  Neger  es  sei,  die  ihrer 
Höherbildung  so  große  Schwierigkeiten  bereitet.  Mit  anderen  Worten:  die 
Kindheit,  die  Jugendzeit  der  Neger,  also  die  Zeit  der  seelischen  Entfaltung, 


416  Johannes  Prüfer 


der  inneren  Anpassung  ist  zu  kurz,  ist  zu  früh  abgeschlossen.  Die  innere 
Entwicklung  dieser  Menschen  kommt  zu  früh  zum  Stillstand.  Daher  bleibt 
bei  ihnen  alles  Tradition  und  Nachahmung.  Das  schnelle  Heranreifen  der 
Negerkinder  ist  also  die  wichtigste  Ursache  des  kulturellen  Stillstands  dieser 
Völker.  Je  länger  ausgedehnt  die  Kindheit  und  Jugendzeit  der  Glieder  einer 
Volksgemeinschaft  ist,  eine  umso  günstigere  Vorbedingung  ist  dies  für  die 
Kulturentwicklung  dieses  Volkes,  weil  eben  nur  dann  in  den  Einzelnen  d  i  e 
Kräfte  reifen  können,  die  immer  neue  Kulturgüter  und  Kulturwerte  zu  schaffen 
vermögen.  Wir  fassen  natürhch  „Jugend"  hier  im  weitesten  Sinne.  Solange 
der  Mensch  noch  nicht  „fertig"  ist,  solange  seine  Seele  noch  empfänglich 
ist  für  Neues,  solange  sie  sich  noch  entfaltet,  solange  sie  noch  wächst  und 
höher  strebt,  so  lange  kann  man  den  Menschen  noch  „jung"  nennen.  Zum 
Glück  gibt  es  ja  Menschen  —  und  es  sind  nicht  die  schlechtesten  —  die 
in  diesem  Sinne  noch  mit  weißen  Haaren  jung  sind. 

Da  nun  die  Kultur  eines  Volkes  im  Laufe  der  Jahrhunderte  immer  reicher, 
immer  differenzierter  und  komplizierter  wird,  weil  immer  bedeutendere  Kraft 
dazu  gehört,  wenn  der  Einzelne  wirklich  die  Kultur  höhe  seines  Volkes  er- 
reichen will,  und  weil  noch  mehr  Kraft  dazu  erforderlich  ist,  Werte  zu  er- 
zeugen, die  selbst  über  das  vorhandene  Niveau  hinausragen  (das  ist  ja  aber 
doch  der  Sinn  aller  kulturellen  Höherentwicklung),  weil  das  alles  so  ist,  so 
muß  naturgemäß  die  Zeit  des  Heranreifens,  der  inneren  Beweglichkeit  und 
Entfaltung  —  also  die  Kindheit  und  Jugendzeit  —  bei  fortschreitender  Kultur 
immer  weiter  und  ausgedehnter  werden.  Bei  kulturell  aufsteigenden  Völkern 
ist  dies  auch  der  Fall.  Sobald  aber  dieser  Prozeß  unterbrochen  wird,  so- 
bald die  Ausdehnung  der  Jugendzeit  mit  der  Höherentwicklung  der  Kultur 
nicht  mehr  gleichen  Schritt  hält,  ist  Gefahr  im  Verzug,  Gefahr  für  die  Höher- 
entwicklung, ja  für  den  Fortbestand  wahrer  Kultur  überhaupt.  Denn  dann 
muß  der  Fall  eintreten,  daß  zwar  hohe  Kulturgüter  vorhanden  sind,  aber 
die  Glieder  eines  solchen  Volkes  bringen  —  wenn  sie  zu  früh  reif,  zu  früh 
„fertig"  werden  —  nicht  mehr  Zeit  und  Kraft  auf,  in  den  Geist  einzudringen, 
der  einst  diese  Güter  und  Werte  geschaffen  hat.  Solch  armselige  Epigonen 
blähen  sich  dann  wohl  noch  eine  Zeitlang  mit  den  äußeren  und  sicht- 
baren Zeichen  der  Kultur,  die  einst  ihre  Väter  hervorgebracht,  aber  sie 
haben  sich  dieselbe  nicht  innerhch  erworben.  Die  Kultur  ist  ihnen  nicht 
wahrer  Besitz  geworden.  Ihre  Seele  ist  nicht  hineingewachsen  in  die  letzten 
und  feinsten  Wurzeln  ihrer  angestammten  Kultur,  darum  fehlt  ihnen  Kraft 
und  Saft,  neue  Blüten  und  Früchte  zu  treiben.  Kultureller  Stillstand  und 
kultureller  Niedergang  ist  die  Folge.  —  Ob  es  in  Menschenkraft  liegt,  diesen 
Prozeß  zu  verhindern,  ihn  wenigstens  hinauszuschieben,  oder  ob  es  das 
Schicksal  jeder  Kultur  sein  muß,  an  mangelnder,  an  aufhörender  Jugend- 
frische  ihrer  Träger  abzusterben,  wer  wollte  das  entscheiden?   — 

Wir  können  nichts  weiter  tun,  als  alles  das  zu  fördern,  was  unsere  Jugend 
vor  Frühreife  bewahrt,  was  unser  Geschlecht  vor  zeitigem  Altern  schützt. 

Der  Seele  so  lange  als  möglich  die  innere  Regsamkeit,  das  Wachsen  und 
Blühen  ihrer  Kinder-  und  Jugendtage  zu  erhalten,  ist  daher  heiligste  Aufgabe 
der  Erziehung.  Das  heißt  natürlich  nicht,  das  Kind  künstlich  auf  einer 
niederen  Entwicklungsstufe  festhalten,  sondern  es  heißt  nur:  Das  köstlich 
rege  Leben,  das  in  jedem  gesunden  Kinde  pulsiert,  den  naturgegebenen 
starken  Bildungstrieb  im  jungen  Menschen  frisch  und  stark  erhalten. 


Vom  Kiüturwert  des  Kinderspiels  417 

Wie  kann  das  geschehen? 

Durch  das  Spiel.  — 

Mehr  und  mehr  wird  in  der  modernen  Pädagogik  die  hohe  Bedeutung 
erkannt,  die  das  echte  Kinderspiel  für  die  Entwicklung  des  Menschen  hat. 
Worin  hegt  diese  hohe  Bedeutung? 

Um  das  zu  erkennen,  muß  man  sich  vergegenwärtigen,  wie  denn  eigenthch 
das  Spiel  entsteht.  Das  Spiel  ist  etwas,  was  aus  dem  Innersten  des  Kindes 
hervorquillt.  Der  Mensch  wird  mit  dem  Trieb  zum  Spielen  geboren.  Das 
Spielen  braucht  ihm  nicht  erst  von  außen  angelernt  zu  werden,  sondern  er 
bringt  die  Anlage  zum  Spielen  mit  ins  Leben,  wie  er  die  Anlage  zum  Laufen, 
zum  Sprechen,  zum  Beobachten,  zum  Denken  mitbringt.  Das  Kind  braucht 
nur  Raum  und  Stoff  zur  Betätigung  seines  Spieltriebes.  Beides  dem  Kinde 
zu  gewähren,  ist  daher  Pflicht  des  Erziehers. 

Wir  sahen  oben,  daß  der  Mensch  sich  am  reichsten  entfalten  wird,  der 
vor  immer  neue  Notwendigkeiten  gestellt  ist.  Echtes,  freies  Kinderspiel  in 
seiner  unendlichen  Mannigfaltigkeit  bietet  immer  von  neuem  solche  Anregungen, 
solche  Notwendigkeiten,  durch  die  des  Kindes  Seele  in  Bewegung,  Entfaltung 
und  frischem  Leben  erhalten  bleibt.  Das  Kind,  das  möglichst  lange  und 
mit  ganzer  Seele  spielt,  wird  also  besonders  „kulturfähig"  sein.  Es  kommt 
nur  darauf  an,  das  reine  Kinderspiel  allmählich  in  „höheres  Tun"  über- 
zuführen, ohne  die  innere  Regsamkeit  der  Seele  dadurch  zu  stören,  mit 
anderen  Worten,  das  Kind  bezw.  den  Menschen  möglichst  lange  jung 
zu  erhalten  auf  dem  Wege  zur  „höheren  Bildung". 

Was  ist  das:  Bildung? 

Man  spricht  gewöhnlich  von  „gebildeten"  und  „ungebildeten"  Menschen. 
Wenn  man  aber  einmal  ernstlich  daran  geht,  festzustellen,  was  eigentlich 
ein  „gebildeter  Mensch"  ist,  welche  charalcteristischen  Züge  er  trägt  und 
wo  der  „ungebildete  Mensch"  anfängt,  da  wird  man  finden,  daß  man  dabei 
gar  nicht  recht  zu  einem  befriedigenden  Resultat  kommt.  —  Reiches  Wissen, 
gute  Umgangsformen,  soziale  Gesinnung,  Harmonie  der  Seelenkräfte  und 
dergleichen,  keines  dieser  Dinge  erschöpft  den  Begriff  „gebildeter  Mensch". 
Über  den  bekannten  Münchener  Kunsthistoriker  Riehl  wurde  einmal  erzählt, 
er  sei  eines  Tages  beim  Spazierengehen  au  einen  Park  gekommen,  über  dessen 
Eingang  die  Worte  gestanden  hätten:  „Nur  für  gebildete  Menschen!"  —  da  habe 
er  lange  überlegt,  ob  er  da  wohl  hineingehen  dürfe.  Diese  schalkhafte 
Episode  aus  dem  Leben  Riehls  zeigt  deutlicher  als  langatmige  Ausführungen, 
was  es  mit  dem  Begriff  „gebildeter  Mensch"  auf  sich  hat. 

Man  kann  zuweilen  beobachten,  daß  Eltern  Maßnahmen  treffen,  um  ihren 
Sohn  oder  ihre  Tochter  „bilden"  zu  lassen,  etwa  indem  sie  den  Sohn  auf 
eine  Presse  schicken,  damit  er  das  „Einjährige"  erwirbt,  oder  die  Tochter 
ein  Jahr  in  ein  „\sissenschaftliches  Pensionat",  oder  auch,  indem  sie  ein 
Konversationslexikon  oder  ein  Pianoforte  für  die  Kinder  kaufen.  —  Ihnen 
schwebt  der  „gebildete  Mensch"  als  etwas  Fertiges  vor,  als  etwas,  was  man 
eben  eines  Tages  einmal  werden  kann.  Wenn  nun  auch  nicht  alle  so  naive 
Vorstellungen  haben,  der  Glaube  ist  doch  in  den  weitesten  Kreisen  noch 
vorhanden,  daß  die  Bildung  etwas  Abgeschlossenes  sei,  also  eine  Sache,  die 
man  erwerben  kann  evtl.  durch  Besuch  einer  höheren  Schule. 

Gegenüber  diesem  Fundamentalirrtum  muß  es  einmal  ganz  deuthch,  aus- 
gesprochen werden:  Bildung  ist  kein  Besitz,  Bildung  ist  keine  meßbare  näher 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  27 


418  Johannes  Prüfer,  Vom  Kulturwert  des  Kinderspiels 


zu  bestimmende  Größe,  sondern  Bildung  ist  ein  Zustand,  besser  Bildung 
ist  ein  Vorgang.  Bildung  ist  der  natürliche  Wachätumsprozeß,  Bildung 
ist  die  allmähliche  Formung  der  Seele.  Sie  ist  also  das  Gegenstück  zu  geistiger 
Erstarrung,  zu  seelischem  Stillstand  und  Tod.  In  jeder  jungen  gesunden 
Menschenseele  treiben  und  drängen  gestaltende  Kräfte  von  innen  nach  außen, 
wie  in  jedem  Keim,  wie  in  jeder  jungen  Pflanze,  wie  in  jedem  gesunden 
Organismus  ein  Bildungstrieb  sich  regt.  Je  länger  dieser  Zustand  anhält, 
umso  besser.  Innere  Regsamkeit  der  Seele,  Entfaltung  der  persönlichen 
Anlagen,  Hingabe  an  die  Dinge  und  Menschen  der  Umgebung  und  Gewinnung 
eines  persönlichen  Verhältnisses  zu  ihnen,  Vertiefung  in  die  Gefühle,  Gedanken 
und  Ideen  der  Umwelt,  ein  ständiges  Hinüber  und  Herüber,  ein  unaufhörliches 
Geben  und  Nehmen,  das  alles  gehört  zum  Bildungsprozeß,  wie  Atmen  und 
Stoffwechsel  zum  Lebensprozeß  des  Körpers.  Die  Seele,  die  sich  in  solchem 
Zustand  befindet,  bildet  sich  ganz  von  selbst,  sie  formt  sich,  sie  gestaltet  und 
entfaltet  sich. 

Es  ist  aber  nicht  nur  ein  kräftiges  Entwickeln  von  innen  heraus,  sondern 
auch  ein  Aufnehmen  von  außen;  denn  die  Seele  ist  ja  mit  dem  Trieb  geboren, 
sich  die  Umwelt  geistig  zu  erobern.  Sie  will  erkennen  und  wissen,  sie  will 
sich  freuen  am  Schönen  und  will  sich  erheben  am  Edlen  und  Erhabenen. 
Und  durch  das  alles  wird  sie  immer  größer  und  reifer.  Das  alles  gehört 
mit  zum  Bildungsprozeß. 

In  seiner  Jugend  macht  jeder  gesunde  Mensch  diesen  Prozeß  durch.  Das 
unverdorbene  Kind  zeigt  in  seinem  Wesen  —  besonders  in  seinem  freien 
Spiel  —  alle  die  Züge,  die  wir  eben  geschildert  haben.  Bei  den  meisten 
tritt  nur  leider  allzu  früh  eine  Unterbrechung  dieses  Prozesses  ein,  bei  manchen 
mit  14,  bei  manchen  mit  18  oder  mit  24  Jahren.  Besonders  sind  es  „be- 
standene Prüfungen",  die  in  den  jungen  Leuten  den  Glauben  erwecken,  sie 
seien  nun  „fertig"  und  „reif".  Der  „Student"  wird  nur  zu  oft  zum  „Philister", 
zu  jenem  widerwärtigen  Typ  des  Selbstzufriedenen,  Satten,  Fertigen.  Lagarde 
hat  einmal  gesagt,  jeder  hätte  den  Zugang  zur  wahren  Bildung,  der  am 
Morgen  mit  dem  Wunsch  aufstände,  am  Abend  wieder  etwas  besser,  etwas 
reifer,  wieder  ein  Stück  weiter  zu  sein  auf  dem  Wege  zur  Menschwerdung. 
Das  ist's,  worauf  es  ankommt!  Nie  mit  sich  zufrieden,  nie  mit  sich  fertig, 
immer  suchend,  immer  weiter  strebend  und  ringend,  gar  nicht  anders  können, 
als  sich  so  immer  weiter  bildend,  das  ist's,  was  den  edlen  vom  unedlen 
Menschen  unterscheidet.  Diesen  Zustand  so  lang  als  möglich  auszudehnen, 
ihn  nicht  mit  14  oder  18  Jahren  schon  aufhören  zu  lassen,  das  sollte  vor 
allem  das  Ziel  der  Erziehung  sein.  Das  ist  allein  der  Weg  zu  edlem  Menschen- 
tum. Hamerling  hat  einmal  das  Wort  geprägt:  „Ewige  Sehnsucht  ist  ewige 
Jugend"  —  ewige  Sehnsucht  (nach  dem  Ideal)  ist  zugleich  ewige  Bildung. 


Die  psychologische  Laborantin  als  Beruf. 

Von  Fritz  Giese. 

Der  ungeheuere  Aufschwung,  den  die  praktische  Psychologie  in  den  letzten 
Jahren  genommen  hat,  eröffnet  jedem,  der  in  der  Bewegung  steht,  die  Hoff- 
nung auf  eine  weitreichende  Geltung  psychologischer  Forschung  und  Arbeit 
schon  für  die  nächste  Zukunft.     Aber  je  mehr  diese    der  Praxis  dient,  sich 


Fritz  Giese,  Die  psychologische  Laborantin  als  Beruf  419 

entfernt  von  der  stillen  Arbeit  des  Forschers  und  den  Räumen  mehr  theo- 
retisch gerichteter  Laboratorien,  um  so  lebhafter  drängen  gleich  äußerliche 
Fragen  zur  Lösung.  Unbedingt  eine  der  wichtigsten,  wenn  nicht  die  ent- 
scheidende, ist  aber  die  Frage  nach  den  die  Masseniuitersuchungen  aus- 
führenden Persönhchkeiten. 

Nachdem  sich  gezeigt  hat,  daß,  nach  Durchbrechung  innerer  Schwierig- 
keiten, die  insbesondere  bestanden  in  gewissen  theoretischen  Hemmungen 
der  angewandten  Psychologie,  eine  Seelenkunde  für  die  Wirklichkeit  möglich 
ist,  hat  sich  zugleich  für  die  bahnbrechenden  Forscher  auf  diesem  Gebiet 
ein  schwerwiegendes  Problem  offenbart.  Man  kann  in  fast  sämthchen  der 
wenigen  zurzeit  in  Vollbetrieb  befindlichen  Instituten  für  praktische  Psy- 
chologie, industrielle  Psychotechnik  oder  Eignungsprüfungen  die  Beobachtung 
machen,  daß  die  Überfülle  der  Nachfragen  und  die  Erfordernisse  der  dringend 
vorhegenden  Untersuchungen  in  ihrer  äußerlichsten  Mechanik  die  schöpferische 
Arbeit  der  leitenden  Fachpsychologen  zu  ersticken  drohen.  Manche  Ange- 
bote nach  neuen  Untersuchungsverfahren  für  bestimmte  Versuche,  nach  psy- 
chologischer Eichung  irgendwelcher  Maschinen  und  Gebrauchsgegenstände 
müssen  zurückgestellt  werden  oder  bleiben  vöHig  unberücksichtigt  aus  Zeit- 
mangel, den  die  Berechnungen  und  die  äußerhchste  Durchführung  der  Ver- 
suchsreihen sowie  die  Instandhaltung  der  Versuchsanordnungen  hervorrufen. 
Das  Untersuchen  von  nur  einem  Dutzend  Lehrlingen,  Kriegsrentenempfängern, 
Schülern  an  einem  Tage  —  eine  in  der  Praxis  durchaus  geläufige  Ziffer  — 
erfordert  einen  Aufwand  an  psychischer  Energie,  der  es  dem  betreffen- 
den üntersucher  (eingerechnet  Versuchsvorbereitung  und  Verrechnung)  un- 
möglich macht,  darüber  hinaus  tätig  zu  sein.  Als  Übergangsform  findet  man 
vielfach  auch  die  Tätigkeit  von  akademisch  gebildeten  Assistenten  oder  Stu- 
dierenden, welche  die  Gelegenheit  benutzen,  um  im  Zusammenhang  mit  der- 
artigen erforderlichen  Alltagsprüfungen  Examens-  oder  Doktorarbeiten  her- 
zustellen. Man  findet  ferner  die  nebenamthche  Tätigkeit  von  Lehrern,  Be- 
amten bei  Behörden,  gelegentliche  Mitarbeit  von  Ärzten,  außerhalb  des  Rah- 
mens ihrer  Praxis,  und  Versuchsleitung  durch  Ingenieure,  die  von  den  Firmen 
ebenfalls  nebenamtlich  mit  Durchführung  der  Versuche  betraut  wurden.  Im 
großen  und  ganzen  aber  fehlt  es  an  einem  eigentMch  psychologisch  vor- 
gebildeten Mitarbeiterstab  für  die  Praxis. 

Es  läßt  sich  wohl  denken,  daß  in  einigen  Jahren,  zumal  infolge  der  Pro- 
paganda, welche  auf  Technischen  und  Handelshochschulen  für  Wirtschafts- 
psychologie im  Schwange  ist,  sich  die  Verhältnisse  bessern  und  mehr  aka- 
demisch vorgebildete  Personen  für  die  praktische  Psychologie  zur  Verfügung 
stehen  werden.  Trotz  allem  wird  sich  aber  zeigen,  daß  in  dieser  Lösung 
nicht  das  wünschenswerte  Ausmaß  an  Arbeitsentlastung  erreicht  wird.  Ein- 
mal nämlich  ist  das  praktische  psychologische  Arbeitsgebiet  so  ungeheuer 
groß,  daß  die  akademisch  Vorgebildeten  vom  Strudel  der  Aufgaben  aufge- 
braucht werden  dürften.  Ferner  sprechen  auch  volkswirtschafthche  Gründe 
dagegen,  daß  allerorts  höher  bezahlte  Posten  für  eigenthche  Psychologen 
geöffnet  werden  können.     Entscheidend  aber  scheint  ein  drittes  zu  sein. 

Die  praktische  psychologische  Arbeit  wirkt  —  sobald  sie  in  Massenunter- 
suchungen notwendig  wird  —  für  den  betreffenden  akademisch  Vorgebildeten 
nicht  förderUch,  sie  ist  im  Grunde  genommen  eine  ziemhch  mechanische, 
allzu  betont  unproduktive  und  vereinfachte  Tätigkeit,  als  daß  sie  eine  höher 

27  ♦ 


420  Fritz  Giese 


vorgebildete  Persönlichkeit  befriedigen  könnte.  Liegen  die  Untersuchungs- 
methoden erst  einmal  fest,  so  ist  der  Ablauf  der  Einzeluntersuchungen  gleich- 
förmig, wesentlich  monotoner  und  eingeengter,  als  etwa  die  praktischen 
Fälle  des  Arztes,  Rechtsanwaltes  oder  Diplomingenieurs.  Je  mehr  es  sich 
darum  handelt,  in  bestimmten  Betrieben  Daueruntersuchungen  für  gewisse 
Prüflingskategorien  durchzuführen,  um  so  eintöniger  wird  diese  Arbeit  wer- 
den und  um  so  weniger  erhebend  auch  für  solche  Beamten  sein,  die  nur 
nebenamtlich  dergleichen  durchführen  sollen. 

Es  liegt  auch  im  Interesse  der  psychologischen  Wissenschaft,  daß  sie  über- 
haupt nicht  „nebenamtlich"  geführt  werden  sollte.  Ebensowenig  wie  jemand 
nebenamthch  praktischer  Arzt,  Theologe,  Rechtsanwalt  oder  Oberlehrer  sein 
darf,  ebensowenig  sollte  es  mit  dem  Fachpsychologen  der  Fall  sein.  Nur 
Persönlichkeiten,  die  voll  und  ganz  im  Beruf  aufgehen,  können  eine  gedeih- 
Hche  Fortentwicklung  der  Psychologie  voll  wissenschaftHcher  Tiefe  erhoffen 
lassen.  Der  Diplompsychologe  (um  einen  Ausdruck  Poppelreuters  zu  be- 
nutzen), ist  ein  voll  in  sich  abgeschlossener  Beruf.  Aber  eben  dieser  Be- 
rufsangehörige ist  zu  schade  dazu,  um  praktisch  mechanisierteren  Tätigkeiten 
unterworfen  zu  werden,  genau  so,  wie  der  Rechtsanwalt  nicht  beim  Formular- 
ausfüllen, der  Arzt  als  bloßer  Heilgehilfe  und  Masseur,  oder  der  Theologe 
als  Kantor  volle  Befriedigung  finden  würde,  darf  der  Fachpsychologe  nicht 
zufrieden  sein,  von  andern  fertig  ausgearbeitete  Versuchsreihen  Tag  für  Tag 
durchzuführen,  ohne  Zeit  zu  finden  zu  eigner  Forschung  und  persönhcher 
Arbeit.  Volkswirtschaftlich  muß  es  sogar  Bedingung  sein,  daß  akademisch 
Vorgebildete  (nur  aus  diesen  Kreisen  darf  der  praktische  Fachpsychologe 
kommen)  zur  produktiven  Berufstätigkeit  gelangen.  Dieses  gilt  natürüch 
auch  für  die  akademisch  vorgebildete  Psychologin. 

Es  fehlt  uns,  wie  hieraus  klar  wird,  an  mittleren  Berufsangehörigen, 
ähnlich  dem  Kanzlei-  und  Büropersonal  der  Verwaltungsbehörden,  dem  fach- 
männisch vorgebildeten  Pflegepersonal  in  Krankenhäusern,  den  mittleren 
Technikern  in  Fabriken.  Man  benötigt  einen  Stamm  fachmännisch  vorgebil- 
deten Hilfspersonals,  das  imstande  ist,  ohne  eigentliche  höhere  Produktivität 
nach  Anweisungen  die  erforderlichen  Massenuntersuchungen  gewissenhaft 
fortzuführen  und  dabei  doch  wieder  in  dieser  Tätigkeit  als  Vollberuf  auf- 
geht und  Freude  daran  hat,  also  nicht  nebenamtlich  arbeitet. 

Auch  zu  diesem  mittleren  psychologischen  Hilfspersonal  gehört  selbstver- 
ständlich eine  gewisse  Berufseignung,  wie  sie  zum  Kanzlisten,  zum  Post- 
beamten usw.  gehört.  Hauptpol  der  Eignung  ist  zunächst  Einfühlungs-  und 
Beobachtungsgabe  und  sonstige  Seiten  psychologischer  Beruf squahtäten,  außer- 
dem gründliche  Spezialausbildung. 

Nun  dürften  volkswirtschaftUche  Gründe  vorliegen,  die  ein  Überfluten 
von  selten  männlicher  Mitarbeiter  hindern.  Gleiche  Bezahlung  ist  auf  anderen 
Gebieten  wohl  mit  geringeren  Mühen  zu  erzielen.  Abgesehen  davon  scheint 
aber  auch  aus  rein  psychologischen  Gründen  weibliche  Mitarbeit  für  diese 
Zwecke  besonders  erwünscht.  Die  Gabe  des  Sichanpassens  an  fremde  In- 
dividualitäten, das  Verständnis  zumal  für  Jugendliche  und  Kinder,  die  große 
Geduld  und  Geschicklichkeit  im  Durchführen  mühsamer,  dazu  fertig  vorge- 
schriebener Arbeitsweisen;  das  aUes  spricht  außer  wirtschaftlichen  Gründen 
(geringere  Gehaltansprüche  der  Frau,  Abwanderungsnotwendigkeit  aus  andern 
vordem  gewohnten  Mittelberufen  in  Anbetracht  der  Überfüllung)  für  Bevor- 


Die  psychologische  Laborantin  als  Beruf  421 


zugung  der  Frau.  Man  möchte  entsprechend  Interesse  für  die  „psychologische 
Laborantin"  als  neuen  Frauenberuf  wecken. 

Die  Standestätigkeit  der  psychologischen  Laborantin  (also  der  Nichtaka- 
demikerin!)  entspricht  der  der  Laborantinnen  in  chemischen,  photographi- 
schen, biologischen,  physikalischen  usw.  Instituten:  mittlerer  Dienst  Ent- 
sprechend wird  auch  die  Besoldung  ausfallen. 

Die  psychische  Disposition  geht,  außer  der  rein  organisatorisch-wissen- 
schafthch-produktiven  Seite  beim  Fachpsychologen,  überein  mit  der  Eignung 
zum  praktischen  Psychologen  überhaupt.  Auf  eine  Eignungsprüfung  für 
praktische  Psychologen  komme  ich  bei  anderer  Gelegenheit  näher  zurück. 
Die  seelische  Struktur  ist  verhältnismäßig  kompliziert,  weil  die  Berufsanforde- 
rungen von  äußerst  disparaten  Seiten  des  Kulturlebens  an  den  Psychologen 
herantreten.  Ich  gebe  nur  kurz  in  Schlagworten  ein  Schema  an,  das,  ohne 
auf  die  Untersuchungsmethoden  einzugehen,  für  die  Eignungsprüfung  der 
psychologischen  Laborantin  in  Betracht  kommen  könnte. 

I.  Generelle  Diagnose  der  Gesamtfunktionen, 

insbesondere  eingehend:  allgemeine  Intelligenz  —  Gedächtnis  —  Auge,  Ohr  —  Hand  (als 
komplexes  Sinnesorgan)  —  Realitionsablauf. 

n.  Prüfung  spezieller  Berufsfunktionen: 

a)  Zeitbewußtsein:  Schätzen  von  Zeitlängen  mit  und  ohne  Arbeitsausfüllung  —  absolute 
Zeit 

b)  Sprache:  Sprechton,  Ermüdbarkeit  der  Stimme  —  Stimmwirkung — Sprechmelodie  —  Sprech- 
stil —  Wortfindung. 

c)  Rechnen:  Elementarrechnen  —  statistisches  Verständnis,  graphische  Darstellungsfälligkeit 

—  allgemeine  Rechenexaktheit  —  Formelverständnis. 

d)  Gedächtnis  für  momentane  visuelle  Eindrücke  (Gesichter,  Versuchsanordnungen)  —  fort- 
laufende Zusammenhänge  (Tatbestände,  Verhaltungsweisen  von  Menschen  usw.) 

e)  Aufmerksamkeit:  Konzentrationsfähigkeit  —  Ablenkbarkeit  —  Aufmerksamkeitsspaltung 
(mehrdimensional;  simultan;  sukzessiv).  Abstraktion,  Generalisation,  „Findigkeit",  Fehlerdiagnose 
für  Versuchsanordnungen  —  Allgemeine  Beobachtungsgabe  (synthetisch  —  analytisch,  Intensität 

—  Qualität,  Gegenstände  —  Menschen)  —  Aufmerksamkeitsschwankungen. 

f)  Intelligible  Funktionen,  allgemeine  Apperzeption  (Geschwindigkeit  —  Qualität),  Spezial- 
verständnis  für  physikalische,  technische,  medizinische,  mathematische  Gegebenheiten,  Urteils- 
und Kritikfähigkeit,  Kombination  (optisch,  akustisch,  sprachlich,  phantastisch),  pädagogische 
Fähigkeit  (vgl.  b). 

g)  Emotionale  Funktionen:  Einfühlungsgabe  (Anpassung  an  neue  Aufgaben  und  Menschen) 
Suggestibilität  —  Temperamentsform,  Gemütsanlage. 

h)  Voluntative  Funktionen:  Reaktionsablauf  (mehrfache  Reize  —  Störungseinflüsse) 
Suggestivität,  Verhalten  bes.  zu  Kollektiveinwirkungen  vgl.  e). 

i)  Arbeitstyp:  Tempo,  Schwankungen,  Ermüdbarkeitskoeffizient,  Verhältnis  zur  Arbeit. 

Neben  die  Eignungsprüfung  hätte  eine  sehr  eingehende  \\issenschafthche 
Vorbereitung  zu  treten.  Man  wird,  wie  man  es  bei  anderen  Laborantinnen 
verlangt,  als  Mindestmaß  4 — 5  Semester  ansetzen  müssen:  die  Photographin, 
Röntgenschwester,  Gärtnerin  usw.  benötigt  ähnliche  Zeiten.  Die  Ausbildung 
wird  neben  praktischer  Tätigkeit  an  einem  psychologischen  Institut,  dort 
oder  an  Hochschulen  Vorlesungen  und  Übungskurse  fordern. 

Fragt  man  nach  den  Erfahrungen,  welche  Laboranlinnenarbeit  im  Rahmen 
der  Praxis  gezeigt  hat,  so  braucht  man  nur  an  die  Unentbehrlichkeit  der 
chemischen,  photographischen  weiblichen  Mithilfe,  an  die  Röntgenschwester 
zu  erinnern,  um  die  Frage  zu  beantworten.  Auch  für  die  Psychologie  liegen 
Erfahrungen  aus  Kriegszeiten  vor :  So  benutzte  Poppelreuter  für  seine  Kopf- 


422 


Fritz  Giese,  Die  psychologische  Laborantin  als  Beruf 


schußstation  bereits  weibliche,  natürlich  nur  bezahlte,  nie  ehrenamtliche  Mit- 
arbeit. Ich  selbst  habe  an  meinem  Laboratorium,  das  der  praktischen  Psy- 
chologie im  weitesten  Sinne  dient,  die  besten  Erfahrungen  an  weiblicher 
Laborantinnenarbeit  gemacht.  Dieses  auch  z.  B.  bei  dem  spröden  Menschen- 
material, wie  es  Rentenempfänger  und  erwachsene  ungebildetere  Patienten 
gegenüber  den  viel  leichter  zu  untersuchenden  Kindern  und  JugendUchen 
darstellen.  Die  Frage  nach  dem  Heranbilden  eines  Stammes  geeigneter  psy- 
chologischer Hilfskräfte  ist  möglicherweise  künftig  in  dieser  Richtung  zu  lösen. 
Notwendig  wird  irgend  eine  Lösung  auf  jeden  Fall. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Zur  Kriminalität  der  Jugendlichen  während  der  Kriegszeit  veröffentlicht 
Ruth  V.  d.  Leyen  in  der  „Deutschen  Jugendgerichtshilfsarbeit "  (3.  Jahrgang, 
Nr.  2),  dem  Organ  des  Ausschusses  für  Jugendgerichte  und  Jugendgerichts- 
strafen, ein  umfassendes  statistisches  Material,  das  den  Berichten  über  die 
Berliner  Jugendgerichtshilfe  entnommen  ist.  Die  stetige  und  schnelle  Zu- 
nahme für  Knaben  und  Mädchen  belegen  die  nachstehende  Tabelle  1  und 
das  beigegebene  Kurvenbild. 


TabeHe  1. 


1914 

1915 

1916     i 

1917 

1918 

männl. 
weibl. 

894 
237 

1198 
215 

2307 
374    - 

2762 
456 

3871 
816 

zus. 

1131 

1413 

2681     i 

3158 

4687 

C^ 


^ 


•^ 


CS 


i 


S 


S 


Die  Art  der  Straftaten  gibt  Tabelle  2  in  der  Übersicht  an;  sie  bedarf  nicht 
weiterer  Erläuterungen.  Bemerkenswert  ist  vor  allem,  wie  mit  dem  Wachsen 
der  wirtschafüichen  Not  in  der  Zeit  von  1917  zu  1918  die  Vergehen  gegen 
das  Eigentum  einen  steilen  Anstieg  nehmen. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


423 


Tabelle  2. 


I.  Verbrechen  undVerbreclien  gegen  Staat, 
öffentliche  Ordnung  und  Religion 
§§  80—168  St.  G.  B. 


Widerstand  .  . 
Hausfriedensbruch 
Meineid  .... 


n.  Verbrechen    und  Vergehen  gegen  die 
Person  §§  169-241. 

Sittlichkeitsverbrechen 
Beleidigung     .     .     . 
Abtreibung      .     .     . 
Fahrlässige  Tötung . 
Körperverletzung 

lU.  Verbrechen    und  Vergehen  gegen  das 
Vermögen  §§  242     330. 

Diebstahl  (§§  242.  243) 
Unterschlagung    .     . 
Raub  und  Raubmord 
Erpressung . 
Hehlerei      .     .     . 
Betrug    .... 
Urkundenfälschun« 
Wilddieberei    .     . 
Sjchbeschädigung 
Brandstiftung  .     . 
Transportgefährdung 

IV.  Vergehen  im  Amt  §§  331—369 

Ämtsvergehen  .  §  350) . 
V.  Übertretungen  §§  360—370. 

Gewerbsunzucht 

Mundraub 

Sonstige  Übertretungen     .     .     . 

VI.  Kriegsvergehen.     (Die  Kriegsvergehen 

wurden    in    den  Jahren  1914 — 17    zu 

den  Übertretungen  gezählt)    .... 

Strafbefehle 


1914. I915il916'l917  1918 


23       27 

9       10 

3 

1 

30.      17 


712 

109 

1 

1 

25 

41 

4 

23 
2 

1 


1015 
155 

8 

22 
21 
30 

29 


16 

6 

1 

26 

11! 

11 

13 1 

3 

i! 

2 

1 

41 

35' 

1845 

2325 

363 

311 

12 

4 

2 

2 

75 

97 

75 

87 

40 

58 

31 

21  ■ 

9 

3 

11 

13 
1 

30 


3181 

343 

19 

2 

177 

95 

104 

1 

27 


110 


24!      16       17 

3 1      26  i     29 

103     140      83 


178 
341 


1131  1413,2681,3158  4777 

Zur  Organisation  der  Begabtenauslese  in  Berlin  wurden  von  der  Arbeits- 
gemeinschaft für  exakte  Pädagogik  die  folgenden  Grundsätze  angenommen: 

Im  Interesse  einer  fruchtbringenden  Anwendung  der  Ausleseverfahren  für 
begabte  Volksschüler  wird  für  Berlin  ein  besonderer  Ausschuß  für  die 
Begabtenauslese  eingesetzt. 

Dieser  setzt  sich  zusammen  aus  Vertretern  der  Behörde,  aus  Fachpsycho- 
logen, Lehrern  von  Begabtenklassen  und  der  Grundschule.  Die  Lehrer  wählt 
die  Lehrerkammer  aus.  Die  Fachpsychologen  werden  von  den  Mitghedem 
des  Ausschusses  zugewählt. 

Die  Arbeit  des  Ausschusses  erstreckt  sich  auf  Feststellung  der  Anforde- 
rungen an  die  jeweilig  Auszulesenden,  sowie  Prüfung  der  bisher  verwendeten 
Ausleseverfahren,  Ausarbeitung  solcher  Verfahren  für  Berliner  Verhältnisse 
nach  einheitlichen  psychologischen  und  pädagogischen  Gesichtspunkten. 

Nach  Abschluß  der  Vorarbeiten  ist  dem  Ausschuß  die  Auslese  der  Begabten 
zu  übertragen. 


424  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


Als  weitere  Aufgabe  fällt  ihm  die  Heranbildung  psychologisch  geschulter 
Mitarbeiter  zu  im  HinbHck  auf  den  zu  erwartenden  größeren  Umfang  der 
künftigen  Auslese, 

Die  nötigen  Mittel  werden  durch  die  Behörde  bereitgestellt. 

Über  eine  Begabungsprüfung  am  Gymnasium  berichtet  die  Auskunftsstelle 
für  Jugendkunde  im  Pädagogischen  Zentralblatt  (1.  Jahrg.  1.  Heft).  Es  handelte 
sich  dabei  um  Vorversuche  für  die  Durchführung  der  Absicht,  am  Arndt- 
Gymnasium  zu  Dahlen  bei  der  Aufnahme  neuer  Schüler  die  übliche  päda- 
gogische Kenntnisprüfung  durch  eine  psychologische  Untersuchung  der  Be- 
gabung zu  ergänzen.  In  Gemeinschaft  mit  Dr.  Liebenberg,  einem  Oberlehrer 
der  Anstalt,  wurden  die  Klassen  Septima  bis  Quinta  auf  ihre  Normalleistungen 
untersucht.   Es  geschah  dies  an  der  Hand  von  folgenden  Versuchsforderungen: 

1.  Gedächtnismäßiges  Erfassen  sinnvoll  zusammenhängender  Wörter. 

2.  Finden  analoger"  Begriffe. 

3.  Ordnen  von  Figuren  unter  selbst  zu  findenden  Gesichtspunkten  (Größe, 
Helhgkeit  usw.). 

4.  Bilden  von  Sätzen  aus  drei  angegebenen  Wörtern. 

5.  Finden  eines  passenden  Begriffes  zu  einem  vorgelegten  Ausgangs worte. 

6.  Ermitteln  des  Oberbegriffes  zu  je  6  Paaren  vermischt  dargebotener  unter- 
geordneter Begriffe. 

Die  ermittelten  Leistungen  wurden  nach  Punkten  bewertet;  und  darnach 
eine  Rangordnung  gefunden.  Neben  dieser  standen  für  eine  Klasse  die 
Schülerreihe  nach  der  Begabungsschätzung  durch  den  Klassenlehrer  und  nach 
der  Sitzordnung  auf  Grund  der  Versetzungszeugnisse.  Die  Vergleichung  ergab 
hier  folgende  Korrelationskoeffizienten:! 

1.  Begabungsprüfung  und  Klassenplatz  0,71. 

2.  Begabungsschätzung  und  Klassenplatz  0,76. 

3.  Begabungsschätzung  und  Begabungsprüfung  0,91. 

Es  ist  verständlich,  daß  die  Übereinstimmung  zwischen  Begabungsprüfung 
und  Begabungsschätzung  höher  sein  muß,  als  sie  zwischen  den  beiden  anderen 
Beziehungen  besteht,  ist  doch  im  Klassenplatz  nicht  die  reine  Begabung, 
sondern  die  Tüchtigkeit,  die  außer  durch  die  Anlagen  noch  durch  andere 
Faktoren  bedingt  ist,  der  ordnende  Gesichtspunkt. 

Eine  Sammlung    pädagogiseh-psychologiseher   Fragebogen   und  Sebüler- 
personallisten  ist  von  der  Auskunftsstelle  für  Jugendkunde  im  Zentralinstitut 
für  Erziehung  und  Unterricht  angelegt  worden  und  kann  dort  eingesehen, 
zum  Teil  auch  leihweise  überlassen  werden.    Sie  umfaßt  die  folgenden  Gruppen: 

1.  Personalbogen,  die  im  wesentlichen  ZeugnisUsten  sind. 

2.  Personalbogen,  die  zu  psychologischen  Beobachtungen  der  Schüler  durch 
t  ?die  Lehrer  anleiten  und  dazu  eine  Reihe  von  Fragen  über  die  geistige 

Eigenart  des  Schülers  enthalten. 

3.  Fragebogen,  die  von  Eltern  und  anderen  Erziehern  auszufüllen  sind,  zu- 
meist für  die  Schule. 

4.  Gesundheitsbogen,  Personalbogen  für  schulärztliche  Beobachtungen. 

5.  Personalbogen  für  Berufsberatung  und  Lehrstellenvermittlung. 

6.  Personalbogen  für  Abnorme:   Hilfsschüler,  Fürsorgezöglinge,  kriminelle 
Jugendliche. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  425 


7.  Kinderpsychologische  und  pädagogische  Fragebogen,  die  zur  Erforschung 
bestimmter  psychologischer  oder  pädagogischer  Probleme  auf  dem  Wege 
der  Umfrage  ausgearbeitet  worden  sind. 

8.  Weitere  psychologische  Fragebogen,  die  verschiedensten  Probleme  be- 
treffend. 

Das  Institut  für  Psychologie  und  Pädagogik  an  der  Handelshochschule 
Mannheim  —  unter  Leitung  von  Prof.  Dr.  W.  Peters  stehend  —  ist  seit  dem 
Sommerhalbjahr  1919  im  Entstehen.  Das  Institut  soll  die  Hörer  der  Handels- 
Hochschule,  die  sich  dem  Lehramt  an  Handelsschulen  widmen,  und  ferner  die 
in  der  Praxis  stehende  Lehrerschaft  der  gesamten  Mannheimer  Schulen  in  die 
Probleme  und  Methoden  der  Psychologie  und  psychologischen  Pädagogik 
einführen.  Für  die  Zwecke  des  philosophischen  Unterrichts  wird  dem  Institut 
ein  kleines  philosophisches  Seminar  angegliedert.  Die  Forschungstätigkeit 
des  neuen  Instituts  wird  vornehmlich  drei  großen  Gebieten  gewidmet  sein: 

1.  der  psychologischen  Analyse  der  menschlichen  Arbeit  in  deren  ganzem 
Umfange.  Es  soll  sich  hierbei  nicht  etwa  um  Taylor-Untersuchungen  handeln 
und  nur  nebenbei  um  die  neuerdings  wohl  überschätzten  Fragen  der  beruf- 
hchen  Eignungsprüfung.  Eine  Psychologie  der  Arbeit,  die  zu  einem  Verständ- 
nis des  Arbeitsvorganges,  seines  Verlaufes,  seiner  Wurzeln  und  der  Faktoren, 
die  ihn  beeinflussen,  gelangen  will,  muß  nach  der  Meinung  des  Leiters  des 
Instituts  von  den  grundlegenden  Untersuchungen  Kraepeüns  und  seiner  Schüler 
ausgehen. 

2.  der  psychologischen  Untersuchung  der  geistigen  Entwicklung,  wobei  den 
Fragen  der  Entwicklungsgesetze  und  der  psychologischen  Eigenart  des  geistig 
Zurückgebliebenen  und  des  sonstwie  abnormen  Kindes  besondere  Aufmerk- 
samkeit zugewandt  werden  soll. 

3.  der  psychologischen  Analyse  der  Begabungen.  Der  Nachdruck  liegt 
hier  auf  dem  Wort  „Analyse".  Es  soll  sich  nicht  nur  um  Begabungsprüfungen 
für  praktische  Zwecke  handeln,  sondern  vor  allem  um  eine  Förderung  unseres 
Verständnisses  der  Begabungsdifferenzen. 

In  diesem  Rahmen  sind  auch  Untersuchungen  über  die  Fragen  geplant, 
die  das  System  der  Begabungsschule  (Mannheimer  Schulsystem)  mit  sich 
bringt.  Das  Institut  wird  bestrebt  sein,  nur  zuverlässige,  methodisch  ein- 
wandfreie Untersuchungsergebnisse  an  die  Öffentlichkeit  zu  bringen.  Es  soll 
nicht  dazu  beitragen,  die  Flut  unzureichender  Publikation  auf  dem  Gebiet 
der  psychologischen  Pädagogik  zu  vergrößern. 

Neben  der  Lehr-  und  Forschungsarbeit  wird  das  Institut  Individualitäts-, 
Intelligenz-  und  Begabungsprüfungen,  soweit  solche  heute  für  praktische 
Zwecke  nutzbar  gemacht  werden  können,  im  Dienste  der  öffentlichen  Wohl- 
fahrt vornehmen.  Es  plant  ferner  die  Einrichtung  einer  psychologisch-päda- 
gogischen Sprechstunde  für  Lehrer  aller  Schularten. 

Das  Provinzialinstitut    für    praktische   Psychologie   in  Halle  a.  S.   ist  für 

die  Provinzen  Sachsen  und  Anhalt  als  zentrale  Arbeitsstelle  für  alle  prak- 
tisch-psychologischen Angelegenheiten  begründet  worden.  Hervorgegangen 
aus  der  bereits  dort  befindlichen  „ProvinzialberatungssteUe  für  Hirnverletzte" 
und  deren  Hilfslazarett,  umfaßt  es  nunmehr  zwei  eigene  Villen,  die 
teils  ausgedehnte  psychologische  Laboratoriumsräume,  Unterrichts-,  Übungs- 


42()  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

Zimmer  und  Vortragssaal  besitzen,  teils  80  Betten  zur  Aufnahme  und  Be- 
obachtung bzw.  Behandlung  von  Patienten  aufweisen.  Außerdem  ist  eine 
Studien-  und  Übungswerkstatt  mit  Maschinenbetrieb,  vorläufig  in  erster  Linie 
Tischlerei,  Polsterei,  nebst  therapeutischer  Beschäftigungswerkstatt  dem  In- 
stitut angeschlossen.  Verwaltungstechnisch  und  wirtschaftlich  wurde  das 
Unternehmen  der  in  unmittelbarer  Nähe  befindlichen  Landesheilanstalt,  die 
unter  Direktor  Prof.  Dr.  Pfeifer  besteht,  angeghedert.  Zum  fachpsychologi- 
schen Leiter  ist  Dr.  F.  Giese,  Berlin,  berufen  worden.  Die  Arbeit  des  Instituts 
vollzieht  sich  in  drei  Sektionen.  Gruppe  1:  Psychologische  Eignungs- 
prüfungen. Hier  werden  für  die  Provinzen  mittleres  und  unteres  Beamten- 
personal, die  Zöglinge  der  Provinzialtaubstummen-  und  Blindenanstalt,  die 
Insassen  der  Landesheilanstalt,  die  Arbeiter  in  Provinzialbetrieben  auf  Berufs- 
eignung und  Begabung  untersucht.  Ebenso  erfolgt  Begutachtung  von  Renten- 
empfängern für  die  Landesversicherung  und  die  Militärverwaltung  auf  Berufs- 
taughchkeit.  Gruppe  II:  Psycholechnisches  Eichamt.  Es  dient  der 
Durchführung  rationellen,  auf  psychologischer  Grundlage  beruhenden  Betriebes 
in  den  Werkstätten,  Anstalten  und  Unternehmungen  der  Provinzen;  ein- 
beschlossen ist  die  Prüfung  von  Gebrauchsgegenständen  (z.  B.  Beleuchtungs- 
körpern, Schildern)  und  von  Werbematerialien,  Reklame,  auf  ihre  psycho- 
technische  Wertung  u.  a.  m.  Gruppe  III:  Wissenschaftliche  Forschungs- 
arbeit. Zurzeit  sind  Studien  über  Pathologie  des  Gedächtnisses,  über  Aufmerk- 
samkeit und  Stirnhirnverletzungen,  Einfluß  psychotherapeutischer  Übungen, 
Spontanwertungen  bei  Kindern  und  Jugendlichen  usw.  im  Gange.  —  Das  Institut 
arbeitet  außer  für  die  Provinz  ebenso  für  Kommunen  und  Private.  So  ist  es 
z.  B.  ständig  psychologische  Berufsberatungsstelle  für  Lehrlinge  und  Schüler  in 
Zusammenarbeit  mit  dem  Gesundheitsamt  der  Stadt  Halle,  ferner  Prüfstelle  für 
Telephonistinnen  der  Post ;  es  ist  schließlich  zu  mannigfachen  Untersuchungen  von 
Spezialfragen  von  der  medizinischen  Fakultät  der  Universität  und  von  Privat- 
firmen u.  a.  angeregt  worden.  Ein  Stab  von  Ärzten,  Hilfsschullehrern  und 
anderen  Pädagogen,  von  Laborantinnen  und  Schreibhilfen  gewährleistet  die 
erwünschte  Abwicklung  der  praktischen  Arbeit. 

Tagung  des  Deutschen  Vereins  für  Schulgesundheitspflege  und  der  Ver- 
einigung der  Schulärzte  Deutschlands.  Die  Versammlung  fand  <am  24.  u. 
25.  Oktober  in  Weimar  statt.  Zahlreiche  Schulärzte,  Kommunalärzte,  Schul- 
verwaltungsbeamte,  Schulschwestern,  Schulpflegerinnen,  Seminar-  und  Schul- 
direktoren, Lehrer  und  Lehrerinnen  waren  zusammengekommen.  Zwei  Ver- 
handlungsthemen standen  auf  der  Tagesordnung:  „Die  Einheitsschule  vom 
hygienischen  Standpunkt"  und  die  Frage:  „Welche  Aufgaben  stellt 
die  während  des  Krieges  herbeigeführte  Erschütterung  der  Schul- 
jugend an  die  Schule?"  Für  die  Verhandlungen  über  die  Einheitsschule 
waren  drei  Redner  bestellt  worden,  zwei  Schulmänner:  J.  Tews  für  die 
grundsätzlichen  Fragen,  Stadtschulrat  Dr.  Buchenau  für  die  Fragen  der 
Oberstufen  der  Einheitsschule.  Stadtarzt  Dr.  Oebbecke  behandelte  das  Pro- 
blem vom  ärzthchen  Standpunkt  aus.  Der  Ertrag  dieser  drei  Vorträge  und 
der  Aussprache  nach  der  schulgesundheitHchen  Richtung  hin  war  nicht  be- 
sonders ergiebig.  Die  Behandlung  der  Einheitsschulfrage  gewann  mehr  den 
Sinn  einer  allgemeinen  Aussprache  über  die  Probleme  dieses  Gegenstandes 
und  mündete   aus  in  ein  Bekenntnis  der  Versammlung  zur  Einheitsschule. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  427 


Immerhin  seien  einige  uns  interessierende  charakteristische  Ergebnisse  mit- 
geteilt: Nur  in  der  Einheitsschule  kann  der  hygienische  Gesichtspunkt  voll 
zur  Geltung  kommen.  Die  gesamte  schulpflichtige  Jugend  ist  schulärzthch 
zu  überwachen.  Die  bestehenden  Einrichtungen  zur  Ergänzung  und  Ver- 
besserung der  Ernährung,  Bekleidung,  Unterbringung  und  Beschäftigung  der 
Kinder  (Bewahranstalten,  Horte  u.  dgl.)  sind  zu  erweitern  und  zu  vervoll- 
kommnen. Die  Elternbeiräte  müssen  sich  insbesondere  auch  der  Förderung 
der  Schulgesundheitspflege  widmen.  In  der  Einheitsschule  kommt  der  eigene, 
von  allem  äußeren  Druck  befreite  Arbeitstrieb  des  Kindes  am  vollsten  zur 
Geltung.  In  ihr  werden  die  auch  die  körperliche  Gesundheit  schwer  schädigen- 
den, der  Eigenart  des  Lernenden  nicht  entsprechenden  Schulforderungen  und 
damit  die  Unlust  zur  Arbeit,  die  „Überbürdung",  das  innere  Widerstreben 
gegen  die  Schule  und  ihre  Ansprüche  auf  das  geringste  Maß  zurückgeführt. 
Die  Schule  muß  mehr  als  bisher  Gemeinschaft  werden,  wozu  Einrichtungen 
wie  Schulgemeinden,  Schülerausschüsse,  Spiele,  regelmäßige  Spaziergänge 
beizutragen  vermögen.  Nur  eine  körperlich  und  seeUsch-geistig  gesunde 
Jugend  vermag  all  das  zu  leisten,  was  im  nationalen  und  sozialen  Interesse 
zu  fordern  ist.  Die  Einheitsschule  muß  die  individuellen  Anlagen  wecken 
und  deutlich  zur  Entfaltung  bringen,  um  die  hervorragend  Begabten  zu  er- 
kennen und  einer  höheren  Schulform  zuzuführen.  Für  Spätreife,  deren  Be- 
gabung sich  erst  später  offenbart,  muß  durch  Nebenunterricht  gesorgt  werden, 
daß  sie  noch  bis  zum  Pubertätsalter,  also  bis  zum  beginnenden  9.  Schul- 
jahr, in  die  höhere  Schule  übertreten  können.  In  diesem  Schuljahr,  also 
nach  erreichtem  Pubertätsalter,  muß  nach  physiologischen  und  psychologischen 
Gesetzen  angenommen  werden,  daß  mit  der  geschlechtlichen  Reife  auch  alle 
geistigen  Keimanlagen  und  besonderen  Begabungsqualitäten  deuthch  hervor- 
getreten sind.  Jetzt  ist  es  daher  Zeit,  die  Trennung  der  Schüler  nach  geistigen 
Begabungsqualitäten  und  Begabungsrichtungen  eintreten  zu  lassen. 

Die  Aufgaben,  die  die  Schule  infolge  der  Erschütterung  der  Gesundheit 
der  Schuljugend  durch  den  Krieg  erfahren  hat,  behandelte  Prof.  Dr.  Schle- 
singer. Er  entwarf  ein  ungemein  ernstes  Bild  von  dem  gegenwärtigen  Ge- 
sundheitszustand unserer  Jugend,  und  in  der  Aussprache  wurde  auch  dieses 
Bild  als  noch  zu  optimistisch  gesehen  bezeichnet.  Es  ist  ja  vielfach  auf- 
gefallen, wie  günstig  die  Schulärzte  während  des  Krieges  urteilten.  Ich  zitiere 
einige  Sätze  aus  früheren  Berichten:  „Die  Erhebungen  der  Schulärzte  lauten 
durchaus  günstig  für  den  Ernährungszustand  der  Volksschüler  im  Jahre  1916." 
„Alle  Beobachtungen  zusammengenommen  ergeben  keinerlei  Anhaltspunkte . . ., 
daß  unsere  Schulkinder  erheblich  in  der  Gesundheit  gefährdet  seien."  (1917.) 
jDie  heranwachsende  Schuljugend  ist  frisch  und  blühend  geblieben"  (1917). 
Dann  heißt  es  aber  1918:  „Nach  den  amtUchen  Feststellungen  des  Reichs- 
gesundheitsamtes sind  die  Folgen  der  langjährigen  Unterernährung  bei  den 
Kindern  sehr  erhebliche.  Im  Alter  von  1  —  15  Jahren  ist  die  Sterblichkeits- 
ziffer um  das  Doppelte  gestiegen."  Prof.  v.  Drygalski  fügt  hinzu,  daß  die 
Verdoppelung  der  Tuberkulosesterblichkeit  nicht  etwa  eine  Teilerscheinung 
stärkerer  Infektionsverbreitung,  sondern  „ein  deutlicher  Ausdruck  für  die  Zu- 
nahme dei  allgemeinen  Hinfälligkeit"  sei.  Vortrag  und  Aussprache  in  Weimar 
führten  als  Kennzeichen  der  Verwüstung  an:  die  Hemmung  des  Längen- 
wachstums, starke  Gewichtseinbußen,  Hinausschiebung  der  Geschlechtsreife, 
Verspätung  des  Wachstumsantriebes  während  der  Pubertät,  Zunahme  der  Zahl 


428  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

der  Kinder  mit  mangelhafter  oder  untermittelmäßiger  Konstitution,  Zunahme 
der  Rachitis  und  Neuropathie,  der  Tuberkulosefälle,  vor  allem  aber  starkes 
Ansteigen  der  Kindersterblichkeit,  namentlich  durch  Grippe  und  Lungen- 
schwindsucht. Festgestellt  wurde  eine  Abnahme  der  Frische  und  geistigen 
Beweglichkeit  der  Kinder,  eine  Zunahme  der  Stumpfheit,  Schwäche  und  Über- 
empfindlichkeit, Verlust  der  Übungsfähigkeit  und  Zurückgang  der  Wider- 
standsfähigkeit der  Kinder  gegen  Ansteckung.  Während  sich  die  große  Masse 
der  Schulkinder  bereits  wieder  von  den  Entbehrungen  der  letzten  Kriegsjahre 
erholt  und  auch  wieder  erhöhten  Anforderungen  der  Schule  gewachsen  er- 
scheint, trifft  dies  nicht  zu  auf  die  erwähnten  schwach  entwickelten  und 
stärker  zurückgebliebenen  Kinder.  Sie  bedürfen  auch  weiterhin  in  erhöhtem 
Maße  sozialhygienischer  Fürsorge.  Sobald  es  möglich  ist,  über  die  Versorgung 
der  Kleinkinder  mit  Milch  hinauszugehen,  sind  zunächst  die  Schulkinder  zu 
bedenken.  Ferienheime  und  Ferienkolonien  sind  einzurichten,  monatliche 
Luftkuren,  Luft-,  Sonnen-  und  Solbäder  wurden  warm  empfohlen.  In  der 
Aussprache  machte  die  vorbildliche  Fürsorgetätigkeit  der  Stadt  Hannover 
starken  Eindruck,  die  nicht  nur  in  ihrer  nächsten  Umgebung  für  Erholungs- 
gelegenheiten gesorgt  hat,  sondern  Heime  gepachtet  bzw.  käuflich  erworben 
hat  in  Wald  und  Gebirge,  in  Sol-  und  Stahlbädern  und  auf  einer  Nordsee- 
insel. —  Der  Schlußvortrag  empfahl  eine  engere  Verbindung  von  Schul-  und 
Volksgesundheitspflege. 

Die  wichtige  Tagung  war  nicht  bloß  für  den  Schularzt,  sondern  auch  für  den 
Pädagogen  und  Psychologen  lehrreich.  Sie  schärfte  den  Blick  für  die 
gegenwärtigen  körperlichen  und  geistigen  Nöte  unserer  Jugend  —  so  wurde 
z.  B.  auch  der  kriminalpsychologische  Gesichtspunkt  berührt  —  und  gab 
zahlreiche  Hinweise  für  ihre  Beseitigung.  Auch  didaktische  Fragen  —  Ge- 
sundheitsunterricht, die  hygienische  Bedeutung  des  arbeitsschulmäßigen  Lehr- 
verfahrens —  wurden  beachtet.  Es  zeigte  sich  von  neuem,  wie  groß  das 
Gebiet  des  Schulackers  ist,  das  Schulgesundheitspflege,  Pädagogik  und  Psy- 
chologie gemeinsam  zu  bestellen  haben  zum  Wohle  unserer  Jugend. 

Eine  Sonderschule  für  sehschwache  Kinder  wurde  Ostern  1919  in  Berlin 
eröffnet.  Sie  ist  dreiklassig  und  hauptsächlich  für  Kinder  bestimmt,  die  an 
den  Folgen  schwerer  Hornhauterkrankungen,  an  hochgradiger  Kurz-  oder 
Weitsichtigkeit,  die  selbst  durch  die  schärfsten  Gläser  nicht  genügend  korri- 
giert w^erden  kann,  ferner  an  Erkrankungen  der  Sehnerven  oder  angeborenen 
Entwicklungshemmungen  des  Auges  leiden.  Ähnliche  Schulen  bestanden 
bisher  in  Straßburg  und  Müh  1  hausen  i.  E.,  und  die  dort  gesammelten 
Erfahrungen  ermutigten  zur  Nachahmung. 

Eine  Ausstellung  für  neuzeitlichen  Anfangsunterricht  hat  ein  Ausschuß 
des  Berliner  Lehrervereins  im  Zentralinstitut  für  Erziehung  und  Unterricht, 
Potsdamer  Str.  120,  veranstaltet.  Besonders  reichhaltig  ist  ihre  Fibel ab- 
t eilung.  Sie  zeigt  die  in  Berhn  noch  geltenden  alten  sowie  die  noch  nicht 
eingeführten  neuen  Berhner  Fibeln;  außerdem  liegt  eine  große  Zahl  anderer 
neuer  Fibeln  aus.  Die  übrigen  Abteilungen  zeigen  Lesekästen,  Werkzeuge 
und  Stoff  zum  Stäbchenlegen,  malenden  Zeichen,  Ausschneiden,  Formen  und 
zur  Heimatkunde.  Kinderarbeiten  und  gute  Literatur  wollen  Anregung  und 
Anleitung  zu  eigenem  Tun  bieten. 


Literaturbericht  429 


Nachrichten.  1.  Dr.  W.  Poppelreuter  hat  sich  für  „pathologische 
Arbeitspsychologie"  habihtiert.  Das  von  ihm  geleitete  Institut  wird  in 
einen  bei  der  Psychiatrischen  Klinik  in  Bonn  errichteten  Neubau  verlegt 
werden  und  besonders  dem  Studium  der  Erscheinungen  und  Folgen  der 
Kriegsverletzungen  des  Gehirns  dienen, 

2.  Der  a.  o.  Professor  für  Philosophie,  Psychologie  und  Pädagogik  an  der 
Breslauer  Universität  Dr.  phil.  et  med.  Richard  Hönigswald  ist  zum 
ordentlichen  Professor  daselbst  ernannt  worden. 

3.  Ein  Ausschuß,  der  sich  mit  der  wissenschaftlichen  Erfor- 
schung der  Arbeit  beschäftigen  soll,  ist  im  Arbeitsministerium  ein- 
gesetzt worden.  Seine  Aufgabe  soll  sein,  die  vorhandenen  Bestrebungen 
auf  diesem  Gebiete  zu  sammeln,  zwischen  ihnen  zu  vermitteln  und  neue 
Forschungen  anzuregen.  Ihm  gehören  an  außer  Mitghedern  des  Arbeits- 
ministeriums und  den  Vertretern  der  einzelnen  Landesregierungen  je  ein 
Vertreter  der  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer,  ferner  von  Vertretern  der  Wissen- 
schaft Geheimrat  Goth ein- Heidelberg  für  Nationalökonomie,  Geheimrat 
Wallichs- Aachen  für  Technik,  Dr.  Brahn- Leipzig  für  Psychologie,  Dr. 
Poppelreuter-Bonn  für  Medizin  und  Prof.  Niklisch-Mannheim  für  Be- 
triebslehre. 

4.  Das  Seminar  für  Heilpädagogik,  das  im  Rahmen  der  niederöster- 
reichischen Landeslehrerakademie  begründet  wurde,  hat  Mitte  Oktober  seine 
Vorlesungen  aufgenommen.  Im  ersten  Halbjahre  werden  u.  a.  folgende  Vor- 
lesungen gehalten:  Dr.  Z.  Hovorka:  Anatomie  und  Psychologie  des  Menschen 
mit  Hervorhebung  wichtiger,  bei  abnormen  Kindern  vorkommender  Ab- 
weichungen; Direktor  J.  Schinner:  Erziehung  und  Unterricht  schwach- 
begabter  Kinder;  Akademiedirektor  Dr.  W.  Kammel:  Begabungsprobleme, 
Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik;  Prof.  L.  Battista:  Kinder- 
psychologie, Psychologie  der  Berufsberatung;  Direktor  K.  Bürklen:  Psycho- 
logie des  BUnden  und  des  blinden  Kindes. 


Literaturbericht. 

Max  Dessoir,  Vom  Jenseits  der  Seele.  Die  Geheimwissenschaften  in  kritischer  Betrach- 
tung.    3.  Auflage.     Stuttgart  1919.     Eoke.     354  S.     15  M. 

Es  kann  nicht  verwundern,  daß  durch  das  aufwühlende  und  zermürbende  Erleben  der  Kriegs- 
und Umsturzzeit  in  weiten  Kreisen  eine  abergläubische  Sucht  und  bedenkliche  Hinwendung  zum 
Dunkel  des  Geheimnisvollen  erregt  wurde.  Empörend  aber  ist  es,  wie  gewissenloser  Geschäfts- 
sinn auch  diese  Erscheinung  auszubeuten  weiß.  Sogenannte  „Psychologen"  —  wohl  vielfach  mit 
fragwürdigster  Bildung  —  veranstalten  heute  „ Demonstrationsabende "  über  Gedankenlesen, 
Suggestion,  Hypnose,  Somnambulismus  usw.,  und  es  läuft  ihnen  auf  ihre  marktschreierischen 
Anpreisungen  im  Stil  der  Kinoanzeigen  ein  zahlreiches,  auf  Sensationen  eingestelltes  Publi- 
kum zu.  Vielfach  maskieren  sich  diese  Vorträge  imd  Vorführungen  mit  der  Ankündigung, 
wissenschaftlich  aufzuklären.  In  Wirklichkeit  sind  sie  nur  auf  erregende  Unterhaltung  angelegt 
und  stiften  durch  ihre  verwirrenden  Gaukeleien  und  angeblichen  Deutungen  und  Enthüllungen 
in  den  unklaren,  getrübten  und  befangenen  Köpfen  der  Menge  sehr  bedenklichen  Schaden. 

Die  Fachvertreter  der  Psychologie  sollten  es  nicht  unter  ihrer  Würde  halten,  hier  eine 
volkspädagogische  Aufgabe  zu  erblicken.  Vielleicht,  daß  die  neuen  Volkshochschulen  an  ihrem 
Teil  in  diesen  Gebieten  aufklärend  ins  Volk  hinein  wirken  können.  Es  ist  bisher  unter  den 
psychologischen  Gelehrten  wohl  Max  Dessoir  der  einzige,  der  schon  lange  den  Mut  hatte, 
sich  nicht  bloß  mit  der  „Parapsychologie"  in  wissenschaftlicher  Haltung  zu  beschäftigen, 
sondern    auch    in    der  Presse   und   in  öffentlichen  Vorträgen  und  während  des  Krieges  auch  in 


430  Literaturbericht 


der  vorliegenden  Schrift  „in  jenem  Dunstkreis,  in  dem  Gaukler  und  Fälscher,  balbtolle  Frauen- 
zimmer und  anspruchsvolle  Wirrköpfe  ihr  Wesen  treiben",  um  Aufkläruntf  sich  zu  bemühen. 
Sein  Buch  ist  beim  ersten  Erscheinen  von  Max  Brahn  in  unserer  Zeitschrift  ausführlich  gewür- 
digt worden.  Da  die  zweite  und  dritte  Auflage  fast  unveränderte  Abdrucke  darstellen,  bleibt 
uns  ihnen  gegenüber  nur  die  Pflicht  der  kurzen  Anzeige. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Goldstein,  Die  Behandlung,  Fürsorge  und  Begutachtung  der  Hirnverletzten. 
Leipzig  1919.    Vogel.     240  S.     20  M. 

Das  Buch  gibt  einen  erfreulichen  Einblick  in  die  fruchtbare  Tätigkeit  der  von  Goldstein 
geleiteten  Hirnverletztenstation  in  Frankfurt  a.  M.  Es  ist  für  Praktiker  bestimmt  und  in  An- 
betracht der  Tatsache,  daß  die  psychologische  Berufsberatung  noch  auf  Jahre  hinaus  sich  mit 
Kopfschußverletzten  zu  beschäftigen  haben  wird,  von  Bedeutung.  Vor  allem  versteht  es  G.,  den 
Umkreis  psychologischer  Fragen  angemessen  einzuordnen  in  das  Gesamtgebiet  der  sozialwirt- 
schaftlichen Fragen  und  Gegebenheiten,  sowie  der  ärztlichen  Gutachtertätigkeit.  Entsprechend 
erörtert  die  Schrift  erstens  die  ärztliche,  zweitens  die  psychpädagogische,  drittens  die  Arbeits- 
behandlung und  schließt  mit  einer  Statistik  der  Erfolge  und  mit  näheren  Angaben  über  die  Dienst- 
fähigkeit und  Rentenfestsetzung.  Die  ärztliche  Seite  berücksichtigt  die  konservative  und  chirurgische 
Behandlung.  Das  letzte  Kapitel  behandelt  den  Umkreis  der  Hirnverletztenfürsorge  im  Ganzen. 
Was  die  Arbeitsbehandlung  betrifft,  so  ist  das  Material  leider  etwas  kurz  gehalten  und  gibt  trotz 
des  außerordentlich  wichtigen  Problems  der  günstigen  Arbeitseinwirkung  auf  die  seelische  Ge- 
samtheit der  Persönlichkeit  des  Hirnverletzten,  wie  ich  sie  auch  an  meinem  Institute  beobachtete, 
nur  allgemeine  Auskunft,  erreicht  vor  allem  nicht  die  Gewichtigkeit  des  2.  Bandes  des  bekannten 
Poppelreuterschen  Buches, 

Das  Hauptstück  der  Veröffentlichung  ist  das  2.  Kapitel.  Die  experimentell  psycho- 
logischen Untersuchungen  beschäftigen  sich  in  erster  Linie  mit  tachistoskopischen  Prüfungen, 
Arbeit  am  Reaktionsbrett,  dem  Ergographen  und  dem  Rechenbogen.  Den  Praktiker,  der  täglich  den 
Zu-  und  Abstrom  der  Fälle  kennt  und  daher  weiß,  daß  umfänglichere  Untersuchungen  der  Patienten 
etwa  im  Sinne  eines  psychologischen  Profils  nach  Rossolimo  oder  dem  Schema  der  Eignungs- 
prüfung nach  Moede  nur  bei  längerem  Lazarettaufenthalt  möglich  wäre,  wird  diese  verhältnis- 
mäßige Dürftigkeit  nicht  wundernehmen.  Immerhin  wäre  es  interessant  gewesen,  wenn  G. 
auch  seine  Erfahrungen  mit  anderen  Untersuchungsmethoden  mitgeteilt  hätte.  Von  Intelligenz- 
und  Gedächtnisprüfungen  ganz  zu  schweigen,  lassen  sich  auch  noch  andere  Versuche  durch- 
führen, die  den  praktisch  so  wichtigen  Arbeitstypus  des  Kranken  schnell  und  vielseitig,  wohl 
auch  besser  z.  T.  noch  als  durch  das  übliche  Addieren,  verraten.  Die  psychologisch-pädagogische 
Übungsbehandlung  als  2.  Unterabschnitt  ist  für  die  Praxis  wiederum  sehr  wichtig.  Neben  all- 
gemeineren Bemerkungen  zur  Behandlung  psychischer  Defekte  werden  Beispiele  geboten  zur 
Übungsbehandlung  bei  motorischen  Sprachstörungen,  amnestischen,  sensorischen,  agrammatischen 
Erscheinungen,  der  verschiedenen  Formen  der  Aphasie,  Rechenstörungen  und  anderem  mehr. 
Dem  geschulten  Hilfsschullehrer  (dessen  Tätigkeit  ich  bei  Hirnverletzten  für  überaus  wertvoll 
und  unersätzlich  halte)  bieten  die  G. sehen  Darstellungen  nicht  uabedingt  Neues  hierüber.  Wohl 
aber  erfreuen  sie  durch  die  reichen  Beispiele,  eingehenden  Protokolle  und  Proben,  Bild-r,  Beilagen 
und  Kurven.  In  diesem  Einblick  in  die  volle  Wirklichkeit  der  Fälle  und  der  Anregun^r,  die 
auch  für  weitere  Kreise  aus  dem  Überschauen  eines  wirklich  lebensnahen  psychologischen  Be- 
triebes  folgert,  sehe  ich   das  Hauptverdienst  und  auch  den  bleibenden  Wert  des  G. sehen  Buches. 

Halle  a.  S.  Fritz  Giese. 

Karl  Reinhardt,  Die  Neugestaltung  des  deutschen  Schulwesens.  Leipzig  1919.  Quelle 
&  Meyer.    2,50  M. 

Die  Schrift  von  Reinhardt,  dem  Schöpfer  des  „Frankfurter  Systems",  ist  deshalb  für  alle, 
die  sich  für  die  praktische  Neugestaltung  des  Schulwesens  interessieren,  so  wichtig,  weil  in  ihr 
diejenigen  Reformgedanken  verdichtet  sind,  die  zur  Zeit  in  den  Unterrichtsministerien  am  ernst- 
haftesten erwogen  werben.  Es  wird  zwar  das  ganze  Schulwesen  berührt  —  das  freie  Volks- 
bildungswesen bleibt  links  liegen  — ,  die  genaueren  und  treffsichereren  Ausführungen  erstrecken 
sich  jedoch  nur  auf  die  allgemeinbildenden  Schulen  und  hierin  wieder  auf  den  Ausbau  der 
höheren  Schulen.  Die  Umrisse  und  Andeutungen  zu  dem  Aufbau  des  Berufsschulwesens  und 
seine  Eingliederung  in  das  einheitliche  Ganze  werden  ebenso  wie  die  Behandlung  der  Lehrer- 
bildungsanstalten, von  süddeutschen  Verhältnissen  aus  gesehen,  weniger  befriedigen.  Aber 
Reinhardt  richtet  keine  Schranken  auf;  er  deutet  manches  bloß  an,  w-as  sich  vielleicht  durchsetzt. 


Literaturbericht  431 


vielleicht  auch  nicht;  er  ist  sich  bewußt,  daß  da  vieles  noch  im  Fluß  ist  und  behandelt  es 
dementsprechend.  Seine  Schrift  ist  zwar  eine  rein  „private  Angelegenheit" ;  aber  sie  bringt  doch 
im  ganzen  kein  persönliches  Programm,  sondern  sucht  die  Bestrebungen  darzustellen,  die  nach 
seiner  Überzeugung  Aussicht  auf  Verwirklichung  haben.  Persönliches  tritt  nur  beim  Mittelpunkt 
des  Ganzen,  beim  Reformsystem  hervor. 

Reinhardt  ist  Anhänger  des  einheitlichen  Aufbaues  und  berührt  sich  da  am  meisten  mit 
W.  Rein.  Die  wichtigsten  Mängel  des  bisherigen  Schulwesens  sieht  er  in  der  Zusammenhangs- 
losigkeit  der  einzelnen  Schularten,  im  Berechtigungswesen,  der  Nichtanpassung  der  Schulzweige 
an  die  Befähigungsarten,  insbesondere  in  der  Vernachlässigung  der  praktischen  und  künstlerischen 
Befähigungen,  der  allzufrühen  Entscheidung  für  eine  bestimmte  Schule,  der  abstoßenden,  stark 
aufbauenden  Auslese  und  im  Standescharakter  der  höheren  Schulen.  Er  schlägt  nun  eine 
4jährige  gemeinsame  Grundschule  vor.  Darauf  erhebt  sich  eine  4jährige  Oberstufe  der 
Volksschule  und  eine  4— 6jährige  Mittelschule  mit  einer  bzw.  zwei  Fremdsprachen  (der 
preußischen  Mittelschule  entsprechend).  Während  die  Volksschvde  ihre  Fortsetzung  hauptsächlich 
in  der  Fortbildungsschule  und  niederen  Fachschule  erhält,  leitet  die  Mittelschule  in  die  höheren 
Fachschulen  (Handelsschule,  Kunst-  und  Gewerbeschule,  Maschinenbauschule  usw.)  über;  beide 
können  dann  zu  den  Hochschulen  führen.  In  den  höheren  Fachschulen  sieht  R.  auch,  und  wohl 
mit  Recht,  das  Problem  des  „technischen  Gymnasiums"  gelöst.  Die  höheren  Schulen  (Studien- 
anstalten) schließen  sich  dann  an  das  2.  Mittelschuljahr  an  und  sind  6jährig.  Die  3  höheren 
Schulen  läßt  er  innerhalb  des  Frankfurter  Systems  im  wesentlichen  bestehen.  Für  die  Oberreal- 
schule und  nur  für  sie  schlägt  er  auf  der  Oberstufe  eine  Gabelung  in  einen  sprachlich-geschichtlichen 
und  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Zw%ig  vor  (ersterer  mit  fakultativem  Latein).  Gymnasium 
und  Realgymnasium  erhalten  noch  einen  2  jährigen  gemeinsamen  Unterbau.  Hier  wird  man 
fragen,  warum  die  Gabelung,  die  ja  doch  aus  der  Natur  der  Befähigungen  heraus  vorgeschlagen 
wird,  nicht  auch  für  die  beiden  andern  Schularten  Geltung  haben  soll;  denn  für  sie  liegen  die 
Verhältnisse  nicht  anders.  Mit  dem  12  Lebensjahr  ist  die  Begabungsrichtung  im  allgemeinen 
noch  nicht  so  deutlich  ausgeprägt,  daß  min  schon  endgültig  .scheiden  könnte.  Ferner  wird  man 
über  die  innere  und  äußere  Berechtigung  der  so  entste  lenden  Bildungstypen  mancherlei  Bedenken 
vorbringen  können,  auch  wenn  man  mit  den  Grundsätzen  des  Reformsystems  einverstanden  ist. 
Warum  neben  dem  doch  vorwiegend  neusprachlichen  B  Idungstypus  des  Realgymnasiums  noch 
einen  neusprachlichen  aus  der  Oberrealschule?  —  Der  .\ufb:iu  R  s  zeigt  seine  großen  Vorzüge  nicht 
nur  der  Auslese  der  Schüler,  sondern  vor  allem  auch  dem  Lande  gegenüber.  Denn  durch  Zusatz- 
unterricht wird  es  möglich  sein,  daß  die  Kinder  bis  zum  14.  I^ebensjahr  zu  Hause  vorbereitet  werden. 

Für  die  Zulassung  zu  den  einzelnen  Schulen  ist  nur  die  Eignung  entscheidend;  sie  wird 
von  den  Lehrern  der  abgehenden  und  aufnehmenden  Schule  festgestellt  durch  Beobachtung, 
Prüfung  und  Probezeit.  Den  Schulpsychologen  lehnt  er  wohl  im  Hinblick  auf  die  neueren 
, Leistungen"  ab.  Das  Schulgeld  für  die  Mittel-  und  Oberschule  wird  nach  der  Steuerkraft  ab- 
zustufen sein.  Die  höheren  Schulen  werden  geschlossene  Anstalten,  die  nur  Hochschulreife 
vermitteln;  alle  übrigen  Berechtigungen  sind  durch  die  Mittelschule  zu  erwerben.  Die  einzelne 
Schule  wird  wieder  eine  größere  Freiheit  erhalten;  die  behördlichen  Stundenpläne  werden  nur 
Höchst-  und  Mindestzahlen  angeben.  All  dem  werden  viele  lebhaft  zustimmen;  ganz  besonders 
aber  den  Vorschlägen  zur  Reform  der  Reifeprüfung :  Zeitpunkt  ist  der  Übergang  von  der  zweit- 
obersten zur  obersten  Klasse;  Beschränkung  auf  wenig  (3)  Hauptfächer;  das  letzte  Jahr  ganz 
besonderes  zur  Erziehung  zur  zusammenhängenden  wissenschaftlichen  Arbeit  und  zur  Vertiefung 
in  allgemeine  Fragen;  den  Abschluß  bildet  eine  größere  wissenschaftliche  Arbeit  aus  dem 
besonderen  Arbeitsgebiet  des  Schülers  an  Stelle  des  Klassenaufsatzes  der  Reifeprüfung.  Es  ist 
der  beste  der  mir  bekannten  Vorschläge  in  dieser  Frage  und  sollte  sofort  in  allen  Schulen,  die 
sich  dazu  bereit  erklären,  durchgeführt  werden. 

Die  Vorbereitungsanstalten  für  die  Lehrerseminare  bleiben  bestehen  im  Interesse  des  flachen 
Landes.  Den  Erfahrungen,  die  man  in  Süddeutschland  mit  Abiturienten  bei  1 — 2  jähriger  Aus- 
bildung gemacht  hat,  steht  er  anerkennend  gegenüber,  ohne  jedoch  die  Forderung  zu  wagen, 
daß  man  die  heutigen  Lehrerbildungsanstalten  in  „höhere  deutsche  Schulen"  verwandle  und 
die  Lehrerbildung  einer  höheren  Fachschule  »pädag.  Akademie,  pädag.  Fakultät i  zuweise.  Die 
Lehrer  sollen  sich  als  einheitliches  Gt  zes  fühlen  aus  ihrer  hohen  allgemeinen  Aufgabe  heraus; 
eine  gleiche  Vorbildung  aber  sei  unmöglich. 

Daß  die  Schulen  für  die  weib  iche  Jugend  als  Folge  der  politischen  Gleichberechtigungen 
denen  der  männlichen  Jugend  möglichst  anzugleichen  seien,  wird  nicht  überall  Zustimmung  finden; 
umsomehr  die  Forderung  einer  einheitlichen  Schulbehörde  für  das  gesamte  Schulwesen  einschl. 
der  Fachschulen  sowie  der  gesetzlichen  Festlegung  der  Organisation.  Die  Ausführungen  über 
den  Religionsunterricht  zeigen  große  Wärme  für  diesen  Gegenstand  und  lebhaften  Sinn  für  eine 


432  Literaturbericht 


freiheitliche  Regelung  dieser  Frage.  Privat-  und  Sonderschulen  läßt  Reinhardt  nur  gelten,  wenn 
sie  einem  besonderen  pädag.  Zweck  dienen,  also  neue  Wege,  neue  Lehrpläne,  neue  Erziehungs- 
methoden ausprobieren.  Sie  sind  unter  staatliche  Aufsicht  zu  stellen  und  mit  den  gleichen 
Rechten  wie  die  staatlichen  Schulen  auszustatten. 

Nur  in  großen  Zügen  konnte  der  reiche  Inhalt  der  Schrift  angedeutet  werden;  die  meisten 
Reformvorschläge  in  bezug  auf  das  Schulwesen  der  Gegenwart  sind  irgendwie  einbezogen;  daß 
sie,  im  einzelnen  dann  auf  das  Grundsätzliche  zurückgehend,  nicht  eingehender  erörtert  werden 
konnten,  ist  bei  dem  geringen  Umfang  der  Schrift  selbstverständlich. 

Tübingen.  Gustav  Deuchler. 

A.  Buchenau,  Die  Einheitsschule.  2.  Auflage.  Die  neue  Zeit,  Schriften  zur  Neugestaltung 
Deutschlands.    Leipzig  1919.    Teubner.    58  S.  1,50  M. 

Das  Heftchen  zeugt  von  reicher  Belesenheit  und  Beherrschung  des  weitschichtigen  Stoffes. 
Es  gibt  daher  über  die  Einheitsschule  sachkundigen  Aufschluß.  Aus  biologischen  Gesetzen  wird 
ihre  Notwendigkeit  als  eine  gegliederte  Einheit  in  vielgestaltigen  Formen  nachgewiesen.  Ihr 
Wesen  ist,  alle  Kinder  nach  ihrer  Begabung  zu  höchster  Leistungsfähigkeit  zu  entwickeln. 
Dazu  ist  die  Psychologie  eine  wichtige  Helferin,  doch  scheint  mir  ihre  Bedeutung  für  die 
Erziehung  nicht  scharf  genug  betont  zu  sein.  Schon  auf  dem  4  jährigen  gemeinsamen  Unterbau, 
wozu  der  Verfasser  sich  bekennt,  soll  den  Begabungen  entsprechend  nebeneinander  Arbeits- 
unterricht und  mehr  geistiger  Unterricht  erteUt  werden.  Daran  schließt  sich  die  Oberstufe 
der  Volksschule,  die  auf  5  Jahre  erweitert  werden  sollte,  damit  ein  eigenes  Urteil  und  Verständnis 
für  das  Volkstum  geweckt  werden  kann.  Dies  ließe  sich  tiefer  begründen;  leider  werden  diesii 
Gedanken  um  ihre  Wirkung  gebracht,  indem  auf  S.  27  dem  Deutschunterricht  nicht  der  unbedingt 
erforderliche  Raum  eingeräumt  werden  soll.  Auf  diese  Oberstufe  bauen  sich  die  Berufsschulen 
und  für  die  Besten  die  Fach-  und  Fachhochschulen  auf.  Vom  vierten  Schuljahr  führt  der  Weg 
sodann  zur  sechsklassigen  Realschule  mit  einer  Fremdsprache  und  verstärktem  Sachunterricht 
für  die  praktisch  gerichteten  Kinder.  Ein  anderer  Aufbau  sind  die  achtklassigen  höheren  Schulen, 
deren  Zweck  wissenschaftliche  Bildung,  nicht  Fachbildung  ist  und  die  zur  Menschenkenntnis 
führen  sollen.  Sie  zerfallen  in  mathematisch-naturwissenschaftliche  Anstalten,  als  mathematisches 
und  technisches  Gjnmnasium,  und  in  sprachliche  Anstalten,  als  neusprachliches  und  altsprachliches 
Gymnasium  (der  Name  ist  wenig  glücklich).  So  wird  das  heutige  Vierlerlei  überwunden  und 
die  Einzelleistung  gesteigert.  Von  einer  Schulgattung  zur  andern  soU  ein  beständiger  Übergang 
möglich  sein,  die  Wege  hierzu  sind  freilich  nur  gestreift.  Auch  die  Hochschule  wird  ganz  kurz 
abgetan,  ohne  dem  Überlebten  dieser  Schulart  ins  Gesicht  zu  leuchten.  Viel  zu  kurz  ist  der 
Abschnitt  über  die  LehrerbQdung,  denn  gerade  hier  ist  zu  ;  Uererst  der  Hebel  anzusetzen,  damit 
wir  Männer  bekommen,  die  die  Einheitsschule  mit  deutschem  Leben  erfüllen.  Das  Schriftchen 
stellt  in  geschickter  Weise  Gedanken  über  die  Einheitsschule,  allerdings  ohne  Berücksichtigung 
der  Mädchenerziehung,  zusammen;  eine  geistesgewaltige  Neuschöpfung  aus  einer  führenden 
Seele  darf  man  freilich  nicht  darin  suchen. 

Leipzig.  G.  Reinhard. 

Marta  Bergemann-Könitzer,  Erziehung  zur  Plastik.  Ein  Beitrag  zur  Methodik  des 
plastischen  Unterrichts.  Die  Plastik.  (Callwey's  Verlag).  Jahrgang  1919,  Heft  3,  S.  17—21. 
Mit  10  Tafeln. 

Die  Kunsterziehung  unserer  Tage  ist  viele  neue  Wege  gegangen ;  der  Weg  zur  Plastik  aber 
blieb  ungebahnt,  denn  was  in  Kindergarten  und  Unterstufen  der  Schule  als  Formen  in  Plastulin 
getrieben  wurde,  hatte  mit  Kunst  noch  wenig  zu  tun.  Die  Verfasserin  beschreibt  nun  in  knapper, 
aber  eindringlicher  Weise  ihre  Versuche  mit  Kindern  verschiedenen  Alters,  die  sie  in  einem 
Unterricht  von  zwei  Wochenstunden  in  plastischem  Sehen  und  Gestalten  erzieht.  Vorbilder  sind 
ihr  hierfür  die  kleinen  unscheinbaren  Tanagra-Figürchen.  Sie  beginnt  sofort  mit  der  Darstellung 
des  Menschen,  etwa  des  Schneemanns,  und  läßt  nun  die  Kinder  allmählich  die  richtigen  Körper- 
proportionen finden.  Auf  die  Raumbewältigung,  die  Gliederung  der  Masse  kommt  ihr  alles  an: 
wie  so  ganz  anders  sich  die  Glieder  fügen  beim  stehenden  und  beim  sitzenden,  beim  knieenden 
und  beim  kauernden  Menschen!  Die  vorzüglichen  Abbj^^ungen  von  Proben  zeigen  in  der  Tat 
eine  überraschende  Vielgestaltigkeit,  Lebendigkeit  und  Proportioniertheit  der  dargestellten  Ton- 
figuren. Es  wäre  zu  wünschen,  daß  diese  auf  jahrelangen  Erfahrungen  beruhende  Kunst- 
erziehungsmethode in  pädagogischen  Kreisen  Beachtung  und  Nachahmung  finde. 

Hamburg.  William  Stern. 

Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (A.  Pries)  in  Leipzig. 


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